Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Wir fahren in der
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
fort. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich kann ohne jede Einschränkung an die Worte anknüpfen, die ich am 16. September mit Zustimmung aus allen Fraktionen an dieser Stelle gesagt habe:Wir haben keine größere, wir haben keine bedeutendere Aufgabe, als die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.Wir wissen alle, daß es in sämtlichen Industrieländern, aber eben auch bei uns keine schwierigere Aufgabe gibt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, warum das so ist, warum wir und — das ist j a weit wichtiger — die von Arbeitslosigkeit Betroffenen Geduld und langen Atem haben müssen.Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Sondergutachten auf beeindruckende Weise erklärt, welche Probleme noch vor uns liegen. Die Prognose, die der Rat für das Jahr 1983 gestellt hat, kann niemanden von uns beruhigen. Ohne alle Umschweife füge ich hinzu, daß seine Voraussage, nämlich ein gesamtwirtschaftliches Wachstum von real 1 %, sich noch durchaus am oberen Rand der realistischen Erwartung bewegt. Voraussichtlich werden die Schätzungen der Bundesregierung dahin gehen, daß für 1983 kein reales Wachstum erwartet wird. Denn die jüngsten Wirtschaftsdaten, Produktionszahlen, Auftragseingänge und Arbeitsmarktdaten machen auf eine erschreckende Weise deutlich, daß die Hindernisse auf dem Weg zu besserer Beschäftigung noch größer geworden sind. Wir werden — niemand sollte sich da täuschen — keine verharmlosenden Auskünfte über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des kommenden Jahres geben. Die neue Regierung muß den Mut zu einer realistischen Betrachtung der Lage und derZukunftsaussichten aufbringen. Und sie wird ihn aufbringen.
Der Meinungsstreit darüber, wie die Hindernisse auf dem Weg zu einer dauerhaften wirtschaftlichen Belebung in unserem Land zu beseitigen und zu überwinden sind, hat zum Bruch einer Koalition geführt, die ich vor 13 Jahren und schon davor erst gewollt und dann unterstützt habe, für die ich zehn Jahre als Abgeordneter und Minister gearbeitet habe.Erlauben Sie mir dazu einige persönliche Sätze. Ich werde nichts von dem zurücknehmen, was Freie Demokraten und Sozialdemokraten gemeinsam getan haben. Ich gehöre nicht zu denen, die — um es etwas übertrieben auszudrücken — das verbrennen, was sie gestern angebetet haben.Herr Kollege Ehmke, Sie haben recht — ich will Ihnen auch das bestätigen - mit dem, was Sie gestern gesagt haben: Helmut Schmidt wird für seine Führerschaft in der ganzen Welt bewundert. Das ist so gewesen. Aber es ist — leider, sage ich — immer weniger geworden,
weil die ganze Welt gemerkt hat, wer ihm seine Unterstützung entzogen hat.
Die Eigenschaften, die man zur Führerschaft braucht, Herr Kollege Ehmke, hat Herr Lafontaine als Sekundärtugenden bezeichnet, die auch zur Führung eines KZ ausreichen. Das ist in Ihrer Partei geschehen.
Ich habe, als Sie hier — das ist Ihr gutes Recht, und ich fand das auch respektvoll; so war es ja auch gemeint — dem ausgeschiedenen Bundeskanzler eine standing ovation gebracht haben, als einen der ersten den von mir durchaus geschätzten Kollegen Freimut Duve aufstehen sehen.
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7294 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffUnd da ist mir alles eingefallen, was Sie an Unterstützung diesem Bundeskanzler entzogen haben: in Hamburg, in Kernenergie, in Sicherheitspolitik, in vielen Fragen, die hier zur Diskussion standen.
Aber ich füge auch hinzu: In der nun zerbrochenen Koalition habe ich vor allem menschliche Bindungen und Verbindungen gewonnen, die ich durch persönliche Angriffe nicht zerstören lassen will.
Wenn es nottut, werde ich mich — das wird keiner anders erwarten — mit früheren Kollegen in der Sache hart auseinandersetzen, aber ich werde mich an menschlichen Herabsetzungen nicht beteiligen.
Deshalb würde ich keinen Moment daran zweifeln, daß die Sorge um die Arbeitslosigkeit und das Bemühen um Belebung der eigenen und der Weltwirtschaft die Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses ebenso bewegt wie die Kollegen der Union und der Freien Demokratischen Partei.
In diesem wirtschaftspolitischen Ziel waren wir alle uns einig und sind wir uns wohl auch weiterhin einig, aber über den richtigen Weg dorthin haben sich seit langem Meinungsverschiedenheiten, Differenzen und schließlich Streit aufgetürmt, die eine SPD-FDP-Koalition immer mehr behindert und schließlich unmöglich gemacht haben. Ich werde darüber später noch einige Worte sagen.Wichtiger ist es jetzt, voranzublicken und den richtigen Weg zu gehen, der uns — gewiß nicht von heute auf morgen — zu besseren gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen, zu einer Wiederbelebung der Wirtschaft führt. Diese Wegstrecke wird mühsam und steinig sein. Wir werden sie nur dann erfolgreich bewältigen, wenn wir uns dabei an die Prinzipien einer Wirtschaftsordnung halten, die als Soziale Marktwirtschaft Weltgeltung errungen und ihre Bewährungsprobe beim Wiederaufbau unseres Landes so glänzend bestanden hat.
Sie, meine Damen und Herren, jedenfalls die Mehrheit der SPD-Fraktion, möchten schon diesen Begriff der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere dann, wenn man „sozial" auch noch groß zu schreiben wagt, am liebsten auf den Index setzen und ins Wörterbuch der ewig Gestrigen verbannen. Wir haben da in den vergangenen Jahren unsere Erfahrungen gemacht.
Aber ich sage Ihnen: Nur mit der Rückbesinnung auf die Freisetzung eigener, individueller Anstrengungen und Initiativen, nur mit der Beschneidung überzogener staatlicher Einflußnahme auf wirtschaftliche Entscheidungen des einzelnen, nur mit einer allmählichen Rücknahme des öffentlichen Zugriffs auf die Ergebnisse privater Leistungen werden wir unsere gesamtwirtschaftlichen Ziele erreichen können.
Diese Politik haben wir uns vorgenommen, und wir werden sie durchsetzen.Meine Damen und Herren, wir sind keine Dogmatiker.
Die Bundesregierung weiß so gut wie die Opposition, daß nicht alle Rezepte aus den Wiederaufbaujahren heute, 30 Jahre danach, noch tauglich und anwendbar sind. Viele Voraussetzungen, auch im Bewußtsein der Menschen, sind anders als damals. Die aktuellen Notwendigkeiten sind nicht ohne weiteres vergleichbar.Der materielle Lebensstandard, den unser Land errungen hat, hat dessen Bewohner geprägt. Er hat Ansprüche hervorgerufen, die auch dann verständlich sind, wenn sie nicht mehr zu erfüllen sind. Aber er hat auch, zumindest unter jüngeren Menschen, das Nachdenken darüber gefördert, ob denn alles immer so weitergehen könne, wie wir es jahrzehntelang gewohnt waren.Einig sind sich wohl alle in der Erkenntnis, daß spätestens die 70er Jahre — und wahrhaftig nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland — eine Zäsur bewirkt haben, die den unbefangenen Glauben an immerwährendes Wachstum, an immer leichteres und anspruchsvolleres Leben nachhaltig erschüttert hat. Nur werden die Konsequenzen daraus unterschiedlich empfunden, und das spiegelt sich in einer Variationsbreite wider, die von resignativer Hinnahme des Unvermeidbaren oder verstockter Trotzhaltung über bewußte alternative Anpassung bis hin zu klarer Annahme der neuen Herausforderung reicht.Wir, die Bundesregierung und die Koalitionsparteien, wollen eine positive Antwort auf diese Herausforderung geben. Die Opposition bleibt trotzig zurück.
Die quälenden Auseinandersetzungen des letzten Jahres in der alten Regierung haben das auf deprimierende Weise bewiesen. Wir versprechen keine goldenen Berge, keine herrlichen Zeiten, die mit der neuen politischen Zusammenarbeit angesprochen oder in Aussicht gestellt wären. Aber wir sind überzeugt, daß wir aus dem wirtschaftlichen Tal nur in einer großen, gemeinsamen Anstrengung herausfinden werden, die alle produktiven Kräfte in unserem Volke freisetzen wird.Diesem Ziel dienen die Beschlüsse der neuen Regierung. Die Haushaltsentscheidungen, meine Damen und Herren, sind ein erster, gewiß noch nicht
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7295
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffvollkommener Schritt auf dem Weg, die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Bürger, der Arbeitnehmer wie der Unternehmer, zu stärken und neu zu beleben. Nur so werden wir den Grund dafür legen können, um die Arbeitslosigkeit nach und nach zurückzudrängen. Es gibt dafür keinen besseren, keinen praktikableren Weg als Erleichterungen für Investitionen — keineswegs für private Investitionen allein. Nur wenn wir hier, bei der Investitionstätigkeit, einen Wandel zum Besseren schaffen, werden wir eine nachhaltige Wirtschaftsbelebung herbeiführen können. Durch das Sondergutachten des Sachverständigenrates sehen wir uns in der Richtigkeit dieser Auffassung erneut bestärkt.Wir setzen diese Schwerpunkte in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik nicht, um die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen, wie es die neue Propagandakampagne der SPD den Bürgern einreden möchte.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte sehr.
Herr Kollege Lambsdorff, würden Sie uns bitte verraten, wo das Sondergutachten des Sachverständigenrates den Kurs der neuen Bundesregierung bestätigt? Ich habe an vielen Stellen — ich würde Sie fragen, ob Sie das nicht auch gefunden haben — lauter Warnungen vor den Risiken der massiven Nachfrageausfälle gefunden, die mit Ihren neuen Beschlüssen hervorgerufen werden.
Das summiert sich auf 15 Milliarden DM. Ich würde Sie bitten, uns zu sagen,
wo der Sachverständigenrat Sie bestätigt und wie Sie diese Nachfrageausfälle bewerten.
Herr Kollege Ehrenberg, erstens: Ich habe davon gesprochen, daß der Rat sagt: Ohne Investitionstätigkeit ist eine Wiederbelebung der Wirtschaft nicht zu erreichen. Sie werden nicht bestreiten, daß das drinsteht.
— Ich habe ja gesagt, daß der Sachverständigenrat unsere Meinung bestätigt, Herr Kollege Wolfram. Wenn es jeder weiß, dann frage ich mich, warum so manches früher nicht in diese Richtung gehen konnte.
Zweitens. Herr Kollege Ehrenberg, ich will mich nachher zum Nachfrageargument äußern. Aber falls Sie es nachlesen wollen: Ziffer 41 des Sachverständigengutachtens. Teilziffer 42 weist darauf hin, daß Herr Krupp eine in Teilen abweichende Meinung hat; Sie können's dort nachlesen.
Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren: Der sachliche Ansatzpunkt der Behauptungen, unsere Politik wolle die Reichen reicher und die Armen ärmer machen,
ist, wenn es ihn geben sollte, absolut unsinnig.
Auch dazu hat der Rat in Ziffer 53 seines Gutachtens bemerkenswerte Ausführungen gemacht, die ich vor allem unseren sozialdemokratischen Kollegen, einigen zum Auswendiglernen, empfehle, besonders einen Satz, ob er uns nun schmecken mag oder nicht.Es gibt— so sagt der Rat —in der Wirtschaftsgeschichte keine Beispiele für Perioden allgemeiner wirtschaftlicher Prosperität, in denen die Gewinne der Unternehmen nicht gut waren.
— Herr Ehrenberg, wenn Sie das bestätigen, dann finde ich das sehr zufriedenstellend. Nur, als Herr Geißler hier vor 14 Tagen über die Gewinne der Unternehmen sprach, lese ich im Protokoll des Deutschen Bundestages den Zwischenruf des Kollegen Ehmke: „So'n Quatsch!". Richtig, Quatsch war es.
Man kann die Wahrheit dieses Satzes, den ich zitiert habe, aus ideologischen Gründen, aus Neidkomplexen oder aus welchen Gründen auch immer gern für lästig oder für schrecklich halten. Trotzdem kommt man an der Wahrheit nicht vorbei. Wer Mühe hat, sich mit ihr abzufinden, was ich verstehen kann, ist herzlich eingeladen, sich zusammen mit Regierung und Koalition um ein praktikables Gesetz zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand zu bemühen. Wir werden den notwendigen Entwurf vorlegen.
Unsere wirtschaftspolitische Hauptaufgabe, Investitionen zu fördern, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, wäre zu schematisch angepackt, würden wir unser besonderes Augenmerk nicht auf die mittelständischen Betriebe in allen Wirtschaftszweigen legen. Soziale Marktwirtschaft, wie wir sie wollen, kann ohne gesunden und leistungsfähigen Mittelstand nicht funktionieren.
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7296 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff— Wenn das alles Selbstverständlichkeiten sind, Herr Conradi, hätten Sie sich in München zu Wort melden und das dort vorbringen sollen.
Marktwirtschaft, die diesen Namen verdient, beruht nicht auf der Kraft einiger weniger Großunternehmen, sondern auf der Wettbewerbskraft und dem Einfallsreichtum Hunderttausender oft anonymer Klein- und Mittelbetriebe, die das Rückgrat unserer Wirtschaft und auch unserer Gesellschaft ausmachen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wolfram?
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, wenn wir diese Aussage von Ihnen ernst nehmen sollen, warum tut Ihr Haus dann so wenig zum Schutz der kleinen und mittleren freien und unabhängigen Tankstellen und Mineralölhändler im Verhältnis zu den großen Konzernen?
Sehr verehrter Herr Kollege Wolfram, Sie wissen sehr genau — seit vielen Jahren gibt es darüber Diskussionen —, daß wir uns darum bemühen, bemüht haben und auch weiter bemühen werden, den Anteil der Versorgung durch unabhängige, mittlere und kleine Unternehmen auf unserem Mineralölmarkt aufrechtzuerhalten. Sie wissen aber auch, daß man Veränderungen der Raffineriestruktur, der Versorgungsstruktur selbstverständlich nicht dadurch begegnen kann, daß man einige Marktteilnehmer auf Dauer künstlich am Leben erhält, indem man sie subventioniert.
Diesen Unternehmen und ihren Mitarbeitern werden wir weitere arbeitsplatzschaffende Erleichterungen — auch steuerlicher Art — zukommen lassen, damit sie ihre Aufgabe für diese Gesellschaft noch besser erfüllen können. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß sie ihre Eigenkapitalbasis — heute ein hauptsächliches Hindernis für Neuinvestitionen — nach und nach verbessern können, und wir werden die Gründung neuer Existenzen in verstärktem Umfang erleichtern. Wir tun das nicht in verbissen idyllischer Romantik, sondern aus der gesicherten Erkenntnis, daß es der deutschen Wirtschaft und ihren Beschäftigten nicht gutgehen kann, wenn es einer der wichtigsten Gruppen in dieser Wirtschaft schlechtgeht.Wir sind — im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung, vor allem außerhalb unserer Grenzen — kein reiches Land. Wir haben einen hohen Lebensstandard, wir haben zeitweilig gut verdient, wir sind groß im Geldausgeben, aber die Fundamente, auf denen auch schlechtere Zeiten durchgestandenwerden können, sind nach wie vor nur schwach. Ich habe das hier oft genug gesagt.
Die Welle der Konkurse und Betriebsaufgaben hat das für jedermann deutlich gemacht. Wir haben — anders als viele unserer Nachbarn — in den Betrieben nach wie vor eine überwiegend unzureichende Eigenkapitalausstattung.
Es ist wirtschaftspolitisch unerläßlich, daß hier eine Besserung eintritt, nicht nur im Interesse der Eigentümer, sondern im Interesse aller Beschäftigten.
Noch einmal verweise ich dabei auf unsere Absicht, soziale, verteilungspolitische Fragwürdigkeiten, die dabei entstehen, durch eine erleichterte Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand auszugleichen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, eine Wirtschaftspolitik, die neue Arbeitsplätze schaffen will und daher auf Investitionen setzen muß, kommt an schweren haushalts- und sozialpolitischen Entscheidungen nicht vorbei. So schmerzhaft sie sind, so dienen sie doch allein einem Ziel: die Grundlagen für vertrauensbildende Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik — alle drei aus einem Guß — zu schaffen, deren einzelne Entscheidungen sich eben nicht, wie in der Vergangenheit so oft, widersprechen, sondern die von einer gemeinsamen Grundüberzeugung getragen sind.
Wenn ich hier einen ersten Eindruck aus der Arbeit der neuen Regierung wiedergeben darf, dann diesen: Diese gemeinsame Überzeugung besteht. Sie hat unsere wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Beschlüsse getragen. Sie wird das weiter tun, und sie wird das dringend nötige Vertrauen schaffen. In der alten Koalition war das nicht mehr möglich.
Das war schließlich der Grund für die Trennung — richtig, Herr Conradi —, die der frühere Bundeskanzler vollzogen hat, und nicht Treulosigkeit oder Verrat oder ähnliche gefühlsbeladene Scheußlichkeiten, die besser in die deutschen Heldensagen als in parlamentarisch-demokratische Zweckbündnisse passen.
Wer solche mythenbildenden Reizworte — bisher zweifellos erfolgreich — in die politische Debatte einführt, der sollte besser nach dem Verhalten sozialdemokratischer Politiker fragen, die sich bewußt und überlegt, und unaufhaltsam, Schritt für Schritt und schließlich gar nicht mehr auf leisen Sohlen von den Aussagen und Zielen der Regierungserklärung entfernt haben, die Bundeskanzler
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7297
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffSchmidt 1980 abgegeben hat. Da findet man überreichen Stoff zum Thema Treulosigkeit.
Und es muß ja wohl ein bezeichnender Versprecher, vielleicht war es sogar Absicht, gewesen sein, als der Kollege Ehmke gestern sagte: Die Sozialdemokraten haben Helmut Schmidt in den letzten Wochen begleitet. — Ja, eben, erst in den letzten Wochen haben sie ihn wieder begleitet.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reuschenbach?
Bitte.
Herr Minister, haben Sie vergessen — andere jedenfalls nicht —, daß eines der scheußlichen Worte, von denen Sie da reden, nicht aus den Reihen meiner politischen Freunde, sondern aus dem Mund Ihres ehemaligen Ministerkollegen und FDP-Abgeordneten Herrn Baum gekommen ist, nämlich „Königsmörder", und wollen Sie sich nicht lieber in Ihren eigenen Reihen über diese Fragen auseinandersetzen,
statt sich unzulässigerweise mit uns zu reiben?
Herr Kollege Reuschenbach, es ist Ihnen nur zu gut bekannt, daß ich mich in den eigenen Reihen mit Sachen, die mir nicht gefallen, in Deutlichkeit auseinandersetze und dies auch getan habe. Aber das Stichwort „Verrat", meine Damen und Herren, ist von dieser Stelle am 17. September in die politische Diskussion der Bundesrepublik eingeführt worden.
Aber derselbe Bundeskanzler war es auch, der, besser als jeder andere über die tatsächlichen Gründe für das Scheitern der Zusammenarbeit im klaren, eine Verratskampagne und einen Verleumdungsfeldzug nicht nur gegen die FDP, sondern vor allem gegen ihren Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher auslösen ließ und selber ausgelöst hat, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ohne vergleichbares Beispiel sind.
Meine Damen und Herren, es ist derselbe Mann, der den inneren Frieden in unserem Land beschwor und der jetzt wie kein anderer dazu beigetragen hat, solchen Frieden zu beschädigen.
Daß uns der Kollege Schmidt jetzt politisch angreift, das kann ich verstehen. Das hat er mir gesagt. Ich akzeptiere das. Niemand ist deshalb gekränkt. Aber daß er uns und wiederum vor allem dem Vorsitzenden meiner Partei, seinem langjährigen Vizekanzler, persönliche Ehre und Anstand absprechen läßt und abspricht, das wird auf ihn selbst zurückfallen, meine Damen und Herren.
Und hier sage ich, weil ich die Zwischenfrage oder den Zwischenruf erwarte, gleich hinzu: Ich habe mich in den letzten Tagen — noch heute können Sie es in den Zeitungen lesen — mit dem bayerischen Ministerpräsidenten ziemlich deutlich auseinandergesetzt. Das aber hat er nicht getan — das nicht.
Wer uns niedrige persönliche Beweggründe für eine Entscheidung unterschiebt, die Sie und nicht wir getroffen haben, wer politische Parteien, die ihm nicht passen, „wegharken" will, der richtet sich auch dann selbst, wenn er es hinterher nicht ganz so gemeint haben will.
Ich bin sehr dankbar für den Zwischenruf, das sei doch zurückgenommen worden, Herr Wolfram.
Das ist nach der Rede in Wetzlar in der Tat berichtigt worden. In München ist der Begriff der „Harke" wieder eingeführt worden und damit die Assoziation vom Wegharken anderer Parteien wiederholt worden.
Es ist auch gesagt worden, meine Damen und Herren, wir hätten monatelang hinter dem Rücken der amtierenden Regierung und des amtierenden Bundeskanzlers Koalitionsverhandlungen mit dem jetzigen Bundeskanzler geführt. Dies ist nicht wahr,
auch dann nicht, Herr Ehmke, wenn, wie Sie es wohl meinen und wie es Herr Apel gestern ausgedrückt hat, darunter monatelange Kungelei verstanden wird. Richtig dagegen ist, Herr Apel, daß zwischen dem 17. September und dem 1. Oktober — was Sie beanstandet haben — Koalitionsverhandlungen geführt worden sind, weil es die FDP-Fraktion nämlich so beschlossen hatte.
Aber was hier angerichtet worden ist — ich höre, daß Herr Kollege Stiegler im Saal ist —, um den Frieden zwischen Demokraten zu zerstören, das habe ich im bayerischen Wahlkampf erlebt, nämlich z. B. in Weiden — ich kann es nicht anders nennen — sozialdemokratische Brülltrupps, von Bundestags- und Landtagsabgeordneten angeführt und
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7298 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffdirigiert, jede friedliche Kundgebung unmöglich machten
und dort „Judas", „Verräter" und „Schweinehund" schrien.
Das, meine Damen und Herren, ist der neueste Beitrag zum inneren Frieden, zur guten Nachbarschaft nach innen und außen; den werden wir uns merken müssen.
Dies alles findet seine geschmacklose Krönung
in dem eitlen Beitrag eines früheren Regierungssprechers. Ich stelle hierzu zwei Fragen: Haben Sie, Herr Altbundeskanzler, diese Veröffentlichung genehmigt, solange Sie noch im Amt waren? Ist diese Veröffentlichung Ihres früheren engsten Mitarbeiters mit Ihrer Auffassung von Pflichtgefühl und Verantwortung gegenüber dem Staat vereinbar? Ich frage dies nur.
Der Herr Kollege Ehrenberg hat dazu ja schon einige sehr bemerkenswerte und sehr richtige Worte gesagt.Ich habe dem früheren Bundeskanzler noch in der letzten Unterredung, die wir im Kanzleramt hatten, gesagt, daß ich es für seine koalitionsunfreundlichste personalpolitische Entscheidung gehalten habe, Herrn Bölling aus Berlin nach Bonn zurückzuholen. Das Psychogramm, das er in diesem sogenannten Tagebuch von sich selbst entworfen hat, hat meine Befürchtungen noch weit übertroffen.
Aber ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Wer so schreibt, wer so gesprochen hat, hat sein Amt gröblichst mißbraucht.
Aber, Herr Altbundeskanzler, jeder Othello hat eben seinen Jago.
Meine Damen und Herren, nun hat Geschwätzigkeit ja auch ihr ungewollt Gutes. Denn für jeden, der lesen kann, wird auf diesen Seiten mit aller Klarheit deutlich, wer das Szenario hingestellt hat, um die alte Koalition zu kippen, wie es aufgebaut wurde, wie nach Gründen und Anlässen gesucht wurde,
mit den Freien Demokraten Schluß zu machen.Mit großer Anteilnahme habe ich gelesen, Herr Ehmke, wie ein schon etwas welkes Kleeblatt im Kanzleramt darüber diskutiert habe, und zwar am 31. August, auf welchen Politikfeldern der Konflikt mit der FDP am besten zu führen sei, und daß mansich dann auf Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik geeinigt hat. Ich habe durchaus mit Interese verfolgt, wie diese Strategie dann Woche für Woche, Tag für Tag weiter betrieben worden ist. Das ist ja alles nachlesbar.
Wer es uns nicht geglaubt hat, müßte es doch wenigstens diesem Zeitzeugen abnehmen. Es war die SPD, es war der bisherige Bundeskanzler mit seinen engsten Beratern, der so den Bruch gewollt und ihn so vollzogen hat.
Dazu paßt die Information, daß die „Verrats"Drucksachen für den Wahlkampf in Hessen schon am Vorabend des 17. September bei der „Vorwärts"Druckerei in Auftrag gegeben worden sind.
Meine Damen und Herren, ich sage das alles ohne Bitterkeit;
denn es war ja die Zeit für die Trennung. Aber um so entschiedener weise ich die bösartigen und die verletzenden Lügen von Verrat und Treubruch und den persönlichen Rachefeldzug zurück, den die Sozialdemokraten gegen den Vorsitzenden der Freien Demokraten führen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmude?
Im Augenblick nicht, vielen Dank.
— Entschuldigung, Herr Schmude, wenn ich mit dem Absatz fertig bin, will ich das selbstverständlich nachholen.Das ist nicht mehr mit notwendigem Streit, mit politischer Positionsklärung zu entschuldigen. Nein, hier soll ein Mann in seiner politischen Existenz, in seiner bürgerlichen Reputation vernichtet werden,
der die Entwicklung in den Reihen der Sozialdemokraten klar erkannt und sich nicht damit abgefunden hat, dem nur besorgt zuzusehen.
Ich will vor diesem Forum nicht von den Verdiensten Hans-Dietrich Genschers für seine und meine Partei sprechen; das gehört an einen anderen Platz. Aber ich erinnere an den liberalen Innenminister, der sich um mehr Freiheitsrechte der Bürger, um die innere Verfassung dieses Staates, um den Schutz vor Terrorismus, um den Umweltschutz bleibende Verdienste erworben hat.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7299
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffNennen Sie, meine Damen und Herren, mir einen anderen Außenminister der Bundesrepublik, der mehr zur Stärkung des Ansehens unseres Staates, seiner außenpolitischen Verläßlichkeit in Ost und West, mehr zur Festigung des Vertrauens in uns bei den Ländern der Dritten Welt getan hat! Diesen liberalen Demokraten, dessen Politik fast immer vom Vertrauen aller Fraktionen des Hauses getragen war, wollen blindwütige katilinarische Existenzen zerstören und ruinieren. Ich sage Ihnen: Das wird nicht gelingen.
Als ich Sie, Herr Kollege Apel, gestern hier reden hörte, habe ich daran denken müssen, wie häufig Sie beide, der Außen- und der Verteidigungsminister, in kritischen Situationen, aneinander gelehnt, gemeinsam Dinge durchgestanden haben, und Sie erklären hier, er habe als Politiker sein Renommee verspielt.
Sie, Herr Apel, gehen fünf oder sechs Tage, nachdem die Koalition beendet ist, mit einem früheren Kollegen in einer Weise um, wie ich es beim Anlegen Ihrer Maßstäbe für Politik für nicht verständlich, fast für nicht verzeihlich halte. Was Herr Ehmke gesagt hat, habe ich erwartet.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmude?
Ja.
Herr Bundesminister, da Sie die Entwicklung seit dem 31. August 1982 so schildern, wie Sie es hier tun, frage ich: Hat sich nach Ihrer Auffassung die gesamte öffentliche Meinung, haben sich alle Kommentatoren und Berichterstatter geirrt,
die übereinstimmend schrieben, daß sich die FDP auf den Wechsel festgelegt habe und nur noch der Tag unbestimmt sei? Ist es nicht so gewesen, daß Sie auch aus dem Bölling-Text entnehmen können, daß es innerhalb der SPD zwei Meinungen gab, die eine, die ich teilte, daß man es trotzdem versuchen sollte, und die andere, daß es keinen Zweck mehr habe, da die anderen um keinen Preis wollten? Ist nicht das die wahre Situation gewesen?
Es ist nach meiner festen Überzeugung, Herr Kollege Schmude, in der Tat so gewesen, wie Sie es schildern, und das haben wir auch gewußt.
Herr Bundesminister, es ist eine Frage gestellt worden, Sie wollen darauf eine Antwort geben.
Jawohl.
Ich bitte, diese Möglichkeit ungestört ablaufen zu lassen.
Es ist sicher richtig, Herr Kollege Schmude, daß es auch bei Ihnen — wie bei uns — unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben hat. Es ist aber ebenso richtig, daß aus diesem Szenario, wie der Partei-Vorsitzende der FDP gestern gesagt hat, der kalt kalkulierten Schuldzuweisung abzulesen ist, wer schließlich den Weg bestimmt hat und wer die endgültige Entscheidung getroffen hat.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel?
Bitte.
Herr Bundesminister, Sie werden sicherlich wie ich heute morgen die Tageszeitungen gelesen haben. Dort spricht Ihr früherer Generalsekretär, Herr Verheugen, davon, daß das, was Herr Genscher betrieben habe — ich zitiere ihn wörtlich — „blanker Wortbruch" gewesen sei, und können Sie sich vorstellen, daß auch ich angesichts dieser Situation gegenüber meinem früheren Kollegen Genscher in der Tat zu einer anderen Beurteilung seines Charakters und seiner politischen Grundeinstellung kommen mußte?
Erstens, Herr Kollege Apel, wäre es ja besser gewesen, Sie hätten etwas zu Ihrer Meinungsbildung Beitragendes zitiert, das schon bestanden hat, als Sie die Rede gehalten haben, und nicht, was Sie heute morgen in der Zeitung gelesen haben.
Zum zweiten: Ich bestreite Ihnen wie natürlich auch Herrn Verheugen mit allem Nachdruck, daß es sich hier um einen „Wortbruch" handelt.
Ich werde mich mit aller Entschiedenheit gegen eine solche Darstellung gegenüber jedermann zur Wehr setzen.
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf, damit Schluß zu machen, die Tatsachen umzubiegen, damit sie schließlich in Ihr vorparlamentarisches Verratsmuster passen. Bekennen Sie sich endlich zu Ihrer eigenen Mitverantwortung! Ich
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7300 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffsage „Mitverantwortung": Wir alle tragen Verantwortung am Zusammenbruch der alten Regierung und der alten Koalition.
Wer hat denn, meine Damen und Herren, den früheren Bundeskanzler und seine Finanzminister gehindert, eine wirtschafts- und finanzpolitische Linie einzuhalten, wie sie in der Regierungserklärung von 1980, wie sie in den Haushaltsbeschlüssen der früheren Koalition für 1983 festgelegt waren?
— Die Freien Demokraten haben zu diesen Beschlüssen gestanden, und wir haben keinen Parteitag veranstaltet wie Sie in München, dessen Beschlüsse und als Prüfaufträge getarnte Absichten alsbald zu Ihren eigenen Lieblingsvorstellungen geworden sind. In München wurde der Bruch geübt. Dort wurde das Gegen-Szenario zur sozialliberalen Koalition aufgebaut.
Was dort beschlossen wurde, war mit gemeinsamer Politik nicht mehr vereinbar.
Nicht nur die Freien Demokraten haben damals gesagt: Das war der Entwurf zu einer anderen Republik, den Sie erst jetzt, vor zwei Tagen, durch neue Leitlinien des SPD-Vorstandes wiederum in Frage gestellt haben. Man faßt das eigentlich kaum, aber ich beglückwünsche Sie. Sollte die neue Koalition Ihnen so rasch auf die wirtschaftspolitischen Sprünge geholfen haben? Außer der Ergänzungsabgabe keine Steuererhöhungen mehr, keine Einschränkung des unsozialen Splitting, keine Abschaffung der verwerflichen Bewirtungsspesen mehr. Ich hoffe ja sehr, daß es dabei bleibt, aber bevor ich da sicher bin, möchte ich doch lieber Ihren nächsten Parteitag abwarten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel?
Ja, bitte sehr.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Ihr Parteivorsitzender Genscher kurz nach unserem Parteitag wörtlich gesagt hat, es sei selbstverständlich, daß jede Partei auf ihren Parteitagen das beschlösse, was sie wolle, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in unserer gemeinsamen Zusammenarbeit nicht ein einziges Mal eine Situation gegeben hat, in der Sie als Wirtschaftsminister überstimmt worden sind, und sind Sie deswegen auch bereit, zuzugeben, daß das, was Sie hier vortragen, Polemik ist,
vorgeschoben, um Ihren Wechsel zu begründen?
Herr Kollege Apel, es ist ein bißchen viel verlangt, den dritten Punkt Ihrer Frage zuzugeben. Das werden Sie einräumen.
Was den ersten Punkt anlangt, so bin ich Ihnen dankbar, daß Sie ihn angesprochen haben, weil mich das an eine Bemerkung erinnert, die Ihr Parteivorsitzender von diesem Podium aus mir gegenüber gemacht hat. Er hat recht: Sie werden auf sozialdemokratischen Parteitagen selbstverständlich sozialdemokratische Politik beschließen. Natürlich, Herr Brandt, natürlich, Herr Apel; und wir unsere auf unseren Parteitagen. Nur, mit Ausnahme des Kollegen Matthöfer, der damals — ich weiß es nicht mehr genau, Herr Matthöfer — gerade noch oder gerade nicht mehr Finanzminister war
— gerade noch war —, am Schlußtage des Parteitages ist keiner auf die Bühne gegangen und hat gesagt: Das könnt ihr hier beschließen, aber in der Koalition ist das nicht zu machen. Niemand.
— Jawohl, Herr Ehmke, wie wir auf unseren Parteitagen, als vier FDP-Minister den Rücktritt gegenüber unseren Delegierten angekündigt haben, wenn sie Beschlüsse fassen sollten, die gegen die Koalitionsvereinbarung verstoßen. Das war eine der härtesten Stunden, die wir durchgestanden haben.
Aber wir wissen doch — —
— Ja, Sie hatten noch etwas gefragt. Entschuldigung. Es ist sicherlich richtig, daß es mit einer Ausnahme — wobei ich nicht weiß, ob Sie dabei waren— nicht zu Überstimmungen gekommen ist. Eine Ausnahme — nicht erheblich — hat es gegeben. Aber es ist eben auch richtig, daß wir uns immer und immer wieder auf Kompromisse einigen mußten, die nicht mehr die ausreichenden Antworten in dieser Situation und angesichts der sich abzeichnenden weiteren Verschlechterung in der Haushaltspolitik geben konnten und geben können. Das ist der wahre Hintergrund.
— Ich bitte um Nachsicht, daß ich nicht allzuviel Zeit auf Zwischenfragen — bei so vielen — verwenden kann.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7301
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffIch möchte aber doch noch das eine sagen, Herr Roth. Sie waren in München j a wirklich — darf ich das so ausdrücken? — von der Leine gelassen.
Warum denn? Damit es in dem anderen Bereich Sicherheitspolitik noch einmal eine Entscheidung gab, die die Unterschrift des Kanzlers unter dem NATO-Doppelbeschluß nicht wertlos machte.
Nein, Sie haben aus verständlichen, aber eben nicht akzeptablen Gründen die Einsicht in bittere Notwendigkeiten der 80er Jahre verweigert. Sie träumen weiter von gesellschaftspolitischen Modellen, die nur noch auf Pump realisiert werden können. Sie wollen und Sie können nicht die zugegebenermaßen ganz und gar unerfreulichen Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, daß wir ein Wohlfahrts- und Sozialsystem gewohnten Umfangs nicht mehr bezahlen können, wenn das wirtschaftliche Wachstum dauerhaft fehlt. Sie verweigern deshalb lästige, aber dennoch erträgliche Eingriffe, die gewiß niemand gern vornimmt, um dieses System leistungsfähig und gesund zu erhalten. Sie rufen Verrat, wenn wir auf mehr Eigenvorsorge derjenigen Bürger bauen, die dazu in der Lage und großenteils ja auch dazu bereit sind.Gewiß, auch Sie sprechen von der notwendigen Investitionsförderung. Aber Sie lehnen es ab, daraus dann die logische Schlußfolgerung zu ziehen, konsumtive Ausgaben wirklich einzuschränken, um den Investitionen mehr Raum zu geben. Dabei wissen Sie doch so gut wie wir, daß neue Arbeitsplätze, daß rentable Arbeitsplätze, die allein dauerhaft sind, vor allem durch neue Investitionen entstehen.Sie wissen wie wir, daß es noch nie gelungen ist, einen konjunkturellen Aufschwung durch mehr Verbrauchsausgaben und Sozialtransfers herbeizuführen. Wenn Sie es nicht wissen sollten, dann lesen Sie es bitte auch im Sondergutachten noch einmal nach. Mit Klassenkampfparolen bewegt man außer Emotionen gar nichts.
Ich weiß, Sie wollten und Sie wollen die unvermeidbare Wende erklärtermaßen nicht. Aber ernsthaft können Sie doch auch nicht vorgeben, mit einigen kosmetischen Kürzungen — kosmetisch, gemessen an der finanziellen Situation, in der wir uns befinden —, mit dem Dauerbrenner Ergänzungsabgabe und mit staatlichen Krediten werde schon alles wieder gut werden. Ich sage Ihnen: Nichts wird gut, wenn wir jetzt nicht eine viel stärkere Anstrengung auf uns nehmen, wenn wir jetzt nicht bei aller Bereitschaft, konjunkturbedingte Mindereinnahmen durch eine entsprechende Kreditaufnahme auszugleichen, an die Reduzierung des strukturellen Staatsdefizits herangehen und die notwendigen haushalts- und sozialpolitischen Entscheidungen per Termin nicht nur für ein paar Monate, sondern für mehrere Jahre treffen.Ich habe vorhin davon gesprochen, daß wir für das Jahr 1983 voraussichtlich kein reales Wirtschaftswachstum erzielen werden. Ich frage — und ich tue das ohne jede Begeisterung —: Wie hätten wir mit einem Partner, der in dieser Lage nicht einmal mehr zu den inzwischen unzureichenden Haushaltsbeschlüssen vom Sommer die ses Jahres stand, auf diese neuen, unerhörten Herausforderungen richtig antworten sollen? Es hätte keine Antwort gegeben.Ich rede gar nicht von Ihrer Koketterie mit den Grünen. Ich spreche nicht von einigen atemberaubenden außen- und sicherheitspolitischen Eskapaden, die sich einige Ihrer Sprecher in jüngster Zeit geleistet haben. Ich stelle nur für mein spezielles Arbeitsgebiet fest: Viele von Ihnen haben immer noch nicht verstanden, was heute und morgen auf dem Spiel steht, und mit diesen vielen war für uns keine Einigung möglich.Ich verstehe: Sie wollten Ihre Identität nicht verlieren, aber auch wir müssen an dem von uns als richtig Erkannten festhalten. Da gab es keine Brücke mehr; der Altbundeskanzler hat es am 17. September bestätigt.
Wir haben uns die ersten Schritte der neuen Regierung wahrhaftig nicht leichtgemacht, ebensowenig wie vorher den Wechsel in der Zusammenarbeit. Aber unsere Pflicht, wie wir sie auffassen und die heute vor allem in wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Aufgaben besteht, können wir nur mit neuen Verbündeten tun. Deshalb ist die große Mehrheit meiner Fraktion zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Union bereit.
Die Beschlüsse, die wir jetzt getroffen haben, wären in der alten Koalition nicht zustande gekommen. Ich bin dem Kollegen Westphal und dem früheren Finanzminister Lahnstein dankbar dafür, daß sie dies in der Pressekonferenz am 29. September so nachdrücklich bestätigt haben. Ich stimme dem voll zu.Aber wenn einige von Ihnen in den vergangenen Wochen in Bonn hämisch die Meinung herumgereicht haben, die neuen Entscheidungen hätte man auch mit der SPD treffen können, dann, meine Damen und Herren, fordere ich Sie auf, unseren Beschlüssen zuzustimmen.
Sie werden das natürlich nicht tun, weil Ihnen die ganze Richtung, in die wir gezwungen sind, ich sage: begreiflicherweise nicht paßt. Wir könnten uns auch etwas Schöneres vorstellen, als streichen und kürzen zu müssen. Aber keine verantwortliche Politik kommt daran vorbei. Die knappen Andeutungen, die von sozialdemokratischen Sprechern über Ihre haushaltspolitischen Vorschläge gemacht worden sind, bestätigen nur die Richtigkeit des Entschlusses, einen neuen Anfang zu finden.Meine Damen und Herren, wenn es richtig ist, bei den Konsumausgaben zu kürzen, um arbeitsplatzschaffende Investitionen zu fördern, dann sind ja
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7302 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffimmer noch maßvolle Kürzungen im größten Ausgabenblock, bei den Sozialausgaben, leider unvermeidbar. Dazu sind Sie nach wie vor — wir haben es gestern auch von Herrn Westphal gehört — nicht bereit. Dann sind Einschränkungen beim Schüler-BAföG, ist die Umstellung des Studenten-BAföG auf Darlehen, ist eine Kindergeldregelung, die Beziehern höherer Einkommen weniger gibt als bisher, doch nicht zu umgehen.
Sie haben sich geweigert, solche unpopulären Maßnahmen mitzutragen. Dann ist eine sozialpolitischen Atempause, von der Herr Blüm gesprochen hat, doch nichts Verwerfliches, sondern etwas Hinnehmbares, um längerfristig wirkende Entscheidungen vorzubereiten.Was ist an dem gespenstischen Schlagwort von der „Ellenbogengesellschaft" dran, wenn wir angesichts leerer Kassen Einschränkungen von allen fordern, auch von den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst mit sicheren Arbeitsplätzen, auch von den Beziehern höherer Einkommen, die nicht selbst investieren?
Die geplante Investitionsanleihe begeistert niemanden, aber sie ist zumindest weitaus vertretbarer und wirtschaftspolitisch sinnvoller als der investitionsfeindliche Griff nach der Ergänzungsabgabe, an der Sie unentwegt festhalten.
Meine Damen und Herren, wenn ich so redselig wäre, wie das mancher von Ihnen in diesen Tagen ist, würde ich frühere Kabinettskollegen zitieren, was die von der Ergänzungsabgabe halten, nämlich dasselbe wie ich, und würde sie beim Namen nennen. Ich tue es aber nicht.
Meine Damen und Herren, die geplante Subventionskürzung können Sie ernsthaft nicht angreifen wollen, ebensowenig eine Mehrwertsteuererhöhung, deren Aufkommen der Investitionsförderung, der Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen dient.Marktwirtschaftliche Prinzipien in den Wohnungsbau einzuführen — das wissen Sie, und das ist eine Feststellung, die niemand von Ihnen bestreiten wird —
ist uns zusammen mit den Sozialdemokraten nur in bescheidenstem Maße gelungen. Hier ist jetzt ein weiterer Schritt gemacht worden, der allein dazu dienen soll, dem Wohnungsbau neue Impulse zu geben, mehr Wohnungen und Einfamilienhäuser zu errichten, einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auch auf diesem Markt zu schaffen.Wenn der Kollege Ehmke gestern sagte, es handele sich hier um eine skandalöse Mietenpolitik,
dann kann ich nur sagen, Herr Ehmke: Die Politik, der Sie das Wort reden, schützt immer denjenigen, der eine Wohnung hat, der einen Arbeitsplatz hat, aber sie hilft nicht dem, der eine Wohnung sucht, und sie hilft nicht dem, der einen Arbeitsplatz sucht.
Ihre Antwort beschränkt sich auf das Ausmalen sozialer Katastrophen. Aber ich sage Ihnen: Was wir heute auf dem Wohnungsmarkt erleben, ist eine Katastrophe, weil niemand mehr zu bauen bereit ist. Das kann nur geändert werden, wenn wir die Angebotsbedingungen in der Wohnungswirtschaft nachdrücklich verbessern, und wir werden das tun. Meine Damen und Herren, dies ist doch nun wirklich eine für den Arbeitsmarkt schnell wirksame Maßnahme.
Ich bestreite nicht, daß Kürzungen bei Subventionen und im Sozialbereich Nachfrage wegnehmen, Herr Kollege Ehrenberg, die wir in der gegenwärtigen Lage eigentlich dringend brauchen. Aber auch hier verweise ich Sie auf das Sondergutachten, auf die richtige These des Sachverständigenrates, daß dieses Kaufkraftargument an der Vernachlässigung der Kostenseite krankt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein, jetzt bitte nicht mehr, Herr Präsident; es wird sonst für die anderen Kollegen zu lang.Zu Recht sagt der Rat, daß bei reduzierten individuellen Einkommensforderungen und staatlichen Ansprüchen im Prinzip mehr Produktion rentabel sei und daß damit mehr Beschäftigung, mehr Einkommen und mehr Konsum auf Dauer zu erwarten seien als bei höheren Forderungen. Wir setzen auf die investitionsanregenden Impulse, die von unseren Beschlüssen ausgehen werden — zugegebenerweise nicht in einem oder zwei Monaten —, wir setzen auf die psychologische Wirkung, die eine straffe Finanzpolitik bei den Investoren hervorrufen wird. Die positiven Stellungnahmen, die wir in den vergangenen Wochen aus der investierenden Wirtschaft gehört haben, bestätigen mich in dieser Auffassung. Die hohe Kreditaufnahme, die uns auch 1983 nicht erspart bleibt, wenn wir keine BrüningPolitik machen wollen, wird ein übriges tun, um prozyklische Gefahren zu bannen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, diese neue Regierung geht ohne Illusionen an die Arbeit, um über neues Wirtschaftswachstum mehr Beschäftigung zu schaffen und allmählich die Finanzierungsprobleme des Staates zu lösen. Wir sehen in der Arbeitslosigkeit, die alle in diesem Hause bedrückt — alle —, die größte soziale Unausgewogenheit in unserem Lande.
Wir wollen ohne falsche Versprechungen alles tun,um diese soziale Ungerechtigkeit so bald wie möglich zu lindern und später abzuschaffen. Das ist
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7303
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffkeine unsoziale Politik, wie unsere Kritiker meinen, bevor wir überhaupt angefangen haben, sondern der entschiedene und richtig angesetzte Versuch, das schwierigste sozialpolitische Problem in der Bundesrepublik Deutschland zu lösen. Wir werden bessere gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen schaffen, neue Perspektiven für unternehmerischen Erfolg und damit für mehr Arbeitsplätze.Diese Regierung weiß sehr genau — ich habe das auch in den vergangenen Wochen immer wieder betont —, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht allein auf der Welt ist, daß gerade unser Land von der weltwirtschaftlichen Entwicklung, vom Welthandel existentiell abhängig ist und bleiben wird. Die Zeichen, die von dort kommen, sind nicht ermutigend. Sie erschweren unsere ohnehin nicht leichte Aufgabe zusätzlich. Aber es führt doch nicht weiter, meine Damen und Herren, nur auf das Ausland zu sehen und selber die Hände in den Schoß zu legen. Wenn wir hier bei uns Fortschritte erzielen, dann wird das auch auf die internationale Wirtschaft ausstrahlen. Wir wissen, daß wir in unserem Kampf um mehr Beschäftigung in der Welt nicht allein stehen. Wir vertrauen auf die gemeinsamen Anstrengungen in der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus. Wir sehen mit gedämpfter Zuversicht eine Bewegung sinkender Zinsen in den Vereinigten Staaten, an den internationalen Märkten und damit auch bei uns. Wir werden alles tun, um die binnenwirtschaftlichen Voraussetzungen für sinkende Zinsen zu verbessern.Die Probleme, vor denen wir stehen, haben eine neue Koalition erzwungen, in der wir vertrauensvoll und Vertrauen schaffend — das ist noch wichtiger — zusammenarbeiten wollen, um die jetzt notwendigen Entscheidungen zu treffen. Wir bauen dabei auf die Mitarbeit aller gesellschaftlichen Gruppen in diesem Land; denn nur mit ihnen zusammen werden wir unser allerwichtigstes Ziel erreichen können: neue Arbeitsplätze zu schaffen — so viele wie möglich und so schnell wie möglich. — Ich bedanke mich.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Engholm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Lambsdorff, daß auch Politiker wie Sie in hohen Funktionen menschlich — allzumenschliche Züge zeigen, finde ich sehr vernünftig. Daß sich jemand für politische Schritte, die er in den letzten Wochen getan hat, nachträglich Legitimationen verschafft, wird ihm niemand verdenken. Aber Sie werden auch mir nicht verdenken, daß ich noch einmal auf das Zitat zurückkomme, das mein Kollege Apel in seiner Frage bereits angedeutet hat. Immerhin dreht es sich bei dem, der Sie in der „Frankfurter Rundschau" zitiert, um einen Mann, der über 22 Jahre aktive Arbeit in der liberalen Partei hinter sich hat, um den geschiedenen Generalsekretär Verheugen. Er sagt ohne Wenn und Aber — ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten —:In diesem Herbst hat sich die FDP endgültig als reiner Mehrheitsbeschaffer entlarvt.Wenn ein solcher Mann das sagt, muß da etwas dran sein.
Es lohnt gewiß auch einen Blick in die neueste Ausgabe des „Bayernkurier", um deutlich zu machen, daß der Beelzebub nicht nur auf seiten der Sozialdemokraten sitzt. Der Vorsitzende der CSU, der bayerische Ministerpräsident, schreibt in der letzten Ausgabe des „Bayernkurier" — ich zitiere auch das mit Genehmigung —:Das Verhalten der FDP selbst ist es, das die Partei an den Rand eines Abgrundes und vielleicht darüber hinaus bringt.
Ich will mit wenigen Bemerkungen an das anknüpfen, was Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff zu Wachstum und Investitionen gesagt hat. Wir verzeichnen bei der neuen Regierung eine, wie ich aus meiner Sicht dezidiert sagen möchte, sehr einseitig angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Da wird eine Philosophie angeboten, die heißt: Wir müssen nur ordentlich sparen, dann können wir kräftig investieren, dann wird das wirtschaftliche Wachstum steigen, und über dieses Wachstum werden wir die Arbeitslosigkeit beseitigen. Wir haben gemeinsam in Gegenwart von Graf Lambsdorff in einer der letzten großen Kabinettsrunden versucht, einen Sachkenner wie den Bundesbankpräsidenten Pöhl ganz konkret zu fragen: Wieviel Wachstum benötigen wir, um die Arbeitslosigkeit wirklich signifikant abzubauen? Darauf hat der Bundesbankpräsident, dem man dies doch sicher als Fachkenner abnehmen darf, gesagt, nach seiner Einschätzung brauche man dafür 6 % reales Wachstum. Damit wir uns richtig verstehen: 6 % reales Wachstum heißt für jeden, der die Materie kennt, ca. 11 % nominales Wachstum, und dies über eine längere Wegestrecke. Wer ernsthaft glaubt, daß angesichts der weltweit und der national herrschenden ökonomischen Rahmenbedingungen 11 % nominales Wachstum möglich ist, der mag damit selig werden. Es den Arbeitslosen zu verkaufen, verbietet uns die Ehrlichkeit.
Wir sollten uns auch daran erinnern, daß Wachstum in der Wirtschaft überhaupt nur dann auf Dauer stabil möglich sein wird, wenn die Grundbedingungen der Binnennachfrage und der Außennachfrage nach deutschen Gütern und Dienstleistungen stimmen. Da muß ich sagen: Wenn ich mir das Lambsdorff-Papier angucke oder das, was davon in die neue Regierungserklärung übergegangen ist, dann stelle ich fest, daß die Politik der neuen Regierung alles daransetzt, die Binnennachfrage durch die Kürzung der Bezüge der Arbeitnehmer, die Mieter, der Schüler, der Studenten, der Sozialhilfeempfänger und der Rentner zu dezimieren. Ich frage: Wenn die Menschen im Lande in diesem Jahr, im nächsten Jahr, im übernächsten Jahr nach Ihrer wirtschaftspolitischen Philosophie weniger Geld haben, um Güter und Dienstleistungen zu kaufen, wer kauft dann in der Bundesrepublik die Pro-
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Engholmdukte von AEG, wer die von Neff und Küppersbusch, wer bestellt einen Handwerker, wenn sein Einkommen weiter absinkt?
Solange Sie die Nachfragebedingungen, die Kaufkraft der Bürger durch Ihre Sparpolitik weiter runterfahren, werden die Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum nicht besser; sie werden objektiv schlechter.
Wir sollten solche Aussagen auch nicht im luftleeren Raum belassen. Wer im Lande noch das sogenannte Lambsdorff-Papier besitzt, sollte sich die Mühe machen, neben die zehn oder zwölf großen Sparpositionen, die Graf Lambsdorff vorgeschlagen hat, mit spitzem Bleistift zu schreiben, was es ihn und seine Familie als Arbeitnehmerhaushalt konkret kosten wird.
Da wird man ohne Schwierigkeiten feststellen, daß das Einsparvolumen, das im Lambsdorff-Papier einer durchschnittlich verdienenden deutschen Arbeitnehmerfamilie abverlangt wird, in einem Jahr ohne weiteres auf das Volumen von 8 000 DM auflaufen kann.
Allein durch das Streichen von Schüler-BAföG bei einem Kind wird der Werftarbeiter in Lübeck, von dem ich weiß, daß sein Kind eine beruflich fortführende Bildung macht, 3 000 DM netto im Jahr weniger in der Familienschatulle haben.
Ich stehe an, in diesem Zusammenhang als Sozialdemokrat zu sagen: Wenn man die Politik, die weiland Fürst Bismarck betrieben hat, mit der Politik vergleicht, die heute Graf Lambsdorff macht, muß man sagen: Der Fürst war weit sozialer.
Und wenn ich hinzurechne, was der Herr Arbeitsminister vorgeschlagen hat, nämlich eine Lohnpause für sechs Monate einzulegen, dann sage ich: Dies ist ökonomisch für die Struktur der Nachfrage, der Kaufkraft der Menschen tödlich. Aber es ist darüber hinaus für mich erschreckend, daß ein Mann, der Minister für Arbeit und damit doch im klassischen Verständnis der Deutschen ein Mann der Arbeiter dieser Republik ist,
seinen Menschen, für die er zuständig ist, ernsthaft vorschlägt, sechs Monate völlig auf jeden Zuwachs zu verzichten.
Ich muß sagen: Bei aller Kritik, die Sie aus Ihrer Sicht an früheren Arbeitsministern
üben mögen, haben die Herren Ehrenberg und Westphal auf diesem Feld über erheblich mehr politische Moral verfügt.
Ich glaube durchaus, daß wir Wachstumschancen, die es gibt, nutzen sollten; ich bin kein bewußter Null-Wachstümler. Aber wir sollten uns konkret fragen: Wo wird künftig investiert, wenn über die Nachfragebedingungen national, aber auch weltweit das große Wachstum nicht beflügelt werden kann?Ich finde es interessant, die jüngst gehaltenen Reden der Herren Rodenstock, Esser, Otto Wolff von Amerongen und anderer nachzulesen. Da werden Sie feststellen, wo die großen Investitions- und Wachstumsschübe der kommenden Monate und Jahre stattfinden sollen. Sie werden nach Aussagen von Kennern in der Wirtschaft dort stattfinden, wo man die sogenannte zu teure Arbeit durch mittelfristig kostengünstiger operierende Maschinen ersetzen wird: Rationalisierung. Und am Ende dieser Welle wird die Arbeitslosigkeit größer sein, als sie es heute ist.
Es bleiben dann — dies muß von Sozialdemokraten besonders kritisch hinterfragt werden — die großen Investitionswellen, die man bewegen kann, wenn man die sogenannten Investitionshemmnisse wegschafft.Da gibt es ein leuchtendes Beispiel, das zu setzen der neue Postminister sich anschickt. Er hat uns kürzlich in einer Pressemitteilung wissen lassen, daß er durch das Forträumen von Investitionshemmnissen zunächst einmal 13 Milliarden DM in die Verkabelung der Bundesrepublik hineinstecken werde und damit ein nennenswertes Wachstum auf einem bestimmten Feld erzielen möchte.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Verkabelung der Bundesrepublik wird nicht nur zu einer tiefgreifenden Veränderung der Medienstruktur — und durchaus nicht hin zu mehr Meinungsvielfalt — führen.
Denjenigen von Ihnen, die über Familienpolitik und über die Werte der Geborgenheit reden, sage ich:
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7305
EngholmEs wird auch zu einer tiefgreifenden Veränderung des sozialen Lebens und der Familien kommen.
Ich bitte die wenigen von Ihnen, die auf diesem Felde noch ein offenes Ohr und Gespür haben:
Schauen Sie sich die Erfahrungen an, die mit dem privat organisierten Kabelfernsehen in den Vereinigten Staaten und Japan gemacht worden sind!
Sie werden feststellen — das ist von konservativen Sozialwissenschaftlern aufgearbeitet und unwidersprochen —: Jugendliche im lichten Alter von 10 Jahren sind in Amerika bereits in den „Genuß" gekommen, an 30 000 Fernsehmorden teilhaben zu dürfen. Wie das mit Ihren Werten der Geborgenheit, der Familie in Einklang zu bringen ist, müssen Sie uns noch erklären!
Ich will nicht in Abrede stellen,
daß es Wachstumsfelder gibt und daß wir nicht darauf verzichten können, durch gezielte Wachstumsanstrengungen zu verhindern, daß nur Japan und einige andere Länder in den Genuß von Zuwachs kommen. Aber: mit Ihrem einseitigen Konzept, das auf Förderung der Investitionen setzt und hofft, dadurch Wachstum und den Abbau von Arbeitslosigkeit zu erzielen, werden Sie in absehbarer Zeit Ihr wirtschaftsphilosophisches Waterloo erleben. Ich vermisse in Ihrer Philosophie — und im Lambsdorff-Papier ist es sogar ausdrücklich untersagt, darüber zu diskutieren — jedweden Ansatz, wie man, wenn das Wachstum nicht reichen wird, in der Zukunft über eine andere Verteilung von Arbeit den Menschen, die heute sehnsuchtsvoll auf Arbeit warten, Arbeit gibt.
In einem wichtigen Punkt stimme ich — theoretisch — mit dem Herrn Bundeskanzler und auch mit dem Wirtschaftsminister überein, und zwar dann, wenn beide die hohen Qualifikationsanforderungen an die jungen Menschen in unserem Lande beschwören. Wir wissen, daß unser Land nicht mit 5 % Eliten auf Dauer existieren und überleben kann. Wir brauchen die breite Qualifikation großer Schichten der Jugendlichen in der Bundesrepublik, und das sind sowohl handwerkliche als auch intellektuelle Qualifikationen. Darin stimmen wir theoretisch überein.
Herr Abgeordneter Engholm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dallmeyer? — Bitte sehr.
Herr Kollege Engholm, können Sie der Öffentlichkeit und uns noch einmal Ihr Konzept zur „Beseitigung der Arbeitslosigkeit" — von Vollbeschäftigung zu 2 Millionen Arbeitslosen — deutlich machen? Wie sah Ihr Konzept in den letzten zehn Jahren aus?
Wir werden uns in nicht einmal anderthalb Jahren — sollten Sie das unwahrscheinliche Glück haben, nach dem 6. März weiter regieren zu können — erneut darüber unterhalten.
Sie werden — nehmen Sie dies bitte nicht als Ideologie — mit Ihrer einseitig orientierten Wirtschaftspolitik, von der ich sage, daß sie nicht einmal analytisch in Ordnung ist, daß sie nicht einmal auf der Höhe der modernen Wirtschaftswissenschaften steht, scheitern.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein. Ich bitte um Nachsicht, aber die Zeit läuft mir sonst weg.
Zum Punkt der Qualifikation der jungen Menschen möchte ich gern noch ein paar Takte sagen. Ich habe bewußt gesagt, wir stimmten theoretisch überein, aber ich werde Sie als die neuen Mehrheitsfraktionen und als die neue Regierung zu fragen haben, wie es mit Ihrer Bildungspolitik denn praktisch aussieht. Es gibt einen Punkt, an dem man dingfest machen kann, wo klassischerweise und auch in der Zukunft die Unterschiede zwischen Sozialdemokraten einerseits und Christsozialen und Christdemokraten andererseits liegen. FDP und SPD haben sich in der Vergangenheit mit Leidenschaft zu einem bekannt: Bildungschancen für alle Jugendlichen ohne Berücksichtigung von Fragen der Herkunft, des Geschlechts oder des Einkommens.
Wir haben für alle Jugendlichen gleiche Bildungschancen gefordert; denn wir wissen, daß die Öffnung unserer Bildungseinrichtungen und die Chance für alle Jugendlichen ohne jeden Unterschied der einzige Weg sind, auf dem sich Jugendliche als Mensch verwirklichen können, verwirklichen können in Beruf und Arbeit, verwirklichen können aber auch in der Demokratie als Staatsbürger. Wenn ich mir angucke, was die neue Regierung vorschlägt, stelle ich fest: Von dieser Politik, der Politik Bildung und Öffnung für alle, wird es ein
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7306 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Engholmdezidiertes Zurück geben, indem Bildung wieder ein Privileg für weniger Menschen werden wird.
Da werden, wenn man sich die Vorläufer dieser Regierung anguckt, in Baden-Württemberg etwa — und dies wird gar als ein Fortschritt für diese Bildungseinrichtung bemäntelt — Examen für Hauptschüler eingeführt. Das heißt, die Hauptschüler, unter denen viele jugendliche Ausländer sind, die mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, müssen am Ende ihrer neunjährigen Laufbahn zusätzlich noch ein Examen machen. Dasselbe wird künftig durch die Einführung einer Reifeprüfung für die Abschlüsse in der Mittelstufe gelten. Künftig wird es in den Oberstufen in den christdemokratisch regierten Ländern weniger Reformen, vielmehr eine Rückreform in der gymnasialen Oberstufe geben. Ich habe weder vom Bundeskanzler noch von Ihnen bisher ein Wort gehört, ob Sie wirklich dafür eintreten, die Ausweitung des Numerus clausus an den wissenschaftlichen Hochschulen zu verhindern.
Wenn wir diese Punkte zusammenfassen und daraus eine Schlußfolgerung ziehen, dann kann diese Schlußfolgerung nur heißen: Es ist Ziel Ihrer Politik, die die Wende beschwört, künftig Bildungseinrichtungen stärker voneinander abzuschotten und damit letztlich wieder ein typisches Dreiklassenbildungssystem zu schaffen.
— Sie brauchen mir nichts über das duale System zu sagen. Ich habe in den fünf Jahren meiner Tätigkeit
in jeder Rede hier die Vorzüge und die Qualifikationen des dualen Systems verteidigt und aufbauen helfen.
Aber ich will Ihnen an einem anderen Punkt, der mir persönlich sehr nahegeht, sagen, was künftig Politik der Wende bedeuten wird. Jeder Schüler, jede Schülerin, jeder Student, jede Studentin und ihre Eltern müssen von heute an wissen, daß das Schüler-BAföG ab 1983 endgültig gefällt und das Studenten-BAföG endgültig auf ein Volldarlehen umgestellt wird. Ich will an wenigen Beispielen deutlich machen, was das heißt, weil ich tatsächlich befürchte, daß sich auch manche Kolleginnen und Kollegen in der christdemokratischen Fraktion die Auswirkungen dieses Beschlusses nicht vor Augen geführt haben. Es heißt, daß künftig bis zu 600 000 junge Menschen, die bisher Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz bekommenhaben, von heute auf morgen von dieser Förderung abgeschnitten werden.
Es heißt, daß von diesen fast 600 000 Jugendlichen mehr als 60 % nicht die klassischen Abiturienten sind, die Sie vielleicht im Visier haben. Rund 60 % der Geförderten sind in beruflichen weiterführenden Schulen; das sind die Kinder der deutschen Arbeitnehmer.
Diese Maßnahme des Streichens von BAföG trifft ausschließlich Elternhaushalte, die Einkommen haben, die um die 1 500 DM im Monat liegen. Das heißt, ausschließlich einkommenschwächere Haushalte werden von dieser Streichungsmaßnahme getroffen.
Man muß konkret wissen, was es bedeutet, wenn für ein Kind in förderungsfähiger Ausbildung BAföG wegfällt. Es bedeutet für die Eltern den Verlust von bis zu 3 000 DM Familieneinkommen im Jahr. Es gibt nicht nur wenige, sondern Zehntausende von Familien, die zwei Kinder in förderungsfähiger Ausbildung haben. Die werden dann künftig auf bis zu 6 000 DM ihres Familieneinkommens verzichten müssen. Das wird bedeuten, daß wir Arbeitnehmereltern über diese Maßnahme zumuten, bis zu 25 % und mehr ihres nominalen Jahreseinkommens aufzugeben. Das wird sie in bittere Not bringen.
Ich behaupte, daß mit diesen Maßnahmen das Ende der von uns über 13 Jahre konsequent verfolgten Politik der Chancengleichheit eingeleitet ist.
Ich sage: Diese Politik ist familienfeindlich.Eine Politik, die die wirklich mühselig und zum Teil doch mit Ihrer Zustimmung aufgebauten Bildungschancen wieder abschafft und die Kinder gerade der breiten, der einkommensschwächeren Schichten in unserem Volke zur ökonomischen Sparbüchse macht, darf alles, aber nicht Moral für sich reklamieren.
Eine Politik, die doch, wie wir in der Regierungserklärung des neuen Herrn Bundeskanzlers erlebt haben, im Übermaße Tugenden wie Liebe, Erziehung, innere Nähe und Geborgenheit in der Familie predigt, praktisch aber gleichzeitig Bildungs- und Kulturchancen vermindert, tut nichts anderes, als die von ihr propagierten Werte zur bloßen Ideologie verkommen zu lassen.
Ich fürchte, daß die junge Generation — das gilt insbesondere für die nicht kleine Zahl der Betroffenen — eine Konsequenz aus dieser Politik ziehen wird. Sie wird sich in der Zukunft von Parlament, von Parteien, von Institutionen und Politik noch weiter abwenden. Die Last dieser Abwendung, den
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7307
EngholmVerlust an Legitimation werden dummerweise nicht nur Sie bezahlen müssen;
dies werden wir alle bezahlen müssen.
Viele junge Menschen, die Sie gerade durch das Streichen von BAföG-Leistungen und das Abschotten der Bildungseinrichtungen in ihren Lebenschancen direkt mindern, werden sich auch wieder stärker auflehnen und protestieren. Ich will keinen Hehl daraus machen: Ich werde in diesem Falle — wie meine Freunde in der SPD — auf der Seite der Jugendlichen stehen.
Ich glaube, daß die von Ihnen offerierte und wortreich beschworene Wende den Namen Wende im Sinne von Fortschritt nicht verdient, denn sie weist nicht nach vorn. Diese „Wende-Politik" öffnet keine neuen Wege. Sie zeigt keine neuen Perspektiven. Sie gibt nicht mehr Hoffnungen. Sie nimmt Jugendlichen vielmehr von den wenigen Hoffnungen, die diese heute haben.
Herr Abgeordneter Engholm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gnädige Frau, ich bin beim letzten Satz. Aber bitte schön, ich will nicht kneifen.
Herr Kollege Engholm, würden Sie mir nicht zustimmen, daß es uns bei den Kürzungen beim BAföG nicht darum geht, die Bildungswege jetzt für die jungen Leute abzuschotten, sondern daß es darum geht, daß unser Haushalt und unsere Finanzen derart desolat sind, daß diese Leistungen leider nicht mehr finanzierbar sind?
Sie haben uns als Sozialdemokraten in der Vergangenheit oft vorgeworfen, wir beschäftigten so etwas wie eine Arbeitsgruppe „Semantik". In der Tat war manches sehr blumig, was Sozialdemokraten gesagt und geschrieben haben. Diesen Vorwurf muß ich in diesem Falle allerdings an Sie zurückgeben. Es geht nicht um die Kürzung von BAföG. Es geht nach Ihrer Erklärung um das Abschaffen von BAföG für über 90 % aller Bezieher.
Da die meisten, die hier sitzen, doch selbst Kinder haben und wissen, was es kostet, ein Kind drei Jahre lang auf eine weiterführende Bildungseinrichtung zu schicken, was dies zusätzlich an Kleidung, an Büchern, an Taschengeld und all dem, was Jugendliche notwendigerweise brauchen, kostet,
wissen Sie auch, daß Sie es, wenn Sie hier 250 DM pro Nase radikal wegnehmen, den Eltern unmöglich machen, die Kinder länger zur Schule gehen und eine weiterführende Bildungseinrichtung besuchen zu lassen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?
Nein.
Ich sage deshalb, daß das, was Sie wortreich, aber vergeblich, als eine Politik der Wende nach vorn zu bemänteln suchen, in Wirklichkeit bildungspolitisch nichts anderes ist als die Rückwende in die 50er und 60er Jahre.
Die jungen Menschen in diesem Lande — und das sind Schüler, das sind Auszubildende, das sind Studenten —, ihre Eltern, die aufgeschlossenen Pädagogen und Ausbilder, die Gewerkschaftsjugend, die Künstler und die Intellektuellen des Landes werden diese Politik durchschauen. Sie alle und die Jugendlichen sehnen sich nicht in die 50er und 60er Jahre zurück.
Wir werden in unserem Parlament als Sozialdemokraten — und wo es geht auch mit den Freien Demokraten — alles tun, um diesen falschen Schritt in eine falsche Vergangenheit aufzuhalten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Engholm, der frühere Landwirtschaftsminister,
hat sich am Anfang über ökonomische Tatbestände ausgelassen und gesagt, er sei kein bewußter Null- Wachstümler. Meine Damen und Herren, noch viel schlimmer sind die unbewußten Null-Wachstümer; denn die führen etwas herbei, was nachher nicht mehr repariert werden kann.
Wer unbewußt Null-Wachstum herbeiführt, ist allerdings unfähig zur Erkenntnis, und das ist schlimm für einen Parlamentarier und Politiker.
Merkwürdig berührt hier immer wieder der Vorwurf, die FDP, die ihre Probleme selber lösen muß, sei nur ein Mehrheitsbeschaffer. Nur, meine Damen und Herren, dazu, daß man selber Minister wurde — was man normalerweise nie geworden wäre —, war die FDP recht. Und, meine Damen und Herren von der FDP, es ist Ihr Problem, daß solche Leute in
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7308 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. Waigelden letzten 13 Jahren überhaupt Minister werden konnten.
Herr Abgeordneter Dr. Waigel, ich muß Sie unterbrechen. — Darf ich bitten, daß die Damen und Herren auf der linken Seite des Hauses entweder die Plätze einnehmen
— einen Moment, ich komme dann auch noch zur rechten Seite — oder die Unterhaltungen draußen führen. Dies gilt auch für die rechte Seite, sogar einschließlich der Bundesminister.
Herr Präsident, ich bedanke mich.
Es ist seit gestern spürbar, welcher Stil bei der SPD einkehrt, wenn jemand von uns spricht: die systematische Störung und Mißachtung des Redners der Regierungskoalition — systematisch.
Herr Abgeordneter Dr. Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Löffler?
Beim Kollegen Löffler immer gern.
Schönen Dank, Herr Dr. Waigel. — Ist es Ausdruck der geistig-moralischen Erneuerung und des neuen politischen Stils, wenn Sie von ehemaligen Ministern als von „solchen Leuten" sprechen,
und glauben Sie, daß es, wenn wir diesen Stil hier im Hause fortführen, zu einer Versachlichung der Politik führen wird, wie Sie sie eben verlangt haben?
Herr Kollege Löffler, Sie können die Frage gar nicht so ernst gemeint haben, wie Sie im Moment schauen.
— Nein. Für mich sind „Leute" Menschen. Das ist das gleiche Wort. Das ist im Schwäbischen durchaus üblich. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie damit eine ernsthafte Zwischenfrage stellen wollten. Das wollten Sie doch gar nicht, sondern Sie wollen sich als Zwischenfrager profilieren.
Nur, Herr Kollege Löffler, da müssen Sie noch viel
von Herbert Wehner lernen, damit Sie das zur Meisterschaft entwickeln. Wahrscheinlich schaffen Sie es nie.
— Nein.
Herr Abgeordneter Löffler, es ist das Recht jedes Abgeordneten, der am Pult ist, eine Zwischenfrage zuzulassen oder abzulehnen. Es geht nicht an, daß man, ohne daß man das Wort bekommen hat, am Mikrophon weiterhin das sagt, was man sagen will.
— Ist in Ordnung, Herr Löffler.
Der Kollege Engholm meinte dann, auch noch einmal Strauß hinsichtlich der FDP zitieren zu müssen. Meine Damen und meine Herren, Herr Strauß hat im „Bayernkurier" lediglich gesagt, daß die FDP ihre Probleme selber lösen müsse, nichts anderes. Das ist die nackte Wahrheit; das weiß die FDP selber.
Dann hat sich Herr Engholm noch um die Frage „angebots- oder nachfrageorientierte Politik?" bemüht. Dazu frage ich Sie einmal, meine sehr verehrten Damen und Herren: Was hat uns denn national und international in das Dilemma dieser Wirtschaftspolitik geführt? Es war eine international, also in vielen Ländern überzogene nachfrageorientierte Politik, die unfähig war, den Anpassungsprozeß der 70er und der 80er Jahre in Gang zu setzen und zu bewältigen.
Herr Kollege Engholm hat für die Wirtschaftspolitik gefordert, was er in der Bildungspolitik ohne Erfolg versucht hat, nämlich die Verwaltung des Mangels. Sozialdemokraten haben für die Lösung zukünftiger Probleme doch nur ein einziges, einfallsloses und teures Rezept, nämlich neue Bürokratien, neue Großorganisationen, mehr Steuern,
mehr Abgaben. Wer in der Bildungs- und der Wirtschaftspolitik so versagt hat, sollte jetzt wirklich eine Weile still sein und den anderen ihre verdiente Chance geben.
Herr Abgeordneter Dr. Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Gern.
Herr Kollege Waigel, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß in den Münchener Beschlüssen des SPD-Parteitags zur Wirtschafts- und Finanzpolitik und in dem an diesem Montag vom Parteivorstand der SPD verabschiedeten Konzept für aktive Beschäftigungspolitik an erster Stelle die Verstärkung öffentlicher In-
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Dr. Ehrenbergvestitionen steht, die ja glücklicherweise teilweise auch in Ihrem Koalitionspapier wieder erscheinen, und dann eine vernünftige, konjunkturgerechte Finanzierung steht? Das Rezept ist da. Vielleicht helfen Sie mit, die Mehrheit für ein so vernünftiges Konzept zu finden.
Herr Kollege Ehrenberg, Sie wissen genau wie ich, daß mit öffentlichen Investitionen und auch mit deren notwendiger Steigerung allein das Problem nicht zu bewältigen ist. 82 % der Investitionen müssen im privaten Sektor erfolgen. Deshalb geht es darum, die „incentives", die Ankurbelung hier anzusetzen.Ich gebe Ihnen recht: Auch im öffentlichen Bereich sind zu wenig Investitionen erfolgt und müssen mehr erfolgen. Nur steht Ihre Aussage auf dem Münchener Parteitag im Gegensatz zu der Feststellung des früheren Bundeskanzlers vor Ihrer Fraktion, daß Sie einen Teil der Steigerung der sozialen Ausgaben mit einem Rückgang der öffentlichen Investitionen bezahlt haben. Wenn jetzt Ihre Forderung nach mehr öffentlichen Investitionen kommt, so ist das unglaubhaft, nachdem Sie die öffentlichen Investitionen 13 Jahre lang systematisch heruntergefahren und damit zur Wachstumsschwäche in unserer Volkswirtschaft beigetragen haben.
Dann hat Herr Kollege Engholm zu einem richtigen politischen Rundumschlag ausgeholt und ihn bei der Medienpolitik fortgesetzt. Meine Damen und Herren, entspricht es eigentlich sozialdemokratischer Philosophie, den Bürger zu bevormunden und ihm auferlegen zu wollen, er solle bei der Auswahl von Programmen nur zwei statt möglicherweise sechs Tasten bedienen? Wo bleibt eigentlich der mündige Bürger, der permanent postuliert wird? Es ist doch eine großartige Sache, daß auf der Buchmesse jedes Jahr mehr Bücher erscheinen. Warum ertönt hier nicht die Forderung nach weniger und statt dessen im sozialdemokratischen Sinne richtigeren Büchern?! Warum gilt das, was in der Literatur geschieht, nicht auch für die neuen Medien?
Auf dem Gebiet des Geistes — da unterscheiden wir uns diametral von Sozialdemokraten — möchten wir mehr und nicht weniger Angebot.
Wie kann man eigentlich von einem Abbau der Chancen im Bildungsbereich sprechen, wenn ausgerechnet sozialdemokratische Bildungspolitik dazu geführt hat, daß heute der Akademiker den Nichtakademiker verdrängt, der Hochschulabsolvent den Mittelschulabsolventen, dieser wieder den Hauptschüler und der Hauptschüler vielleicht einen anderen, der über weniger Ausbildung verfügt? Wir haben doch ein Zuviel an akademischer und ein Zuwenig an qualifizierter beruflicher Ausbildung.
Meine Damen und Herren, ich werde darauf noch zu sprechen kommen: Die Sprache verrät ja den Charakter.
War es nicht Herr Brandt, der hier einmal gesagt hat, in einem solchen Bildungssystem könne man nur Schlosser werden? Mir ist ein guter Schlosser wesentlich lieber als ein schlechter Akademiker.
Schade, daß der Kollege Ehmke im Augenblick nicht da ist. Ich wollte mich nämlich mit ihm beschäftigen, weil wir nicht bereit sind, das hinzunehmen, was hier gestern an vergiftender Polemik und persönlicher Verunglimpfung geboten wurde.
Es mag sein, daß das eine Vorwärtsstrategie zur Nachfolge von Herbert Wehner in den eigenen Reihen war.
Nur war dies für das Parlament, für die Toleranz unter Abgeordneten und in der Politik ein miserabler Beitrag.
Als Vertreter der jüngeren Generation in diesem Hause habe ich mich für diese Rede geschämt. Ich sage dies mit Bedauern, weil ich gerade in meiner Studentenzeit den Professor Ehmke als einen achtbaren Rechtsprofessor und Staatswissenschaftler kennengelernt habe,
ihn sogar für meine Promotion verwandt habe und erst später entdeckt habe, daß er im politischen Bereich nicht das gleiche hält, was ich von ihm eigentlich als Wissenschaftler erwartet habe.
Wer so redet und wer so denkt, wie er das gestern getan hat, der kann die Jugend weder für seine eigene Partei noch für die Demokratie noch für unseren Staat und unsere Gesellschaft gewinnen. Das ist schlimm, das ist schlimm für uns alle.Ich versage es mir, die ganzen politischen Wege des Kollegen Ehmke im letzten Jahrzehnt im einzelnen zu beleuchten. Ich würde dann in den gleichen Stil verfallen, wie er das getan hat, und ich lehne das ab.
— Ich bin bei der Sache, Herr Löffler, und die Sache tut Ihnen weh. Das weiß ich.
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7310 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. WaigelWoher ausgerechnet Herr Ehmke das Recht nimmt, sich über notwendige geringe personelle Umsetzungen in Ministerien auszulassen, wie er das gestern getan hat, bleibt mir unerfindlich. Täusche ich mich, oder stammt von ihm das Wort aus dem Jahre 1969, er ginge mit der Maschinenpistole durch die Führungsetagen, um hier für entsprechende Ordnung in den Ministerien und im Kanzleramt zu sorgen?
Die damalige Amtsübergabe bzw. Amtsübernahme war schlichtweg unwürdig. Die Amtsübernahme unseres Kollegen und des neuen Bundesinnenministers Friedrich Zimmermann war honorig, wie es auch vom Innenministerium selbst durch Beifall bestätigt wurde.
Sie können sich umhören, und Sie werden es erfahren.Ein Zweites zum Kollegen Ehmke. Er hat gestern versucht, meinen persönlichen und politischen Freund Dr. Fritz Zimmermann persönlich zu verunglimpfen, indem er versucht hat, einen rechtskräftigen Freispruch nach 20 Jahren in eine Anklage von heute umzufälschen.
Daß dies ein Professor der Rechte tut, gibt dem Vorgang ein besonderes Gewicht. Nur richtet sich das gegen ihn selbst.
Ich bekenne mich zu der politischen Leistung, die Dr. Friedrich Zimmermann in verschiedenen Funktionen, in 25 Jahren, die er dem Deutschen Bundestag angehört hat, für unser Land erbracht hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. —
Ich zolle ihm hierfür mindestens den gleichen Respekt, den ihm auch die SPD und politisch anders Gesinnte für seine langjährige Arbeit als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und für seine Mitwirkung in interfraktionell besetzten besonderen Gremien dieses Hauses bescheinigt haben.
Vielleicht aber findet sich wenigstens ein Spitzenpolitiker, ein Spitzenrepräsentant der SPD, der sich noch daran erinnert, wie Fritz Zimmermann im Verlauf schwerer Wochen, die unser Land zu bestehen hatte, nämlich als der große Krisenstab der Bundesregierung zusammengetreten ist, zusammengearbeitet hat. Oder ist ein Teil dieses Hauses für ein Wort des menschlichen Anstandes hier nicht mehr fähig und nicht mehr willens?
Ich danke Ihnen, Herr Dr. Dregger, daß Sie das gestern richtiggestellt haben. Ich danke Ihnen, Herr
Bundesaußenminister, daß Sie das ebenfalls getan haben, und ich danke Ihnen, Herr Mischnick, daß Sie schon in der letzten Debatte hier ein klares Wort dazu gesagt haben.
Über alle politischen Gräben hinweg muß Friede und auch Versöhnung im Bereich der Politik möglich sein. Die Attacke von gestern war unfair, von Haß erfüllt, und sie war unchristlich, meine Damen und Herren.
Ich kann Ihnen nur raten: Bringen Sie dies in Ordnung, und trennen Sie sich von diesem Feindbild, das weder Ihnen noch anderen nützt.
Herr Kollege Ehmke gilt ja in manchen Kreisen — eigentlich müßte man das von einem Bildungsminister auch erwarten — als Intellektueller oder jedenfalls auch intellektuellen Fragen gegenüber als aufgeschlossen; doch die Rede von gestern war ohne geistige Perspektive, und sie war ohne menschliche Toleranz.
Polarisierender Haß gegen uns und Einigkeit nur in der emotionalen Gegnerschaft zur Wirklichkeit sind kein Beitrag, um gerade distanzierte Gruppen für diesen Staat und für diese Gesellschaft zu gewinnen.
Herr Abgeordneter Dr. Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?
Jawohl.
Herr Dr. Waigel, man tut Ihnen ja sicher nichts Böses an, wenn man Sie als Jungmann von Franz Josef Strauß bezeichnet. Warum eigentlich wenden Sie Ihr stilistisches Zartgefühl, das Sie jetzt in Richtung auf Herrn Ehmke produzieren, nicht einmal mahnend in Richtung auf Franz Josef Strauß an?
Ich kann mich nicht daran erinnern, daß Franz Josef Strauß je in einer solchen Haßtirade auf andere losgegangen wäre.
Er besitzt — bei aller bayerischer Eigenart — hundertmal mehr Toleranz und Fairneß gegenüber dem politischen Gegner, als Sie dies gestern haben zeigen lassen.
Dieser ungute Eindruck, der bei der jungen Generation vorhanden ist, ergibt sich auch in den weiten Bereichen der Kulturschaffenden, der Künstler, der Schriftsteller, der Intellektuellen. Noch nie war deren Resignation und deren Skepsis so groß wie
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7311
Dr. Waigelnach 13 Jahren sozialdemokratischer Kanzlerschaft. Die Sensibilität für das Ende der sozialliberalen Koalition, die Sensibilität für das Ende dieses sozialliberalen Konsenses, von dem Dahrendorf ja schon vor Jahren gesprochen hat, war dort längst vorhanden.
Herr Abgeordneter Waigel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehrenberg?
Nein, es tut mir schrecklich leid; es ist zwar reizvoll, und Sie wissen, daß ich Zwischenrufe gern mag, wenn sie aber systematisch nur gemacht werden, damit der Redner keinen Gedanken zu Ende führen kann, dann hat das keinen Sinn mehr.
Herr Abgeordneter Dr. Waigel, ich wäre dankbar — das gilt für Sie und für die nachfolgenden Redner —, wenn Sie mich bzw. den amtierenden Präsidenten wissen ließen, ob Sie Zwischenfragen zulassen oder ob Sie Zwischenfragen generell nicht zulassen.
Herr Präsident, ich sehe mich nicht in der Lage, das so pauschal zu beantworten. Ich möchte nur diesen Gedanken zu Ende führen. Oft sieht man ja, wenn ein verehrter politischer Gegner aufsteht, ob es Sinn hat, eine Frage zu beantworten oder nicht.
Wir leben hinsichtlich des Bereiches, von dem ich sprach — Intellektuelle, Kulturschaffende —, sicherlich in einem Spannungsverhältnis von Macht und Geist, auch in einem Spannungsverhältnis von Wirtschaft und Geist. Gerade bei Angehörigen dieser Bereiche, die wir so dringend brauchen, um die geistige Krise der Gegenwart zu beenden und hier eine Wende herbeizuführen, entsteht dann oft Abwehr, Abwertung und Angst vor der politischen Macht. Gerade diesen Dialog mit der Wissenschaft, mit der geistigen Welt zu ermöglichen und zu befördern werden wir uns im besonderen annehmen müssen.Macht erwartet, oft jedenfalls, hofiert zu werden. Wenn man sich die Art und Weise, wie der frühere Bundeskanzler Schmidt mit den Leuten umging, in Erinnerung ruft, muß man sagen, daß darin jene Hoffnung zum Ausdruck kam, hofiert zu werden. Wir werden diese Arroganz gegenüber dem Geist jedenfalls nicht pflegen. Wir werden uns der Kritik stellen. Wir sind insbesondere dankbar dafür, daß gerade im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich in den letzten Tagen soviel Ermutigung, auch soviel Konsens und soviel konstruktive Kritik für das zu verzeichnen war, was sich diese Koalition, diese Regierung vorgenommen hat.
Gestern haben wir wieder einmal die alte Platte von der Wirtschaftspolitik in Amerika und von der Wirtschaftspolitik in England gehört. Hören Siedoch endlich damit auf; das bringt uns nichts. Wir betreiben hier weder amerikanische noch englische Wirtschaftspolitik, aber auch nicht französische Wirtschaftspolitik.
Der Bruch der früheren Koalition ist nicht durch Verrat oder durch finstere Machenschaften herbeigeführt worden. Nein, dieser Bruch ergab sich, weil der sozialliberale Konsens — ein Konsens der Modernität, der Umstrukturierung, der Bildungsexpansion, des Abbaus von Institutionen — nicht mehr getragen hat. Darum war der Vorrat an Gemeinsamkeiten zu Ende, lange bevor diese Koalition wirklich in die Brüche gegangen ist.
Alles andere, was Sie betreiben, gehört zur politischen Legendenbildung und zur falschen Märtyrermentalität, die Sie sich nicht angewöhnen sollten. Sie bringt auf die Dauer nichts.Die wirtschaftliche Hinterlassenschaft der Regierung Schmidt ist düster. Ich erinnere an die Zahl der Arbeitslosen, die Stagnation in der Wirtschaft, die internationalen Probleme, vor denen wir stehen. Aber auch wenn wir anerkennen und wissen, wie die strukturellen Verwerfungen zustande gekommen sind, so dürfen sie nicht über unsere hausgemachten Probleme hinwegtäuschen. Wir dürfen vor allen Dingen nicht hoffen, daß irgendein Deus ex machina kommt und unsere binnenwirtschaftlichen Probleme lösen könnte, zumal sich der Exportboom der letzten eineinhalb bis zwei Jahre leider nicht auf die Binnennachfrage ausgewirkt hat. Deshalb werden jetzt um so mehr unsere nationalen Antworten zur Wende in der Wirtschaftspolitik erwartet.
Der Abgeordnete Helmut Schmidt ist sich auch in den vergangenen Wochen treu geblieben, nämlich für eigene Fehler und Versäumnisse immer Sündenböcke zu suchen. Am Ende seiner Kanzlerschaft, nämlich in seiner letzten Rede — ich finde, das ist besonders unfair — hat er wieder einmal der Bundesbank vorgeworfen, sie habe ihren Zinssenkungsspielraum keineswegs ausgenutzt, obwohl derselbe Bundeskanzler in einer wahrhaftigen Rede vor seiner Bundestagsfraktion Anfang Juni dieses Jahres genau das Gegenteil behauptet hat. Solche Vorwürfe sind nichts anderes als eine Flucht aus der Verantwortung. Ich darf ein namhaftes Forschungsinstitut zitieren, das jetzt sagt: Innerhalb von Europa ist gegenwärtig vor allem Frankreich ein Magnet für Auslandsgelder, da die französische Regierung zur Bekämpfung der Inflation und aus zahlungsbilanzpolitischen Gründen eine harte Politik des knappen und teueren Gelds verfolgt.Das heißt, die kundigen und fixen Berlin-Anleger der letzten Jahre müssen sich nun eine neue Möglichkeit einfallen lassen. Die Wirtschaftspolitik der französischen Regierung und der entspre-
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7312 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. Waigelchende Verdrängungswettbewerb auf den Kapitalmärkten führen dazu, daß jene Lukrativität, die in Berlin wegen stärkerer Aufsicht durch die Gewerkschaften vielleicht nicht mehr möglich ist, künftig in Frankreich bei einer sozialistischen Regierung ermöglicht werden könnte.Wir müssen heute der Bevölkerung über die tatsächliche Finanzlage unseres Staats klaren Wein einschenken, und wir müssen ein Sofortprogramm vorlegen, das für die kommenden Monate Gewähr dafür bietet, daß der Karren nicht noch weiter im Dreck versinkt. Dazu gibt es — das haben wir immer gesagt — keine kurzfristig erfolgversprechenden Patentrezepte. Die vorhandene Erblast — das hat gestern Bundesminister Stoltenberg in einem brillanten Beitrag dargetan — kann nur auf der Grundlage einer realistischen Bestandsaufnahme und nur durch schrittweise Eingriffe, die auf mehrere Jahre verteilt werden, abgetragen werden.Unsere Bevölkerung wurde seit Jahren mit wirtschafts- und finanzpolitischen Hoffnungen konfrontiert, die sich dann immer wieder als Märchen „Nun sind wir über den Berg" herausgestellt haben.
Wir müssen heute feststellen: Die wirtschaftliche Stagnation wird auf Grund der ökonomischen Situation und der Entwicklung des letzten Jahrzehnts, vor allen Dingen der letzten Jahre, vorläufig anhalten. Die Aussichten auf ein angemessenes reales Wirtschaftswachstum sind gegenwärtig minimal. Zusätzliche Verteilungsspielräume gibt es nicht. Die Arbeitslosigkeit wird auf Grund dieser Situation und der Entwicklung der letzten Jahre vorläufig noch zunehmen. Eine nachhaltige und dauerhafte Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist nur in einem mittelfristigen Zeitraum zu verwirklichen.Der finanzpolitische Handlungsspielraum des Staats ist am Nullpunkt angelangt. Ein umfangreiches konjunkturpolitisches Gegensteuern gibt es nicht, weil dafür die Finanzmasse nicht zur Verfügung steht.Wir müssen heute die bisher nicht funktionierende Konsumdynamik durch eine Investitionsdynamik ersetzen. Wir müssen — das ist das Wichtigste — eine nachhaltige Verbesserung der Ertragskraft und der Eigenkapitalausstattung vor allen Dingen der mittelständischen Wirtschaft herbeiführen. Nur, meine Damen und Herren, wer, wie Herr Ehmke es gestern getan hat, heute schon wieder die Hetze beginnt, daß man das Geld jenen gebe, die reich sind, obwohl man weiß, wie miserabel die Ertragslage in den letzten Jahren gewesen ist, der beginnt heute schon wieder genau das Gegenteil von dem, was notwendig wäre,
der fängt heute wieder mit dem an, womit die SPD Anfang der 70er Jahre gescheitert ist, der setzt das fort, was zehn Jahre lang leider falsch gelaufen ist. Er macht das kaputt, was wir jetzt mühsam wieder in der richtigen Richtung verbessern könnten. Mankann nur sagen: Aktion „Gelber Punkt" in neuer Form, ökonomisch nichts dazugelernt.
Wenn man sich die Frage stellt, ob es sozial vertretbar ist, diese Eingriffe, die wir alle nicht gern vollziehen, jetzt vorzunehmen, kann ich darauf nur antworten: Das größte soziale Problem ist heute die Massenarbeitslosigkeit. Der soziale Friede kann auf Dauer nur gewahrt werden, wenn es uns gelingt, diese Massenarbeitslosigkeit mit Erfolg zu bekämpfen.Es wird immer wieder notwendig sein — meine Damen und Herren, wir werden Ihnen das nicht ersparen —, auf die Aussage von Helmut Schmidt vor der Fraktion im Juni zurückzugreifen. Er sagte damals — ich zitiere —: „Bei den Steuern ist größere Finanzmasse nicht zu haben. Eine weitere Aufstockung der Neuverschuldung scheidet aus. Ich kann das nicht verantworten." Und immer wieder der Schlüsselsatz: „Wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muß tief, noch viel tiefer als hier, in die Sozialleistungen einschneiden."
Meine Damen und Herren, wer das im Juni gesagt hat und intellektuell und persönlich redlich bleiben will, müßte heute ein klares und uneingeschränktes Ja zu den Beschlüssen dieser Koalition und dieser Regierung sagen.
Nur, ich erwarte das von Helmut Schmidt nicht. Er wollte stets polarisieren. Manche seiner ökonomischen Aussagen — etwa: „5 % mehr Inflation sind mir lieber als 5 % Arbeitslose" — sind nicht auf sein Fehlverständnis ökonomischer Fragen zurückzuführen. Nein, er wollte damit polarisieren. Er wollte damit nur die CDU/CSU in die Ecke derer stellen, die Arbeitslosigkeit hinnehmen. Er wollte damit Wahlkämpfe bestehen. Das aber, meine Damen und Herren, unterscheidet den Politiker vom Staatsmann: daß der Staatsmann weiter denkt, der Politiker nur an die nächsten Wahlen, während Helmut Schmidt j a nur noch an den nächsten Bezirksparteitag denken konnte.
Es ist in diesen Tagen viel von Legitimation gesprochen worden. Nur, meine Damen und Herren, wo war denn die politische, die wählerwirksame Legitimation dafür, daß Helmut Schmidt 1974 Bundeskanzler werden konnte? Da hat dieses Haus hier entschieden. Und er hat damals nicht gesagt: ich brauche ein neues Votum des Volkes, um Bundeskanzler zu werden.
Sie sollten diese Legendenbildung endlich bleiben lassen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7313
Dr. WaigelVon dieser Stelle ist einmal das Wort gesagt worden: „Wir brauchen die Opposition nicht." Wir, die CDU, die CSU und die FDP, schließen uns einem solchen Slogan nicht an. Wir brauchen alle, wir brauchen auch die Opposition. Und wir bitten alle um die tatkräftige Mitarbeit, um die Not im Volk zu wenden, das Notwendige zu tun und eine Besserung im Wirtschaftlichen herbeizuführen, um damit auch sozialen und gesellschaftlichen Frieden zu erreichen. — Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Präsidenten des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben vor einigen Tagen im Bundesrat den Bundesländern eine faire Zusammenarbeit angeboten. Ich möchte hier für mich sagen — ich bin sicher, daß dem alle Mitglieder des Bundesrates auch in diesem Plenum zustimmen —, daß auch die Länder der Bundersregierung die Unterstützung geben wollen, die notwendig ist, um unsere schwierigen Probleme zu bewältigen. Bund und Länder sind auf Zusammenarbeit angewiesen, gerade in dieser Zeit. Und die großen Probleme, vor denen wir stehen, sind ohnehin nur gemeinsam lösbar. Die Lösung der Probleme aber ist ja letztlich das, was unsere Arbeit rechtfertigt, begründet und legitimiert. Ich meine, wir alle streiten zuviel über Taktik, über Parteien, über Mehrheiten hier und dort und richten unsere Aufmerksamkeit häufig zuwenig auf die Lösung der wirklichen Probleme.
Herr Bundeskanzler, die neue Bundesregierung hat die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt aller Probleme gestellt. Dort gehört sie hin. Die Bundesländer und gerade die Stadtstaaten wissen, wie zentral dieses Problem uns heute berührt.
Herr Bundeskanzler Kohl, Sie haben festgestellt, daß sich die Weltwirtschaft in einer tiefgreifenden Strukturkrise befindet. Sie haben dann gesagt: Wir dürfen aber nicht den Blick verstellen für unsere eigenen, hausgemachten Probleme. Sicherlich: Beides ist richtig. Aber so formuliert auch sehr unverbindlich. Entscheidend für das, was zu tun ist, bleibt unser Verständnis für die wahren Ursachen der Krise, in der wir uns befinden.
Die neue Bundesregierung hat in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers festgestellt: Unsere eigenen Wachstums- und Beschäftigungsprobleme resultieren weitgehend daraus, daß unsere Wirtschaft nicht mehr in der Lage war, mit den neuen außenwirtschaftlichen Herausforderungen fertigzuwerden. Herr Bundeskanzler Kohl, ich kann diese Analyse nicht teilen.
Wer weiß, daß wir in diesem Jahr einen Handelsbilanzüberschuß von etwa 60 Milliarden DM haben werden, wer weiß, daß die Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Jahrzehnt trotz des Einbruchs der Japaner in die Weltmärkte ihren Anteil am Welthandel nicht nur gehalten, sondern sogar leicht erhöht hat, der kann doch wirklich nicht behaupten, wir hätten an Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten verloren.
In Wahrheit hat Ihre Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, nichts gesagt zu den wirklichen Problemen, mit denen wir zu ringen haben, z. B. zu der Frage der Sättigung der Märkte. Die Bürger draußen wissen doch — jeder spricht einen darauf an —: Wie soll denn das eines Tages werden, wenn jeder Haushalt sein Auto, jeder Haushalt seine Waschmaschine, jeder Haushalt auch noch einen Videorecorder hat? Wo soll denn dann die Produktion wirklich hingehen? Die Frage der Sättigung, Herr Bundeskanzler, ist doch ein zentrales Problem unseres Binnenmarktes.
Das betrifft doch auch die Bauindustrie. Meine Damen und Herren, die Krise der Bauindustrie ist natürlich auch abhängig von den Zinsen. Sie ist auch abhängig von der Möglichkeit der öffentlichen Haushalte zu investieren. Aber ein ganz zentrales Problem ist doch auch dort, daß wir nun einmal Straßen gebaut, Schwimmbäder gebaut, Schulen gebaut, Universitäten gebaut haben, daß wir einen so großen Teil der öffentlichen Investitionen in den 70er Jahren gemacht haben. Auch hier gibt es doch inzwischen Sättigungserscheinungen. Jeder, der draußen Kommunalpolitik treibt, weiß das doch.
Dasselbe gilt letztlich für die Exportmärkte.
Herr von Dohnanyi, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hellwig?
Aber sicherlich.
Herr von Dohnanyi, Sie haben von der Sättigung der Weltmärkte gesprochen. Wollen Sie damit behaupten, daß jeder Haushalt in der Welt sein Auto, seinen Kühlschrank, seinen Komfort hat wie wir in unserer Industriegesellschaft?
Nein, Frau Kollegin, das wollte ich nicht behaupten. Ich vermute, Sie haben mir auch nicht unterstellt, daß ich das behaupten wollte. Das wäre ja eine unsinnige Behauptung. Ich sprach von der Sättigung der Binnenmärkte und spreche jetzt von den Problemen der Exportmärkte: der hohen Auslandsverschuldung unserer Absatzmärkte in Übersee.
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7314 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
Hier haben wir mit Problemen zu tun, die ebenfalls nicht in den Händen der Bundesrepublik und nicht in den Händen einer Bundesregierung liegen. Solange wir diese Probleme unterschätzen, meine Damen und Herren, werden wir uns den wirklichen Problemen nicht zuwenden.Sie haben, Herr Bundeskanzler Kohl, nichts gesagt über den internationalen Subventionswettlauf. Die Werften in Hamburg, in Kiel und in Bremen tragen die Last dieses Subventionswettlaufs. Aber Ihre Regierungserklärung sagt, Sie wollten die Aufgaben des Staates zurückführen zugunsten mehr privater Initiative. Ich möchte einmal fragen, wie wir dann die Werften in Emden, in Bremen, in Kiel und in Hamburg halten wollen, ohne daß der Staat auch seinen Teil von Hilfe leistet?
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen von der Notwendigkeit des Ausbaus der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Das ist gut. Das ist auch für einen so bedeutenden Luft- und Raumfahrtstandort wie Hamburg gut. Nur, wissen Sie denn nicht, daß 90 % des Umsatzes der Luft- und Raumfahrtindustrie über die staatlichen Kassen fließen? Wie soll denn der Staat in seinen Aufgaben zurückgeführt werden, wenn wir zugleich diese Industrie ausbauen wollen?
Ich habe in der Regierungserklärung auch nichts von den bedrückenden Entwicklungen der Rationalisierung gelesen, denen wir uns nicht entziehen können und die wir brauchen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Aber wenn im Hamburger Handwerk, im Maschinenbau im ersten Halbjahr 1982 gegenüber dem ersten Halbjahr 1981 eine reale Zuwachsrate von 22 % in der Produktion und von minus 10 % in der Beschäftigung zu verzeichnen ist, dann muß doch der Faktor Rationalisierung und Auswirkung auf den Arbeitsmarkt wenigstens Eingang in eine Regierungserklärung finden.
Die Debatte, die der Club of Rome in diesen Wochen hinsichtlich der Auswirkungen der Mikroelektronik erneut aufgenommen hat, muß doch geführt werden. Ich sage wiederum: Keiner von uns wird sich hier den Investitionen entziehen können. Die Wettbewerbsfähigkeit muß auch hier erhalten bleiben. Aber die Auswirkungen müssen wir doch erkennen. Und da hilft doch, Herr Bundeskanzler — wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf —, nicht die weiße Salbe der guten Absicht; da muß man den Problemen ins Auge sehen und fragen: Wie wird man mit der sich hier aufreißenden Beschäftigungslücke am Ende fertig?
Nun hören wir, die Eigenkapitaldecke der deutschen Unternehmen sei zurückgegangen. Das trifft zu. Das gilt für alle Unternehmen in der Welt — bedauerlicherweise, wenn man so will. Die Eigenkapitaldecke der amerikanischen Unternehmen ist in den letzten 15 Jahren beängstigend zurückgegangen, obwohl die Abgabenquote dort nur 25 % erreicht, während sie bei uns bei 40 % liegt, so daß dieser Rückgang mit der Frage der Belastung offenbar viel weniger zu tun hat als mit einem säkularen Trend, einem Rückgang der Kapitalrendite. Das ist die wirkliche Problematik, mit der wir es hier zu tun haben.Ich habe Verständnis, daß der Deutsche Bundestag den Streit um die Ursachen des Bruchs der Koalition hier weiterführt. Ich will mich hier nicht einmischen. Ich möchte nur Sie, Graf Lambsdorff — er ist leider nicht da —, doch noch einmal darauf hinweisen, daß die Münchener Beschlüsse, die man ja nachlesen kann und die wichtige Prüfungsaufträge enthalten, nicht nur zu einem nicht unerheblichen Teil inzwischen offenbar von der neuen Koalition geprüft und für gut befunden wurden, weil sie nämlich übernommen worden sind,
sondern ich möchte auch sagen, daß nach meinem persönlichen Eindruck auf jeden Fall für die Kollegen der FDP die Beschlüsse des Münchener Parteitags ein ungewöhnlich glücklicher Vorwand waren,
um eine Tendenz zu verstärken, die es ohnehin bei den Freidemokraten gab. Also den Münchener Parteitag hier als eine Weichenstellung von seiten der Sozialdemokraten festzuhalten, scheint mir wirklich unzulässig zu sein.
Die Antwort der neuen Bundesregierung auf das Beschäftigungsproblem lautet im Kern: Höhere Gewinne werden mehr Investitionen, und Investitionen werden mehr Arbeitsplätze schaffen. Ich will dies gar nicht als eine verteilungspolitische Frage aufgreifen. Denn über die Verteilungspolitik könnte man ja streiten, wenn das Ergebnis wenigstens so wäre, wie es beabsichtigt ist.Aber, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU-FDP-Koalition, alle Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre sprechen gegen Ihre Erwartung. Es trifft auch nicht zu, wenn wir die Entwicklungen der 70er Jahre und die Arbeitslosigkeit der frühen 80er Jahre in erster Linie auf die Ölkrise schieben. In Wirklichkeit haben sich die Probleme der Industriegesellschaft seit Beginn der 60er Jahre abgezeichnet, früher in den Staaten mit höherer wirtschaftlicher Entwicklung, später in der Bundesrepublik mit ihrer besonderen Ausnahmesituation eines niedrig angesetzten DM-Werts und einer Ausgangsposition nach dem Krieg, die ungewöhnliche Wachstumsmöglichkeiten gab.Herr Bundeskanzler, ich stelle hier fest: Nach meiner tiefen Überzeugung unterschätzen Sie Umfang und Ursache der Krise der Weltwirtschaft, die wir noch nicht — noch nicht sage ich — die zweite Weltwirtschaftskrise nennen.Die Lage ist gefährlich. Sättigung der Märkte, Auslandsverschuldung der Drittstaaten, Arbeitslo-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7315
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi sigkeit in der ganzen industrialisierten Welt und wachsender Protektionismus bergen unübersehbare Gefahren in sich. Aber die größte Gefahr besteht, so scheint mir, darin, daß Sie diese Gefahren unterschätzen, daß die neue Bundesregierung meint, man könne mit diesen Problemen durch eine Rückkehr zur Politik der 50er und der frühen 60er Jahre fertig werden.
Nun weiß ich, daß Sie auch sagen, man müsse zu den früheren Instrumenten der Wirtschaftspolitik andere Instrumente hinzufügen. Aber wir wissen nicht, welche! Mir scheint, nicht ohne Grund beschwören Sie den Wiederaufstieg der Bundesrepublik nach 1949 — so, als hätten die Probleme von heute irgend etwas mit den damaligen Problemen zu tun.
Graf Lambsdorff, mit dem ich in der Vergangenheit immer wieder, auch im Kabinett, gemeinsam Positionen vertreten habe, hat diese Auffassung im Streit mit mir immer wieder sehr deutlich vertreten. Das war sicherlich eine der Ursachen dafür, daß am Ende im wirtschaftspolitischen Bereich die Arbeit in der Koalition unmöglich geworden ist. Denn Sie, Graf Lambsdorff, meinten, mit klassischer Marktwirtschaft allein seien die heutigen Probleme zu lösen. Alle Erfahrungen in der Welt sprechen dagegen, und doch halten Sie an dieser Politik fest.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie bezeichnen sich selbst als die Realisten, und Graf Lambsdorff hat vorhin von den Sozialdemokraten als den Träumern gesprochen. Es ist ein erstaunliches Merkmal unserer Zeit, daß die selbsternannten Realisten häufig die absurdesten Ergebnisse produzieren.
Insofern ist es schon berechtigt, auf die Entwicklung in den USA und in Großbritannien zu verweisen. Rahmenbedingungen und ihre Verbesserung allein lösen die Probleme eben nicht.Herr Bundeskanzler, wenn Sie meinen, der Staat müsse seinen Anteil, seine Rolle zurücknehmen, so will ich hier sagen: In Wahrheit ist die Steuerlastquote in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Zwar sind die Abgaben für Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung gestiegen, aber die Steuerlastquote ist zurückgegangen. Der Staat aber wird seine Verantwortung nicht tragen können, wenn ihm nicht ausreichend Mittel zur Verfügung stehen.
Ich füge hinzu: Der Staat wird eine wachsende undnicht eine abnehmende Rolle zu spielen haben,wenn wir die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen wollen!
Meine Damen und Herren, dazu will ich Ihnen sagen, was wir aus Länderverantwortung zu leisten versuchen. Wir in Hamburg versuchen z. B. bei wachsender Arbeitslosigkeit, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die wir im Volumen von 20 auf 100 Millionen DM heraufgesetzt haben, denjenigen, die — etwa in den Werften — schuldlos arbeitslos werden, eine Chance zu geben, an der Arbeit in dieser Gesellschaft teilzuhaben.
Wir steigern die öffentlichen Investitionen. Ich füge hinzu: Zu diesen öffentlichen Investitionen müssen wir auch die privaten Unternehmen in der Stadt heranziehen. Am Ende werden wir nur durch einen zusätzlichen, gewissermaßen einen zweiten Arbeitsmarkt, getragen in erster Linie von den Kommunen, in der Lage sein, überhaupt mit den Problemen fertig zu werden.Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle möchte ich daher warnen, wenn steuerpolitische Maßnahmen ergriffen werden sollten, die die Gemeinden steuerlich beeinträchtigen.
Jede Rückführung der Gewerbesteuer ist nicht nur eine Beeinträchtigung der kommunalen Möglichkeiten, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen,
sondern bedeutet auch, daß es in Zukunft noch schwieriger werden wird, Standorte auch für unbequeme Industrien zu finden. Wer die Gewerbesteuer antastet, muß wissen, daß er auf die Dauer nur noch Wohngemeinden haben wird und daß sich keine Gemeinde mehr bereit finden wird, schwierige industrielle Ansiedlungen vorzunehmen.
Wer meint, er wolle Investitionshemmnisse beseitigen und in den Kommunen Investitionen von privaten Unternehmen fördern, der muß den Gemeinden die Möglichkeit geben, über die Gewerbesteuer dann auch die entsprechenden Erträge zu erwirtschaften.
Meine Damen und Herren, ebenso möchte ich die neue Bundesregierung davor warnen, das Arbeitslosengeld zu verringern. Das schlägt unmittelbar auf die Sozialhilfe in den Gemeinden durch. Jeder, der hier etwas antastet, muß wissen, daß er am Ende die kommunalen Finanzen und damit die wahrscheinlich beste Möglichkeit der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit beeinträchtigt.
Ich habe, Herr Bundeskanzler, auch Bemerkungen vermißt, die zu einer schrittweisen Verkürzung
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7316 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
der Arbeitszeit führen können. Ich hoffe, daß der Bund als Tarifpartei im öffentlichen Bereich seinen Beitrag hierzu leisten wird. Denn auf mittlere Frist ist die Beseitigung der Arbeitslosigkeit nur durch eine Anpassung der Arbeitszeit an die wirkliche Nachfrage nach Arbeit möglich. Daß die Regierungserklärung diesen Punkt nicht einmal erwähnt, scheint mir eine grobe Vernachlässigung der wirklichen Probleme zu sein.
Die neue Regierung spricht von der Schaffung von Ausbildungsplätzen. Herr Bundeskanzler, wir können und wollen Sie da unterstützen. Herr Kollege Waigel, Sie haben soeben davon gesprochen, daß Ihnen ein guter Schlosser lieber sei als ein schlechter Akademiker. Ich möchte gern einen guten Schlosser und einen guten Akademiker haben.
Ich kann diese Unterscheidung, diese Anti-Akademikerhaltung, die hier manchmal durchschlägt, wirklich nicht verstehen.
— Langsam! — In der Jugend muß die Möglichkeit der freien Entscheidung bestehen. Diskriminierung von Akademikern wäre ebenso fehlerhaft wie Diskriminierung von Berufsbildung.
Ich will hier nun dem Kollegen Waigel auf seine These antworten, wir hätten durch unsere Bildungspolitik die Akademiker bevorzugt. Herr Kollege Waigel, ich habe in diesem Hause schon mehrfach versucht, mich mit Ihnen, mit Ihrer Fraktion über diese Probleme, nach Adam Riese und nicht nach Mengenlehre, auseinanderzusetzen. Als die neue Bundesregierung Brandt/Scheel 1969 ihre Verantwortung antrat, hatten wir im Jahre 1970 die ersten Probleme des Numerus clausus. Ich erinnere mich zwar, daß im Frühjahr 1970 beginnende Preissteigerungen von Ihrer Fraktion bereits der sozialliberalen „Inflationspolitik" zugeschrieben wurden.
Aber eines geht nun wirklich nicht: uns den Numerus clausus von 1970 und 1971 zuzurechnen, obwohl doch jeder feststellen kann, daß jemand, der über den Weg des Abiturs zum Studium gekommen ist, sich spätestens 1962 zum Gymnasium entschieden haben mußte, um 1971 vor den Türen der Hochschulen zu stehen, 1962 wurden die Weichen für die Zahl der Studenten von 1971 getroffen, nicht 1972. Daher stimmt Ihre Behauptung, dies sei von der damaligen neuen Bundesregierung verursacht worden, wirklich nicht einmal mit den einfachsten Rechenregeln überein. Solange Sie aber, Herr Kollege Waigel, das dreigliedrige Schulsystem aufrechterhalten
und Sorge dafür tragen, daß bei zehnjährigen Kindern Weichen für deren Zukunft gestellt werden, werden Sie und werde ich den Versuch machen, unsere Kinder zum Abitur zu bringen. Das ist ganz selbstverständlich, weil das Abitur bessere Chancen gibt. Die wahre Ursache der Benachteiligung des Handwerkernachwuchses in unserer Gesellschaft besteht darin, daß wir der deutschen Wirtschaft den technisch-wissenschaftlichen Nachwuchs in die Gymnasien abziehen, weil wir die Eltern faktisch zwingen, bei zehnjähgien Kindern Weichenstellungen vorzunehmen, anstatt zu warten, bis diese Kinder 15, 16 oder 17 Jahre alt sind.
Sie, die Vertreter des dreigliedrigen Schulsystems, sind die wahren Verursacher der Akademisierung unserer Gesellschaft. Sie sind die Ursache dafür, daß alle Eltern, wie auch Sie selbst, den Versuch machen, diesen Weg für ihre Kinder zu gehen.
Darüber müßte man eine ruhige Debatte führen. Denn, Herr Kollege Waigel, Sie haben das bis heute nicht verstanden.Ich möchte auf die Frage der Berufsbildung zurückkommen. Wir wollen neue Ausbildungsplätze schaffen, Herr Bundeskanzler. Das ist richtig; ich will auch sagen, daß wir das tun. Wir haben in Hamburg eine Zusage gegeben, daß es keinen jugendlichen Hamburger und keine jugendliche Hamburgerin geben wird, die sich beim Arbeitsamt gemeldet haben und ohne Ausbildungsplatz bleiben werden. Aber ich füge für Sie hinzu: 75 % der so anfallenden Kosten muß der Staat übernehmen, und zwar in einem System, in dem die berufliche Bildung eigentlich von der Wirtschaft getragen werden sollte. Einer Ihrer Kollegen, Herr Pfeifer, hat hier vor einigen Wochen in einer Debatte gesagt, es sei selbstverständlich, daß die Zahl der Ausbildungsplätze zurückgeht, wenn die Konjunktur zurückgeht. Dies ist doch die wahre Lage. Wie kann man denn die Behauptung, Herr Bundeskanzler, der Staat solle seine Rolle zurücknehmen, damit vereinbaren, daß zugleich nur der Staat neue Ausbildungsplätze schaffen kann. Das stimmt doch nicht überein.
Dies sind gefährliche Illusionen.Sie haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, wir sollten hemmende Regeln in den Gesetzen beseitigen, die zusätzlichen Ausbildungsplätzen entgegenstehen. Ich stimme Ihnen zu. Wir in Hamburg haben mit Erfolg den Versuch gemacht, die Ausbildereignungsverordnung zu ändern. Wenn Sie bei
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi dem Behindertengesetz oder bei dem Betriebsärzte-gesetz Grenzen verändern wollen, werden Sie trotz des Streites, den es darüber auch im sozialdemokratischen Lager gibt, die Unterstützung der Hamburger Regierung haben. Wir haben das schon gesagt. Man kann solche Gesetze hinsichtlich der Zurechnung von Auszubildenden auf Zeit aussetzen, wenn damit Grenzen verschoben werden, die heute bei der Einstellung zusätzlicher Lehrlinge als hinderlich empfunden werden.Nur: In der Finanzierungsfrage muß ich Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, noch einmal ansprechen. Sie haben es über den Bundesrat faktisch unmöglich gemacht, eine vernünftige Umlage zur Finanzierung der Ausbildung sicherzustellen. Wir werden jetzt in Hamburg — das haben wir gestern im Senat beschlossen — auf der Grundlage landespolitischer Zuständigkeiten prüfen, ob wir für die Betriebe, die überhaupt nicht ausbilden, eine Abgabe schaffen, damit wir Gerechtigkeit üben gegenüber den Betrieben, die ausbilden.
— Wenn mir da eingeworfen wird, Herr Haase, dann kriegten wir sie auch noch bankrott, dann sprechen Sie einmal mit dem Handwerk in meiner Stadt. Das Handwerk in meiner Stadt ist sauer auf die Betriebe, die nicht ausbilden. Das Handwerk möchte, daß sich alle an der Ausbildung beteiligen.
Herr Senatspräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Milz?
Aber gern.
Herr Senatspräsident, ist Ihnen bekannt, daß die Bauwirtschaft auf freiwilliger Basis schon eine solche Regelung vereinbart hat, und sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es viel besser ist, die Wirtschaft zu animieren, dies auf freiwilliger Basis zu tun, als es staatlich zu verordnen?
Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu. Wir haben in Hamburg eine Reihe freiwilliger Regelungen, z. B. im Bereich der Luftemissionen, mit der Kammer geschaffen. Wenn wir hier eine freiwillige Regelung zustandebringen könnten, würde ich diese bevorzugen, aber ich möchte, daß die Betriebe bezahlen, die sich heute nicht an der Ausbildung beteiligen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, daß hier keine Ellenbogengesellschaft entstehen werde.
Herr Kollege Schwarz, Sie waren doch so lange Innenminister in einem so schönen Land, und dann bringen Sie diese Neurotik hier in dieses schöne Haus. Warum können Sie nicht etwas ruhiger sein, Herr Kollege Schwarz?
Die Bundesregierung hat gesagt, sie wolle keine Ellenbogengesellschaft, und Graf Lambsdorff hat dies eben noch einmal unterstrichen. Aber wenn wir auch Kenntnis nehmen von dieser Absicht, so möchte ich einen Punkt hervorheben, der uns erheblich beunruhigt, nämlich die Festsetzung der Anhebung der Sozialhilfesätze im Jahre 1983 um nur 2 %. Meine Damen und Herren, wer die Sozialhilfeempfänger nicht nur aus der Statistik sondern persönlich kennt — aus persönlichen Begegnungen, aus Sprechstunden und aus der Begegnung in der Stadt —, der kann sich nicht vorstellen, daß wir diejenigen, die begründet Sozialhilfeempfänger sind, in der Einkommensentwicklung unter den Durchschnitt der Bevölkerung bringen. Dies wäre doch eine Ellenbogengesellschaft.
Herr Bundeskanzler, wir können das nicht unterstützen.
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung von der geistig-politischen Krise gesprochen. Ich glaube, wir alle sind uns einig über die Probleme, mit denen wir gerade heute auch in unserer Jugend zu ringen und über die wir zu reden haben. Aber Sie haben dann gefragt: Wer hat denn diese geistig-politische Krise verursacht? Sie haben in diesem Zusammenhang von den Machern und den Heilsbringern gesprochen.
Herr Bundeskanzler, ist es nicht eher so, daß ein langfristiger historischer, wirtschaftlicher Prozeß der Industrialisierung und der damit verbundenen Veränderung menschlicher Beziehungen Wesentliches zur Zerstörung der traditionellen menschlichen Bindungen beigetragen hat? Ist es nicht so, daß die Familie durch Mobilität, durch Arbeit, durch Arbeitsteilung, sehr viel mehr beeinträchtigt worden ist als etwa durch die Macher und die Heilsbringer? Unterschätzen Sie wirklich die Bedeutung der Industriegesellschaft so sehr, und überschätzen Sie so sehr das gute, das heilende Wort? Laufen Sie wirklich einer solchen Illusion nach und meinen, daß mit der Beschwörung in diesem Hause die tiefgreifenden Veränderungen für die Familienbeziehungen, die durch die Industriegesellschaft verursacht werden, beeinflußt werden können, Herr Bundeskanzler?
Herr Senatspräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mikat?
Aber sicherlich, Herr Mikat, gerne.
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Herr Dr. Mikat.
Da ich mit Ihnen, Herr von Dohnanyi, in den Wirkungen des industriegesellschaftlichen Kooperationsprozesses übereinstimme, möchte ich Sie fragen: Sind Sie dann nicht aber auch der Meinung, daß es zur verantwortlichen Politik gehört, durch Stärkungsmaßnahmen in der Schule, in der Pädagogik,
in unseren Massenmedien für die Familie als dem stabilen Element jeder Gesellschaft gegenzusteuern?
Herr Mikat — —
Herr Abgeordneter Dr. Mikat, würden Sie bitte die Antwort am Saalmikrophon entgegennehmen.
Herr Kollege Mikat, ich stimme Ihnen durchaus zu.Es gibt Streit in diesem Hause darüber, was für die Familie fördernder ist. Ich sprach nur davon, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung, so scheint mir, mit der Bezugnahme auf die Macher und die Heilsbringer wirklich erneut — wie bei der Frage des Arbeitsmarktes oder bei der Frage der Ausbildungsplätze — die Illusion an die Stelle der Realität gestellt hat.
Und die größte Gefahr, die ich für unser Land sehe, ist, daß die guten Absichten, die ich der Bundesregierung nicht bestreite, nach meiner Auffassung in tiefgreifenden Illusionen über die wahren Probleme getragen werden und daher in die Irre gehen. Das ist meine Sorge. Und deswegen habe ich davon gesprochen.
Ich will aus diesem Grunde — und weil das gestern auch eine Rolle gespielt hat — noch ein Wort zu den Diskussionen sagen, die wir in Hamburg geführt haben. Ich weiß, meine Damen und Herren, daß das Gespräch mit Grünen und Alternativen nicht populär ist. Ich weiß, daß, wer das Gespräch aufnimmt, dafür gescholten wird.
Ich weiß, daß die Art und Weise, wie sich die Grünen und Alternativen kleiden und geben, für viele von uns, die wir mit Schlips und Kragen gehen, unverständlich ist.
— Wenn Sie von mir als Nadelstreifen sprechen: Ichtrage mal Nadelstreifen, mal was anderes. Aber ichhabe meine Krawatten und meine Anzüge nicht geändert, wenn ich mit den Grünen gesprochen habe — um das klarzumachen.
— Wenn Sie sagen, das sei erstaunlich, dann spricht das eher gegen Sie als gegen mich. Sie würden offenbar Ihre Kleider ändern.
Meine Damen und Herren, ich will ein weiteres Wort sagen: Ich bin fest davon überzeugt, daß diese Bewegung der Grünen und Alternativen, diese Protestbewegung, ihre wahren Quellen und Ursachen darin hat, daß, wie wir alle wissen, die Kluft zwischen dem, was die Zukunft eigentlich von uns verlangt, und dem, was wir meinen, heute mit gutem Gewissen für heute tun zu müssen, also der Widerspruch zwischen den Forderungen für heute und den eigentlichen Anforderungen von morgen, immer weiter aufreißt. Die Protestbewegung hat ihre Wurzeln in dieser aufreißenden Kluft. Und wenn das so ist, dann ist der einzige Weg mit ihr umzugehen, sich ihr zu stellen. Wenn eine solche Bewegung in ein Parlament gewählt wird, dann hat man sich ihr im Parlament zu stellen.
Wer dies nicht tut, entzieht sich seiner demokratischen Verantwortung.Wenn allerdings wie in Hessen die Grünen auf der Grundlage unklarer Haltungen zur Gewalt Position bezogen haben, dann ist es begründet, wenn Gesprächspartner der anderen Parteien sagen: Hier muß zunächst einmal die Gewaltfrage geklärt werden.
Ich sage: Wer sich in einem Parlament der Auseinandersetzung entzieht, flüchtet aus seiner demokratischen Verantwortung. Ich füge hinzu, meine Damen und Herren, daß es nicht reicht, den sogenannten Dialog mit der Jugend dadurch zu beschwören, daß man zu einem Hamburger Parteitag Ihrer Partei, auf dem ich die Ehre hatte auch ein paar Worte zu sagen, Jugendliche einlädt,
und ihnen die Möglichkeit gibt, in Abschnitten von drei oder vier Minuten zu sprechen, während man sich dort, wo die Jugendlichen ihre Parlamentarier gewählt haben, dem Dialog mit den Parlamentariern entzieht. Das ist kein demokratischer Umgang in unserer Gesellschaft.
Die traditionellen oder, wie man von der anderen Seite her sagt, etablierten Parteien, müssen sich dieser Debatte auf der Grundlage sicherer Überzeugungen stellen.Man kann in den Fragen, um die es in Parlament und Rechtsstaat geht, nicht wackeln. Wir haben vor
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
der Wahl die Spitzenkandidatin der Hamburger Grünen, der GAL, aus einer Hausbesetzung herausgetragen und nach der Wahl innerhalb weniger Stunden einen Abgeordneten aus einem besetzten Haus herausgebracht. Wir wackeln nicht an den entscheidenden Fragen. Aber wir stellen uns der Debatte. Nur wer sich dieser Debatte stellt, kann am Ende feststellen, ob diese neue Bewegung fähig ist, Verantwortung zu tragen.
In Hamburg hat sich in 50 Stunden sorgfältiger Gespräche herausgestellt, daß diese Gruppierung nicht imstande war, diese Verantwortung zu tragen. Sie addierte Wünsche, zum Teil sehr berechtigte Wünsche. Aber sie addierte sie in einem Sack von Hoffnungen und brachte sie nicht in ein Paket von Verantwortung.Deswegen haben wir nach langen, sorgfältigen Gesprächen gesagt: Unter diesen Voraussetzungen und mit diesen Bedingungen ist eine Mehrheitsbildung nicht möglich. Deswegen muß neu gewählt werden. Nun hoffe ich nur, daß sich die Hamburger CDU den Neuwahlen nicht entzieht. Es sieht ja so aus, als wolle die Hamburger CDU jetzt vor den Neuwahlen kneifen.
Aber ich nehme an, daß die Öffentlichkeit der Hamburger CDU schon klarmachen wird, daß Neuwahlen notwendig sind, wenn die Klärung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament auf andere Weise nicht möglich ist.
Meine Damen und Herren, ich habe diese Hamburger Erfahrung hier eingebracht, weil ich sicherstellen wollte, daß die Fraktionen im Deutschen Bundestag nicht den Fehler machen, sich einer Debatte zu entziehen, die die Voraussetzung dafür ist, daß verantwortungsvolle Stabilität in den Parlamenten wiederhergestellt werden kann. Wo Neues gesagt wird, muß auch Neues diskutiert werden. Aber das enthebt uns nicht der Verantwortung, dies auf realistische finanzielle und andere Möglichkeiten abzuklopfen und zu prüfen. Wer aber nicht spricht, wer nicht redet und sich nicht stellt, der flieht seine wahre Verantwortung.Ich möchte, daß die Bundesrepublik Deutschland in so schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Zeiten, in denen neue Bewegungen unsere politische Stabilität bedrohen, daß unsere Republik diese Phase durch demokratische Auseinandersetzung in den Parlamenten erfolgreich besteht.
Ich erteile dem Abgeordneten Gattermann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, ich muß für dieses Parlament jetzt einmal eine Vorbemerkung machen. Die Debatte über die Regierungserklärung läuft jetzt gut achteinhalb Stunden. In diesen achteinhalb Stunden ist es nicht möglich gewesen, daß eine einzige geschlossene Parlamentarier-debattenrunde hat laufen können. In diesen Tagen wird bis hin zu Plakataktionen immer davon gesprochen und es wird öffentlich darüber diskutiert, daß man Achtung vor dem Wähler ohne Rücksicht auf nun einmal gegebene formale Verf assungsrechte an den Tag legen solle. Ich will hier einmal sagen, daß Bundesregierung und Bundesrat vielleicht auch einmal Achtung vor dem Parlament ohne Rücksicht auf die Geschäftsordnung haben und ungestörte Parlamentsdebattenrunden ermöglichen sollten.
Herr Brandt, ich will damit folgendes sagen. Es mag ja von ungewöhnlichem Interesse sein, in welcher Kleidung der Herr Bürgermeister der Hansestadt Hamburg mit der GAL diskutiert und gesprochen hat. Ich meine aber auch, Herr Brandt, daß z. B. die Kumpels im Ruhrgebiet von den Abgeordneten der neuen Koalition ganz gern hören wollen, daß der Vorrang der Kohlepolitik unangetastet bleibt.
Die Hoesch-Arbeiter wollen von den Abgeordneten des Ruhrgebiets einmal hören, daß die zugesagten Hilfen für die Stahlindustrie weiter gewährt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfram?
Herr Präsident, ich will grundsätzlich sagen, daß ich jetzt keine Zwischenfragen zulasse,
und zwar mit Rücksicht auf den Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, der sich nämlich bereit erklärt hat, die Bundesratsrunde zu unterbrechen, damit hier ein Abgeordneter der Koalition sprechen kann.
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung trägt die Überschrift: Koalition der Mitte — für eine Politik der Erneuerung. Der Kollege Ehmke hat gestern hier von dieser Stelle aus versucht, die neue Koalition in die rechte Ecke zu stellen. Herr Kollege Ehmke, das ist ein absolut untauglicher Versuch. Man braucht wohl schon professorale intellektuelle Spitzfindigkeiten, um die neue, nach links gerückte Politik der SPD als neue Mitte zu definieren, damit man von daher dann die Möglichkeit hat, die vernünftige, solide Politik der
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7320 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Gattermann) neuen Koalition als neokonservative Politik der Rechten zu verteufeln.
Herr Kollege Ehmke, was Sie hier gestern an nach meinem Eindruck schier unerträglicher Polemik geboten haben, wird nur noch durch Ihre Sottisen in der „Vorarlberger Tageszeitung" überboten. Auch schon damals im Juni haben Sie die Vernichtungsstrategie gegen die FDP mit den Worten umschrieben: Unsere Aufgabe ist es, dann ihm — gemeint war Hans-Dietrich Genscher und die FDP — ein Bein zu stellen, damit er sich dabei den Hals bricht.
Kompliment, Herr Ehmke, Kompliment! Sie befinden sich in der Kontinuität Ihres Denkens und Handelns.
Derselbe Geist ist es offenkundig,
der nun auch — Sie haben ja Mitstreiter bekommen — den Abgeordneten Helmut Schmidt, als er noch Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war, dazu veranlaßte, die hessischen Wähler aufzufordern, die Freien Demokraten wegzuharken. Nun gut, er hat hernach gesagt, er entschuldige sich dafür. Aber ein solches böses Wort, einmal in die Welt gesetzt, entwickelt ein Eigenleben, und keine Entschuldigung bringt es wieder vom Tisch.
Es ist derselbe Geist, der die Machenschaften und Verratslegenden in Umlauf setzen läßt, und es gibt auch einen Zusammenhang — Graf Lambsdorff hat das hier heute morgen schon gesagt; das empfinde ich als zutiefst besorgniserregend — mit der Organisierung von Brülltrupps zur Störung von Wahlversammlungen demokratischer Parteien.
Herr Kollege Ehmke, daß Sie diese Vernichtungsstrategie durch Personalisierung Ihrer Schmähungen in der Person von Hans-Dietrich Genscher fahren — Herr Bölling nennt dies in seinem Tagebuch „den Bundesaußenminister ans Kreuz schlagen"; man muß sich das Wort einmal vergegenwärtigen —, macht die Sache nur noch schäbiger.
Wenn Sie eine Persönlichkeit, die sich große Verdienste um dieses Land erworben hat,
vorsätzlich und heimtückisch rufmorden, dann empfinde ich das als menschlich zutiefst unanständig.
Meine Damen und Herren, der bisherige Verlauf der Debatte, soweit diese Debatte in der Sache geführt worden ist, hat eines klar gemacht — Herr Dohnanyi hat das hier soeben erfreulicherweise zum ersten Mal klar ausgesprochen —: Die alte Koalition ist an unüberbrückbaren Gegensätzen in der Haushalts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik und an sich abzeichnenden unüberwindbaren Kontroversen in der Außen- und Sicherheitspolitik gescheitert. Das und nichts anderes ist die Wahrheit.
— Wenn hier irgend jemand Legenden bildet, dann gibt es überhaupt keinen Zweifel darüber, welche Seite dieses Hauses Legenden bildet.
Meine Damen und Herren, was mich allerdings außerordentlich verwundert hat, ist, mit welcher Geschwindigkeit Sie von jenen Maximalpositionen Ihres Münchener Parteitages in der Steuerpolitik in dem Augenblick abgewichen sind, in dem Sie in der Opposition sitzen. Ich habe jedenfalls in einer Reuter-Meldung gelesen, daß Ihr Vorstand am Montag beschlossen hat, daß alle möglichen hier in der Vergangenheit als „Gruselkabinett" und „Marterwerkzeuge" bezeichneten Dinge vom Tisch sind. Auf eine solche Erklärung, Herr Brandt, haben wir in der alten Koalition gewartet. Wir haben am Ende vergeblich darauf gewartet.
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat am Beginn seiner Regierungserklärung die Haushaltssituation und die finanzpolitische Situation im Oktober 1982 festgestellt. Die FDP-Fraktion hat nie geleugnet — und sie wird es nie leugnen —, daß sie für diese Situation Mitverantwortung trägt.
Aber, meine Damen und Herren von den Fraktionen des neuen Koalitionspartners, ich komme nicht umhin festzustellen, daß die Mitverantwortung für Strukturprobleme in unserem Haushalt und in unserer Finanzsituation natürlich auch in die Zeit vor der sozialliberalen Koalition zurückreicht.
Ich erinnere an die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle; ich erinnere an die Steigerung der Sozialversicherungsbeiträge von 14 auf 18 % auf einen Schlag.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7321
GattermannAuch noch in der Zeit der sozialliberalen Koalition haben Sie sich nicht immer als finanzpolitische Tugendwächter dargestellt.
Ich erinnere an die Vorziehung der Rentenerhöhungen im Jahre 1972.Aber, meine Damen und Herren, ich will Ihnen auch gern das bestätigen, was der Finanzminister Stoltenberg gestern hier gesagt hat, daß Sie in den letzten Jahren einige außerordentlich kostenträchtige Gesetze verhindert haben. Ich will Ihnen auch bestätigen, daß das Maß der Mitverantwortung von Opposition und von Regierung natürlich unterschiedlich zu gewichten ist.Ich habe das hier alles eigentlich überhaupt nur angeführt, weil ich allgemein sagen will, daß es wohl keine Partei mit Tradition geben kann, die in einer finanzpolitisch schlimmen Situation aus der völligen Unschuld heraus Regierungsverantwortung übernehmen kann. Damit sollten wir dann aber auch einen Schlußstrich ziehen; denn der Blick ist nach vorn zu richten.Die wichtigste Aufgabe ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft muß wiederbelebt, die Staatsfinanzen müssen saniert werden. Die bisherigen Koalitionspartner SPD und FDP stimmten nicht mehr darin überein, wie das am besten zu bewerkstelligen sei. Wir haben so viele Jahre gut miteinander zusammengearbeitet. Seien Sie doch ehrlich, geben Sie doch zu, daß Sie am Ende weder den Willen noch die Kraft dazu hatten, die wirklich schwierigen Aufgaben anzupacken.
Es ist aus Ihrer Sicht doch absolut folgerichtig, daß Sie sich aus der Verantwortung zurückgezogen haben.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Sondergutachten mahnend darauf hingewiesen, daß mit wachsendem Reichtum die Flexibilität, mit der die Industrieländer auf veränderte Bedingungen zu reagieren hätten, über die Jahre unzureichend geworden sei. Was meint der Sachverständigenrat damit? Er meint die Flexibilität bei den Einkommensansprüchen, er meint die Flexibilität der Ansprüche an den Staat, er meint die Flexibilität in den Unternehmen und am Arbeitsmarkt allgemein. Genau das hat auch Wolfgang Mischnick gemeint, als er am 1. Oktober 1982 von dieser Stelle aus davon gesprochen hat, daß der Ausstieg aus der Anspruchsmentalität, der notwendig sei, nicht den Ausstieg aus der Verantwortung bedeuten kann. Dieser Verantwortung wollen wir uns stellen.Wir stehen für die Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen Politik in allen Bereichen staatlichen Handelns, für Absagen an bürokratische Auflagen und Hemmnisse, für die Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte von den konsumtiven zu den investiven Ausgaben und für die Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen unter Stärkung der Eigeninitiative und der Selbstverantwortung. Obwohl in der augenblicklichen, aktuellen Diskussion leicht und gerne durch Verwendung bestimmter Worte das Gegenteil zu suggerieren versucht wird: Liberalismus, der dafür kämpft, ist dabei zugleich zutiefst sozial. Für ihn geht es nicht darum, daß sich der Staat in eine Nachtwächterrolle zurückziehen soll. Er will auch keine Ellbogengesellschaft etablieren. Sozialer Konsens ist bei der Lösung der vor uns liegenden Probleme unverzichtbar; das haben wir immer gesagt, und das gilt weiter. Der soziale Konsens allein hilft, den Bestand unserer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sichern.Aber guter Wille allein genügt nicht. Sozial unausgewogen ist dagegen eine Politik, die eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme duldet, nur weil man nicht den Mut aufbringt, die staatlichen Finanzen nachhaltig zu ordnen und der Wirtschaft eine neue Perspektive für unternehmerischen Erfolg und damit für mehr Arbeitsplätze zu geben.Es ist in der Tat nicht einfach, unseren Bürgern zu erklären, warum Investitionsförderungen in sich nicht sozial ausgewogen sein können. Trotzdem müssen wir diesen Versuch unternehmen. Die soziale Rechtfertigung der Investitionsförderung, die j a zur Mehrung des Produktivvermögens führt, liegt in der Tatsache, daß sich die Vorteile nachhaltig auf die Wirtschaft auswirken. Mehr Produktion bedeutet eben mehr Beschäftigung, bedeutet mehr Einkommen und mehr Wohlstand für alle.Die verteilungspolitischen Wirkungen, die sich daraus ergeben, die daraus resultierenden Probleme wollen wir in der neuen Koalition dadurch ausgleichen bzw. lösen, daß nunmehr endlich — eine uralte Forderung von CDU und FDP — der Einstieg in die Vermögensbildung der Arbeitnehmer — Produktivvermögen in Arbeitnehmerhand — ohne ideologische Verblendungen vollzogen wird, daß nicht nur darüber geredet, sondern der Einstieg vollzogen wird.
Meine Damen und Herren, der grundsätzliche Ansatz dieser Politik findet seinen Niederschlag in den Koalitionsvereinbarungen und in der Regierungserklärung. Ich will hier nur auf zwei Punkte hinweisen. Der Konsolidierungsprozeß der öffentlichen Haushalte muß gegen alle erbitterten Widerstände von Interessengruppen konsequent durchgeführt werden. Dies ist eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß wir unsere Wirtschaft wieder unter Dampf bekommen.
Herr Kollege Engholm hat heute morgen eine Horrorrechnung aufgestellt, was das Sparen anlangt. Er hat listig alle alternativ in der Diskussion befindlichen Vorschläge addiert und kommt dann auf Horrorzahlen. Herr Kollege Engholm, ich kann Ihnen einen Vorschlag machen: Wenn Sie zu den
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7322 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Gattermannalternativ im Lambsdorff-Papier stehenden Sparvorschlägen auch noch die Auswirkungen aller sonstigen in der Öffentlichkeit diskutierten Sparvorschläge addieren, kommen Sie am Ende sogar dahin, daß Ihr Facharbeiter noch etwas mitbringen muß, wenn er dem allem ausgesetzt wäre.
Meine Damen und Herren, ganz wichtig ist, daß in der Regierungserklärung und in den Koalitionsvereinb arungen Investitionsanreize vorgesehen sind. Ich will sie nicht alle im einzelnen hier abhandeln. Mindestens einige, die den Bau- und Wohnungsbereich betreffen, werden — davon bin ich überzeugt — im nächsten Jahr 100 000 Bauarbeiter in Arbeit und Brot bringen.
Herr Abgeordneter, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen. Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg, Herr Abgeordneter Gattermann hatte eingangs gesagt, daß er aus bestimmten Gründen Zwischenfragen nicht zulassen könne.
Meine Damen und Herren, die konsequente Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist auch deshalb unerläßlich, weil nur dadurch die Bundesbank ihre Zinspolitik fortsetzen kann. Nur dann, wenn die öffentlichen Haushalte nachhaltig konsolidiert werden, besteht die Chance, daß dieses unabhängige Währungsinstitut — und es wird bei dieser Koalition unabhängig bleiben — seine Tätigkeit, seine segensreiche Tätigkeit, wie ich sagen möchte, fortsetzen kann.
Ich will raffen und noch folgende Anmerkung machen. Im Verständnis der Öffentlichkeit liegen die begründeten Ansatzpunkte für die neugebildete Koalition von CDU/CSU und FDP in den zur Lösung drängenden wirtschafts- und sozialpolitischen Problemen. In diesem Zusammenhang wird dann oft die meines Erachtens fälschliche Ansicht verbreitet, in dieser Koalition würden liberale rechtsstaatliche Grundsätze aufs Spiel gesetzt.
Sowenig ich davon halte, daß man diese Diskussion auf die Namen Baum und Zimmermann verkürzt, so viel halte ich von der Absicht, die rechtspolitischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften in vollem Umfang zu wahren und, wo notwendig, gemeinschaftlich weiter auszubauen.
Die FDP hat in den Koalitonsvereinbarungen klargemacht — ich glaube, es ergibt sich kein Widerspruch dagegen —, daß es in den Bürgerrechts-
und Rechtsstaatsfragen kein Zurück hinter das Erreichte geben wird, meine Damen und Herren.
Jeder, der glaubt, irgendein Mitglied der Freien Demokratischen Partei und der Fraktion der FDP sei
bereit, auf rechtsstaatliche Positionen zu verzichten, sei bereit, Bürgerrechte einzuschränken, wird sich wundern.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
— Diesen alten Scherz kennen wir doch. Er ist schon in den Protokollen des 1. Deutschen Bundestags nachzulesen. Wenn Sie meinen, daß das alles so langweilig war, ist das Ihr gutes Recht. Meine politischen Freunde und ich jedenfalls glaubten, daß dies hier zu sagen ist.
Alle wirtschaftlichen Daten sind besorgniserregend. Dies ist wirklich eine ernste Situation. Die Zahl der Arbeitslosen nähert sich der Zwei-Millionen-Grenze und kann darüber hinausgehen, noch in diesem Winter. Firmenzusammenbrüche sind fast schon normal geworden. Die Staatsdefizite haben eine besorgniserregende Höhe erreicht.
In dieser Situation mußten wir handeln, und wir haben gehandelt — ich sage dies — ohne jedes parteipolitische Kalkül.
Der neuen Regierung, der neuen Koalition bleibt wenig Zeit, das Vertrauen der Bürger, das Vertrauen der Investoren, das Vertrauen der Arbeitnehmer und auch das Vertrauen der Arbeitslosen zu gewinnen. Sie muß das Kunststück fertigbringen, Ausgaben zu kürzen und gleichzeitig die Konjunktur anzuregen. Sie darf auch vor unpopulären Maßnahmen nicht zurückschrecken. Sie muß gegen den lautstarken und heftigen Widerstand der Begünstigten überflüssige Subventionen abbauen. Sie muß mehr Eigenleistung in der sozialen Sicherung durchsetzen. Das alles ist ja nicht populär, meine Damen und Herren, das alles erfordert verdammt viel Mut. Und kurzfristige Wunder sind angesichts der Schwere der Probleme nicht zu erwarten.
Meine Damen und Herren, Vergangenheitsbewältigung, Selbstzerfleischung, Polemik, Diffamierungen verhindern sachbezogene Arbeit für unser Volk. Hören wir endlich auf damit! Machen wir uns an die Arbeit!
Meine Damen und Herren, ehe ich das Wort weitergebe, möchte ich Ihnen mitteilen, daß sich die Fraktionen darauf verständigt haben, von 13 bis 14.30 Uhr in die Mittagspause einzutreten.
Das Wort hat der Ministerpräsident des Freistaates Bayern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sicher-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7323
Ministerpräsident Dr. h. c. Strauß
lich bin ich als ein Politiker, der 29 Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses war, der Meinung meines Vorredners, daß der Ablauf einer parlamentarischen Debatte — und zu den Königs-Debatten gehört ja die Aussprache über eine Regierungserklärung — wichtiger — —
— Das Wort „Königsmörder" stammt von Ihnen, nicht von mir.
Sicherlich gehört eine Aussprache über eine Regierungserklärung, obendrein bei diesem Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, zu den Königs-Debatten, vielleicht noch mit Vorrang gegenüber einer normalen Haushaltsdebatte. Aber angesichts der Struktur der Bundesrepublik Deutschland, die im Gegensatz zu Frankreich oder Italien eine föderative Ordnung hat — aus gutem Grunde; ich werde einige Sätze darüber zu sprechen haben —, gehört das Verhältnis Bund-Länder— und hier wieder mit dem Kernstück Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern — zu einem Thema, das ein Mitglied des Bundesrates, der Regierungschef eines Bundeslandes, nach meiner Überzeugung auch in diesem Hause behandeln sollte. Das ist der Grund meiner Wortmeldung.
Die Aufgabe der neuen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl, die sofort in Angriff genommen werden mußte, besteht darin, erstens die Wirtschaft zu sanieren, zweitens die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen, drittens ein finanzierbares System der sozialen Sicherheit langfristig zu stabilisieren, d. h. die Investitionen auf breiter Front zu verstärken, neues Wachstum zu erzeugen, aus zwei Millionen Arbeitslosen, d. h. Unterstützungsempfängern, arbeitswillig, aber zur Unproduktivität verdammt, wieder Lohnsteuer- und Beitragszahler zu machen.Die neue Bundesregierung hat ein Erbe übernommen, das man ohne Übertreibung als Scherbenhaufen der Illusionen und als Trümmerhaufen der Utopien bezeichnen kann.
Ich möchte deshalb im Zusammenhang mit der gestrigen — —
— Der Freistaat Bayern hat — —
— Wenn ich ausnahmsweise zu Wort kommen darf, bin ich Ihnen sehr dankbar. — Der Freistaat Bayern hat dank der Tatsache, daß seine Regierungschefs — ich nenne hier nicht nur mich, sondern auch meine Vorgänger — und deren Finanzminister den Kreditspielraum Bayerns in guten Tagen nicht ausgenutzt haben, sondern Reserven für schlechte Tage offengehalten haben, die Rückschläge Ihrer Bundespolitik besser überstanden als andere Länder. Das ist meine Antwort dazu.
Ich hatte nicht die Absicht, speziell über die Probleme des Freistaates Bayern hier zu reden, weil ich über das Verhältnis Bund-Länder und die Gestaltung ihrer Finanzbeziehungen in der Zukunft reden will. Wenn Sie aber von mir ein Privatissimum, und zwar noch gratis, über Bayern hören wollen, bin ich gerne bereit, Ihnen diesen Nachhilfeunterricht auch von dieser Stelle aus hier zu erteilen.
Ich muß der gestern abgegebenen Regierungserklärung etwas zubilligen. Sie hatte doch gar nicht den Zweck, sämtliche politischen Problembereiche zu behandeln, wie sie z. B. nach einer Bundestagswahl als umfassendes Regierungsprogramm in der Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht werden müssen. Es sind ja auch in dem Koalitionspapier, an dessen Fertigstellung ich als Parteivorsitzender meinen bescheidenen Anteil geleistet habe, ganze Bereiche der Bundespolitik überhaupt nicht angesprochen worden,
und zwar nicht deshalb, weil man diese Probleme etwa für nicht verhandlungsfähig erklärt hat oder für nicht kompromißfähig hält, sondern einfach deshalb, weil wir in dieser Stunde der Not uns alle — Bundestag, Bundesrat, die Regierungen der Länder, die Regierung des Bundes — auf dieses Problem, nämlich eine Tendenzwende — Sanierung der Wirtschaft, Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und Stabilisierung eines finanzierbaren Systems der sozialen Sicherheit — konzentrieren müssen.
Bei einer Regierung, deren Chef in Übereinstimmung mit den Koalitionspartnern den 6. März als Tag der nächsten Bundestagswahl in der Öffentlichkeit verbindlich angegeben hat, kommt es doch nicht darauf an, jetzt in wenigen Monaten ein Programm zu entwerfen, für dessen Durchführung, für dessen Verhandlung man sicherlich mehr als einige Tage braucht — ich habe einige Erfahrung in Koalitionsverhandlungen aus den 50er und 60er Jahren —, für dessen Durchführung man vor allen Dingen einen längeren Zeitraum braucht. Darum ist diese Regierungserklärung — das war auch meine Meinung bei der Ausarbeitung des Koalitionspapiers — in der Hauptsache darauf abgestellt, in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die Wende einzuleiten, im übrigen bei den anderen Gebieten die Kontinuität zu gewährleisten oder — auch das soll hier offen gesagt werden — kontroverse Themen zwischen den Unionsparteien und der FDP auszuklammern.
Ich glaube, wir erweisen uns selber und den Bürgerinnen und Bürgern, den Wählern, den besten
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7324 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Ministerpräsident Dr. h. c. Strauß
Dienst, wenn wir die Dinge in diesem Hause so behandeln, wie sie in Wirklichkeit sind.
Ich habe gesagt, die neue Bundesregierung hat ein Erbe übernommen, das man schlicht als Scherbenhaufen der Illusionen und als Trümmerhaufen der Utopien bezeichnen kann. Helmut Schmidt hat so getan, als ob Hochverrat und Meineid ihn gestürzt hätten, also eine Art Dolchstoßlegende erfunden. — Wissen Sie, wenn man in einem langen politischen Leben alles und das Gegenteil von allem erlebt hat,
dann kommt man hier zu der schlichten Feststellung, daß alles in der Geschichte zweimal vorkommt, z. B. die Dolchstoßlegende als Tragödie der Weimarer Republik, als Komödie bei Ende der liberalsozialistischen Koalition.
Die Koalition ist doch nicht an persönlichen Streitigkeiten zwischen Schmidt und Genscher geborsten. Da habe ich in dem heute ja schon zitierten Papier, das zu Beginn dieser Woche veröffentlicht worden ist, etwas gefunden. Das ist übrigens ein sehr bedenklicher Vorgang für einen hohen Bundesbeamten,
der vor wenigen Tagen die Bühne seiner offiziellen Tätigkeit verlassen hat, auch die Bühne der Intimitäten, der Indiskretionen aus dem Küchenkabinett. Er schreibt:Des Kanzlers Gefühle zu Genscher sind immer noch widerstreitend. Verschiedentlich in der Vergangenheit hat er der gut gespielten Herzlichkeit des anderen vertraut. In Wahrheit ist der Kanzler,— Helmut Schmidt ist natürlich gemeint — selber nicht ohne komödiantische Begabung,
einem Chargenspieler von Rang aufgesessen.
Das ist also ein völlig neuer Wettstreit auf der politischen Bühne: zwischen einem Exkanzler mit komödiantischer Begabung und einem Chargenspieler von Rang.Ich möchte aber auch dem Kollegen Lambsdorff für einige Sätze seiner Rede heute morgen danken, ebenso dem vorherigen Redner. Dieses Papier bringt ja immerhin Enthüllungen aus dem Seelenleben. Und der Wind hat mir ein Lied erzählt:
Der Bölling hat das Papier abgezeichnet, aber die Feder ist zum Teil vom großen Meister geführt worden.
In diesem Papier heißt es:Die Begegnung mit dem Innenminister Baumvermittelt keine Erkenntnisse, die uns weiterhelfen. Natürlich stimmt es, wenn er sagt, daß viele in der FDP nicht als Kanzlerkiller dastehen möchten. Die dem Kanzler verbundene Hildegard Hamm-Brücher, sagt Baum, werde so etwas niemals tun, und andere auch nicht.— Na gut, das ist Vergangenheit. —Aber was zählen solche ehrenwerte Skrupel schon, wenn es darum geht, die FDP vor dem Schicksal der Opposition zu bewahren? Es geht ja schon gar nicht mehr um den nächsten Haushaltskompromiß, um die Balance zwischen Einsparung und neuen Schulden. Für Genscher und seinen Anhang stellt sich doch die ungleich wichtigere Frage, an der Seite welcher der zwei großen Parteien sie 1984 wieder zu Macht und Pfründen kommen können.
Genau dieser Deutung möchte ich widersprechen.
Genauso wie der Bundeswirtschaftsminister heute morgen sagte, er habe die Gnade seiner Kritik auch mir zuteil werden lassen, habe ich mit Kritik sicher nicht gespart und niemand geschont. Aber eines ist natürlich für eine Freie Demokratische Partei und ihren wirtschaftsliberalen Flügel unerträglich, nämlich zuzusehen, wie die Wirtschaft unseres Landes in eine endlose Talfahrt gerät, die Finanzen total durcheinandergeraten und auch das Netz der sozialen Sicherheit immer brüchiger wird. Dieses billige ich den Herren, die den Koalitionswechsel vollzogen haben, zu, gleichgültig, wie schnell oder wie langsam und wie früher oder wie später es richtiger oder besser gewesen wäre.Diese Koalition ist nicht an persönlichen Streitigkeiten zwischen Schmidt und Genscher geborsten oder an rechtspolitischen Gegensätzen zwischen SPD und FDP zerbrochen oder an außen- oder deutschlandpolitischen Fehden zwischen den Koalitionspartnern zugrunde gegangen. Sie ist an der Unmöglichkeit zugrunde gegangen, die gemeinsam verschuldete Zerrüttung von Wirtschaft und Finanzen mit dem Partner SPD wieder in Ordnung zu bringen.
Daß es lange gedauert hat und dafür spät, ja fast zu spät geworden ist, ist ja auch nicht zu bestreiten.Ich erinnere daran, daß ein von mir hochverehrter sozialdemokratischer Kollege aus der Zeit der Großen Koalition, mit dem ich viele Gemeinsamkeiten hatte und mit dem mich mehr als gelegentliche Meinungsverschiedenheiten verband — Sie wissen, wen ich meine: Karl Schiller —, schon zu Anfang der 70er Jahre bei einem steuerpolitischen Kongreß der SPD an die Adresse seiner Parteifreunde erklärt hat: Die wollen ja eine andere Republik! Er sagte dann: Kinder, laßt doch die Tassen im Schrank! Seit dem Münchener Parteitag der SPD war ich mir im klaren, daß die nicht die Tassen im
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Schrank gelassen haben, sondern den wirtschaftspolitischen Verstand in der Garderobe,
und dazu noch den Schlüssel verlegt haben.
— Ich kann verstehen, daß Sie von bitteren Gefühlen geplagt sind, daß der Rollenwechsel Sie stört.
Manche atmen vielleicht befreit auf, manche denken mit Bitternis an die letzten Monate. Aber Sie sollten hier soviel Haltung aufbringen, mich in Ruhe anzuhören.
Ich habe bis jetzt nur humorvoll gesprochen, wenn auch mit einigen ironischen Sentenzen.
Ich habe von der gemeinsam verschuldeten Zerrüttung von Wirtschaft und Finanzen gesprochen. Sie können doch nicht leugnen, daß die anschwellende Zahl der Arbeitslosen in diesem Winter die Grenze von 2 Millionen erheblich überschreiten wird und daß die Zahl der Pleiten sprunghaft gestiegen ist und vorerst noch weiter — bis 16 000 am Ende des Jahres — steigen wird. Sie können auch nicht die katastrophal anwachsende Neuverschuldung einfach leugnen. Die SPD war und ist nicht bereit — das haben auch die Reden des Kollegen Ehmke und des Kollegen Apel bewiesen, die ich zum Teil hier und zum Teil am Radio gehört habe —, die leichtfertig gebauten Luftschlösser wieder einzureißen, sondern überläßt das anderen und möchte dazu noch die politische Rechnung der neuen Regierung anlasten.Die alte Koalition ist über den Folgen ihrer skandalösen Wirtschafts- und Finanzpolitik zusammengestürzt. Wie viele Programme, Pläne, Operationen und Strategien sind großspurig verkündet und dann leise wieder aus dem Verkehr gezogen worden! Der Traum vom historischen Bündnis zwischen Liberalismus und Sozialismus war eben doch ein falscher Traum. Wenn die alte Koalition noch ein Jahr weiterregiert hätte, hätten Sie, Herr Kollege Ehmke, Ihre gestrige Rede nicht halten können.
Sie hätten sie nicht halten können, denn die Wende, die durch die Regierungserklärung von gestern und durch die Beschlüsse der Koalitionsparteien zwar noch nicht vollzogen, aber signalisiert und eingeleitet worden ist, wäre bei Fortsetzung dessen, was sich zwischen den alten Bündnispartnern in den letzten Jahren und vor allen Dingen in den letztenMonaten ereignet hat, völlig außerhalb jeder Möglichkeit gewesen.
Der Anstieg der Zahl der Arbeitslosen, der Anstieg der Zahl der Insolvenzen, Konkurse, Betriebsstillegungen, Pleiten usw. und der skandalöse Anstieg der Verschuldung wären ungehemmt und ungeremst weitergegangen.
Wenn es dem Bürger auferlegt worden wäre, die Folgen dieser Politik bezahlen zu müssen, dann hätten Sie, Herr Kollege Ehmke, nicht — wie gestern — die Möglichkeit gehabt, alle möglichen Personenkreise hier als Opfer der Politik einer Bundesregierung, die erst wenige Tage im Amt ist, zu mobilisieren. Die Arbeitnehmer, die Rentner, die Kriegsopfer, die Mieter, die Schüler und die Studenten, die Sie gestern genannt haben, sind doch das Opfer Ihrer Politik der finanzpolitischen Maßlosigkeit geworden!
Ich glaube, daß ich nicht um ein Jota übertreibe, wenn ich sage: Wenn ein Redner an dieser Stelle oder wo auch immer, sagen wir, vor vier Jahren oder nach der Bundestagswahl 1976, bei der es ja nur ein „Rentenproblemchen" gab, vorausgesagt hätte, was Sie in den folgenden Jahren an zum Teil paradoxen, sinnlosen, ungereimten, widerspruchsvollen, das Problem nicht heilenden Einschnitten in die sozialen Leistungen vollzogen haben, wäre dieser Redner damals genauso mit einer Welle, mit einer Flut von Verhetzung und Verleumdung überzogen worden, wie es jetzt leider auch wieder Stil zu werden scheint.
Sagen wir doch einfach: Die alte Koalition hat Konkurs gemacht.
Haushaltspläne und Finanzplanungen waren nicht einmal mehr Poesiealben, sondern waren reine Märchenbücher geworden. Ihre Zahlen dienten doch mehr der Verharmlosung der Probleme und der Verschleierung der Tatsachen als den Erfordernissen eines demokratischen Haushaltsrechts. Ich bin auf Grund der Vorarbeiten vieler verdienter Finanzpolitiker der Finanzminister gewesen, der damals, am Ende der Großen Koalition, im Zusammenhang mit dem Gesamtbereich der Finanzverfassungsreform das neue Haushaltsrecht dem Parlament vorgelegt und damit zur Gültigkeit gebracht hat, ein demokratisches Haushaltsrecht mit einer sehr großen Transparenz, angefangen bei dem einzig sinnvollen Schlüssel der Nettoverschuldung statt des wenig aussagekräftigen Schlüssels der Bruttoverschuldung bis hin zur Ausweisung der Subventionen und zur Trennung der konsumtiven von den investiven Aufgaben usw. Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand sollten doch überschaubar und durchschaubar werden. Wer die Haushaltspläne der zweiten Hälfte der 70er Jahre bis — immer schlimmer werdend — in die 80er
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Jahre hinein und die dazugehörigen Finanzplanungen sieht, muß wirklich den Kopf drehen, wenn er die Zahlen zwischen dem Soll und der Wirklichkeit noch auf ein und demselben Papier sollte festzustellen wünschen.Der Kassensturz hat nach Angaben des neuen Bundesfinanzministers — ich bin nicht verwundert darüber — ein noch schlechteres Ergebnis zutage gefördert als ursprünglich befürchtet. Seit der letzten finanzpolitischen Debatte noch unter Kanzler Helmut Schmidt vor einem Monat ist die Finanzierungslage für 1982 bis heute nochmals um etwa 6 Milliarden DM schlechter geworden, hat sich die neue Schuldenlast für dieses Jahr auf 40 Milliarden DM erhöht. Diese neue Schuldenlast der neuen Regierung anzulasten ist der Gipfelpunkt von Paradoxie,
um nicht zu sagen: von politischer Impertinenz.
In den drei Jahren — ohne Änderung der Politik — hätte die nach Grundgesetz höchstzulässige Kreditaufnahme, die durch die Summe der Investitionen bestimmt wird
— ich beziehe mich hier auf die vorliegenden, von der letzten Regierung vorgelegten und ständig revidierten Planungen, also auf deren letzte Planung beziehe ich mich —, nicht mehr ausgereicht, die Zinsen für die bisher aufgenommenen Schulden zu bezahlen. Wenn das nicht finanzpolitischer Bankrott ist, dann weiß ich nicht, was unter diesem Thema, unter dieser Definition noch verstanden werden soll.
Für 1983 ergab sich statt der offiziell geplanten — oder besser gesagt: erträumten — 28 Milliarden DM eine weitere Neuschuldenlast von 50 Milliarden DM oder mehr. Darüber ist doch der letzte Kanzler gestürzt, weil er sich mit seiner SPD nicht mehr aus dem Teufelskreis der selbstverschuldeten Finanzkatastrophe befreien konnte.
Ich war der letzte Finanzminister der Periode von 1949 bis 1969, und zwar in der Großen Koalition von 1966 bis 1969. Weil damals mein Nachfolger Alex Möller, ein von mir hochgeschätzter Kollege, von der schweren Erblast gesprochen hat, die er von mir habe übernehmen müssen,
darf ich diese Erblast einmal in drei Zahlen darstellen: Ich habe im Wahljahr 1969 nicht einen einzigen Pfennig Nettokredit aufgenommen. Ich habe in dem gleichen Jahr 1,3 Milliarden DM Schulden zurückgezahlt, um damit das Gesamtniveau der Schuldenlast durch einen erheblichen Betrag zu senken und um ein Zeichen des guten Willens unserer Solidität zu setzen. Ich bin überzeugt — ohne Herrn Kollegen Stoltenberg und seinen Nachfolgern hier etwas vorschreiben zu wollen —, daß ich angesichts der von der letzten Koalition und ihrer Regierung geschaffenen Finanzlage wahrscheinlich der letzte Finanzminister in der Bundesrepublik in diesem Jahrhundert gewesen sein werde, der in einem Jahr— noch dazu in einem Wahljahr — keinen Pfennig Kredit aufgenommen, 1,3 Milliarden Schulden zurückgezahlt und seinem Nachfolger am 21. Oktober 1969, dem Tag der Wahl Willy Brandts zum Kanzler, einen Kassenbestand in Höhe von 3 962 000 000 DM überlassen hat.
Herr Ministerpräsident, der Abgeordnete Westphal wollte Ihnen eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie einverstanden sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sofort.
— Herr Stoltenberg muß jetzt noch blitzschnell 6 Milliarden DM aufnehmen; sonst könnte der Bund seine Gehälter und Rechnungen im Dezember nicht mehr bezahlen.
Die Finanzlage von damals ist von dem Abgeordneten Wehner und dem Abgeordneten Schmidt — damals, als wir unsere Arbeit in der Großen Koalition aufgenommen haben — als so katastrophal bezeichnet worden, daß die dafür Schuldigen in das Zuchthaus gehörten.
— 1966, ja. — Zwar war die Finanzlage 1966 etwas durcheinander geraten, aber ihre Ordnung war eine relativ leichte Aufgabe. Das Ende dieser dreijährigen Ordnungsperiode habe ich Ihnen gerade geschildert: 1969 keinen Pfennig Kredit aufgenommen, 1,3 Milliarden DM zurückgezahlt und in der Kasse einen Bestand von etwa 4 Milliarden DM dem Nachfolger hinterlassen, der keinen einzigen Pfennig Kredit als Erblast aufzunehmen brauchte. Das ist die reine, durch Tatsachen begründete Wahrheit, die ich hier auch einmal sagen darf.
Herr Abgeordneter Westphal zu einer Zwischenfrage.
Herr Ministerpräsident, ist es zutreffend, daß die Zeit, von der Sie als damaliger Finanzminister schwärmen, so gestaltet war, daß derjenige, der Ihnen die Zahlen, die Wirtschaftsdaten zugeliefert hat, ein sozialdemokratischer Wirtschaftsminister gewesen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war genau der, der damals gegangen ist, weil er bemerkt hat, daß wachsende Teile in Ihrer Partei eine andere Republik wollen,
daß die sozialistischen Gesellschaftsveränderer ihre rot angestrichenen Tassen jetzt öffentlich ausstellen wollen, und der daraus die Konsequenzen gezogen hat.
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Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Westphal?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr, mit Vergnügen.
Herr Strauß, könnte es sein, daß Sie sich irren? Derjenige, von dem wir beide sprechen, ist zu einer ganz anderen Zeit und aus ganz anderen Gründen als denen, die Sie genannt haben, zurückgetreten. Ich nehme an, Sie irren sich. Würden Sie mir das bestätigen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann hätte ich ihn bei meiner Unterredung im August 1972 in einem bekannten Ferienort völlig falsch verstanden. Sie können sich hier auf mein Gedächtnis verlassen. Ich stelle es Ihnen sozusagen als Prothese gerne zur Verfügung.
Natürlich weiß ich, warum Alex Möller zurückgetreten ist. Er hat es doch gesagt und geschrieben. Natürlich weiß ich, warum Karl Schiller zurückgetreten ist. Natürlich weiß ich, daß damals die weltwirtschaftliche Lage und auch die außenwirtschaftliche Lage anders war.
Hätten Sie aber Maß gehalten, dann wären höchstens die unangenehmen Übertreibungen nach der positiven Seite hin abgebaut worden: die Tatsache, daß der Arbeitsmarkt leergefegt war, daß 400 000 oder 500 000 offene Stellen nicht besetzt werden konnten. Wenn hier etwas gebremst worden wäre, hätte kein Vernünftiger etwas dagegen einzuwenden gehabt. In dieser Situation haben Sie noch eine Vollbeschäftigungsgarantie gegeben, die so überflüssig war, wie wenn man Schnee nach Alaska importieren wollte.
— Sie werden nicht bestreiten, daß der Import von Ananas nach Alaska einen Sinn hätte.
Aber Sie haben ja Pelzmäntel nach Zentralafrika und Eis nach Alaska in jener Zeit mit Ihrer Vollbeschäftigungsgarantie exportiert.
Herr Stoltenberg stand doch vor der Lage, daß er im November oder spätestens im Dezember die Gehälter nicht mehr hätte zahlen können, die Weihnachtsgratifikationen nicht mehr hätte zahlen können.
Das ist doch die bittere Wahrheit, die man hier eingestehen sollte, statt wilde Drohungen von sich zu geben und ungestüme Ausfälle zu machen. Das ist die bittere Wahrheit — nicht die Ballade vom verratenen Ritter Helmut aus Hamburg.
Ein besonderer Ausschnitt aus diesem Bild des Niedergangs ist das Bund-Länder-Verhältnis, das im Laufe der letzten 13 Jahre und besonders seit 1980 leider immer schlechter geworden ist. Mit Freude und Genugtuung habe ich die Absichtserklärung des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung und in der letzten Woche vor dem Bundesrat zur Kenntnis genommen, daß im Bund-LänderVerhältnis eine Wende zum Besseren eintreten soll.Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die beißende Kritik von zwei sozialdemokratischen Landesministern an die Adresse der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung von Helmut Schmidt. Der nordrhein-westfälische Innenminister Schnoor nannte es im Juli dieses Jahres einen „verfassungspolitischen Skandal", wie die Länder im Zusammenhang der damaligen Haushaltsverhandlungen behandelt würden.
Ich zitiere ihn; dann habe ich mehr Glaubwürdigkeit auf dieser Seite und mehr Beifall auf jener Seite.
Der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Jochimsen, eines der Wunderkinder aus der Ehmkeschen Zauberküche, lastete wenige Tage nach dieser drastischen Erklärung des Herrn Innenministers Schnoor dem Bund an, daß der Bund seine Sparpolitik einseitig zu Lasten der Länder treibe und verhindere, daß die Länder eine aktive sowie beschäftigungssichernde Konjunktur- und Investitionspolitik gestalten könnten. Er fragte mit Blick auf Nordrhein-Westfalen — ich zitiere ihn wörtlich —, ob der Bund zusehen könne, wie das industrielle Kernland mit 28% der gesamten Bundesbevölkerung „verkomme".
Und hier habe ich zwei sozialdemokratische Spitzenpolitiker des Landes zitiert, in dem die SPD im Parlament die absolute Mehrheit hat und allein die Regierung stellt.
Aber diese Klagen sind doch nur die Spitze des Eisbergs einer länderunfreundlichen Politik, die seit Jahren das Verhältnis von Bund und Ländern zunehmend belastete und damit der Stabilität und der Glaubwürdigkeit unserer bundesstaatlichen Ordnung Schaden zufügte.Aus guten Gründen erhebt das Grundgesetz in Art. 79 ausdrücklich die Eigenstaatlichkeit der Länder zu einem Verfassungsgrundsatz, der nicht zur Disposition stehen oder gestellt werden darf. Es kann daher doch nicht dem Geist der Verfassung entsprechen, wenn die Länder ständig um die Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit kämpfen müssen, damit sie ihre verfassungsmäßigen Aufgaben erfüllen können.Ich glaube, das, was ich hier sage, müßte genauso von jedem sozialdemokratischen Regierungschef
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eines sozialdemokratisch regierten Landes gesagt werden.
Es kann auch nicht dem Geist der Verfassung entsprechen, daß die Länder fortwährend Versuche des Bundes abwehren müssen, in ihre eigensten Zuständigkeiten einzudringen, oder den vom Grundgesetz geschützten Kernbereich der Eigenstaatlichkeit verteidigen zu müssen. An Beispielen dafür hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt.Ich erinnere an die weitgehende, zum Teil unnötige Ausschöpfung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes z. B. beim Bundesberggesetz. Ich erinnere an die Regelungssucht und den Perfektionismus bei der Bundesgesetzgebung, deren Last dann die mit der Ausführung betrauten Länder und Gemeinden zu tragen hatten, z. B. beim Abwasserabgabengesetz. Ich erinnere an die wiederholten, verfassungsrechtlich mehr als bedenklichen Versuche, Länder und Gemeinden über Sonderprogramme und Modellvorhaben unter die Angebotsdiktatur des Bundes zu stellen. Ich erinnere vor allem an die zutiefst gestörten, von Wort- und Vertrauensbrüchen seitens des Bundes damals gekennzeichneten Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, worüber noch einige Sätze zu sagen sein werden.Der neue Bundeskanzler hat klar zum Ausdruck gebracht, welch hoher Stellenwert für ihn die Verbesserung des Bund-Länder-Verhältnisses besitzt. Die Regierungserklärung sagt: Wir wollen, daß Länder und Gemeinden wieder mehr zu ihrem Rechte kommen. Und weiter:Die föderative Ordnung ist mehr als ein Verfassungsprinzip: Sie ist ein wichtiges Ergebnis unsere Geschichte. Sie ist Ausdruck unserer politischen Kultur, die von Verteilung und Kontrolle der Macht, von Freiheit und Eigenverantwortung geprägt ist. Die Aufgaben, die Länder und Gemeinden wirksamer als der Bund erfüllen können, sollten sie selbst wahrnehmen.
— Gewerbesteuer, darauf komme ich sofort zu sprechen, wenn Sie es unbedingt haben wollen. Aber das geht dann leider auf die Redezeit.Ich habe, als ich Abgeordneter des Deutschen Bundestages war, von dieser Stelle aus, auch in einem Wortwechsel — wenn ich mich recht erinnere — mit dem seinerzeitigen und auch heutigen Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff, als eine für die Verbesserung der Rahmenbedingungen der mittelständischen Wirtschaft notwendigen Maßnahme den Abbau der Gewerbesteuer bezeichnet, allerdings mit der Maßgabe, daß eine wirtschaftliche Interessenverbindung zwischen Unternehmungen und den Gemeinden, wie immer man sie bezeichnen oder ausgestalten mag, nicht aufgegeben werden dürfe
eine Interessenverbindung, die für die Investitionen, für den Ausbau, für den Neubau von Betriebsstätten, für die Neuerrichtung von Unternehmungen von wesentlicher Bedeutung ist.Ich habe seinerzeit als Bundesminister der Finanzen eine Gemeindefinanzverfassungsreform durchgeführt, deren Gesamtertrag den Gemeinden im ersten Jahre der Wirksamkeit eine Verbesserung ihrer Finanzmasse um — nageln Sie mich jetzt nicht auf hundert Millionen DM fest — 5,5 bis 6 Milliarden DM gebracht hat — gegen schwere Widerstände damals.
Wir haben damals dann die Gewerbesteuerumlage eingeführt, um schon einen Schritt, symbolisch, in die Richtung Abbau der Gewerbesteuer zu tun.Ich habe bei der vorher erwähnten Kontroverse mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister den Abbau der Gewerbekapitalsteuer verlangt und im besonderen die Beseitigung des auch nach meiner heutigen Ansicht noch unerträglichen Unfugs, daß auch die Zinsen für langfristige Schulden, genauso wie die Schulden als Gewerbekapital versteuert werden müssen, noch als Gewerbeertrag zu versteuern sind, auch dann noch, wenn das Unternehmen keinen Ertrag mehr erwirtschaftet oder sich schon in roten Ziffern befindet. Damals war der Herr Bundeswirtschaftsminister der Meinung, man sollte zwar die Gewerbekapitalsteuer abbauen, aber nicht die Hinzurechnung der Schuldzinsen zum Gewerbesteuerertrag beseitigen, weil sonst falsche Verhaltensweisen entstünden.Ich glaube, ich begehe keine große Indiskretion, wenn ich sage, daß wir diese Diskussion auch bei den Koalitionsverhandlungen geführt haben und daß im Laufe dieser Verhandlungen auch der Herr Bundeswirtschaftsminister seine Bedenken zurückgestellt und der Beseitigung der Dauerschuldzinsen als eines steuerlich zu Buche schlagenden Gewerbesteuerertrags zugestimmt hat. Im Bewußtsein, was das für die Gemeinden bedeutet, habe ich daraufhin vorgeschlagen, daß der Ausgleich dafür durch eine Senkung der Gewerbesteuerumlage herbeigeführt wird, d. h. zu Lasten des Bundes und der Länder geht.Ich bin hier nicht in der Lage, jetzt auf Grund eines Zwischenrufs genaue Zahlen zu nennen. Aber ich darf den Weg andeuten: Abbau der Gewerbekapitalsteuer, Beseitigung der Hinzurechnung der Dauerschuldzinsen auf der einen Seite, dadurch Einnahmeausfälle bei den Ländern und auch bei den Gemeinden, dafür auf der anderen Seite Senkung der Gewerbesteuerumlage, und zwar, wenn es möglich ist, in einem Betrag, der das gleiche ausmacht. Letzteres ginge zu Lasten des Bundes und der Länder, die die Gewerbesteuerumlage auf ihrer Plusseite im Haushalt zu verbuchen haben.Das war die Ratio der Verhandlungen zu diesem Punkt. Das ist auch das, was ich meinem geschätzten Kollegen Dohnanyi in dem Zusammenhang sagen will.
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Diese Erklärung des neuen Bundeskanzlers, die ich eben verlesen habe, ist ein begrüßenswerter erster Schritt in diese Richtung. Sie ist durch die Beauftragung eines Staatsministers im Bundeskanzleramt mit der Funktion, die früher die Bundesratsminister wahrgenommen haben, bestätigt worden. Ich habe bedauert, daß der Bundesratsminister aus der Kabinettsliste gestrichen worden ist.Die Bundesratsminister, angefangen von Hellwege bis Carlo Schmid, der diese Aufgabe in der Großen Koalition wahrgenommen hat, haben für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern nicht so sehr materiell, sondern politisch-psychologisch vorteilhaft gewirkt. Aus diesem Grunde begrüße ich im Namen der bayerischen Staatsregierung — ich hoffe, daß die anderen Landesregierungen ohne Rücksicht darauf, von wem sie getragen oder geschaukelt werden,
den gleichen Standpunkt einnehmen — die Beauftragung eines Staatsministers im Bundeskanzleramt. Denn die Kontakte zwischen Bund und Ländern müssen wieder besser gepflegt werden. Viele Entfremdungen zwischen Bund und Ländern haben überhaupt keine parteipolitischen Ursachen, sondern sind einfach die Folge mangelnder Kontaktpflege, fehlender Information, auch skandalöser Mißachtung der Länder oder gelegentlich unqualifizierter Beschimpfung des Bundesrats, leider auch durch den letzten Bundeskanzler.Es wird so getan, als ob der Bundesrat eine Obstruktions- oder Sabotagemaschine wäre,
wenn er nicht zu allem ja und amen sagte, was die Bundesregierung vorgeschlagen und der Bundestag beschlossen hat. Ich darf hier nur daran erinnern, daß ich mich damals als Kanzlerkandidat der Union im Vorfeld der Bundestagswahl 1980 gemeinsam mit meinen Kollegen von den anderen unionsregierten Ländern mit Erfolg dafür eingesetzt habe, daß fünf finanzwirksame, allerdings populär, auch polemisch-demagogisch zu verkaufende Gesetzentwürfe gestrichen worden, d. h. nicht in Kraft getreten sind, weil aus ihnen eine finanzielle Mehrbelastung für Gemeinden, Länder und Bund von rund 4,5 Milliarden DM entstanden wäre. Der Bundesrat ist keine gleichwertige zweite Kammer. Er ist auch kein Oppositionsorgan. Das sage ich als einer der schärfsten Redner der Opposition gegen die alte Koalition. Der Bundesrat ist eine Institution sui generis. Er ist nicht eine Interessenvertretung der Länder oder des jeweiligen Landes, sondern er ist ein Verfassungsorgan, das gemäß seinen verfassungsmäßigen Vollmachten auf die Gesamtheit der Bundespolitik einzuwirken verpflichtet und berechtigt ist.
Ich glaube, mehr brauche ich dazu nicht zu sagen.Eine gesunde bundesstaatliche Ordnung erfordert deshalb gleichermaßen ein bundesfreundliches Verhalten der Länder wie ein länderfreundliches Verhalten des Bundes. Ich bin überzeugt, die Länder werden sich bei der Bewältigung der vor uns liegenden schweren Aufgaben ihrer Pflicht gegenüber dem Ganzen nicht entziehen. Ich sichere das auch für die von mir geführte Regierung ohne Wenn und Aber zu. Wir erwarten jedoch, daß der Bund aus seiner gesamtstaatlichen Verantwortung auch die Notwendigkeiten und Aufgaben der Länder in dem gebotenen Maße berücksichtigt. Ich sehe deshalb als bayerischer Ministerpräsident keinen Grund, gegenüber einer von der Union geführten Bundesregierung dort, wo es um die Interessen der Länder oder um die Verteidigung der bundesstaatlichen Ordnung geht, andere Maßstäbe anzulegen, als ich es vor dem Regierungswechsel getan habe. Unsere Kritik richtete sich ja nicht gegen die Bundesregierung, weil sie eine SPD/FDP-Regierung war,
sondern weil sie auf die Gestaltung des Bund-Länder-Verhältnisses einen schlechten Einfluß genommen hat. Ich brauche meine Maßstäbe deshalb nicht zu ändern, weil ich das Vertrauen zur Regierung Kohl/Genscher habe, daß sich das in der zukünftigen Gestaltung der Bund-Länder-Verhältnisse ändern wird. Darum kann ich bei meinen Maßstäben bleiben.
Das gilt vor allen Dingen für die beiden großen Fragen: Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und Sicherung der bundesstaatlichen Ordnung im Sinne eines modernen Föderalismus.Lassen Sie mich zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern einige aktuelle Ausführungen machen. Der Kernbereich der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sind zwei Gebiete: die allgemeine Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik und im besonderen die engen Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, die Verteilung des Steueraufkommens, die Bedienung der Gemeinschaftsaufgaben und anderer Mischfinanzierungen. Der Hauptteil der Einnahmen, die die Länder für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben benötigen — deren sind viele, und sie sind von unmittelbarer Auswirkung auf die politische Einstellung des Bürgers, auf seine Stellungnahme gegenüber diesem demokratischen Staat —, kommt aus dem Ertrag des Länderanteils bei den Gemeinschaftssteuern und aus dem Ertrag der den Ländern allein zufließenden Steuern, also Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie Umsatzsteuer als Gemeinschaftssteuern einerseits und ländereigene Steuern andererseits. Das sind in der Hauptsache die Einnahmen der Länder. Sie haben nur eine gewisse Gestaltungsfähigkeit in der Aufnahme der Kredite, aber auch hier ergeben sich aus den Geboten der Solidität, aus den Geboten der Verantwortung für die kommenden Generationen natürlich Grenzen, die wir — ich darf das für den Freistaat Bayern mit besonderer Dringlichkeit sagen — auch nie erreicht, geschweige denn überschritten haben. Die Pro-Kopf-Verschuldung des Freistaates Bayern ist niedrig; sie liegt weit unter dem Durchschnitt der Bundesländer. Vom Bund wollen wir in dem Zusammenhang aus christlicher Nächstenliebe gar nicht reden.
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Das heißt aber, die Länder sind auf der Einkommenseite ihrer Haushalte von der wirtschaftlichen Entwicklung im weitesten Sinne des Wortes entscheidend abhängig, und hierauf haben die Länder so gut wie keinen Einfluß. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung und die Aufgabe des Bundestages, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch für die Einnahmeseite der Länder wichtig sind: Abbau der Arbeitslosigkeit, aus Unterstützungsbeziehern wieder Lohnsteuerzahler zu machen. Das ist die Aufgabe, die nicht die Länder zu lösen vermögen. Sie können höchstens ihre Hilfe dazu anbieten. Die Länder können durch eine gute Strukturpolitik in einem gewissen Maße auf diese wirtschaftliche Entwicklung Einfluß nehmen. Das Zusammenwirken von guter Bundespolitik und guter Landespolitik — ich denke hier an die Jahre von 1949 bis 1969 — hat sich immer fortschrittlich und hilfreich für den Bund ausgewirkt, aber auch eine noch so gute Landespolitik kann mangelhafte Bundespolitik nicht ersetzen und schlechte Bundespolitik nicht ausgleichen. Wir können höchstens die Puffer etwas abschwächen, die wir bekommen haben.
Eine gute Konjunkturpolitik des Bundes und eine produktive Strukturpolitik des Landes können aber gemeinsam den Erfolg gewährleisten. Ich vermag davon ein Lied zu singen; denn die Rückschläge der Bundespolitik haben auch den Freistaat Bayern schmerzlich getroffen. Sie konnten nur dadurch zum Teil ausgeglichen werden, daß mein umsichtiger und sparsamer Vorgänger in erfreulichem Gegensatz zum schlechten Beispiel des Bundes den Kreditspielraum des Freistaats Bayern nur zu einem geringen Teil ausgenutzt hat. Die Länder haben dagegen an den Bund im großen und ganzen Länderforderungen zu richten, gleichgültig, von welcher politischen Mehrheit die Länderregierungen getragen oder, wenn ich das wiederholen darf, wie in Berlin, Hamburg oder Hessen „geschaukelt" werden.In diesem Zusammenhang darf ich folgende Forderungen an die Bundesregierung richten:Erstens durch eine aktive Konjunkturpolitik die Steuereinnahmen ohne Steuererhöhungen wieder auf einen höheren und berechenbaren Stand zu bringen. Die Tragödie der Steuerschätzungen, daß es alle drei Monate Zeit ist, die alte Steuerschätzung in den Papierkorb zu werfen, weil sie reine Makulatur geworden ist, muß endlich einmal aufhören.
Die Steuerschätzung vom Dezember 1981 haben wir im März 1982 weggeworfen; die vom März 1982 haben wir im Juni weggeworfen, und ich bin überzeugt, wenn jetzt eine neue Steuerschätzung kommt, dann müssen wir auch die vom Juni wieder in den Papierkorb werfen. Denn bei jeder neuen Steuerschätzung — ich kann jetzt nur einmal die Auswirkungen für Bayern sagen — mußten wir für das laufende Jahr und für die kommenden Jahre unsere Einnahmeerwartungen um jeweils ungefähr 300 Millionen DM zurücknehmen. Wie man daraufnoch einen soliden Haushalt oder gar einen Doppelhaushalt, wie wir ihn 1983/84 haben, oder eine mehrjährige Finanzplanung einschließlich 1986 aufstellen soll, das überlasse ich den Zauberern oder Magiern oder Gauklern, aber das ist nicht mehr die Aufgabe seriöser Landespolitik oder seriöser Finanzpolitiker.Unsere zweite Forderung ist, den Bundeshaushalt schrittweise so umzuschichten, daß seine Investitionsquote statt heute zwischen 13 und 14 % — Herr Stoltenberg ist gestern, soviel ich weiß, darauf zu sprechen gekommen — wieder auf 17 bis 18% steigt — das wäre ein Mehr von etwa 12 Milliarden DM an investiven Mitteln auf der Bundesseite —, damit der Bund seine investiven Aufgaben in den Ländern — z. B. beim Fernstraßenbau — wieder erfüllen und seine pflichtgemäßen Beiträge zur Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben und anderer gemeinschaftlich zu finanzierender Programme wieder leisten kann. Hier handelt es sich gemäß Art. 91 a des Grundgesetzes um die Gemeinschaftsaufgaben: erstens Ausbau und Neubau von wissenschaftlichen Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken; zweitens Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und — drittens — Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes sowie um die Finanzierungshilfen des Bundes für Investitionen der Länder und Gemeinden nach Art. 104 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes: Krankenhausbau, Krankenhausausstattung, Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden durch Hilfen für den kommunalen Straßenbau und den öffentlichen Personennahverkehr, städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen, sozialer Wohnungsbau.Allein die Kürzungen des Bundes auf diesem Gebiet gegenüber den ursprünglich verabredeten Planungen und vereinbarten Größenordnungen beliefen sich in dem von mir regierten Lande im Jahre 1982 auf 740 Millionen DM weniger an Bundesleistungen auf investivem Gebiet. Dazu kamen die soeben erwähnten Einschnitte und Kürzungen durch den Zwang, die Steuererwartungen laufend zurücknehmen zu müssen.
— Das war ja der Grund, Herr Kollege Waigel, warum ich so skeptisch gegenüber dem sogenannten Beschäftigungsprogramm war. Es ist doch unsinnig, die investiven Leistungen von Monat zu Monat zu kürzen und damit vor allem unsere Bauwirtschaft halb totzuschlagen.
Ich kann hier von der nördlichen Oberpfalz, Oberfranken ein Lied singen, aber nicht nur für diese Regierungsbezirke; dort verzeichnen wir eine Pleite nach der anderen, gerade im Bereiche der Bauwirtschaft und des Bauausstattungsgewerbes. Eine maßgebende Schuld hieran — nicht die alleinige — hat der Rückgang der öffentlichen Investitionen.
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Ministerpräsident Dr. h. c. Strauß
Die Wiederherstellung der Finanzierungskraft der Länder für Investitionen, die Bedienung des Bundesanteils wäre das beste Beschäftigungsprogramm gewesen, was ich hier in diesem Haus und anderswo — ich weiß nicht wie oft — gesagt habe.
Erlauben Sie mir in dem Zusammenhang auch etwas dazu zu sagen, was die neue Bundesregierung anpacken sollte, was nicht in kurzer Zeit erledigt werden kann. Sie wissen, daß der Freistaat Bayern von jeher ein Vorreiter im Kampf um den Abbau von Mischfinanzierungen und eine Überprüfung der Gemeinschaftsaufgaben gewesen ist. Die Einrichtung von Gemeinschaftsaufgaben als Verfassungseinrichtung ist seinerzeit von der sogenannten Troeger-Kommission — Troeger war Vizepräsident der Deutschen Bundesbank in den 60er Jahren — in ihrem Bericht zur Finanzverfassungsreform vorgeschlagen worden. Der damalige sozialdemokratische Koalitionspartner wollte nach meiner Erinnerung neun Gemeinschaftsaufgaben, von denen drei — auch mit meiner Zustimmung als damaliger Bundesfinanzminister — einvernehmlich festgelegt worden sind, nämlich die drei, die ich eben genannt habe: Hochschulbau, regionale Wirtschaftsförderung, Agrarstruktur. Dazu kamen die anderen eben erwähnten Mischfinanzierungen.
Herr Ministerpräsident, lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller zu?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Ministerpräsident, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie dafür, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgaben wieder aufzustocken. Bin ich richtig informiert, daß in Bayern ein Kabinettsbeschluß vorliegt, die Gemeinschaftsaufgaben abzuschaffen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie so wie ich in der Lage sind, in geordneten Kategorien des Ablaufs zu denken, werden Sie hier keinen Widerspruch entdecken. Die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben erfordert eine Verfassungsänderung, eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates. Diese Abschaffung kann nicht innerhalb weniger Wochen erfolgen, weil die Verhandlungen über eine Verfassungsänderung nicht holterdiepolter geführt werden können. Dessen bin ich mir bewußt. Darum habe ich ja von einem längerfristigen Prozeß gesprochen.Aber die Aufstockung der Gemeinschaftsaufgaben jetzt, solange es diesen Verfassungszwang gibt, ist ein dringendes Gebot auch im Blick auf die notwendigen öffentlichen Investitionen.
Das schließt doch nicht aus, Herr Kollege, daß man dann im Laufe der Jahre — je früher, desto lieber, aber es muß sorgfältig überlegt werden; ich komme darauf noch kurz in zwei, drei Sätzen zu sprechen — die Gemeinschaftsaufgaben abschafft und an ihre Stelle andere Finanzierungsmethoden setzt.Das eine ist jetzt geboten, weil die Lage, die wir anstreben, noch lange nicht da ist. Wenn die Lage da ist, werden wir den Bund nicht mehr bitten, weil dann keine Voraussetzung mehr dafür besteht. Ist das klar?
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis darf ich einige Sätze aus meinem Buch über „Die Finanzverfassung" zitieren, das 1969 entstanden ist. Ich betrachte diese Debatte auch als eine Grundsatzdebatte über verschiedene wesentliche Bereiche unseres demokratischen föderativen Gemeinwesens. Ich habe damals geschrieben:Der Gedanke der gemeinsamen Wahrnehmung von Aufgaben durch Bund und Länder ist nicht in den Köpfen von Verfassungsjuristen entstanden, sondern aus der Dynamik der tatsächlichen Notwendigkeiten. Diesem Zwang folgend nahmen Bund und Länder auch bisher schon eine Reihe wichtiger Aufgaben gemeinschaftlich wahr, z. B. den sozialen Wohnungsbau, die Maßnahmen der Agrarstruktur und den Ausbau wissenschaftlicher Hochschulen.Das heißt, die Einführung der Gemeinschaftsaufgaben war keine sensationelle Neuheit, sondern die verfassungsrechtlich geordnete Finanzierung gewisser Aufgaben, die vorher mehr oder minder Wildwuchs gewesen waren.Ich habe weiter geschrieben:Die gemeinsame Erfüllung von Aufgaben hat sich bisher mehr oder weniger zweckmäßigen Formen neben der Verfassung vollzogen.Diese Entwicklung mußte man verfassungsrechtlich in den Griff bekommen. Es galt, eine Regelung zu treffen, die den Umfang der beiderseitigen Verantwortung klärt und eine feste konstitutionelle Grundlage schafft, von der aus eine auf gemeinsamer Willensbildung beruhende fruchtbare Entwicklung möglich ist.Und weiter:Kernbestand jeder bundesstaatlichen Ordnung ist die Abgrenzung der Aufgabenbereiche, der eminente staatspolitische Bedeutung zukommt. Es war weder Absicht noch Aufgabe der Finanzreform, an den Grundentscheidungen unserer Verfassung zur Aufgabenabgrenzung zu rütteln.Die Finanzreform war ein einstimmiger Beschluß der von der Großen Koalition getragenen Bundesregierung. Daß die Bundesregierungen seit 1969 damit andere Ziele verfolgten und die Praxis anders gestalteten, als das im Sinne des Erfinders geplant war, ist eine bedauerliche Entwicklung, die beendet werden muß. Einige Teile der Finanzreform des Jahres 1969 — das kann und darf nicht verschwiegen werden — haben die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Die mit der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben seinerzeit auch geäußerten Befürchtungen, die Durchführung der Aufgaben könnte mehr erschwert als erleichtert werden, haben sich leider bestätigt. Dem Bund war aber sehr daran gelegen, mit Hilfe der Mischfinanzierungen
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7332 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Ministerpräsident Dr. h. c. Strauß
immer mehr in die Zuständigkeiten der Länder einzugreifen.Die verhängnisvolle Entwicklung trat Ende des Jahres 1969 ein. Ab diesem Zeitpunkt ging es wirklich bergab. Es entstanden andere Mischfinanzierungen durch Gesetze, Vereinbarungen, Haushaltsansätze zur Finanzierung von ursprünglichen Landesaufgaben mit dem Zwang der jeweiligen Mischfinanzierung durch die Länder, die sonst das Risiko eingingen, auf die Bundesmittel verzichten zu müssen. Ich möchte in diesem Zusammenhang erinnern an das Psychiatrieprogramm, die Einmischung in den kulturellen Bereich, die Förderung der Forschung und Entwicklung im Bereiche kleiner und mittlerer Unternehmen und an das Hilfsprogramm zur Gründung von selbständigen Existenzen. Auch hier sollte man die Doppelförderung aufgeben, denn sowohl der Bund als auch die Länder entwickeln Formblätter, und mancher stellt gar keinen Antrag mehr, weil er das Förderziel über dem Haufen an Formblättern nicht mehr zu erkennen vermag.
Lassen Sie mich zwei wesentliche Bereiche herausgreifen, nämlich den Hochschulbau und die Krankenhausfinanzierung. Mit der Finanzreform des Jahres 1969 wurde der Hochschulbau nicht nur als einer der vielen Investitionsbereiche angesehen. Dieser Bereich wurde vielmehr hervorgehoben und zur Gemeinschaftsaufgabe gestaltet. Das bedeutet gemeinsame Rahmenplanung, gemeinsame Abstimmung über die Ausbauziele, gemeinsame Finanzierung durch Bund und Länder, also Kooperation statt Diktat, Verhandeln beim Auftreten finanzieller Engpässe statt einseitiger Finanzierungsvorbehalte, Durchführen begonnener Maßnahmen statt Bauruinen, auch wenn es schwerfällt.Ungeachtet dieser Grundsätze hat die Bundesregierung unter Helmut Schmidt im Juni 1980 den Zehnten Rahmenplan für die Hochschulfinanzierung einseitig unter Finanzierungsvorbehalt gestellt und damit jeden systematischen Aus- und Neubau von Hochschulen fragwürdig, zum Teil unmöglich gemacht.Außerdem sind noch gewisse Zusagen hinsichtlich der bis Ende 1980 begonnenen oder zu beginnenden Vorhaben gemacht worden.Wenn ich es ganz kurz ausdrücke, sieht es doch so aus: Für einen Teil der zu jenem Zeitpunkt laufenden Maßnahmen hat der Bund noch mitfinanziert. Für einen Teil hat er nicht mehr mitfinanziert, mußten die Länder also auch den Bundesanteil vorfinanzieren. Sie haben dafür eine fragwürdige Refinanzierungsgarantie bekommen; denn auf diesem Scheck steht ein Name, der nicht mehr allzu hoch im Kurs stand, nämlich Helmut Schmidt und seine rasch wechselnden Finanzminister.Bei Neubaumaßnahmen war es so, daß die Länder von vornherein auch den Bundesanteil mitfinanzieren mußten und keine Refinanzierungszusage mehr bekommen haben, also im ungewissen waren, ob die von ihnen erbrachten Vorleistungen überhaupt jemals durch den Bund — gleichgültig, wann — refinanziert werden. Zinsen hätte es sowieso nicht gegeben, und der Wertverlust des Geldes wäre dabei auch nicht berücksichtigt worden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, so läßt sich Hochschulplanung nicht durchführen. Das sind langfristige Vorhaben, und sie treffen den kleinen Mann. Sie betreffen z. B. im bayerischen Raum das Großklinikum Regensburg. Hier ist es notwendig, eine medizinische Einrichtung der dritten Versorgungsstufe für große Teile Niederbayerns und der Oberpfalz zu schaffen, damit unser landesplanerisches Ziel in völliger Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, daß nämlich eine solche Versorgung der dritten Stufe mit maximal 100 km Entfernung für jeden Bürger vorhanden ist, auch tatsächlich erreicht werden kann. Das ist echte Landespolitik. Das ist Politik im Interesse der Bürger des Landes, im Interesse ihrer sogenannten Lebensqualität.
Außerdem darf ich darauf hinweisen, daß sich gegen diese Planungen und Verhaltensweisen des Bundes nicht nur die Chefs der unionsregierten Länder mit Nachdruck gewehrt haben, sondern auch die sozialdemokratischen Regierungschefs haben diese Verfahren als schlechterdings unmöglich bezeichnet. Ich will wegen der Kürze der Zeit nicht die einzelnen Zitate, die dafür sprechen, die einzelnen Konferenzen und ihre Ergebnisse, die einzelnen Aussprachen darlegen.Eine Bemerkung kann ich Ihnen nicht ersparen. Ich darf hier Bayern erwähnen. Bayern hat nie zu denen gehört, die der Meinung waren, daß der Mensch beim Abiturienten beginnt und der Akademiker die höhere Stufe der Menschheit erreicht hat.
Bayern hat nie zu denen gehört, die für jeden zweiten Schüler ein Abitur als Idealziel vorgeschlagen haben und für jeden zweiten Abiturienten ein akademisches Diplom. Für uns hatte der Schlosser den gleichen Stellenwert wie ein Akademiker, wie der Kollege Waigel gesagt hat.
— Ich verstehe Sie leider nicht.Ich weiß noch sehr gut, wie Kollege Brandt als Bundeskanzler mir einmal zugerufen hat: In der Zeit, in der Sie an der Regierung waren, konnte ein Arbeitersohn nur Schlosser werden!Ich wollte, wir hätten heute wieder mehr Schlosser und auf gewissen Gebieten weniger Akademiker. Dann wäre es wahrscheinlich besser in unserem Land, denn dann wären Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung.
Aber welchen Sinn hatte das? Sozialdemokraten sind doch sonst so sehr für Planung, Programmierung und langfristige Prognosen. Ich sehe keine Ratio, keine Vernunft in einer Politik, die die Zahl der Abiturienten von Jahr zu Jahr erhöht. Das war auch in Bayern so, aber wir sind hier Gott sei Dank das
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Schlußlicht; lieber besser und weniger als mehr und nivelliert.Welchen Sinn hat es denn, die Zahl der Abiturienten und der Studienanfänger von Jahr zu Jahr durch falsch verstandene Vorstellungen von Bildungsreform und ihren Zielen kräftig zu erhöhen, aber in dem Moment, da die geburtenstärkeren Jahrgänge auf die Universitäten kommen, den Hochschulbau so zusammenzuschlagen, wie ich es vorher geschildert habe?
Man möchte doch meinen, daß es noch eine gewisse Verwandtschaft zwischen Politik und Vernunft geben müßte. Aber hier kann ich keine Verwandtschaft geschweige denn eine Identität erkennen.Die Diskriminierung der Akademiker, von der heute oder gestern ein sozialdemokratischer Redner gesprochen hat, hat Ihre Politik hervorgerufen. Wir stehen jetzt in den Ländern vor den furchtbaren Problemen einer neuen Studentenschwemme. Da ist es auch wenig hilfreich, wenn uns der Kollege Schmidt — er ist nicht da — erklärt, er habe in einer Zeit studiert, in der man auf der Treppe saß und das Lehrbuch auf den Knien hatte. Das sagen Sie einmal den heutigen Studenten, die nicht zuletzt durch Ihre euphorischen Versprechungen in eine Erwartungshaltung versetzt worden sind, die ohnehin nicht befriedigt werden kann!
Ich darf mich nun an Ihre Adresse wenden, Herr Bundeskanzler. Ich begrüße es — und ich glaube, das werden alle Ministerpräsidenten tun —, daß die Koalitionsvereinbarung vom 28. September 1982 ein deutliches Zeichen setzt, daß der Bund auch im Bereich des Hochschulbaus seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen wird. Dadurch wird das gespannte Verhältnis zwischen Bund und Ländern wieder in ein normales Verhältnis umgewandelt werden.Wir wissen, daß die neue Bundesregierung keine Wunder wirken kann. Wir können auch nicht verlangen, daß alle früheren Planungsansätze über Nacht wiederhergestellt werden können. Wenn aber der Herr Bundesfinanzminister erklärt — wie auch bei den Koalitionsverhandlungen —: 500 Millionen DM auf einmal mehr für die Bedienung der Gemeinschaftsaufgaben, dann sehe ich darin einen richtigen Schritt in die richtige Richtung, dem dann weitere Schritte folgen müssen. Denn diese Gemeinschaftsaufgaben — über die Krankenhausfinanzierung könnte ich ein langes, aber kein freudiges Lied singen — dienen doch unmittelbar dem Bürger in unserem Lande, auf den man sich immer beruft.Von dieser Stelle aus hat damals eine sozialdemokratische Gesundheitsministerin erklärt, daß der Bund ein Drittel aller Leistungen nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz beitragen werde. Was ist herausgekommen? Ich darf einmal nur die Zahlen für Bayern nehmen. Unter Einschluß der Sonderprogramme sind es noch ganze 8 %. Wenn wir dieSonderprogramme herausnehmen, sind es noch ganze 5 %.
Hätten wir ohne Sonderprogramme, über die ich hier wegen ihrer Kompliziertheit nicht reden will, zu den etwa 500 Millionen DM bayerischer Landesmittel, 25% aller Mittel, die die Länder insgesamt in diesem Jahr für Krankenhausbau aufwenden, noch ein Drittel des Bundes gehabt, also 250 Millionen DM, dann hätten wir unsere Planungen und unsere Verpflichtungen gegenüber den Kommunen und anderen Trägern pünktlich und im Interesse der Bürger sorgsam erfüllen können. Hier ist der Bürger benachteiligt worden, weil Sie es versäumt haben, den Bundeshaushalt rechtzeitig auf seiner Investivseite so zu gestalten, daß der Bund seinen Aufgaben gegenüber den Ländern auf investivem Gebiete nachkommen kann.
Das ist mein Vorwurf — und nicht nur der meine —, den ich an Ihre Adresse richten muß. Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, sehr, diesem Problembereich, den ich hier kurz dargestellt habe, Ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Diese Bitte geht auch an den Herrn Bundesfinanzminister, der wegen der Einführung seines Amtsnachfolgers heute an dieser Debatte nicht teilnehmen kann.Die Konsumquote des Haushalts muß zurückgeführt und die Investitionsquote des Haushalts — ich meine den Bundeshaushalt — muß erhöht werden. ' Es war auch für mich nicht leicht, bei einem bayerischen Staatshaushalt mit einem Volumen von 35 Milliarden DM im Jahre 1982 7,7 Milliarden DM — das sind 22 % — unmittelbar in Investitionen, d. h. in Aufträge an die Wirtschaft, einfließen zu lassen, und das bei einer relativ geringen Neuverschuldung.
Auf allen Gebieten, die ich hier erwähnt habe, geht es ja nicht um irgendwelche unreifen Projekte. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat den Gesamtbedarf bei der Krankenhausfinanzierung nach heutigen Maßstäben mit 15 Milliarden DM errechnet. Wir könnten sämtliche Projekte für Bayern — dabei handelt es sich um mindestens 3 bis 4 Milliarden DM — sofort aus der Schublade nehmen und in Aufträge umwandeln. Es wäre keine einzige Fehlplanung dabei, kein einziges risikobehaftetes Projekt. Es würde nur das, was die jeweiligen Gremien nach Beratung durch Fachleute als notwendig bezeichnet haben, endlich in Angriff genommen. Hier würde in die Bauwirtschaft, in das Bauausstattungsgewerbe ein Strom von Aufträgen in Milliardenhöhe gehen. Dann würde sich das, wenn es einmal in Gang ist und eine gewisse Eigengesetzlichkeit der motorischen Dynamik und der wirtschaftlichen Eigenkraft eingesetzt hat, sehr wohl und sehr bald auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen.Erlauben Sie mir ein letztes Wort, meine sehr verehrten Damen und Herren — ein grundsätzliches Wort zur Sicherung und Weiterentwicklung der
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7334 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Ministerpräsident Dr. h. c. Strauß bundesstaatlichen Ordnung im Sinne eines modernen Föderalismus. Die Bundesrepublik Deutschland ist bewußt nicht als Einheitsstaat, sondern als Staatenbund geschaffen worden, als Bundesstaat, dessen Gliedstaaten zusammen den Gesamtstaat ausmachen. Die staatliche Zuständigkeit liegt nach Text und Sinn des Grundgesetzes bei den Ländern, soweit sie nicht durch Verfassung dem Gesamtstaat zugeordnet ist. Jeder freiheitliche deutsche Rechtsstaat, jeder moderne Rechtsstaat hier auf deutschem Boden muß aus vier Grundsätzen bestehen, nämlich: demokratischer Rechtsstaat, parlamentarische Demokratie, föderative Ordnung und Soziale Marktwirtschaft.Ich weiß, manche in diesem Hause werden dem vierten Grundsatz nicht zustimmen. Erlauben Sie mir aber auch hier ein persönliches Bekenntnis abzulegen. Wenn es um Menschenrechte und Menschenwürde geht, dann sollte man ein Recht des Menschen, nämlich auf freie wirtschaftliche Entfaltung im Rahmen der Respektierung und Achtung der Rechte anderer, nicht aus dem Katalog fernehalten oder aus dem Katalog streichen.
— Wenn Sie dem zustimmen, dann war diese Mahnung überflüssig. Also: Soziale Marktwirtschaft als viertes Strukturelement eines freiheitlichen Rechtsstaates.Das entspricht der deutschen Staatstradition, das entspricht unserer geschichtlichen Entwicklung. Sie ist auch durch ihre vertikale Gewaltenteilung, wenn richtig angelegt, vernünftig gestaltet, überschaubar angewandt als modernes staatliches Gliederungsprinzip.In vielen Ländern Europas ist in den letzten Jahrzehnten ein immer stärkerer Regionalismus als Gegengewicht gegen den Zentralismus entstanden. Die Dezentralisierung der Staatsgewalt erscheint in Italien, Spanien, selbst in Frankreich in wachsendem Maße als sinnvolles Mittel zur Überwindung innerer Probleme, die von der Zentralregierung allein nicht mehr überblickt und bürgernah gelöst werden können. Das dient der Vermeidung von Gleichmacherei und Vermeidung der Verödung. Das dient einer vielfältigen Entwicklung auf politischem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet. Dieser Regionalismus ist aber nur ein Notbehelf gegenüber der wesentlich besseren Lösung des verfassungsmäßig begründeten Prinzips der föderativen Ordnung, wie sie die Väter des Grundgesetzes seinerzeit verwirklicht haben.Wir sehen im Föderalismus das unersetzliche Bauprinzip eines freiheitlichen deutschen Rechtsstaates, aber auch einer in Freiheit sich einigenden europäischen Gemeinschaft. Föderalismus heißt dabei nicht Selbstbeschränkung oder Abkapselung, sondern Handeln in eigener Verantwortung. Föderalismus hat nichts mit Separatismus und nichts mit Partikularismus zu tun. Föderalismus heißt aber auch — ich darf hier erinnern an die Verfassungsklage, die seinerzeit der Freistaat Bayern in Karlsruhe gegen den Grundlagenvertrag angestrengt hat — die Wahrnehmung einer Aufgabe, die zu ganz klaren verfassungsrechtlich kodifizierten Grundsätzen geführt hat, nämlich, daß das Deutsche Reich als Rechtsinstitution bis zu einer friedensvertraglichen, frei vereinbarten Lösung fortgesetzt wird,
daß es keine zwei deutschen Staatsbürgerschaften gibt, daß die Rechtsqualität der Grenze — das klingt paradox — zwischen Bayern und Baden-Württemberg ähnlich ist wie die Rechtsqualität der Grenze zwischen Bayern und Sachsen. Hier handelt es sich um Rechtspositionen und nicht um die reale Lage. Aber Rechtspositionen sind dann, wenn historisch die Dinge in Bewegung geraten, mächtige Instrumente verfassungsmäßiger Gestaltung oder geschichtlicher Neuordnung mit friedlichen Mitteln. Ich möchte mich auf diese Bemerkung beschränken.
Die geschichtliche Erfahrung und die politische Wirklichkeit zeigen eindrucksvoll, daß die Existenz einer Mehrzahl von eigenständigen und eigenverantwortlichen Trägern politischer Entscheidungen, von Gliedstaaten, die kraft eigenständigen Rechtes selbstgestaltend handeln, die größere politische Gemeinschaft nicht nur stärkt, sondern sich auch in Krisenzeiten stabilisierend auswirkt. Föderative Praxis erlaubt und fordert Kreativität und Phantasie im Gegensatz zu Zentralismus und Uniformität. Der Mut zur Vielfalt und der Mut zum Fortschritt in der Vielfalt dürfen daher nicht einem offenbar noch immer tief verwurzelten Hang zur nivellierenden Einheitsregelung und zur perfektionistischen Bundesregelung Platz machen. Auch die Forderung nach Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse kann bei funktionierendem Föderalismus leichter und wirksamer als bei obrigkeitsstaatlichen zentralistischen Regelungen erfüllt werden.Entscheidungen auf der europäischen Ebene bestimmen mittlerweile auch Teile der Landespolitik. Das gilt für die Landwirtschaft, für die regionale Strukturpolitik, aber auch für ureigene Landeszuständigkeiten im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik. All das kommt zunehmend mehr in europäische politische Überlegungen hinein. Gerade deshalb meine Bitte an die neue Bundesregierung, die Interessen der Länder durch eine geeignete Kooperation und Koordinierung, auch durch gewisse gemeinschaftliche Konsultativorgane, hier gebührend zu berücksichtigen. Viel an Mißtrauen und viel an Zündstoff, Herr Bundeskanzler, würde dadurch von vornherein aus der Welt geschafft werden. Föderalismus gab es nicht in der nationalsozialistischen Diktatur; denn sie hat die Eigenstaatlichkeit der Länder bewußt aufgehoben. Föderalismus gibt es auch in einem kommunistischen Staatensystem höchstens als ein Organisationsprinzip, aber nicht als ein Staatsprinzip.Die moderne Organisationsforschung hat den Vorteil des Vorhandenseins mehrerer eigenständiger dezentraler Entscheidungsträger für die Leistungsfähigkeit des Ganzen erkannt. Das gilt so-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7335
Ministerpräsident Dr. h. c. Strauß
wohl für die großen Unternehmungen wie auch für die richtige Gliederung und Funktionsfähigkeit der Staaten.In diesem Sinn wünsche ich, daß die neue Bundesregierung bis zu den Bundestagswahlen gemäß den Ausführungen des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung eine Tendenzwende und die ersten sichtbaren Ergebnisse in der Sanierung der Wirtschaft, in der Konsolidierung der Finanzen, in der Stabilisierung des Systems der sozialen Sicherheit erreichen kann.Zu diesen Ergebnissen gehören nicht nur materielle Erfolge. Dazu gehören auch psychologische Vertrauensakte, zu denen Sie gestern mit Ihrer Regierungserklärung eine gute Grundlage geliefert haben.
Ein gutes Verhältnis zwischen Bund und Ländern, zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen auf der Grundlage eines durchschaubaren Zahlenmaterials, gläserner Taschen, der ehrlichen gegenseitigen Anerkennung von Pflichten und Rechten wird für den Erfolg auf diesem Weg eine echte Unterstützung sein. So sollten auch die Neuverteilung der Steuererträge aus den Gemeinschaftsteuern und die neue Regelung des horizontalen und des vertikalen Finanzausgleichs erfolgen, damit die steuerschwachen Länder in der Lage sind, in eigener Zuständigkeit die ihnen zustehenden Aufgaben zu erfüllen und auch am Abbau der Mischfinanzierung teilzunehmen.Hier gilt es alte Fehler zu beseitigen, langjährige Mißverständnisse zu überwinden, neu zu beginnen. Auch hier können wir so wenig wie bei der Sanierung der Staatsfinanzen, bei der Ankurbelung der Wirtschaft, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von heute auf morgen Wunder erwarten. Nach der Wundererwartung kommt die Ungeduld; nach der Ungeduld kommt der Mißmut; nach dem Mißmut kommt die Empörung —
und damit das Saatfeld für die Demagogen, die Unzufriedenheit und Zwietracht säen,
obwohl die Folgen dieser Politik eigentlich von Ihnen zu verantworten sind.
Ich bin zuversichtlich: Auf der Grundlage eines neuen Vertrauens können wir — Bund und Länder — zusammenarbeiten, die Krise überwinden, die Zukunft gestalten — zum Wohle unseres Volkes und unseres deutschen Vaterlandes.Dazu wünsche ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, und der gesamten Bundesregierung im Namen des Freistaates Bayern auf jeden Fall und, wie ich hoffe, auch im Namen vieler oder aller anderen Bundesländer aus ehrlichem Herzen Gottes Segen, viel Glück und Erfolg.
Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Stiegler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff hat es nach einer etwas mißlungenen Wahlversammlung in Weiden heute morgen für richtig befunden, hier zu behaupten, sozialdemokratische Mandatsträger, darunter auch ich, hätten Brüll- und Pfeiftrupps gegen ihn organisiert und angeführt.
Ich stelle hier in aller Deutlichkeit fest: Wir haben weder Brülltrupps organisiert noch sie angeführt. Der Justizminister mag dem Grafen Lambsdorff erklären, daß das, was dieser jetzt behauptet, üble Nachrede und, wenn er es wiederholt, Verleumdung ist.
Gerade Sie müssen sich hier aufspielen!
Wer hat denn die FDP — —
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort zu einer Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung erhalten.
Ich bitte Sie, sich daran zu halten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe dies hier klargestellt, um die Tatsachen — —
— Jawohl! Weil ich dabei war, kann ich dem Parlament sagen, was vorging. Da kann sich der Graf Lambsdorff nicht hinstellen und sagen, Bundeskanzler Helmut Schmidt ist ein Lügner, und dabei erwarten, daß ihm nicht widersprochen wird.
Und da kann er sich nicht hinstellen und sagen, die Weidener Bürger, die dabei waren, seien welche von denen, von denen es in diesem Lande zu viele gebe, die ihren Unterhalt nicht verdienen könnten; das seien asoziale Typen. Da braucht sich der Mann, der Weiden vorher nie gesehen hat,
nicht zu wundern,
wenn andere ihm die gebührende Antwort geben. Wer austeilt, muß einstecken, und die Vorrechte des Adels sind in Bayern nach der Verfassung abgeschafft!
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7336 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich zitiere aus „Der Neue Tag", aus der in Weiden erscheinenden Zeitung, Ausgabe Stadt Weiden, vom 9. Oktober 1982.
Unter-Überschrift: „Lambsdorff rechnete in Weiden mit Sozialdemokraten ab — Störaktion durch Krawallmacher". Im Text heißt es wie folgt:
Die Kundgebung der Liberalen begann mit 15minütiger Verspätung, da Minister Lambsdorff erst um 12.30 Uhr in Grafenwöhr gelandet war.
Ich füge der Ordnung halber hinzu: mit einer Privatmaschine.
Um so pünktlicher waren dagegen die Weidner Sozialdemokraten und Jusos,
an der Spitze die Abgeordneten Ludwig Stiegler,
Willibald Moser, Otto Benner sowie zahlreiche Stadt- und Kreisräte mit Transparenten auf den Rathausvorplatz gekommen, um ihren Unmut über den „Umfaller" FDP zum Ausdruck zu bringen.
Mit Plakaten, auf denen Genscher als „Judas" angeprangert ... wurde,
verurteilten sie die Richtung der liberalen Politik.
Nach der Zwischenüberschrift „Den Minister niedergebrüllt" heißt es weiter:
Mit einem gellenden Pfeifkonzert und lautstarken Buhrufen wurde dann Lambsdorff ... empfangen, und Landtagskandidat Hans Fröhler konnte sich bei seiner Begrüßung nicht viel Gehör verschaffen. Kaum verständlich machen konnte sich aber danach auch der Bonner Gast, da seine Rede von einem ständigen Gebrüll begleitet wurde.
Erst als dann die Phonzahlen der Lautsprecher wesentlich erhöht wurden, war der Minister einigermaßen zu verstehen und fand dann auch überwiegend Beifall.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Sie, Herr Kollege Stiegler, haben nicht nur mit Ihren Freunden in Weiden und mit anderen Parlamentskollegen alles unternommen, um den Vertreter einer demokratischen Partei am Reden zu hindern,
sondern haben auch diesem Hause die Unwahrheit
gesagt!
Ich unterbreche vereinbarungsgemäß die Debatte.
Die Sitzung wird um 14.30 Uhr fortgesetzt.
Meine Damen und Herren, wir fahren in den Beratungen fort.
Das Wort in der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung hat der Herr Abgeordnete Brandt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal einige Bemerkungen vorweg: Erstens. Es war hier in dieser Debatte an einigen Stellen und natürlich auch draußen in der Öffentlichkeit immer einmal wieder von „Verrat" und ähnlichen Begriffen die Rede. Das hat zu begreiflichen Auseinandersetzungen auch hier geführt. Wie immer das von dem einzelnen im einzelnen auch beurteilt werden mag, an einer Tatsache — deshalb, weil ja auch die Rede davon war, daß Tassen richtig gestellt werden müßten, will ich das hier auch einmal versuchen — kommt man nicht vorbei: Die Freie Demokratische Partei hat 1980 einen Wahlkampf für und mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt geführt.
Sie hat eine Garantie für den Erhalt der sozialliberalen Koalition abgegeben.
Wir stellen fest, daß diese öffentlich plakatierte und auch öffentlich gegebene Zusage nicht eingehalten worden ist.
Daraus mag jeder seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen.
Im übrigen ist das nicht eine Frage, die unter dem Gesichtspunkt Verrat — oder wie auch immer das genannt wird — gegenüber der SPD abgehandelt werden kann, sondern das ist eine Frage, die die Freie Demokratische Partei mit ihren Wählern von damals ausmachen muß, nicht aber mit uns.
Das zweite, was hier gesagt werden muß — offensichtlich etwas spät bemerkt, aber dann doch gerade noch richtig herhalten müssend —, betrifft dann den Münchener Beschluß, den Parteitagsbeschluß der Sozialdemokratischen Partei zur
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7337
Brandt
Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik — das vor allem.
— Natürlich gab's diesen Beschluß; den gibt's auch noch, Herr Kollege Würzbach.
Da mag man sich über bestimmte Aussagen dieses Beschlusses streiten. Wir verlangen ja nicht, daß Sie das übernehmen. Wir verlangen ja nicht, daß das irgend jemand anderes übernimmt. Aber das ist unsere Meinung gewesen, die wir formuliert haben. Die Sozialdemokratische Partei läßt sich von niemandem das Recht bestreiten, zu beschließen, was sie für richtig hält. Daran mögen sich dann andere reiben.
Das haben wir in der Vergangenheit getan, das werden wir auch in der Zukunft so tun.Dann hat der Herr Bundeskanzler — das ist die dritte Bemerkung — in seiner Regierungserklärung gestern sehr deutlich gesagt: Wir werden am 6. März wählen. Ich bin für diese genaue Aussage in der Regierungserklärung sehr dankbar.
— Es ist eine Aussage in der Regierungserklärung gewesen. Es hat nur etwas Wichtiges zu dieser Aussage gefehlt, nämlich auch darüber zu sprechen, wie man das herstellen will, daß am 6. März wirklich gewählt werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, über eines sollten wir hier nun wirklich nicht streiten: Dieses Versprechen, Herr Dr. Kohl, ist unter voller Kenntnis der bestehenden Verfassungslage und, so nehme ich auch an, unter Berücksichtigung dieser Verfassungslage abgegeben worden.
Deshalb erwarten wir nun auch von Ihnen nicht nur das Datum, sondern auch so schnell wie möglich den Hinweis darauf, wie das jetzt hergestellt werden soll, damit am 6. März wirklich gewählt werden kann.
Nun, meine Damen und Herren, will ich hier einmal einen Satz aus der Regierungserklärung herausnehmen, Herr Dr. Kohl, über den nachzudenken ich seit gestern mehrfach versucht habe, um zu ergründen, was er heißt. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dazu sehr bald eine etwas weitere Erläuterung geben wollten. Ich will deshalb auch überhaupt nichts unterstellen, was sonst in diesem Satz drinstehen könnte. Da steht u. a. eben dieser Satz:Wir werden den Staat auf seine ursprünglichen Aufgaben zurückführen.
Darf ich einmal sagen, daß dieser Satz zumindest sehr mißverständlich ist.
Ich muß mir dann auch die Frage beantworten: Was heißt denn „ursprüngliche Aufgaben des Staates"? Ist das allein die Ordnungsfunktion des Staates, der früher einmal polemisch Nachtwächterstaat genannt worden ist, oder ist hier auch der moderne Sozialstaat mit seiner Sozialstaatsforderung beinhaltet?
Was heißt hier: ursprüngliche Aufgaben? Wie weit geht das zurück? Ich will hier nur die Frage stellen. Ich will hier gar nichts unterstellen; aber dieser Satz ist erklärungsbedürftig.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja auch unter dem Gesichtspunkt, Herr Dr. Kohl, daß diese Regierungserklärung für einen knappen Zeitraum abgegeben worden ist, unter dem Gesichtspunkt der anvisierten Neuwahlen verständlich, daß man sich zunächst einmal auf einige Fragen konzentriert. Es ist aber unverständlich, daß einige ganz wichtige Fragen des Regierungshandelns in der Regierungsverantwortung in dieser Regierungserklärung nahezu überhaupt nicht angesprochen sind. Im besonderen der breite und wichtige Bereich der Innenpolitik verschwindet in dieser Regierungserklärung nahezu völlig hinter einer Mauer des Schweigens. Man weiß nicht, was da denn nun geschehen soll.
Auch unter dem Gesichtspunkt, daß hier eine Regierungserklärung für kurze Zeit abgegeben worden ist, dürfte die Innenpolitik nicht so als Nullum behandelt werden, wie das in dieser Regierungserklärung geschehen ist.
Wir wissen alle miteinander sehr genau, daß der freiheitliche und demokratische Charakter unseres Gemeinwesens auch und gerade durch die Qualität der Innenpolitik bestimmt wird. Daher muß man wissen, was hier geschehen soll. Wir haben das als Sozialdemokraten in der Vergangenheit ja oft am eigenen Leib zu erfahren gehabt. Die Frage ist für mich, da soviel von Wende die Rede ist: Soll es auch in der Innenpolitik nun eine Wende geben? Und wenn es eine Wende geben soll, wohin soll dann gewendet werden?
Aber zunächst einmal liegt mir, meine sehr verehrten Damen und Herren, einfach daran, mich zu bedanken. Gerade im Bereich der Innenpolitik gab es in der sozialliberalen Koalition über all die Jahre bis zuletzt mit den Kollegen von der FDP eine gute, ungetrübte, von gegenseitigem Vertrau-
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Brandt
en, von der Achtung getragene und — wie ich meine — auch erfolgreiche Zusammenarbeit.
Dies zu erwähnen, meine ich, gebietet die Gerechtigkeit. Ich glaube, es auch unseren gemeinsamen Zielen und Leistungen schuldig zu sein, diese meine Achtung gegenüber unseren Partnern zu formulieren, ihr deutlich Ausdruck zu verleihen. Ich darf hinzufügen: Daran wird sich zwischen uns auch durch die neue Konstellation nichts ändern.
Ich finde es deshalb nicht ganz fair, Herr Kollege Mischnick, wenn Sie dieser Tage — sicherlich in der Wahlauseinandersetzung — gesagt haben: Die FDP wird bestrebt sein, die in den 13 Jahren sozialliberaler Koalition verschiedentlich auch gegen den Widerstand der SPD durchgesetzten Erfolge zu bewahren. Dies bewahren zu wollen, ist eine löbliche Absicht. Wir hatten sicherlich in einer Reihe von Fällen unterschiedliche Auffassungen — wer wollte dies bestreiten? —, aber es hat nie jemand gegen den anderen etwas durchsetzen müssen. Und deshalb sage ich: Ich habe keinen Stein dieser Zusammenarbeit hinterherzuwerfen und werde auch keinen aufheben.
Die Gegner unserer gemeinsamen Innenpolitik finden Sie doch nicht auf dieser Seite dieses Hauses, sondern die Gegner unserer gemeinsamen Innenpolitik sitzen jetzt auf der Regierungsbank.
Wir haben auch mit Sorge registriert, daß derjenige, der die sozialliberale Innenpolitik von seinem Amt her repräsentiert hat, nämlich Herr Baum, kein Gesprächspartner bei der Bildung einer neuen, konservativen Koalition sein durfte. Er war einfach nicht akzeptiert worden. Und es ist schlimm genug, daß sich die FDP darauf eingelassen hat.
Wir als Sozialdemokraten hätten nicht die Unanständigkeit aufgebracht, so etwas einem anderen zuzumuten;
wir wären allerdings auch zu stolz gewesen, es uns zumuten zu lassen.
Mit uns wäre dies weder so noch so möglich gewesen.Aber, meine Damen und Herren, dementsprechend dürftig ist eben auch das, was in der Regierungserklärung über die Innenpolitik drinsteht. Da ist kein Wort zu dem weiteren Ausbau, zu der Entwicklung des liberalen Rechtsstaates, kein Wort zu den Problemen des Datenschutzes. Umweltschutz kommt nur in einigen ganz allgemeinen, ebenso richtigen wie nichtssagenden Formulierungen in dieser Erklärung vor. Ich finde es bedrückend, daß ich vermuten muß, daß der politische Stellenwertder Innenpolitik von den gegenwärtigen Koalitionspartnern, zumindest von der einen Seite, so gering eingestuft wird, daß er als wohlfeile Tauschware für andere begehrte Objekte dienen könnte.
Da in der Regierungserklärung über die Innenpolitik nahezu nichts steht, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit werden die Kollegen der FDP sicherlich für sich in Anspruch nehmen, nämlich zu sagen: Dann bleibt vorerst alles beim alten — weil nichts darinsteht. Die andere Möglichkeit ist — weil in dieser Regierungserklärung nichts Vereinbartes drinsteht —, daß das Programm in der Innenpolitik — und das befürchten wir — „Zimmermann und Spranger" heißt. Und da, meine Damen und Herren, haben wir erhebliche Bedenken.
Wie rücksichtslos, nebenbei bemerkt, der Innenminister vorgehen kann und will, hat er j a bei seinen ersten Personalentscheidungen bewiesen.
— Sicherlich. Aber, wissen Sie, Herr Kollege, in unserer Gegend zumindest — vielleicht auch anderswo — gibt es das Sprichwort: Die Axt im Haus ersetzt den Zimmermann. — Ich habe den Eindruck, daß Herr Bundeskanzler Dr. Kohl davon ausgegangen ist, daß man diese Redensart auch umdrehen kann.
Und so läuft das denn auch.
Wir standen und stehen für die Erhaltung und den Ausbau der inneren Liberalität unseres Staates. Die vielbeschworene Freiheit als eine der Grundlagen unserer Gesellschaft findet gerade hier ihren wichtigsten Niederschlag, auch und gerade dann, wenn es schwierig wird. Ich muß doch nicht daran erinnern, welchen Versuchungen und Ansinnen wir in der Vergangenheit ausgesetzt waren — egal, ob es im Zusammenhang mit den terroristischen Anschlägen war, ob es im Zusammenhang mit Demonstrationen war — durch Gesetzesvorschläge, durch Maßnahmenkataloge, die nicht nur an irgendeine Stelle dieses oder jenes Gesetz geändert, sondern den Charakter des liberalen Rechtsstaates verändert hätten.
Und wir haben dem gemeinsam widerstanden, gleichzeitig das Notwendige getan.
Damals wie heute war bzw. ist sehr viel von geistiger Auseinandersetzung, auch von geistiger Führung, die Rede. Nun, ich habe die Regierungserklärung sehr aufmerksam verfolgt. Und das war's dann wohl auch.Wir setzen auf geistige Standfestigkeit, halten an den Prinzipien des liberalen Rechtsstaats fest und verteidigen ihn auch gegen diejenigen, die ihn her-
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Brandt
ausfordern und auf die hektische und unbesonnene Reaktion des Staats hoffen.
Dem dürfen wir uns nicht hingeben. Das war unsere Haltung in der Vergangenheit, und so wird es auch bleiben.Die Frage ist: Was wird jetzt geschehen? Es gehört sicherlich auch zu den unbestreitbaren Verdiensten der sozialliberalen Koalition, daß wir antiquierte, obrigkeitsstaatliche Vorschriften geändert haben, z. B. auch in dem jetzt wieder in Rede stehenden Demonstrationsstrafrecht. Sie haben doch von der CDU/CSU von Mal zu Mal die Veränderung der strafrechtlichen Voraussetzungen hier herausgefordert. Vier- oder fünfmal haben wir das gemeinsam verändert. Wir haben hier all diejenigen in Schutz genommen, die von ihrem Recht zu demonstrieren Gebrauch gemacht haben.Ich erinnere an die Debatte, die wir am 9. Oktober des vergangenen Jahres im Bundestag vor einer großen Demonstration geführt haben, wo Ihnen nichts eingefallen ist, als zu sagen, das sei Volksfront, das sei wieder die Vereinigung der Roten mit den Grünen und derjenigen, die unter dem Deckmantel der Friedenssehnsucht ihr Süppchen kochen wollten, ohne zu bemerken, daß hier einer großen Sehnsucht sichtbar Ausdruck verliehen werden sollte.
In all diesen Zusammenhängen haben Sie immer wieder das Demonstrationsrecht herausgefordert. Wir sagen Ihnen: Wir werden auch in Zukunft keine Hand dazu reichen — bei aller Verurteilung von Gewalttätigkeiten —, daß es hier Veränderungen gibt.
Wir teilen die Auffassung, die Sie, Herr Mischnick, kürzlich noch ausgesprochen haben, als Sie sagten: „Ich denke da am allerwenigsten an eine Verschärfung des Demonstrationsrechts, wie es der CDU/CSU vorschwebt, weil damit die bestehenden Konflikte nicht ausgeräumt, sondern eher auf die Spitze getrieben werden würden."
— Das war am 24. März. Ich teile Ihre Auffassung und bestätige sie nachdrücklich; das ist auch immer unsere Auffassung gewesen und ist sie nach wie vor.Meine Damen und Herren, wir haben natürlich gerade als Sozialdemokraten auch unsere besonderen Erfahrungen mit dem Kommunismus. Die muß uns niemand lehren. Wir haben aber nie so recht einsehen mögen, daß der Lokomotivführer, der beispielsweise Mitglied der DKP ist, seine Lokomotive nicht mehr führen darf. Wir haben nie so recht einsehen können, daß der Briefträger, der Mitglied der DKP ist, keine Briefe mehr austragen darf. Wir haben deshalb gemeinsam noch einen Gesetzentwurf eingebracht, der uns eine vernünftige Differenzierung in der Behandlung dieses Problems ermöglicht hätte. Nur war eine Ihrer ersten Äußerungen, daß dieser Gesetzentwurf nicht mehr weiter verfolgt werden dürfe. Wir werden Sie nicht daraus entlassen, ihn weiter verfolgen zu müssen, weil wir ihn Ihnen wieder auf den Tisch bringen werden.
Damit wird man sich auseinandersetzen müssen.Nun, meine Damen und Herren, wir haben auch versucht, miteinander bestimmte Praktiken, die eingerissen sind, die man am Anfang vielleicht auch nicht so richtig eingeschätzt hat, wieder in Ordnung zu bringen. Ich meine z. B. Praktiken beim Verfassungsschutz oder bei dem Problem der Amtshilfe. All dies hat von Anfang an unter dem stärksten Beschuß der CDU/CSU gestanden, die ja immer davon ausgegangen ist — ich habe diese Aussage nie vergessen —, der Staat dürfe sich nicht selber dumm machen. Im Klartext heißt das: Die Informationen müssen quer durch die staatlichen Einrichtungen voll ausgetauscht werden dürfen.Meine Damen und Herren, auch über die modernen Techniken ist eine Gefährdung der Freiheit möglich, die nicht sichtbar ist.
Über die modernen Techniken ist es auch möglich, daß die gewollte Trennung zwischen Verfassungsschutz und Polizei überbrückt werden kann und der Weg in die Geheimpolizei wieder beschritten werden kann.
Diese Gefahren muß man sehen und darf nicht einfach sagen: Wir dürfen uns nicht einfach dumm machen. Es muß unser Ziel bleiben, hier genau aufzupassen. Ich habe gerade wegen der Bedeutung des Verfassungsschutzes auch etwas dagegen, daß er wieder in die Rolle hineingedrängt werden soll, die er einmal erfüllen mußte, die er in vielen Ländern auch heute noch erfüllt, nämlich die Rolle der obersten Einstellungsbehörde. Das kann so nicht sein: über Regelanfrage und was es da alles noch gegeben hat.
Vertrauen in den Staat heißt auch Vertrauen in seine Institutionen und seine Repräsentanten. Ich möchte, daß wir dabei bleiben, daß der Ausgleich zwischen Staatsgewalt und persönlicher Freiheit immer wieder neu ausgelotet wird, immer wieder neu geortet wird. Sie haben in dieser Gesamtauseinandersetzung auch nie so recht begreifen wollen, daß es dabei nicht um Schwäche oder Härte des Staates, sondern um die Bewahrung oder grundlegende Veränderung des freiheitlichen Charakters unseres Staatswesens geht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in der Innenpolitik auch den wichtigen Bereich des Umweltschutzes. In den wenigen Punkten, in denen die Regierungserklärung auf diesen Gesamtbereich Innenpolitik eingeht, ist das eine — ich sagte es vorhin schon — zwar völlig richtige Aussa-
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Brandt
ge, aber insgesamt auch nichtssagende Aussage. Es geht da nicht, auch in den Koalitionsvereinbarungen nur eine Bemerkung zur TA Luft zu machen und sonst ganz allgemein vom Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie zu reden. Das Thema Umweltschutz hat eine Dimension, die über die sehr wichtige Reinhaltung der Gewässer, über die sehr wichtige Reinhaltung der Luft, über die sehr wichtige Erhaltung unserer Wälder noch hinausgeht. So wichtig dies alles ist, in dem Begriff Umweltschutz sammeln sich auch alle Bedenken darüber in unserer Gesellschaft, ob wir so wie in den vergangenen Jahrzehnten weiterleben können bzw. ob die schlichte Fortschreibung einer zurückliegenden Epoche in die Zukunft möglich ist. Ich glaube, daß wir es hier mit einer Krise der hochindustrialisierten Gesellschaften insgesamt zu tun haben, die sich übrigens auch in hohen Arbeitslosenzahlen niederschlägt. Das alles ist nicht mit den Rezepten der 50er Jahre zu bewältigen.
Umweltschutz hat in diesem Zusammenhang einen Symbolwert für eine geistige Veränderung, die dem undifferenzierten Fortschrittsglauben immer skeptischer, zurückhaltender gegenübersteht. Die Führung, von der auch in der Regierungserklärung so oft die Rede ist, darf deshalb keine Führung zurück in die Vergangenheit sein, so schön sich diese Vergangenheit auch in der Geschichte darstellt.Die Leistungen im Umweltschutz in den 13 Jahren, die wir hier zusammengearbeitet haben, sind beachtlich. Es ist leider ein Bereich geblieben, der nicht die Beachtung bekommen hat, die er eigentlich verdient hätte, von dem nicht begriffen worden ist, daß hier etwas auf dem Gesetzgebungsweg in Gang gesetzt worden ist, das dem Rechnung trägt, was ich versucht habe, hier zu formulieren. Deshalb muß es zu sehr konkreten Abreden kommen, wie es in dieser Frage weitergeht.Ich kann es leider nicht ändern, daß ich mich hier in der mir zur Verfügung gestellten Zeit auch verhältnismäßig allgemein äußern muß. Vielleicht spielt das im Verlauf der Debatte noch eine etwas konzentriertere Rolle. Ich muß hier nämlich noch zwei andere Themen ansprechen.Eines davon, Herr Dr. Kohl, ist in der Regierungserklärung enthalten. Das ist das Problem der Ausländer. Wir teilen die von Ihnen geäußerte Meinung, daß Integration das Hauptziel ist, daß alle Bemühungen darauf konzentriert werden müssen.
— Ich darf ihm doch mal zustimmen, Herr Schwarz.
Wir teilen Ihre Meinung, daß es bei dem Anwerbe-stopp bleiben muß und daß der Zuzug weiterhin wirksam geregelt und bekämpft werden muß. Allerdings mache ich Sie darauf aufmerksam, daß hier das Problem des Familiennachzugs einer besonders sorgfältigen Behandlung bedarf.
Wir teilen auch Ihre Meinung, daß man Rückkehrwilligen auch helfen soll. Ich bitte Sie nur ernstlich, dieses Instrument nicht zu überschätzen. Das kann ein sehr teures und dennoch außerordentlich wirkungsloses Instrument sein, wie die Erfahrungen uns zeigen.
Aber wir werden jeden Vorschlag sehr aufmerksam prüfen, der uns herübergereicht werden wird. Nur um eines bitte ich — Sie haben das hier nicht getan; es hat hier auch bis jetzt noch keine Rolle gespielt, aber ich habe es in anderen Debatten erlebt, auch in der Diskussion draußen —: Helfen Sie mit, daß wir nicht über eine sehr extensiv geführte Ausländerdebatte, in der dann immer wieder das Stichwort Ausländerfeindlichkeit eine Rolle spielt, tatsächlich zu dem kommen, was schon als gegeben unterstellt wird: zur Ausländerfeindlichkeit, und auch nicht dazu, daß die Deutschen für ihre Schwierigkeiten einmal wieder einen Sündenbock brauchen und ihn jetzt bei den Ausländern suchen. Das darf nicht passieren; dem müssen wir uns gemeinsam entgegenstellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Bitte.
Herr Kollege Brandt, ist Ihnen entgangen, daß die sich da und dort zeigende und vom Bundeskanzler und der neuen Bundesregierung auch intensiv bekämpfte Ausländerfeindlichkeit in unserem Land ihre Ursache nicht in Debatten und Diskussionen hat, sondern in dem vielfältigen Mißbrauch des Asylrechts und in einer in manchen Städten unzumutbar gewordenen Ballung der Zahl von Ausländern, die die Bevölkerung allmählich zu beunruhigen beginnt?
Herr Kollege Jäger, ich habe soeben dem Bundeskanzler ausdrücklich zugestimmt. Den Teil lasse ich jetzt einmal weg. — Sie haben soeben gesagt, das Asylrecht sei dafür verantwortlich — —
— Gut, ich korrigiere: der Mißbrauch des Asylrechts. Herr Jäger, ich will mit Ihnen j a gar keinen Streit über diese Formulierung. — Sie haben gesagt, der Mißbrauch des Asylrechts sei dafür verantwortlich. — Herr Kollege Jäger, ob ein Mißbrauch des Asylrechts vorliegt, wissen Sie erst, wenn Sie geprüft haben, und nicht vorher.
Auch dann wissen Sie es leider oft noch nicht mit hinlänglicher Klarheit; da bleiben auch noch Zweifel übrig.Zweiter Punkt: Ich halte es für einen Fehler, den Sie, die CDU/CSU, in vielen Fällen gemacht haben,
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Brandt
das Ausländerproblem von der Asylfrage her aufzurollen.
Sie hätten dieses Problem — sauber abgetrennt von der allgemeinen Ausländerfrage — mit uns angehen müssen. Daß das draußen verwechselt wird, kann ich niemandem zu Vorwurf machen, aber ich mache Ihnen zum Vorwurf, daß Sie diese Verwechslung durch Ihre Reden auch noch unterstützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei all dem, was jetzt hier noch zu sagen wäre: Ich habe in dieser Regierungserklärung beim Bereich der Innenpolitik nichts — auch nicht wenigstens einen Satz — über die Rolle des Sports gehört. Im übrigen, Herr Dr. Kohl, das ist keine gute Kontinuität; da sind Sie in der Kontinuität mit Ihren Vorgängern Adenauer, Erhard und Kiesinger; bei den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt gab es eine andere Übung. Die ersteren haben auch von Sport weder etwas verstanden — das muß ja nicht der Fall sein — noch in ihrer Regierungserklärung ein Wort dazu gesagt. Es wäre gut gewesen, wenn Sie hier einen Satz dazu gesagt hätten.Es wäre sicherlich auch gut gewesen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn nicht die Medienpolitik abgehandelt würde — —
— Herr Schwarz, ich kann das doch nicht ändern. Die Innenpolitik ist nun einmal wie ein Katalog. Nur, bitte sagen Sie nicht: wie im Kaufhaus. Da bewegt sich demnächst Ihr Kollege, der Minister für innerdeutsche Beziehungen, wie ich heute in Anzeigen gelesen habe. Er wird in einem Kaufhaus auftreten. Aber sagen Sie nicht, daß das ein Kaufhauskatalog sei. Der innere Zusammenhang der innenpolitischen Bereiche ist vorhanden. Wir werden auch versuchen, diesen innenpolitischen Zusammenhang immer wieder herzustellen, auch wenn dieser Zusammenhang nicht gegeben zu sein scheint.Ein letztes Wort noch. Mir wäre es sehr lieb gewesen, wenn die Frage der Medienpolitik auch schon in den zurückliegenden Auseinandersetzungen etwas differenzierter behandelt worden wäre. Ich halte den Weg der Kupferverkabelung nur unter dem Gesichtspunkt des Fernsehens, der jetzt eingeschlagen wird — mehr kann man damit ja auch nicht machen —, für falsch. Das wird ja so gehandelt, als habe der jetzige Postminister Aktien in der Kupferherstellung. Das ist ein verlorenes Unternehmen. Lassen Sie uns deshalb doch erst einmal abwarten, bis uns die andere Technik voll zur Verfügung steht. Mit ihr kann man übrigens auch ein bißchen mehr machen, als nur Fernsehen zu übertragen. Meine Bitte ist, dieses Thema nicht untergehen zu lassen.Eines bleibt am Schluß festzustellen: Die Fragen der Innenpolitik können in dieser Debatte nicht so behandelt werden, wie das in der Regierungserklärung leider geschehen ist. Deshalb bitte ich darum, daß diese Fragen hier auf den Tisch kommen, daß darüber geredet wird, was in der Innenpolitik vor allem in den nächsten Monaten beabsichtigt ist.
Das Wort hat der Herr Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Schnoor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben vor einer Woche im Bundesrat gesagt, Länder und Gemeinden sollten sich zusammen mit der Bundesregierung den notwendigen Anstrengungen unterziehen und ihren Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Sanierung der Staatsfinanzen leisten. Wer von uns, Herr Bundeskanzler, wollte Ihnen dabei nicht zustimmen?Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler, als Mitglied des Bundesrates und als Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen: Wir sind zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit. Aber, Herr Bundeskanzler, wir müssen wissen, welche Politik wir von Ihnen erwarten können. Wir wiederum sind es Ihnen schuldig, Herr Bundeskanzler, Ihnen auch unsere politische Auffassung darzustellen.Ich wollte es mir heute an sich versagen, zentrale Themen der Innenpolitik wie etwa die Arbeitsmarktpolitik anzusprechen. Aber Herr Kollege Gattermann hat vorhin beklagt, es sei kein Wort über die Kohle gefallen.
Herr Bundeskanzler, Sie sprachen in Ihrer Regierungserklärung von dem vorrangigen heimischen Energieträger, der deutschen Steinkohle. Ist das Kohlevorrang-Politik? Für mich wird das nicht deutlich, Herr Bundeskanzler.
Es ist kein Wort darüber gesagt worden, ob etwa die Importkontingente für fremde Kohle eingeschränkt werden können, um die Absatzprobleme der deutschen Steinkohle zu lösen, damit wir nicht mit der Steinkohle in den Sog der Stahlkrise gezogen werden. Kein Wort darüber, Herr Bundeskanzler! Wenn Sie ins Revier kommen — und Sie wollen j a ins Ruhrgebiet kommen —, wird der Bergmann von Ihnen sicherlich eine Antwort fordern, wenn Sie sie hier nicht geben.
Bleibt es, Herr Bundeskanzler, unter dieser Regierung bei 90 Millionen Tonnen Steinkohle bis zum Jahre 1990, oder versteckt sich hinter dem Begriff „Vorrang heimischer Energieträger", daß Sie damit andeuten wollen, natürlich sei die Steinkohle der erste Energieträger unter den Primärenergien — wenn man das 01 ausklammert —, und das auch bei etwa 50 oder 60 Millionen Tonnen Steinkohle?Herr Bundeskanzler, hierzu erwarten wir von Ihnen ein klärendes Wort. Ich hätte die Frage hier
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Minister Dr. Schnoor
nicht angesprochen, aber Herr Kollege Gattermann hat mich dazu herausgefordert.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Urbaniak?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Herr Minister, haben Sie bezüglich der Formulierung in der Regierungserklärung nicht auch das Empfinden, daß eigentlich Abschied genommen wird von der Kohlevorrangpolitik und von den Energieprogrammen der Bundesregierung aus früheren Zeiten, wo das klar und sauber umschrieben war und in den Haushalten zum Ausdruck gebracht wurde?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Urbaniak, ich hätte gern ein klärendes Wort auch des Bundeswirtschaftsministers zu der Frage gehört, ob die Gerüchte stimmen, daß in seinem Haus schon an entsprechenden Plänen gebastelt wird.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Herr Minister Schnoor, darf ich, da Sie darum gebeten haben, Ihnen zwar nicht den Gefallen tun, aber doch die Gewißheit vermitteln, daß mit dieser Formulierung präzise das gemeint und gesagt ist, was der Kollege Urbaniak für notwendig hält, nämlich der Vorrang der deutschen Steinkohle?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie bejahen also meine Frage: Bleibt es bei den 90 Millionen t Steinkohle bis zum Jahre 1990?
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich.
Darf ich fragen, verehrter Herr Minister, wo Sie diese Formulierung gefunden haben? Etwa in der dritten Fortschreibung des Energieprogramms der vorigen Bundesregierung? Haben Sie dort 90 Millionen t bis zum Jahre 1990 gefunden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundeswirtschaftsminister, diese Frage, die Sie jetzt gerade an mich richten, klärt sehr auf: Die Kumpels im Revier werden Ihnen und der neuen Bundesregierung die entsprechende Antwort geben.
Herr Bundeskanzler, ich bitte um ein klärendes Wort zur Innenpolitik im eigentlichen Sinne. Sie haben in Ihrer Erklärung vor dem Bundesrat die Gemeinden angesprochen und diese um ihren Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gebeten. Das haben Sie zu Recht getan, Herr Bundeskanzler, denn unseren Gemeinden kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu. Die Städte und Gemeinden sitzen weder am Kabinettstisch noch im Bundesrat. Das ist von uns auch so gewollt. Deshalb haben wir alle die Pflicht, meine Damen und Herren, die Interessen der Städte und Gemeinden bei der Entscheidung über Finanzzuweisungen, der Erhebung oder Verteilung von Steuern oder der Abwälzung von Lasten zu vertreten.
Wie notwendig, aber auch wie drückend diese Pflicht ist, meine Damen und Herren, das spüre ich täglich. Wenn Herr Ministerpräsident Strauß mich heute morgen angesprochen und geglaubt hat, er könne mich zum Kronzeugen machen, um Kritik an der bisherigen Bundesregierung zu üben, so sollte Herr Ministerpräsident Strauß wissen, daß das Wort von Gustav Heinemann Gültigkeit besitzt, daß drei Finger auf einen selbst zurückweisen, wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt.
Ich will dazu noch folgendes sagen: Ich habe mich im Sommer in der Tat sehr deutlich geäußert. Aber weshalb denn? Wir müssen in Nordrhein-Westfalen die Finanzzuweisungen für die Gemeinden kürzen. Das bringt für die Gemeinden eine Mindereinnahme von rund 340 Millionen DM. Zur selben Zeit lehnte der Bundesrat eine Bundesratsinitiative von Nordrhein-Westfalen ab, die es dem Land ermöglicht hätte, 340 Millionen DM zu sparen. Das wurde abgelehnt. Man gab uns nicht einmal die Besoldungskompetenz in diesem Bereich zurück. Gleichzeitig erklärte Graf Lambsdorff in Lippe, 1984 müßten die Steuern gesenkt werden. Sie werden verstehen, daß mich dies sehr erregt hat angesichts der Tatsache, daß wir in diesem Jahr in Nordrhein-Westfalen zum erstenmal die Abschaffung der Lohnsummensteuer und die Anhebung der Freibeträge für die Gewerbesteuer nach Ertrag und Kapital verkraften müssen — eine Mißentscheidung sondergleichen. Es sind manche hier in diesem Saal, die sich damals erbittert dagegen gewehrt haben. Ich muß sagen, Herr Kollege Hirsch, meinen Respekt vor Ihnen auch in dieser Frage! Aber ich selber bekenne mich zu unserer Mitverantwortung; denn wir haben an dieser Entscheidung mitgewirkt. Ich wollte nur deutlich machen, worauf die Erregung zurückzuführen war.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Milz?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne.
Herr Minister, Sie haben soeben erklärt, daß das Land Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr den Gemeinden etwa 350 Millionen DM
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Milzweniger zahlen könne als bisher. Wollen Sie damit sagen, daß die Mitteilung des nordrhein-westfälischen Städtetages vom 23. September 1982, der diese Summe auf 851 Millionen DM beziffert, falsch ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Kollege Milz, die Mitteilung des Deutschen Städtetages ist auch richtig. Aber wir können j a hier keine Kommunalfinanzdebatte führen. Die mehr als 800 Millionen DM kommen zustande, Herr Kollege Milz, weil zu den 340 Millionen DM, die das Land kürzt, 523 Millionen DM Spitzenausgleich kommen, die bisher vom Bund gezahlt worden sind. Das macht die Gesamtsumme. Aber ich meine, wir sollten jetzt keine Kommunalfinanzdebatte führen. Ich würde sie Ihnen aber gern liefern, wenn Sie sie wünschen.
Meine Damen und Herren, unsere Städte und Gemeinden befinden sich in einer schwierigen Finanzsituation, nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Herr Bundeskanzler, Städte, Gemeinden und Kreise sind nicht in der Lage, ihren so notwendigen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu leisten. Rückläufige Einnahmen, steigende Ausgaben und die wachsenden Probleme im Verwaltungshaushalt haben die Kommunen gezwungen, ihre Investitionen zu senken. Die Investitionsausgaben der Kommunen sind im ersten Halbjahr 1982 gegenüber dem Vorjahr um 14,5 % zurückgegangen. Wir alle wissen, daß die gemeindlichen Investitionen einen besonders hohen Anteil an den öffentlichen Investitionen haben: 70 % der öffentlichen Sachinvestitionen entfallen auf den kommunalen Sektor.
Worauf ist aber die Investitionsschwäche unserer Gemeinden zurückzuführen? Was müssen wir tun? Sind die Gründe darin zu sehen, Herr Bundeskanzler, daß Ihr Wirtschaftsminister in der Vergangenheit eine schlechte Wirtschaftspolitik betrieben hat?
Privaten Unternehmern wird ja gelegentlich unterstellt, sie wagten nicht zu investieren, weil bei ihnen das Vertrauen in die Wirtschaft fehle. Das kann man ja wohl gegenüber den Investitionsentscheidungen der öffentlichen Hand nicht sagen. Da paßt dieses Argument j a nun wohl wirklich nicht. Nein, der Grund für die Investitionsschwäche ist darin zu sehen, daß wir, wie wir hier sitzen, unseren Gemeinden die Einnahmen weggenommen haben. Und ich fürchte, Herr Bundeskanzler, Sie sind dabei, die Finanzkraft der Gemeinden weiter zu schwächen.
Ich will das jetzt nicht im einzelnen ausführen, aber ich darf noch einmal darauf hinweisen: Die Abschaffung der Lohnsummensteuer und die gleichzeitige Anhebung der Freibeträge der Gewerbesteuer nach Ertrag und Kapital waren ein eklatanter Mißgriff. Und Ihre weiteren Bemühungen, in die eigenen Steuern der Kommunen einzugreifen, werden dazu führen, daß die Gemeinden überhaupt
nicht mehr in der Lage sind, einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu leisten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Milz?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Herr Minister, sind Sie bereit zuzugeben, daß die Regierung in Nordrhein-Westfalen, der Sie selber angehören, die Verbundmasse für die Gemeinden von 28,5 % im Jahre 1981 auf 25,5 % im Jahre 1983 gekürzt hat, und wollen Sie das der neuen Bundesregierung anlasten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das will ich nicht der neuen Bundesregierung anlasten, Herr Kollege Milz. Aber ich bitte Sie! Wollen wir nun hier wirklich eine Kommunalfinanzdebatte führen? Ich will Ihnen eines sagen, Herr Kollege Milz: Die jetzige Kürzung der Verbundmasse hätte sich möglicherweise vermeiden lassen, wenn der Bundesrat
dem Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen zugestimmt hätte, das Weihnachtsgeld und das Urlaubsgeld für die Beamten — sozial gestuft, damit die unteren Einkommen geschont werden — zu kürzen.
Das wäre auch der entsprechende Beitrag gewesen, den man als Sparbeitrag seitens der höheren Einkommen hätte leisten können. Das ist abgelehnt worden. Auch unserem Bemühen, wenigstens die Besoldungskompetenz insoweit zurückzubekommen, ist nicht entsprochen worden. Sie haben das nicht einmal zur Kenntnis genommen, Herr Kollege Milz. Da hätten wir 340 Millionen DM gehabt, über die der Landtag hätte disponieren können. Insofern gibt es schon eine Mitverantwortung hier.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte den Kommunalteil beenden und Sie, Herr Bundeskanzler, ansprechen — in erster Linie auf die engeren Fragen der inneren Sicherheit. Sie bitten die Länder um Zusammenarbeit. Gilt das für die gesamte Innenpolitik, auch für die Sicherheits- und Rechtspolitik, Herr Bundeskanzler? Auf welcher Grundlage soll diese Zusammenarbeit erfolgen? Welches sind Ihre Grundsätze, die Sie in Fragen der Innen- und Rechtspolitik verwirklicht wissen wollen?Sie haben allgemeine Sätze in die Regierungserklärung aufgenommen. Aber eine konkrete Antwort haben Sie uns bisher nicht erteilt. Ich kann deshalb nicht erkennen, wie die Politik dieser Bundesregierung im Bereich der inneren Sicherheit aussehen soll. Auch Herr Dregger, der gestern gesprochen hat, hat zu diesem Thema, das ja bisher zu seinem
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7344 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Minister Dr. Schnoor Lieblingsthema gehört hat, geschwiegen. Ich meine, das war entlarvend.
Auch der Herr Bundesinnnminister hat sich hierzu nicht geäußert. Und er ist zuständig.Meine Damen und Herren, nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition haben wir mit atemloser Spannung die Koalitionsverhandlungen zwischen den Parteivorsitzenden Kohl, Strauß und Genscher verfolgt. Für uns stellte sich immer wieder die Frage: Wie und worauf können sich die neuen Partner in Fragen der Rechts- und Innenpolitik verständigen? Meine Damen und Herren, hier handelt es sich doch um Fragen, die, wie die „Süddeutsche Zeitung" am 24. September schreibt, tief in die liberale Identität reichen. Die „Frankfurter Allgemeine" meinte zwar an demselben Tag, Koalitionen brauchten Einigkeit und Streitpunkte. Sie bezeichnete dabei die Rechtspolitik in einer Verbindung von Union und FDP als das „unentbehrliche Salz des Konflikts in einer sonst fade schmeckenden Gemeinsamkeitssuppe". Ich habe mir das nicht vorstellen können.
Herr Kollege Mischnick, Sie haben für mich am 23. September in der Abenddämmerung einer Fernsehdiskussion das Geheimnis gelüftet. Sie haben nämlich sinngemäß gesagt — ich fand das geradezu erregend —: „Man kann nicht alles in drei Monaten regeln; wir denken nicht daran, unsere Grundsätze aufzugeben; wir werden deshalb in der Koalition hart ringen" — richtig! —, „aber auch bei den Sozialdemokraten haben wir nicht alles durchgesetzt". Das fand ich erstaunlich. Es ist natürlich richtig. Aber dies fand ich in diesem Zusammenhang, Herr Kollege Mischnick, erstaunlich. Ich habe mich gefragt: Sind Innen- und Rechtspolitik, die ausgeklammert worden sind, jetzt für die Führung der Freien Demokraten nur das „unentbehrliche Salz des Konflikts in einer sonst fade schmeckenden Gemeinsamkeitssuppe"? Das habe ich mir nicht vorstellen können. Aber das muß es dann ja wohl sein.
Geht es denn hier, meine Damen und Herren, nicht um mehr für uns alle, auch für die CSU?Wenn wir so verfahren würden,
wie es die FDP getan hat, dann träfe wohl doch das zu, Herr Kollege Mischnick, was die Süddeutsche Zeitung am nächsten Tag in einem Kommentar unter der Überschrift „Fahnenflucht in der Rechtspolitik" meinte. Ich darf, Frau Präsidentin, zitieren. Die Süddeutsche Zeitung sagte:Wenn es denn zuträfe, daß bis zu den Neuwahlen rechtspolitisch nichts veranlaßt werden muß,— Sie sagen, es gehört zum Mittelpunkt; bitte, dann geben Sie mir gleich eine Antwort auf diesen Kommentar —so müßte es doch um so leichter fallen, zunächst einmal Prinzipien zu fixieren und Flagge zu zeigen. Im übrigen geht es doch nicht nur um den legislatorischen Aspekt, sondern vor allem um die politische Aussage.
Eine Regierungsbildung mit der FDP, bei der das Herzstück liberaler Substanz gar nicht in seriöser Form vorkommt, wirkt wie ein Treppenwitz.— Das habe nicht ich gesagt; das sagt die Süddeutsche Zeitung! —Woher soll— so sagt sie weiter —vor allem nach einer solchen programmatischen Fahnenflucht das Vertrauen rühren, vom kommenden März an werde man dann aber die Standarte wieder ganz hochhalten?Ich glaube, dieser Auffassung der Süddeutschen Zeitung muß doch wohl jeder hier in diesem Haus zustimmen.
Herr Mischnick, bewahrt der politische Liberalismus nicht auch das Erbe von Thomas Dehler,
Friedrich Naumann, Theodor Mommsen, Werner Siemens und Rudolf Virchow?
— Oh ja; es gibt noch viele mehr. Ich könnte Ihnen noch mehr vorhalten.
Reicht die historische Wurzel der FDP nur bis zur Deutschen Volkspartei und zu den Nationalliberalen?
— Das will ich Ihnen sagen, was uns das angeht. Es geht uns alle etwas an, was aus dem politischen Liberalismus wird.
Und das geht auch Sie etwas an.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7345
Will die FDP nicht auch das Erbe der Deutschen Demokratischen Partei, der Fortschrittlichen Volkspartei, der Deutschen Fortschrittspartei und der Liberalen des Vormärz bewahren? Soll das jetzt nur noch „unentbehrliches Salz in einer sonst fade schmeckenden Gemeinsamkeitssuppe" sein, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt? Herr Mischnick, wollen Sie wirklich, daß jugendliche Protestierer künftig in einen Nürnberger Eintopf gestopft werden?
Das eigentlich Erregende an den Koalitionsverhandlungen war doch dies: Tag für Tag wurde deutlicher, daß das, was die liberale Substanz der FDP ausmacht,
ihr Herzstück, aus der Koalitionsvereinbarung ausgeklammert werden sollte.
— Natürlich ist das unser Bier! Denn ich bin der für die Sicherheit im Lande Nordrhein-Westfalen verantwortliche Innenminister; und mir ist es nicht gleichgültig, wie die Innenpolitik künftig von der Bundesregierung betrieben wird.
Der Parteivorsitzende der FDP wußte, es werde niemals — meine Damen und Herren: niemals! — zu einem konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt im Deutschen Bundestag kommen, wenn sich seine Fraktion und seine Partei mit der CSU über Fragen verständigen müßten, die zur Programmatik des politischen Liberalismus gehören, und die jedenfalls die CSU diametral anders beantwortet als die FDP.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Herr Innenminister Schnoor, können Sie sich vorstellen, daß die von Ihnen und vorher vom Abgeordneten Brandt unserer Fraktion zur Innenpolitik, insbesondere zur freiheitlichen Weiterentwicklung unseres Verfassungsstaates aufgeworfenen Fragen heute ohne Antwort durch die Regierung, insbesondere durch den neuen Bundesinnenminister bleiben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen.
Ich befürchte aber, es wird so sein; denn die ganze Taktik der Kollegen von der CDU/CSU läuft doch darauf hinaus, dieses für sie peinliche Thema zu vermeiden.
Herr Vizekanzler Genscher, Sie haben gestern wieder zu dieser Frage geschwiegen. Sie wissen keine Antwort.
— Wenn Herr Strauß hier spricht, spreche ich hier auch, Herr Kollege.
Herr Vizekanzler, Sie wissen keine Antwort, Herr Dregger schweigt, Herr Zimmermann schweigt. Es ist das große Schweigen einer rechten Kumpanei.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne, Herr Kollege.
Verehrter Herr Kollege Schnoor, würden Sie es nicht für angemessen halten, wenn Sie die Beurteilung der Frage, ob und wieweit liberale Positionen in der Innenpolitik gewahrt werden, dann beurteilen würden, wenn diese Debatte zu diesem Thema stattgefunden hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hirsch, nie habe ich einen Zweifel an Ihrer Auffassung und der Ihrer Freunde in dieser Frage gehabt.
Ich werde Ihnen auch gerne zuhören, aber meine Frage ist: Welche Auffassung vertritt denn diese Bundesregierung in diesen Fragen? Diese Antwort fehlt uns bisher.
Herr Genscher braucht die Fragen, wie es mit dem Rechtsstaat und mit der Liberalität steht, nur vor dem Wähler zu beantworten. Aber Sie, Herr Bundeskanzler, schulden uns und den Bürgern heute eine Antwort.
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— Herr Kollege, Sie sollten sich bitte einmal die Verfassung über die Rechte des Bundesrates und des Bundestages ansehen. Sie waren es doch immer, die hier gesagt haben, daß Bundesratsminister und Bundesratsmitglieder selbstverständlich das Recht haben, hier zu sprechen. Sie waren es doch immer!
Nur, wo es jetzt einmal umgekehrt geht, da werden Sie sehr pingelig.
Herr Bundeskanzler, wir müssen wissen, welche Politik Sie betreiben wollen, Sie, Herr Bundeskanzler. Die Politik von Herrn Zimmermann und von Herrn Engelhard interessiert uns zwar auch, aber zunächst einmal interessiert uns die klare Sachaussage von Ihnen.
Haben vor noch nicht allzu langer Zeit zunächst Herr Bundesinnenminister Genscher, Herr Bundesinnenminister Maihofer und dann Herr Baum die Sicherung und den Ausbau der Liberalität des Staates zu ihrer vornehmsten Aufgabe erklärt, so findet sich darüber in der Koalitionsvereinbarung und in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, kein Wort. Herr Genscher hat sich und die FDP wohl auf Gedeih und Verderb der CDU/CSU und Herrn Zimmermann ausgeliefert — jedenfalls in der Regierung.
Das wird Sache der FDP sein. Aber unsere Sache ist es, Herr Bundeskanzler, Sie zu fragen: Wie halten Sie es mit der Liberalität im Staat und der Liberalität des Staates nun wirklich und ganz konkret?
Gilt das Wort von Herrn Engelhard, der sagt, es gebe keine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts? Gilt das, was Herr Gattermann heute morgen hier gesagt hat, oder gelten die markigen Sätze von Herrn Spranger, zuletzt wiederholt vor dem Kongreß der GdP in Nürnberg? Auf die Zusammenarbeit von Herrn Zimmermann und Herrn Engelhard sind wir ohnehin außerordentlich gespannt.
Gelten die Aussagen des CDU/CSU-Antrags im Bundestag zur inneren Sicherheit vom 2. Dezember vergangenen Jahres immer noch, auch für diese Bundesregierung? Gelten die Thesen der CDU zur inneren Sicherheit vom 30. August 1982? Herr Kollege Hirsch, Sie haben Herrn Dregger während der Hessen-Wahl aufgefordert, sich davon zu distanzieren. Was geschieht aber nun gegenüber der Bundesregierung?
Wie steht es mit der Aussage von Herrn Barzel in der Debatte am 1. Oktober 1982, die Wende solle mehr Bürgerfreiheit gewähren? Durch Einschränkung des Demonstrationsrechts? Woran sind wir mit dieser Bundesregierung? Wer gibt die Richtung an: Herr Zimmermann, Herr Engelhard, Herr Spranger, Herr Klein im Bundesjustizministerium oder Sie, Herr Bundeskanzler?
Nun mag mancher Bürger durch Schweigen der neuen Regierung zu innenpolitischen Problemen weniger erschreckt werden, als es bei deutlichen Aussagen der Fall wäre. Aber wir kennen ja die innen- und rechtspolitischen Vorstellungen der CDU/CSU. Es ist zu befürchten, daß sich diese Auffassung jetzt auch in der neuen Bundesregierung durchsetzen wird. Wir sollten uns erinnern, meine Damen und Herren: Die CDU/CSU-Fraktion hat mit einem von Herrn Dregger und Herrn Spranger im Bundestag vorgelegten Antrag vom 2. Dezember 1981 ihre Sicht der innenpolitischen Probleme und ihre Lösungsvorschläge vorgetragen. Das war wohl die konstruktive, zum Erfolg führende Opposition, von der Herr Dregger gestern gesprochen hat.
Jetzt hören Sie gut zu: Antrag zur „Wiederherstellung des inneren Friedens und der inneren Sicherheit", so hieß es damals wörtlich, als ob es Rechtsbrechern und Verfassungsfeinden gelungen sei, den inneren Frieden und die innere Sicherheit zu beseitigen.
Das Ziel war doch, durch Panikmache Unsicherheit in der Bevölkerung hervorzurufen, um auf dieser Basis laut nach einem stärkeren Staat zu rufen. Übrigens: Diejenigen, meine Damen und Herren, die da nach dem starken Staat rufen, wenn es um die Bürgerrechte geht, das sind dieselben, die dann, wenn es um wirtschafts- und sozialpolitische Fragen geht, den Rückzug des Staates aus der Verantwortung fordern.
Sie fordern dann mehr Raum für das freie Spiel der Kräfte, der Rechte und Freiheiten für den Tüchtigen, mit anderen Worten: die Ellenbogengesellschaft.
Herr Bundeskanzler, mehr Staat in Fragen der inneren Sicherheit — in welchem Verhältnis steht
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7347
Minister Dr. Schnoor
dies eigentlich zu Ihrer Regierungserklärung, in der Sie gesagt haben, daß Sie weniger Staat wollen?
Nun mag ja mancher Bürger meinen, diese innenpolitischen Schießübungen der CDU/CSU von Ende letzten Jahres seien nur Theaterdonner gewesen. In der Regierungsverantwortung sehe es ganz anders aus. — Hier sollte man sich aber nicht täuschen, meine Damen und Herren. Die jüngst vorgestellten Thesen der CDU/CSU für die innere Sicherheit sind zwar im Ton moderater, aber sie schließen sich an den damaligen Antrag an.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wolfram?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte schön.
Herr Innenminister, würden Sie es begrüßen und wäre es nicht eine Geste der Höflichkeit, daß der Herr Bundeskanzler Ihnen zuhört, wenn Sie ihn direkt ansprechen, statt daß man den Eindruck haben muß, er mischt sich zur Zeit in die Geschäfte des Parlaments ein?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Kollege. Der Herr Bundeskanzler ist im Saal. Aber auch wenn er nicht im Saal wäre, würde ich dieses nicht sagen.
— Herr Kollege Schwarz, ich habe jetzt hier zwei Tage im Saal gesessen und habe die Reden angehört. Sie können mir glauben, daß ich mir viel von dem aufgeschrieben habe, was Sie hier gesagt haben.
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas Ruhe. Es dauert nur länger, wenn Sie dauernd reden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aus Respekt vor dem hohen Amt des Bundeskanzlers sollten wir, meine ich, nicht solche Fragen stellen — entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Herr Kollege —,
denn ich weiß und gehe davon aus, daß der Bundeskanzler auch dann Staatsgeschäfte zu erledigen hat, wenn er hier im Saale nicht anwesend ist.
Die Thesen der CDU für die innere Sicherheit der Bundesrepublik sind übrigens von Herrn Barschel vorgestellt worden, der heute zum Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein gewählt worden ist,
klatschen Sie nicht zu früh. Am 13. März 1983 ist in Schleswig-Holstein Wahl.
Herr Barschel hat wörtlich verkündet:
Es war ein schwerer geistig-politischer Fehler von SPD und FDP, den Sicherheitsgedanken immer wieder gegen den Freiheitsgedanken auszuspielen.Er sagte weiter:Die neuen Thesen der CDU zur Sicherheitspolitik zielen auf eine Veränderung des geistig-politischen Klimas ab.Meine Damen und Herren, man muß diesen Satz wirklich auf der Zunge zergehen lassen.
— Ja, ich kann mir denken, daß er Ihnen gefällt, Herr Schwarz. Man muß ihn sich auf der Zunge zergehen lassen.
Das bedeutet doch letztlich, daß die Erfordernisse der Sicherheitspolitik unsere politische Kultur verändern sollen. Es kann doch allenfalls umgekehrt sein, meine Damen und Herren.
— Meine Damen und Herren, Ihre Erregung macht mir deutlich, daß man auch 33 Jahre nach Bildung der ersten Bundesregierung hier immer noch Nachhilfeunterricht in Fragen der inneren Sicherheit geben muß.
Unser Standpunkt, der Standpunkt der SPD in Fragen der inneren Sicherheit ist klar. Der Standpunkt von Herrn Dregger, Herrn Barschel, Herrn Spranger, Herrn Zimmermann ist nach allen Erklärungen, die ich gelesen habe, ebenso klar. Sie wollen, so der neue Ministerpräsident von Schleswig-Holstein — ich zitiere —, „rechtsstaatliche Hygiene". Und damit meint er das Vorgehen gegen Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst. Das muß
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7348 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Minister Dr. Schnoor
man sich einmal anhören: „rechtsstaatliche Hygiene", in diesem Zusammenhang.
— Das Wort „Hygiene" im Zusammenhang mit Menschen gefällt mir nicht, Herr Kollege.
— Daß Sie hier lachen — —
— Aber sollten Sie mir nicht doch zugeben, daß es gut wäre, wenn man über die Frage, ob jemand im öffentlichen Dienst bleiben darf, und die, ob er wohl verfassungstreu ist oder nicht,
nicht von Hygiene spräche, meine Damen und Herren?
— Mein Gott, Herr Kollege, das Wort Hygiene ist historisch belastet. Haben Sie das denn immer noch nicht begriffen?
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU fordert Vorrang für die Sicherheit vor der Freiheit. Sie wollen die Bestrafung von friedlichen Demonstranten, die nichts dafür können, daß Straftäter, Provokateure sich nicht an die Gesetze halten. Wer bei einer Demonstration gewalttätig wird, mit Steinen wirft, macht sich nach geltendem Recht strafbar.
Aber es ist oft schwer, den Straftätern ihre Straftat nachzuweisen,
sie vor Gericht zu stellen. Dies ist in der Tat ein großes Problem für Polizei und Justiz. Das war es schon immer. Aber Sie wissen auch, Herr Kollege, den Verfassungssatz „In dubio pro reo" kann man doch wohl nicht aufgeben. —
Nein, Ihnen fällt etwas viel Geschickteres ein, als den aufzugeben. Man muß nur den Straftatbestand erweitern, und schon haben wir einen, den wir greifen können und den wir bestrafen können.
Aber der hat doch gar keinen Stein geworfen. Der war doch nur dabei. Das war doch vielleicht der andere. —
Richtig, Herr Kollege: Macht nichts, er war dabei. Er war dabei, und das genügt. Denken Sie hier einmal an Lessing.
— O nein, ich weiß, wovon ich rede, Herr Kollege. —
Außerdem geschieht es ihm, der jetzt gegriffen wird, j a ganz recht. Warum geht er auch auf eine Demonstration; da hat er doch nichts zu suchen. — Das ist doch Ihre Auffassung.
Der Standpunkt der CDU/CSU-Sicherheitsexperten, der Standpunkt von Herrn Dregger und Herrn Barschel ist klar. Herr Spranger hat seine Auffassung noch einmal dargelegt.
Aber welchen Standpunkt hat denn nun die neue Rechtsfraktion hier im Hause?
Was hat diese Regierung jetzt politisch für Absichten?Herr Bundeskanzler, es genügt nicht, zu sagen: Wir wissen zwar nicht, was wir nun wirklich wollen, aber dieses mit ganzer Kraft.
Das haben Sie hier bisher doch nur ausgesagt.
Herr Bundeskanzler, es geht nicht nur um eine übliche politische Kontroverse. Es geht auch nicht nur um eine Frage, die auf den Kern liberaler Identität zielt. Es geht um tragende Prinzipien unserer Verfassung.Der Staat ist eine freiheitliche, demokratische, soziale, rechtsstaatliche Demokratie. Auch eine Politik der inneren Sicherheit hat zur Verwirklichung dieser tragenden Prinzipien unserer Verfassung beizutragen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7349
Minister Dr. Schnoor
Jedes staatliche Handeln unterliegt vor dem Hintergrund dieser Prinzipien einem Begründungszwang und hat deshalb nicht automatisch eine Vermutung der Richtigkeit für sich. Entwicklungen und Wandlungen, die sich in der Gesellschaft vollziehen, können und müssen ihren Niederschlag in staatlichen Reaktionen finden. Der Staat muß bei Anwendung seiner Machtmittel Wandlungsprozesse in der Gesellschaft und im Verhältnis zwischen Bürger und Staat berücksichtigen. Nur dann hat staatliches Handeln vor allem im Sicherheitsbereich eine Chance, von den Bürgern oder jedenfalls von einer Mehrheit der Bürger akzeptiert oder zumindest verstanden zu werden. Dies ist aber die Voraussetzung jeglichen staatlichen Handelns,
wenn unsere Staatsform Bestand haben soll.Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit heißt deshalb auch Ermöglichung von Wandel und Sicherung der Wandlungsmöglichkeiten. Minderheiten müssen Mehrheiten werden können. Meine Damen und Herren, auch wenn es Grüne sind, müssen es Mehrheiten werden können. Und außerparlamentarische Minderheiten sind auf das Demonstrationsrecht angewiesen, um sich Gehör zu verschaffen.
Herr Bundeskanzler, beherzigen Sie das Wort eines großen Konservativen. Edmund Burke, wahrlich kein Jakobiner, hat vor 200 Jahren unter dem Eindruck der großen Französischen Revolution gesagt: „Einem Staat ohne Möglichkeiten zum Wandel fehlen zugleich die Möglichkeiten zu seiner Erhaltung.
Ohne Veränderungsmöglichkeiten riskiert er sogar den Verlust jener Bestandteile seiner Verfassungsordnung, die er als geheiligt zu bewahren wünscht."
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, daß der Vertreter des Bundesrats nach Art. 43 des Grundgesetzes hier jederzeit das Rederecht hat.
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Miltner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, im Hohen Haus ist unbestritten, daß hier ein Bundesratsmitglied sprechen kann. Aber man sollte hier natürlich wenigstens eine Rede und nicht eine konfuse Vorstellung erwarten dürfen.
Nun ein Wort zu meinem Kollegen Brandt , der die Reihe der Anmerkungen zu einer sogenannten Verratslegende fortsetzen zu können geglaubt hat. Durch ständige Wiederholung wird die Verratslegende nicht glaubwürdiger.
Wenn man schon sagt, daß es eine Sache der Wähler der FDP sein werde, dann frage ich mich nur: Warum reiten Sie denn eigentlich so auf dieser Sache herum?Wenn man dieses Thema schon anpackt, hätte ich gern auch einmal gehört, daß das Instrument des konstruktiven Mißtrauensvotums von Persönlichkeiten wie Adolf Arndt oder Theodor Heuss oder Konrad Adenauer in unser Grundgesetz hineingenommen worden ist. Ich kann mir schlecht vorstellen, daß man diesen Persönlichkeiten unterstellen will, in die Verfassung ein Instrument hineingenommen zu haben, das in den Bereich einer moralischen Schwäche gerückt werden könnte.
Das öffentliche Interesse ist natürlich heute und zur Zeit hauptsächlich auf die Arbeitslosigkeit, auf wirtschaftliche und finanzielle Sorgen in unserem Lande gerichtet.
Doch auch schwerwiegende Probleme im Bereich der inneren Sicherheit und des Umweltschutzes bewegen die Bürger. Wer ist nicht besorgt über die Kriminalitätsentwicklung, die durch anhaltende jährliche Zuwachsraten gekennzeichnet ist, und wer sieht in unseren Städten und Gemeinden nicht die sich verschärfende Ausländerproblematik angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und des seit Jahren bekannten Mißbrauchs des Asylrechts? Oder wer kann das schwindende Rechtsbewußtsein im Zusammenhang mit Hausbesetzungen und beim Widerstand gegen demokratisch zustande gekommene Entscheidungen heute übersehen? Schließlich sind auf dem Gebiet des Umweltschutzes auch noch die Sorge um die Luftreinhaltung, der saure Regen und das Waldsterben oder die Entsorgung bei den Kernkraftwerken zu nennen. Diese beispielhaft genannten Probleme der Innenpolitik zeigen die große Bedeutung dieses politischen Sachgebietes überhaupt für unser Leben.Aber wir können die Probleme der Innenpolitik nur lösen, wenn die Beachtung des demokratisch legitimierten Rechts in unserem Staat und unserer Gesellschaft gesichert ist. Es gilt daher nicht nur für den Justizbereich, sondern auch für den Bereich der inneren Sicherheit und des Umweltschutzes, daß wir hier das Rechtsbewußtsein bei unseren Bürgern festigen müssen. Es kann nicht hingenommen werden, daß Ladendiebstähle bagatellisiert werden oder Hausbesetzungen gerechtfertigt werden. Genauso unerträglich ist es, wenn im Zuge von Demonstrationen Gewalttäter Körperverletzungen
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7350 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. Miltnerbegehen, in aller Öffentlichkeit Sachschaden anrichten und am Ende gar nicht zur Verantwortung gezogen werden können.
Der anständige Bürger muß sich dabei fragen, ob es sich noch lohnt, anständig zu bleiben.
Meine Damen und Herren, die neue Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, in der kurzen Zeit bis zur Neuwahl zusammen mit den Ländern eine gemeinsame Ausländerpolitik zu vereinbaren. Der Herr Bundeskanzler hat als oberste Devise für eine Ausländerpolitik genannt, daß es eine menschliche Ausländerpolitik sein wird und sein muß,
mit den Zielpunkten Integration, Anwerbestopp, Rückkehrerleichterungen, Begrenzung des Familiennachzuges und auch Verhinderung des Mißbrauchs des Asylrechts. Gerade auf dem Gebiet der Integration bieten sich gemeinsame Maßnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden an, z. B. die Sprachförderung, Integrationsbemühungen im Freizeitbereich oder die Möglichkeiten der Berufsbildung. Aber ebenso müssen wir auch die freiwillige Rückkehr ins Auge fassen und erleichtern. Man kann daran denken, z. B. die Kapitalisierung der Ansprüche auf Arbeitslosengeld zu bieten, die ZweiJahres-Frist für die Rückerstattung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung aufzuheben oder aber verstärkte Wirtschaftshilfemaßnahmen bei der Schaffung von Arbeitsplätzen in den Heimatländern ins Auge zu fassen. Die Arbeitskommission, die diese Aufgabe übernehmen wird, muß jedenfalls unter Berücksichtigung der Interessen der Länder und der Gemeinden diese beispielhaft genannten Gesichtspunkte aufgreifen und dann ein Konzept präsentieren.Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die schleppende und zögerliche Behandlung des Themas Asylverfahren in den vergangenen zwei Jahren. Die alte Koalitionsregierung war nicht in der Lage, eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten und vorzulegen. Der Nachholbedarf auf breiter Ebene in der Ausländerpolitik muß nunmehr aufgearbeitet und einer dauerhaften Lösung zugeführt werden,
und die Regierung Kohl hat nach der Regierungsübernahme mit der Koalitionsvereinbarung sofort die Voraussetzungen dafür geschaffen.Wir sind dem Bundeskanzler aber auch dankbar, daß er in seiner Regierungserklärung auf das Verhältnis von Ökologie zur Technik und zur Ökonomie eingegangen ist. Wir alle wissen, daß Umweltschutz heute ohne Technik, ohne wirtschaftlichesWachstum, ohne Finanzen nicht mehr möglich ist. Es hat keinen Zweck, im Umweltschutz nur Stimmung zu machen, sondern es kommt einzig und allein darauf an, durch sachpolitische Entscheidungen weiterzukommen.Der Staat als Wahrer des Allgemeininteresses hat dafür zu sorgen, daß die Menschen unter menschenwürdigen Verhältnissen leben können.
Der Staat muß auch mit seinen Mitteln Umweltschutz durchsetzen. Gleichwohl muß ich Ihnen sagen, daß Umweltschutz eine Staatsaufgabe ist; es ist aber auch eine Aufgabe, die jeden angeht.
Es ist also auch eine gesellschaftliche Aufgabe.Es ist zu begrüßen, wenn die Bundesregierung baldmöglichst die TA Luft verabschieden will. Der Innenausschuß hat durch ein Hearing am 6. Oktober 1982 das Interesse an dieser Materie und an der schnellen Verabschiedung der Verordnung gezeigt. Aber schon spätestens seit 1978 gilt die bestehende TA Luft als änderungsbedürftig. Viel zu lange wurde die TA Luft nicht an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse angepaßt. Das geht an die Adresse der alten Regierung, Herr Kollege.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an die mißglückte Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Ich weiß — das wissen wir alle —, daß es notwendig sein wird, eine Großfeuerungsanlagen-Verordnung zu erstellen. Diese Verordnung muß auch bald kommen.
Für die Regierung und das Parlament wird es also eine Daueraufgabe sein, Umweltschutz zu betreiben; denn Veränderungen in unseren Lebensverhältnissen, in den Zivilisationserscheinungen wird es immer geben, und sie werden immer neue Maßnahmen und Gesetze erforderlich machen.
Es ist heute nicht die Zeit gegeben, auf die vielfältigen Einzelprobleme des Umweltschutzs wie Gewässerschutz, Luftreinhaltung, Abfallbeseitigung, Recycling oder Chemikalien einzugehen. Aber wir haben uns Handlungsprinzipien auf diesem Gebiet zu eigen gemacht — ich glaube, alle hier in diesem Hause haben sich diese Handlungsprinzipien zu eigen gemacht —, nämlich das Verursacherprinzip, das Vorsorgeprinzip und das Kooperationsprinzip.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich?
Jawohl, bitte schön.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7351
Herr Kollege Miltner, dürfen wir erwarten, daß Sie uns außer den Handlungsprinzipien auch noch mitteilen, welche konkreten Maßnahmen Sie zur Verbesserung des Umweltschutzes vornehmen werden und welche konkreten Maßnahmen Sie zur Beseitigung des Mißbrauchs des Asylrechts im Auge haben?
Ich darf Ihnen nur folgendes sagen: Sie haben soeben gar nicht zugehört, als ich davon gesprochen habe, daß diese Regierung nach der Koalitionsvereinbarung und nach der Regierungserklärung z. B. die TA Luft, die Sie mehrere Jahre — etwa vier, fünf Jahre — herumgeschleppt haben, noch vor Weihnachten verabschieden wird. Ist das denn keine konkrete Aussage dieser Regierung in diesem Punkt?
Im übrigen muß ich Ihnen dazu sagen: Wir können in der heutigen Debatte zur Regierungserklärung nicht eingehende Reden zum Umweltschutz halten. Das hat soeben auch der Kollege Brandt in seiner Ansprache gesagt. Er hat gesagt, er könne hier nur die Thematik ansprechen, aber er könne hier natürlich keine Umweltschutzdebatte führen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Emmerlich?
Danke schön, ich möchte in meiner Rede fortfahren. Ich habe noch andere Punkte zu erledigen. — Wir werden im Zusammenhang mit dem Umweltschutz die Leistungsfähigkeit der Technik, die Leistungsfähigkeit des Gewerbes, der Industrie einsetzen müssen, um die Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen abzubauen und zu verhindern.Abschließend möchte ich zum Thema Umweltschutz hervorheben, daß sich der Bundeskanzler selber zusammen mit den Ländern der baldigen Durchsetzung der vorgesehenen Entsorgung der Kernkraftwerke widmen wird. Ich bin sicher, daß der Beschluß von Bund und Ländern aus dem Jahre 1979 über ein integriertes Entsorgungskonzept von der neuen Koalition und der neuen Regierung auch über die Legislaturperiode hinweg verwirklicht wird.Wenn unser Staat und unsere Gesellschaft die schwierigen Zeiten heute und morgen überstehen wollen, dann muß nicht nur ein von allen Bürgern getragenes Rechtsbewußtsein vorhanden sein, sondern wir brauchen natürlich auch ein pflichtbewußtes Beamtentum. Wir brauchen einen funktionierenden öffentlichen Dienst, der treu und loyal zu unserem Verfassungsstaat, zu unserem demokratischen Rechtsstaat steht. Es war deshalb richtig, den von der alten Regierung verabschiedeten Gesetzentwurf zurückzuziehen, der die Aufspaltung der Funktionen der Beamten in bezug auf die Verfassungstreue zum Inhalt hatte. Dieser Gesetzentwurf war, wie Sie wissen, auch verfassungsrechtlich sehr bedenklich.
Es ist zu begrüßen, wenn bei der Besoldung die tatsächliche Gleichstellung von Beamten, Angestellten und Arbeitern angestrebt wird. Die von der früheren Bundesregierung vorgeschlagene Verschiebung der Besoldungsanpassung 1982 gegenüber dem Tarifbereich von drei Monaten hat meine Fraktion abgelehnt. Der Bundesrat hatte die Bundesregierung aufgefordert, im weiteren Gesetzgebungsverfahren möglichst eine Gleichstellung innerhalb des öffentlichen Dienstes herbeizuführen.Die Koalitionsvereinbarung sieht nunmehr vor, daß das Inkrafttreten des Besoldungsgesetzes 1982 um einen Monat wieder vorgezogen wird. Da kann ich nur sagen: Angesichts der so späten Verabschiedung am Ende des Jahres, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Haushalte von Bund und Ländern schon längst darauf eingestellt waren konnte natürlich eine Gleichstellung nicht mehr erreicht werden, erst recht dann nicht, wenn man berücksichtigt, daß wir in der Zwischenzeit eine nicht gekannte dramatische Verschlechterung der öffentlichen Finanzen feststellen müssen.Die Festlegung des finanziellen Gesamtrahmens für den öffentlichen Dienst auf 2 % ab 1. Juli 1983 ist natürlich auch ein Signal an die Tarifpartner und im Blick auf die Tarifabschlüsse. Diese Festlegung ist angesichts der durch die sozialen Begleitgesetze notwendigen Eingriffe im ganzen sozialen Bereich nach unserer Auffassung gerechtfertigt. Sie ist eben auch ein Teil der Atempause, die auch anderen sozialen Schichten wie z. B. den Rentnern zugemutet wird.Künftig wird es darauf ankommen, auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zusammen mit den Ländern eine geschlossene Politik zu betreiben. Der neue Bundesinnenminister, so bin ich sicher, wird das Instrument der Innenministerkonferenz zu einer gemeinsamen Politik nutzen. Das gilt ganz besonders für die Bekämpfung der Kriminalität, aber auch für unsere Entgegnung auf den politischen Extremismus.Die Polizeien in Bund und Ländern werden in der neuen Regierung und Koalition wieder Vertrauen und Rückhalt finden. Die Verunsicherung innerhalb der Polizei wird durch eine klare und eindeutige Politik der inneren Sicherheit wieder abgebaut werden. Oberstes Prinzip wird es sein, die Freiheit des Bürgers zu schützen. Die richtigen Grenzen zwischen dem einzelnen und der Gesamtheit zu erkennen ist das größte Problem in einer menschlichen Gemeinschaft. Dessen sind wir uns sicher. Wir wissen, Freiheit und Selbstbestimmung des einzelnen können nicht unbegrenzt sein; denn die Freiheit des einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Am Beispiel, wie dem Mißbrauch der Freiheitsrechte in unserem Staat begegnet wird, zeigt sich die Einstellung der Parteien und ihrer Politiker zum Thema Freiheit und Sicherheit. In den vergangenen Jahren ist sehr oft und sehr heftig um die richtige Sicherheitspolitik gestritten worden. Damit ist auch der Eindruck vermittelt worden, daß es letztlich um die Sicherheit der Menschen ginge. In
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Dr. Miltnerder politischen Auseinandersetzung um Freiheit und Sicherheit sollte jedoch eindeutig feststehen, daß es letztlich nur um die Freiheit gehen kann. Sicherheit ist niemals ein Selbstzweck, und Sicherheitspolitik hat immer nur eine dienende Funktion.
Daher ist es nicht ganz ungefährlich, wenn man immer wieder von einem Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit spricht und damit die Vorstellung erzeugt, als ob hier zwei gleichwertige Begriffe wie zwei Pole in einem Spannungsverhältnis gegenüberstünden. Schon in der politischen These „Im Zweifel für die Freiheit", die von der FDP in der öffentlichen Diskussion herausgestellt worden ist, zeigt sich diese Bewertung des Verhältnisses dieser beiden Begriffe. Wie die Gewichtung der Politik in bezug auf diese beiden Begriffe ist, kann ja entscheidend sein für die sicherheitspolitischen Ziele und deren Durchführung.
— Warten Sie ab.Es ist eine Binsenwahrheit, daß es Freiheit ohne Sicherheit nicht gibt. Die auf der Grundlage unserer Verfassung aufbauende Freiheitspolitik kann überhaupt nicht ohne Sicherheitsüberlegungen gedacht, geplant und durchgeführt werden. Die Väter des Grundgesetzes haben dies bei der inhaltlichen Bestimmung des Freiheitsbegriffs wie auch bei dem Ziel der Bewahrung des freiheitlichen Staats gegenüber dem politischen Extremismus erkannt und berücksichtigt.Lassen Sie mich daher noch einen Schritt weitergehen als die Kollegen der FDP mit ihrem Satz „Im Zweifel für die Freiheit". Bei der Abwägung von Freiheit und Sicherheit muß es nach meiner Auffassung heißen: immer für die Freiheit; nicht „in dubio pro libertate", sondern „semper pro libertate". Die Sicherheit hat eben nur eine dienende Funktion für die Freiheit.
Wir als Gesetzgeber und die Regierung als Exekutive haben die Aufgabe, das Gesetz und seine Ausführung, den Befehl an den Bürger, so klar und so einleuchtend wie möglich zu machen. Dabei darf der Raum der Freiheit nicht mehr als unbedingt notwendig eingeschränkt werden. Ja, ich bin der Meinung, wir sollten uns stets bewußt sein, daß wir mit einem Gesetz geradezu der Freiheit eine Chance geben müssen.Mit der Politik der inneren Sicherheit wollen wir also stets einen inhaltlichen Wert, den Wert der Freiheit, erstreben. Das, lieber Herr Kollege Brandt, ist auch unser geistiger Hintergrund zur Politik der inneren Sicherheit. In diesem Sinne begreifen wir unseren Auftrag, den inneren Frieden in diesem Staat zu wahren. Dieser innere Frieden ist, wie Sie wissen, auch die Basis und die Voraussetzung für eine friedliche Außenpolitik. Von diesen Überlegungen lassen wir uns in unserer Politik der innerenSicherheit leiten. — Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Politik läßt sich nicht immer von den Personen trennen, die sie vertreten. Zum Wechsel der Amtsführung im Innenministerium muß ich daher mit einer persönlichen Berner-kung beginnen.Der bisherige liberale Bundesinnenminister Gerhart Baum hat seine Innenpolitik in voller Übereinstimmung mit der Wahlaussage der FDP und mit der ihn tragenden Bundestagsfraktion formuliert: eine Politik des Augenmaßes in der Anwendung staatlicher Machtmittel, eine Politik der inneren Liberalität, die er in einem Buch beschrieben hat, das den treffenden Titel trägt: „Der Staat auf dem Weg zum Bürger". Diese Politik ist erfolgreich gewesen. Es ist ja nicht das schlechteste Zeugnis für einen Innenminister, wenn die parlamentarische Opposition selbst in den Haushaltsdebatten keine politische Auseinandersetzung mehr mit ihm gesucht hat, weil der Bürger, weil die Öffentlichkeit trotz aller Polemik weiß, daß die Demokratie in unserem Lande gesichert und seine Rechte geschützt sind.
Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, um dem bisherigen Bundesinnenminister von dieser Stelle aus den Dank der Fraktion für seine langjährige Arbeit und für die Bewahrung der Liberalität unseres Staates auszusprechen.
Ich möchte mich auch bei den Kollegen der SPD für die langjährige gute Zusammenarbeit ebenso herzlich bedanken, wie der Kollege Brandt es getan hat.Es hat natürlich auch — Herr Mischnick hat das völlig zutreffend dargestellt — Schwierigkeiten gegeben in einer ganzen Reihe von Bereichen, etwa in Einzelfragen des Umweltschutzes. Oder ich nehme ein anderes Beispiel: Wir hatten lange Gespräche über die Reform des Kontaktsperregesetzes. Aber das ist ja nichts Unnatürliches und, finde ich, auch nichts Schädliches. Darum möchte ich im übrigen auch den Kollegen der CDU/CSU für den aufrechten Widerstand danken, den sie unserer Politik bisher im Innenausschuß entgegengesetzt haben.Herr Bundesminister Zimmermann, Sie sind auf Vorschlag des von diesem Hause gewählten Bundeskanzlers zum Bundesinnenminister ernannt worden. Sie werden wie jeder Innenminister merken, wie schwer dieses Amt ist, wie schwer die Verantwortung, die Ihnen übertragen wurde, und wie einsam Sie darin werden können. Sie wissen, daß ich persönlich Ihre Ernennung nicht begrüßt habe. Aber Sie haben einen Anspruch darauf, daß wir im Bereich der Innenpolitik bereit sind, die getroffe-
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Dr. Hirschnen Vereinbarungen zu erfüllen, und wir werden das tun.
Wir wollen uns in diesem Hause nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen. An der trägt jeder selbst. Es geht mir um den Stil des Umgangs miteinander in den kommenden Monaten. Darum können wir die persönlichen Angriffe, die Sie, Herr Bundesinnenminister, und Ihr Parlamentarischer Staatssekretär in den letzten Wochen gegen Ihren Amtsvorgänger geführt haben, auch nicht stillschweigend übergehen. Es sind gleichzeitig Angriffe auf die Innenpolitik der liberalen Fraktion, auf die Sie sich stützen wollen. Ich will das hier nicht weiter ausdehnen, aber wir bitten Sie, das in Ordnung zu bringen.Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung machen. Die Koalitionsvereinbarung und die Regierungserklärung beinhalten im Bereich der Innenpolitik und auch im Bereich der Rechtspolitik nur wenige festgeschriebene Positionen. Im Bereich der Rechtspolitik sehe ich keinen unmittelbaren Handlungsbedarf; aber ich gehe davon aus, daß Bundesminister Engelhard dazu noch sprechen wird. Viele Einzelfragen der Innenpolitik — im Bereich der Ausländerpolitik, des Asylrechts, strafprozessuale Probleme der Terrorismusbekämpfung — sind an Kommissionen verwiesen worden, die im März des kommenden Jahres ihre Vorschläge machen sollen. Wir gehen davon aus, daß die Zusammensetzung dieser Kommissionen zum Gegenstand von Gesprächen zwischen allen Fraktionen dieses Hauses gemacht wird, damit ihre Ergebnisse leichter akzeptiert werden können. Und wir erwarten, daß den Ergebnissen dieser Kommissionen nicht vorgegriffen wird. Wenn sie inhaltliche Zielvorgaben bekommen, brauchen wir keine Kommissionen einzusetzen. Herr Bundesinnenminister, Sie würden für Entscheidungen, mit denen den vereinbarten Kommissionen vorgegriffen werden würde, Sie würden aber auch für Entscheidungen, die mit den Grundsätzen einer liberalen Innenpolitik nicht vereinbar wären, von uns keine parlamentarische Unterstützung bekommen.Es muß zunächst etwas zu der Verfassungsfrage gesagt werden, die in der Regierungserklärung angeschnitten worden ist. Die Bundesregierung hat durch die Zusage von Neuwahlen zum 6. März ihre Amtszeit zeitlich begrenzt. Das ist in der deutschen Verfassungsgeschichte neu. Die Väter der Verfassung sind von einem solchen Fall bei ihren Entscheidungen nicht ausgegangen. Trotzdem ist dieser Vorgang kein Verstoß gegen die Verfassung. Das Vertrauen, das die Mehrheit dieses Hauses der Regierung ausgesprochen hat, bezieht sich auf einen inhaltlich begrenzten Auftrag. Die Beschränkung auf wenige Punkte der Rechts- und Innenpolitik ist nur unter dem Gesichtspunkt vertretbar, daß es alsbald zu Neuwahlen und danach auf der Grundlage der Entscheidung des Wählers zu der Bestimmung der Frage kommt, ob und wie wir eine liberale Rechts- und Innenpolitik fortführen wollen, fortführen können oder nicht. Wir wünschen, daß der Zeitpunkt der notwendigen Neuwahlen nicht unter taktischen Gesichtspunkten hin- und hergewendet wird. Neuwahlen sind notwendig, um den Bürger entscheiden zu lassen, wer sein Vertrauen hat. Wir haben zwar keine plebiszitäre Verfassung, aber es kann natürlich kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, daß alle Parteien seit über 20 Jahren den Wahlen einen plebiszitären Charakter gegeben haben. Es könnte im übrigen auch kein Zweifel daran bestehen — das sage ich im Gegensatz zum Kollegen Dregger —, daß das Recht zur Selbstauflösung eines Parlaments kein Widerspruch zur repräsentativen Demokratie ist.
Dieses Recht kennen alle westlichen Demokratien, ausgenommen die Bundesrepublik. Es ist in allen Länderverfassungen der Bundesrepublik verankert, ausgenommen der des Landes Bremen.Wir können die Andeutungen nicht akzeptieren, daß der Zeitpunkt für Neuwahlen zum Bundestag in irgendeinem zeitlichen oder sonstigen Zusammenhang mit möglichen Neuwahlen in den Bundesländern stünde.
Die parlamentarischen Verhältnisse in einzelnen Bundesländern interessieren hier nicht.Meine Fraktion ist bereit, den Vorschlag zu diskutieren, den die Enquete-Kommission vor einiger Zeit gemacht hat. In meiner Fraktion bestehen aber erhebliche Bedenken dagegen, Grundsätze der Verfassung zur Erledigung eines Einzelfalles zu verändern.
Es ist daher realistisch, daß der Weg zu Neuwahlen nur über die gescheiterte Vertrauensfrage nach Art. 68 oder über den Rücktritt des Bundeskanzlers nach Art. 63 unserer Verfassung führt.
Das ist nicht eine Frage von Gutachten, sondern der Entscheidung, welchen Weg der Bundeskanzler gehen will.
Wir hoffen, daß im Interesse unser aller Glaubwürdigkeit diese Entscheidung bald getroffen wird.
Wir werden in der Zeit bis zu den Neuwahlen, auch in jeder weiteren Zusammenarbeit, das nicht nachträglich herabreden, was wir in der sozialliberalen Koalition, also in den letzten 13 Jahren, geschaffen haben. Es gehört zur Identität unserer Partei und unserer politischen Arbeit. Das gilt für die Deutschland- und Entspannungspolitik, die die Voraussetzung für menschliche Erleichterungen war. Das gilt für Reformen im gesellschaftlichen Bereich einschließlich der Mitbestimmung und der Betriebsverfassung.
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Dr. Hirschmit denen wir dem Ziel einen Schritt näher gekommen sind, aus dem Industrieuntertanen einen Industriebürger zu machen,
wie Friedrich Naumann formuliert hat. Das gilt für die Bildungspolitik, in der wir mehr jungen Menschen als jemals zuvor den Weg zu einer qualifizierten Bildung eröffnet
und damit Lebenschancen in einer immer komplizierteren Arbeitswelt geschaffen haben. Das gilt für die Umweltpolitik, die fortgesetzt werden muß, weil Versäumnisse von heute nur durch immer härtere staatliche Eingriffe morgen vielleicht noch korrigiert werden können.
Das gilt schließlich für die Innenpolitik, mit der wir zum Frieden in unserer Gesellschaft beigetragen haben. Wir halten daran fest, daß eine Gesellschaft nur dann Bestand hat, wenn sie für friedliche Veränderungen offen, wenn sie reformbereit ist, ohne daß das als Systemveränderung diskreditiert wird.
Man kann keine Chinesische Mauer gegen die Zukunft bauen. Wir wollen die freiheitliche Substanz unserer Rechtsordnung weiterentwickeln und ausbauen. Wir wollen Rechte nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihres Mißbrauchs bewerten und Freiheiten nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Risikos.
Der demokratische Staat braucht das Engagement seiner Burger. Darin liegt seine Sicherheit, nicht in der Zahl und Härte seiner strafrechtlichen Bestimmungen.
Der demokratische Staat, der sich auf Mehrheiten stützt, braucht nach unserer Auffassung auch die Minderheiten. Alle Reformen, alle notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen gehen zuerst von Minderheiten aus. Nur dann, wenn eine Minderheit eine Chance hat, die Mehrheit zu bilden, nur dann ist eine Minderheit auch bereit, auch eine gegen sie gerichtete Mehrheit zu akzeptieren.
Sie muß an dem Entscheidungsprozeß beteiligt sein. Sie darf nicht ausgegrenzt werden. Sie muß einen Sinn darin sehen, an politischen Willensbildungen teilzunehmen. Es ist ein Alarmzeichen für alle sogenannten etablierten Parteien, daß beachtliche Minderheiten, insbesondere in unserer Jugend, nicht bereit sind, sich für den Staat zu engagieren.
Minderheiten dürfen aus der politischen Auseinandersetzung nicht herausgedrängt werden, auch wenn die überwältigende Mehrheit das wollte. Denn wenn man sich mit Minderheiten nicht politisch auseinandersetzt, sondern mit staatlicher Gewalt oder mit vollzogenen Tatsachen, dann löst mandie Konflikte nicht, sondern man schürt und verschärft sie.
Wie bisher muß es auch in Zukunft in dieser Republik möglich sein, staatsbürgerliche Rechte ohne Furcht auszuüben. Es muß weiter möglich sein, sich nicht strafbar zu machen, wenn man selbst keine strafbare Handlung begangen hat. Es muß auch weiterhin möglich sein, eine Informationsveranstaltung des Bundesforschungsministeriums über die Endlagerung radioaktiver Abfälle zu besuchen, ohne von der Polizei heimlich observiert, heimlich auf Tonband aufgenommen und in einem EDV-System abgefragt zu werden.
Es muß auch für eine Datenschutzbeauftragte weiter möglich sein, Mißstände der Datenverarbeitung auch im polizeilichen Bereich zu rügen,
ohne daß daraufhin eilfertig das entsprechende Datenschutzgesetz geändert wird. Wir wollen im Gegenteil den Datenschutz weiter ausbauen. Dies ist und bleibt ein Ziel unserer Politik, weil die Datenverarbeitung und damit gleichzeitig die Gefahr eines Mißbrauchs von Informationssystemen erheblich wachsen.Wir werden nicht daran mitwirken, die Beschränkung der Amtshilfe zwischen der Polizei und den sogenannten Diensten aufzuheben, weil wir den verfassungsmäßigen Grundsatz ernst nehmen, daß die Dienste keine exekutiven Möglichkeiten haben dürfen.
Die Stärke des Rechtsstaats, wie wir ihn uns vorstellen, beruht nicht darauf, daß er möglichst allwissend ist. Natürlich könnte man durch den Verzicht auf den Datenschutz und durch technische Überwachungen aller Art den Schutz des Staates und seiner Ordnung weiter verstärken. Aber es wäre eben nicht mehr der Rechtsstaat, den zu schützen sich lohnt.
Wir wollen auch weiter sicherstellen, daß der notwendige technische Fortschritt z. B. durch Verkabelung, der wir zustimmen — wir hoffen, es ist eine Glasfaserverkabelung —, nicht dazu mißbraucht werden kann, Meinungsmonopole aufzubauen, die Konzentration gegen die Pressevielfalt zu fördern, sondern dazu dient, den freien Fluß der Informationen auch über Grenzen hinweg zu verbessern.
Wir wollen uns auch weiterhin mit dem Jugendprotest nicht mit der Nürnberger Methode beschäftigen,
sondern um die Mitarbeit der jungen Menschen amStaat werben. Dazu gehört, daß wir mit den Formender Gewissensprüfung endlich aufhören. Das gilt
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Dr. Hirschbesonders für die Regelung der Kriegsdienstverweigerung, die überfällig ist.
Wir wollen schließlich, daß die Diskriminierung der Frau nicht nur in Sonntagsreden, sondern durch politische Entscheidungen bekämpft wird.
Es ist ein besonderer Grundsatz liberaler Innenpolitik, die wir fortführen wollen, daß staatliche Machtanwendung nur mit großer Zurückhaltung erfolgen darf. Es bestehen zwischen den demokratischen Parteien offenbar keine Meinungsunterschiede darüber, daß das staatliche Gewaltmonopol erhalten bleiben muß. Private Gewalt, unter welchen Vorzeichen auch immer, kann weder zugelassen noch geduldet werden.
Aber dieser Satz darf nicht dazu führen, daß die Polizei in eine Eskalation von Gewalt und Gegengewalt hineingetrieben wird.
Durch immer stärkere Anspannung staatlicher Macht kann man Gehorsam erzwingen, aber auch die Autorität des Staates zu Tode schützen. Man kann Äußerungen des Protestes unterdrücken. Aber man beseitigt damit nicht die Ursache des Protestes. Es ist Aufgabe der Politik und nicht der Polizei, die Ursachen sozialer Spannungen zu erkennen und zu beseitigen.
Auch die Anwendung staatlicher Gewalt ist die Anwendung von Gewalt und fast immer ein Zeichen dafür, daß politische Fehler gemacht worden sind.
— Wir alle, Herr Kollege. Ich stehe nicht an, das zu sagen. Wir alle.Der vernünftige Pfad zwischen Macht und Gewalt ist außerordentlich schmal. Wir wollen ihn nicht verlassen, wie er auch in der Vergangenheit nicht verlassen worden ist. Wir wissen uns in dieser Politik des Augenmaßes mit der ganz überwiegenden Mehrheit der Polizeibeamten des Bundes und der Länder einig, die Anspruch auf unseren politischen Schutz haben, deren Ausbildung und Ausrüstung keinen Vergleich zu scheuen braucht, und denen wir zusichern, daß sie trotz der finanziellen Schwierigkeiten des Staates unverändert alles bekommen werden, was notwendig ist, damit sie ihre Aufgabe unter möglichst geringem Risiko für Leib und Leben erfüllen können.
Zur Ausländerpolitik stimmen wir den Grundsätzen der Regierungserklärung zu, nämlich erstens: Integration der hier lebenden Ausländer, zweitens: keine weitere Anwerbung, drittens: Hilfe für diejenigen, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, wobei es nicht nur darauf ankommen kann, hier entstandene Leistungsansprüche verfügbar zu machen, sondern auch darauf ankommen muß, diesen Menschen dabei zu helfen, in ihrem eigenen Land einen Arbeitsplatz zu finden. Diese Grundsätze haben schon bisher die Bundesregierung in der Ausländerpolitik geleitet.Wir haben in den letzten Tagen dazu aber auch Erklärungen gehört, Herr Bundesinnenminister, die nicht unsere Zustimmung finden können.
Wir halten die Vorstellung, den Familiennachzug auf Kinder unter sechs Jahren zu begrenzen, für nicht vertretbar.
Sie ist eben nicht menschlich; sie kollidiert mit der verfassungsmäßigen Verpflichtung zum Schutz der Familie, der sich ausdrücklich nicht nur auf die deutsche Familie bezieht. Sie diskreditiert die Glaubwürdigkeit unserer Bemühungen um Familienzusammenführung der Deutschen aus den Ländern des Ostblocks. Jedermann weiß im übrigen, daß sich solche Vorstellungen insbesondere gegen türkische Familien richten, und sie werden die notwendigen Verhandlungen mit der türkischen Regierung über die notwendige Änderung des Assoziierungsabkommens nicht gerade erleichtern.Wir wollen daran festhalten, daß wir gerade gegenüber den Ausländern der zweiten Generation verpflichtet sind, ihnen ein menschenwürdiges Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, wenn sie sich für uns entscheiden.
Wenn es um eine geistig-moralische Herausforderung geht, dann besteht sie darin, der Ausländerfeindlichkeit nicht nachzugeben,
für Toleranz und Humanität zu werben, sich zum uneingeschränkten Asylrecht zu bekennen und die Asylbewerber, die bei uns Zuflucht suchen, nicht durch Verwaltungsmaßnahmen praktisch zu entmündigen.
Wenn es keine neuen Tatsachen gibt, können wir einer erneuten Verschärfung des Aylsrechts nicht zustimmen, nachdem wir das vor wenigen Wochen bis an die Grenze des für uns Erträglichen getan haben.Wir glauben auch nicht, daß wir Ausländer, von denen behauptet wird, sie hätten sich strafbar gemacht, aus diesem Grunde bereits vor einer strafrechtlichen Verurteilung ausweisen könnten, und das noch ohne ausreichenden Rechtsschutz. Auch für sie gilt der Grundsatz der strafrechtlichen Unschuldsvermutung, und ich denke, daß jeder in diesem Hause dafür großes Verständnis haben wird.Eine Bemerkung zum Umweltschutz: Wir begrüßen die Vereinbarungen, die in diesem Bereich zum Inkrafttreten der TA Luft und zur Großfeuerungs-
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Dr. Hirschanlagenverordnung getroffen worden sind, und wir begrüßen auch das Bekenntnis zur Umweltschutzpolitik in der Regierungserklärung. Wir können darum nicht recht verstehen, daß der Bundesinnenminister bei einer von uns bedauerten Personalentscheidung die Bemerkung gemacht haben soll, er wolle die bisherige Umweltschutzpolitik der Bundesregierung nicht fortsetzen.
Das erste Umweltprogramm einer Bundesregierung ist 1971 unter Innenminister Genscher entwikkelt und seitdem kontinuierlich und mit großem Erfolg fortgeführt worden, und das wollen wir auch weiter tun.
Wir akzeptieren eine längerfristige Orientierung der Umweltpolitik dort, wo das verantwortbar ist. Wir sind auch bereit, zu prüfen, wieweit ökonomische Anreize zur Förderung des Umweltschutzes gegeben werden können. Aber wir betonen gleichzeitig, daß es ohne Umweltschutz kein wirtschaftliches Wachstum geben wird,
daß der Umweltschutz nach unserer Überzeugung Arbeitsplätze schafft, daß er aber vor allem notwendig ist, damit wir unserer Verantwortung gegenüber kommenden Generationen gerecht werden.
Wir wollen keine bürokratischen Hemmnisse, wo sie nicht erforderlich sind. Aber wir werden auch nicht das Wort vom „Investitionsstau" dort gelten lassen, wo es um ökologisch nicht vertretbare Investitionen und in Wirklichkeit um den Versuch geht, Betriebskosten als Umweltbelastung auf die Allgemeinheit abzuwälzen.
Subventionen dieser Art kann es in unserem Wirtschaftssystem nicht geben.Zum Schluß muß ich noch ein Thema erwähnen, das in der Koalitionsvereinbarung nur negativ behandelt worden ist: daß nämlich die Bundesregierung den Gesetzentwurf über die Verfassungstreue der Beamten nicht weiter verfolgen wird. Herr Kollege Miltner, Sie haben darauf ja hingewiesen. Dieses Thema ist nicht dadurch erledigt, daß die gegenwärtige Verwaltungspraxis der Länder zum x-ten Male neu zusammengestellt wird. Solche Zusammenstellungen liegen den Mitgliedern des Innenausschusses und den Ländern immer wieder aktualisiert vor. Ich habe — das bekenne ich hier ganz freimütig — den Liberalisierungstendenzen des früheren Bundesinnenministers mit großer Zurückhaltung gegenübergestanden, insbesondere soweit im Bereich der Länder eine Berufsgruppe betroffen war, mit der der Bund keine Probleme hatte, nämlich die Lehrer. Herr Kollege Baum, Sie wissen das. Aber ich kann an der Tatsache nicht vorbei, daß die von Herrn Kollegen Baum durchgesetzte Politik zu einer wesentlichen Beruhigung und Entspannung einer sich verschärfenden innenpolitischen Situation beigetragen hat.Nun hat Bundesinnenminister Zimmermann eine Bemerkung in einem Interview gemacht, die erwähnt werden muß. Ein Staat solle nicht, so wird als Zitat berichtet, Herr Bundesinnenminister, durch einen Fernmeldetechniker, der Verfassungsfeind sei und operative Maßnahmen verrate, geschädigt werden können. Wir haben bisher von Beamten gesprochen, die also Hoheitsfunktionen ausüben. Ich frage mich bei diesem Zitat, wieweit Sie den Kreis der Überprüfungen überhaupt ziehen wollen. Es gibt ja auch dafür historische Parallelen. Bismarck forderte in einem Schreiben vom 15. August 1878 aus Bad Kissingen eine Ergänzung des Entwurfs des Sozialistengesetzes dahin, daß die „Beteiligung von Beamten an socialistischer Politik die Entlassung ohne Pension nach sich zieht".
Die Mehrzahl— schreibt Bismarck —der schlechtbezahlten Subalternbeamten in Berlin und dann der Bahnwärter, Weichensteller und ähnlicher Kategorien sind Socialisten, eine Thatsache, deren Gefährlichkeit bei Aufständen und Truppentransporten einleuchtet.Dies war eine Befürchtung, die sich in der geschichtlichen Wirklichkeit keinesfalls bewahrheitet hat,
weil die subalternen Beamten die Truppentransporte natürlich überhaupt nicht behindert haben, die höheren Beamten allerdings auch nicht.
An der Verpflichtung der Beamten zur Verfassungstreue muß festgehalten werden.
Trotzdem sind Differenzierungen möglich, und sie entsprechen auch der Verwaltungspraxis. Das weiß jeder, soweit es sich z. B. um Disziplinarverfahren handelt. Das ist aber auch bei der Einstellung der Fall gewesen. Ich habe hier schon wiederholt darauf hingewiesen, daß die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern bei Einstellungen in den mittleren Dienst und bei der entsprechenden Angestelltengruppe, also bis BAT V a, bis vor wenigen Jahren keinerlei Überprüfungen der Verfassungstreue vorgenommen, keine Regelanfrage durchgeführt haben, überhaupt nichts. Ich werfe das nicht vor, ich sage das anerkennend, weil es vernünftig war.
Ich hoffe also, daß wir bei einer länger dauernden Zusammenarbeit jedenfalls auch in diesem Punkt zu Lösungen kommen können, die vertretbar sind.Ich habe es in den vergangenen Jahren, Herr Kollege Miltner, immer wieder bedauert, daß Fragen
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Dr. Hirschder inneren Sicherheit zum Gegenstand häufig übertriebener Polemiken geworden sind, und zwar zu unser aller Schaden. Ich möchte die Chance ergreifen, zum Abbau dieser Konfrontation dort beizutragen, wo sie überflüssig ist. Ihre Formulierung „semper pro libertate" hat mir außerordentlich imponiert. Das ist in der Tat eine Formel, über die länger nachzudenken sich wirklich lohnen würde. Es wäre aber eine Täuschung, wenn dieses Angebot zur Zusammenarbeit als die Bereitschaft mißverstanden würde, liberale Grundpositionen aufzugeben und damit die Freiheitlichkeit unseres Staates zu beeinträchtigen. Die Bewahrung dieser Grundposition ist ein entscheidendes politisches Ziel der gesamten FDP-Fraktion und wird es bleiben.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier war zuerst ein Zwischenruf zu hören, der lautete: Zimmermann kneift. Das tut er nicht; die Absicht hat er auch nicht gehabt. Aber als jemand, der 25 Jahre in diesem Hause ist, weiß er, daß bei einer Regierungserklärung der Vorrang in der Debatte zunächst einmal den Parlamentariern gehört und nicht den Ministern, die die Regierungserklärung ja nur interpretieren können.
Das muß ich natürlich auch an die Adresse des Innenministers von Nordrhein-Westfalen richten.
— Nein, der qualitative Unterschied ist hier einfach zu groß.
Der bayerische Ministerpräsident hat das Haus und die Debatte von 12 bis 13 Uhr belebt, wie auch aus der Zuhörerzahl erkennbar war. Der Innenminister aus Nordrhein-Westfalen hat das Haus ein wenig eingeschläfert. Ich sage damit ja nichts Schlechtes.
Ich will als erstes dem Herrn Kollegen Hirsch für seine Ausgangsposition und Ansprache danken.
— Ich möchte im Moment keine Zwischenfragen beantworten.
— Eine so sanfte Bemerkung, wie ich sie jetzt gerade über die Rede eines Länderministers gemacht habe, werde ich doch noch machen dürfen. Zum Inhalt habe ich ja gar nichts gesagt. Die Art derDarstellung hat das ganze Haus geteilt. Das war sichtbar.
Ich möchte damit beginnen, daß mir Vorwürfe im Zusammenhang mit der Amtsübernahme gemacht worden sind. Ich habe meine beiden beamteten Staatssekretäre gebeten, im Amt zu bleiben. Sie haben das zugesagt.
Ich habe mich bei elf Abteilungsleitern — vergleichen Sie bitte die Vorgänge von 1969 — von drei Herren getrennt. Die Motive dazu waren unterschiedlich. Sie waren politischer oder arbeitstechnischer Natur. Ich habe alle diese Dinge in jeweils getrennten persönlichen Gesprächen erörtert. Darauf näher einzugehen würde den verabschiedeten Herren, von denen sich jeder seine Verdienste erworben hat, nicht gerecht werden. Ich möchte deswegen dazu nicht mehr sagen. Die Neubesetzungen bei den Abteilungsleitern und den Unterabteilungsleitern, die im Gange sind, erfolgen ausschließlich aus dem Hause selbst nach sachgerechten Kriterien. Was die bisherigen Mitarbeiter im Ministerbüro angeht, so ist es eine Selbstverständlichkeit, daß sie nicht bleiben konnten. Niemand hat das erwartet, weder die Herren noch ich. Es ist aber eine Falschmeldung, daß diese Mitarbeiter nicht rechtzeitig unterrichtet worden wären. Die Personalabteilung des BMI hat sie ohne mein Zutun rechtzeitig unterrichtet, bevor ich den ersten Schritt in das Haus tat. Es ist absolut falsch, daß ich eine leere Ministeretage vorfand. Es waren alle Büros besetzt und alle bei der Arbeit.
Die Umsetzungen erfolgten in den letzten 48 Stunden. Alles andere, Herr Kollege Liedtke, haben Sie falsch dargestellt.
Alles, was geschehen ist, ist im übrigen unter voller Beteiligung des Personalrats erfolgt. Der Personalrat hat eine außerordentlich positive Stellungnahme abgegeben.Lassen Sie mich zu einigen Sachpunkten, die in der Debatte eine Rolle gespielt haben, Stellung nehmen. Zunächst dies: Ich habe vor 24 Stunden ein Gutachten des Bundesinnenministeriums zur Neuwahlfrage an den Herrn Bundeskanzler und an den Herrn Bundespräsidenten übermittelt. Ich überlasse es dem Herrn Bundeskanzler, dem Hause dazu morgen — wenn er diese Absicht hat — noch etwas zu sagen oder dies nicht zu tun.
— Einen Moment! Auch dem Herrn Bundespräsidenten kann ich ja nicht vorgreifen. Ich habe dasGutachten in dienender Funktion erstellen lassen.
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Bundesminister Dr. ZimmermannDieses Gutachten soll zur Meinungsbildung der Personen beitragen, die gemäß den Art. 67, 68 oder 63 des Grundgesetzes handeln können. Der Bundesinnenminister gehört nicht dazu. Deswegen bitte ich um Verständnis, daß ich dieses Gutachten jetzt noch nicht öffentlich erörtern kann.
Es ist beklagt worden, daß in der Regierungserklärung zuwenig zur Innenpolitik stehe. Meine Damen und Herren, Sie haben gehört, wie sich der Bundeskanzler mit dem Koalitionspartner auf einen Neuwahltermin März 1983 festgelegt hat. Jeder kann sich ausrechnen, wieviel Zeit uns überhaupt zur Verfügung steht. Jetzt haben wir die Debatte über die Regierungserklärung, in wenigen Wochen wird die letzte Möglichkeit sein, den Haushalt 1983 auf den Weg zu bringen — und er kann schon rein technisch erst unmittelbar vor Weihnachten verabschiedet werden —, dann ist die Weihnachtspause. Danach kehrt das Parlament zurück, und dann — so habe ich gestern einmal scherzhaft gesagt — sind Karneval und Wahlkampf. Das ist die wirkliche Lage.Wer kann denn bei dieser Lage erwarten, daß neben den drängendsten Problemen, die diese Regierung und diese Koalition vor sich sehen, nun auch zu diesen Bereichen, wo kein Entscheidungsbedarf von heute auf morgen besteht, eine breite Palette angeboten wird.
Aber immerhin sind eine ganze Reihe von Grundsatzaussagen gemacht worden. Das ist z. B. die Erklärung: Wir wollen, daß Länder und Gemeinden wieder mehr zu ihrem Recht kommen. Und weiter:Die Aufgaben, die Länder und Gemeinden wirksamer als der Bund erfüllen können, sollten sie selbst wahrnehmen.An vier Stellen in der Regierungserklärung kommen die Gemeinden vor.
Abbau der Arbeitslosigkeit, Besserung der Finanzlage, hier haben wir im Zusammenhang mit der Ausländerfrage eine ganze Reihe von gemeinsamen Festlegungen verabschiedet und dargestellt. Es ist doch jedem in diesem Hause klar, daß die Zahl der Ausländer langfristig verringert werden muß. Wir haben einen besonders hohen, einen zu hohen Anteil an türkischer Bevölkerung bei uns. Von den Devisenabflüssen aus Ausländerbeschäftigung — 1981 gingen da 8,3 Milliarden DM ins Ausland — gehen 3,5 Milliarden DM allein in die Türkei. Dem alten türkischen Freund und Verbündeten muß deutlich gemacht werden, daß wir nicht mehr in der Lage sind, weitere Ausländer aufzunehmen.
Die ausländischen Regierungen können nicht ihre Arbeitslosen zu uns exportieren, um dafür erwünschte Devisen zu importieren. Das geht auf dieDauer nicht. Es muß hier natürlich — darüber gibt es keinen Zweifel — zu einem langfristigen Interessenausgleich kommen.Meine Damen und Herren, die erste Vorlage meines Amtsbereichs, die ich unterzeichnet habe, hat den Umweltschutz betroffen. Ich habe den Referentenentwurf zu den Großfeuerungsanlagen den Gemeinden und betroffenen Verbänden zur Stellungnahme zugeleitet und damit diese außerordentlich wichtige Verordnung als erste Amtshandlung auf den Weg gebracht.
Der erste von mir unterzeichnete Gesetzentwurf betraf die Kürzung des Amtsgehalts der Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre — nicht weil da Millionen DM gespart werden, sondern wegen der Signalwirkung auf den öffentlichen Dienst.
Auch die Lohnleitlinien im öffentlichen Dienst werden sich der Finanzlage anpassen müssen. Ich habe bei meiner Amtseinführung vor der Belegschaft des Innenministeriums gesagt, daß, wenn der Staat sparen müsse, der Staatsdiener dabei mit gutem Beispiel vorangehen müsse. Und dieser Einsicht wird sich — da bin ich sicher — der öffentliche Dienst bei einer Arbeitslosenzahl von über 2 Millionen nicht verschließen.Meine Damen und Herren, der Umweltschutz ist von großer Bedeutung. Ich werde ihm meine besondere Beachtung schenken.
Ich weiß, daß man dazu keine neuen Erkenntnisse braucht. Aber nachdem Sie bei mir alles vermuten, das Richtige und das Falsche, am liebsten auch noch umgekehrt, wollte ich dieses deutliche Bekenntnis vor Ihnen abgeben.
Man braucht keine Protestbewegung. Man muß sich nur das Maß der Industrialisierung und die Bevölkerungsdichte bei uns ansehen, dann weiß man, daß Umweltschutz und florierende Wirtschaft keine Gegensätze sind, sondern sich ergänzen.Die Bundesrepublik Deutschland hat schon bisher auf diesem Gebiet mehr getan als andere Staaten, vor allem als im Osten angrenzende Länder. Es reicht nicht aus, unsere Luft und unsere Gewässer von Schadstoffen freizuhalten, wenn von nebenan der ganze Dreck zu uns hereinfließt.Es gilt aber auch: Wenn die anderen Schornsteine rauchen, können wir bei uns keinen Knoten in den Kamin machen.Wir wissen, daß Umweltschutz nicht nur eine nationale, sondern eine internationale Aufgabe ist. Ich sage den Satz: Umweltschutz ist neben der Vermeidung kriegerischer Konflikte die wichtigste Aufgabe der Menschheit in den nächsten Jahren.
Ich bin mir dessen bewußt.
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Bundesminister Dr. ZimmermannAuch die Entsorgung wird in diesem Zusammenhang einen hohen Vorrang genießen.Es ist bemängelt worden, in der Regierungserklärung sei nichts zur Rolle des Sports gesagt worden. Bei mir braucht niemand Sorge zu haben, daß der Sport zu kurz kommt; denn ich war und bin ausübender Sportler — jawohl — und zwar in verschiedenen Sportarten. Ich war es seit meiner frühesten Jugend. Im übrigen bin ich ein Fan für alle denkbaren Sportarten. Der Sport wird bei Fritz Zimmermann also nicht zu kurz kommen.
Zur Medienpolitik hat der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen gemeint, man sollte noch einige Jahre abwarten, bis gewisse andere Kabel kämen. Da kam auf dieser Seite der Zuruf: Kupferlobby! Also, so billig wollen wir es uns doch nicht machen.
Wenn man weiß, daß die Bundespost allein im Jahr 1981 Investitionen von 13 Milliarden DM vorgenommen hat und der größte öffentliche Investor war, dann weiß man auch, was das bedeutet und welche Möglichkeiten hier der Bundespostminister hat. Es ist sowieso das einzige Ressort, das nicht neidvoll auf den Finanzminister schauen muß, mit ihm ringen muß, mit ihm feilschen muß, sondern seine im eigenen Bereich vorzunehmenden Investitionen dem Postverwaltungsrat in einer Art und Weise darstellen kann, auf die wir alle anderen nur neidisch sein können. Also auch hier muß die Schleuse natürlich sofort und nicht erst in einigen Jahren aufgemacht werden.Meine Damen und Herren, wer annehmen wollte, der Stellenwert der Innenpolitik sei wegen der Kürze, in der sie in der Regierungserklärung behandelt worden ist, nicht groß, irrt. Wenn der Innenminister eines großen Bundeslandes erklärt hat, in der Innen- und Rechtspolitik sei nichts veranlaßt, dann kann ich nur sagen: Daß diese Regierung und der Bundesminister des Innern nach den bestehenden Gesetzen handeln werden, ist wohl eine pure Selbstverständlichkeit; was sonst! Und neue Gesetze wollen wir alle miteinander hoffentlich nur da machen, wo wir sie unbedingt brauchen.
Sie werden also vom Bundesinnenminister keinen Aktionismus, keine Gesetzesinvasion erleben. Er wird nach den bestehenden Gesetzen handeln, wie es seine Pflicht ist.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Emmerlich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Rede des neuen Bundesministers des Innern habe ich mich an das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein erinnert. In diesem Märchen hatte der Wolf bekanntlich Kreide gefressen, um besser an die Geißlein herankommen zu können. Ich würde mich sehr freuen, Herr Bundesinnenminister, wenn wir heuteeinen neuen Dr. Friedrich Zimmermann erlebt und Sie nicht nur Kreide zu sich genommen haben.Allerdings, Herr Bundesinnenminister, Ihre durchaus moderate Rede am heutigen Tage läßt uns Ihr bisheriges Verhalten — ich sage ausdrücklich: Ihr bisheriges politisches Verhalten — nicht vergessen. Ich denke, das werden Sie uns nachsehen. Wir erinnern uns zu gut, welche Rolle gerade Sie bei der Verteidigerüberwachung und bei der Sicherungsverwahrung gespielt haben, und wir haben auch nicht vergessen, daß Sie zu denjenigen gehört haben, die den von uns hochverehrten deutschen Schriftsteller Böll in die Mitverantwortung für den Terrorismus gerückt haben. Unvergessen ist auch etwas, was ich in einem hohen Grade für unverantwortlich gehalten habe, nämlich daß Sie den Bundesinnenminister Baum, über dessen Politik Sie durchaus andere Auffassungen haben dürfen, als ein Sicherheitsrisiko bezeichnet — nein, hier muß ich sagen, Herr Bundesinnenminister: diffamiert — haben.
Ich muß auch eine Äußerung des neuen Bundesjustizministers in diesem Zusammenhang erwähnen. Dieser hat im Zusammenhang mit Ereignissen, die sich in der Parlamentarischen Kontrollkommission abgespielt haben, die Aussage gemacht: „Allmählich wird Zimmermann tatsächlich zu einem Sicherheitsrisiko."
Herr Bundesinnenminister, die Art und Weise, wie Sie, ohne auf den sachlichen Inhalt der Rede des Innenministers von Nordrhein-Westfalen einzugehen,
diese Rede und damit Ihren Kollegen charakerisiert haben, läßt, wenn Sie diese Art und diesen Stil fortsetzen wollen, im Umgang mit Ihren Innenministerkollegen für die Zukunft leider nichts Gutes erwarten.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben soeben in Ihrer Rede in Richtung auf den öffentlichen Dienst das Wort „Lohnleitlinien" verwandt. Ich bitte Sie zu bedenken, daß die Tarifautonomie ein hohes, ein schützenswertes, ein unverzichtbares Gut ist.
Man kann diesen Begriff, den Sie soeben verwandt haben, sicher unterschiedlich interpretieren. Ich will auch eine Interpretation dieses Begriffes, die Sie dem Bundestag und den deutschen Gewerkschaften sicher schuldig sind, keineswegs vorwegnehmen. Ich möchte Sie nur sehr herzlich bitten, im Interesse der Bewahrung des inneren Friedens und im Interesse der Mitarbeit der deutschen Gewerkschaften in unserem Staat nichts zu tun, was den
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7360 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. EmmerlichAnschein erweckt, Sie achteten die Tarifautonomie nicht so, wie Sie das tun müssen.Eine weitere Bemerkung, Herr Bundesinnenminister, muß ich zu Ihrer Aussage in einem Interview machen, in dem Sie sich für einen „positiven Verfassungsschutz" durch die Verfassungsschutzbehörden ausgesprochen haben. Dazu halte ich zwei Bemerkungen für erforderlich.Erstens. In den Gesetzen, die den Auftrag der Verfassungsschutzbehörden beschreiben und bestimmen, findet sich der Begriff „positiver Verfassungsschutz" nicht.Zweitens. Sie, Herr Bundesinnenminister, stammen ja aus dem Lande Bayern. — Ich würde gelegentlich auch ganz gern in Bayern wohnen dürfen. — Sie gehören der CSU an, die in Bayern für das, was ich jetzt anspreche, die politische Verantwortung trägt. In Bayern hat unter diesem Begriff mit Billigung der dafür politisch Verantwortlichen der oberste Staatsschützer Langemann folgendes betrieben: Er hat Nachrichten aller Art, die für die Erfüllung der Aufgaben des Verfassungsschutzes, die aber auch für ganz andere Dinge von Interesse sind, also mit dem Auftrag des Verfassungsschutzes überhaupt nichts zu tun hatten, gesammelt, und zwar nicht nur für staatliche Instanzen, denen er kraft Auftrages verpflichtet war, sondern auch für die CSU und für private Zwecke der Verantwortlichen der CSU.
Wenn Sie unter „positivem Verfassungsschutz" eine derartig skandalöse Ausweitung des Auftrages der Verfassungsschutzbehörden verstehen, dann — das kann ich Ihnen versichern — werden Sie auf unseren erbitterten Widerstand stoßen.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herr Bundesinnenminister, wenn Sie uns bei nächster Gelegenheit deutlich machen würden, was Sie im Gegensatz zu Ihren Parteifreunden in Bayern unter „positivem Verfassungsschutz" verstehen und wie Sie dafür zu sorgen gedenken, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht in derartige Machenschaften hineingezogen wird, wie das durch Ihre Partei in München mit Herrn Langemann geschehen ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte einige Bemerkungen zur Rechtspolitik machen. Die Vereinbarung der neuen Koalition und die Regierungserklärung enthalten bis auf die Passage über das Mietrecht keine Aussagen zur Rechtspolitik, nicht einmal zu bereits anhängigen wichtigen Gesetzentwürfen wie z. B. zum UWG, zum Maklerrecht, zum Urheberrecht, zur Wirtschaftskriminalität, zur Fortentwicklung des Versorgungsausgleichs, zur Neuordnung der Juristenausbildung, zum Ordnungswidrigkeitengesetz, zum Demonstrationsrecht und zur Bekämpfung des Neonazismus, auch nicht zu den jüngst in dierechtspolitische Debatte gelangten Vorschlägen zurEntlastung der Justiz, insbesondere der Strafjustiz.In der Geschichte der Regierungserklärungen der Bundesrepublik ist es ein einmaliger Vorgang, daß der Bundeskanzler bei der Darlegung seines Regierungsprogramms vor dem Deutschen Bundestag einen so wichtigen Kernbereich wie den der Rechtspolitik ausklammert, sich dazu verschweigt, obwohl er mit ebenso anspruchsvollen wie pompösen Formulierungen — „neuer Anfang", „geistig-politische Erneuerung" — den Regierungswechsel und die Art und Weise, wie er zustande gebracht worden ist, überschreibt und obwohl der neue Innenminister über das beschädigte Rechtsbewußtsein klagt. Daß ausgerechnet dieser Bundesinnenminister das Rechtsbewußtsein stärken, es wiederherstellen will, auch das gehört zum Kapitel Glaubwürdigkeit dieser Koalition der „Wende" und des „neuen Anfangs", der in Wahrheit ein schlimmer Rückfall sein wird.
In seiner Regierungserklärung, in der Übergangskanzler Kohl auch versucht hat, die Perspektiven seiner Politik darzustellen, sind für die Rechtspolitik lediglich drei Sätze abgefallen. Einer dieser Sätze, die Ankündigung enthaltend, den freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat ausbauen zu wollen, steht im Widerspruch zu seiner Politik, Opfer von der breiten Masse der Bevölkerung zu verlangen, die Reichen und Starken aber durch Steuererleichterungen und sonstige Maßnahmen noch reicher und noch stärker zu machen.
Der neue Bundeskanzler sieht als wichtigste Aufgabe unserer Rechtsordnung an, den inneren Frieden zu stiften. Gewiß, das muß die Rechtsordnung leisten. Die Rechtsordnung muß aber in gleicher Weise — ich meine sogar noch mehr — das Ziel der Gerechtigkeit verfolgen. Nur dann, wenn sich die Rechtsordnung an der Gerechtigkeit orientiert, kann sie zum inneren Frieden beitragen. Rechtsnormen, die die Gerechtigkeit außer acht lassen, haben keinen höheren Geltungsanspruch als die Verhaltensregeln einer Gangsterbande. „Fehlt einem Staat die Gerechtigkeit, was ist er dann anderes als eine große Räuberbande?" Diese Einsicht von Augustinus läßt Kanzler Kohl vermissen. Gesetze ohne Gerechtigkeit werden von den Bürgern, die sie zu erleiden haben, zu Recht als Herrschaftsinstrument einer Klassengesellschaft verstanden.Wie sehr die neue Regierung Grundsätze der Gerechtigkeit außer acht läßt, wird an den von ihr beabsichtigten Mietrechtsänderungen deutlich.
Durch diese werden die Mieter bei nicht ausreichendem Wohnungsangebot dem freien Spiel der Kräfte auf dem Wohnungsmarkt ausgesetzt.
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Dr. EmmerlichDie Ellbogengesellschaft feiert fröhliche Urständ. Auf der Strecke bleiben die Mieter und die soziale Gerechtigkeit.
Die geistig-politische Orientierung des neuen Bundeskanzlers besteht bei Licht besehen in einer platten Ideologie, die mit Harmoniefloskeln verbrämt und zukleistert, was konkret geschieht,
nämlich eine Politik der Umverteilung von unten nach oben, eine Politik, die die breiten besitzlosen Schichten des Volkes zur Kasse bittet und die Vermögen und Einkommen der ohnehin Besitzenden vermehrt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der neue Justizminister hat von Kontinuität der Rechtspolitik gesprochen. Das wäre bei realistischer Betrachtungsweise der Kräfteverhältnisse
doch nur dann möglich, wenn die CDU/CSU die Kontinuität ihrer rechtspolitischen Vorstellungen aufgäbe, wenn Minister Zimmermann vor Minister Engelhard, wenn die CSU vor der FDP zu Kreuze kröche. Darauf zu vertrauen, hieße bei einem Zusammenstoß zwischen Bulldozer und Goggomobil dem Goggomobil eine Chance einräumen.
Kollege Friedrich Hölscher sieht für das Goggomobil jedenfalls keine Chance. Er bezeichnet die neue Regierung als Abbruchunternehmen liberaler Politik.Bezeichnend für die wahren Stärkeverhältnisse ist, daß dem FDP-Justizminister — als Aufpasser, Herr Minister — Professor Hans Hugo Klein von der CDU als Parlamentarischer Staatssekretär beigeordnet ist; ein Mann, der in den rechtspolitischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre keinen Zweifel daran hat aufkommen lassen, daß er sich im Lager von Law and Order befindet.
Bezeichnend ist auch, daß der neue Justizminister trotz seines Redens von Kontinuität für den bisherigen Staatssekretär Günter Erkel keine Verwendung hat. Bezeichnend ist auch, daß der neue Parlamentarische Staatssekretär in Abwesenheit des Justizministers im Bundesjustizministerium personelle Umsetzungen angekündigt hat.Warum, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird die Rechtspolitik ausgeklammert? Weil es vom politischen Inhalt her keine Gemeinsamkeit zwischen Herrn Engelhard und Herrn Zimmermann, zwischen Herrn Kleinert und Herrn Spranger gibt.Die Regierung Genscher/Kohl hatte zwar für den Wechsel eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Diese Mehrheit fehlt ihr aber für wichtige Politikbereiche wie z. B. die Rechts- und die Innenpolitik.
Der Wechsel wurde quergeschrieben. Er ist aber nicht gedeckt. Politische Wechselreiterei, das ist es, was vom Genschern übrigbleibt und was der neue Bundeskanzler sich ohne Not hat ankleben lassen.Das Schweigen zur Rechtspolitik zeugt von mangelnder Verantwortung der neuen Regierung. In unserer problemüberladenen Zeit steht auch die Rechtspolitik vor besonderen Herausforderungen. Die ökonomische Krise hat unausweichlich eine Verschärfung des Verteilungskampfes und der sozialen Spannungen zur Folge. Die Starken versuchen, die Lasten der Krise auf die Schwachen abzuladen. Die neue Rechtskoalition hilft den Starken, statt die Schwachen zu schützen. Sie verspricht und verschafft ihnen Steuervorteile, und den Schwachen fordert sie Opfer ab: Gerechtigkeit nach Gutsherrenart.
Wo bleibt da der Justizminister, der dem Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes treu ist und für soziale Gerechtigkeit eintritt?Statt dessen wird er ein neues Mietrecht präsentieren, das massive Mieterhöhungen zur Folge haben wird, das eine Einkommensverlagerung von den Mietern auf die Vermieter in Höhe von vielen Milliarden DM jährlich bringt, ein Mietrecht, das sozial schwache Mieter zu Abertausenden aus ihren Wohnungen vertreiben wird. Er wird sich mit der Behauptung rechtfertigen, diese jährlichen Einkommensverschiebungen von den Mietern auf die Vermieter würden den Wohnungsbau ankurbeln und Arbeit schaffen.
Alles Schall und Rauch. Von diesen leistungslosen Gewinnen wird so gut wie nichts in den Wohnungsbau und nichts Nennenswertes in beschäftigungswirksame sonstige Investitionen fließen.
Was bleibt, ist eine Politik der Vermögensverteilung von unten nach oben, eine Politik zugunsten solcher Interessengruppen, denen die Rechtskoalition politisch verbunden und verpflichtet ist,
eine Politik, mit der als Anerkennung für bewiesene und in Erwartung zukünftiger Treue solche Verpflichtungen auf Kosten der Mieter eingelöst werden.Der sich verschärfende Verteilungskampf von unten nach oben,
den die neue Koalition des sozialen Rückschrittsschürt und anheizt, statt ihn zu bekämpfen, wird diesozialen und politischen Spannungen erhöhen. Auf-
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7362 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. Emmerlichgabe der Rechtspolitik wäre es, dafür zu sorgen, daß die persönlichen und die politischen Freiheitsrechte der Bürger in einer solchen Lage nicht eingeschränkt, sondern verteidigt und gefestigt werden und daß die Politik auf soziale und politische Spannungen nicht nach dem bayerischen Modell von Nürnberg mit Dreinschlagen und Massenverhaftungen reagiert. Wo ist der Justizminister, der uns und unserem Volk die Gewähr dafür bietet, daß der Bundesinnenminister, der der Partei angehört, die für Nürnberg die politische Verantwortung trägt, das Modell Nürnberg nicht auf die gesamte Bundesrepublik überträgt.
Wo ist der Justizminister, der unmißverständlich vor dem Deutschen Bundestag klarmacht, daß mit ihm eine Einschränkung des Demonstrationsrechtes, die der Bundesinnenminister noch Anfang dieser Woche als richtig bezeichnet hat, nicht möglich ist? Wo ist der Justizminister, der einer Ausrüstung der Polizei mit Waffen, die keine Polizeiwaffen sind, eindeutig und mit Entschiedenheit entgegentritt?
Wo ist der Justizminister, der wie Kollege Baum den Datenschutz auch bei den Sicherheitsbehörden durchsetzt, der zu den Forderungen nach uneingeschränktem Zugang der Sicherheitsbehörden zu allen Dateien, nach uneingeschränktem Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden ein eindeutiges Nein sagt und der schließlich die Rechte des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gegen den Bundesinnenminister und gegen die CDU/CSU ohne Wenn und Aber verteidigt? Wo ist schließlich der Bundesjustizminister, der unserem Volk die Gewißheit gibt, daß unsere freiheitliche und soziale Demokratie, daß unsere innere Liberalität trotz des Bundesinnenministers Zimmermann und seines Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger keinen Schaden nimmt?
Dieser von uns gewünschte Bundesjustizminister ist in der Regierungserklärung und in der Debatte über die Regierungserklärung — bis jetzt jedenfalls — nicht hervorgetreten.
Wenn wir in Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesminister der Justiz, einen solchen Justizminister, wie er in dieser Lage erforderlich ist, erkennen, dann werden Sie unsere Unterstützung haben,
dann wird die SPD auf Ihrer Seite sein, dann können Sie mit uns bei Ihrer Auseinandersetzung mitder CDU/CSU und mit Herrn Zimmermann, die unausweichlich ist, rechnen. — Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Herr Emmerlich — ich glaube, ich darf das immer noch so sagen, denn ich halte es für ein wesentliches Ergebnis, wenn es, wie lange auch immer, eine Regierungsfraktion geben sollte, aus der sehr gute und weiterhin tragfähige Beziehungen in die Oppositionsfraktion hineinwirken —, das Suchspiel wird sich dadurch erledigen, daß der Ihnen bekannte Herr Engelhard demnächst als Bundesjustizminister Ihre Fragen in der gewünschten und übrigens Ihnen in der Grundrichtung seit langem bekannten Klarheit beantworten wird.
— Das ist sicher so.
Sie vermissen hier Kontinuität. Daß das Papier für die Koalition, die auf vielfältiges Drängen nicht zuletzt der Sozialdemokratischen Partei sich selbst außer der Frist für die Verabschiedung des dringend benötigten Haushalts und die dazugehörigen Gesetze nur eine ganz kurze Zeit gegeben hat, um sich dem Wähler zu stellen, zur Rechtspolitik nichts enthält, ist ein Zeichen von Kontinuität.
Das Interessanteste an der Sache ist das, was Herr Franz Josef Strauß gesagt hat. Man braucht in so aufgeregten Zeiten manchmal Helfer, woher sie auch immer kommen — ich verstehe Ihren Blick, Herr Wehner. Man kann sich da manchmal auch auf Herrn Strauß beziehen. Er hat gesagt: die Unterhändler der Freien Demokratischen Partei haben mit dem Abbruch der Koalitionsgespräche für den Fall gedroht, daß die Union darauf besteht, Einzelheiten zu rechtspolitischen Veränderungen in dieses Programm hineinzuschreiben. Ich habe dem eigentlich nichts hinzuzufügen.
Herr Emmerlich, ich muß Ihnen etwas sagen, das intellektuell nicht ganz einfach, aber wie ich glaube, dennoch sehr klar ist: Von dem, was in 13 Jahren sozialdemokratischer und freidemokratischer Zusammenarbeit im Bereich der Rechtspolitik geleistet worden ist, vergessen wir gar nichts.
Wir vergessen auch nicht — darauf sind wir, wie ich glaube zu Recht, stolz —, welche Auseinandersetzungen wir mit den Herren von der CDU/CSU in diesen Jahren gehabt haben.
Ich habe mir vorhin eine Liste durchgesehen undfestgestellt, was wir alles verabschiedet haben. HerrKohl, der jetzige Bundeskanzler — damals noch
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7363
KleinertFraktionsführer —, hat mich neulich hier gefragt, wie ich denn zu dem Problem der Kontinuität der Rechtspolitik im Verhältnis der Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Freien Demokraten einerseits und zu den Christdemokraten andererseits stünde. Da habe ich von dieser Stelle aus die Gelegenheit genommen zu sagen: Es hat einige Dinge in der Vergangenheit gegeben, die haben wir mit den Christdemokraten, wie wir hoffen, sehr zum Wohle des Landes gemeinsam getan. Das habe ich alles längst vor den Ereignissen gesagt, die kürzlich hier stattgefunden haben und die die Gemüter so erregen. Da gab es eine Fülle von Dingen, die hätten Liberale mit Christdemokraten aus respektablen Gründen des gegenseitigen Selbstverständnisses nicht machen können. Wir hätten kein neues Eherecht —
bei allen Mängeln, die da noch sind — ohne die Koalition, ohne die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten machen können. Ich will an die aus meiner Sicht — im krassen Gegensatz zu der von mir respektierten Sicht einiger Mitglieder der christdemokratischen Union — eher spaßhaft anzusehenden Auseinandersetzungen über das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz erinnern. Das klingt sehr abstrakt; ich sage Ihnen, was das ist: Es betrifft nämlich Sexualstraftaten. Was wir in dem Zusammenhang hier erlebt haben und was wir hier gehört haben, wissen einige der Beteiligten noch. Warum soll ich denn das vergessen? Ich weiß doch, mit wem wir gestritten haben und gegen wen wir gestritten haben.
Aber nun kommt das die Kontinuität Betreffende, Herr Emmerlich. Es gibt nun wiederum einige Dinge, die wir vermutlich mit der CDU/CSU-Fraktion etwas besser, weil einfach praxisbezogener, durchführen können. Das gilt für den Bereich der Rechtspolitik, soweit es die wirtschaftlichen Belange unseres Landes angeht, weil es dafür manchmal an einem gewissen Verständnis bei Ihnen fehlt — leider.
Wir haben uns immer fair darüber unterhalten. Wir haben saubere Kompromisse gemacht und durchgezogen. Aber leicht ist es ja nun in diesem Bereich jedenfalls nicht gewesen.Herr Emmerlich, die Rechtspolitik ist kein Boden für einen neuen Klassenkampf. Es mag draußen sehr nützlich sein, Klassenkampfgedanken ins Gespräch zu bringen. Der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen sozialen Interessen ist zu suchen in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik, auch — und das halte ich für sehr wesentlich — in der Bildungspolitik. Die Rechtspolitik soll den festen und verläßlichen Boden für alle ohne irgendeinenHauch von Klassenkampf darstellen. Das ist ganz wichtig.
Weil das alles so ist — es ist mir jetzt in dieser Stunde nicht möglich, auf die imponierende Reihe der von uns gemeinsam verabschiedeten Gesetze einen auch nur einigermaßen vollständigen Rückblick zu halten —, heißt Kontinuität, daß die Liberalen allerdings Veränderungen an dem nicht zulassen werden, was mit Ihnen besser als mit der CDU zu erreichen war, daß wir aber das, was mit Ihnen — wiederum aus sehr respektablen Gründen — nicht möglich war, dann in dieser Koalition versuchen werden zu verwirklichen.
— Ja, das glaube ich. Sehen Sie sich die Ungetüme an, die in Ihren Reihen gepflegt werden, wenn man glaubt, Verbraucher schützen zu können durch eine Wahnsinnszahl von Zusatzbestimmungen, die Bürokratie schaffen, aber nicht Verbraucher schützen. Das verstehe ich vom Denkansatz her nicht.
— Mein lieber Hans, wir haben große Probleme in dem Bereich gehabt. Das Reiseveranstaltervertragsgesetz — Du nennst es gerade — war ursprünglich ein ganz schön dicker Packen; und was Dir und dem Koalitionspartner zuliebe davon übriggeblieben ist, ist verhältnismäßig unschädlich für den Gang der einschlägigen Unternehmungen.
Ich erwähne das nur, weil Du gerade getan hast, als ob da nichts gewesen wäre. Ich weiß, wovon ich spreche — zufällig! —
Wir sollten hier nicht einseitig werden. Das ist mir eigentlich das Wichtigste an der ganzen Auseinandersetzung. Ich will hier nicht die Schärfen hineinbringen, die Größeren vorbehalten sind, wenn frühere und jetzige Bundeskanzler und Minister und all diese Potentaten sich streiten.
Das muß j a wohl auch härter zugehen.Aber wir haben in der Rechtspolitik doch noch mehr als in anderen Bereichen das allermeiste gemeinsam durch alle Fraktionen verabschiedet, nach sehr sachlichen, sehr verständigen Diskussionen, bei denen gelegentlich sogar dem enormen Sachverstand des Ministeriums von Abgeordnetenseite, welcher Fraktion auch immer, noch einiges Nützliche, vielleicht auch Praxisbezogene — das ist unsere Aufgabe — hinzugefügt worden ist.Und weil das so ist, brauchen wir doch gar keine Angst davor zu haben, daß es hier an Kontinuität fehlt, zumal wenn die gleiche Gesinnung wie in der Vergangenheit uns auch in Zukunft verbindet, nämlich daß wir als Abgeordnete in erster Linie der Sache und keinesfalls, in welcher Koalition auch
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KleinertI immer, dem jeweiligen Ministerium oder der Bundesregierung verpflichtet sind.
Eine Fraktion ist nicht Schutztruppe der Bundesregierung. Das ist eine Weisheit, die ich im übrigen, Herr Emmerlich, Ihrem Vorgänger im Amt, Martin Hirsch, verdanke, als ich ihn mal besonders erregt anrief, um mich über etwas zu beschweren, was aus dem Bundesjustizministerium auf uns zudrang. Wir haben uns daran einigermaßen gehalten. Wir werden uns auch in Zukunft daran halten.Und weil das meiste gemeinsam verabschiedet worden ist, besteht überhaupt keine Veranlassung, ich würde sogar sagen, besteht praktisch gar keine Möglichkeit, zu behaupten, daß es hier an Kontinuität fehlt.Und das mit der Ellbogengesellschaft lassen Sie sich von den Sozialpolitikern erläutern, die Leute vertreten, die mit Ellbogen an Töpfe sich ganz energisch ranmachen, in die sie nie etwas eingezahlt haben; es gibt auch andere, die dagegen sind und versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen. Das machen Sie mit Leuten aus, die meinen, es wäre nützlich — das betrifft wiederum alle Fraktionen des Hauses — wie z. B. beim Krankenhausfinanzierungsgesetz den, der zahlt, von dem, der anschafft, zu trennen — mit der Folge einer Kostenexplosion, die Ihnen der kleinste Handwerksmeister im Land hätte vorhersagen können, wenn ihn einer von uns vorher gefragt hätte. Wir alle haben dieses Krankenhausfinanzierungsgesetz gemacht. Auch die Opposition der früheren Zeit, unser heutiger Koalitionspartner, war ja bei diesen Veranstaltungen anwesend.
Haben Sie deshalb keine Sorge um Kontinuität, sondern höchstens Sorge, daß uns der klare Blick dafür verlorengeht, daß wir als Parlament nicht Schutztruppe der Regierung, sondern Abgeordnete sind, die dafür sorgen sollen, daß das, was von da kommt, möglichst oft ohne Unterschied zwischen den Fraktionen sorgfältig im Hinblick auf das kontrolliert wird, was unsere hoffentlich in den meisten Fällen vorhandene Praxisbezogenheit uns gegenüber einem ganz anders gearteten — aber deshalb nicht gering zu achtenden — Sachverstand eingibt.Wir haben hier große Debatten in der Rechtspolitik gehabt. Ich erinnere an die Frage der Verjährung für Mord. Die Front ist durch alle Fraktionen gegangen; niemand hat einem anderen bestritten, daß er sich ganz gründliche Gedanken gemacht und sein Gewissen erforscht habe. Wir haben keine Veranlassung, von diesem Weg in den wichtigsten rechtspolitischen Fragen abzuweichen und uns in Zukunft anders als in der Vergangenheit zu verhalten.Ich kann beim besten Willen nicht alles, was zu sagen mir jetzt dringlich erschiene, hier anbringen, ohne Sie zu sehr zu strapazieren. Ich möchte nur noch zum Schluß sagen, daß ich eine Zeitlang behauptet habe, ich sei der Erfinder einer Idee — —
Herr Abgeordneter, lassen Sie, ehe Sie zum Schluß kommen, noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude zu?
Ich bitte darum.
Herr Abgeordneter Dr. Schmude!
Herr Kollege Kleinert, ich will ja gern meine weiterhin bestehenden Sorgen bezüglich der Kontinuität in der Rechtspolitik zurückstellen, aber könnten Sie mir dabei vielleicht helfen, indem Sie nun wenigstens einmal das eine oder das andere aus unserer gemeinsamen Arbeit, das Sie nun fortsetzen wollen, erwähnen? Bisher habe ich bei Ihnen nicht verstanden, wo es langgehen wird.
Herr Kollege Schmude, ich glaube, es ist einfach nicht die Zeit dafür vorhanden, einzelne Punkte herauszugreifen, ohne daß man dabei in die Gefahr gerät, daß gesagt wird: Dies hat er gesagt, jenes hat er nicht gesagt, also wollen die das überhaupt nicht mehr.
Dann z. B., wenn Sie ein so interessantes Vorhaben wie das Verbot der Verherrlichung des Nationalsozialismus — womit nur einmal die Richtung angedeutet sei — meinen, sage ich Ihnen, wir werden uns sehr dafür einsetzen, daß das, was Sie da verdienstvollerweise auf den Weg gebracht haben, auch verwirklicht wird,
daß also derartige Dinge durch eine gesetzliche Regelung ausgeschlossen werden.
Herr Schmude, wir haben hier auch einmal eine Situation gehabt, in der die Fraktion der Freien Demokraten — wie so oft: wenn es wenige sind, reden sie länger; dadurch gleichen sie alles irgendwie aus — als letzte hier herunterkam, weil wir noch einen Zusatzwunsch zum Kontaktsperregesetz hatten, das damals sehr schnell und notwendigerweise beschlossen werden mußte. Wir hatten den Wunsch, daß eine Verteidigerpersönlichkeit, an deren Integrität kein Zweifel besteht, Zugang zum Inhaftierten auch während der Kontaktsperre bekommt. Die Fraktionen der SPD und der CDU/CSU konnten diesem unserem Wunsch seinerzeit nicht entsprechen. Wir bleiben bei diesem Wunsch, wie wir ihn Ihnen gegenüber geäußert haben.
— Nun j a, zwei Jahre haben wir j a gehabt. Also gut: Wir haben den Wunsch nie aufgegeben, und wir geben ihn auch jetzt nicht auf.
Es wäre interessant zu sehen, ob wir vielleicht insofern mit dem neuen Koalitionspartner Ihre sämtli-
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Kleinertchen Beunruhigungen besonders wirksam dadurch widerlegen können, daß es nun schneller geht, als es vorher gegangen ist. Das wäre ja eine Möglichkeit! — Das waren nur einige Punkte, an denen wir festhalten.Zum engeren innenpolitischen Bereich hat Burkhard Hirsch vorhin — wie ich meine, ganz eindeutig — gesagt, was Sache ist.
Es ist nun einmal so, daß ein Koalitionspartner sehr gut daran tut, sich einen — wenn auch noch so kleinen — weiteren zu suchen, der nach Archimedes der feste Punkt außerhalb ist, von dem aus man auch ein bedeutendes größeres Objekt wie z. B. die Erde aus den Angeln heben könnte,
wenn sich der Koalitionspartner dieser physikalischen Institution geschickt genug bedient. Dies ist eine sehr interessante Bemerkung von Herrn Archimedes, den ich hier zitiere.
Nun möchte ich doch auf folgendes zurückkommen. Ich habe eine Weile fälschlich geglaubt, ich sei der Erfinder der Regel, nach der Regelungsbedürfnisse desto größer werden, je mehr man ihnen nachgibt, weil der dadurch bestimmte Kreis des Geregelten wegen seines größer werdenden Umfangs immer mehr neue Probleme aufwirft. Auf Grund dieser — wie ich glaubte, von mir entwickelten — Theorie habe ich gesagt, es ist ein Irrglaube, daß man Gesetze immer perfekter und immer stärker ins Detail gehend werden lassen muß. Es wird dadurch nur neuer Regelungsbedarf oder neuer Entscheidungsbedarf bei den Gerichten entstehen. Ich halte das für eine sehr bedenkenswerte Theorie.Inzwischen habe ich festgestellt, das Ding ist ca. 300 Jahre alt. Es stammt von Blaise Pascal, einem bekannten Physiker, der allerdings nicht den Kreis, sondern die Kugel erwähnt hat. Das läuft, wie jeder leicht einsieht, geometrisch auf das gleiche hinaus, ist nur mit irgendeiner Zahl zu multiplizieren.
— Judex non calculat. —
Der hat also von der Kugel gesprochen, die um so mehr Berührungen mit dem Unbekannten hat, je größer sie wird. Hüten wir uns davor, zu glauben, durch weiteren Gesetzesperfektionismus kriegten wir endlich Ruhe, während wir dadurch nach den beiden, Kleinertschen und Pascalschen, Theorien
nur weiteren Regelungsbedarf bekommen. In diesem Sinne wollen wir hier arbeiten.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Erhard .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist auch heute — wie schon so oft — einiges an Heiterkeit in unserem Hause,
wenn der Kollege Kleinert frei bzw. abweichend von eventuell vorhandenen Manuskripten hier spricht. Ich möchte ihm dafür ausdrücklich danken.
Ich weiß auch, daß es hochinteressant ist, in bestimmte Zeiten des Altertums oder in neuere Zeiten zurückzugehen, von Archimedes etwas zu lernen. Wir hier haben es mit drei Fraktionen zu tun. Ich glaube, verehrter Herr Kollege Kleinert, da könnte man einiges bei Pythagoras lernen.Wir haben aber heute nicht die Aufgabe, das, was wir im Mathematikunterricht früher vielleicht einmal gelernt und behalten haben, in der Rechtspolitik zum Beispiel der Rechtssetzung zu machen, sondern vielleicht den Versuch zu unternehmen, in den nächsten sechs Monaten das, was in diesen beabsichtigt ist, näher zu untersuchen.Es liegt auf dem Arbeitstisch von uns allen ein wichtiges Problem, nämlich für alte Leute nach Scheidung das Unrecht zu beseitigen, daß nämlich die öffentliche Hand kassiert und die Alten das Geld aus ihren Alterssicherungen eben nicht haben, weil die öffentliche Hand es eingesteckt hat oder morgen nach der Scheidung einsteckt. Das ist zu beseitigen.Da hat die hochverehrte Koalition von SPD und FDP, die wir jetzt ja nicht mehr haben, im Dezember 1980, kurz nach der Wahl, einen Regierungsentwurf vorgelegt, der bis heute zu keinem Zeitpunkt ernsthaft beraten worden ist. Sie hat aus der Dreiseitigkeit unseres Parlaments ein einseitiges Element gemacht, nämlich versucht, die zweitgrößte Seite des Dreiecks abzukoppeln, im eigenen Saft eine Lösung zu bringen und dann nachher die FDP, die kleinere Seite, zu veranlassen, noch die Unterschrift unter dieses dicke Papier zu setzen, ohne das, was von der Regierung — das ist auch eine Koalitionsregierung gewesen — unter Führung der SPD und des Herrn Bundesjustizministers — Vogel hieß er damals — vorgelegt worden ist, auch nur irgendwie zu erledigen. Das Problem steht an.Wir wissen gleichzeitig, daß wir bis zum Jahre 1984 — sagen wir: 1985 — eine generelle Rentenreform hinsichtlich der Witwen- und Witwerrechte durchführen müssen und durchführen werden. Auch das wird zwangsläufig eine Veränderung in dem, was wir Versorgungsausgleich nennen, bewirken. Wir müssen, solange dieses Parlament noch besteht — ich gehe davon aus, daß es am 6. März neu gewählt wird, also Anfang April des nächsten Jahres endgültig nicht mehr besteht —, für die alten Menschen unbedingt eine Regelung schaffen, wie das Bundesverfassungsgericht sie uns schon im Februar 1980 aufgetragen hat. Das ist das erste und Wichtigste, was in der Rechtspolitik geschehen muß, wenn Einzelfallgerechtigkeit überhaupt wirk-
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lich ernsthaft gewollt wird. Wir wollen diese Einzelfallgerechtigkeit.Wenn wir gleichzeitig das heiße Problem der hohen Zahlungsverpflichtungen derer, die Anwartschaften außerhalb der Sozialversicherung erworben haben und geschieden worden sind, lösen können, so sollten wir auch das tun. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen — wem auch immer hier im Bundestag — nur sagen: Sie sollten in ihren Fraktionen jeweils darauf hinwirken, daß die hohen Verpflichtungen, die ihnen auferlegt worden sind oder deren Erfüllung ausgesetzt worden ist, möglichst bald zu einer Episode in der Geschichte der Rechtsetzung werden. Diejenigen, die dies angeht, wissen, wovon ich spreche.Herr Kollege Kleinert, Sie sagten eben im Blick auf die Regelung des Eherechts, so, wie es sei, hätten Sie es nur zusammen mit der SPD machen können.
Das, was notwendigerweise korrigiert werden muß, werden Sie jetzt mit uns korrigieren. Davon bin ich fest überzeugt. Daß es in diesem Bereich eine ganze Reihe von Unebenheiten gibt, hat sich mehr als deutlich herausgestellt.Daß keine gewichtigeren oder eigentlich überhaupt kaum rechtspolitische Aussagen in der Koalitionsvereinbarung und auch in der Regierungserklärung enthalten sind, hat den Grund, den Herr Kollege Kleinert hier ausdrücklich und deutlich genannt hat. Dem habe ich eigentlich auch kaum etwas hinzuzufügen. Was soll denn in diesen drei, vier Monaten rechtsetzend eigentlich noch neu und verändernd begonnen werden? Wir wissen j a, wie schwierig es ist, ein Gesetz einzubringen und zu verabschieden, zumal dann, wenn es auch wirklich etwas bewirken soll. Dies wäre also reine Augenwischerei. Da wir solches nicht wollen — in der Rechtspolitik schon gar nicht —, kann ich der Regierung nur dankbar sagen: Ich bin froh, daß die Bescheidenheit auf diesem Gebiet das einzige ist, was wahrhaftig ist.
Herr Emmerlich, Sie haben gesagt, Gerechtigkeit müsse natürlich das Oberste sein, was die Rechtspolitik anstrebt. Darin bin ich mit Ihnen einig. Ich hätte mich allerdings gefreut, wenn die sozialdemokratische Fraktion — auch durch Sie höchstpersönlich — dieses Postulat in der Vergangenheit auch hier vertreten hätte. Ich habe Ihnen in früheren Debatten vorgehalten, daß Ihr Minister der Justiz mehrfach erklärt und geschrieben hat, daß die evolutionäre Gesellschaftsveränderung das Ziel Ihrer rechtspolitischen Aktivitäten gewesen ist. Als ich Ihnen das in der großen rechtspolitischen Debatte im vorigen Jahr vorgehalten habe, Herr Emmerlich, haben Sie gemeint, Sie meinten soziale Gerechtigkeit.
Die soziale Gerechtigkeit wird uns nicht unterscheiden. Das ist — mit einem deutschen Wort benannt— die Verteilungsgerechtigkeit. Was wir brauchen, ist auch die Gerechtigkeit für den einzelnen.
— Ich komme sofort darauf. Diese Gerechtigkeit für den einzelnen haben Sie nach Ihrem Belieben unter ideologischen Gesichtspunkten auf die Seite geschoben. Ich will hier nicht alles im einzelnen wiederholen, was ich dazu früher schon gesagt habe.
Das, was im rechtspolitischen Bereich ebenfalls notwendigerweise erreicht werden muß, ist die Veränderung eines Teils des Mietrechts. Mietrecht kann nur dann ein Recht sein, das man zu Recht als Recht bezeichnet, wenn es einen Ausgleich zwischen den Interessen von Eigentümer und Nutzer, von Eigentümer und Mieter darstellt. Der Schutz beider ist notwendig. Manchmal muß auch der Eigentümer gegen den Mieter geschützt sein.
Wenn dieser Schutz der beiden nicht ausgewogen ist, entsteht sehr schnell die Gefahr, daß Wohnraum unwirtschaftlich wird. Wenn aber Unwirtschaftlichkeit entsteht — und das sollten Sozialdemokraten an der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg studieren —, dann entsteht Wohnungsmangel und beim Bestand Wohnungsverfall.
— Beides aber, Herr Kollege Emmerlich, schadet dem Mieter von heute, der den Bestand benutzt, und es schadet dem, der heute vergeblich Wohnung sucht.
Sie dürfen nicht nur die beati possidentes, die glücklichen Besitzer, im Auge haben, sondern müssen auch die berücksichtigen, die besitzen sollen, nämlich diejenigen, die heute Mietwohnungen suchen oder morgen Mietwohnungen suchen, aber keine finden können.
Die Bundesregierung ist auf dem richtigen Weg. Ich kann nur sagen: Sie wird mit dem, was sie vorgeschlagen hat, nach unserer Überzeugung die Ansätze, teilweise mehr als die Ansätze, der sozialistischen Strangulierungspolitik beenden und wieder zu Gerechtigkeit im Einzelfall den Weg öffnen.
— Herr Emmerlich, es steht Ihnen schlecht an, wenn auch Sie hier von der Ellenbogengesell-
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schaft sprechen und uns in eine Ecke rücken wollen, in der wir nicht stehen, so daß wir uns auch gar nicht zu verteidigen brauchen. Das ist eine so offenkundige verleumderische Akzentuierung, daß es sich nicht lohnt, darauf auch nur mit einem einzigen Wort näher einzugehen.
Herr Abgeordneter, Herr Abgeordneter Dr. Schmude möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Bitte sehr, Herr Kollege Schmude.
Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Schmude.
Herr Kollege Erhard, nun würde mich aber doch interessieren, ob Sie mit dem Begriff der sozialistischen Strangulierungspolitik etwa jenes soziale Mietrecht meinen, daß wir zu Beginn der 70er Jahre hier gemeinsam verabschiedet haben und in das Sie jetzt tief hineinschneiden wollen.
Verehrter Herr Schmude, es gibt ein Bündel von Vorschriften, die das Mietrecht und den Wohnungsbau betreffen. Hier kann man nicht an einer Stelle sagen: „Wenn das ist, dann ist alles kaputt" oder: „Wenn es so wird, dann ist nicht alles kaputt". Das weiß auch ich.
In diesem großen Bündel haben Sie eine Politik entwickelt, die sich an den Zahlen für den Wohnungsbau und an der Wohnungsnot de facto ablesen läßt.
Wir haben einen Wohnungsbau, der auf ein Niveau wie in der Zeit vor der Währungsreform zurückgegangen ist, und einen Bedarf an Wohnungen, der nicht gedeckt werden kann. Genau das ist es, was man sehen kann. — Und wenn man nicht angesichts dessen, was man mit seiner Politik erreicht hat, bereit ist, Konsequenzen zu ziehen, Korrekturen vorzunehmen, dann hängt man auf ideologischen Schienen fest. Ich hoffe, daß auch Sie da noch runter kommen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude, Herr Abgeordneter?
Ja, bitte.
Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Schmude.
Eine letzte Zwischenfrage: Also das Mietrecht meinen Sie nicht mit Ihrem Vorwurf der sozialistischen Strangulierungspolitik?
Ich meine damit auch Teile des Mietrechts.
Wenn es ein Mieter fertigbringen kann, einen Vermieter so weit zu bringen, daß sein Häuschen versteigert wird, daß er Sozialhilfe beanspruchen muß, weil ihm die Mieteinnahmen vorenthalten werden — das ist leider vor allen Dingen bei alten Frauen, die vermieten, zu beobachten —, dann, kann ich nur sagen, ist dieses Mietrecht Unrecht. Das ist dann kein Recht!
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gnädinger zu?
Herr Gnädinger, selbstverständlich.
Herr Abgeordneter Gnädinger.
Herr Erhard, können Sie sich erklären, wie es kommt, daß nach Verabschiedung des Mietrechts die Zahlen im Wohnungsbau zunächst zugenommen haben und erst nach einigen Jahren zurückgegangen sind, und wie erklären Sie, daß wir in vergleichbaren Ländern einen ähnlichen Rückgang des Wohnungsbaus haben, obwohl in diesen Ländern erstens keine Veränderungen des Mietrechts stattgefunden haben und sie zum zweiten ein Mietrecht haben, das mit unserem gar nicht vergleichbar ist?
Herr Kollege, wenn Sie irgendwelche Zahlen von irgendwelchen Ländern, ohne sie genau zu nennen, ohne die genauen Bedingungen zu nennen, als Gegenbeweis für das, was ich gesagt habe, vorführen wollen, kann ich nur sagen: Das ist kein diskutabler Gegenstand. Da muß man konkret sagen, wo was anders gewesen ist und was die Folgen waren.
Bei uns können wir die Folgen ablesen. Wir haben immer auf dem Standpunkt gestanden, daß dieses Mietrecht einen Teil unausgewogenen Rechts darstellt. Das wissen Sie. — Wir haben die Bestätigung. Die Bundesregierung wird es ändern. Und sie wird unsere Unterstützung dabei haben. Sie dürfen dagegen stimmen; wir haben gar nichts dagegen. Es ist das freie Recht eines jeden Abgeordneten, anderer Meinung zu sein.Ich möchte zu der kurzfristig angelegten Rechtspolitik etwas drittes sagen. Im strafrechtlichen Bereich muß das Problem der Mehrfachverteidigungsverbote überprüft werden, und es muß möglichst zu einer Korrektur kommen. Im Bereich der Ordnungswidrigkeiten und bei vielen anderen Dingen gibt es Fälle, wo das Verbot der Mehrfachver-
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teidigung nichts anderes ist als eine Erschwerung der Rechtsfindung und als eine Kostensteigerung in Fällen, wo man viel billiger zurechtkommen könnte.
Das Mehrfachverteidigungsverbot ist aus anderen Gründen geschaffen worden. Die Regelung ist vom Bundesjustizministerium vorgelegt und von den Fraktionen übernommen und verabschiedet worden, und zwar deswegen, weil im Bereich der terroristischen Szene unliebsame Erscheinungen aufgetreten waren, die eine gesetzliche Antwort erforderten. Man wird andere Antworten finden können. Man wird mehr differenzieren müssen. Aber wir sind auch durchaus bereit, an den Stellen, wo Verteidigung zeitweise völlig ausgeschlossen ist, nämlich im Bereich der Kontaktsperre, für eine Regelung offen zu sein, die das wichtigste Recht eines vom Staat seiner Freiheit beraubten Verdächtigen — aber nicht Verurteilten — betrifft, nämlich das Recht auf den Verteidiger. Das muß, soweit es irgend geht, wiederhergestellt werden. Der Abgesperrte, durch die Kontaktsperre Isolierte muß einen Anwalt, einen Verteidiger bekommen.Aber unter gar keinen Umständen geht das Recht eines Schwerverdächtigen und in Untersuchungshaft Genommenen vor dem Lebensrecht eines Unschuldigen in Freiheit.
Das Kontaktsperregesetz ist in dieser Form nur geschaffen worden, um die Terroristen, die mit Hilfe ihrer Advokaten die Grenze des Gefängnisses übersprungen, ja, das Gefängnis sogar zur Zentrale terroristischer und erpresserischer Aktionen gemacht haben, an solchen Dingen zu hindern. Es war unser aller Überzeugung, daß das notwendig war.Ähnliches kann morgen wieder passieren. Dann dürfen wir nicht erst wieder ein Gesetz machen müssen, sondern dann muß dieses Gesetz wirksam sein. Aber Freiheitsrechte müssen, soweit es geht, gewährleistet werden. Ich halte das für machbar. Wir werden uns daran eifrigst beteiligen.
Viertens. Wir haben in der Regierungserklärung gehört — und in der Koalitionsvereinbarung steht es nachzulesen —, daß im Bereich des Ausländerrechts Regelungen geschaffen werden sollen, die geeignet sind, die Rückkehrwilligkeit anzuregen. Ich habe bis jetzt nicht gewußt, daß wir mit der SPD da verschiedener Meinung sein müßten. Die Rückkehrwilligkeit von Ausländern ist etwas, was wir fördern sollten. Aber ebenso ist es unbedingt notwendig, Ärgernisse für die Bevölkerung abzubauen, wenn wir einer zunehmenden Ausländerfeindlichkeit schnell und wirksam begegnen wollen. Die Ärgernisse für die Bevölkerung liegen in einem erkennbaren Mißbrauch des Asylanspruchs — nicht des Asylrechts.Es kann und darf für unser Land nicht richtig sein und bleiben, daß das Zauberwort eines Ausländers an der Grenze oder irgendwo sonst in unseremLand „ich will Asyl" bedeutet, daß der deutsche Steuerzahler, unser Volk über Jahre den Betreffenden erhalten muß, und zwar besser, als er es in seinem eigenen Heimatland mit aller Arbeit zuwege bringen könnte; denn das erzeugt in unserem Land Ausländerfeindlichkeit. So etwas wollen unsere Bürger nicht lange ertragen. Deswegen müssen wir das abstellen, weil niemand in der Lage sein wird, die wachsende Ausländerfeindlichkeit in unserem Land mit Appellen zu beseitigen oder zurückzudrehen.
Herr Abgeordneter Erhard, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Ja, bitte.
Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Kollege Erhard, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß in der Bundesrepublik seit 1953 ganze 350 000 Menschen um Asyl nachgesucht haben
und nur 70 000 es bekommen haben, ein Bruchteil der Zahl, die das deutsche Volk in der Vergangenheit selber zu politischen Flüchtlingen gemacht hat?
Herr Kollege Hirsch, ich brauche das nicht zur Kenntnis zu nehmen, ich weiß das.
Aber ich weiß auch, daß es in einem einzigen Jahr über 100 000 neue Antragsteller gegeben hat.
Wir haben das Asylrecht und das Verfahrensrecht zweimal mit den Stimmen der FDP geändert. Wollen Sie das zurücknehmen?
— Ich kann mich auf die Regierungserklärung und auf die Koalitionsvereinbarungen stützen. Es muß dafür gesorgt werden, daß der Mißbrauch des Asylrechts soweit wie möglich ausgeschlossen wird.
Denn dann ist es für diejenigen, die es mit Recht beanspruchen, auch ein wirksames Recht.
Herr Abgeordneter Erhard, der Abgeordnete Dr. Schmude möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
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Bitte, Herr Abgeordneter Schmude.
Herr Kollege Erhard, da ich Ihre Ankündigung mit dem gleichen Erstaunen wie den entsprechenden Teil der Regierungserklärung hier höre, frage ich Sie ausdrücklich: Wollen Sie im Ernst das im Sommer dieses Jahres geänderte, vom Vermittlungsausschuß und dann von beiden Körperschaften verabschiedete, auch von Ihrer Seite begrüßte Asylrecht nun wieder ändern und weiter verschärfen?
Herr Schmude, Sie wissen, daß wir einen sehr, sehr mühsamen Kompromiß gefunden haben, über Teile ein Kompromiß erst im Vermittlungsausschuß erzielt werden konnte und daß wir der Meinung sind, daß die Wirksamkeit des Gesetzes mit größter Aufmerksamkeit beobachtet werden muß. Wenn sich die in dieses Gesetz gesetzte Hoffnung nicht erfüllt, dann muß es weiter geändert werden,
und auch das Ausländerrecht muß geändert werden.
— Wenn das in einer geringfügigen Veränderung, die ja als Gesetzesantrag vorliegt, möglich ist, dann soll es geändert werden. Hier unterscheide ich mich vom Herrn Kollegen Hirsch und berufe mich auf das, was in der Regierungserklärung und in den Koalitionsvereinbarungen steht. Es muß möglich sein — was in Rheinland-Pfalz nur so mühsam gelungen ist —, erkennbare Rechtsbrecher, die ihr Gastrecht als Ausländer hier mißbrauchen, zurückzuschicken, ohne sie erst in jahrelangen Verfahren bei uns abzuurteilen. Das kann geregelt werden.
Ich muß zum Schluß kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe hier heute und in den letzten Tagen viel von dem Recht, dem Persönlichkeitsschutz und all den Dingen gehört. Ich möchte Ihnen, Herr Ehmke, eines deutlich sagen: Wer Persönlichkeitsrecht des Bürgers fordert, der muß sich besonders bemühen, Herr Professor der Rechte Ehmke, selbst in dem Augenblick und an der Stelle, wo er der Immunität für seine Aussagen sicher ist
und wo er weiter der Indemnität sicher ist — das sind zwei Dinge —,
nicht das zu tun, was das Strafgesetzbuch Verleumdung nennt. Solches haben Sie leider gestern von dieser Stelle aus betrieben.
Wer glaubt, aus einem zu Unrecht gefaßten Entscheid eines Gerichts, der ausdrücklich von einem
Strafgericht aufgehoben worden ist, weil er rechtsfehlerhaft war — nachher ist ein Freispruch ergangen —, zitieren zu dürfen, die Strafe zu nennen, um den Vorwurf als richtig aufrechtzuerhalten, der macht genau das, was ich Verleumdung nenne. Sie sollten eigentlich erst einmal vor Ihrer eigenen Türe kehren und sich fragen: Was haben Ihre Aussagen mit dem Schutz des Bürgers zu tun, wenn Sie selbst den anderen so in den Dreck treten?
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mir die Wertung erlaubt ist, dann ist die heutige Debatte im rechtspolitischen Teil der Aussprache zur Regierungserklärung bis zum Beitrag des Herrn Kollegen Kleinert durchaus atypisch verlaufen; denn diese Anhäufung von Unterstellungen und grob gerasterten Behauptungen auf Boulevardblatt-Niveau lief unserem Bemühen im Rechtsausschuß zuwider. Wir waren bisher immer der Ansicht, daß wir damit gar nichts zu tun hätten und daß uns derart grobe Vereinfachungen ganz fremd seien.Ich glaube, eine ganz zentrale Frage — sie ist ausgesprochen worden, aber damit sie erkannt wird, muß man sie des öfteren ansprechen — ist die draußen gängige Behauptung und Vermutung, unter dieser Bundesregierung, in dieser Koalition fände Rechtspolitik nicht mehr statt, und sollte so ganz zufällig und vielleicht ganz aus Versehen doch einmal etwas passieren, dann könne es Vernünftiges wohl nicht sein. Diese Behauptung ist völlig unrichtig und hat auch keinerlei Stütze. Ich glaube, man sollte in der Logik der Dinge und dabei bei der Wahrheit bleiben. Dann steht fest, daß sich diese Koalition in einer besonderen Situation zusammengefunden hat, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Haushalt 1983 einschließlich der notwendigen begleitenden Gesetze innerhalb kurzer Zeit beraten und verabschiedet werden muß. Wenn dies richtig ist, dann ist für alle anderen Bereiche sehr wenig Zeit.Hätten wir eine vierjährige Legislaturperiode vor uns, dann könnte man allerdings sagen, das sei eine faule Ausrede; alle anderen Ressorts könnten sehr wohl mit großer Intensität arbeiten, auch wenn wir es mit großen wirtschaftlichen, finanziellen und haushaltspolitischen Schwierigkeiten zu tun haben. Aber nun ist ja bekannt: Fünf Monate, ja, praktisch nur drei Monate stehen zur Verfügung, um bis zu den in Aussicht genommenen Neuwahlen des Deutschen Bundestages gesetzgeberische Arbeit zu leisten. Da frage ich, ob es ehrlich ist, auf der einen Seite immer und immer wieder zu sagen, man solle bei dem bleiben, was man versprochen hat, auf der anderen Seite aber zu fragen, ob man denn nicht gewillt sei, eine ungeheure Menge von Vorhaben auch im rechtspolitischen, im innenpolitischen Bereich aufzulisten, wohl wissend, daß man im Ergebnis damit auf der Strecke bleiben wird. Deswegen
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Bundesminister Engelhardsind es nur wenige Vorhaben, auf die ich später noch im einzelnen zurückkommen werde.
Herr Minister, sind Sie mit einer Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich einverstanden?
Bitte.
Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Emmerlich.
Herr Minister, können Sie mir helfen, Klarheit darüber zu erlangen, ob es sich bei dieser Regierung um eine Regierung des „neuen Anfangs", der „geistig-politischen Erneuerung" oder um eine Übergangsregelung handelt?
Dies ist eine Regierung des Neuanfangs.
Nur, diesen Neuanfang so lange zu verzögern, bis, wie das sonst durchaus nach einer Bundestagswahl üblich ist, über Wochen Gespräche und Beratungen geführt worden wären, um zu einem umfangreichen Koalitionspapier zu kommen, war in dieser Situation dem Lande und seinen Bürgern gar nicht zumutbar; denn es hätte bedingt, daß mit dem, was jetzt zu tun ist, nämlich mit der Beratung des Haushalts und der begleitenden Gesetze gar nicht erst — jedenfalls nicht zu rechter Zeit — hätte angefangen werden können.
Aber, Herr Kollege Emmerlich, fast hätte ich vergessen, Ihnen nach Ihrem Beitrag vorhin die Frage zu stellen, ob Sie sich selbst als Redner nicht etwas atypisch empfunden haben; denn das ist ja im Grunde das Problem: Wenn man sich über Jahre kennt, wird man sagen können — ich kann mir das jedenfalls vorstellen —, daß Ihnen Ihre Rede vorhin so leicht gar nicht gefallen ist, und zwar jetzt nicht etwa in diesem vordergründigen Sinne: Wo ist der Bundesjustizminister? Dazu kennen wir uns beide zu lange. Nein, so meine ich es gar nicht, sondern ich meine es darüber hinaus, in der Sache: mit jener Vereinfachung aller Dinge in die Debatte einzusteigen.
Sehen Sie, das ist für mich das Merkwürdige: Wenn ich diese Debatte verfolge, wenn ich draußen die Meinungen höre, die Presse und alles das lese, was jetzt aus dem politischen Raum kommt, dann müßte es eigentlich so sein, daß der Kollege Kleinert und ich diejenigen sind, die so richtig flattern, die sehr nervös sind, die nicht mehr in Ruhe die Dinge überdenkend sich äußern können. Aber ich stelle mit Erstaunen fest:
Die Nervosität, das völlige Durcheinander, die Konzeptionslosigkeit, das ganz einfache Contra auch dort, wo man selbst empfindet, daß es nicht hinpaßt, kommen aus Ihrer Ecke. Bei Betrachtung der politischen Landschaft ist das, finde ich, insgesamt schon einigermaßen interessant.
Aber wir wollen zu der Frage kommen: Was wird denn jetzt passieren? Es ist die Frage gestellt worden, was denn aus dem Demonstrationsrecht werde. Ich meine, auf schlichte Fragen kann man ungemein einfach, schlicht und klar antworten. Sämtliche Vorhaben, sämtliche Anträge sind zu Ende beraten worden. Derzeit steht nichts an. Wie in jeder Koalition bedarf es jeweils der Zustimmung beider Partner, um etwas Neues in Gang zu setzen. Wer in diesem Bereich Änderungen wünscht, muß sich melden und muß mit dem Partner sprechen, um herauszufinden, ob er ein Einvernehmen erzielen kann. Bisher ist nichts an uns herangetragen worden. Wir haben uns bis hinein in die letzten Monate und Wochen ja mit all diesen Fragen befaßt. Von seiten meiner Fraktion weiß ich jedenfalls, daß sich die Auffassung dazu nicht geändert hat. Ich glaube, das ist eine klare Antwort auf die gestellte Frage.
Wir haben seit 1969 in der Zusammenarbeit der sozialliberalen Koalition sehr viel im rechtspolitischen Bereich geleistet. Ich wiederhole: Das hat Herr Genscher, auch auf andere Bereiche bezogen, ausdrücklich betont, und bezogen auf die Rechtspolitik hat Herr Kollege Kleinert das heute noch einmal unterstrichen. Ich unterstreiche es ein weiteres Mal und sage: Davon wird nichts weggestrichen. Wir wollen das nicht vergessen, ob es sich nun um das Eherecht handelt, um die elterliche Sorge — um nur Beispiele zu nennen —, um das Adoptionsrecht, auch um das Mietrecht, soweit es den Kern des Kündigungsschutzes betrifft, um § 218, um das Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten, um die Prozeßkostenhilfe, die Beratungshilfe bis hin zu den einzelnen Vorhaben bei der Terrorismusbekämpfung, die uns im einzelnen nicht geschmeckt haben mögen, wo wir uns aber der Herausforderung der Stunde zu stellen und eine Antwort zu geben hatten.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pensky? Es ist nicht leicht zu erkennen, wo Sie Ihren Gedanken beendet haben.
Bitte schön.
Herr Minister, darf ich noch einmal auf Ihre Bemerkungen bezüglich des Demonstrationsrechts zurückkommen. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie sagten, es sei nichts an Sie herangetragen worden? Ich darf Sie daran erinnern, daß es zwei Gesetzentwürfe gibt — einen des Bundesrats und einen der CDU/CSU-Fraktion —, die im Innenausschuß abschließend beraten und mit dem Ausschußbericht versehen wurden, den ich zusammen mit einem Ihrer Kollegen unterschrieben habe, der, so meine ich, jetzt reif für die Verabschiedung wäre. Wie stehen Sie zu diesen beiden Entwürfen? Bleiben Sie bei dem, was Sie noch mit
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7371
Penskyuns gemeinsam in der Koalition beschlossen haben?
Herr Kollege, dort, wo es noch etwas zu sprechen gibt, wird dies besprochen werden. Es bleibt bei unserer Meinung, daß Änderungen am Demonstrationsrecht derzeit nicht vonnöten sind.
— Diese Art, jemanden zu fixieren, und zwar in einer törichten Weise zu fixieren, weil man glaubt, ihn hinterher aufs Kreuz legen zu können, wird von mir deutlich zurückgewiesen.
Ich kann doch nicht ausschließen, daß im Bereich des Demonstrationsrechts wie auch in allen anderen Bereichen, mit denen sich die Gesetzgebung beschäftigt, ein völlig neuer Gedanke auftaucht, eine neue technische Entwicklung vonstatten geht oder irgend etwas eintritt, was jedem, der den Dingen aufgeschlossen gegenübersteht und der bereit ist, überhaupt mitzudenken, verbietet, von vornherein zu sagen: Da denke ich nicht mit, darüber spreche ich nicht, die Sache ist für mich von vornherein erledigt!
Herr Bundesminister, der Abgeordnete Pensky fragt, ob er noch eine Zwischenfrage stellen kann. Es liegt in Ihrem Ermessen, ob Sie sie zulassen.
Ich bitte, jetzt davon abzusehen, Herr Kollege. Ich bedauere.
Der Redner läßt keine Frage mehr zu, Herr Kollege Pensky.
Wir werden uns im übrigen auch immer bewußt sein, daß — dieses Stichwort ist gefallen — das Recht der Kontinuität bedarf. Wir waren uns ja auch immer darin einig, daß diese Kontinuität deswegen besonders wichtig ist, weil, was der Gesetzgeber vorgibt, bei denen, die dem Recht unterworfen sind, sich setzen muß und als Rechtsbewußtsein in der Bevölkerung verankert werden muß.
Weil plötzlich das Geschrei nach mehr Vorhaben merkwürdigerweise so laut wird, darf ich an folgendes erinnern. Als wir nach der Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980 uns zur ersten oder zweiten Sitzung des Rechtsausschusses versammelten und uns über die vor uns liegende Legislaturperiode unterhielten, war es die Auffassung aller drei Fraktionen, daß die Qualität der Rechtspolitik nicht nur dadurch gekennzeichnet sei, daß möglichst gute und gut formulierte Gesetze gemacht werden, sondern daß die Qualität insbesondere dadurch bedingt sei, daß weniger Gesetze gemacht werden,
weil der Stau, der ehedem sicher bestand, in den
letzten Jahren weitgehend aufgearbeitet wurde, so
daß wir uns durchaus in aller Bescheidenheit — nicht in Trägheit — damit begnügen konnten, künftig weniger zu machen.
Ich komme jetzt auf eine peinliche Sache, Herr Dr. Emmerlich, und mir wäre es lieb gewesen, wenn Sie das nicht angesprochen hätten. Si Tacuisses! Sie haben nämlich im Zusammenhang mit der Kontinuität eine personelle Frage eingeführt und an mich die Frage gestellt, ob es nicht auch zur Kontinuität der Rechtspolitik gehört hätte, daß ich den bisherigen beamteten Staatssekretär des Bundesministeriums der Justiz übernommen hätte. Oh, hätten Sie geschwiegen! Denn mir ist es unangenehm, und auch in diesem Moment werde ich die vollen Tatsachen nicht vor dem Hause ausbreiten.
Ich will nur soviel sagen: Die Frage der Kontinuität hat sich gar nicht gestellt, weil der beamtete Staatssekretär, noch bevor es überhaupt zu einem diesem Punkt betreffenden Gespräch kommen konnte, sich ohne mein Wissen verabschiedet, seinen Urlaub angetreten und mir dies in einem Satz schriftlich hinterlassen hat.
Meine Ernennung und Vereidigung fanden — wie bei den übrigen Kabinettsmitgliedern — am 4. Oktober statt, die Amtseinführung an Nachmittag desselben Tages. Der an mich gerichtete Brief von Herrn Staatssekretär Dr. Erkel trägt das Datum vom 5. Oktober, einem Tag, an dem ich in München sein mußte. Eine Uhrzeit war leider nicht angegeben.
Ich würde, um die Peinlichkeiten, die nicht auf meiner Seite liegen, nicht zu vertiefen, herzlich bitten, diese Sache Ihrerseits nicht weiter breitzutreten.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. de With?
Wenn man glaubt — aber bitte!
War es nicht so, Herr Bundesminister, daß dieser Staatssekretär am 4. Oktober ab 17 Uhr um eine Unterredung mit Ihnen nachgesucht hat und dann um 21 Uhr von der Sekretärin des Ministerbüros erfahren mußte, daß Sie schon gegangen seien?
Herr Kollege de With, nach dem, was Sie sagen, wird die Sache natürlich immer peinlicher, weil nämlich um 16.30 Uhr Kabinettssitzung war und mir — um es ganz deutlich zu sagen — wohl bewußt ist, daß ich einmal in den Tohuwabohu des ersten halben Amtstages mit einem Ohr vernommen habe, daß der Herr Staatssekretär in seinem Zimmer sitze und vielleicht mal mit mir reden wolle.
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7372 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Engelhard— Lassen Sie es doch! Es wird immer peinlicher, und wenn es so weitergeht, zwingen Sie mich, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit — die Unterlagen habe ich nicht hier — die Sache genau zu schildern, dann aber aufgelistet, das Schreiben zu zitieren, das an mich gerichtet wurde, den, soweit mir bekanntgeworden ist, gleichzeitigen Umlauf im Hause, ein weiteres, etwas schwer verständliches Schreiben, das hektographiert unter den Mitarbeitern in großer Zahl kursiert hat, und einiges mehr.
Ich finde es peinlich, und ich hätte das von meiner Seite hier nie angesprochen, weil ich glaube, daß es in der Turbulenz eines personellen Wechsels jemanden hart ankommen kann, seinen Platz zu räumen. Weil ich den Betroffenen schließlich auch lange Jahre kenne, wäre so etwas von meiner Seite her nie erwähnt worden. Ich wundere mich über das Ausmaß der Ungeschicklichkeit, über das für den Betroffenen ganz sicherlich peinliche Ausmaß, in dem Sie diese Dinge hier eingeführt und noch breitgetreten haben.
Meine Damen und Herren, auch diese Art wie man offensichtlich glaube, Rechtspolitik zumindest begleiten zu müssen, kann Rechtspolitik sein. Ich halte das nicht für richtig.In der Regierungserklärung heißt es: Wir wollen unseren freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat ausbauen. Damit ist vorgegeben, daß die Kontinuität gewahrt wird, daß das, was wir an geltendem Recht haben, bewahrt wird und daß wir in der kurzen uns verbleibenden Zeit einiges zumindest auf den Weg bringen, in dem Bestreben, es möglichst vor den Neuwahlen auch noch zu Ende bringen zu können. Da sind ja einige Punkte bereits genannt worden. Ich nenne an erster Stelle den Versorgungsausgleich, und zwar eine Übergangslösung. Dies vorzuschlagen ist für mich, je länger man es sich überlegt, deswegen einfach, weil es nicht die neue Koalition ist, die meine Überzeugung bestimmt. Sie wissen doch aus den Gesprächen, daß ich mit großen Bedenken als der für meine Fraktion in diesem Bereich Verantwortliche beobachtet habe, wie man innerhalb der SPD-Fraktion im besten Willen und auch Gutes leistend ungeheuer viel Zeit gebraucht hat. Wenn ich jetzt von Neuwahlen am 6. März ausgehe, mit der anschließenden Bildung der Bundesregierung, mit der Regierungserklärung und der Debatte darüber, dann ist ja bald die Sommerpause des nächsten Jahres erreicht, und dann ist absehbar, daß auch zum Jahresende 1984 noch nichts im Gesetzblatt stehen wird. Dann sind fast fünf Jahre verstrichen seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1980.Ich sage dasselbe wie an jenem Tag, als wir in einer kleinen rechtspolitischen Debatte am 17. September, bevor um 11 Uhr der Bundeskanzler das Wort nahm, hier gesprochen haben: Wir müssen uns gut überlegen, ob wir nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen, die uns das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ausdrücklich offengelassenhat, nämlich daß auch eine vorübergehende Lösung genüge. Ich werde in allernächster Zeit mit allen drei Fraktionen Gespräche aufnehmen. Wir werden uns darüber unterhalten müssen, ob nicht eine Verpflichtung für uns alle besteht, hier für den betroffenen Personenkreis in absehbarer Zeit zu einer Regelung zu kommen.
Die Frage kann eigentlich nur noch sein: Wie sieht diese Regelung aus? Darüber wird es noch Meinungsverschiedenheiten geben. Aber daß sie kommen muß, ist jedenfalls für mich klar, und ich werde mich dafür einsetzen.
— Die Beratungen, Herr Kollege Dr. Emmerlich, Sie wissen das doch mit am besten, werden unendliche Zeit in Anspruch nehmen. Wir können — auch dies habe ich ins Auge gefaßt — noch in diesem Monat so weit kommen, daß wir parallel ein Hearing vorbereiten, in dem wir zu den übrigen vorliegenden Entwürfen — wir haben ein breit gestreutes Material — die Sachverständigen anhören. Auch das kann noch geschehen. Aber das kann doch den Gang der Dinge im übrigen nicht aufhalten.Vom Bundesverfassungsgericht ist uns im materiellen Scheidungsrecht aufgegeben, eine Lösung zu finden, daß nicht prinzipiell und in jedem Fall nach fünfjähriger Trennung in den wenigen besonderen Härtefällen die Scheidung erfolgt. Beim Ehegattenunterhalt bestehen gleichfalls einige Probleme, denen wir uns werden zuwenden müssen.Ich unterstreiche, was zum Kontaktsperregesetz gesagt wurde. Auch hier werden demnächst Gespräche zwischen den Fraktionen stattfinden müssen, wobei ich meine, daß die Frage nicht mehr so sehr das Ob ist, sondern wie diese Frage in vernünftiger Weise gelöst wird. Weit einfacher wird dies beim bisherigen Verbot der Mehrfachverteidigung sein.Ich möchte die Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, obwohl ich einiges zu sagen gehabt hätte nach den Tönen, die insbesondere von Minister Schnoor hier lautgeworden sind, zur Koalition mit dem Aufputschen von politischen Lynchgefühlen, die derzeit unsere Landschaft bestimmen. Da wäre schon einiges zu sagen. Ich glaube, Sie werden eines Tages auch noch bereuen, sich so zu verhalten, wie Sie sich jetzt verhalten,
weil Ihnen eigentlich die politische Klugheit aus Ihrer eigenen Beobachtung hätte sagen müssen, daß wir jahrelang eine Union vor uns gehabt haben,
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Bundesminister Engelharddie uns 1969 hart angegangen ist und es uns ungeheuer schwer gemacht hat, näher zusammen oder gar in einer Koalition zusammenzuarbeiten.
Deshalb wissen Sie, wie man sehr leicht eine Landschaft schaffen kann, in der es sehr schwierig ist, in der Zwischenzeit und auch später einmal politisch zusammenzuarbeiten. Ich wundere mich, daß Sie hier keinen klügeren Weg eingeschlagen haben.
Wir werden jetzt — jedenfalls im rechtspolitischen Bereich — der Tradition dieses Bereiches entsprechend versuchen, wieder zu einem anderen Ton und einem anderen Stil zu kommen, so wie er bisher unsere Beratungen begleitet hat. Von meiner Seite her jedenfalls besteht dazu die Bereitschaft.
Als nächster Redner hat Herr Abgeordneter Roth das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Engelhard, Sie irren sich. Die Sozialdemokratische Partei will mitnichten, daß die Liberalen aus der politischen Landschaft der Bundesrepublik verschwinden.
Was wir wollen, ist, daß Sie unbeschädigt durch diese Wendemanöver durchkommen; denn der freiheitliche Liberalismus wird auch in den nächsten Jahrzehnten gebraucht.
Ich sage Ihnen: Weder die Taktiererei, die jetzt durch ein paar von Ihnen geboten werden, noch ihr Opportunismus, der gerade angeklungen ist — wie Sie sich langsam an die rechtspolitischen Positionen der Union herangeschlichen haben —,
keine dieser beiden Verhaltensweisen wird Sie retten, sondern Sie müssen sich jetzt ernsthaft in Ihren Gremien — vor allem auf Ihrem Parteitag — über Ihren künftigen Weg auseinandersetzen.
Ich möchte Ihnen eins sagen: In dieser Sozialdemokratischen Partei und in dieser Bundestagsfraktion gibt es viele, die auch über die Art und Weise betroffen sind, mit der Sie sich selbst in Ihrer eigenen Partei auseinandersetzen und wie Sie sich gegeneinander auseinandersetzen. Die Liberalen in Baden-Württemberg, die ja nun weiß Gott in den letzten Jahren ein Zentrum der Liberalität gewesen sind, haben z. B. am letzten Wochenende beschlossen, ihr Parteivorsitzender solle doch gefälligst zurücktreten oder jedenfalls den Weg öffnen.
Wenn Sie dies in Ihrer eigenen Partei haben, dann versuchen Sie doch nicht abzulenken. Das war schon die letzte Bemerkung: Sie sollen für Ihre inneren Diskussionen Zeit haben. Wir wünschen Ihnen dafür einen guten Weg.
Ich hätte mich gerne heute abend mit Herrn Geißler und Herrn Blüm, die nicht anwesend sind, auseinandergesetzt.
Ich sehe aber, daß Staatssekretäre anwesend sind. Vielleicht können Sie das weitersagen. Herr Blüm stand j a heute nachmittag auf der Rednerliste. Er hat sich abgemeldet, nachdem er gehört hat, daß das Fernsehen abgeschaltet war.
Ich wollte aber trotzdem zu seinen Themen und zu den Themen des Herrn Geißler ein paar Worte sagen. Vielleicht kann dann anschließend jemand von der Regierung Stellung nehmen.Es war j a in den letzten Jahren so, daß die CDU/ CSU — vor allem die CDU und dort vor allem die Sozialausschüsse — uns immer wieder mit dem Problem der „Neuen Sozialen Frage" bedrängt haben. Der Kern dieser Idee oder dieser Auffassung der Neuen Sozialen Frage war das Folgende. Es heißt, wir hätten in unserer Gesellschaft große, starke Gruppen: BDI, DGB. Diese großen starken Gruppen würden praktisch das Sozialprodukt verfrühstücken. Für die, die nicht organisiert wären, bliebe letztlich nichts übrig. Sie haben in Ihrer Mannheimer Erklärung, die diese Diskussion begonnen hat, 1975 gesagt, da die Schwachen, die Nichtorganisierten, die Alten und die Kinder als Gruppe keine Mehrheit haben, bestehe für sie darüber hinaus die Gefahr, daß sie in unserer Gesellschaft auch politisch benachteiligt werden. „Eine solche Entwicklung entspricht nicht unserem Verständnis von Solidarität und ist mit unserer Verfassung, insbesondere mit den in ihr verankerten Grundrechten und mit dem Sozialstaatsprinzip, unvereinbar." So Ihre Erklärung von Mannheim 1975.Die CDU hat in ihrem Grundsatzprogramm von 1978 diese Idee bekräftigt. Sie haben immer wieder die schwachen Gruppen genannt, die Sozialhilfeempfänger, die Arbeitnehmerfamilie mit mehreren Kindern, die Schüler aus sozial schwachen Familien, die älteren Menschen, die Behinderten, die Arbeitsunfähigen und die Arbeitslosen.Nun frage ich Sie, die Sie jetzt die neue Regierung bilden: Was bleibt eigentlich nach der Koalitionsvereinbarung und nach der Regierungserklärung von dieser Neuen Sozialen Frage in der praktischen Politik übrig?
Damals hat in einer der Debatten unser Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner gesagt, er halte
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7374 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Rothdie Neue Soziale Frage für ein Propagandamanöver.
Ich bin der Auffassung, das haben Sie in dieser Woche nachhaltig bestätigt.
Genau in diesen Fragen, die Sie selber vor einigen Jahren aufgeworfen haben, haben Sie die Politik mit dem Wortbruch begonnen. Sie hatten uns jahrelang in der Rentenpolitik attackiert. „Rentenbetrug" hieß es, Herr Geißler, bis in den letzten Wahlkampf.
Was ist geschehen? Ihre erste Aktion war eine Verschiebung des Rentenanpassungstermins um ein halbes Jahr und eine Erhöhung auf einem niedrigeren Niveau.
Ich komme jetzt zu einem Punkt, der in dieser Debatte noch keine Rolle gespielt hat. Ich hoffe, daß unser Freund Eugen Glombig morgen darauf noch einmal im Detail zurückkommt. Ich kann es nur andeuten. Die Sozialhilfeempfänger, also die, die mit den kleinsten Einkommen auskommen müssen, werden im nächsten Jahr ein halbes Jahr überhaupt keine Erhöhung der Bedarfssätze bekommen. Dann wird die Erhöhung 2 % sein — aufs Ganze gesehen eine Einkommenskürzung im nächsten Jahr im Schnitt von 12 DM pro Monat für den Haushalt, der von Sozialhilfe abhängt.
Das ist die Lösung der Neuen Sozialen Frage.
Dabei könnte man dafür noch ein bißchen Verständnis entwickeln, wenn dafür eine ökonomische Logik spräche, wenn man sagen könnte, das hat irgendeinen Sinn, wir müssen halt sparen, um es anderswo im Investitionsbereich anzulegen. Aber nein, das Gutachten des Sachverständigenrats hat erwiesen, daß Kürzungen bei denen, die ihr Geld ausgeben müssen — die ihr Geld völlig ausgeben müssen, weil sie nämlich keine Ersparnisse bilden können —, unmittelbar zu weniger Beschäftigung, also zu mehr Arbeitslosigkeit führen.
Das heißt, auch die ökonomische Logik geht nicht auf, ganz abgesehen davon, daß Sie Ihr Grundsatzprogramm und Ihr Mannheimer Programm verraten.Für die Mietenpolitik gilt dasselbe. Wer kann denn Eigentum bilden, Häuser bauen? Das sind dieLeute mit mittlerem Einkommen. Wir haben in der Vergangenheit viel dafür getan,
daß sie das machen konnten. Aber wer wohnt zur Miete? Wer wird verdrängt, wenn man die sozialen Mietrechtsklauseln, die wir bisher gehabt haben, im Wohnungsbestand beseitigt? Das sind die kleinen Leute.
— Ich habe ja nichts dagegen, daß Sie sich derartige Positionen vom Lambsdorff-Papier aufdrängen ließen. Nur, das muß in diesem Bundestag auch ganz klar zur Sprache kommen.
Sie waren bisher eine Partei, die sich zu Recht Volkspartei genannt hat — nach ihrer ganzen Tradition. Ich sage Ihnen nur eines: Wenn Sie die kleinen Leute in Ihrer praktischen Politik auf dieser Ebene Schritt für Schritt außer acht lassen, dann werden Sie diesen Charakter verlieren.
Ich würde da sehr aufpassen. Ich würde Ihnen sehr empfehlen, das Lambsdorff-Papier — das ist die mittelfristige Strategie Ihres Koalitionspartners — sorgfältig zu lesen. Denn das geht genau in die Irre, die ich gerade gekennzeichnet habe.
Meine Damen und Herren, ich wäre allerdings auch an der Stelle nicht ganz so kritisch, wenn ich nun entdeckt hätte, daß die Regierung der geistig-moralischen Aufrüstung, wie sie von Ihnen selbst genannt wurde, also diese neue Rechtskoalition, wenigstens im wirtschaftspolitischen Bereich die Fragen, die gestellt sind, aufgenommen hätte.
Aber kein Wort von den Wirkungen der Mikroelektronik auf die Sicherung von Arbeitsplätzen, kein Wort davon in der Rede des Herrn Bundeskanzlers;
kein Wort zur Arbeitszeitverkürzung. Ich weiß inzwischen aus großen Konzernen der Bundesrepublik Deutschland, daß das mittlere Management und Teile des oberen Managements allmählich überlegen, ob sie es in der Zukunft anders machen können, wenn sie ihre bisherigen Standards von sozialer Sicherheit aufrechterhalten und keine Leute rauswerfen wollen. Das ist ja das Prinzip bei Daimler-Benz, bei Siemens und vielen anderen bisher gewesen. Ich weiß, daß sie selber nachdenken, ob man nicht über Betriebsvereinbarungen Arbeits-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7375
Rothzeitverkürzungen erreichen kann. Und diese Regierung, der Herr Blüm und Herr Geißler angehören, sagt kein Wort zur Arbeitszeitverkürzung — eine schreckliche Lücke.
Herr von Dohnanyi hat heute nachmittag davon gesprochen, daß Sie auch zu den Sättigungsgrenzen nichts sagen, beispielsweise zu der Tatsache, daß eine Familie, die ein Auto hat, in der Regel kein zweites kauft. Daß Sie zu der Vorstellung, durch Investitionsförderung allein — ohne Nachfragestabilisierung und ohne Umverteilung zugunsten der Leute, die noch nichts besitzen — neue Wachstumsprozesse in Gang setzen zu wollen, die das alles wieder schnell in Ordnung bringen, nicht einmal ein Wort finden — auch der Wirtschaftsminister hat heute früh kein Wort dazu gefunden —, halte ich wirklich für bedrängend.Oder — ein anderes Thema —: Wir alle wissen, daß Wachstumsprozesse Natur beanspruchen, Umwelt beanspruchen. Nun ist es sicherlich so — an einer Stelle wurde das deutlich —, daß diese Umweltprobleme nicht ohne die moderne Technik zu bewältigen sind. Aber kann man ein Zurückträumen auf Ludwig Erhard ernsthaft in den Vordergrund einer Regierungserklärung in den 80er Jahren stellen, wo wir doch alle wissen, daß eine komplizierte Bewältigungsstrategie der Umweltprobleme, der Rohstoffprobleme und der Energieprobleme auf der Tagesordnung der Geschichte steht?
In diesem Zusammenhang ist eine Regierungserklärung auch ein Wegzeichen für das, was in der Zukunft geschieht. Wer verkennt, wie kompliziert es ist, Wachstumsprozesse künftig wieder in Gang zu setzen, wie schwierig es ist, die Umweltprobleme auch so in den Griff zu kriegen, daß die Leute das Wachstum akzeptieren, daß sie ja sagen, hat nichts begriffen. Es ist doch kein Zufall, wenn 30 % der jungen Mitbürger die Grünen wählen, sondern Sie glauben, daß Sie als neue Regierung — ich sage selbstkritisch zu uns: wir als frühere Regierung und heutige Opposition — die Umweltproblematik noch nicht in dem Sinne in den Griff bekommen haben, daß die Leute verstehen, daß Wachstum und Umweltverbesserung zusammengehen. Daß dies nach den Wahlergebnissen in diesem Sommer nicht zu einem Mittelpunktthema in einer Regierungserklärung gemacht wird, halte ich nun wirklich intellektuell für bedrängend. Das ist Mainz-Oggersheim und nichts anderes.
Das ist politisch Provinz. Das ist geistig-politisch völlig daneben.
Graf Lambsdorff, ich möchte jetzt ein paar Bemerkungen zu Ihren Aufgaben machen. Sie haben mich heute früh doppelt enttäuscht, zuerst weil Sie wirklich noch einmal ein Ausweichmanöver auf München zu machen versucht haben. Darauf willich jetzt nicht noch einmal eingehen. Ich glaube, Herbert Ehrenberg wird das anschließend tun.
Daß Sie aber die Veränderung Ihrer politischen Haltung in den letzten Jahren nicht klarer definiert haben und sich hier an dieser Stelle nicht dazu bekannt haben, hat mich enttäuscht. Ihr Papier von Anfang des letzten Monats ist in der Tat ein Papier in der Tradition von Mrs. Thatcher und Herrn Reagan. Daß Sie sich dazu heute nicht mehr bekannt haben, zeigt mir Ihre Flexibilität, aber auch Ihre Beweglichkeit im charakterlichen Bereich.
Noch erstaunlicher fand ich aber, daß Sie zu den wirklichen Aufgaben des Wirtschaftsministeriums praktisch überhaupt nichts gesagt haben.
Erstens. Die AEG-Krise ist noch nicht zu Ende. Wie Sie sich in diesem Sommer aus der AEG-Krise herausgehalten und über Karenztage und alles Mögliche geredet haben, das war beschämend für den Wirtschaftsminister dieser Republik.
Zweitens. Die Stahlkrise zieht sich quälend hin. Die notwendige Zusammenführung der deutschen Stahlkonzerne ist immer noch nicht erreicht. Wie lange sollen eigentlich die Stahlarbeiter in Dortmund bei Hoesch noch warten, bis Sie endlich zu einer Lösung in dieser Frage kommen? Wie lange soll das noch gehen?
Dritter Punkt. Wir hören heute von Herrn Gattermann , der dies ja wohl sagen muß, die Kohle habe weiter Vorrang. Auf der anderen Seite hören wir vom Wirtschaftsministerium, daß Druck in Richtung auf Schließung von Kohlezechen ausgeübt wird. Was ist nun wahr: Vorrang der Kohle oder eine Schließung von Zechen im Ruhrgebiet?
Viertens.
Herr Kollege Roth, ich weiß nicht, wieviel Punkte Sie noch haben. Die Zeit, die Ihre Fraktion für Sie gemeldet hat, ist aber abgelaufen.
Herr Präsident, dies war eben der vierte Punkt. Danach möchte ich noch ein Wort an den Wirtschaftsminister richten. Wenn Sie es erlauben, tue ich das. Wenn Sie es nicht erlauben, wird ein anderer Kollege das noch aufnehmen.Der vierte Punkt bezieht sich auf die Küste, auf die Werften. Wir wissen, daß die Schiffsbaukrise erneut ganz erhebliche Arbeitsmarktprobleme an
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7376 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Rothder Küste aufwirft. In der Regierungserklärung von Herrn Kohl wurde zum erstenmal zu der gesamten Küstenregion kein Wort gesagt.
Mich wundert das insofern ein bißchen, als Herr Finanzminister Stoltenberg ja nicht ganz vergessen haben sollte, daß dabei besondere Problemregionen im Vordergrund stehen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diese Bundesregierung in der Beschäftigungspolitik nicht mit primitiven Sonthofen-Strategien begleiten,
sondern mit ganz konkreten Vorschlägen, z. B. mit dem Vorschlag zur Arbeitszeitverkürzung. Ich erwarte von einem Wirtschaftsminister, daß er endlich seine falsche Politik des Kampfes gegen Arbeitszeitverkürzung aufgibt.
Er hat bisher keine Strategie entwickelt, die andere Lösungen aufzeigt.
Sagen Sie doch endlich den deutschen Arbeitgebern, wenn Sie von den Arbeitnehmern Opfer verlangen: Der Tabu-Katalog der deutschen Arbeitgeberverbände muß weg. Er paßt nicht mehr in die Landschaft.
Erst dann sind sie für die Gewerkschaften wieder gesprächsfähig.Und damit will ich zum Schluß kommen: Für uns war es in den letzten Jahren sehr bedrängend, daß der Bundeswirtschaftsminister in unserer Koalition zu den Gewerkschaften hin nicht mehr gesprächsfähig war. Er war nicht mehr in der Lage, die Konzertierte Aktion in Gang zu setzen,
weil er in einer mißlichen Weise damals versucht hat, die Mitbestimmung zu zerstören. Und in dem Lambsdorff-Papier von Anfang September stand der verräterische Satz: Keine Verschärfung der Mitbestimmung.
Wer dieses Recht der Arbeitnehmer unter die Kategorien von strafrechtlichen Begriffen faßt, der wird auch in Zukunft keine Gesprächsfähigkeit hinsichtlich der Gewerkschaften bekommen.
Aber, Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren von der Opposition, von der Regierung — mir fällt es immer noch schwer, das muß ich sagen —,
wenn wir die Konzertierte Aktion, d. h. die drei Kräfte, die im wirtschaftspolitischen Rahmen Verantwortung tragen, die Unternehmer und ihre Verbände, die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer, die dort organisiert sind, und den Staat nicht zusammenführen können, und zwar deshalb nicht, weil ständig Provokationen von der Regierung oder von einem einzelnen Minister gegenüber einer sozialen Gruppe stattfinden, dann können wir eine aktive Beschäftigungspolitik nicht erreichen.
Das richtet sich jetzt an den Bundeskanzler, der nicht anwesend ist — aber ich bitte den Herrn Jenninger, das weiterzusagen: versuchen Sie jetzt eine Wende in der Verhaltensweise des bisherigen und künftigen Wirtschaftsministers herbeizuführen. Er liegt nämlich hier seit einigen Jahren völlig falsch: gegen den sozialen Konsens, gegen den sozialen Frieden. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Roth, Sie machen sich Sorgen um die neue soziale Frage.
Ich wundere mich darüber, schon zwei Tage, daß Sie sich hier so hinstellen, als hätten Sie mit all dem, worüber wir hier kritisch diskutieren, überhaupt nichts zu tun und in den letzten Jahren in diesem Staat überhaupt keine Verantwortung getragen.
Statt hier einmal deutlich zuzugeben, daß Sie die Renten in Gefahr gebracht haben, daß Sie daran schuld sind, daß wir heute in vielen sozialpolitischen Bereichen nicht mehr die Leistungen erbringen können, die eigentlich im Interesse der Leute, um die es hier geht, notwendig wären, verdrängen Sie das und tun so, als ob eine Regierung, die acht Tage im Amt ist, dafür die Verantwortung trüge — und das, nachdem Sie 13 Jahre mit unserer Volkswirtschaft Schindluder getrieben haben.
— Beruhigen Sie sich, dazu werde ich nachher auch noch etwas sagen.
Ich weiß gar nicht, wie Sie die kleinen Leute, von denen Sie immer sprechen, definieren wollen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7377
Hauser
— Gehören Sie zu den kleinen Leuten?
— Sehr interessant, daß auch Sie zu kleinen Leuten gehören.
Meine Damen und Herren, wenn Sie mit diesen kleinen Leuten wirklich einmal reden, wird Ihnen deutlich werden, daß die längst begriffen haben, was in diesem Staat in den letzten Jahren vor sich gegangen ist.
Wenn Sie heute bei einer Veranstaltung mit Rentnern, mit Arbeitslosen oder mit Sozialhilfeempfängern sprechen, dann sagen die Ihnen — und ich weiß, daß es Ihnen sehr unangenehm ist, daß diese Leute das so feststellen —, daß es ihnen lieber sei, in dem Wissen, daß das, was für sie geschehen müsse, auf die Dauer gesichert sei, einen Verzicht zu leisten, als ständig in der Unsicherheit zu leben, ob die Renten im nächsten Jahr überhaupt noch finanzierbar seien.
Meine Damen und Herren, hier wird ständig darüber geredet, was nicht in der Regierungserklärung steht. Auch das ist ja ein bißchen merkwürdig. Was darin steht, ist für Sie offenbar so unangenehm, daß Sie darüber hier nur sehr wenig von sich geben.Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler und der neuen Bundesregierung sehr nachdrücklich ein herzliches Wort des Dankes dafür sagen, daß sie ein klares Bekenntnis zu einer Gruppe in unserer Volkswirtschaft abgelegt haben, die ganz wesentlich dazu beiträgt, daß wir wieder vernünftige Verhältnisse bekommen, nämlich zu den kleinen und mittleren Unternehmen und den freien Berufen.
Meine Damen und Herren, wenn es unbestritten ist, daß 65 % der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland in diesen Unternehmen beschäftigt werden, dann werden wir die Probleme des Arbeitsmarkts nur dann lösen können, wenn wir dabei auch die Probleme dieser Unternehmen in unsere Überlegungen einbeziehen und nicht so tun, als könnte man hier über diese Leute hinweg Politik machen.
Die Konkurswelle, die Sie zu verantworten haben und die in diesem Jahr die 15 000-Grenze erreichen wird, hat in diesem Bereich unserer Volkswirtschaft einen Substanzverlust hervorgerufen, der nur sehr mühsam und sehr schwierig wieder in Ordnung zu bringen ist. Wenn man sich einmal die Relationen vorstellt und sich vergegenwärtigt, daß es im Jahr der Weltwirtschaftskrise, 1931, im Deutschen Reich 13 000 Konkurse gab, während es inder Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr über 15 000 sein werden und der sicherlich sehr gut informierte „Verein Creditreform" diese Zahl als die untere Grenze ansieht, dann wissen wir, worüber wir hier reden.
Herr Kollege Hauser, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Da das von der Redezeit abgehen würde, ziehe ich es vor, das vorzutragen, was ich für wichtig halte.Angesichts der Konkurswelle, die gleichzeitig einige hunderttausend Arbeitsplätze mitgerissen hat, bin ich der Meinung, daß hier ein ganz zentraler Schlüssel der künftigen Politik liegt. Es ist sehr wichtig, daß in der Regierungserklärung darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß gerade auch die Existenzgründung junger Leute eine zusätzliche und nachdrückliche Förderung erfahren sollte.Meine Damen und Herren, wir wissen aus Umfragen in Meisterkursen und bei vielen anderen Gelegenheiten, daß die Bereitschaft zur Selbständigkeit nach wie vor ungebremst ist und daß viele junge Menschen trotz der Verhältnisse, die sie bisher hatten, bereit sind, dieses Risiko zu übernehmen. Aber wenn wir ihnen nicht politisch Flankenschutz bieten, wenn wir ihnen nicht die Gelegenheit geben, das Risiko kalkulierbar zu machen, das mit jeder Existenzgründung verbunden ist, dann werden wir einen weiteren Substanzverlust an Selbständigkeit in unserer Gesellschaft und in unserer Volkswirtschaft haben.
Allein im Jahr 1981 ist die Zahl der selbständigen Existenzen um über 50 000 weiter abgesunken. Deswegen ist die in der Regierungserklärung klar und präzise angesprochene Frage, wie wir die Ertragskraft dieser Unternehmen wieder stärken können, wie wir die Eigenkapitalausstattung stabilisieren können und wie wir sie von unerträglichen Belastungen befreien können, eine für die Wiedergesundung unserer Volkwirtschaft ganz wichtige Frage.
Heute morgen ist in diesem Zusammenhang die Forderung angesprochen worden, daß Dauerschulden nicht mehr zum Gewerbekapital und Dauerschuldzinsen nicht mehr zum Gewerbeertrag hinzugerechnet werden sollten. Dies ist dabei eine ganz zentrale Frage; denn infolge des auf unter 20 % abgesunkenen Eigenkapitals ist leider ein Großteil unserer Betriebe zu über 80 % auf eben dieses Fremdkapital angewiesen. Wenn die Betriebe dafür zur Strafe auch noch Steuern zahlen müssen, braucht sich niemand zu wundern, daß nur noch ein Drittel unserer Gewerbebetriebe Gewerbesteuer zahlen, was bedeutet, daß die anderen einen Gewerbeertrag unter 36 000 DM im Jahr haben; denn genau das ist der Freibetrag.Norbert Blüm hat im April dieses Jahres auf einem Mittelstandskongreß gesagt: Wenn es dem Mittelstand gut geht, geht es auch den Arbeitnehmern
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7378 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Hauser
gut. Herr Kollege Roth, Sie haben hier soeben davon gesprochen, daß der Dialog mit den Gewerkschaften wieder gepflegt werden soll. Dem kann ich nur zustimmen. Ich würde Ihnen aber dringend empfehlen, den Dialog nicht nur mit den Gewerkschaften und ihren Funktionären, sondern auch mit den Arbeitnehmern zu führen. Dann werden Sie feststellen, daß ein Großteil der Arbeitnehmer, die in mittelständischen Betrieben beschäftigt sind, sehr viel besser die Probleme übersehen und ihre Konsequenzen daraus ableiten, als das bei manchen Diskussionen hier in diesem Zusammenhang der Fall ist.
Nach 1949 haben wir nicht zuletzt durch die Ankurbelung der Bauwirtschaft, die einer der zentralen Schlüsselbereiche unserer Volkswirtschaft ist, die Volkswirtschaft wieder in eine vernünftige Aufwärtsentwicklung gebracht. Wenn sich die neue Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung nachdrücklich zu einer Aktivierung des Wohnungsbaus bekennt, dann erreicht sie damit ein Doppeltes, daß nämlich die Bauwirtschaft, die in der gesamten Volkswirtschaft im Augenblick wohl in der schwierigsten Lage ist, einen Auftrieb erhält und daß alles, was sich an Investitionsnotwendigkeiten daran anschließt, bis hin zur Einrichtung einer neuen Wohnung, genau die belebenden Impulse gibt, die wir brauchen, um wieder Investitionen zu bekommen.
Deswegen ist die Regierungserklärung aus dieser Sicht wirklich ein Dokument, das zu Hoffnung und zu einem neuen Aufbruch, gerade im Bereich des Mittelstands, Anlaß gibt.Schon vor einigen Wochen wurde gesagt, daß es hier auch psychologischer Impulse bedarf. Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat mit Recht immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß Wirtschaftspolitik zu einem erheblichen Teil auch aus Psychologie besteht. Jetzt kommt es darauf an, hier nicht so zu tun, als habe man an all diesen Entwicklungen der letzten Jahre keinen Anteil, um diese neue Bundesregierung, die aus großen Schwierigkeiten heraus den Versuch macht, unser Land wieder in eine vernünftige Richtung zu bringen, zu beschimpfen. Vielmehr sollten Sie mit dazu beitragen, daß die hoffnungsvollen Erwartungen in unserer Bürgerschaft, in unserer Volkswirtschaft belebt werden, damit es wirklich wieder zu einem neuen Auftrieb kommt. Dann werden in der Folgezeit die Arbeitslosenzahlen kleiner werden, und die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft wird wachsen.Meine Damen und Herren, es nützt Ihnen gar nichts, wenn Sie hier in polemischer Manier ständig alle Schuldzuweisungen von sich abwenden.
Unsere Bürger sind viel zu intelligent und politischviel zu wach, auch wenn Ihnen das nicht gefällt, alsdaß sie nicht wüßten, wer den Scherbenhaufen verursacht hat, der hier von Ihnen angerichtet worden ist.
Um noch einmal auf den Zwischenruf von vorhin zu kommen — das ist eine beliebte Methode —, daß der Wirtschaftsminister dieser Koalition der gleiche wie in der vorigen Koalition ist, will ich Ihnen folgendes sagen. Dieser Wirtschaftsminister — das wurde in vielen Sitzungen des Wirtschaftsausschusses und bei vielen anderen Gelegenheiten deutlich— war am Ende nicht mehr in der Lage, in dieser Koalition das durchzusetzen, was er aus seiner Sicht und aus seinen Erkenntnissen für richtig hielt, und deswegen ist es doch zu diesem ganzen Desaster gekommen.
— Gerade dieses Stichwort ist mir sehr willkommen. Ohne daß wir uns hier mit jedem Satz des sogenannten Lambsdorff-Papiers, das von Ihnen ständig wie ein Pappkamerad durch die Landschaft getragen wird,
identifizieren müssen, ist das, was hier an Grundgedanken niedergelegt worden ist, jedenfalls konstruktiver als das, was Sie in den letzten Tagen hier an diesem Pult zur Wirtschaftspolitik geboten haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haussmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich heute die beiden Großparteien höre, dann hat es die FDP etwas leichter. Hier wechselt man sehr schnell seine Rolle aus der Mitverantwortung in eine pauschale Anklage,
dort, bei der CDU, geht es von einem „krisengeschüttelten Land" des Herrn Barzel jetzt langsam in die praktische Verantwortung.
In der Verantwortung, Herr Hauser — das habe ich soeben gesehen —, werden die Brötchen, die man auch als Mittelständler backen kann, kleiner.Ich möchte ein bißchen dazu beitragen, die Rolle zu beschreiben, die die FDP in der Wirtschaftspolitik gegenüber der SPD, aber auch gegenüber der Union hat. Ich erlaube mir, einige Koalitionsvereinbarungen an der Richtschnur zu messen, der ich mich in erster Linie verantwortlich fühle, nämlich an dem Wahlprogramm 1980, meine Damen und Herren.
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Dr. HaussmannErstens. Es ist richtig: Der Vorrang für arbeitsplatzschaffende Investitionen steht auch im Regierungsprogramm, aber ich glaube, es war etwas wenig, was im öffentlichen Haushalt umgeschichtet wurde. Es ist schon erstaunlich, daß man sich vom Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelstages dafür kritisieren lassen muß, daß wir lediglich 500 Millionen DM an Subventionen eingespart hätten. Ich habe noch das Credo der Union im Kopf — zunächst 20 %, dann 15 %, dann 10 % pauschale Einsparung bei den Subventionen —: Es ist sehr viel weniger geworden, meine Damen und Herren.
Zweiter Punkt: mehr Marktwirtschaft, mehr Wettbewerb, mehr Mut zum Markt. — Das ist voll zu unterstreichen. Das heißt aber auch: weniger Subventionen; das bedeutet aber auch, die Frage aufzuwerfen: Wird sich denn der Wirtschaftsrat der CDU auch in der Verantwortung so verhalten, daß er bei großen Firmenpleiten genauso wie andere große Gruppen die Bundesregierung sofort um Subventionen bitten wird? Wird denn unter der neuen Regierung endlich die KWG-Novelle vorankommen, d. h. wird die Beschränkung der Bankenbeteiligung abgebaut, meine Damen und Herren?
Bleibt es denn auch unter der neuen Regierung dabei — ich hoffe nicht —, daß die staatlichen Subventionen im Forschungsbereich nur Großprojekten zufließen, oder wird hier endlich zugunsten der dezentralen Forschungsförderung und zugunsten der Förderung von Klein- und Mittelbetrieben umgeschichtet?
Wenn ich lese, daß schon pauschal entschieden ist, daß beide Großprojekte im Energiebereich vorangetrieben werden, dann stelle ich fest, daß für die kleineren und mittleren Betriebe wenig übrigbleiben kann.Ich glaube, es ist erlaubt, diese klassischen FDP- Positionen auch an das neue Regierungsprogramm anzulegen. Und siehe da, die FDP weiß jetzt: Mit beiden Großparteien ist dies nur äußerst schwer zu verwirklichen.Dritter Punkt: freier Warenverkehr und freier Welthandel. — Das ist sehr gut. Ich frage: Heißt dies denn auch, daß wir uns mit dem zunehmenden EG-Protektionismus nicht nur über juristische Streitereien auseinandersetzen, sondern daß es endlich auch — da wäre die Regierung und Herr Narjes gefordert — zu einer diplomatischen Großoffensive im europäischen Raum kommt, damit die Textil- und die Stahlindustriellen endlich davon ausgehen können, daß wir nicht in einem unendlichen Subventionswettlauf ertrinken?
— In Belgien; deshalb ist es notwendig, Herr Schwörer, daß auf der europäischen Ebene endlich etwas passiert. —Heißt freier Welthandel auch, daß wir den Osthandel nicht weiter politisieren wollen, wie ich es hier häufig von Herrn Abelein oder von Graf Huyn gehört habe?
Hoffentlich bleibt es — dazu wird der Bundeswirtschaftsminister sicher etwas sagen — beim ErdgasRöhren-Geschäft und bei einer seriösen Abwicklung des langfristigen Vertrages zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik.Herr Roth hat zu Recht die Frage des sozialen Konsens eingeführt. Es trifft sich gut, daß die Evangelische Kirche heute in einer meines Erachtens sehr beachtenswerten Weise endlich neue Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt hat, auf die Herr Roth nicht eingegangen ist.
— Ich bitte Sie herzlich: Ich habe mich auf zehn Minuten beschränken müssen, um meiner Kollegin Matthäus-Maier nach liberaler Tradition etwas mehr Redezeit einzuräumen. Deshalb schaffe ich das nicht. —
In dieser EKD-Denkschrift sind endlich Vorschläge enthalten, die über unsere alte Schuldiskussion — angebotsorientiert oder nachfrageorientiert usw. — etwas hinausführen. Die EKD hat mutige Vorschläge gemacht. Ich hoffe, daß wir bereit sind, diese Vorschläge in einem Pakt gegen die Arbeitslosigkeit aufzunehmen.Es wird z. B. gesagt — ich halte das für gut —, es müsse möglich sein, drohende Entlassungen betriebsindividuell dadurch zu kompensieren, daß durch Betriebsvereinbarungen kurzzeitig auch Lohnveränderungen ermöglicht werden. In den USA ist das beispielhaft gezeigt worden. Warum geht das nicht in der Bundesrepublik?
— Ich komme darauf zu sprechen, Herr Hoffmann; nicht so aufgeregt.Zweitens. Massiver Ausbau von Teilzeitarbeitsplätzen zu Lasten von Ganzzeitarbeitsplätzen in der öffentlichen Verwaltung und in der Privatwirtschaft, bis wir in den 90er Jahren wieder weniger Arbeitskräfte und mehr Arbeitsplätze haben.
Drittens. Einführung einer nach Branchen und Regionen differenzierenden Lohnpolitik. Ich weiß, daß das sehr schwierig ist. Aber wenn die Evangelische Kirche bereit ist, dieses Problem zu erörtern, müssen sich auch die deutschen Gewerkschaften und die Arbeitgeber, die Tarifpartner mit dieser Frage auseinandersetzen:
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Dr. Haussmannob es nicht richtig ist, im strukturschwachen Raum, bevor wir die letzten Frauenarbeitsplätze in der Textilindustrie verlieren, eine differenzierte Lohnpolitik zur Rettung dieser Arbeitsplätze zu praktizieren.
Es wird auch der Vorschlag gemacht, und zwar vom Bund junger Unternehmer — den finde ich ebenfalls gut —, in einer Betriebsvereinbarung festzulegen, daß Lohnzuwächse etwas niedriger ausfallen, um dadurch in diesem Betrieb mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen zu schaffen. Das muß möglich sein. Wir müssen doch für die Zeit bis zu den 90er Jahren zu einer schnellen Entscheidung kommen. Wir können uns doch nicht ewig die Argumente dieser Schuldiskussion an den Kopf knallen. Wir können doch nicht weiter darauf verzichten, praktische, sofort wirksame Maßnahmen zur Einstellung von jungen Menschen auch von teilzeitarbeitenden Menschen zu ergreifen, um endlich mit dem Riesenproblem der bald über 2 Millionen Arbeitslosen fertig zu werden.
Wir haben — damit möchte ich meine ganz kurze Rede wirklich abschließen — ein großes Credo für mehr Eigenverantwortlichkeit, für mehr Solidarität, auch für mehr Markt gehört. Ich glaube, der Test der Einhaltung dieser hohen Tugenden steht in der Praxis noch aus. Ich hoffe, daß die neue Bundesregierung gerade auch in der Wirtschaftspolitik den Mut und die Durchsetzungskraft hat, das umzusetzen. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es sind eine Reihe von Fragen gestellt worden. Sie werden von mir mit Recht erwarten, daß ich den Versuch mache, darauf in aller gebotenen Kürze zu antworten.Herr Kollege Haussmann, ich empfehle Ihnen aus eigener Erfahrung — damals noch in Ihrer Rolle — im Umgang mit dem Kollegen Hauser, es mit dem Beispiel des Backens kleinerer Brötchen etwas zurückhaltend zu betreiben. Ich erinnere mich noch an seinen Zwischenruf: Das sind genau die teuren Brötchen.
Aber im Ernst: Ich will die Punkte einfach der Reihenfolge nach abhandeln, wie Sie sie vorgebracht haben.Herr Ministerpräsident Strauß hat heute morgen auch das Thema Dauerschulden und Dauerschuldzinsen angesprochen, Herrr Hauser. Ich will noch einmal sagen: Meine Bedenken in diesem Bereich bleiben bestehen. Steuerrechtlich, steuersystematisch ist es bedenklich,
die Benutzung von Eigenkapital steuerlich schlechterzustellen als die Inanspruchnahme von Fremdkapital. Ich habe meine Bedenken zurückgestellt nicht nur angesichts der Eigenkapitalsituation, sondern auch angesichts der Zinshöhe, und deswegen, weil wir damit einen Einstieg vornehmen in eine generelle Behandlung des Themas Gewerbesteuer. Sonst hätte ich meine Bedenken nur schwer überwinden können.Ich bin nach wie vor der Auffassung, Herr Haussmann, daß ein pauschaler Ansatz, also die Rasenmähermethode bei dem Kürzen von Subventionen, im Endeffekt trotz der Schweizer Erfahrungen nicht erfolgreich sein wird. Aber ich habe den Ansatz deswegen selber gewählt, weil ich es günstig finde — auch für die Regierung, gerade auch für einen Finanzminister —, wenn zunächst einmal jeder mit der Auflage bedacht wird: Du wirst 5 oder 10 % deiner Subvention los. Bei ihm liegt dann die Beweislast, uns und der Öffentlichkeit zu sagen, warum das unter keinen Umständen geht. Und nicht umgekehrt: Wir müssen nachweisen, daß man ihm etwas wegnehmen kann. Ich glaube, daß das von der Methode her hilfreich ist.Herr Kollege Haussmann, niemand wird wohl annehmen — ich habe es übrigens niemals erwartet, auch nicht bei einer vollen Legislaturperiode in der alten Formation —, daß eine KWG-Novelle noch bis 1984 hätte verabschiedet werden können. Ich war immer anderer Auffassung, und zwar schon sehr früh, wie Sie wissen, Herr Kollege Matthöfer. Ich würde es sehr begrüßen — ich hoffe, daß das noch gelingt, aber ob das in drei Monaten geht, weiß ich auch nicht; im übrigen ist das die Zuständigkeit des Finanzministers, und ich will mich da nicht einmischen —, wenn die Konsolidierung, die wichtig und notwendig ist, noch zustande gebracht werden könnte.Was den freien Welthandel anlangt, so brauchen wir uns nicht gegenseitig zu beteuern, wie gut und nützlich diese Veranstaltung ist und daß wir zu ihr stehen, nachdem wir allerdings jeden Tag auf irgendeinem Feld dagegen sündigen. Ich habe heute morgen von 8 bis 9 Uhr, bevor die Sitzung begann, mit unseren amerikanischen Freunden über die Frage der Begrenzung der Stahlexporte in die Vereinigten Staaten und über die Einbeziehung von Röhren gesprochen. Es war richtig ein Gespräch, das meiner Überzeugung als Anhänger des freien Welthandels wieder neuen Auftrieb gegeben hat. Das Merkwürdige dabei ist nur immer, daß man sich zur Eröffnung solcher Unterhaltungen immer wieder versichert — unsere Freunde aus den Vereinigten Staaten genauso wie wir auch —, jeder sei ein Anhänger des freien Welthandels, aber — —, und dann geht es los.Was die Politisierung des Osthandels anlangt, so werden Sie die Zeitungsberichte über die gestrige Sitzung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftskommission verfolgt haben. Das war ein zufälliges Zu-
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Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffsammentreffen, aber es war kein Zufall, daß das Treffen nicht kurzfristig verhindert wurde. Niemand will etwa Handelskriege führen — das sage ich nicht nur für unsere Regierung, sondern das sage ich ganz generell —, und niemand will eine weitere Politisierung. Aber jeder weiß auch — dies habe ich unseren Gesprächspartnern aus der Sowjetunion nicht nur diesmal, sondern genauso vor einem Jahr in Moskau gesagt —, daß wirtschaftliche und handelspolitische Beziehungen in dem Gesamtrahmen der politischen Beziehungen stehen, daß gute Wirtschaftsbeziehungen politische Beziehungen unterstützen können, daß sie aber gute politische Beziehungen nicht ersetzen können. Das ist nichts Neues, und das wird wohl auch so bleiben.
Meine Damen und Herren, was das Thema Teilzeitarbeitsplätze und Arbeitszeitverkürzung anlangt, so irren Sie, verehrter Herr Kollege Roth, wenn Sie meinen, Sie müßten mich auffordern, ich sollte den Kampf dagegen aufgeben. Allerdings würde ich gern hören, wenn Sie über die Arbeitszeitverkürzung sprechen, wie es denn dann mit dem Thema des Lohnausgleichs oder des vollen Lohnausgleichs aussieht.
— Verehrter Herr Wolfram, ich wollte es ja von Herrn Roth hören. Daß Sie das Thema kennen, ist mir klar.
Herr Bundesminister, der Herr Kollege Roth möchte gern eine Frage stellen.
Aber bitte sehr.
Wären Sie so nett, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei am letzten Montag noch einmal in einem Papier niedergelegt hat, daß der Sozialdemokratischen Partei auch in Richtung auf die Gewerkschaften klar ist, daß Arbeitszeitverkürzung und Lohnverhandlungen in einem Paket zusammengehören und zusammen verschnürt werden müssen? Das ist die Position — nehmen Sie das zur Kenntnis — des von Ihnen so sehr kritisierten Münchner Parteitags.
Verehrter Herr Roth, mit Ihrer Frage kommen Sie gleich zu meinem zweiten Hinweis, den ich geben wollte, nämlich daß die Arbeitszeitverkürzung eine Sache der Tarifpartner und nicht eine Sache der Bundesregierung ist. Ich frage mich: Sollen wir das von hoher Hand her verordnen, oder wie ist das gedacht?
Richtig ist natürlich auch folgendes. Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst — das ist vorhin gesagt worden —, job-sharing — da hören wir bisher keine sehr positiven Reaktionen —, das sind alles Dinge,
über die man nachdenken muß, auch die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wenn das finanzierbar ist. Bei Einführung des versicherungsmathematischen Abschlags bedeutet die Tatsache — das weiß jeder —, daß man ein Jahr früher in den Ruhestand geht, 7 % weniger Rente. Sehr groß ist der Spielraum da nicht, es sei denn, man findet jemanden, der das bezahlen und finanzieren kann. Der Haushalt wird es wohl kaum können.
Wir sind zu einer solchen Diskussion durchaus bereit. Die steuerlichen Nachteile und Hemmnisse, die solchen Regelungen entgegenstehen, abzuschaffen, darüber, meine Damen und Herren, könnte und muß man sicherlich miteinander reden.
Herr Bundesminister, der Abgeordnete Roth möchte eine zweite Frage stellen. Lassen Sie eine zweite Frage zu?
Herr Präsident, selbstverständlich. Es verlängert die Debatte, aber ich bin selbstverständlich dazu bereit. Bitte sehr, Herr Kollege Roth.
— Immer.
Die zweite Frage bezieht sich auf die erste: Wären Sie damit einverstanden, daß der Bundeswirtschaftsminister zwar keine Möglichkeit der unmittelbaren Einflußnahme auf die Tarifpolitik hat, aber in der jetzigen Phase den Arbeitgeberverbänden doch klar sagen müßte, daß der Tabu-Katalog der Arbeitgeberverbände gegen Arbeitszeitverkürzungen nicht mehr in die arbeitsmarktpolitische Landschaft paßt?
Herr Kollege Roth, ich will gerne mit den Arbeitgeberverbänden darüber sprechen. Ich habe im Augenblick nicht mehr ganz genau im Kopf, was in diesem nach meiner Meinung längst überholten und gar nicht mehr aktuellen Papier steht. Aber Sie erwähnen es in der letzten Zeit immer wieder. Ich meine, daß darüber noch einmal gesprochen werden kann. Immerhin entnehme ich Ihren Bernerkungen für mich sehr auffällige neue Nuancen — mindestens: Man möge sich zur Tarifpolitik dann doch einmal äußern. Das klang ja bisher ganz anders.
— Herr Kollege Hauser, ich habe mich auch schon gefragt, was denn wohl losgegangen wäre, wenn ich eine Lohnpause vorgeschlagen hätte.
Aber das ist ein unterschiedlicher Absender. Herr Roth, es muß doch auch in einer Regierung Arbeitsteilung geben dürfen; das ist doch sicher in Ordnung.Bei dem Thema Lohnpolitik möchte ich allerdings noch auf folgendes hinweisen. Herr Hauss-
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7382 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffmann, Sie haben die nach Branchen und Regionen differenzierende Lohnpolitik angesprochen. Sie wissen, daß ich Ihre Auffassung teile. Ich möchte aber einen zweiten Satz hinzufügen: Die Lohnpolitik muß auch mehr differenzieren — ich sage das jetzt sehr pauschal —, im Grundsatz mehr differenzieren nach Leistung. Die Einkommensunterschiede zwischen einem Facharbeiter und einem nicht gelernten Arbeiter sind bei uns in der Bundesrepublik mehr und mehr so gering geworden, daß es sich kaum noch lohnt, sich der Mühe der Ausbildung und des Lernens zu unterziehen. Das ist nicht in Ordnung.
Verehrter Herr Roth, was die Fähigkeit zum Gespräch mit den Gewerkschaften anlangt, möchte ich den Gewerkschaften ausdrücklich bestätigen, daß sie sehr viel sachbezogener und sehr viel realistischer sind, als das in Ihren Darlegungen zum Ausdruck gekommen ist.
Es hat selbstverständlich Gesprächskontakte gegeben, und es wird auch in Zukunft die notwendigen Gesprächskontakte geben, wenngleich Sie recht haben, wenn Sie sagen, daß es erstaunlicherweise am Widerstand der ÖTV, die ja in dem Bereich der Arbeitsplatzbedrohung durch die wirtschaftliche Entwicklung nicht so sehr eine Rolle spielt, und ihres früheren Vorsitzenden, mit dem ich im übrigen sonst sehr gute Gespräche gehabt habe und den ich charakterlich und menschlich hoch schätze, gelegen hat, daß die Konzertierte Aktion nicht wieder in Gang gekommen ist, was ich bedaure. Sie wissen, daß ich daran gearbeitet habe. Es wäre gut, sie zwar nicht in der alten, großen Form, aber doch in einer verkleinerten Form wieder zu haben.Ihre Behauptung, der durch mich unternommene Versuch, die Mitbestimmung zu zerstören, sei daran schuld, entspricht nicht ganz dem tatsächlichen Ablauf. Aber ich will ganz deutlich sagen: Es ist richtig, daß ich für eine Ausweitung der Montan-Mitbestimmung bei den Verhandlungen im Jahre 1980 nicht zu haben war und daß ich bei dieser persönlichen Haltung auch bleibe. Ich will da keinen Zweifel aufkommen lassen.
— Ja, nur, was damals Sie unter „Erhaltung" verstanden haben, war eben Ausweitung. Fangen wir diese Diskussion jetzt nicht an!
— Ja, ich bin für die Erhaltung der Montan-Mitbestimmung,
aber nicht für die Ausweitung, wie das im Falle Mannesmann der Fall gewesen wäre.Ich will, meine Damen und Herren, hier noch drei Punkte ansprechen, die Sie, Herr Roth, erwähnt haben.Da ist erstens Ihre Kritik am Verhalten des Wirtschaftsministers in der Frage AEG. Ich habe das von Ihnen ja schon — Sie haben Ihren eigenen Leitartikel entweder im Kopf oder mitgebracht — gelesen. Diese Kritik ist ungerechtfertigt. Es ist nicht ein einziger Termin, es ist nicht eine einzige Entscheidung versäumt worden. Sie wissen, daß gestern die Bürgschaft von 1,1 Milliarden DM durch die Europäische Kommission endlich genehmigt worden ist und daß wir alles getan haben, und zwar noch in der alten Regierung — Ihre Kritik richtet sich ja nicht etwa gegen die neue Bundesregierung, sondern richtet sich in diesem Zusammenhang gegen die alte Bundesregierung — —
— Ja, ja natürlich, gerne. Es ist alles getan worden, Herr Roth, was für die AEG notwendig und was möglich war.Das gleiche gilt für die Stahlkrise. Wie eigentlich stellen Sie sich das vor, wenn Sie kritisieren, die Unternehmen müssen endlich zusammenkommen und die Bundesregierung tue nichts dazu? Meinen Sie, die Bundesregierung kann die Entscheidungsbefugnis von Vorständen, Aufsichtsräten, Hauptversammlungen, kann Fusionsentscheidungen übernehmen, ersetzen, anordnen? Sie wissen sehr genau, am 30. Juni ist im Bundeswirtschaftsministerium ein ganzer Lieferwagen mit Subventionsanträgen — im wahrsten Sinne des Wortes — abgeliefert worden. Am 30. September sind die Anträge termingerecht zur Genehmigung nach Brüssel weitergeleitet worden. Wir hängen aber davon ab, daß z. B. im Falle Hoesch-Ruhrstahl die Entscheidung der Beteiligten getroffen wird, daß die Entflechtung mit Estel zustande kommt.Wenn Sie jetzt irgendeinen Zweifel an meiner persönlichen Haltung in der Frage Hoesch haben — Sie haben mich persönlich angesprochen; Sie meinen nicht die alte oder die neue Regierung, Sie meinen mich —, empfehle ich Ihnen als Auskunftsstelle den Betriebsratsvorsitzenden der Hoesch-Hüttenwerke, Herrn Kurt Schrade. Vielleicht können Sie sich bei ihm — er ist Ihr Parteifreund, er ist Mitglied der IG-Metall — über meine Position in dieser Frage erkundigen. Ich nehme an, Sie werden eine Auskunft erhalten, die Sie zufriedenstellt, es sei denn, sie enttäuscht Sie, weil sie positiv ist.
Thema Kohle, Vorrang der Steinkohle, Einsatz zur Energieerzeugung, der Jahrhundertvertrag. Niemand will daran etwas ändern. Herr Wolfram weiß ganz genau, daß nach diesem Vertrag von den EVU's die Kohle sogar abgenommen werden muß, wenn sie sie gar nicht zur Verstromung einsetzen können. Das ist schon eine gewaltige Last. Daran will niemand etwas ändern. Aber die Schwierigkeiten der Stahlindustrie, die damit einhergehenden Absatzschwierigkeiten und Aufhaldungsnotwendig-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7383
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffkeiten des Kohlebergbaus machen uns erhebliche Probleme, bereiten erhebliche Schwierigkeiten.Meine Damen und Herren, wir sind in ständiger Verbindung sowohl mit der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie wie mit dem Gesamtverband Steinkohlenbergbau wie mit den betroffenen Landesregierungen, nämlich in Nordrhein-Westfalen und im Saarland. Es ist nicht richtig, verehrter Herr Roth, es werde Druck ausgeübt zur Schließung von Zechen.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfram?
Ich möchte jetzt gerne zu Ende kommen, um nicht zuviel Zeit zu nehmen.
Meine Damen und Heren, das Thema Werften ist in der Tat nicht angesprochen worden. Sie wissen, daß wir in den letzten Jahren mit einem Küstenprogramm — wir verhandeln darüber seit etwa zweieinhalb Jahren — nicht weitergekommen sind. Sie werden nicht erwarten, daß das in den fünf Monaten der Tätigkeit dieser Regierung zu Ende gebracht werden kann. Daß es hier Probleme gibt, ist bekannt, ist überhaupt nicht neu.
— Nein, es wurde nicht in der Erklärung vergessen. Ich sage Ihnen: Wir haben uns in der Regierungserklärung auf das beschränkt, was in den nächsten Monaten wirklich zu tun und zu entscheiden ist, und haben nicht eine Auflistung sämtlicher Probleme gemacht. Das wissen Sie doch.
Letzte Bemerkung an Herrn Roth. Herr Roth, ich nehme zur Kenntnis, daß Sie mir Flexibilität im charakterlichen Bereich vorwerfen. Ich habe heute morgen gesagt, ich werde auf derartige persönliche Beschimpfungen und persönliche Anspielungen nicht entsprechend antworten. Ich tue es auch in Ihrem Falle nicht.
Aber ich freue mich natürlich für Sie über eines: Bevor ich Wirtschaftsminister war und als Sie noch Juso-Vorsitzender waren, haben Sie mich als den Oberarzt dieser Zahnärztepartei bezeichnet. Nun sind die Fronten doch auch für Sie wieder richtig hergestellt. Nun können Sie wieder loslegen, Herr Roth. Eines allerdings werden auch Sie in Zukunft zu berücksichtigen haben, und hier haben Sie Flexibilität gezeigt — aber von mir begrüßte —: Sie haben einen sehr stark mittelständisch strukturierten Wahlkreis. Das hat einen ungewöhnlich heilsamen
Einfluß auf manche Ihrer abwegigen Vorstellungen ausgeübt.
Es ist Ihnen vorhin so gegangen, Herr Roth, daß Sie nicht ganz mit Ihrer Zeit zurechtkamen. Lassen Sie doch die alte Gebetsmühle der Erwähnung der Namen Reagan und Thatcher. Jeder nimmt an, daß Sie das in jeder Rede sagen. Sie brauchen es gar nicht mehr zu tun. Es ist falsch. Und es ist bekannt. — Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hören in dieser Debatte immer wieder zwei unterschiedliche Versionen über das Ende der sozialliberalen Koalition und seine Ursachen.Lassen Sie mich in aller Kürze vier Punkte zu der einen Version sagen.Erstens. Richtig ist, daß sich einige Sozialdemokraten sehr schwer mit der Einsicht getan haben, daß ein auf hohen Wachstumsraten beruhendes Finanz- und Sozialsystem bei geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepaßt werden muß, um seine Funktionsfähigkeit zu erhalten.Zweitens. Ebenso richtig ist, daß bei der SPD viele Politiker, allen voran der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sowie die ehemaligen Bundesfinanzminister Matthöfer und Lahnstein, sich für diese Anpassung eingesetzt haben und daß es uns gemeinsam gelungen ist, in den letzten Jahren in der alten Koalition durch mehrere wichtige Sparpakete entscheidende Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Hier war es der von der CDU/ CSU beherrschte Bundesrat, der jeweils das Einsparvolumen der Sparpakete verringerte.
Drittens. Es bleibt festzustellen, daß auch den Sozialdemokraten die Notwendigkeit weiterer Einsparmaßnahmen bewußt war. Ich erinnere nur an die Rede von Finanzminister Lahnstein vor der FDP-Bundestagsfraktion im Sommer.
Nach meinen Erfahrungen wäre die SPD zu weiteren Einsparungen auch im Sozialbereich bereit gewesen, wenn einerseits die CDU/CSU im Bundesrat Bereitschaft gezeigt hätte, die soziale Ausgewogenheit der Sparpakete zu wahren,
und wenn andererseits die FDP Bereitschaft gezeigt hätte, den Sozialdemokraten die Zugeständnisse zu machen, die sie über Monate verweigert
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7384 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Frau Matthäus-Maierhatte, der CDU/CSU aber dann in der neuen Koalition binnen weniger Tage gemacht hat,
z. B. Steueranhebung im Jahre 1983, die Zwangsanleihe und eine höhere Neuverschuldung.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber nur eine ganz kurze. Denn — das muß ich mal für die Leute draußen sagen — im Unterschied zu den Regierungsmitgliedern, die reden dürfen, solange sie wollen, wird mir als Abgeordneter das von der Redezeit abgezogen. Deswegen nur die eine Zwischenfrage.
Frau Kollegin, ich werde es so kurz wie möglich machen. Darf ich Sie bitten, das 30-Tage-Buch des Herrn Bölling durchzulesen und dann gegen Ihre Hoffnungen dessen Erkenntnis zur Kenntnis zu nehmen, daß zwar die Minister der SPD bereit wären, weitere Einsparungen vorzunehmen, daß aber die SPD-Fraktion sich weigern würde, eine derartige Maßnahme mitzutragen.
Herr Kollege, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß auch in der Vergangenheit mehrmals diese Situation bestanden hat und wir dann gemeinsam immer alle Sparaktionen hier im Deutschen Bundestag durchgezogen haben.
Viertens. Entscheidend ist aber, daß seit etwa einem Jahr Unklarheiten über den Koalitionskurs der FDP bestanden.
Es entstand der Eindruck, von einigen bewußt herbeigeführt, von anderen zugelassen, die FDP wolle die sozialliberale Koalition verlassen und warte nur noch auf den passenden Zeitpunkt zum Absprung.
Viele meiner Kollegen und ich haben davor gewarnt, ich selbst z. B. noch in einem Zeitungsartikel vom 6. August 1982, in dem ich sagte:Wir dürfen nicht zulassen, daß selbstmörderische Modellspielereien, wie, wann, wo, mit wem und unter welchen Umständen die FDP die Koalition in Bonn verlassen könnte, sollte oder müßte, das Bild der Partei bestimmen.
Daß in einer solchen Situation der ehemalige Koalitionspartner befürchtete, er sollte — und das ist mein persönlicher Eindruck aus vielen Gesprächen — noch schnell durch Milliardeneinsparungen imSozialbereich sozusagen die Dreckarbeit erledigen, bevor dann die FDP in eine andere Koalition gehen würde, ist nicht unverständlich.
Nach alledem halte ich die eine Version, die Koalition sei sozusagen von der SPD wegen ihrer mangelnden Bereitschaft, weitere Einsparungen mitzutragen, aufgekündigt worden, für falsch.Aber wie dem auch sei, und gleich, aus welchen Gründen die alte Koalition zu Ende ging, konnte doch daraus nicht die Notwendigkeit eines konstruktiven Mißtrauensvotums folgen. Niemand bestreitet, daß ein solches Instrument verfassungsrechtlich zulässig ist. Niemand bestreitet, daß es unter bestimmten Bedingungen möglich oder sogar sinnvoll sein kann, daß die FDP eine Koalition mit der CDU/CSU eingeht. Es ist j a kein Geheimnis, daß sich mehrere meiner Parteifreunde und meiner Fraktionsfreunde und ich darauf einstellten, daß 1984 eine solche Frage auf uns zukommen würde; manche von Ihnen haben sicher das Thomsen-Papier im „Spiegel" gelesen. Aber ich bestreite, daß es politisch in Ordnung und mit der Glaubwürdigkeit der FDP und mit der Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Institutionen, die j a ohnehin angeschlagen ist, vereinbar war, durch ein konstruktives Mißtrauensvotum Helmut Schmidt ohne neues Votum der Partei und ohne neues Votum der Wähler als Bundeskanzler abzuwählen
und Helmut Kohl ohne neues Votum der Partei und ohne neues Votum des Wählers zum Bundeskanzler zu wählen.
Warum war das nicht in Ordnung? Hans-Dietrich Genscher hat auf dem FDP-Wahlparteitag 1980 in Freiburg u. a. folgendes gesagt:Meine Parteifreunde, unser Land braucht die sozialliberale Koalition, weil nur sie unsere Politik der aktiven Friedenssicherung fortsetzen kann ...
Das alles veranlaßt mich, Ihre, des Parteitages Zustimmung zu der folgenden Erklärung zu beantragen:Der Parteitag wolle beschließen:Die F.D.P. erklärt ihren Willen zur Fortsetzung der sozialliberalen Koalition für die nächste Legislaturperiode.Weiter Herr Genscher:
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7385
Frau Matthäus-MaierWer F.D.P. wählt, garantiert, daß Helmut Schmidt Bundeskanzler bleibt.
Auch hier soll der Wähler wissen, woran er mit der F.D.P. ist, ohne Wenn und Aber ... Nur Klarheit in der Sache und in der Koalitionsfrage wird den Erfolg bringen. Deshalb darf in der Sache nichts verwässert und deshalb darf in der Koalitionsfrage nicht gewackelt und nicht gefackelt werden.So Hans-Dietrich Genscher im Juni 1980 auf dem Wahlparteitag der FDP!
Sein Vorschlag zu einer Koalitionserklärung wurde dann fast einstimmig angenommen.Meine Damen und Herren, man kann es nicht bezweifeln: Das war ein völlig eindeutiges Wahlversprechen. Dazu sind wir im Wahlkampf immer wieder befragt worden, und wir haben bestätigt, das gelte für eine ganze Legislaturperiode.
Dieses Wort mußten wir halten!Wenn denn nun wirklich eine weitere Zusammenarbeit mit der SPD nicht mehr möglich gewesen wäre — meine Damen und Herren, ich bezweifle das , aber wenn es so gewesen wäre, so hätten wir uns meiner Ansicht nach für eine andere Koalition, aber auf jeden Fall durch Neuwahlen ein neues Votum des Wählers holen müssen, ganz abgesehen davon, daß man nach meiner Ansicht über eine solche Grundsatzentscheidung wie eine Koalitionsentscheidung nur einen Parteitag hätte befinden lassen können.
Meine Damen und Herren, kein Abgeordneter der FDP war meiner Ansicht nach legitimiert,
sein für Helmut Schmidt gewonnenes Mandat zu Herrn Kohl und zu Herrn Strauß mitzunehmen.
Walter Scheel sagte vor dem Mißtrauensvotum von Rainer Barzel gegen Willy Brandt 1972:Es geht um den Versuch, eine Veränderung politischer Mehrheitsverhältnisse ohne Wählerentscheid herbeizuführen. Das trifft unabhängig von der formalen Legitimität den Nerv dieser Demokratie.Eine Regierung gegen Treu und Glauben hat unser Volk nicht verdient.Damals scheiterte der Versuch, eine Regierung zu etablieren, „deren Geburtsstunde" — so Walter Scheel — „vom Makel des Wortbruchs gekennzeichnet wäre."
Für mich gibt es keinen Weg daran vorbei: Diesmal, am 1. Oktober 1982, ist der Wortbruch wahrgemacht worden,
und Sie wissen, dies hat der Glaubwürdigkeit der FDP nicht genützt.Unter dem Stichwort „Glaubwürdigkeit" möchte ich aber auch ein Wort zu Herrn Kohl sagen. Herr Kohl, Sie haben Ihren Anspruch auf Kanzlerschaft mehrfach damit begründet, daß wieder die alten Werte speziell den jungen Mitbürgern vermittelt werden sollten. Herr Dregger hat von moralischen Defiziten gesprochen.
Ich glaube, die jungen Menschen in diesem Lande haben ein gutes Gefühl für die wichtigen Werte:
Erhaltung der Natur, Vorrang des Menschen vor der Industrie, Sicherung des Friedens durch Abrüstung und auch Glaubwürdigkeit in der Politik. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade weil die jungen Leute von vielen, die den alten Werten angeblich wieder ihren Stellenwert in der Gesellschaft zuweisen wollen, im Alltag allzuoft exakt das Gegenteil vorexerziert bekommen, wollen viele junge Menschen in dem von ihnen als schmutzig empfundenen Spiel nicht mehr mitspielen. Wer wollte behaupten, sie hätten unrecht angesichts des Bonner Trauerspiels? Da werden Gutachten um Gutachten bestellt, um zu ergründen, woher Verweigerung und Resignation der jungen Leute kommen. Dabei liegt die Antwort auf der Hand:
Weil eine große Zahl der führenden Politiker, eine große Zahl von uns, den Repräsentanten, schlicht und einfach nicht den moralischen Ansprüchen des nichtangepaßten Teils der Jugend entspricht. Meiner Ansicht nach spricht das für die Jugendlichen und gegen die Politiker. Dieser Zustand ist durch diesen Wortbruch verschärft worden.
Lassen Sie mich unter dem Stichwort Glaubwürdigkeit auch noch darauf hinweisen, daß auch in vielen Einzelpunkten Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit verlorengegangen ist. In einer ganzen Reihe von Fragen sind nach dem Motto: „Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern!" Meinungen binnen weniger Tage oder gar Stunden geändert worden. Was ich jetzt sage, geht sowohl die CDU-Position an, als auch einige Positionen meiner Fraktion. Höhere Kreditaufnahme für 1983 — viel höher als angekündigt. Steuererhöhung 1983, die man bisher nicht wollte. Zwangsanleihe —
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Frau Matthäus-Maierentweder eine verkappte Ergänzungsabgabe oder eine verkappte höhere Neuverschuldung. Bundesbankgewinne, die Sie von der CDU überhaupt nicht einsetzen wollten — und jetzt gleich 2 Milliarden DM mehr. Fünf Prozent Subventionskürzung — daran gemessen ist das Ergebnis der 500 Millionen geradezu bescheiden. Verschieben des Besoldungsanpassungstermins, den Sie vorher nicht wollten, den Sie aber jetzt machen, was ich begrüße — aber Sie haben vor wenigen Tagen noch anders gesprochen —, und verschiedenes andere mehr.Der Bundesvorsitzende der FDP hat am 9. September 1982 in der Debatte zur Lage der Nation über die Möglichkeit zur Einigung in der alten Koalition wörtlich gesagt:Die Grenze muß dort liegen, wo man sich gegenseitig überfordert, ja, wo einer von beiden oder gar beide in die Gefahr geraten, ihre Identität zu verlieren. Identitätsverlust demokratischer Parteien kann zu Substanzverlusten in der parlamentarischen Demokratie führen.So Genscher! Was für eine bestehende Koalition gemeint war, hätte sicher erst recht bei der Begründung einer neuen Koalition gelten müssen.
Dann aber hätte es meiner Ansicht nach die neue Koalition gar nicht erst geben dürfen. Denn daß die getroffenen Koalitionsvereinbarungen eine Grundlage zur Wahrung liberaler Identität vor allem in der Innen- und Rechts-, Gleichberechtigungs- und Umweltpolitik sei, kann man wirklich nicht behaupten. Ich erinnere darüberhinaus an die diskriminierende Behandlung von Gerhart Baum durch die CSU oder an die Behandlung von Herrn MenkeGlückert, der für liberale Umweltschutzpolitik steht, durch Herrn Zimmermann. Herrn Zimmermann, der sicherlich mit mir darin übereinstimmt, daß unsere und seine rechts- und innenpolitischen Vorstellungen unvereinbar sind, Herrn Zimmermann
muß ich zugestehen, daß es ihm gelungen ist, seine Identität zu wahren.
Es ist eben so, daß sinkende Gemeinsamkeiten mit einem alten Partner noch lange keine tragfähige Basis für Gemeinsamkeiten mit einem neuen Partner schaffen. Und in diesem konkreten Fall war es — das ist meine Überzeugung gerade aus der Erfahrung im finanzpolitischen Bereich —, wenn man alle Politikbereiche zusammen betrachtet, sogar so, daß selbst am Schluß der alten Koalition, als Gemeinsamkeiten teilweise grobfahrlässig abgebaut worden waren, die Summe der Gemeinsamkeiten der alten Koalitionspartner noch immer größer war als die Gemeinsamkeiten in der neuen Koalition.
Dies führt mich zu dem Ergebnis: Sowohl wegen ihres Geburtsfehlers als auch wegen des Inhalts der Koalitionsvereinbarung und der personellen Zusammensetzung der Bundesregierung kann ich diese Regierung nicht unterstützen,
zumal ich einen Wortbruch nicht mittragen kann, auch nicht im nachhinein unter Berufung auf Mehrheitsentscheidungen.
Ich betrachte mich daher als in Opposition zu dieser Regierung befindlich. Ich sehe für mich keine andere Möglichkeit, als bis zum Ende der Legislaturperiode in diesem Bundestag für die Politik einzutreten, für die allein ich vom Wähler einen Auftrag habe.
— Regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Jahn!
Sie werden bei den Abstimmungen sicher auf mich verzichten können.
Meine Herren, würden Sie die Dame ausreden lassen!
Dies ist die Politik der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt, wie sie FDP und SPD bis zum 17. September gemeinsam beschlossen und vertreten haben. Dies gilt insbesondere auch in jenem Bereich, in dem ich für meine Fraktion besondere Aufgaben übernommen hatte, die Steuer- und Finanzpolitik. Ich sehe bis heute keine vernünftige Alternative zu jener Konzeption — ich komme sofort zum Schluß —, die die FDP-Fraktion in großer Übereinstimmung mit den zuständigen Politikern der SPD, allen voran Helmut Schmidt, Manfred Lahnstein und Hans Matthöfer, getragen hat: eine Politik der Konsolidierung mit Augenmaß unter Wahrung der sozialen Ausgewogenheit — soziale Ausgewogenheit nicht nur wegen der gesellschaftspolitischen Akzeptanz, sondern auch aus ökonomischen Gründen; denn nur durch diese kann der soziale Frieden erhalten bleiben und können plötzliche Einbrüche der Binnennachfrage vermieden werden, die nach Übereinstimmung mit allen Wirtschaftsfachleuten die konjunkturelle Entwicklung nur erneut schwer erschüttern müßten —,
eine Politik der Anpassung des Sozial- und Finanzsystems an die neue Notwendigkeit durch struktu-
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Frau Matthäus-Maierrelle Reformen unter dem Stichwort „Beschränkung auf die Bedürftigen" statt durch pauschale Kürzungen.
Dies bedeutet auch, daß ich die neue Politik der Mehrheit meiner Fraktion zwar in Einzelteilen, nicht jedoch in ihrer Gesamtheit für die Fraktion in parlamentarischen Gremien vertreten kann. Aus diesem Grunde war es auch folgerichtig, daß ich meine Ämter in diesem Bereich, die ich auf Vorschlag der Fraktion bekommen habe, niedergelegt habe. — Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Staatsminister Möllemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als Mitglied meiner Fraktion, der FDP-Bundestagsfraktion, den soeben erneut erhobenen Vorwurf des — —
Entschuldigung, Herr
Kollege Möllemann, in welcher Eigenschaft sprechen Sie?
Als Abgeordneter dieses Hauses.
Dann kann ich Ihnen das Wort nicht erteilen. Sie wurden hier als Mitglied der Bundesregierung gemeldet. Deshalb habe ich Ihnen außer der Reihe das Wort erteilt.
Das kann niemand ändern: ich habe nach der Reihenfolge der Redner, wie sie mir gemeldet sind, den Abgeordneten das Wort zu erteilen.
Entschuldigen Sie bitte, mir ist gemeldet worden, der Staatsminister Mölleman bitte um das Wort. Deshalb habe ich ihm das Wort erteilt. Auf meine Frage hat der Abgeordnete Möllemann gesagt, er spreche als Abgeordneter. Als Abgeordnetem kann ich ihm das Wort außer der Reihe nicht geben.
Wir fahren jetzt in der Reihenfolge, wie die Redner gemeldet sind, fort. Als nächster Redner hat das Wort Frau Abgeordnete Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst im Namen der sozialdemokratischen Fraktion Frau Matthäus-Maier für ihre beherzten Worte sehr herzlich danken.
Ich würde gerne an diesem Thema hängenbleiben. Mir liegt aber daran, meine sehr kurze Redezeit für ein paar Aspekte der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers zu nutzen. Wir Sozialdemokraten sind in der Opposition, und da wir bald wieder heranwollen, müssen wir die Alternativen zu der Politik, die uns gestern vorgetragen worden ist, deutlich machen.Zunächst ist von Interesse, daß sich Herr Minister Engelhard und Herr Minister Zimmermann darüber beklagt haben, wir würden zu sehr nach den Themen fragen, die nicht in der Regierungserklärung angedeutet wurden. Man kann Verständnis haben, daß der Herr Bundeskanzler zunächst ein Notprogramm vorlegt und alle sonstigen wesentlichen Dinge in der Regierungserklärung ausspart. Man könnte ja sagen: Okay, ein Notprogramm, mehr schaffen sie halt nicht. Dies könnten wir nur akzeptieren. Aber der Herr Bundeskanzler hat gesagt, mit diesem Programm wolle er sich dem Wählervolke stellen. So wollen wir doch ganz gerne wissen, was dem Wähler in diesem Lande über das Notprogramm hinaus noch zugemutet wird.
Es fing ja gut an. Die Verblüffung war perfekt. Denn es geschah etwas ganz Außergewöhnliches: Ein Mann übernahm das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit.
— Ja, aber dann passierte etwas sehr Typisches für die Männergesellschaft. Er erklärte: Dieses Amt mache ich nebenbei; denn ich bleibe Generalsekretär der CDU.
Dann ist die CDU immer dafür, daß das ehrenamtliche Element in der Gesellschaft hervorgehoben wird. Auch dies hat Herr Geißler befolgt; denn er ist nunmehr ehrenamtlicher Generalsekretär der CDU. Wer daraus aber folgt, er kriege kein Gehalt mehr, der irrt sich; denn er bekommt natürlich das Gehalt als Bundesminister. So haben wir zu verzeichnen, daß wir einen auf Staatskosten bezahlten Generalsekretär der CDU haben.
Dieser Generalsekretär macht nebenbei Familienpolitik, und so ist sie dann auch. „Die Familie mit Kindern gerät immer mehr ins gesellschaftliche Abseits. Nach der Reduzierung des Kindergeldes soll nun noch die Mehrwertsteuer angehoben wer-
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Frau Fuchsden. Die Familien werden durch diese unsoziale Steuer mehrfach getroffen. Eine Politik gegen die Familie ist sozial nicht mehr tragbar." Also sind eine Reduzierung des Kindergeldes
und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Familie nicht mehr tragbar. Das habe nicht ich gesagt, sondern da zitiere ich Frau Helga Wex aus einem Papier vom 1. März 1982, in dem sie für die Frauenvereinigung der CDU die Familienpolitik vorstellt.
Was machen Sie denn nun, meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler? Sie erhöhen die Mehrwertsteuer. Sie reduzieren das Kindergeld.
Jetzt weiß ich auch, warum Frau Wex aus diesem Bereich ausgeschieden ist.
Ich will auf die Themen Kindergeld, Familiensplitting und Kinderbetreuungsbetrag nicht weiter eingehen. Ich will auf die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers zu sprechen kommen, der auf die Bedeutung der Familie eingegangen ist. Ich glaube, wir sind uns darin einig: Natürlich hat Familie über die materiellen Bedingungen hinaus Bedeutung in unserem Staat. Herr Bundeskanzler, jeder, der — wie ich — Familie hat, wird Ihnen das bestätigen: Sie gibt Geborgenheit, schafft Vertrauen, ist der wichtigste Start in eine vernünftige Zukunft.Aber natürlich müssen für die Familie die Rahmenbedingungen stimmen. Diese setzt der Staat. Sie beginnen aber Ihre Familienpolitik zunächst einmal mit einer Kürzung des Kindergeldes,
und Sie schneiden in einer Art und Weise in das Schüler-BAföG ein, daß ich das nur als familienfeindlich bezeichnen kann.
Wenn wir bedenken, was auf die Familie zukommt, dann wird es neben der Reduzierung des Kindergeldes und der praktischen Abschaffung des Schüler-BAföG mehr Miete und weniger Sozialhilfe sein. Bei der Sozialhilfe hat man den Eindruck, daß Herr Geißler durch das Festschreiben der Anpassung der Bedarfssätze auf 2 % sehr elegant seine „Neue soziale Frage" lösen will. Wenn nämlich weniger Leute Sozialhilfe bekommen, gibt es statistisch weniger arme Leute in unserem Land, und so hat Herr Geißler das Problem „Armut in der Bundesrepublik" auf elegante Weise gelöst.Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, wenn wir über die Rahmenbedingungen von Familien sprechen, müssen wir uns natürlich auch über die Werte, über die Grundvorstellungen unterhalten. Dann habe ich aber die herzliche Bitte, HerrBundeskanzler, nicht den Fehler zu machen, den Frauen Illusionen statt Perspektiven für die Zukunft anzubieten.
Da reicht es nicht aus, wenn man meint, man könne eine heile Welt der Familie beschreiben und dabei die harten Bedingungen der Industriegesellschaft außen vor lassen. Wenn Sie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie nichts anderes anzubieten haben als Teilzeitarbeit und Jobsharing, so haben Sie das Ausmaß dieser Problematik nicht erkannt.
Erstens ist es interessant, daß Teilzeitarbeit nur für die Frauen angeboten wird. Zum zweiten darf ich darauf hinweisen, daß zwei Drittel der arbeitslosen Frauen einen Vollzeitarbeitsplatz suchen, weil sie auf den Verdienst angewiesen sind.Ich darf darauf hinweisen, daß wir in der Kommission „Frau und Gesellschaft" viel mehr Perspektiven entwickelt haben. Ich frage mich: Wo ist eigentlich bei dem FDP-Koalitionspartner all das geblieben, was wir zum Thema „Gleichberechtigung der Frau" einbringen wollten?
Wenn Sie über das Notprogramm hinaus hierzu etwas sagen, wären wir sehr dankbar. Aber ich habe den Eindruck, daß dies das einzige bleiben wird.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Bemerkungen machen zu dem Thema: Subsidiarität und Sozialhilfe nur für wirklich Bedürftige.Was Subsidiarität betrifft, müssen davor doch wohl Solidarität und Gerechtigkeit kommen. Ich habe von allen Fraktionsvertretern in dieser Debatte des öfteren Worte gehört, als ob Sozialpolitik auf Leistungen für wirklich Bedürftige reduziert werden sollte.Ich bin Ihnen, Herr Bundeskanzler, sehr dankbar dafür, daß Sie ausdrücklich noch einmal auf die Beitragsbezogenheit unserer Sozialleistungen hingewiesen haben. Denn wir haben doch die großen Solidargemeinschaften errichtet, damit der Arbeitnehmer und seine Familie entsprechend seinem Einkommen, bezüglich des Lebensstandards, im Alter, bei Arbeitslosigkeit und bei Krankheit abgesichert sind. Es ist also kein Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip, wenn es nach einem langen Arbeitsleben und nach einer langen Beitragszahlung auch hohe Renten gibt. Sie entsprechen nämlich dem, was der Betreffende vorher eingezahlt hat.
Deswegen ist es falsch, immer so zu tun, als ob die großen Solidargemeinschaften dafür da wären, nur für Bedürftige etwas zustande zu bringen. Durch diese großen Solidargemeinschaften wird in den besonderen Situationen des Lebens dem Menschen konkrete Freiheit zuteil, weil er so seinen Lebensstandard, ohne Not leiden zu müssen, aufrechterhalten kann.
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Frau FuchsNun wird diesen großen Solidargemeinschaften vorgeworfen, sie seien zu bürokratisch. Das mag sein, meine Damen und Herren.
Gegen die Bürokratie in diesen großen Solidargemeinschaften kann man etwas tun. Man muß diese Gemeinschaften aber deswegen nicht abschaffen.Wenn Sie den Vorwurf der Bürokratisierung erheben, dann frage ich Sie: Wie groß ist denn der Anteil an Bürokratie bei Ihrer ominösen Zwangsanleihe? Wie groß ist denn der Bürokratieaufwand bei der Umstellung der Studentenförderung auf Darlehen? Und wie groß ist der Bürokratieaufwand bei den Einkommensgrenzen für das Kindergeld? Dadurch wird doch eine erhebliche Bürokratisierung verursacht?
Ich will kurz auf die Auswirkungen der sozialpolitischen Beschlüsse auf die der Sozialhilfe wirklich Bedürftigen eingehen. Im Gegensatz zu den großen Solidargemeinschaften beruht die Sozialhilfe auf dem Prinzip der Subsidiarität. Von Ihren Beschlüssen werden 13 Millionen Menschen betroffen, deren Leistungen aus der Rentenversicherung verschoben werden, außerdem 1,1 Millionen Menschen hinsichtlich der Unfallversicherung, 1,9 Millionen Menschen hinsichtlich der Kriegsopferversorgung, 2,1 Millionen Menschen wegen der Sozialhilfe und 0,2 Millionen Menschen im Zusammenhang mit dem Lastenausgleich. Das heißt, meine Damen und Herren, daß — Mehrfachleistungen berücksichtigt - 13 bis 14 Millionen Leistungsempfänger und damit mehr als ein Drittel unserer Bevölkerung mit einer Absenkung des Lebensstandards um 4 bis 5 % im ersten Halbjahr 1983 zu rechnen haben.
Dies gilt es nach draußen deutlich zu machen.Jetzt möchte ich Herrn Blüm ansprechen. Aber er ist leider nicht da. Was bedeutet denn eigentlich eine Verschiebung der Rentenanpassung um ein halbes Jahr? Ist das nicht Rentenpolitik nach Kassenlage, die Sie uns immer vorgeworfen haben?
Da ich gerade bei diesem Thema bin, will ich Ihnen mein Kompliment machen. Daß Sie bezüglich des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner eine soziale Komponente vorgesehen haben, finde ich beachtlich. Das ist uns mit der FDP bisher nie gelungen. Ich hoffe, daß Sie dies durchhalten können.
Weil ich bei Herrn Blüm bin, darf ich folgendes sagen. Wie muß sich ein Arbeitsminister eigentlich vorkommmen, der mit einer Verschiebung der Rentenanpassung antreten muß,
der im übrigen zum Thema Mitbestimmung, zum Thema Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Humanisierung des Arbeitslebens, zur aktiven Arbeitsmarktpolitik nichts zu sagen hat? Kein Wort findet sich dazu in der Regierungserklärung.
Wie ist es denn mit der Fortentwicklung des technischen Fortschritts? Welche Antwort gibt es denn auf dem arbeitsrechtlichen Arbeitsschutzsektor, um den Arbeitnehmer vor untragbaren Belastungen zu schützen?
Das einzige, was Herrn Blüm gelungen ist — ich lächele gleich, mir ist jetzt nicht sehr zum Lächeln zumute —, ist, daß er ankündigen kann, den Jugendarbeitsschutz abzubauen.
Obwohl wir in den letzten Jahren zuhauf mehr Ausbildungsplätze bekommen haben, muß das alte Argument herhalten, als ob das Jugendarbeitsschutzgesetz daran schuld sei, daß junge Menschen keinen Ausbildungsplatz bekommen.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Wir haben diese Gesetze gemacht, um den arbeitenden Menschen zu schützen.
Dies sind keine Gesetze für die Schönwetterzeit, sondern sie haben sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu bewähren, und wir haben sie nicht gemacht, um sie jetzt zur Disposition zu stellen.
— Ich möchte den Gedanken zu Ende bringen.Ich mache mir Sorge, daß der soziale Friede in Gefahr gerät, weil die Arbeitnehmer nicht mehr bereit sind, die von uns erkämpften Rechte aus Angst um ihren Arbeitsplatz wahrzunehmen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, wenn Sie die jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz haben, nach Ihren Worten geschützt haben, übernehmen Sie dann auch die Verantwortung
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7390 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Kroll-Schlüterij für die über 100000 jungen Menschen, die keine Arbeit und keinen Ausbildungsplatz haben?
Herr Kollege, Sie kriegen zusätzliche Ausbildungsplätze nicht dadurch, daß Sie Schutzbestimmungen abbauen,
sondern Sie kriegen zusätzliche Ausbildungsplätze dadurch,
daß Sie die Anstrengungen fortsetzen. Ich bin über den großen gesellschaftlichen Konsens in unserem Lande froh, der darin besteht, daß wir jungen Menschen — ich hoffe Jungen und Mädchen — einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen wollen. Auch als Oppositionspartei sind wir den Handwerkskammern und den Unternehmern dankbar dafür, daß sie diese Anstrengung mit uns unternommen haben.
Die Zeit ist abgelaufen, Frau Kollegin.
Zwei Bemerkungen noch, Herr Präsident.
B) Zur 84er Reform, Herr Bundeskanzler, möchte
ich Ihnen ausdrücklich die Zusammenarbeit anbieten, weil ich glaube, daß wir dieses schwierige Reformwerk nur auf der Grundlage eines breiten gesellschaftlichen Konsenses, der ja inhaltlich besteht, zustande kriegen werden.
Zum Abschluß, meine Damen und Herren, sage ich Ihnen, wie für Herrn Geißler der Dialog mit der Jugend aussieht. Wer zur Bundeswehr kommt, der darf wieder den großen Zapfenstreich hören, weil der Traditionserlaß von Herrn Apel wieder suspendiert worden ist.
Wer zum Zivildienst geht, muß mit einer Verlängerung rechnen. Wo bleiben eigentlich unsere Überlegungen zur Abschaffung der Gewissensprüfung, meine Damen und Herren von der FDP?
Haben wir das alles aufgegeben? Wer zur weiterführenden Schule geht, der muß damit rechnen, daß sein Ausbildungsförderungsbetrag gekürzt wird. Wer einen Ausbildungsplatz gefunden hat, der muß damit rechnen, daß der Jugendarbeitsschutz abgebaut wird. Das ist der Dialog von Herrn Geißler mit der Jugend. — Vielen Dank.
Das Wort hat die Frau Kollegin von Braun-Stützer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn sich die politische Landschaft in diesem Hause verändert hat, heißt dies nicht, daß sich die bildungspolitischen Grundpositionen und Ziele der Freien Demokraten verändert haben. Für die Freien Demokraten gelten nach wie vor jene bildungspolitischen Grundpositionen, die in den Stuttgarter Leitlinien von 1972 beschlossen und in den späteren Beschlüssen von Kiel 1977 und schließlich dem Wahlprogramm von 1980 weiterentwickelt und ausgebaut wurden.Für die Freien Demokraten zählt das Recht auf Bildung nach wie vor zu den unverzichtbaren Bürgerrechten.
Für uns sind — ich darf aus diesen Beschlüssen zitieren — „umfassende Aufklärung, kritisches Denken, Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbewußtsein die wesentlichen Ziele der Bildung und Maßstäbe für die Qualität eines Bildungssystems".Dies bedeutet — erstens —: Wir setzen uns für die Selbstbestimmung des einzelnen ein. Das heißt — ich darf zitieren —:Selbstbestimmung ist nicht nur Grundlage der Menschenwürde, sie ist zugleich auch Voraussetzung für Mitbestimmung. Wird Mitbestimmung nicht vom selbständigen Urteil und der freien Entscheidung des einzelnen getragen, so ist sie Gedankenlosigkeit, Manipulation oder Gesinnungszwang.
Eine demokratische Gesellschaft ist also auf die Selbständigkeit und Originalität des einzelnen angewiesen. Diese Fähigkeiten müssen möglichst früh entwickelt werden.Zweitens. Wir setzen uns ein für die Erziehung zum demokratischen Handeln in demokratisch verfaßten und demokratisch geleiteten Institutionen, in einem Bildungssystem von innerer Demokratie.Drittens. Wir setzen uns ein für ein kooperatives Leistungsverhalten, Leistung durch Motivation. Das Erlernen dieses kooperativen Leistungsverhaltens setzt gleiche Bildungschancen voraus; dies heißt — ich darf wieder zitieren —:An keiner Stelle darf unabänderlich der zukünftige Bildungsgang des Lernenden festgelegt werden.Dies sind die bildungspolitischen Grundpositionen der Freien Demokraten, die auch in einer anderen Koalition Richtlinie bleiben.Herr Bundeskanzler, Frau Minister, Kolleginnen und Kollegen! Die Freien Demokraten gehen davon aus, daß einiges an diesen bildungspolitischen Grundpositionen die Zustimmung der CDU/CSU finden wird, daß einiges kompromißfähig ist; in einigen Positionen allerdings werden wir einen grundsätzlichen und bleibenden Unterschied feststellen, der weder in Ihrem noch in unserem Interesse übertüncht werden darf.
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Frau von Braun-StützerHier ein Vergleichsbeispiel für eine solche grundsätzlich unterschiedliche Position: Der Leistungsbegriff, Herr Bundeskanzler, den Sie in Ihrer Regierungserklärung verwandt haben, kann auch von den Bildungspolitikern der FDP mitgetragen werden, nicht dagegen der Leistungsbegriff, den beispielsweise Herr Mayer-Vorfelder in Baden-Württemberg oder Hans Maier in Bayern wieder einführen möchte, nämlich nicht Leistung durch Motivation, sondern Leistung durch Drill und Leistung durch Auslese schon im Vorschulalter.
Diese bildungspolitische Grundposition kann und wird nicht die Zustimmung der Freien Demokraten finden. Wir gehen allerdings davon aus, daß sie auch in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion nicht Mehrheitsmeinung ist.Vom übergeordnet Grundsätzlichen nun zu den mittelfristigen und langfristigen Aspekten des Bildungshaushaltes und der bildungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern.Im Rahmen der Debatte zur Regierungserklärung kann nicht auf jede Einzelheit eingegangen werden. Deshalb möchte ich hier acht kurz- und mittelfristige bildungspolitische Forderungen der FDP-Fraktion darstellen. Diese acht Forderungen stehen unter der Überschrift, daß die Strukturen des künftigen Arbeitsmarktes eine Qualifizierungsoffensive erfordern und ein Nachlassen in Bildungs- und Ausbildungsleistungen nach unserer festen Überzeugung als gefährlich angesehen werden muß.In diesem Zusammenhang sind folgende Themen von vorrangiger Bedeutung:Erstens: Die Weiterführung einer gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern. Hierbei kommt es besonders auf die Verknüpfung des Bildungswesens mit dem Arbeitsmarkt an. Die drohende Jugendarbeitslosigkeit ist die schwerste Hypothek für das Bildungswesen in den nächsten Jahren.
Wir müssen z. B. zwischen Bund und Ländern abstimmen, wie wir unsere Anstrengungen zur schulischen Ausbildung unserer Ausländerkinder verbessern und verstärken können, und wir müssen auch prüfen; wie wir wenigstens einen Teil der eigentlich benötigten arbeitslosen Lehrer beschäftigen können, ohne die öffentlichen Hände zusätzlich belasten zu müssen. Das ist eine mittel- und langfristige Aufgabe der Reform des öffentlichen Dienstes, für die sich die Bildungspolitiker schon seit langem einsetzen.Zweitens. Zum Thema Berufsbildung: Das Angebot und die Kapazität der beruflichen Bildung müssen gesichert werden. Die Rahmenbedingungen für das Angebot von Ausbildungsstellen müssen daraufhin durchforstet werden, ob sie Angebote erschweren. Die Freien Demokraten haben schon früher darauf hingewiesen, daß mehr Flexibilität in der Arbeitszeit, aber auch die Novellierung bestimmter überholter Arbeitsschutzbestimmungenfür Frauen — unter selbstverständlicher Wahrung des Schutzprinzips für Jugendliche und Frauen — sehr sinnvoll sein können.
Je schwieriger der Arbeitsmarkt für Problemgruppen wird, für desto notwendiger halten wir den Ausbau des Benachteiligten-Programms. Das gleiche gilt für die Förderung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten.Drittens. Besonderes Gewicht messen wir der Abstimmung und Förderung der Weiterbildung bei. Dabei liegt das Schwergewicht auf der beruflichen Weiterbildung.Viertens. Der Numerus clausus ist wegen der unerwünschten Auswirkungen erklärtermaßen und zu Recht bekämpft worden. Ich verweise nur auf das Problem der Überschwappeffekte in andere Fächer, die dann innerhalb kürzester Zeit ebenfalls vom Numerus clausus bedroht werden. Das heißt, der Beschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern von 1977 hat unverändert Gültigkeit. Bund und Länder müssen deshalb in einer gemeinsamen Anstrengung dafür Sorge tragen, daß die Hochschulen mindestens so lange offengehalten werden, bis die schwächeren Jahrgänge in der Berufsbildung Platz finden.
Das bedeutet: Solange die Hochschulen eine Überlastleistung zu erbringen haben, sollten ihnen Mittel in angemessener Höhe zur Massenbewältigung und für eine effektive Kapazitätsnutzung zur Verfügung gestellt werden. Die Überlastprogramme von Bund und Ländern müssen deshalb fortgeführt werden.Fünftens. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist auch nach Ansicht der Freien Demokraten vordringlich.Sechstens. Ebenso die Forschungsförderung.Siebtens. Die Modellversuche sind und bleiben auch nach unserer Ansicht weiterhin notwendig, um die Vielfältigkeit, die Wahlmöglichkeiten und die Abstimmungsmöglichkeiten zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem zu erhalten bzw. zu erleichtern, was ein Durchforsten der einzelnen Projekte nicht ausschließt. Die Bildungspolitiker der FDP werden sich jedoch dafür einsetzen, daß dieses Durchforsten nicht nur exekutiv, sondern auch parlamentarisch behandelt wird.Achtens. Zum BAföG: Die Bildungspolitiker der FDP sind und bleiben der Ansicht, daß das Einschneiden in das Schüler-BAföG und die Umstellung des Studenten-BAföG auf Darlehen bildungs-und sozialpolitische Folgewirkungen haben werden, die den Sinn dieser Sparmaßnahmen in Frage zu stellen drohen.
Die Mehrheit unserer Fraktion und der CDU/CSU hat jedoch anders entschieden. Deshalb muß zunächst von diesem Entschluß ausgegangen werden.
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7392 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Frau von Braun-StützerDie Bildungspolitiker der Fraktion werden bei den parlamentarischen Beratungen allerdings darauf drängen, daß alle Aspekte einer solchen Änderung des BAföG diskutiert werden, bevor eine endgültige Entscheidung gefällt wird.
Es kann z. B. nicht als sinnvoll angesehen werden, wenn durch das teilweise Streichen des Schüler-BAföG nur eine ungewollte Verschiebeaktion zur Sozialhilfe zu Lasten unserer Kreise und Gemeinden erfolgt.
Es muß auch noch darüber verhandelt werden, ob der avisierte Einschnitt von 550 Millionen DM im Jahr 1984 beim Schüler-BAföG nicht besser durch andere Maßnahmen ersetzt werden kann. Das gleiche gilt für die Umstellung des Studenten-BAföG auf Darlehen.Mit der Darlehnesregelung würde keine stärkere Anwendung des Leistungsgedankens durchgesetzt; denn die Leistungsschwächeren, vor allen Dingen die, die wohlhabender sind und kein BAföG beziehen, bleiben von dieser Leistungsmessung unbetroffen. Die Darlehensregelung führt zu einem hohen administrativen Aufwand. Sie bindet junge Menschen für 20 bis 30 Jahre an eine komplizierte, aufwendige Inkasso-Bürokratie. Sie belastet sie mit einer finanziellen Anfangshypothek, die ihnen das Aufnehmen von Krediten erschwert und die sie — so inzwischen auch von Bankexperten gesehen — unter Umständen sogar kreditunfähig macht; denn die Belastung eines „BAfög-Ehepaares" könnte sogar 60 000 DM erreichen. Sie bringt dem Staat in den nächsten Jahren außer dem Aufbau einer riesigen Administration überhaupt nichts.
Als Alternative sollte über ein Gebührenmodell nachgedacht werden, das über die Hochschulen eingezogen werden soll, und zwar über die Hochschule, an welcher der Student immatrikuliert ist. Wir halten ein solches Gebührenmodell für alle Studenten für wesentlich gerechter, um so mehr, als Gebühren in anderen Bildungsbereichen, z. B. in den Kindergärten, durchaus noch gefordert, zum Teil sogar erhöht werden.Es ist gerade unter sozialen Aspekten schwer einzusehen, warum der teuerste Bereich des Bildungssystems kostenlos zur Verfügung steht. Die Bildungspolitiker der FDP haben hierzu bereits Vorstellungen entwickelt und werden diese demnächst der Öffentlichkeit vorstellen. Sie wissen allerdings, daß diese Überlegungen nicht mehr in die laufenden Haushaltsberatungen einbezogen werden können.Geprüft werden muß auch die sehr komplizierte Frage, wie wir eigentlich die steigende Zahl von BAföG-berechtigten Studenten bewältigen wollen, für die bis 1984 ein starrer Finanzrahmen von 2,4 Milliarden DM vorgegeben ist. Wir werden auch fragen, ob die Verweildauer eines BaföG-Studenten an einer Hochschule nicht auch noch durch verlängert wird, daß er sich etwas dazuverdienen muß. Esgeht auf gut deutsch um die Frage, ob nicht zuwenig BAföG langfrisig zuviel Kosten verursacht.Alle diese Fragen müssen gründlich geprüft werden. Es wird niemanden überraschen zu hören, daß die Bildungspolitiker der FDP in diesem Punkt nicht lockerlassen werden und sich auf allen Ebenen für eine sorgfältige Berücksichtigung aller Auswirkungen und Aspekte einer solchen Sparmaßnahme beim BAföG einsetzen werden.
Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen: Die von Ihren Fraktion für Sie gemeldete Redezeit ist reichlich abgelaufen.
Darf ich nur noch ein Thema ansprechen?
Ich kann Ihre Redezeit nicht verlängern, es sei denn, Ihre Fraktion gibt das zu.
Eine Minute. Ich versuche, mich ganz kurz zu fassen. — Ich bedanke mich, Frau Kollegin Hamm-Brücher.Ein weiterer großer Themenbereich mittel- und langfristiger Art ist für die Freien Demokraten von Bedeutung: Das sind die Themen aus dem Bereich der Reform des Bildungsföderalismus. Den Bildungskollegen wird nicht unbekannt sein, was wir hier wiederholen. Wir wollen es damit festmachen, damit es auch in dieser Koaliton ein Thema bleiben wird.
— Aber Unsinn! Das haben Sie 1969 beschlossen.
Wir verlangen ein Mindestmaß an Einheitlichkeit in wichtigen Fragen der Bildungspolitik, und zwar in den vier Bereichen, die ich hier zusammenfasse: für die Regelung der Dauer der Bildungspflicht, für die Regelung der Übergänge und Abschlüsse im Bildungswesen, für die berufliche Bildung sowie für die Lehrerausbildung und die Anerkennung der Abschlüsse.Im bildungspolitischen Abstimmungsbereich fordern wir, daß der Bildungsgesamtplan II zur Grundlage der gesamtstaatlichen Bildungspolitik werden muß. Wir werden uns dafür einsetzen, daß bei den Verhandlungen über die Bildungsfinanzierung die Bildungsausgaben als investive und nicht als konsumtive Ausgaben angesehen werden.
Die Bund-Länder-Kommission für Bildung und Forschungsförderung muß gestärkt werden. Die Wiedereinsetzung des deutschen Bildungsrats bleibt weiterhin unsere Ziel.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7393
Frau von Braun-StützerMeine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Das Ziel der Öffnung des Bildungswesens war ein schwieriger Weg. Auf diesem Weg kam die Bildungspolitik zugegebenermaßen gelegentlich ins Stolpern — zum Teil unverschuldet, zum Teil verschuldet.
Frau Kollegin Braun-Stützer, darf ich Sie bitten, doch zum Schluß zu kommen.
Ich komme zu meinem letzten Punkt.
Die Freien Demokraten halten an diesem bildungspolitischen Ziel fest.
Ich weiß j a nicht, wieviel Papier und wieviel Punkte Sie noch haben.
Der letzte Satz.
Wir gehen davon aus, daß die Position, die ich hier beschrieben habe, die Richtschnur auch in dieser Koaliton bleiben wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich ganz herzlich bei Frau von Braun-Stützer bedanken, daß sie in ihren Grundpositionen für eine liberale Bildungspolitik noch einmal deutlich gemacht hat, daß zwischen den Sozialdemokraten und den Freien Demokraten auch in der Bildungspolitik noch ein großer Schatz an Gemeinsamkeiten vorhanden war.
Sie hat deutlich gemacht, daß uns auf diesem Feld sehr viel mehr miteinander verbindet, als das mit denen der Fall ist, mit denen Sie jetzt in einer Koalition sitzen müssen.
Die Bestellung einer Frau zum Bundesminister für Bildung und Wissenschaft wirft beim bisherigen Bundesbildungsminister und seinem Parlamentarischen Staatssekretär natürlich die Frage auf, ob es nicht ein Erfolg unserer Modellversuche für Frauen in Männerberufen ist, daß hier zum erstenmal eine Frau in dieses Amt berufen wurde. Nicht nur aus diesem Grund versprechen wir Sozialdemokraten eine sehr sachliche Zusammenarbeit. Aber wir werden Ihre Arbeit natürlich sehr kritisch begleiten.Wir sind bereit, Beifall zu zollen, wenn der Beifall angebracht ist. Aber wir verbinden damit auch die Hoffnung, daß Sie, Frau Minister Wilms, der bildungspolitischen Kompetenz des Bundes in dieser neuen Rolle einen höheren Wert beimessen, als Sie das in der Opposition unter dem Druck z. B. der B-Länder aus Süddeutschland tun konnten und getan haben.
Ich vermute, daß Sie ein großes Interesse daran haben — das gilt auch für den Kollegen Pfeifer, der sich ja früher häufig anders äußerte —, sich nicht selber den Boden unter den Füßen wegzuziehen und Bildungspolitik des Bundes durch Ihr eigenes Handeln oder Unterlassen faktisch überflüssig zu machen.Wir haben aus der Regierungserklärung nur sehr wenig über bildungspolitische Absichten entnehmen können, wenn man davon absieht, daß man aus dem Nebel, den der Bundeskanzler über einen „Neuanfang" verbreitet hat, auch Leitlinien oder Orientierungen für die Bildungspolitik herausdestillieren könnte. Aber wir müssen — und da Frau Wilms hier noch nicht gesprochen hat, mußte ich das tun — in früheren Papieren nachlesen und die Praxis in unionsregierten Ländern untersuchen, wenn wir hier zu dem Stellung nehmen wollen, was uns von seiten der Union auf bildungspolitischem Sektor erwartet. Vieles davon läßt Schlimmes erwarten.Im Grundsatzprogramm der CDU heißt es in Ziffer 29:Gerechtigkeit verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.Es drängt sich die Frage auf, ob das heißt, daß Sie die Bildungschancen auch ungleich verteilen wollen — so nach dem Motto: dem Arztsohn der Studienplatz in Medizin und dem Arbeiterkind der Leisten, bei dem der Schuster in Zukunft zu bleiben hat.Oder zu der Frage Erziehung zum mündigen Staatsbürger! Soll das nach dem Motto von Herrn Mayer-Vorfelder gehen, der gesagt hat: „Wir müssen z. B. mal kritisch überprüfen, ob wir nicht einer überzogenen Demokratisierung gehuldigt haben", oder nach dem Motto von Kultusminister Maier aus Bayern, der gesagt hat, die Mitwirkung von Eltern und Schülern dürfe nicht zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten führen? Oder geht das nach dem Motto des neuen Bundeskanzlers, der sich noch im Juni 1982 zur Prügelstrafe geäußert hat:Dort, wo früher einmal die Hand ausrutschte, das war auch nicht angenehm, aber das war nach einer Stunde vergessen. Jetzt wird das penibel nachgetragen, aktenkundig gemacht. Die Zeche zahlen die Schüler — damit der Fall ganz klar ist: ganz gewiß nicht jene, die glauben, daß dieses neue Rechtsmittel uns mehr Freiheit gebracht hat.Soll das heißen, darf man daraus lesen, daß der Bundeskanzler durchaus dafür ist, daß ab und zu in den Schulen in Deutschland dem Lehrer die Hand ausrutscht?
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7394 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
KuhlweinIch frage mich auch, ob Bildungspolitik nach früheren Äußerungen der neuen Bundesbildungsministerin zur Mitbestimmung erfolgen soll, wo sie — aber vielleicht ist das auch eine Jugendsünde gewesen — mal gesagt hat:Man muß dem Arbeiter klarmachen, daß er sich selbst einen Bärendienst erweist, wenn er dazu beiträgt, das innerbetriebliche Verfahren weiter zu komplizieren.Ist das Ihr Demokratieverständnis, Frau Kollegin Wilms? Wenn Sie sagen, es war eine Jugendsünde, will ich das gern darunter abbuchen. Aber Sie werden natürlich noch mit vielen Jugendsünden in diesem Hause konfrontiert werden.Wir haben die Ausbildungsplatzsituation in den letzten Monaten sehr eingehend und sehr häufig diskutiert und auch in diesem Hohen Hause dazu eine Debatte gehabt. Die Union hat uns, als sie in der Opposition saß, immer vorgeworfen, wir würden die Situation dramatisieren. Wir haben jetzt die Bilanz dieses Ausbildungsjahres vorliegen und müssen feststellen, daß 36 000 Jugendliche bei den Arbeitsämtern noch immer als auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz registriert sind. 36 000! Das ist nicht nur eine statistische Zahl, sondern dahinter verbergen sich 36 000 Einzelschicksale von Jungen und Mädchen, die sich die Finger wundgeschrieben haben, die 10, 20, 30 Bewerbungen losgelassen haben, die zu x Einstellungsgesprächen gewesen sind, die Tests mitgemacht haben, 36 000 einzelne junge Menschen, denen in diesem Jahr bisher der Einstieg in die Gesellschaft verwehrt wird, obwohl viele den jungen Leuten vorwerfen, sie peilten eigentlich den Ausstieg aus der Gesellschaft an. Deswegen muß man diese Zahl so dramatisch sehen, wie sie es verdient, meine Damen und Herren.
Was in der Regierungserklärung darüber steht, scheint uns äußerst dürftig.Zu der Ankündigung des Abbaus sogenannter ausbildungshemmender Vorschriften ist schon einiges gesagt worden. Ich möchte, Frau Kollegin Wilms, daran erinnern, daß die alte Bundesregierung auf Druck des Deuschen Industrie- und Handelstages die Ausbildereignungsverordnung gestreckt und die Fristen verlängert hat, weil wir davon ausgingen, daß damit zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen werden können. Heute müssen wir feststellen, daß das leider weitgehend Fehlanzeige gewesen ist. So wird es Ihnen mit allen sogenannten ausbildungshemmenden Vorschriften gehen, weil es Teilen der Wirtschaft nur darum geht, sozialpolitische Fortschritte der letzten 13 Jahre zurückzudrehen.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat im Bereich der Berufsausbildung ihre Pflicht in diesem Jahr nicht erfüllt —
die Pflicht, die ihr vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zum Ausbildungsplatzförderungsgesetz vom Dezember 1980 auferlegt wurde, wo es ausdrücklich hieß, daß es Aufgabe der Wirtschaft ist, jedem Jugendlichen, der das will, einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen.Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zum BAföG machen. Zum Schüler-BAföG ist hier von den Kollegen Engholm und Frau Fuchs das meiste, was notwendig ist, gesagt worden.
Nun sind wir sehr gespannt darauf, wie Sie beim Schüler-BAföG etwa Leistungsnachweise einführen wollen. Dies ist ja von der Union sehr häufig öffentlich gefordert worden. Vielleicht gibt es dann in Bayern einen Bonus, weil dort das Schulsystem angeblich strenger ist, so daß alle bayerischen Schüler dann auch mit 3,5 noch in den Genuß von BAföG kommen. Ich frage mich, wie Sie verantworten wollen, daß Lehrer bei der Zensurengebung gleichzeitig über das soziale Schicksal von Kindern mitentscheiden müssen. r
Der frühere niedersächsische Kultusminister Remmers hat für die Landesregierung in Niedersachsen eindeutig gesagt, daß er es für falsch halte, für Sitzenbleiber künftig keine Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz mehr zu zahlen. Wir teilen diese Auffassung.
Die Frage der Umstellung der Studentenförderung auf Volldarlehen ist vom Kollegen Blüm in der Öffentlichkeit in einer Art und Weise kommentiert worden, daß man nur von einem Skandal sprechen kann. Der Kollege Blüm soll nach einem Zitat in der „Westfälischen Rundschau" gesagt haben: Für mich hat das vor allem eine Konsequenz: weniger Dauerparker in der Bonner Innenstadt. Meine Damen und Herren, das hat der sogenannte Arbeitsminister öffentlich vertreten. Dies ist ein Schlag ins Gesicht der Arbeiterkinder, die nur mit öffentlicher Förderung überhaupt studieren konnten.
Ich frage mich, ob Sie mit der Umstellung auf Volldarlehen wirklich wollen, daß Studenten nach Abschluß des Studiums mit einem Schuldenberg von 40 000 DM im Durchschnitt in eine relativ ungesicherte Zukunft gehen. Frau von Braun-Stützer hat im Zusammenhang damit einiges zu den Problemen der Bürokratisierung gesagt. Sie hat auch darauf hingewiesen, welch schwierigen Start junge Akademiker dann haben werden, wenn sie z. B. eine Wohnung kaufen oder mieten wollen, wenn sie z. B. ein Auto kaufen wollen, um zum Arbeitsplatz zu kommen. In einer solchen sozialen Situation wer-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7395
Kuhlweinden sie von keiner Bank in der Bundesrepublik Deutschland einen Kredit bekommen.Einige Bemerkungen noch zum Hochschulbau. Dem Bundesminister Engholm war es gelungen, trotz einer sehr schwierigen Ausgangslage im Herbst 1980 die Finanzierung des Hochschulbaus durch den Bund wieder kräftig aufzustocken. Wir haben im Jahre 1982 900 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Für 1983 waren 1 Milliarde DM geplant. Frau Kollegin Wilms, das soll erst einmal überboten werden! Wenn Sie es schaffen, das zu überbieten, finden wir es gut. Wir werden aber sorgfältig beobachten, was dann mit den Geldern passiert, ob damit wirklich zusätzliche Studienplätze geschaffen werden, oder ob, wie der bayerische Ministerpräsident das heute morgen angekündigt hat, ein großer Teil der Mittel in den Ausbau des Klinikums Regensburg fließen wird — der Ministerpräsident von Bayern, der den Kanal nicht voll kriegen kann.
Es kann auch nicht Aufgabe des Hochschulbauförderungsgesetzes sein, die gesundheitliche Versorgung in Ostbayern sicherzustellen. Das muß der Ministerpräsident von Bayern in seiner Verantwortung aus anderen Mitteln finanzieren.
Nun haben Sie, Frau Kollegin Wilms, vorgestern eine erste Erfolgsmeldung produziert, die bei näherem Hinsehen ein Schmücken mit fremden Federn gewesen ist. Vielleicht war es auch eine erste Panne. So etwas kann ja am Anfang einmal passieren. Wenn Sie erklärt haben, Sie hätten es geschafft, weitere 200 Millionen DM für den Hochschulbau zur Verfügung zu stellen, dann ist das natürlich eine Ente. Denn diese 200 Millionen DM waren bereits von der alten Bundesregierung und dem Bundestag in der alten Koalition im Rahmen dieser 900 Millionen DM Bundesmittel für den Hochschulbau beschlossen worden. Sie haben bisher keine Mark mehr dafür flüssig machen können. Das ginge ja auch nicht; denn es gibt ja keinen neuen Haushalt und keinen Nachtragshaushalt. Also, wir bitten im Interesse der Redlichkeit darum, daß solche sogenannten Erfolgsmeldungen in Zukunft nicht mehr passieren.Wir fragen Sie, wie Sie sich in der Frage der Öffnung der Hochschulen verhalten werden. Wir wissen, daß der Numerus clausus in diesem Jahr auch für die Rechtswissenschaften droht. Wir fragen die neue Bundesregierung, ob sie an der Öffnung der Hochschulen festhalten will und ob der neue Bundeskanzler, so wie Helmut Schmidt 1977 das getan hat, sich mit den Ministerpräsidenten der Länder zusammensetzen wird, um zu erreichen, daß die Hochschulen auch bei den geburtenstarken Jahrgängen in den nächsten Jahren durch Überlasten einen Beitrag dazu leisten, daß auch dort entsprechende Bildungsangebote gemacht werden. Diese Initiative können die Studenten in der Bundesrepublik von Ihnen erwarten.
Die letzte Bemerkung: zu einem Komplex, den schon Frau von Braun-Stützer angesprochen hat. Wir fragen Sie, ob Sie als Bundesbildungsministerin inhaltlich hinter den Forderungen in der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans stehen. Wir fragen Sie, was Sie tun wollen, um für die geburtenstarken Jahrgänge bundesweit Angebote in Berufsausbildung, Schule und Hochschule zu sichern. Wir fragen Sie, was Sie tun wollen, um für die Ausländerkinder bundesweit Möglichkeiten zu schaffen, sie ins Bildungssystem zu integrieren. Und wir fragen Sie, wie Sie sich zu den Modellversuchen verhalten wollen, und was die Bundesregierung dazu beitragen will, um diese Kompetenz des Bundes auszuspielen und nach dieser Kompetenz des Bundes Innovation und Reform im Bildungswesen zu sichern.
Die SPD wird auch in der Opposition an der Bildungspolitik der sozialliberalen Koalition festhalten. Diese Bildungspolitik ist insgesamt richtig und erfolgreich gewesen.
Unsere Maßstäbe werden sein: Ausbildung für alle; finanzielle Förderung für die, die sonst aus sozialen Gründen auf weiterführende Bildung verzichten müssen — wir nennen das Chancengleichheit —; Öffnung der Bildungseinrichtungen, vor allem der Hochschulen; Verbesserung der Qualität und Vermittlung auch von Fähigkeiten für die volle Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben; und Humanisierung und Demokratisierung des Bildungswesens.Wir werden, Frau Kollegin Wilms, Ihre Politik an diesen Maßstäben messen. — Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daweke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte mich in meiner Rede eigentlich auf das einstellen, was der Kollege Kuhlwein vorgetragen hat. Ich wollte mit Ihnen, Herr Kuhlwein, gern über die Frage streiten, wie man trotz leerer Kasse eine vernünftige Bildungspolitik betreiben kann. Ich sehe mich außerstande, auf dieses Sammelsurium von merkwürdigen Zitaten, die Sie da aus der Kiste gezogen haben, zu antworten. Wenn man gewohnt war, Redenschreiber zu haben, merkt man, wenn man sie nicht mehr hat. Das wirkt sich bei vielen Kollegen offensichtlich ganz dramatisch aus.
Ich setze mich deshalb mit Frau von Braun-Stützer auseinander, weil Sie eine Reihe konkreter Punkte genannt haben, die wir, wie ich glaube, diskutieren sollten.
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7396 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Klejdzinski?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Daweke, da Sie eingangs meinen Kollegen kritisiert haben, frage ich: Sind Sie denn in der Lage, mir darzulegen, wie Ihre Bildungspolitik bei leeren Kassen aussieht und welche Alternativen Sie besonders in dieser Regierung entwickeln, um Bildungspolitik zu machen?
Das werde ich gleich tun. Ich werde Ihnen sagen, wie wir das in der Fraktion sehen; und Frau Dr. Wilms, die nach mir reden wird, wird Ihnen sagen, wie die Bundesregierung diese Aufgabe lösen wird. Warten Sie einen Moment; ich komme darauf zu sprechen.Ich will mich jetzt gern mit Frau von Braun-Stützer auseinandersetzen. Sie haben auch die Trennungslinien, die wir haben, beschrieben. Das wird für uns ein Problem werden. Ich will auch sagen: Jedermann weiß, daß Sie zu denen gehört haben, die die neue Regierung nicht wollten. Es ist ja übrigens interessant, daß derjenige in Ihrer Fraktion, der jetzt die Mehrheitsentscheidung trägt, kein Fernsehen bekommt, wie es Frau Matthäus-Maier bekommt. Die hat ja ihr eigenes Team dabei, damit heute abend klar ist — —
— Nein, nein; ich bin gar nicht neidisch. Ich finde es nur interessant, wie die Medien jemanden behandeln, der sich loyal verhält und mitarbeitet, und wie man so exotische Typen behandelt, die hier von Basis reden, während übrigens zur gleichen Zeit im Fernsehen gemeldet wird, daß die Basis gerade die Dame aufgefordert hat, bitte nicht wieder zu kandidieren. Das finde ich sehr interessant.
Ich meine aber, daß wir das, was sich hier an Konfliktpunkten andeutet, lösen können, Frau Kollegin von Braun-Stützer. — Ich will jetzt auch gern auf die Frage von Herrn Klejdzinski eingehen und bitte, ein paar Gedanken vortragen zu können, die unseren Weg beschreiben.Zunächst einmal glaube ich, ein Problem, das hier ja den ganzen Tag über diskutiert worden ist, ist von Frau Matthäus eben richtig beschrieben worden, nämlich die Frage, ob wir eine Philosophie sozusagen für Politik ohne Geld haben. Sie haben zu Recht gesagt, das sei zum Schluß das große Problem in der alten Koalition gewesen. Das wird auch nirgendwo so deutlich wie in der Bildungspolitik, bei der im übrigen noch erschwerend hinzukommt, daß wir im Grunde genommen das Bildungssystem vom Beschäftigungssystem abgekoppelt haben. Darin besteht ein Riesenproblem. Als Stichworte nenne ich nur einmal die Lehrerarbeitslosigkeit und die Juristenschwemme mit allem, was da auf uns zukommt. Wir haben 27 % Abiturienten in Nordrhein-Westfalen und fast 40 % in Bremen — vom Beschäftigungssystem sozusagen abgekoppelt.Aber ich glaube, es gibt ja auch bei leeren Kassen Chancen. Es gibt z. B. eine Menge Bildungsreformen, die wir machen müssen, die gar nicht teuer sein müssen. Ich möchte Ihnen einige Beispiele nennen. Sie haben uns ja gefragt, ob und wie wir die Modellversuche weiterführen wollen. Ich könnte mir beispielsweise sehr gut vorstellen, daß man einmal in Kooperation mit einem Bundesland testet, ob wir nicht etwa Bildungsreform im Hinblick auf die reformierte Oberstufe — also Reform der Reform — machen sollten. Ich finde es schade, daß die jungen Leute so wenig Geschichte lernen. Ich finde es schade, daß sie sprachunfähig geworden sind, daß sie riesige Schwierigkeiten mit Englisch oder Französisch haben. Wir reden von Europa, und die Leute sind sprach-los. Das finde ich nicht gut.
Ich sage Ihnen ganz offen: Da bekommen wir auch Ärger mit den eigenen Kultusministern. Solche Kritik hören die nicht gerne. Da sitzen wir alle übrigens in einem Boot, aber wir können Signale setzen, und das kostet nichts. Wir müssen Qualität machen. Ich denke, daß das die Chance ist, die wir haben.Nun möchte ich versuchen, zu sagen, welche drei Schwerpunkte mir wichtig erscheinen. Das erste Problem ist das der Ausbildungsplätze.
Dann, wenn wir es nicht lösen, entlassen wir die Menschen aus der Schule in die Arbeitslosigkeit. Das entspräche einer Gesellschaft, die brutal ist, und die will ich nicht. Es wäre furchtbar, wenn das die Perspektive würde.
Das macht ja einen Teil der Resignation aus, und deshalb ist dies das Problem Nummer eins.
Da nützt das, was Sie, Herr Kuhlwein, ausgeführt haben, gar nichts. Notwendig ist aber etwa, daß wir die ausbildungshemmenden Vorschriften beseitigen.
Dazu hat übrigens schon der Altbundeskanzler eine Menge vernünftige Gedanken geäußert.
Nur Frau Fuchs hat das alles offensichtlich gar nicht gelesen.
Sie hat eben in aufgeregter Weise Sachen erzählt, die so überhaupt nicht stimmen.Ich möchte ein anderes Beispiel nennen, an das man herangehen muß. Viele Betriebe im Friseurhandwerk haben sich heute auf Damen- oder Herrenfriseur spezialisiert. Da muß man sich einmal das Berufsbild ansehen. Die Betriebe dürfen nur Damen- und Herrenfriseure ausbilden; für die Aus-
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Dawekebildung müssen beide Zweige berücksichtigt werden. Das führt dazu, daß viele Betriebe die Leute nicht nehmen können, weil sie entweder nur Herren- oder nur Damenfriseure brauchen. Das ist ein ganz kleines Beispiel, aber wenn wir das Berufsbild änderten, würde das bei diesen Betrieben einen Ruck geben können. Ich glaube nicht, daß Sie auf diesem Gebiet den großen Coup erwarten dürfen. Was Sie erwarten können, sind viele kleine Schritte, die in die richtige Richtung zeigen, in die Richtung, in der die Ausbildungsplatzsituation zu bereinigen ist.
— Es tut mir leid, ich habe nur noch acht Minuten, und die brauche ich.Das zweite Gebiet, auf dem wir dringend etwas tun müssen, ist das des drohenden Numerus clausus. In dieser Priorität sind wir uns, glaube ich, einig. Wir haben zu vergegenwärtigen, daß wir Mitte der 80er Jahre 1,3 Millionen Studenten haben werden. Da wälzt sich ein Strom von jungen Leuten in diesen tertiären Bildungsbereich, von denen wir nicht genau wissen, wie sie später unterzubringen sind, zumal sie hohe Erwartungen haben.Herr Kuhlwein, das, so hätte ich gefunden, hätten Sie vielleicht im Rückblick noch einmal darstellen müssen: das, was Sie in der Bildungspolitik seit 1969 wollten — das war j a erste Priorität —, und das, was dabei herausgekommen ist. Dazu haben Sie nun überhaupt nichts gesagt.
Sie hatten zwar eigentlich gute Gründe, sind aber, wie ich finde, an der Tatsache gescheitert, daß Sie nicht nur mit den Mitteln nicht klargekommen sind, sondern daß Ihnen eben auch die Philosophie kaputtgegangen ist.Ich glaube, in diesem Zusammenhang müßten wir auch einmal darüber diskutieren, ob wir das Hochschulrahmengesetz mittelfristig nicht reformieren. Ich finde, daß es z. B. für die Frage des Numerus clausus und die Entwicklung an den Hochschulen wichtig ist, wie der Hochschulzugang in Zukunft gestaltet sein wird. Ich bin von der privaten Hochschule des Herrn Schily in Herdecke fasziniert. Die lassen nämlich nur solche Leute zu, die die Voraussetzung der Berufspraxis erfüllen. Die verkoppeln den Einstieg in die Medizinerausbildung in Herdecke mit einem berufspraktischen Jahr.
Da entscheiden die Leute auf Grund der Fähigkeiten, sich mit Kranken zu beschäftigen, menschliche Qualitäten zu entwickeln. Es ist ja ungeachtet der Eins im Abitur nicht unbedingt gesagt, daß das einer ist, der das auch kann.
— Gut, dann wollen wir einmal überlegen, ob dasnicht ein Weg ist, der wesentlich fairer ist als diesesaus meiner Sicht hirnrissige System mit den Einsen und Zweien, das dazu führt, daß einer, wenn er eine Eins hat, sozusagen fast Medizin studieren muß, weil er sonst von der ganzen Familie für verrückt erklärt wird. Das, finde ich, wäre im Zusammenhang mit dem Hochschulzugang ein wichtiger Punkt für die nächsten Jahre.
— Entschuldigung, das lösen die da auch vor Ort. Das ist doch das allergeringste Problem. Wenn ich mir so das Klinikum Aachen angucke, dann stelle ich fest, daß wir da eine Menge unterbringen können. Was meinen Sie wohl!
Dritter Schwerpunkt aus meiner Sicht: Wir müssen die Universitäten in der Forschungspolitik und vor allen Dingen in der Grundlagenforschung wieder auf einen Stand bringen, mit dem wir uns international sehen lassen können. Das Bildungsministerium, Frau Dr. Wilms, ist ein Ministerium für Bildung und Wissenschaft. Eigentlich müßten wir aus unserer Sicht, so denke ich jedenfalls, sagen: Es ist ein Ministerium für Wissenschaft und Bildung. Denn die Kompetenzen sind nun einmal so, daß die für die Bildung Zuständigen in den Ländern sitzen. Aber Wissenschaftspolitik ist etwas, mit dem die SPD in den letzten Jahren nichts anfangen konnte. Mit Wissenschaft hatte die nichts am Hut. Alles war Lehre, Lehre, Lehre; immer mehr Leute lehrten. Aber eine Hochschule, die nicht forscht und aus der die Ergebnisse kommen, so wie sie jetzt sind, weil dort oft nur gelehrt wird, wird auf Dauer natürlich nicht lebensfähig sein.
Deshalb sind wir dringend gehalten, die Forschungspolitik so umzustellen, daß wir die Grundlagenforschung fördern, daß wir Graduiertenförderung machen, daß wir für den Mittelbau Perspektiven eröffnen, wobei die dem Mittelbau Zuzurechnenden aber auch rotieren müssen. Da haben Sie nichts zustande gekriegt. Sie haben es zwar angekündigt, daß Sie es machen wollten,
aber gekommen ist nichts. — Hören Sie, ich merke ja jetzt, wo wir plötzlich Mehrheitsfraktion sind — d. h., das waren wir schon immer, aber jetzt in der Regierung —, daß man etwas machen kann; das ist ja traumhaft. Man muß sagen: Man will es, dann geht es. Aber Sie haben es nicht gemacht, Sie haben immer nur angekündigt, was Sie machen wollten. Das, was Sie angekündigt und was Sie dann auch in einen Gesetzentwurf gegossen haben, betraf die verfaßte Studentenschaft. Da wollen Sie die Bayern und die Baden-Württemberger zwangsweise in die verfaßte Studentenschaft bringen, als sei das das Kernproblem der deutschen Hochschullandschaft. Das ist doch lächerlich! Sie haben sich vor den eigentlichen Fragen gedrückt, Nebenkriegsschauplätze aufgemacht und zum Schluß nur noch Hinhaltetaktik betrieben.
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DawekeIch darf zum Schluß noch ein anderes und für mich wichtiges Problem ansprechen: Ich glaube, daß wir uns auch überlegen sollten, ob wir den studentischen Wohnraumbau nicht wieder fördern. Die letzte Bundesregierung hat dies abgeschafft. Es ist aber für Hochschulstandorte eines der Kernprobleme,
in den Ballungsgebieten ein großes Problem. Da kann man sich einmal flexible Modelle überlegen. Die Mainzer Staatsregierung macht das z. B. mit dem Bauherrenmodell, dem von vielen Leuten verpönten Bauherrenmodell. Nur, das funktioniert.
— Mir ist ziemlich egal, wer das bezahlt, Hauptsache, die kriegen eine Bude. Denn wie wollen Sie hier die Qualität auch des Studiums verbessern, wenn die Leute bis zu 80 Kilometer pendeln oder überhaupt nicht die Arbeits- und Lebensbedingungen haben, die sie brauchen? Das halte ich für einen wichtigen Punkt.Ich kann Ihnen wegen der Kürze der Zeit leider kein Tableau bringen und Ihnen nicht den ganzen Katalog von wichtigen Maßnahmen vorstellen, von denen ich glaube, daß wir sie anpacken müssen. Ich meine nur — das war aus meiner Sicht der entscheidende Punkt —, daß es nicht so ist, daß in Zeiten leerer Kassen nichts geht. Man kann vielmehr etwas machen; man kann Qualität schaffen.Zum Schluß möchte ich noch einmal auf Ihre BAföG-Diskussion eingehen. Herr Kuhlwein, was war denn die Alternative, die Sie aufgezeigt haben? Ich erinnere mich noch sehr gut: Staatssekretär Granzow hat erzählt, BAföG sei finanziell 1983 noch gesichert. Das war die Perspektive, die Sie hatten: elf Monate. Danach war nichts mehr gesichert. Was war denn die Alternative? Die Alternative war, daß Sie bei 1,3 Millionen Studenten die Bedarfssätze immer weiter heruntersetzen. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Ein Student, der 600 DM Darlehen bekommt, kann wenigstens überwintern. Wenn er aber nur 100 DM bekommt, kann er davon nicht leben und nicht sterben.
Das ist doch die Perspektive gewesen. Demgegenüber halte ich das, was wir jetzt vorschlagen und worüber wir diskutieren müssen, für ein Angebot.Frau Fuchs ist leider nicht mehr hier. Ich weiß nicht, wo die Dame lebt. Wenn ich dort, wo ich wohne, mit Arbeitern diskutiere und ihnen sage, daß ich den Chefarzt im Krankenhaus demnächst BAföG zurückzahlen lasse, bekomme ich nur Beifall.
Sie müsen in Kreisen verkehren, in denen die Leute eine etwas andere Mentalität haben. Wo ich wohne, bekomme ich für diesen Vorschlag jedenfalls nur Beifall. Wir wollen einmal sehen, wie die Arbeiter darüber denken.
Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen, Frau Kollegin von Braun-Stützer, zunächst für Ihre sehr interessante Rede danken. Es gibt zwischen uns hoffentlich noch hinreichend Gelegenheit, miteinander über die verschiedenen Punkte, die Sie hier aufgezählt haben, zu diskutieren und miteinander zu überlegen, was vielleicht im Rahmen dieser Koalition schon jetzt oder mittelfristig zu realisieren oder jedenfalls anzulegen ist. Ich biete Ihnen wirklich auch auf diesem Feld ein sehr enges und intensives Gespräch über all diese Fragen an.
Herr Kollege Kuhlwein, Sie haben mir zunächst einige freundliche Avancen gemacht. Dafür bedanke ich mich. Ich hoffe, daß wir miteinander in eine vernünftige und sachbezogene Diskussion kommen, daß Sie auch aus der Opposition heraus viele — sicherlich kritische — Argumente vorbringen. Ich biete aber auch Ihnen an, ruhig und sachbezogen miteinander zu diskutieren.Was Zitate angeht, verehrter Herr Kollege Kuhlwein, so möchte ich Sie bitten, vorsichtig damit umzugehen und genau zu prüfen, ob sie stimmen und in welchem Zusammenhang die Außerung erfolgte. Man kann mit Zitaten auch Schiffbruch erleiden.Herr Kollege Kuhlwein, ich habe in Ihren Ausführungen und auch in den Ausführungen meines Vorgängers im Amt, des Kollegen Engholm, heute morgen aber eigentlich etwas vermißt. Ich habe vermißt, daß Sie von den Belastungen sprechen, die Sie uns hier hinterlassen und vor denen die jungen Menschen heute stehen.
Davon habe ich heute eigentlich noch nichts gehört. Weder Sie noch Herr Engholm noch Herr von Dohnanyi, der heute morgen ebenfalls zu diesem Thema sprach, haben davon gesprochen, daß wir 200000 jugendliche Arbeitslose haben.
Sie haben nicht davon gesprochen, welch schlechte Berufschancen junge Menschen angesichts der desolaten Wirtschaftslage haben. Sie haben nicht davon gesprochen, daß die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses keinesfalls optimal ist, weil wir in einer schlechten wirtschaftlichen Lage stehen. Sie haben auch nicht davon gesprochen, welchen zukünftigen Belastungen die Jugend durch die allzuhohe Staatsverschuldung, vor der wir heute stehen. ausgesetzt ist.Ich hätte eigentlich erwartet, daß Sie auch einmal das Erbe aufzeigen, das Sie uns hinterlassen haben. Es ist kein einfaches Erbe, das wir hier antreten. Wir müssen jetzt unter bildungspolitischen Gesichtspunkten und unter Berücksichtigung sozialer Aspekte versuchen, die Zukunftschancen für die Jugend auszubauen — im Sinne einer individuellen Förderung, einer personalen Entwicklung und so-
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Bundesminister Frau Dr. Wilmszialer Gerechtigkeit, die auch Eigenverantwortung mit einschließt.Meine Damen und Herren, die Politik der alten Bundesregierung erzwingt in der Bildungspolitik eine neue Weichenstellung. Wir müssen versuchen, unter den veränderten wirtschaftlichen, finanziellen und demographischen Rahmenbedingungen die Probleme zu lösen, vor denen wir stehen. Lassen Sie mich vier Probleme, vor denen wir stehen, nennen:Erstens: Wir brauchen für alle Jugendlichen Ausbildungsplätze; denn noch bis Mitte der 80er Jahre stehen wir vor den geburtenstarken Jahrgängen, bevor dann die Nachfrage wieder nachläßt.Zweitens. Die steigenden Studentenzahlen bis etwa Mitte der 90er Jahre stellen die Hochschulen vor eine grolle Herausforderung. Und auch wir sind gefordert.Drittens. Angesichts der derzeitigen Massenarbeitslosigkeit fragen sich viele Jugendliche, welche Berufschancen sie nach der Ausbildung haben, auch nach einem Hochschulstudium. Auch dies werden wir neu bedenken müssen.Viertens. Wie können wir angesichts leerer öffentlicher Kassen sinnvolle, an Leistung und sozialer Lage orientierte Bildungsförderung betreiben?Bildungspolitik im Dienste junger Menschen heißt: Erziehung und Bildung müssen sich wieder stärker auf geistige Orientierung richten. Sie müssen Lebenssinn, Bewußtsein für Geschichte und unser kulturelles Erbe vermitteln. Den jungen Menschen muß geholfen werden, ihren Standort zu finden, Würde und Freiheit, Rechte und Pflichten zu erkennen. Junge Menschen dürfen nicht nur Ansprüche vom Staat einfordern, sie müssen auch selbst dazu beitragen, ihre eigenen Zukunftschancen zu nutzen.
Bildungsanspruch und Leistungsbereitschaft gehören zusammen. Bildungsangebote sind immer auch persönliche Herausforderungen. Auch in Bildungsfragen stehen Anspruch und Verantwortung in Wechselbeziehung zueinander.Staatliche Bildungspolitik muß Voraussetzungen für optimale Bildungsangebote schaffen. Gesamtstaatliche Bildungspolitik — und das ist auch ein Fehler der vergangenen Jahre gewesen — muß das enge Zusammenwirken mit der Finanzpolitik, der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch der Sozial- und Familienpolitik und nicht zuletzt der Wissenschafts- und Forschungspolitik sehen.
Erlauben Sie mir, zu einigen dieser Probleme ein paar Anmerkungen zu machen: Wir brauchen für die Jugend — da sind wir uns alle einig — in den nächsten Jahren eine große Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze; denn wir wissen alle: Qualifizierte Bildung ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.
Die berufliche Bildung in Betrieb und Schule wird deshalb ein zentrales Anliegen der Bildungspolitik dieser Bundesregierung sein.
Die jungen Menschen brauchen Ausbildungsplätze, weil sie berufliche Perspektiven haben wollen.
— Beruhigen Sie sich, das kommt schon.
— Ach, das interessiert Sie nicht. Wissen, es ist notwendig — —
— Herr Kollege, es ist notwendig, daß man sich auch in der Politik an bestimmten Maßstäben orientiert; sonst verliert man sich nämlich in den Details.
Ich sagte, daß die jungen Menschen Ausbildungsplätze brauchen und daß die Wirtschaft Fachkräfte braucht, wenn sie im Wettbewerb bestehen will.
— Ihr Schreien zeugt davon, daß Sie offensichtlich gar nicht wissen, wovon die Rede ist.
Zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres waren noch 36 000 Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag. Allerdings war auch eine große Zahl von Ausbildungsplätzen unbesetzt. — Dieses Gesamtergebnis ist besser, als zu Beginn des Jahres von vielen vorausgesagt, befürchtet worden ist.
Allerdings sind noch nicht alle Sorgen beseitigt.Wir dürfen auch hier einmal feststellen, daß sich das duale System der Berufsausbildung unter schwierigsten Bedingungen bewährt hat. Wir werden dieses duale System weiter stärken.
Auch für die nächste Zeit müssen jedoch noch alle Signale auf Förderung der Ausbildungsbereitschaft in den Betrieben stehen, nicht nur für jetzt, sondern auch für die nächsten Jahre. Ich meine — und ich wiederhole hier, was ich schon häufig gesagt habe —, mit Drohungen wie etwa denen von Ausbildungsumlagen kann man die Betriebe nicht locken. Dadurch werden die Betriebe belastet, neue Bürokratien errichtet. Was wir jetzt brauchen, sind Hilfen für die Betriebe, daß sie noch mehr angeregt werden, Ausbildungsplätze auch weiterhin zur Verfügung zu stellen. Ich meine, die Leistung der vergangenen Jahre ist eine Gemeinschaftsleistung der ausbildenden Wirtschaft, aber auch der Gewerkschaften, der Arbeitsverwaltung und des Staates.
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7400 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Frau Dr. WilmsIch möchte an dieser Stelle auch einen besonderen Dank den Ausbildern in den Betrieben sagen.
Mit diesem Dank an alle Beteiligten in der Wirtschaft verbinde ich die Bitte, in den nächsten Jahren in den Bemühungen nicht nachzulassen, sondern alles zu tun, um den noch nicht untergebrachten Jugendlichen eine faire Ausbildungschance zu geben.
An die Jugendlichen appelliere ich, bei Schwierigkeiten nicht vorschnell aufzugeben, sondern sich weiter zu bemühen. Wer — und das ist zum Teil unser Problem — mehr Schwierigkeiten hat als andere junge Menschen, wer einseitig begabt, wer noch nicht berufsreif oder wer behindert ist, muß besonders gefördert werden. Auch Ausländerkinder brauchen ihre Lebenschancen und zum Teil besondere Förderung.
Wir werden die in diesen Bereichen begonnenen guten Programme für Problemgruppen fortführen.
Denn es gehört zu den Maximen unserer Bildungspolitik: Förderung der Benachteiligten und Herausforderung der Begabten.
Deshalb werden wir uns auch um eine Stärkung aller Weiterbildungsbemühungen bemühen; denn wir wissen, daß die Ausbildung heute nicht mehr für ein ganzes Berufsleben reicht. Wer sich für eine praktische Berufsausbildung entscheidet, muß auch Aufstiegschancen haben. Deshalb werden wir die Vielfalt der beruflichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten erhalten und stärken, indem wir auf betriebliche Maßnahmen besonderes Gewicht legen.Lassen Sie mich ein zweites Problem nennen, das auch Herr Kuhlwein und Frau von Braun-Stützer angesprochen haben. Wir wissen, daß die Hochschulsituation in den nächsten Jahren ganz besonders problematisch wird, weil erst jetzt die geburtenstarken Jahrgänge allmählich in die Hochschulen einziehen. Die jungen Menschen sind besorgt über die Ankündigung einer Verschärfung des Numerus clausus. Zur Zeit haben wir bereits über eine Million Studenten, und es werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich etwa 1,3 Millionen junge Studenten sein. Die Bundesregierung wird mit den Ländern auf der Grundlage des Beschlusses der Regierungschefs von Bund und Ländern von 1977 zur Sicherung der Ausbildungschancen der jungen Generation nach Wegen suchen, um die Ausweitung von Zulassungsbeschränkungen auf immer mehr Fächer so weit wie eben möglich zu vermeiden.
Der Vorwurf, den ich auch heute morgen hier von dieser Seite des Hohen Hauses, von der SPD, hörte, wir seien für eine Schließung des Bildungswesens, ist absurd und gehört wohl in die Abteilung SPD-Wahlkampf.
Die Überlastmaßnahmen, denen die Hochschulen heute schon unterworfen sind, müssen fortgesetzt werden, und die Bundesregierung wird die Länder hierbei durch die verstärkte Finanzierung des Hochschulbaus unterstützen. Zulassungsbeschränkungen dürfen unserer Meinung nach nur dort verhängt werden, wo sonst die Qualität von Lehre und Forschung gefährdet wäre. Ich bitte hiermit die Hochschulen, sich auch dieser Mehrbelastung zu stellen, und ich denke — damit appelliere ich auch an Studenten —, daß eine Verkürzung und eine Straffung der Studienzeiten unerläßlich ist.
Der Grundlagenforschung werden wir ganz besonderes Augenmerk zuwenden, weil sie ein wichtiger Motor für wirtschaftliches Wachstum und damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen ist. Grundlagenforschung ist für uns Zukunftsinvestition. Wir werden sie deshalb nicht kürzen, sondern verstärken und uns gemeinsam mit den Ländern um ein forschungsfreundliches Klima bemühen.
Ich hoffe hier auch auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Kollegen Riesenhuber.In diesem Zusammenhang werden wir auch in besonderer Weise die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vorantreiben. Nur eine gezielte Förderung der besonderen Begabungen und Leistungen sichert die für die Zukunft unseres Landes unerläßliche wissenschaftliche und praktische Elite.
Die Absicht der Bundesregierung, die Ausbildungsförderung grundsätzlich zu überprüfen, ist, wie gar nicht anders zu erwarten war, auf Kritik gestoßen. Ich bin gerne bereit, sachlich über alles zu diskutieren, halte allerdings billige Polemik, wie sie zum Teil auch heute in diesem Hause deutlich wurde, für unangemessen und auch für schlecht gegenüber der Jugend, die von uns eine nüchterne und klare Auseinandersetzung erwartet.
Alle Bildungspolitiker — meine Damen und Herren, ich betone: alle Bildungspolitiker — von allen Seiten dieses Hauses wußten und wissen, daß das Schüler-BAföG in der heutigen Form als Folge der Finanzpolitik der bisherigen Bundesregierung nicht mehr in dem gleichen Umfang wie bisher gewährt werden kann.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7401
Bundesminister Frau Dr. WilmsLeere Kassen zwingen uns zum Umdenken, und das wußte auch mein Vorgänger im Amt, Herr Kollege Engholm.
Wenn alle Bereiche heute zur Einsparung gezwungen sind, dann kann auch das Schüler-BAföG nicht ausgenommen werden.
Die CDU/CSU hat 1969 gerade auch die Schülerförderung gewollt und mit verabschiedet. Das möchte ich hier auch noch einmal in Erinnerung rufen.
Im Hintergrund stand damals die Überlegung, auch Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern zu einer weiterführenden Bildung zu ermuntern. Wir dürfen heute feststellen, daß dies weitgehend gelungen ist. Ich finde es — erlauben Sie mir diese Bemerkung— fast ein bißchen beleidigend und diffamierend, wenn immer wieder von den „armen Arbeiterkindern" die Rede ist.
Ich glaube, daß der Facharbeiter in Deutschland heute stolz darauf ist und stolz darauf sein kann, seine Kinder auch ohne staatliche Beihilfen zur Schule schicken und weiterbilden zu können.
Wir wissen auch, daß die Arbeiterschaft heute sehr bildungsbewußt ist. Wir leben doch nicht mehr im 19. Jahrhundert. Gott sei Dank leben wir nicht mehr in dieser Zeit.
— Ja, wir nicht mehr.
Probleme ergeben sich dort, wo geringer verdienende Eltern, insbesondere mit mehreren Kindern, angesprochen sind. Deshalb werden wir gerade für diesen Personenkreis auch keine Kürzung des Kindergeldes vorsehen. Das werden Sie morgen von meinem Kollegen Geißler noch im Detail hören. Auch beim BAföG werden wir klare Härteregelungen vorsehen.
Es ist kein Kahlschlag beabsichtigt, sondern aus finanz- und bildungspolitischen Gründen die notwendige Konzentration der Förderung auf die Schüler und ihre Eltern, die besondere Aufwendungen — etwa infolge auswärtiger Unterbringung — für die Ausbildung zu tragen haben.Wir prüfen auch, ob wir die Studierenden des zweiten Bildungsweges in der Förderung halten können.
Frau Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schmidt?
Ich möchte zu Ende kommen. — Kein begabtes Kind wird aus finanziellen Gründen auf den Besuch einer weiterführenden Schule zu verzichten brauchen. Deshalb halte ich den Vorwurf, den ich heute hörte und den man auch in Presseerklärungen schon las, wir wollten ein Dreiklassenbildungsrecht, für völlig verfehlt.
Er stammt, so glaube ich, aus der Mottenkiste des Marxismus. Die sollten Sie schon lange geschlossen haben.
— Im Ausland kennt man übrigens überhaupt keine vergleichbaren Regelungen, wie die des Schüler-BAföG, noch nicht einmal in dem von Ihnen so hoch gelobten Land Schweden.
— Schweden ist uns von Ihnen immer als ein Musterland dargestellt worden.Wir beabsichtigen darüber hinaus den Aufbau einer Begabtenförderung für Schüler, um gerade den begabten jungen Menschen eine besondere Chance zu geben, die sie von ihrem Elternhaus her vielleicht nicht erhalten können.
Über diese Einzelheiten einer solchen Begabtenförderung muß sicherlich noch ausführlich diskutiert werden. Wir werden uns diesem Thema intensiv zuwenden und hierbei — auch in Abstimmung mit den Ländern — konkrete Vorstellungen entwikkeln.Die Koalitionsverabredung, meine Damen und Herren, sieht auch eine Umstellung des Studenten-BAföG auf Darlehensbasis vor. Das BAföG war ursprünglich nur auf Zuschußbasis angelegt. Die älteren Kollegen wissen es. Der damalige Bundesminister und heutige Bürgermeister von Dohnanyi hat übrigens schon 1974 veranlaßt, daß von dem Zuschuß ein Teil nur noch als Darlehen gegeben wird, obwohl man vorher auch seitens der SPD die andere Lösung hoch gepriesen hatte gegenüber dem Honnefer Modell von Anno dazumal.Meine Damen und Herren, auch hier kommen wir an eine Grenze: Die steigenden Anforderungen an die Ausbildungsförderung — nämlich die steigenden Studentenzahlen — und die leeren Staatskassen sprengen das System der Studentenförderung. Auch dies ist keine Novität. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß es sehr genau. Eine ungeprüfte Weiterführung des bisherigen Systems würde nämlich dazu führen, daß immer weniger Studenten immer weniger Geld bekommen können, was letztendlich niemandem mehr hilft.
Wer diese Chance eines von der Allgemeinheit finanzierten Hochschulstudiums hat und ein entsprechendes Einkommen erzielt, sollte deshalb in Zukunft durch Rückzahlung dazu beitragen, daß nach-
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7402 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Frau Dr. Wilmsfolgende Jahrgänge dieselben Chancen erhalten. Ich finde, es muß auch ein Stück Solidarität zwischen der jetzigen und der künftigen Generation eingefordert werden.
Wir werden dafür Sorge tragen — —
— Hören Sie doch erst einmal zu Ende zu.Wir werden dafür Sorge tragen, daß die Rückzahlungsmodalitäten für das in Anspruch genommene Darlehen nach den Gesichtspunkten der Zumutbarkeit geregelt werden und daß sichergestellt wird, daß keiner wegen der späteren Darlehenshöhe von einem Studium abgehalten wird.Meine Damen und Herren, es kann doch nicht gerecht sein — lassen Sie mich das auch noch einmal sagen —, daß diejenigen, die nicht studiert haben — dies ist der größte Teil der deutschen Arbeitnehmer —, den Lebensunterhalt derjenigen finanzieren, die diese Chance haben,
und daß diejenigen, die durch ihr Studium unzweifelhaft einen sozialen und finanziellen Statusvorsprung haben, von dem übrigen Teil der Bevölkerung subventioniert werden. Das kann wohl auch nicht ganz stimmen.
Wenn Sie von der SPD dazwischenrufen, darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daß der frühere Bundeskanzler, der Herr Kollege Schmidt , ja auch mehrfach die Umstellung des Studenten-BAföG auf Darlehen gefordert hat.
Er hat dies damals auch damit begründet — das ist nachzulesen in Protokollen und auch in Schriften —, daß es dem Arbeitnehmer nicht zugemutet werden kann, das Studium für eine letztlich durch Studium doch privilegierte Schicht zu zahlen. Daran möchte ich Sie wirklich erinnern.
Frau von Braun-Stützer, Sie haben angedeutet, daß man über ein Gebührenmodell für das Studium nachdenken müsse. Ich biete Ihnen gerne an, darüber nachzudenken. Wir wissen, daß das nicht von heute auf morgen zu realisieren ist. Aber ich finde, wir sollten über dieses Thema sehr ernsthaft nachdenken.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch folgendes sagen: Wir sollten unsere Bürger nicht für dumm verkaufen, wenn wir von Bildung sprechen. Die Bürger sind heute doch informiert genug, um zu wissen, worum es in der Bildungspolitik geht. Es geht doch um die Bildung und Befähigung des jungen Menschen, sein Leben alsPersönlichkeit zu gestalten und seine Umwelt aktiv mitzuprägen. Es geht um ein vielfältig gegliedertes und differenziertes Bildungssystem, das jedem einzelnen Chancen bietet. Es geht um die Förderung der Benachteiligten und um die Herausforderung der Begabten und Leistungsfähigen.
Es geht um die Einsicht, daß Bildung kein billiges Geschenk ist, sondern durch Leistung und Verantwortung erworben werden muß.
Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, wer Ihre gestrige Regierungserklärung aufmerksam verfolgt hat und den von Ihnen vorgetragenen Text mit dem vergleicht, was als Ergebnis der Koalitionsgespräche zwischen CDU/CSU und FDP zu Papier gebracht worden ist, dem fällt Ihre große Bescheidenheit oder aber Ihre Verschleierungsabsicht auf; denn der Bundeskanzler hat an konkreten Ankurbelungsmaßnahmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen schon an zweiter Stelle Impulse für den Wohnungsbau mit Programmen zur Bausparzwischenfinanzierung, zur Eigentumsbildung und zum Bau von Mietwohnungen genannt, aber kein einziges Wort über das Mietrecht, über das Bodenrecht, über die Bodensteuer und über das Wohngeld verloren.Dabei gibt es nun aber ganz präzise formulierte Absichten der konservativen Koalition. Uns haben diese Koalitionsvereinbarungen zur Demontage der Mieterrechte und zur Plünderung der Mieter-Portemonnaies so tief getroffen, daß wir nichts unversucht lassen werden, unseren Bürgern die Wirklichkeit vor Augen zu führen, die gegen deren Interessen entstehen wird.
Horst Ehmke hat als Hauptredner der SPD-Bundestagsfraktion schon deutlich gemacht, wie wir die Oppositionsrolle verstehen und annehmen.
Wir sagen, was mit uns geht. Wir lehnen ab, was unvernünftig ist, und wir werden Alternativen aufzeigen.
Im wohnungspolitischen Bereich fange ich einmal mit einigen positiven Feststellungen an:Erstens. Eine Bausparzwischenfinanzierung für Bauherren oder Ersterwerber einer Eigentumswohnung oder eines Siedlungshäuschens für die eigenen Wohnzwecke befürworten wir.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7403
WaltematheWir schlagen eine solche Bausparzwischenfinanzierung auch unsererseits ausdrücklich vor
und stellen fest, Herr Dr. Möller, daß das ein Vorschlag ist, den wir im Mai 1981 zum erstenmal gemacht haben. Die FDP war dagegen. Nun scheint es ihr opportun zu sein, mitzumachen. Gleichwohl, wir werden auch mitmachen.
Zweitens. Eine Förderung selbstgenutzten Wohneigentums wird von Sozialdemokraten, wie Sie wissen, keinesfalls abgelehnt. Im Gegenteil: Wir haben sowohl mit den Bestimmungen und den Geldern für den sozialen Wohnungsbau als auch im Steuerrecht — ich erinnere an § 7 b — Impulse bewirkt. Allerdings bleiben wir dabei, daß wir einen zielgenaueren Einsatz öffentlicher Gelder und eine gerechtere Verteilung von Subventionen verlangen; denn nach wie vor sind wir der Auffassung, daß nicht demjenigen am meisten Förderung zustehen sollte, der darauf von seinem Einkommen her am wenigsten angewiesen wäre. Nunmehr schlägt die Regierung als zusätzliches Förderinstrument steuerliche Erleichterungen vor, die den Trend verstärken werden, daß die Gutbetuchten begünstigt und die Durchschnittsverdiener im Vergleich dazu benachteiligt werden.Drittens. Maßnahmen zur Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus in Verdichtungsräumen — das klingt nicht nur gut, das ist schon fast sozialdemokratisch. Ich finde es zwar eigenartig, daß unsere Vorschläge für ein Sonderprogramm für zweimal 30 000 Sozialwohnungen in Ballungsgebieten von der FDP ebenfalls abgelehnt worden ist, weil der soziale Wohnungsbau angeblich keine Aufgabe mehr sei. Nunmehr scheint das aber doch notwendig zu sein. Wir sind hinsichtlich Ihrer Ankündigung allerdings dennoch etwas skeptisch; denn Sie sagen nichts über den Weg, zu neuen bezahlbaren Mietwohnungen zu kommen. Auf Ihre konkreten Vorschläge sind wir deshalb gespannt. Wenn diese konkreten Vorschläge, Herr Minister Schneider, solider sind als ein Bauprogramm im zweiten Förderweg, kombiniert mit dem Bauherrenmodell — ein Modell, das die Ausplünderung des Staates bedeuten würde —, können Sie sicher sein, daß wir uns nicht verweigern werden.Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken gegen eine rückzahlbare sogenannte Zwangsanleihe: Sie werden doch wohl nicht im Ernst behaupten wollen, daß Sie soziale Mietwohnungen aus einem Teil der angeblich 2,5 Milliarden DM betragenen Finanzmittel aus dieser Anleihe finanzieren wollen. Das würde ja bedeuten, daß nach drei Jahren oder ab 1987, wenn Sie den Besserverdienenden die Anleihe wieder zurückzahlen, der dicke Hammer für die Mieter hinterherkäme mit ganz drastischen Mieterhöhungen, weil Sie ja Zinsen auf Mittel erheben müßten, die bisher zinsfrei waren.Meine Damen und Herren, damit hat es sich auch schon mit Ihren Vorschlägen, die teilweise und bei konkreter Beratung die Zustimmung der Sozialdemokraten finden könnten oder finden werden. Die weitaus gravierenderen Einschnitte sollen allerdings im Mietrecht, im Bodenrecht und beim Wohngeld erfolgen. Hier kündigen wir allerdings schärfsten Widerstand an.
Sowohl die CDU/CSU als auch die FDP haben in den letzten Jahren immer wieder gefordert, die Mieten freizugeben, den sozialen Wohnungsbau einzustellen bzw. Sozialwohnungen auf den Markt zu überführen und eine soziale Absicherung über ein stark verbessertes Wohngeld vorzunehmen. Abgesehen davon, daß wir diese grundsätzliche Haltung nicht teilen und sie auch kaum für mit dem grundgesetzlichen Gebot eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats für vereinbar halten, verlassen Sie selbst Ihre eigenen Theorien; denn Sie wollen Mieterschutzrechte drastisch abbauen, eine Strategie der Mieterhöhungen fördern
und gleichzeitig das Wohngeld kürzen.
Unter dem Stichwort „Liberalisierung des Mietrechts" soll offensichtlich verschleiert werden, daß sich der Vermieter künftig befreien kann von den für ihn vielleicht lästigen, verfassungsmäßig und sozial aber dringend gebotenen Bindungen des Eigentums. Die neokonservative Regierung will und wird eine Politik betreiben, die die Wohnung als beliebige Ware betrachtet, und den Ertrag aus dieser Ware will sie zum einzigen Maßstab staatlicher Rahmenbedingungen machen.Wo bleibt die Schutzwürdigkeit des Lebensmittelpunkts vieler Millionen von Familien?
Was ist mit dem Ausgleich der Interessen von Vermietern und Mietern? Wo und auf welche Weise werden die wirklichen Investitionshemmnisse des Baugeschehens beseitigt, z. B. durch eine Bekämpfung von Spekulation oder eine Bestrafung von Bodenhortung? Davon ist bei Ihnen nirgendwo die Rede. Es wird so getan, als seien die in den Wohnungen lebenden Menschen Investitionshemmnisse.
Im Mittelpunkt soll aber doch der Mensch stehen.Im einzelnen schlägt die neue Koalition vor, die tragenden Säulen unseres — bis auf eine Stimme — einstimmig angenommenen Mietrechts anzusägen. Wenn man Säulen ansägt, dann stürzt logischerweise ein solides Gebäude ein.Sie wollen erstens den Wohnraumkündigungsschutz für die Mieter in Ein- und Zweifamilienhäusern gänzlich beseitigen. Das trifft etwa 1,5 Millionen Mietparteien.Sie wollen zweitens, daß der Kündigungsschutz leicht umgangen werden kann durch auf fünf Jahre
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7404 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Waltematheabzuschließende Zeitmietverträge, die nicht an enge Voraussetzungen geknüpft sind.
— Wir hatten dreijährige Zeitmietverträge vorgesehen und außerdem dann enge Voraussetzungen.Drittens. Sie wollen, daß die Mieten in Altbaubeständen stark steigen, nämlich durch die Zulassung von programmierten Mieterhöhungen bei der Neuvermietung von Altbauwohnungen, sogenannte Staffelmieten im Altbestand.
Viertens. Sie wollen die Vergleichsmiete ebenfalls durch die Zeitmietverträge umgehen, weil Zeitmietverträge natürlich jeweils einen Neuabschluß darstellen.Fünftens. Sie wollen den Begriff der Vergleichsmiete auf die teuersten Mieten der letzten drei Jahre beschränken.Sechstens. Sie wollen Wohnungen aus dem eigenen Bestand als Vergleichswohnungen zulassen. Das bedeutet folgendes.
— Herr Dr. Jahn, ich habe leider keine Zeit, Zwischenfragen zu beantworten. — Großvermieter brauchen weiter nichts zu tun, als in ihren Wohnungen drei Mieter zu suchen, die zur höheren Mietzahlung bereit und in der Lage sind, und schon dürfen alle anderen Mieter ebenfalls zur Kasse gebeten werden.Siebentens. Der Schutz vor Verdrängung aus der bisherigen Wohnung und vor Umwandlungshaien wird weiter zurückgedreht, er wird jedenfalls nicht verstärkt. Der Schutz vor Herausmodernisierung bisheriger Mieter wird stark beschädigt.Alles in allem also: Alles, was von der sozialliberalen Koalition als Schutz vor den erbarmungslosen Auswirken des sogenannten Lücke-Plans der 60er Jahre geschaffen worden ist, soll mit kurzen Federstrichen bis zur Unkenntlichkeit zurückgedreht werden in einen Freiwild- und Mieterhöhungsmechanismus, der breiteste Schichten unserer Bevölkerung ganz empfindlich treffen wird.Etwa 10 bis 15 Milliarden DM Mieterhöhungen sollen die Umverteilung von unten nach oben bewerkstelligen. Es wird also in dieser Höhe Kaufkraft abgeschöpft. Und Wohngeldkürzungen um 10 % tun ein Übriges dazu. Damit wird aus einer reinen Ideologie des Ertrages heraus wirtschaftlich, sozial und rechtlich Unvernünftiges in die Wege geleitet.
Arbeitsplätze im Konsumgüterbereich werden gefährdet, ohne daß ersichtlich wäre, daß die Erträge aus den Mieterhöhungen wirklich wieder investiert werden.Meine Damen und Herren, unter dem Vorwand, mehr Investitionen in den Neubau von Eigenheimen und Geschoßwohnungen lenken zu wollen, verstärken Sie die Attraktivität der Spekulation mit Altbauten und bestehenden Sozialwohnungen.
Das Bauherrenmodell wird von Ihnen keineswegs angegangen. Selbst eine bescheidene Rückschneidemöglichkeit, die Beseitigung der Mehrwertsteueroption, soll, wie man hört, wieder aufgehoben werden, obwohl erwiesenermaßen die Abschreibungs- und Verlustzuweisungsmöglichkeiten, die die Besserverdienenden in Anspruch nehmen, für den Staat weitaus teurer sind als die Förderung von Wohnungen und Eigenheimen im sozialen Wohnungsbau.Wohngeldkürzungen werden — das will ich der Vollständigkeit halber bemerken — übrigens keineswegs zur Eindämmung von Sozialleistungen führen. Denn Bund und Länder werden zwar die zig Millionen einsparen, aber Sie wissen auch, wie viele unter den Wohngeldempfängern gleichzeitig Sozialhilfe beziehen. Und für das, was an Wohngeld nicht mehr gewährt wird, müssen dann Kreise und Gemeinden durch die Erhöhung des Zuschusses der Sozialhilfe zu den Wohnkosten eintreten.Dieses ganze unsoziale Konzept, das weder Freiheit für Millionen von Bürgern noch Gerechtigkeit noch gar Solidarität in der Gesellschaft bewirkt, wird keineswegs die Bauwirtschaft in Gang bringen.
Die Aushöhlung dringend notwendiger Schutzrechte wird im Gegenteil die Nachfrage einschränken, öffentliche Kassen beanspruchen und den sozialen Frieden beeinträchtigen.
Meine Damen und Herren, Sozialdemokraten behaupten nicht, daß sie nicht von sich aus bereit gewesen wären, einige Korrekturen an den sogenannten Rahmenbedingungen vorzunehmen. Wir verschweigen auch nicht, daß wir manche Schritte, die von uns Sozialdemokraten als falsch angesehen wurden, mitzugehen bereit waren, um auf anderen Feldern der Politik, beispielsweise der Beschäftigungspolitik, eine Gegenleistung der FDP zu bewirken. Wir stehen allerdings auch dazu, daß wir es für notwendig halten, manche Schutzrechte noch auszubauen, z. B. den Schutz vor dem Herauskaufen oder dem Herausmodernisieren von Mietern aus ihren Wohnungen, für die sie schließlich auch heute schon eine nicht geringe Miete zahlen müssen.Sozialdemokratische Wohnungspolitik geht auch künftig von folgendem aus: Wohnen müssen alle, und Eigentum wollen viele. Mieter müssen geschützt werden vor Verlust, unangemessener Verteuerung oder unzumutbarer Verwandlung ihrer Wohnung.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7405
WaltematheDer soziale Wohnungsbau hat auch künftig die Aufgabe, Wohnraumversorgung zu angemessenen Bedingungen zu gewährleisten. Nachfrager nach selbstgenutztem Wohneigentum müssen durch Bekämpfung von Bodenspekulation und Bodenhortung in die Lage versetzt werden, überhaupt bezahlbaren Baugrund zu erwerben. Investitionen in den Wohnungsneubau sind steuerlich besser zu behandeln als Investitionen in den Bestand. Die steuerliche Förderung des selbstgenutzten Eigentums ist sozial gerechter, verwaltungsmäßig einfacher und familienfreundlicher zu gestalten.Mietwohnungen müssen dort gebaut werden, wo sie benötigt werden: in Ballungsgebieten und Städten. Die Fördermittel sind an die richtigen Orte, nicht an die besten Renditelagen zu lenken. Deshalb werden wir Millionen von Mitbürgern, die zur Miete wohnen, nicht im Stich lassen.
Wir werden Millionen von Menschen, die für sich Wohneigentum schaffen oder erwerben wollen, nicht alleine lassen. Die Wende in die Ausbeutungs- und Umverteilungsgesellschaft, in der sich einige auf Kosten der breiten Schichten bereichern können durch die Tatsache, daß jeder Mensch auf eine Wohnmöglichkeit angewiesen ist, darf nicht stattfinden. Die Pläne der neuen Regierung, soziale Ungerechtigkeit einzuführen, angemessene Wohnbedingungen zum Luxus zu machen, Bodenspekulanten zu schützen und Mieter zum Freiwild zu erklären, dabei Wohngeld abzubauen, aber Möglichkeiten zur steuerlichen Abschreibung für Vermögende auszubauen, dürfen nicht Wirklichkeit werden. Wir werden darum kämpfen, daß sie nicht Wirklichkeit werden. — Danke schön.
Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich mitteilen, daß die gemeldeten Redezeiten nicht von jedem Redner unbedingt ausgenützt werden müssen. Er ist frei, auch kürzer zu reden.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Möller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Waltemathe, Sie haben wieder einmal ein Horrorgemälde vorgeführt.
Sie haben den Eindruck erweckt, als ob die Mieter Ihnen das abnehmen.
Für so dumm können Sie j a eigentlich die Mieter gar nicht halten.
Meine Damen und Herren, die Politik der SPD-Wohnungsbauminister der letzten Jahre — und das ist das Ergebnis, das wir heute feststellen müssen — hat zu weniger fertiggestellten Wohnungen und zu mehr Arbeitslosen im Bauhandwerk geführt.
Die Zahl der neuen Wohnungen ging rapide zurück, und die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter steigt beängstigend immer mehr an.
Die Politik der letzten Jahre war dadurch gekennzeichnet, daß sie die Marktkräfte systematisch geschwächt und statt dessen zu einer Anspruchshaltung geführt hat, die die Wohnungsinhaber eindeutig bevorzugt und die Wohnungssuchenden, insbesondere junge Familien und sozial Schwächere, vor die Tür verweist.
Der frei finanzierte Wohnungsbau ist unwirtschaftlich und deswegen nahezu zum Erliegen gekommen.
Der Sachzusammenhang zwischen der mangelnden Investitionsbereitschaft privater Bauherren und der Mietgesetzgebung ist offenkundig geworden.
Meine Damen und Herren, der Sozialwohnungsbau kann die entstandenen Versorgungslücken natürlich nicht schließen. Mit Kostenmieten von mehr als 20 DM pro Quadratmeter ist er an der Grenze der finanziellen Möglichkeiten längst angelangt. Meine Damen und Herren, die Ertragslage in der Bauwirtschaft ist nach den Worten des Präsidenten der Bauwirtschaft, Herion, nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie so katastrophal gewesen wie im Augenblick nach Ende dieser Regierung.
In den ersten sieben Monaten des Jahres 1980 gingen 555 Baufirmen in Konkurs.
Bis zum Juli dieses Jahres waren schon 1219 Baukonkurse zu verzeichnen.
Der wirtschaftliche Verlust geht in die Milliarden. Die Sorge auf dem Bau erfaßt sowohl die Unternehmer als auch die Bauarbeiter und insbesondere ihre Familien. Es war deshalb an der Zeit, die Wohnungsbaupolitik zu ändern, sie auf die bewährten Grundsätze von Adenauer und Lücke zurückzufüh-
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Dr. Möllerren, die sie sozial ausgewogen und wirtschaftlich schlüssig gestaltet und durchgeführt haben.
Meine Damen und Herren, dieses Ziel ist in dem Koalitionsabkommen und in der Regierungserklärung richtig erkannt und behutsam und folgerichtig angepackt worden.
— Hören Sie doch zu, Herr Kollege Waltemathe! Wir haben Ihnen auch zugehört.Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt deshalb den wohnungspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarungen mit Nachdruck als einen ersten Schritt zu einer hoffnungmachenden, erfolgversprechenden und entscheidenden Wende in der Wohnungspolitik.
Erstens. Das Bauspar- und Zwischenfinanzierungsprogramm, das Programm zur Förderung des Mietwohnungsbaus in Verdichtungsräumen und das Programm zur Förderung des selbstgenutzten Wohnungseigentums sind kurzfristige und schnell wirksame Maßnahmen, besonders geeignet, Bauarbeiter wieder zu Arbeit und Brot zu bringen.Diese ersten Schritte dazu sind getan. Die von Beziehern von Einkommen über 50 000 bzw. 100 000 DM geforderte obligatorische Anleihe erscheint mir als ein geeignetes, sozial ausgewogenes und ordnungspolitisch vertretbares Instrument für diesen Zweck, da die Mittel, ziel- und zweckentsprechend, ausschließlich für den sozialen Wohnungsbau verwendet werden.Zweitens. Der von der neuen Koalition vorgesehene Schuldzinsenabzug bei Neubauten von Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen wird den Eigenheimbau wieder nachhaltig in Schwung bringen. Das haben Sie soeben bestätigt, Herr Kollege Waltemathe. Er ist j a durch die ideologische Verirrung der abgelösten Regierung Schmidt besonders empfindlich getroffen worden.
Nach wie vor — auch Sie haben das soeben angedeutet — ist die Nachfrage nach Wohnungseigenturn ungebrochen.
80 bis 90% der Bürger wünschen sich privates Eigentum. Aber nicht einmal 40 % haben Wohnungseigentum erlangen können.Es wäre deshalb, Herr Bundeswohnungsbauminister, sehr zu begrüßen, wenn die neue Regierung den Grundsatz in § 1 des 2. Wohnungsbaugesetzes bekräftigen und neu mit Leben erfüllen würde, der das Ziel hat — ich zitiere —, „für weite Kreise der Bevölkerung breitgestreutes Eigentum zu schaffen". Dieses Ziel ist mehr und mehr in Vergessenheit geraten oder bewußt aus den Augen verloren worden. Die neue Regierung setzt hier Gott sei Dank mit dem Schuldzinsenabzug neue Impulse und neue Akzente. Es ist nämlich auch zu erwarten,daß die höhere Auslastung der Bauwirtschaft die Steuerausfälle sicher ausgleichen wird.Drittens. Zum Mietrecht kann ich auf das verweisen, was der Kollege Dr. Jahn am 8. September 1982 zu der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses für unsere Fraktion hier bekräftigt hat. Staffelmieten und Zeitmietverträge sind kleine Schritte zu mehr Vertragsfreiheit. Die Freiwilligkeit ist wichtigster Kernpunkt dieser Regelung.
Denn niemand kann gezwungen werden, einen Staffelmietvertrag oder einen Zeitmietvertrag abzuschließen. Eine Kündigung, Herr Kollege Conradi, zum Abschluß eines solchen Mietvertrags ist ebenso ausgeschlossen wie die Kündigung zum Zweck der Mieterhöhung.Die Polemik, die gegen diese beabsichtigte Neuregelung entfacht worden ist, verunsichert und beunruhigt bewußt und in erbärmlicher Weise die Mieter.
Und was der Herr Sperling in diesen Tagen an aufhetzenden Parolen ausgegeben hat, kommt offensichtlich aus der Mottenkiste des Klassenkampfs.
Wer keinen Staffelmietvertrag oder keinen Zeitmietvertrag abschließen will, braucht es nicht.
Der Mieter hat also keine Nachteile, wenn er ein Staffelmietverlangen ablehnt. Es bleibt dann bei der Vergleichsmiete.
Die Staffelmiete ist in größerem Rahmen wahrscheinlich nur für die Vermieter mit einem großen Mietwohnungsbestand von Bedeutung, etwa für Lebensversicherungsunternehmen. Der frühere Bundeskanzler hat diesen eine entsprechende Zusage gemacht. Jetzt sind diese Unternehmen aufgerufen, ihre Absichten oder vielleicht ihre Versprechungen wahrzumachen
und mit einem kräftigen Schub neue Mietwohnungen zu bauen und damit zur Belebung des Wohnungsmarktes beizutragen.Die von der neuen Koalition vorgesehenen Verbesserungen des sozialen Mietrechts sind darauf ausgerichtet, einen gerechten und sozialen Ausgleich zwischen Mietern und Vermietern zu sichern.
Wir gehen davon aus, daß die Bundesregierung das Mietrechtsänderungsgesetz alsbald einbringt, damit es verabschiedet werden kann.
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Dr. MöllerEin Wort zum Wohngeld, Herr Kollege Waltemathe. Das Wohngeld geht auf Paul Lücke zurück. Es ist seitdem ständig weiterentwickelt worden. Die vielen Novellen haben das Wohngeldrecht sehr kompliziert und in vielen Fällen auch unverständlich gemacht. Ich betone: Das Wohngeld als ausschließlich auf die Person bezogene Leistung des Staates hat in einer neuen Wohnungsbaupolitik eine zentrale Bedeutung.
— Ich sage deswegen, daß ich es begrüße,
daß es keine linearen Kürzungen geben wird, sondern daß durch strukturelle Änderungen bürokratische Kostensteigerungen abgebaut und in Zukunft vermieden werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wegen der Kürze der Zeit nur noch drei Bemerkungen zu grundsätzlichen und langfristigen Problemen der Wohnungsbaupolitik machen.Erstens. Wir erwarten von der neuen Regierung, daß sie im nächsten Raumordnungsbericht insbesondere zu den Fragen der Stadtflucht einerseits und der Landflucht andererseits Stellung nimmt. Die Probleme in den Ballungsrandzonen, in denen sich die gegenläufigen Ströme treffen, werden immer drängender. Die bisherige Regierung hat hierzu auch nicht den Ansatz einer Lösung aufgezeigt.
Zweitens. Das Bundesbaugesetz, die Landesbauordnungen und viele Erlasse und Regelungen haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr als „Bauverhinderungsrecht" erwiesen.
Die Grundüberholung und Straffung des Bundesbaugesetzes ist überfällig. Die Bestimmungen über die Aufstellung und Änderung von Bebauungsplänen müssen wesentlich vereinfacht, der § 34 muß zeitgerecht verändert, und auch der § 35 muß in seiner Anwendung klarer und lesbarer werden.
In den letzten 20, 30 Jahren ist in Gebieten mit Bebauungsplan unvergleichlich größerer Ärger als in Gebieten ohne Bebauungsplan produziert worden.
Drittens. Die Neue Heimat hat das Prinzip der Gemeinnützigkeit sehr in Mißkredit gebracht.
Das kann und darf aber nicht Anlaß sein, die Gemeinnützigkeit über Bord zu werfen. Der gemeinnützige Wohnungsbau erfüllt zwischen Staat undMarkt eine wichtige Funktion. Dies gilt es zu erhalten, aber zeitgerecht fortzuentwickeln. Ob ein Wohnungswirtschaftsgesetz dazu erforderlich oder überflüssig ist, werden wir sorgfältig zu prüfen haben. Der von der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, insbesondere von den Wohnungsbaugenossenschaften, praktizierte Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe sollte gefestigt und gekräftigt werden.
Meine Damen und Herren, die neue Bundesregierung ist in der Wohnungsbaupolitik mit großem Schwung an die Arbeit gegangen.
Die für den Wohnungsbau gegebenen Impulse sind schnell wirkende Initialzündungen mit positiver Ausstrahlung auch in andere Wirtschaftsbereiche, und diese machen Mut.Meine Damen und Herren, der frühere israelische Ministerpräsident Ben Gurion hat einmal gesagt: Der Weg des geringsten Widerstandes ist nur zu Beginn gepflastert. — Die neue Regierung hat nicht diesen Weg beschritten, sondern mutig, fair und sozial ausgewogen einen schwierigen, aber notwendigen Schritt getan. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sie dabei deutlich und kräftig begleiten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident, ich will versuchen, Ihre Anregung aufzugreifen, und möchte hier nur mit wenigen Stichworten das Notwendige sagen, weil dies wohl nicht die Stunde ist, eine umfangreiche wohnungspolitische Debatte zu führen.Herr Kollege Waltemathe, wenn in der Regierungserklärung nicht sehr viel Konkretes steht,
heißt das, daß die konkrete Ausgestaltung sowohl der mietrechtlichen Fragen als auch der Programmfragen in Bearbeitung ist.
— Natürlich, lieber Herr Waltemathe! Übrigens haben Sie eben auf mich einen so ungeheuer befreiten Eindruck gemacht, den Eindruck, daß Sie als Oppositionsabgeordneter endlich voll Ihre wohnungspolitischen Vorstellungen vertreten können.
Es ist sozusagen eine nachträgliche Rechtfertigung für den Koalitionswechsel,
Ihnen diese Freude gemacht zu haben.
— Seien Sie doch einmal ein bißchen ruhig!
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GattermannIch habe dem Präsidenten versprochen, hier nur wenige Stichworte anzusprechen, damit wir nach Hause kommen können.Herr Waltemathe, Sie haben eine Formulierung gebraucht, mit der Sie natürlich auch als Oppositionsabgeordneter über das Ziel hinausgeschossen sind, die Formulierung, wir betrachteten die Menschen als Investitionshemmnisse. Das können Sie nicht so gemeint haben!
Einige ganz wenige Klarstellungen für das Protokoll, weil Sie gemeint haben, hier mangelnde Kontinuität der FDP-Wohnungspolitik feststellen zu sollen. Dies ist nun in diesem Politikbereich überhaupt nicht der Fall; Sie alle wissen das ganz genau.Ein Bausparzwischenfinanzierungsprogramm, Herr Waltemathe, hat immer unsere Billigung gefuñden. Wir hatten Probleme bei der Aufbringung der Mittel dafür.
Den Schuldzinsenabzug haben Sie abgelehnt,
weil er nach Ihrer Auffassung verteilungspolitisch nicht in Ordnung gehe. Übrigens fehlte auch dazu das Geld.Den sozialen Wohnungsbau halten wir in der Mittel- und Langfristperspektive in der bisherigen Form nach wie vor für überholt und nicht mehr finanzierbar. Ich glaube, da besteht sogar Einigkeit zwischen uns.
— Das Bauherrenmodell ist wieder ein Thema für sich. Bei dem, was jetzt als Mietwohnungsprogramm in den Verdichtungsräumen aufgelegt wird— warten Sie einmal die Einzelheiten ab —, werden Sie sehen, daß es keine Kombination mit Bauherrenmodellen ist — Herr Conradi, Sie können da ganz beruhigt sein —, sondern hier wird und soll den Gemeinden Gelegenheit gegeben werden, mit einem kreativ zu entwickelnden Förderinstrumentarium das wohnungspolitisch Erforderliche zu tun.Eigentumsförderung: Vergessen Sie doch bitte nicht, daß jedes gebaute Eigenheim eine Mietwohnung freimacht. Der Ansatzpunkt unserer aktuellen Überlegungen für die wenigen Monate, die zur Verfügung stehen, ist schlicht und ergreifend, Bauarbeiter von der Straße in Arbeit und Brot zu bringen.
Wenn Sie die Kombination von Schuldzinsenabzug und Bausparzwischenfinanzierungshilfen nehmen, dann glaube ich, daß die Schätzung des neuen Wohnungsbauministers mit 50 000 Wohnungen in etwa richtig ist; das Baugewerbe rechnet mit 40 000. Das bedeutet, daß 80 000 bis 100 000 Arbeiter für zweiJahre in Arbeit und Brot gebracht werden können. Das ist das Entscheidende für uns.
Was das Mietrecht angeht, Herr Waltemathe, wollen wir die Debatte nicht antizipieren. Nur, wenn wir sie fairerweise führen wollen, dann müssen wir sie hinsichtlich des Unterschieds in den Nuancen
zwischen dem alten Mietrechtsentwurf, den wir gemeinsam entwickelt hatten, und dem neuen, wenn er auf dem Tisch liegt, führen. Ich schaue den Präsidenten des Deutschen Mieterbundes an: Ich könnte mir vorstellen, daß Sie überrascht sein werden,
daß die Horrorgemälde, die Sie hier gezeichnet haben, sicherlich falsch sind. Glauben Sie doch um Himmels willen nicht, daß die CDU/CSU oder wir der Meinung wären, man könne Mieterinteressen vernachlässigen.
Das, was wir wollen, ist, den fairen Ausgleich herbeizuführen.
Wir wollen — das soll dann auch mein letztes Wort sein — das soziale Engagement, Herr Waltemathe, mit den zuweilen vernachlässigten Notwendigkeiten der ökonomischen Vernunft versöhnen. Dies ist unsere Aufgabe. — Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn meiner Ausführungen darf ich feststellen, daß dies die erste wohnungspolitische Debatte ist,
die ich seit 1969 erlebe, bei der der Herr Bundeskanzler anwesend ist.
Dafür möchte ich mich in ganz besonderer Weise bedanken. Mein Dank ist um so herzlicher und um so berechtigter, als diese Debatte zwar nicht, wie viele andere wohnungspolitische Debatten, in der Nähe von Mitternacht stattfindet, sondern jetzt, genau um 21.34 Uhr. In früheren Zeiten ist uns Wohnungspolitikern diese Ehre nicht zuteil geworden. Sie mögen daraus ersehen, welchen Stellenwert die Wohnungs- und Städtebaupolitik in dieser neuen Bundesregierung einnimmt.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7409
Bundesminister Dr. Schneider— Herr Roth, die Güte der derzeitigen Opposition werden wir bald beurteilen können. Die Erfahrungen von gestern und heute rechtfertigen eine schlechte Note.
Aber die Opposition — dies sage ich, weil Sie diesen Zwischenruf gemacht haben — hat sich natürlich zu Wort gemeldet. Was meine Kollegen Waltemathe, Möller und Gattermann vorhin gesagt haben, ließ ja erkennen, daß der — in zehnjähriger Ausschußarbeit habe ich das erlebt — immer vorhandene Ansatz zu Sachlichkeit auch durch polemischen Schutt nicht ganz zugedeckt werden kann.Uns ist j a aber schon ein anderer Gruß im „Sozialdemokratischen Pressedienst" vorausgegangen. Dort stehen einige Worte, die mein Sprachgefühl, meinen literarischen Sensus zu erschüttern drohen. Da liest man: „Die Verfolgung und Ermordung des sozialen Prinzips im Mietrecht ..."Das ist erst der Anfang. Man liest dann auch noch andere Worte. So heißt es z. B.: Freiwild, skandalöses Mietrecht, Ausbeutung und Umverteilung, Ellenbogengesellschaft usw.
Was soll denn all dieses übertriebene — ich halte mich in meiner Wortwahl zurück — Gerede? Es weiß doch jeder, der sich auch nur wenige Tage auf dieser Erde umgesehen hat, was die Wahrheit ist. Sie wissen doch ganz genau, daß die Wohnungspolitik der Vergangenheit an einem Tiefpunkt angelangt ist.
Ich muß Ihnen doch einmal ein paar Zahlen nennen, wenn Sie das nicht glauben wollen. Im ersten Programm — ich nehme nur dies und lasse das zweite weg — betrug die Zahl der Bewilligungen öffentlich geförderter Wohnungen im Jahre 1950, im ersten Regierungsjahr Adenauers 319 350, und im ersten Halbjahr 1982 — von Januar bis Juli — sind es noch genau 17 314.
Es ist eine Relation von 319 000 zu 17 000 gegeben. Im Jahre 1969 — damit Sie auch für dieses Jahr den richtigen Vergleichswert haben — waren es immerhin noch 130 999.Meine Damen und Herren, Sie wissen doch ganz genau, daß der soziale Wohnungsbau in den letzten Jahren in die schwerste Krise geraten ist, vom frei finanzierten Mietwohnungsbau gar nicht zu sprechen. Das sagen doch alle. Sagen Sie mir einen Verbandssprecher in diesem Lande, der mit mir in diesem Urteil nicht übereinstimmt. Daß wir nun am Tiefpunkt angelangt sind,
ist der eigentliche wohnungspolitische Skandal — nicht die Überlegungen, wie wir aus dieser Krise wieder herausfinden. Es ist doch auffallend — das müssen Sie doch wirklich anerkennen —, daß in dieser Regierungserklärung im Blick auf den Wohnungsbau Aussagen gemacht worden sind, Hoffnungen geweckt werden, Schritte eingeleitet werden, von denen Sie sich niemals hätten träumen lassen, daß es so weit kommen könnte. Sie mögen daran erkennen, daß wir die Wohnungsnot in den Städten sehr, sehr ernst nehmen.
Was hier heute geschehen ist, ist die Anstiftung zum Unfrieden. Unsere Wohnungspolitik, unser Mietrecht ist in weiten Teilen sozialwidrig und höchst unsozial. Warum?
— Das erzähle ich in Nürnberg ganz gewiß. Man hat es mir jedenfalls am letzten Sonntag bei der Wahl geglaubt, was ich erzähle. Ganz sicher!
— Reden Sie doch nicht so daher. Ich will Ihnen hier dies sagen. Der jüngsten Statistik läßt sich folgendes entnehmen. In einem Arbeitnehmerhaushalt mit vier Personen mit mittlerem Einkommen betrugen die Aufwendungen für Freizeitgüter im Jahre 1977 15,8%, während sie 1981 16,6% betragen. Die Aufwendungen für Miete betrugen im Jahre 1977 15,6 % — also 0,2% weniger als diejenigen für Freizeitgüter — und im Jahre 1981 16,4 %. Auch das sind im Vergleich zu 16,6% 0,2 % weniger. Das war eine Durchschnittszahl. Das heißt doch, daß wir da auch die außerordentlich hohen Wohnungsbauleistungen von 1949 bis 1969 und in den ersten 70er Jahren — und dies sind doch gerade die billigen Wohnungen — einbeziehen. Diese Miethöhe ist doch heute nur zu halten, weil in den Jahren der Unionsregierung einzigartige Wohnungsbauleistungen erbracht worden sind. Wegen dieser billigen Wohnungen halten wir heute noch die niedrigen Mieten. Wenn wir den Durchschnitt aus den Sozialwohnungen, die in den letzten Jahren gebaut worden sind, errechnen müßten, wären die Mieten doch wesentlich höher.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmitt.
Bitte, Herr Kollege Schmitt.
Herr Minister, sind Sie auch bereit, die Wohnungsbauleistungen von 1969 bis einschließlich 1981 zu nennen? Denn gerade in den 70er Jahren wurde in den Großstädten eine erhebliche Leistung im sozialen Wohnungsbau erbracht. Von der sprechen Sie nicht.
Die hat jedenfalls in den Jahren bis 1976 zu einer erheblichen Bedarfsdeckung geführt.
Kollege Schmitt, Sie dürfen keine Erklärungen abgeben.
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7410 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Herr Kollege Schmitt, das weiß ich natürlich. Das will ich gar nicht verheimlichen. Ich spreche jetzt von den preisgünstigen Leistungen.Die Jusos haben vor etwa einem Jahr den Vorschlag gemacht, ein Programm für hunderttausend Sozialwohnungen aufzulegen. Sie wissen, daß der Förderungsaufwand für eine Sozialwohnung im Durchschnitt 150 000 DM beträgt. Die Finanzierung dieses Vorschlages hätte den Steuerzahler 15 Milliarden DM gekostet.
Dieser Vorschlag ist deswegen abgelehnt worden, weil er nicht finanzierbar war.
— Das Bauherrenmodell hätten Sie seit 1969 abschaffen können. Warum haben Sie es denn nicht getan? Wer hat denn regiert?
Es ist schon schlimm, daß Sie so furchtbar gesündigt haben; aber daß Sie uns Ihre Sünden auch noch anrechnen wollen, ist skandalös.
Ich darf Ihnen sagen: Die Situation auf den Wohnungsmärkten ist heute denkbar ungünstig — das wissen Sie. Seit Mitte der 70er Jahre ist die Wohnungsproduktion — und da gehe ich auf Ihre Frage ein — stark zurückgegangen. Nach Abkühlung des Wohnungsbaubooms der frühen 70er Jahre wurden 1975 immerhin noch 437 000 Wohnungen fertiggestellt. 1981 waren es nur noch 365 000. Und im laufenden Jahr wird die Zahl von 350 000 Wohnungen deutlich unterschritten werden. Damit hat der Wohnungsbau Anfang der 80er Jahre nicht einmal das Niveau des Jahres 1950 erreicht. Wir haben im Wohnungsbau einen Punkt wie zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland,
wie zur Jahreswende 1948/49 erreicht. Wir fangen wohnungspolitisch also beim Nullpunkt an.
Vor allem im Eigenheimbereich zeichnet sich ein besorgniserregender Einbruch ab. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres ist die Zahl der Baugenehmigungen für Einfamilienhäuser gegenüber dem Vergleichszeitraum 1980, also innerhalb von nur zwei Jahren, um 43,5 % zurückgegangen.
Im Juni 1982 waren nur noch 1,15 Millionen Arbeitnehmer im Bauhauptgewerbe beschäftigt, 98 000, d. h. fast 8 %, weniger als ein Jahr zuvor. 110 000 Bauarbeiter waren im September arbeitslos gemeldet. Auf jede offene Stelle kommen derzeit 23 arbeitslose Bauarbeiter. Die Zahl der Firmenzusammenbrüche in der Baubranche nimmt bedrohlich zu. — Die Wohnungspolitik der letzten Jahre hat die anstehenden Probleme eben nicht lösen können.Deshalb brauchen wir zusätzliche und wirksame Maßnahmen. Die neue Bundesregierung wird den Stellenwert der Wohnungs- und Städtebaupolitik besonders stärken. Zusätzliche Finanzmittel sollen mobilisiert, hemmende gesetzliche Regelungen entschärft werden.Vor allem kommt es darauf an, wieder ein allgemeines Klima des Vertrauens zu schaffen. Wer Wohnungen baut, bindet Kapital auf lange Zeit. Er braucht für seine Investitionsentscheidungen stabile und verläßliche Rahmenbedingungen. Die wollen wir wiederherstellen;
denn für die Lösung unserer wohnungspolitischen Probleme brauchen wir den privaten Investor.Was für die allgemeine Wirtschaftspolitik gilt, gilt in ganz besonderer Weise für die Wohnungspolitik. 84 % aller Investitionen sind private Investitionen, nur 16 % öffentliche. Wenn wir den privaten Anleger für den Wohnungsmarkt nicht zurückgewinnen, werden wir kein einziges wohnungspolitisches Problem lösen können.
Staatliche Maßnahmen sollen die Privatinitiative nur unterstützen. Sie können sie nicht ersetzen. Die Belebung des Wohnungsbaus hat nicht allein versorgungspolitische Bedeutung, sondern spielt zugleich eine Schlüsselrolle für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und den Arbeitsmarkt.Zwischen der Situation in der Bauwirtschaft und der in der Gesamtwirtschaft bestehen enge Wechselbeziehungen. Deshalb müssen die versorgungs- und eigentumspolitischen Notwendigkeiten mit den wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Aufgaben in Einklang gebracht werden. Nur die Soziale Marktwirtschaft kann hierfür eine tragfähige ordnungspolitische Grundlage sein. Durch Eigeninitiative und Selbstverantwortung des einzelnen werden Kräfte freigesetzt, die Nutzen für alle bringen. In der Sozialen Marktwirtschaft wird der Ausgleich zwischen sozialen Erfordernissen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten möglich.Zur Ankurbelung des Wohungsbaus sind eine Reihe konkreter Maßnahmen vorgesehen. Ich freue mich, daß alle Kollegen darauf schon eingegangen sind. Ich darf sie kurz noch skizzieren.Solange Versorgungsengpässe bestehen, werden Staat und Kommunen durch gezielte Anreize und Abbau individueller Belastungen dafür sorgen, daß mehr Wohnungen produziert werden. Der beste Mieterschutz ist dann erreicht, wenn es am Markt mehr Wohnungen gibt als Haushaltungen, die nachfragen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7411
Bundesminister Dr. SchneiderUnser Prinzip heißt deshalb: Mehr bauen! Der Mieter muß der Herr am Wohnungsmarkt sein.
— Unsere Wohnungspolitik wird immer mieterfreundlich sein. Ich werde mich immer als Anwalt der Mieter erweisen.
— Den Beweis werde ich liefern.Was sozial ist, kann nur der beurteilen, der vorher die sozialistische Brille von den Augen nimmt.
Das ist auch im Bodenrecht so.
Wir sind für ein soziales Bodenrecht, allerdings gegen ein sozialistisches Bodenrecht. Wir müssen zunächst einmal eine Abgrenzung der Begriffe vornehmen; dann werden wir miteinander recht gut sprechen können.
— Wenn ich solche Sprüche schon höre!
Wenn ich mich als Anwalt der Mieter erkläre, dann bin ich gleichzeitig jemand, der für einen vernünftigen, wirtschaftlich vertretbaren und sozial gerechten Interessenausgleich zwischen Mieter und Vermieter eintritt. Denn ein Grundsatz muß in der Wohnungspolitik noch gelten: Die Miete ist der Preis für eine wirtschaftliche Leistung, die prinzipiell derjenige bezahlen muß, der sie für sich in Anspruch nimmt. Weil aber alle Menschen wohnen müssen und jeder einzelne mit seiner Familie menschengerecht und menschenwürdig wohnen soll, gelten die Sorge und die Solidarität der Gemeinschaft und der öffentlichen Hand denen, die nach gebührender Anstrengung ihrer eigenen finanziellen und wirtschaftlichen Leistungskraft nicht in der Lage sind, menschenwürdig zu wohnen. Wenn wir denen helfen, dann reichen auch die heute noch vorhandenen spärlichen Mittel aus, eine sozial gezielte, sozial gerechte Wohnungspolitik zu betreiben.
— Zu den Spekulanten werde ich an anderer Stelle reden. Ich will nicht polemisieren; sonst würde ich Ihnen ein Sonderkapitel darüber lesen, wer in Deutschland wohnungspolitisch spekuliert hat,
wo die schwarzen Schafe sind.
— Meine Metapher war nicht ganz richtig, es waren rote Schafe.
— Nein, wir wollen von der ersten Stunde an eine sachliche Politik betreiben. Lassen wir daher die Polemik! Sonst würden Sie den kürzeren ziehen.Um die aktuellen Probleme zu entschärfen, sollen in den nächsten Jahren die finanziellen Anreize sowohl im Bereich der direkten Förderung als auch bei der Bausparförderung gestärkt werden. Dafür werden kurzfristig zusätzlich 2,5 Milliarden DM bereitgestellt, die aus der vorgesehenen Investitionsanleihe für Besserverdienende Steuerpflichtige finanziert werden. Davon sollen 2 Milliarden DM für die direkte Förderung im ersten und zweiten Förderweg verwandt werden. Mit 4 500 Millionen DM wollen wir ein Programm zur Bausparzwischenfinanzierung auflegen. In der direkten Förderung soll etwa 1 Milliarde DM dem Mietwohnungsbau, vorrangig in Verdichtungsgebieten, und 1 Milliarde DM dem Eigenheimbau zukommen. Dabei soll ein bestimmter Anteil für Aussiedler und Flüchtlinge und für den Studentenwohnungsbau vorgesehen werden. Da jede neugebaute Wohnung für ein Jahr zwei Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft sichert, werden auf diese Weise zusätzlich etwa 100 000 Arbeitsplätze geschaffen.Darüber hinaus soll der Eigenheimbau durch das Programm zur Bausparzwischenfinanzierung gefördert werden. Das Bausparen ist für viele Familien mit unteren bis mittleren Einkommen der günstigste Weg, um das notwendige Eigenkapital für ihren Hausbau anzusparen. Um das vorhandene Investitionspotential der Bausparer möglichst schnell zu mobilisieren, wollen wir für den Zeitraum von vier Jahren die Bausparzwischenfinanzierung um 3 % verbilligen.Daneben wollen wir die Sperrfrist für die prämienunschädliche Verwendung von Bausparmitteln wieder von 10 auf 7 Jahre herabsetzen. — Darüber gab es bei den Wohnungspolitikern damals keinen Streit. Wir konnten uns nur nicht durchsetzen. — Denn die Verlängerung der Festlegungsfrist hat dazu geführt, daß viele potentielle Bausparer zögern, einen Bausparvertrag abzuschließen. Unter anderem ist auch deshalb die Zahl der Neuabschlüsse zurückgegangen; die Wartezeiten für die Zuteilung haben sich immer mehr verlängert.Neben der direkten Förderung und den Konditionen für die Bausparfinanzierung soll auch die steuerliche Förderung im Eigenheimbereich verbessert werden. Das bisherige System benachteiligt den selbstnutzenden Eigenheimer in der Anfangsphase der Nutzung deutlich gegenüber dem, der Wohnungseigentum ganz oder teilweise vermietet. Das ist u. a. in dem von der alten Bundesregierung, von meinem Herrn Vorgänger, vorgelegten Bericht über das Zusammenwirken finanzwirksamer wohnungspolitischer Instrumente überzeugend dargelegt worden. Seien Sie ganz sicher: Alles, was übernehmenswert ist, wird übernommen. Geistige An-
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7412 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Bundesminister Dr. Schneider1 leihen soll man nie verschmähen, zumal wenn sie kostenlos gegeben werden.
Um diese Benachteiligung abzubauen, sollen künftig die Bauherren selbstgenutzter Eigenheime ihre Schuldzinsen bis zu einer Höhe von 10 000 DM pro Jahr steuerlich absetzen können. Für eine Familie mit einer Grenzsteuerbelastung von 30 % bedeutet das eine Steuerersparnis von 3 000 DM jährlich. Daneben bleibt die geltende Regelung des § 7 b des Einkommensteuergesetzes natürlich in Kraft.Der Sachverständigenrat hat in seinem jüngsten Wirtschaftsgutachten den geplanten Schuldzinsenabzug kritisiert, weil dadurch der innere Widerspruch der Förderungssystematik verstärkt werde. Dem ist freilich entgegenzuhalten, daß wir jetzt aus konjunkturellen Gründen schnell wirkende Förderungseffekte brauchen. Dafür ist der Schuldzinsenabzug ein geeignetes Instrument. Wir sind durchaus auch bereit, die weitergehende konzeptionelle Diskussion über das künftige System der Wohnungsbauförderung zu führen. Dazu brauchen wir aber mehr Zeit und sorgfältige Vorbereitung. Kurzfristig, d. h. in den nächsten Wochen und Monaten, müssen wir vor allem die Konjunktur wieder ankurbeln. Unsere Maßnahmen werden insgesamt ein zusätzliches Bauvolumen von 70 000 bis etwa 100 000 Wohnungen auslösen; denn wir wollen auch die Mittel für die Städtebauförderung anheben.Wohnungspolitik ist nicht nur eine Frage der) Ausgestaltung finanzieller Rahmenbedingungen. Auch andere Faktoren müssen kontrolliert werden. Dazu gehört insbesondere auch das Mietrecht. Zum Mietrecht will ich Ihnen sagen, daß der Herr Justizminister der zuständige Ressortminister ist.
Sie dürfen aber ganz sicher sein: Unter der Regierung Helmut Kohl wird es kein Mietrecht geben, das gegen das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verstößt.
Es wird kein Mietrecht geben, das den sozial Schwachen überfordert.
In unserer Generalaussprache werden wir uns noch gründlich über den sozialen Wert, die soziale Wertigkeit, die soziale Treffsicherheit des jetzigen Mietrechts und des jetzigen sozialen Förderungsrechts unterhalten. Ich wiederhole, was ich seit Jahr und Tag behauptet habe: Unser derzeitiges Mietrecht ist in Teilen höchst unsozial.
Dieses Mietrecht benachteiligt vor allen Dingen diejenigen — das sind meistens junge Menschen, das sind junge Ehepaare —, die zum ersten Mal am Wohnungsmarkt erscheinen und um eine Wohnungnachsuchen. Dieses Mietrecht ist auch eine höchst unsoziale Benachteiligung desjenigen, der seinen Arbeitsplatz verliert, in einer anderen Stadt einen Arbeitsplatz gefunden hat und ihn nicht annehmen kann, weil er bei diesem erstarrten Wohnungsmarkt nur verschlossene Türen findet.
Das Mietrecht, das wir heute haben, trägt feudalistische Züge. Es ist ein Recht, das den Altbesitzer privilegiert und den sozial schwachen Nachsucher — gerade junge Ehepaare — in außerordentlich unsozialer Weise benachteiligt. Es soll sich ja keiner auf dieses Mietrecht in der Praxis verlassen. Alle Sachkenner wissen es doch. Es gibt doch niemanden in der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, der mir das nicht bestätigen würde. Ich könnte hier noch stundenlang Praktiker zitieren. Daß dieses Mietrecht einmal gut gemeint war, bestreite ich nicht. Ich stehe doch nicht an zu erklären, daß ich am 17. Oktober 1974 diesem Mietrecht zugestimmt habe; aber ich bin auch klug genug und politisch reif genug und frei genug, einen Irrtum einzusehen und ihn sobald wie möglich wieder rückgängig zu machen. Es ist doch keine Schande, einmal einen Fehler zu begehen.
Wenn dieses Mietrecht sozial wäre, dann würden wir dieses Mietrecht verteidigen, aber dieses Mietrecht ist in weiten Teilen in höchstem Maße unsozial. Es ist jedoch ein wunderbarer Stoff, mit dem Sie gegen uns polemisieren können. Den Erfolg, den Sie sich davon versprechen, werden Sie nicht erzielen. — Soviel zum Mietrecht.Meine Damen und Herren, ich möchte mich mit Rücksicht auf die Zeit kurz fassen. Ich sage noch ein Wort zum Bodenrecht und zum Bodensteuerrecht.Was das Bodenrecht anlangt, so wird die neue Bundesregierung die Novelle zum Bundesbaugesetz zurückziehen.
Warum ziehen wir das zurück? Weil ein wissenschaftliches Gutachten, das mein Herr Amtsvorgänger hat erstellen lassen, ja bereits zur dem Ergebnis gekommen ist, daß Teile dieses Gesetzentwurfs verfassungswidrig sind, und zwar wegen eines Verstoßes gegen Art. 14 des Grundgesetzes.Sie können diese mietpolitischen Probleme niemals mit bodenrechtlichen Eingriffen lösen. Es ist ebenso eine Tatsache, daß die Wohnungsversorgung der Bevölkerung in den Ländern, in denen das private Eigentum an Grund und Boden aufgehoben oder wesentlich eingeschränkt ist, in denen Wohnungsbau unter den Bedingungen eines sozialistischen Bodenrechts betrieben wird, quantitativ und qualitativ am schlechtesten ist. Ein sozialistisches Bodenrecht wird das Problem nicht lösen. Aber wir werden ganz sicher — nicht von heute auf morgen — umfassend novellieren, soweit eine Reform unse-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982 7413
Bundesminister Dr. Schneiderres Bau- und Planungsrechts notwendig ist. Aber was wir nicht tun werden, ist, bruchstückweise, von Jahr zu Jahr, neue Novellen vorzulegen.
Nun zum Bodensteuerrecht. Die Unionsparteien und auch diese Bundesregierung sprechen sich gegen eine Privilegierung des Immobilienvermögens aus. Wir sind für eine allgemeine Hauptfeststellung für alle Grundstücke, und wir sind für zeitnahe Einheitswerte. Aber wer hat es denn zu verantworten, daß wir unsere Grundsteuer heute auf der Basis von Einheitswerten nach der Hauptfeststellung zum 1. Januar 1964 zahlen? Wer ist denn das?
— Nicht der Koalitionspartner: Die Bundesregierung, die von 1969 bis 1982 am Ruder war!
Die Bundesfinanzminister — darunter auch der frühere Bundesfinanzminister Helmut Schmidt — haben es unterlassen, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen. Dann gab es noch diesen unsinnigen Streit bei der Bemessung der Einheitswerte für den Mietwohnungsbau. Da war doch der Streit, ob Sachwertverfahren oder Ertragswertverfahren, Rohmietverfahren oder Geschoßflächenverfahren, um es technisch zu sagen. Das heißt, der Streit ging darum: Besteuere ich ein Mietshaus, das an einem Punkt der Stadt liegt, wo die Grundstückspreise sehr hoch sind, nach dem Wert des Grundstücks, auf dem das Haus steht, oder danach, welchen Ertrag dieses Mietwohngrundstück erbringt? Ich kann doch ein Grundstück, das als Mietwohngrundstück dem Eigentümer nur Mieterlöse bringt, nur danach beurteilen und besteuern, in welchem Maße er Mieten einnimmt, welche Erträge das abwirft. Deswegen kann es hier nur das Ertragswertverfahren geben. Allein darüber sind Jahre im Streit mit den Ländern und dem Bund vergangen. Wenn wir also heute keine zeitnahen Einheitswerte haben, so deswegen, weil die Hauptfeststellung seit 1964 nicht mehr durchgeführt worden ist. Das ist ein Problem, das in allernächster Zeit angepackt werden muß. Aber dazu bedarf es einiger Zeit. Die verlorengegangene Zeit haben Sie zu verantworten.
Seien Sie sicher, wir werden auch beim Boden- und beim Bodensteuerrecht eine Politik des Maßes und der Mitte, der sozialen Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen Vernunft betreiben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zur heutigen Aussprache liegen mir nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Zwei Mitglieder des Hauses haben sich gemeldet, um Erklärungen nach § 30 der Geschäftsordnung abzugeben. Ich erteile zuerst dem Herrn Abgeordneten Stiegler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Vergebung, daß ich Sie vor dem Schlaftrunk stören muß.
Graf Lambsdorff hat heute mittag die Behauptung wiederholt, in Weiden sei er von Stör- und Brülltrupps niedergebrüllt worden, die von sozialdemokratischen Mandatsträgern geführt worden seien. Ich trete diesen falschen Behauptungen mit Nachdruck entgegen. Sie werden dadurch nicht wahrer, daß sie wiederholt werden; sie werden auch dadurch nicht wahrer, daß sie unter Bezugnahme auf Zeitungsberichte hier wiederholt werden. Ich sehe mich auf der anderen Seite außerstande, Herrn Grafen Lambsdorff vorzuwerfen, daß er lügt; denn ich fürchte, sein Drang, sich hier als verfolgte Unschuld darzustellen, ist größer als sein Wille zur Objektivität. Da fehlt es am subjektiven Tatbestand.
Die Tatsache aber, daß er trotz dieser Darstellung — —
Herr Kollege Stiegler, ich bin ja nicht kleinlich. Aber ich muß Ihnen den Text der Geschäftsordnung vorlesen.
— Ob Sie am Ende sind oder nicht, hören Sie sich
das bitte an:
Mit einer Erklärung zur Aussprache dürfen nur Äußerungen, die sich in der Aussprache auf die eigene Person bezogen haben, zurückgewiesen ... werden ...
Sie können jetzt nicht eine neue Auseinandersetzung mit Herrn Lambsdorff beginnen.
Graf Lambsdorff hat mir vorgeworfen, ich hätte hier die Unwahrheit gesagt. Das weise ich zurück. Es hat hier keine Störtrupps, die von sozialdemokratischen Mandatsträgern organisiert oder angeführt worden wären, gegeben.
Zu einer weiteren Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung erteile ich dem Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In bezug auf meine Kritik an der Ernennung von Herrn Dr. Zimmermann zum Innenminister hat Herr Abgeordneter Erhard mir heute nachmittag Verleumdung vorgeworfen, weil ich aus einem „unrechtlichen Urteil gegen Herrn Dr. Zimmermann" zitiert hätte, das aufgehoben worden sei. Dazu habe ich folgendes festzustellen:Das Urteil eines unabhängigen deutschen Gerichtes wird nicht dadurch unrechtlich, daß es Herrn Erhard politisch nicht paßt.
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7414 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Oktober 1982
Dr. EhmkeDas Urteil vom 28. April 1961, aus dem ich hier zitiert habe, ist nicht aufgehoben, es ist im Gegenteil rechtskräftig geworden. Da ich diese Tatsache Herrn Kollegen Erhard bereits gestern abend persönlich erklärt habe, muß ich leider feststellen, daß der Kollege Erhard heute hier bewußt die Unwahrheit gesagt hat. Der Vorwurf der Verleumdung fällt daher auf ihn selbst zurück.
Meine Damen und Herren, mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir sind am Ende der heutigen Sitzung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages zur Fortsetzung der Aussprache über den gleichen Tagesordnungspunkt ein auf morgen, Freitag, den 15. Oktober 1982, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.