Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor ich zur Tagesordnung überleite, möchte ich an das verheerende Erdbeben erinnern, das gestern im südlichen Kaukasus das Grenzgebiet der Sowjetunion zur Türkei heimgesucht hat. Betroffen ist vor allem die Sowjetrepublik Armenien, in der mehrere große Städte und zahlreiche Dörfer durch die Erdbebenkatastrophe weitgehend zerstört worden sind. Wenn auch das genaue Ausmaß noch nicht bekannt ist, so muß nach den letzten Meldungen aus der Sowjetunion doch mit mehreren tausend Toten und einer unübersehbaren Zahl von Verletzten und Obdachlosen gerechnet werden.
Wir haben diese Meldung von der Katastrophe mit großer Erschütterung aufgenommen. Unser ganzes Mitgefühl gilt vor allem den direkt Betroffenen, denen, die Angehörige und Freunde verloren haben, den Verletzten und all denen, die ihre Wohnung, ihr Hab und Gut einbüßten.
Den so hart geprüften Völkern der Sowjetunion, dem Obersten Sowjet und der Regierung der UdSSR spreche ich die tiefempfundene Anteilnahme des Deutschen Bundestages aus.
Ich komme zur Tagesordnung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Modernisierung nuklearer Kurzstreckenwaffen
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Stratmann, Dr. Daniels und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ersatz des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer — Drucksache 11/3655 —
3. Aktuelle Stunde: Verantwortung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Zusammenhang mit den Vorfällen im Atomkraftwerk Biblis A
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 94 zu Petitionen — Drucksache 11/3670 —
5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Initiativen zum Verbot der Herstellung und Lagerung chemischer Waffen und der Verhinderung ihrer Weiterverbreitung — Drucksache 11/3669 —
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Lamers, Lummer, Schwarz, Frau Geiger und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Dr. Feldmann, Frau Dr. Hamm-Brücher, Irmer, Ronneburger, Dr. Hoyer, Nolting und der Fraktion der FDP: Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Weitergabe und des Einsatzes von chemischen Waffen — Drucksache 11/3680 —
7. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Straßmeir, Fischer , Börnsen (Bönstrup), Bohlsen, Haungs, Uldall, Dr. Wittmann, Dr. Jobst, Carstensen (Nordstrand), Eylmann, Neumann (Bremen), Hinrichs, Hinsken, Jung (Limburg), Maaß, von Schmude, Kraus und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Richter, Gries, Kohn, Funke, Zywietz, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Seeschiffahrtsregisters für deutsche Handelsschiffe im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister) — Drucksachen 11/2161, 11/3679 —
8. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Menschenrechte in Kolumbien — Drucksache 11/2404 —
9. Erste Beratung des von den Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude, Bulmahn, Dr. Däubler-Gmelin, Duve, Dr. Ehmke , Fischer (Homburg), Ganseforth, Gilges, Großmann, Ibrügger, Kuhlwein, Lambinus, Luuk, Schmidt (Nürnberg), Dr. Skarpelis-Sperk, Stiegler, Voigt (Frankfurt), Waltemathe, Westphal, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (VN-GV-Res. 39/146) — Drucksache 11/3668 —
10. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze — Drucksachen 11/2421, 11/3672, 11/3673 —
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Parteiengesetzes — Drucksachen 11/3097,11/3672 —
Gleichzeitig soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgesehen werden, soweit es zu einzelnen Punkten der Tagesordnung und den aufzusetzenden Zusatzpunkten erforderlich ist. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
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Präsidentin Dr. Süssmuth
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Überweisung im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 1987 — Einzelplan 20 —— Drucksache 11/2593 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1988 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
— Drucksache 11/3056 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern
— Drucksache 11/2685 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/3683 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts
b) Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Hüser und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern
— Drucksache 11/3116 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/3683 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft in den Ländern
— Drucksachen 11/3263, 11/3444 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksache 11/3683 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Roth Dr. Weng (Gerlingen)
Dr. Struck
Frau Vennegerts
Zu Tagesordnungspunkt 7 c liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3684 vor.
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für diesen Tagesordnungspunkt eine Beratungszeit von einer Stunde vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Mitbürger! Dies ist heute ein wichtiger Tag für die strukturschwachen Bundesländer, für die Länder, die besondere Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Zukunft benötigen. Wir hatten gestern mit verschiedenen Kollegen ein Gespräch mit Vertretern der Bundesländer, aller Bundesländer, bei dem allgemeine Einmütigkeit darüber bestand, daß es Gründe und Anlaß gibt, daß die Strukturnachteile in den einzelnen Bundesländern ausgeglichen werden müssen, daß es eine große Zahl von Ländern gibt, die Hilfe auf dem Weg in die Zukunft brauchen. Ich meine, es ist uns gemeinsam gelungen, mit ganz großer Mehrheit — gegen die Stimmen der GRÜNEN — eine Lösung zu finden, die diesen strukturschwachen Ländern auch wirklich nachdrücklich hilft.
Ich möchte gleich zu Beginn sagen, daß das jetzt vorgelegte Gesetz auf die verdienstvolle Initiative des niedersächsischen Ministerpräsidenten zurückgeht, dem ich hier von dieser Stelle aus sehr herzlich dafür danken möchte.
Wenn man davon ausgeht, daß wir alle, Opposition und Regierungsparteien, eigentlich seit Mitte der 70er Jahre darüber geredet haben, daß dem Norden stärker geholfen werden muß, dann ist es Ernst Albrecht zu verdanken, daß aus diesem konkreten Wunsch auch ein konkreter gesetzmäßiger Ansatz geworden ist. Deswegen, meine ich, gebietet es einfach der Anstand, die Höflichkeit, dies hier so deutlich zu sagen.
Der Gesetzentwurf, der heute vorliegt, macht deutlich, daß wir als Bund den Bundesländern, die Strukturschwäche haben, in den nächsten 10 Jahren mit
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Austermann
25 Milliarden DM Hilfe leisten wollen. Davon entfallen etwa 2 Milliarden DM auf die Länder nördlich des Mains, also ein ganz wesentlicher Anteil, der in diese Regionen fließt. Wir wollen die Länder voranbringen. Sie sollen die technologische Entwicklung im Süden aufnehmen, sie sollen in die Lage versetzt werden, ihre Wirtschaftsstruktur nachdrücklich zu verändern, ihre Wirtschaftsstrukturen zu entkalken, sie sollen die Forschungsinfrastruktur verbessern und Arbeitsplätze für die Zukunft bauen. Ich glaube, dies ist ein Wunsch, den jeder Bürger in diesem Hause, aber auch außerhalb dieses Hauses mit Nachdruck unterstützen kann. Jetzt ist es an den Bundesländern, daraus etwas zu machen, und ich fordere alle Bundesländer auf, in Wettbewerb einzutreten, mit dieser Strukturhilfe zu zeigen, was die jeweilige Landesregierung leisten kann. Ich bin ziemlich sicher, wie dieser Wettbewerb ausgehen wird.
Je nach dem politischen Ansatz hatten in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes einzelne die ausgestreckte Hand des Bundes unter Umständen für falsche Zwecke nutzen können. Wir haben in der Beratung des Haushaltsausschusses deshalb bei dem Gesetz gewisse Korrekturen angebracht, die mir sehr wichtig erscheinen. Es steht jetzt fest, daß die in den Ländern vorgesehenen Investitionen auch wirklich der Verbesserung der Struktur dienen. Wir machen also kein Konjunkturankurbelungsgesetz sozialistischer Prägung, etwa nach dem Motto „Arbeit und Umwelt" ,
sondern wir machen ein Gesetz, das der Strukturverbesserung dienen soll. Konjunkturprogramme blähen die Haushalte pauschal auf, Problemlösungen werden verhindert. Das ZIP-Programm der Vergangenheit ist ein deutliches Beispiel dafür, denn das Nord-SüdGefälle ist nicht geringer geworden, sondern ist verschärft worden.
Da dies unsere Absicht ist, haben wir dies auch an anderer Stelle im Gesetz deutlich gemacht. Wir haben darauf hingewiesen, daß zusätzliche Investitionen gefördert werden sollen, und hier gibt es eine noch breitere Übereinstimmung. Sogar der DGB hat diesen Ansatz begrüßt und unterstützt. Ich glaube, daß damit ausgeschlossen ist, daß wir einen Mitnahmeeffekt haben, wie er von Hessen und Baden-Württemberg befürchtet wird. Ich meine deshalb, daß diese Länder nach der Schlußberatung des Gesetzes heute noch einmal gewissenhaft und wohlwollend prüfen sollen, ob sie tatsächlich den Schritt zum Verfassungsgericht tun. Ich denke, daß man mit dieser Fassung des Gesetzes leben kann, daß es verfassungsfest ist. Ich fordere diese Länder auf, ihre Haltung noch einmal zu überprüfen.
Mit der Entschließung des Haushaltsausschusses, auf die Unterstützung des Bundes jeweils an den einzelnen Objekten hinzuweisen, das vor Ort deutlich zu machen, wollen wir gleichzeitig anstreben, daß die Bürger auch tatsächlich wissen, wo diese Hilfe ankommt, und in anderen Fällen, in bestimmten Ländern vielleicht, wo die Hilfe nicht ankommt. Wir wollen damit die Verantwortungsbereitschaft des Bundes unterstreichen. Wir wollen zeigen, daß der Bund seine Verpflichtung nach dem Grundgesetz wahrnimmt. Wenn der Bund den Bürgern 1989 eine maßvolle Anhebung der Verbrauchsteuern zumutet — in dem Begriff „maßvoll" und in der Definition unterscheiden wir uns hier von den GRÜNEN und der SPD, die die Verbrauchsteuern im nächsten Jahr wesentlich stärker anheben wollen — , dann sollten die Bürger wissen, daß dieses Geld u. a. auch für diese Strukturhilfe ausgegeben wird. Wir sind der Meinung, darauf soll hingewiesen werden.
Der Bund will gleichwertige Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Norden und Süden in den Bundesländern. Die einzelnen Bundesländer haben jetzt die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß es nach dem Ablauf des Gesetzeszeitraums, in 10 Jahren, das Süd-Nord-Gefälle nicht mehr gibt.
Ich meine, daß dies auch ein Schritt ist, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern auf eine neue Grundlage zu stellen. Kohlepfennig — man sollte ihn mit der Ausweitung heute eher „ Kohlegroschen " nennen — , Strukturhilfen für Kohle und Stahl, Werfthilfen, Hilfen für den Schiffbau zeigen, daß der Bund seine Verantwortung für den Norden wahrnimmt, für die Länder wahrnimmt, die den Strukturwandel brauchen. Ich glaube, damit steigt auch die Verantwortung der einzelnen Länder, sich bundesfreundlich zu verhalten, was nicht heißt, zum Bund nett zu sein, sondern diese gemeinsame Zielsetzung in die Richtung, die Strukturen auszugleichen, besser zu erfüllen. Der Ausstieg aus der gemeinsamen Energiepolitik, die Verzögerung der notwendigen Verkehrserschließung im Norden, Technologiestopp, die Verweigerung von Entscheidungen für Entsorgungsvorhaben oder das Unterlassen notwendiger Maßnahmen im Gewässerschutz zugunsten von Nord- und Ostsee passen nicht zu einer gemeinsamen Politik. Und deshalb sollten diese Länder genau prüfen, inwieweit sie sich auch bundesfreundlich verhalten.
Ich möchte hier eine Debatte aufgreifen, die gestern abend stattgefunden hat zum Thema Nordsee- und Gewässerschutz. Da hat hier der schleswig-holsteinische Umweltminister behauptet, er gäbe neu 1989 30 Millionen Mark aus für den Gewässerschutz, insbesondere für Nord- und Ostsee.
Ich habe mir daraufhin den Entwurf des Landeshaushalts für das kommende Jahr für Schleswig-Holstein — insbesondere den Einzelplan des Herrn Heydemann — angeguckt und habe dort was ganz Interessantes gefunden. Zunächst einmal habe ich gefunden, daß die Ansätze insgesamt abgesenkt werden, daß 10 Millionen Mark weniger für Abwasserbeseitigung und Gewässerschutz ausgegeben werden
und daß der Betrag von 8 Millionen Mark zwar für die Minderung des Phosphat-Eintrags vorgesehen ist, aber insgesamt in einem Gesamtansatz, der von 27 Millionen Mark auf 16 Millionen Mark heruntergefahren wurde. Dabei ist festgelegt worden, daß dies vor allen Dingen alte Ansätze sind, die dort mit Geld bedacht werden. So ernst nehmen es manche mit den
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Austermann
Vokabeln. So ernst nehmen es manche auch mit der Wahrheit, aber auch mit der Frage Gewässerschutz.
Ich glaube auch, daß ich deutlich genug darauf hingewiesen habe, Herr Kollege Struck, daß wir dieses Ziel einvernehmlich im Auge haben und daß es jetzt darum geht, Vernünftiges daraus zu machen.
Mit der Entschließung, die wir heute zusätzlich zu diesem Gesetz zur Beschlußfassung vorlegen, empfehlen wir die Verlagerung eines wesentlichen Teils der Investitionshilfe auf die Kommunen und in den Umweltschutzbereich, also insbesondere bei Nord- und Ostsee.
Wenn auch die anderen Länder — zum Beispiel Herr Heydemann — das täten, was Niedersachsen gemacht hat — nämlich zu sagen, wir geben 20 % der Strukturhilfe für Niedersachsen für den Gewässerschutz aus — , stünden etwa 500 Millionen Mark im Jahr zur Verfügung, Nord- und Ostsee zu retten. Ich möchte auch die anderen Länder bitten, das gleiche zu tun, was Niedersachsen hier getan hat und Schleswig-Holstein offensichtlich zu tun nicht bereit ist.
Zu überlegen war in den letzten Tagen, wieweit die veränderten Daten der Volkszählung berücksichtigt werden müssen. Wir konnten dies nicht einbeziehen — ganz einfach deshalb, weil diese Strukturhilfe kein neuer Finanzausgleich oder keine Erweiterung des Finanzausgleichs ist. Aber die Länderfinanzminister sollten sich mit der endgültigen Abwicklung verständnisvoll befassen.
In keinem Fall heißt aber auch die neue Volkszählung, daß einzelne Länder weniger haben als bisher. Ich will zum Schluß nur ein kurzes Beispiel bringen. Schleswig-Holstein wird zwar für 1987 in der Summe von Umsatzsteueranteil, Ausgleichszuweisungen und Bundesergänzungszuweisungen etwa 30 Millionen Mark weniger haben als 1986. 1988 steigt der Betrag aber schon wieder um 200 Millionen Mark an.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft brummt, die Steuereinnahmen der Länder sprudeln, die Arbeitslosigkeit geht langsam zurück: Wir sind der Meinung, daß dies verstärkt auch im Norden wirksam werden soll. Die Strukturhilfe wird einen wesentlichen Anteil dabei leisten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Struck.
Frau Präsident, ich lege Wert auf die Feststellung, daß ich männlichen Geschlechts bin.
— Vielen Dank!
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Selten hat es im Finanzbereich eine größere Übereinstimmung zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern, Landkreisen und kreisangehörigen Gemeinden gegeben als bei der Initiative der nord- und westdeutschen Länder zur Umverteilung der Sozialhilfelasten. Alle Beteiligten waren sich einig, daß der Beschluß des Bundesrates endlich einen Weg zur Erfüllung des Grundgesetzauftrages zeigte, gleichwertige Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen.
Leider jedoch, meine Damen und Herren, sind diese hochgespannten Erwartungen von der Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf zur Strukturhilfe nun schwer enttäuscht worden. Das Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik Deutschland wird mit diesem Gesetz jedenfalls nicht ernsthaft beseitigt. Die Kommunen werden bei den explosiv steigenden Sozialhilfekosten nicht entlastet, was bitter nötig wäre, damit sie endlich wieder Mittel für Investitionen freibekommen und auch ihren wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten können.
Deshalb ist es für uns selbstverständlich, daß die Finanzminister der Länder — wir appellieren hier an sie — einen wesentlichen Teil der Mittel nicht zur Milderung eigener Probleme in den Landeshaushalten nutzen, sondern gerade den Landkreisen und auch kreisangehörigen Gemeinden zur Verfügung stellen, die unter der durch die Arbeitslosigkeit verursachten hohen Strukturschwäche besonders zu leiden haben. Das meinen wir sehr ernst.
Ich möchte hier an dieser Stelle zu dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktion ein Wort sagen: Wir werden diesem Entschließungsantrag zustimmen, wenngleich wir bei der Darstellung, Herr Kollege Austermann, daß diese Strukturhilfe besonders die Probleme der Nord- und Ostsee mit lösen helfen könnte, große Bedenken haben. Es gibt ein viel besseres Programm, Herr Kollege Austermann, nämlich das von dem Kollegen Ernst Waltemathe initiierte Programm der SPD-Bundestagsfraktion
„Rettet die Nordsee jetzt". Herr Kollege Waltemathe, an dieser Stelle auch herzlichen Dank Ihnen für diese Initiative.
Wir wiederholen unseren Vorwurf: Die Bundesregierung ist durch ihre verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik für die Arbeitslosigkeit verantwortlich, und sie kann und darf sich dieser Verantwortung nicht entziehen, indem sie Länder und Gemeinden allein läßt.
Sehr zu Recht hat die Evangelische Kirche in diesem Zusammenhang auf das Problem der Langzeitarbeitslosen hingewiesen, denen das Strukturhilfegesetz leider nichts oder nur wenig nutzen wird. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dazu schon vor langer Zeit eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vorgeschlagen, die die beste Lösung für dieses Problem gewesen wäre. Die Mehrheit dieses Hauses hat das abgelehnt, genauso wie sie heute die zweitbeste
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Dr. Struck
Lösung, nämlich den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Umverteilung der Sozialhilfelasten, auch wieder ablehnen wird — eine bittere Entscheidung für die strukturschwachen Regionen in der Bundesrepublik, die vom Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen genauso allein gelassen worden sind wie vom Bundesfinanzminister.
Trotz alledem sage ich: Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf zustimmen, denn der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Aber ich füge hinzu: Für uns Sozialdemokraten bleibt die Umverteilung der Sozialhilfelasten weiter auf der Tagesordnung, sie ist nicht vom Tisch. Wir stimmen diesem Gesetz aber auch deshalb zu, weil Investitionen gefördert werden sollen, die nicht von der Bundesregierung erdacht wurden, sondern aus dem SPD-Programm „Arbeit und Umwelt" abgeschrieben worden sind.
Das kritisieren wir nicht, sondern nehmen es mit der Befriedigung desjenigen, der Recht behalten hat, zur Kenntnis. In den Förderungskatalog des § 3 dieses Gesetzes sind einvernehmlich noch Maßnahmen zur Dorferneuerung aufgenommen worden, eine wesentliche Verbesserung des Gesetzes, die kleinen Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland helfen wird.
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieses heute zu entscheidenden Gesetzes über die Strukturhilfe hat in den Beratungen eine große Rolle gespielt. Zwar ist die Nähe dieser Finanzhilfen auch hinsichtlich der Sockelbeträge nach Art. 104 a, Abs. 4 zum Länderfinanzausgleich und zu Bundesergänzungszuweisungen nach Art. 107 nicht zu übersehen, aber die von der Bundesregierung mündlich und schriftlich dargelegten Argumente halten auch wir für geeignet, dieses Gesetz heute zu verabschieden.
Die Bundesregierung hat in der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates nahezu ausnahmslos die Änderungsvorschläge des Bundesrates abgelehnt. Wir bedauern dies sehr. Auch unsere Anträge im Haushaltsausschuß, die den Interessen der Länder gerecht werden, sind niedergestimmt worden, obwohl sie teilweise nur gesetzgeberische Klarstellungen bedeuteten. So sind wir nach wie vor der Auffassung, daß die Kriterien für die Verteilung der Finanzhilfen im Gesetz und nicht nur in der Begründung genannt werden sollten. Denn auf diese Weise kann für die Länder die Rechts- und Planungssicherheit im Verlauf der zehnjährigen Geltungsdauer des Gesetzes erhöht werden.
In den Besprechungen mit den Ländern, zuletzt am gestrigen Vormittag, hat die Revisionsklausel dieses Gesetzes eine große Rolle gespielt. Übereinstimmung bestand darin, die Überprüfung des Kreises der empfangsberechtigten Länder nicht erst 1992 und 1995 — wie im Gesetz vorgesehen — zu übernehmen, sondern dies schon früher zu tun. Vor allem im Hinblick auf die jetzt veröffentlichten Ergebnisse der Volkszählung hat die SPD-Fraktion deshalb die Überprüfungszeiträume 1991, 1993 und 1996 im Haushaltsausschuß vorgeschlagen. Dieser Antrag wurde ebenfalls abgelehnt. Es bleibt bei den Überprüfungsdaten 1992 und 1995. Aber wir können den Ländern, die durch diese Ablehnung unseres Antrags benachteiligt
werden, eine Beruhigung geben: Zum Zeitpunkt der ersten Überprüfung 1992 sind schon andere Mehrheitsverhältnisse hier im Deutschen Bundestag, und wir werden ihnen dann helfen.
Wir haben auch Anträge der Stadtstaaten Hamburg und Bremen aufgenommen, weil wir der Auffassung sind, daß diese Länder zum Ausgleich auf einen sehr viel höheren Sockelbetrag angewiesen sind als die übrigen Flächenstaaten. Für Bremen gilt dies darüber hinaus auch für die vorgesehene Änderung des Finanzausgleichsgesetzes, die auch nach unserer Meinung noch 25 Millionen DM jährlich mehr Haushaltshilfe erfordert, als dies im Gesetz vorgesehen ist. Leider hat sich die Mehrheit im Haushaltsausschuß diesen Argumenten nicht angeschlossen, sondern unseren Antrag abgelehnt.
Wir halten, Herr Bundesminister Stoltenberg, unseren in der ersten Lesung geäußerten Vorwurf, daß Sie nicht nach sachlichen Gesichtspunkten, sondern nach politischen Gesichtspunkten gerechnet haben, in vollem Umfang aufrecht. Anders sind die Veränderungen in den Zuweisungen für die SPD-regierten Länder, die von Besprechung zu Besprechung bis hin zum Gesetzentwurf, über den wir heute zu entscheiden haben, immer weniger erhielten, nicht zu erklären. Sie haben politisch gerechnet, so lange, bis Ihnen das Ergebnis paßte.
Trotzdem: Wir tragen dieses Gesetz mit, weil es ein wenn auch bescheidener Anfang ist, strukturschwachen Ländern etwas mehr Luft zu verschaffen.
— Sie verstehen davon ja nichts. Halten Sie sich einmal zurück! —
Aber es ist ebenso klar: Damit ist das Ziel, das SüdNord-Gefälle zu beseitigen, noch lange nicht erreicht. Die SPD-Fraktion wird dazu weitere parlamentarische Initiativen ergreifen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seiler-Albring.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tut mir ja sehr leid, in den Kelch der allgemeinen Freude einige bittere Tropfen gießen zu müssen, auch, Herr Finanzminister, wenn Sie es nicht freut, ich muß es trotzdem tun; nicht weil wir den Ländern nicht helfen wollen und auch nicht deshalb, weil wir nicht dazu beitragen wollten, die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar in allen Regionen zu gestalten, wie das ja auch der Auftrag des Grundgesetzes ist, sondern weil wir — da spreche ich vor allen Dingen als Haushälter meiner Fraktion — Haushälter das Instrument insgesamt für problematisch halten. Wir haben aber in den Beratungen — das gilt nun vor allen Dingen für meine Fraktion — klargemacht, daß wir dem hier zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurf,
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Frau Seiler-Albring
der das Strukturhilfeprogramm zwischen Bund und Ländern regelt, die erforderliche parlamentarische Mehrheit sichern würden. Aber, meine Damen und Herren, wie gesagt, wir haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß wir nach heftiger politischer Auseinandersetzung formulierte Ausgestaltung dieses Programms nach wie vor für kritikwürdig halten.
Auf Grund der Vorgeschichte des nunmehr zur Abstimmung anstehenden Kompromisses war uns allen aber natürlich auch bewußt, daß die Beratungen in den Ausschüssen zu keinen wesentlichen Veränderungen mehr führen würden; dazu war die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen zu groß und die politische Gemengelage zu unübersichtlich und zu unwegsam.
Auch im Verfahren konnten unsere finanz- und strukturpolitisch motivierten Bedenken in bezug auf den Verteilerschlüssel, den vorgesehenen Mitteleinsatz und die langfristige Festschreibung vor allen Dingen, meine Damen und Herren, der Finanzhilfen nicht ausgeräumt werden. Eine zeitliche Begrenzung der jährlichen Leistungen des Bundes auf die Länder auf zwei, vielleicht auch auf drei Jahre, die von uns vorgeschlagen wurde, um die Haushalte künftiger Wahlperioden nicht in derart einschneidender Weise zu belasten, war nicht durchsetzbar. Allerdings bleiben wir dabei, meine Damen und Herren, daß baldigst über den gesamten vertikalen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden grundlegend mit dem Ziel nachgedacht werden muß, mit der permanenten Nachbesserung im Finanzausgleich endlich Schluß zu machen und zu einer vernünftigen und tragfähigen gesamten Neuordnung zu gelangen.
Es wird dabei dann auch zu berücksichtigen sein, daß der Anteil des Bundes am gemeinsamen Steueraufkommen entgegen landläufiger Meinung eben nicht gewachsen ist, sondern im Gegenteil absinkt.
Die jährlichen Mindereinnahmen des Bundes belaufen sich inzwischen auf 15 Milliarden DM.
In Anbetracht dieser Entwicklung müssen sich die strukturstarken südlichen Bundesländer, meine lieben Kollegen, vor allen Dingen das Land Bayern, fragen lassen, wie es um ihr doch sonst so offensiv zur Schau getragenes Selbstbewußtsein bestellt ist, wenn sie sich ohne Not plötzlich als strukturschwach einordnen lassen.
Meine Damen und Herren, es gibt auch in meinem Bundesland Baden-Württemberg eine Reihe von strukturschwachen Gebieten. Das Land Baden-Württemberg ist nicht berücksichtigt worden.
Ebenfalls war es uns leider nicht möglich, den Einsatz der Finanzhilfen durch die Länder verbindlich festzuschreiben. Dies bedaure ich außerordentlich; das freut natürlich wiederum die Länder. Die Rechtslage in unserem föderativen System erlaubt es nicht, bindende Auflagen vorzugeben. Damit müssen wir uns nun abfinden. Aber die Dinge sind ja bekanntlich nicht so, wie sie sind, sondern stets so, was man aus ihnen macht. Da das Strukturhilfeprogramm zudem faktisch eine Mischung aus Länder-Finanzausgleich und regionaler Strukturhilfe darstellt, muß der politische Wille des Bundes ganz klar artikuliert werden, daß die Finanzmittel von den strukturschwachen Ländern so einzusetzen sind, daß sie möglichst bald wieder Anschluß an die leistungsstarken Bundesländer finden. Das haben wir in dem vorliegenden Entschließungsantrag versucht festzuschreiben.
Besondere Bedeutung messen wir dabei den Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Infrastruktur im Umweltschutzbereich zu. Gefördert werden sollen vor allen Dingen Erweiterungsbauten von Kläranlagen, der Ausbau und die Erneuerung des Kanalisationsnetzes sowie die Errichtung von Anlagen zur Wiederverwertung und Entsorgung von Abfällen. Von den bedeutsamen wirtschaftsbezogenen Umweltschutzmaßnahmen seien hier auch die Investitionen zur Sanierung von Altlasten im Rahmen der Erschließung von Industrie- und Gewerbeflächen und die Wiedernutzbarmachung brachliegender Industrie- und Gewerbeflächen ausdrücklich genannt.
Die Länder stehen in der ausdrücklichen und besonderen Pflicht, die Finanzhilfen in Höhe von jährlich insgesamt 2,4 Milliarden DM, hochgerechnet unter den zur Zeit absehbaren Bedingungen: 24,5 Milliarden DM innerhalb der nächsten zehn Jahre, eben nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern zu benutzen, sondern der Zielsetzung und dem Maßnahmenkatalog des Strukturhilfegesetzes entsprechend auf eine regional ausgewogenere Wirtschaftsentwicklung hinzuwirken.
Halten sich die Länder nicht an die Zielsetzung des Gesetzes, wozu ihnen der überaus großzügig gefaßte Kanon zulässiger Förderungstatbestände und ihr verschwindend geringer eigener Finanzierungsanteil vielfältige Möglichkeiten eröffnen, laufen sie um so mehr Gefahr, meine Damen und Herren, daß die Strukturhilfe noch weiter in die Nähe des allgemeinen Finanzausgleichs rückt.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, vor allen Dingen auf der Bundesratsbank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hüser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Besonders begrüße ich die Kommunalpolitiker, die dieser Debatte eventuell zuhören.
— Warten Sie aber noch ab, was ich zu sagen habe. Ob Sie sich dann immer noch bedanken, wird sich ja herausstellen.
Nicht unerwartet hat sich nach den Beratungen in den Ausschüssen an den Zustimmungsverhältnissen zu den vorliegenden Gesetzentwürfen nichts geändert. Die Albrecht-Initiative, vom Bundesrat im Sommer noch einmütig über Parteigrenzen hinweg angenommen, wird von den Koalitionsfraktionen nach wie vor als verfehlt abgelehnt.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8417
Hüser
Die SPD stimmt dem Anliegen zwar zu, wie Herr Struck vorhin noch einmal erklärt hat, politisch hängen Sie sich aber an das Strukturhilfegesetz der Bundesregierung. Anscheinend ist hier das Feilschen um ein paar Millionen Mark doch wichtiger als das Festhalten an einer klaren politischen Linie.
— Anders kann ich es nicht verstehen. Sie haben vorhin mit guten Gründen dargelegt, wo die Fehler dieses Strukturhilfegesetzes sind. Daß Sie dann aber trotzdem zustimmen, das wundert mich doch ein wenig.
Die Bundesregierung behauptet, ihr Strukturhilfegesetz sei besser geeignet, die Unterschiede in der Bundesrepublik auszugleichen. Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß ein gutes Investitionshilfegesetz durchaus dazu beitragen kann, diese Unterschiede zugunsten der Problemregionen — u. a. des Ruhrgebiets, der Küstenregionen und auch des Saarlandes — abzubauen. Allerdings ging es bei der Albrecht-Initiative nicht nur um diesen Punkt. Deshalb kann auch das vorliegende Strukturhilfegesetz kein Ersatz für unseren Antrag und den des Bundesrats sein, sondern bestenfalls eine Ergänzung mit zweiter Priorität.
Wir erinnern uns, daß im Rahmen der Diskussion um die Steuerausfälle, die die Länder durch die Steuerreform zu tragen haben, viele Gemeinden mit Sorge festgestellt haben, daß ihr finanzieller Spielraum total eingeengt wird und daß für sie das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Das betrifft vor allem die Länder und Gemeinden, die von hoher Arbeitslosigkeit und infolgedessen von stetig überproportional steigenden Sozialhilfekosten belastet sind, eben jene Länder, die die Albrecht-Initiative unterstützt haben.
Das Positive an dem Vorschlag, daß der Bund die Hälfte der Sozialhilfekosten übernimmt, ist erstens die Tatsache, daß hiermit erkannt wird, daß die Sozialhilfe heute einen ganz anderen Stellenwert gegenüber dem Zeitpunkt ihrer Einführung bekommen hat und die Gemeinden eben nicht allein auf den steigenden Lasten sitzenbleiben dürfen. Zweitens wird hier ein finanzieller Spielraum direkt bei den Kommunen frei, der es den kommunalen Selbstverwaltungsorganen ermöglicht, in eigener Regie zu bestimmen, für welche Bereiche sie diesen Spielraum nutzen wollen,
ob sie im Sozialbereich dringend notwendige Stellen finanzieren, ob sie sich im kulturellen Bereich engagieren, ob sie Umweltschutzinvestitionen tätigen oder ein Mix von alledem anstreben wollen. Es gilt, gerade mehr Entscheidungsspielräume auf der Ebene zu eröffnen, die noch am ehesten von den Bürgern und Bürgerinnen kontrolliert wird und wo ihr Einfluß auf die Entscheidungen noch am größten ist. Diesen positiven Ansatz haben die GRÜNEN begrüßt und deshalb diese Initiative übernommen. Wir befürchten, daß sie zurückgezogen wird und damit aus der Diskussion herausgenommen würde.
Das Strukturhilfegesetz der Bundesregierung leistet in diesem Sinne für die Gemeinden nichts. Deshalb
lehnen es die GRÜNEN ab. Die Kommunen können sogar froh sein, wenn sie überhaupt Gelder im Rahmen dieses Gesetzes erhalten. Daran ändert Ihr Entschließungsantrag überhaupt nichts, den Sie hier vorlegen, der nur irgendwelche Soll-Bestimmungen enthält, aber keinerlei bindende Möglichkeiten. Da hätte man sich andere Möglichkeiten ausdenken müssen.
Da wir davon ausgehen, daß das Gesetz hier beschlossen wird, können wir die Kommunen und auch Organisationen wie den Deutschen Städtetag nur noch einmal eindringlich auffordern, daß sie wirklich darauf drängen, daß diese Investitionsmittel in den Gemeinden ankommen. Eine positive Initiative in dieser Richtung haben die niedersächsischen GRÜNEN im Landtag schon unternommen. Gerade hier ist es besonders wichtig, da Herr Albrecht schon einen Großteil dieser Mittel für die Sanierung seines maroden Landeshaushalts eingeplant hat.
Das Strukturhilfegesetz hat aber auch sonst noch erhebliche Schwachstellen. Die Kriterien, nach denen sich die Empfängerländer definieren und das Geld verteilt wird, sind offensichtlich vom politisch gewünschten Ergebnis her und durch die Parteibrille gerechnet worden. So konterkarieren sich z. B. die Merkmale Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsentwicklung. Der Investitionskatalog ist so weit gefaßt, daß die Mittel in vielen Einzelprojekten und Bereichen wirkungslos versickern werden. Den meisten in dieser Republik ist auch offensichtlich, daß die Verschärfung der Umweltprobleme den Seifenblasenerklärungen der Bundesregierung immer um Längen vorauseilt. Die Bundesregierung hat wieder einmal dort, wo es in Sachen Umwelt konkret wird und über Sprechblasen und Sonntagsreden hinausgeht, versagt. Hier kann ich wieder nur auf Ihren Entschließungsantrag hinweisen, der nichts als unverbindliche Erklärungen enthält und dem Problem in keiner Weise gerecht wird. Mich wundert nur, daß die SPD dem zustimmt. Allerdings schadet das bei dieser Wischiwaschierklärung auch nicht.
Eine verbindliche Konzentrierung der Mittel z. B. auf den Ausbau von Kläranlagen, für die Minister Töpfer noch vor kurzem Milliardenbeträge gefordert hat, hätte sowohl dem Schutz des Grundlebensmittels Wasser gedient als auch die Investitionen zum großen Teil in die Kommunen gelenkt. Die Investitionen hätten für den Energiesparbereich, den Ausbau des öffentlichen Personenverkehrs usw. verwandt werden können. Statt dessen wird nun alles gefördert, egal, ob dadurch zusätzliche Flächen durch den Straßenbau versiegelt werden, ob Technologie Arbeitsplätze vernichtet oder ob es Investitionen sind, die von den Ländern schon geplant sind und deren Förderung nur der Refinanzierung der Landeshaushalte dient.
Zum Schluß möchte ich noch einen Punkt ansprechen, die 40 Millionen DM, die Rheinland-Pfalz auf Grund der angeblich stärkeren Belastung durch die ausländischen Stationierungsstreitkräfte jährlich zusätzlich bekommen soll. Wenn diese 40 Millionen DM dazu beitragen, daß in diesen Regionen in der Westpfalz, der Eifel und dem Hunsrück Förderungsgebiete und Strukturen geschaffen werden, die die Abhängigkeit vom Militär mindern oder ganz abschaffen, dann wäre das ein sinnvoller Beitrag. Positive Anregungen
8418 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Hüser
für das, was da zu tun wäre, können Sie sich z. B. bei dem Konversionsbüro der GRÜNEN in Kaiserslautern holen.
Als Fazit kann ich hier nur feststellen, daß Sie mit diesem Gesetz zwar Gelder zur Verfügung stellen, daß Sie allerdings die Probleme damit nicht lösen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rose.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die CSU stimmt dem inzwischen verbesserten Gesetzentwurf zu. Leicht ist diese Entscheidung nicht gefallen, aus prinzipiellen Überlegungen nicht, weil ein neues Bedienen aus der Bundeskasse drohte, und aus bayerischer Staatsräson am Anfang auch nicht,
weil ja die Drohung im Hause stand, daß wir ausgespart bleiben würden. Die Skepsis ist durch den Gesetzentwurf aber zurückgegangen.
Sie ist auch durch die eingehenden Beratungen in den Bundestagsausschüssen noch verringert worden. Damit konnte der hessische Vorbehalt aus bayerischer Sicht vermieden werden.
Gegenüber der ersten Lesung, meine Damen und Herren, haben sich wichtige Veränderungen ergeben, die die Zielsetzung des Gesetzentwurfs noch besser herausarbeiten. Das eigentlich Interessante an der heutigen zweiten Lesung ist, daß es eine Umorientierung der SPD-Länder gab. Jetzt ist Zustimmung signalisiert. Ich freue mich sehr darüber. Vielleicht liegt es auch daran, lieber Kollege Dr. Struck, daß wir in der Früh nicht streiten können, wenn wir am Abend unsere weihnachtliche Zusammenkunft der Fußballmannschaft haben.
Aber es zeigt sich hier eine neue Koalition, indem die FDP Bedenken hat und die GRÜNEN dagegen sind, aber die SPD und die CDU/CSU dafür sind. Das sind eben die neuen Erkenntnisse, die man in dieser zweiten Lesung sehen sollte.
Meine Damen und Herren, es ging und geht um die Strukturverbesserung in den Gebieten mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft, und es geht nicht um ein Ausfüllen von Haushaltslücken. Deshalb hat der federführende Haushaltsausschuß in § 3 des Gesetzentwurfs diesen Begriff der Strukturverbesserung eigens eingefügt. Er hat sich auf das Grundgesetz bezogen, wonach Zielvorstellung die Wahrung der einheitlichen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland ist, und er hat vor allem — das möchte ich auch aus bayerischer Sicht sagen — die Dorferneuerung aufgenommen, um die ländlichen Gebiete in dieses Milliarden-Programm miteinzubeziehen.
Hier handelt es sich um ein originäres Anliegen der CSU, dem somit Rechnung getragen ist. Wenn der Kollege Eigen aus dem fernen Norden zustimmt, nehme ich ihn als Freund der CSU gerne auf.
Meine Damen und Herren, die Dorferneuerung ist einer der Schwerpunkte der Strukturpolitik der Länder. Es war daher nur recht und billig, sie in diesen strukturverbessernden Gesetzesvorschlag aufzunehmen. Der Deutsche Städtetag hatte zwar Bedenken angemeldet, die Landesentwicklungsorganisationen jedoch begrüßen dies. So hat z. B. die Bayerische Landessiedlungs-GmbH die Verankerung im Gesetz ausdrücklich gewünscht, weil damit „ein wesentlicher zusätzlicher Beitrag zur Entwicklung des ländlichen Raums geleistet wird". Dieser Auffassung schloß sich der Haushaltsausschuß an.
Ich danke hiermit besonders auch den Kollegen des Haushaltsausschusses, daß diese große Übereinstimmung zustande gekommen ist.
Der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen sowie der Ausschuß für Wirtschaft haben in der jeweiligen mitberatenden Stellungnahme vorgeschlagen, das Zonenrandgebiet besonders zu erwähnen. Dem konnte sich der Haushaltsausschuß leider nicht anschließen.
— Er hatte allerdings gute Gründe dafür, die sich vor allem aus der verfassungsrechtlichen Situation ergaben. Den einzelnen Ländern bleibt es aber unbenommen, verstärkt im Zonenrandgebiet zu investieren. Die CSU-Landtagsfraktion in Bayern hat diese Zielsetzung schon im Oktober erwähnt, indem sie festlegte, daß die Strukturhilfemittel vorrangig für Maßnahmen im Grenzland, d. h. im Zonenrandgebiet, verwendet werden sollen. Es muß sich jedoch um zusätzliche Maßnahmen handeln, damit dem Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes entsprochen wird. Das Verbot der Doppelförderung muß also beachtet sein.
Wie im übrigen die neuen Mittel gesetzeskonform und strukturverbessernd eingesetzt werden können, zeigte sich bei den bisherigen Beratungen des Bayerischen Landtages. In Erwartung der rechtzeitigen Verabschiedung hier im Hohen Hause hat man dort prophylaktisch schon diskutiert und unserer Vorgabe entsprochen, weil die großen Brocken für die Abwasserbeseitigung und Abfallentsorgung, also für den Umweltschutzbereich, ausgegeben werden sollen. Nicht schlecht kommen die Dorferneuerung, die Städtebauförderung sowie die regionale Wirtschaftsförderung weg. Auch für hochschulpolitische Maßnahmen wird einiges getan. So wird also jedes Bundesland die spezifischen Schritte unternehmen, um zu einem Ausgleich der unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen zu kommen.
Als Koalition waren wir der Auffassung, daß der Kreis der Empfängerländer und die Verteilung der Finanzhilfen auf die begünstigten Länder sachgerecht
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8419
Dr. Rose
und objektiv bestimmt worden sind. Die von der Bundesregierung herangezogenen Einkommens- und Arbeitsmarktindikatoren sind geeignet, die Wirtschaftskraft der Länder zutreffend zum Ausdruck zu bringen.
Alles in allem schafft der Gesetzentwurf die Voraussetzung, die Bundesrepublik noch zukunftsgerechter zu entwickeln. Nicht um die Bezahlung von Sozialhilfekosten ging es, sondern um die Möglichkeit der eigenständigen Gestaltungskraft. Ein breites Spektrum von Förderchancen wird die Regionen mit Schwächen in der Wirtschaftskraft begünstigen. So ist es beabsichtigt, und so wird es im Vollzug des Gesetzes geschehen.
Aus unserer Sicht, d. h. aus der Sicht der CDU/CSU, wie Kollege Austermann schon sagte, und ganz besonders der Sicht der CSU, kann dem Gesetzentwurf also zugestimmt werden.
Das Wort hat der Finanzsenator von Hamburg, Professor Krupp.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses Gesetz ist ein ungeliebtes Kind. Auch zur Vaterschaft will sich keiner so recht bekennen, was bei der Vielzahl der in Frage kommenden Väter ja auch nicht überrascht.
— Das ist sicher richtig.
Die Entstehungsgeschichte ist schon etwas Besonderes. Am Anfang stand die Sozialhilfe-Initiative einer Bundesratsmehrheit. Herr Kollege Austermann, dies war die Initiative, die von Ministerpräsident Albrecht mitgetragen wurde. Dieser Initiative haben sich aber Bundesregierung und Koalitionsmehrheit im Bundestag mit fragwürdigen Argumenten entzogen.
Dabei war der Sachverhalt ja eigentlich ganz einfach. Die als letzte Zuflucht ausgebildete, Sozialhilfe wurde immer mehr zum Auffangbecken für Versäumnisse des Bundes:
ungenügende Sicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit, keine sachgerechte Regelung der Pflegekosten, der Renten unter der Sozialhilfeschwelle. All dies sind Probleme, für die der Bundesgesetzgeber Verantwortung trägt.
Die Konsequenzen waren dramatisch. Strukturschwäche führte zu hohen Sozialhilfelasten. Einziger Ausweg, gerade bei den Kommunen, war die Reduzierung der Investitionen. Das verstärkte dann die Strukturschwäche wieder.
Der Gesetzentwurf setzt nun bei den Investitionen an. Das aber ist ein Kurieren an Symptomen. Ich sage hier gleich: Im Fall der Langzeitarbeitslosigkeit macht das keinen großen Unterschied. Bei den anderen Problemen würde nur ein Ansetzen an der Wuzel des Problems helfen. Schon aus diesem Grund ist der vorliegende Entwurf nicht sachgerecht.
Die Tatsache, daß dem Bundestag heute eine Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses vorliegt, die den Regierungsentwurf praktisch unverändert läßt, ist auch Anlaß, die weiteren Teile der Entstehungsgeschichte in Erinnerung zu rufen. Der Vorschlag ist im Unionslager im Sommer ausgehandelt worden. Machen wir uns da doch nichts vor. Er soll nun vom Gesetzgeber quasi durch Handauflegen verabschiedet werden.
Das geschieht, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Finanzausgleich seinerzeit nachdrücklich die Anforderungen an ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren formuliert hat. Danach sind politische Verhandlungen, Verständigungen und Kompromisse zwischen allen Beteiligten nicht ausgeschlossen. Aber — ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin —:
Letztlich wird allerdings der Bundesgesetzgeber von der Verfassung in die Pflicht genommen, die gesetzliche Regelung so zu gestalten, daß sie den normativen Anforderungen des Grundgesetzes genügt. Er darf sich nicht etwa damit begnügen, politische Entscheidungen einer Ländermehrheit ohne Rücksicht auf deren Inhalt zu beurkunden.
Diese Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden in diesem Gesetzgebungsverfahren in doppelter Hinsicht verletzt. Zum einen hat der Bund in keiner Weise die geforderte Gestaltungsfunktion ausgeübt. Am Ende wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, bei dem die Kriterien — —
Herr Finanzsenator, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gern.
Ich will Sie fragen, Herr Krupp: Begrüßen Sie es, daß die SPD-Fraktion angesichts der Kritik, die Sie vortragen, daß dieses Gesetz verfassungswidrig sei — dafür wollen Sie zwei Gründe vortragen — , diesem Gesetzentwurf zustimmt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie werden meine Rede abwarten müssen und dann die Antwort darauf erfahren.
Am Ende, wie gesagt, hat der Bund einen Gesetzentwurf vorgelegt, bei dem die Kriterien nach dem politisch gewollten Verteilungsergebnis zurechtgeschneidert wurden.
8420 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Senator Dr. Krupp
Zum anderen haben aber auch Bundesrat und Bundestag zu keinem Zeitpunkt versucht, in einen sachlichen Abwägungsprozeß einzutreten und eine Lösung zu suchen, die eine breite Mehrheit finden würde und sachgerecht wäre. Ich kann an dieser Stelle nur hinzufügen, ich bedauere es sehr, daß nichts von dem, was die Länder in dem gestrigen Gespräch mit dem Haushaltsausschuß vorgetragen haben, noch Eingang in die Gesetzesfassung gefunden hat, auch nicht die Beiträge, die von Ländern kamen, die von der CDU geführt werden.
Dieses Verfahren überrascht um so mehr, als zu einem frühen Zeitpunkt klar wurde, daß zumindestens ein Land, vielleicht aber auch mehrere in dieser Frage den Weg zum Bundesverfassungsgericht beschreiten werden. Nun wäre es notwendig gewesen, alles zu tun, um die Risiken einer verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung — davon rede ich, Herr Abgeordneter Sellin — so klein wie möglich zu halten. Statt dessen wurden alle sachlichen und rechtlichen Bedenken einfach weggewischt, weil man den erzielten politischen Kompromiß nicht gefährden will.
Die Verteilungskriterien sind nämlich im einzelnen sachlich fragwürdig. Durch die so zustande gekommene Mittelverteilung kann kein wirklicher Beitrag zum Abbau von Unterschieden in der regionalen Wirtschaftskraft geleistet werden.
Der Indikator Beschäftigtenentwicklung, bei dem überhaupt nicht auf das Niveau, sondern nur auf die Veränderungsrate bei der Beschäftigung abgestellt wird, ist absolut ungeeignet, irgend etwas über die wirtschaftliche Situation, die wirtschaftlichen Strukturprobleme einer Region, auszusagen.
Ich will das einmal an einem Beispiel verdeutlichen: Legt man die Jahre 1985 bis 1987 zugrunde, hätte die Stadt München mit 2,7 % gegenüber einem Bundesdurchschnitt von 3,3 % einen unterdurchschnittlichen Beschäftigtenzuwachs ; allein auf Grund dieser Tatsache würde Bayern zusätzlich 30 Millionen DM an Finanzhilfen bekommen.
Die Arbeitslosenquote ist grundsätzlich ein geeigneter Indikator. Ein schwerer Mangel im Vorschlag der Bundesregierung liegt aber darin, daß nur auf die Frage abgestellt wird, ob die Arbeitslosenquote oberhalb des Bundesdurchschnitts liegt oder nicht. Auf die Höhe der Abweichung kommt es überhaupt nicht an. Dies führt zu dem Ergebnis, daß eine Region mit leicht überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit genauso behandelt wird wie eine Region, in der die Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt liegt. Das kann kein sinnvolles Ergebnis sein.
Unabhängig von den genannten Kritikpunkten, die die Interessenlage aller Länder — Flächenstaaten wie Stadtstaaten — berühren, ist aus der Sicht der Stadtstaaten insbesondere der Indikator Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner zu kritisieren. Bei diesem Indikator wird z. B. nicht berücksichtigt, daß das Bruttoinlandsprodukt in Stadtstaaten zu einem erheblichen
Teil von Einpendlern erwirtschaftet wird. Dadurch wird die Wirtschaftskraft der Stadtstaaten statistisch überbewertet, mit der Folge, daß sie bei der Verteilung von einem Drittel des Strukturfonds von vornherein ausgeschlossen sind. Diese Problematik wird ja auch von der Bundesregierung im Ansatz durchaus eingeräumt. Es überzeugt aber nicht, wenn die Bundesregierung dem entgegenhält, diese Benachteiligung werde durch den Sockel ausgeglichen. Ein Sokkelbetrag, der allen Ländern gewährt wird, kann doch wohl nicht den Ausschluß von einem Drittel der Mittel ausgleichen, dem die Stadtstaaten unterliegen.
Die Mehrheit des Bundesrates hat sich dafür ausgesprochen, im weiteren Gesetzgebungsverfahren nach einer angemessenen Lösung für die drei Stadtstaaten zu suchen. Dies ist leider bisher nicht geschehen. Ein entsprechender Antrag, der die Sockelbeträge für die Stadtstaaten erhöhen sollte, wurde schon im Haushaltsausschuß abgelehnt.
Aus der Sicht der Freien und Hansestadt Hamburg wäre dies ein geeigneter Ansatz gewesen, um die Benachteiligung der Stadtstaaten zumindest teilweise auszugleichen.
Nachdrücklich ist zu betonen — gerade nach der Diskussion, die wir gehört haben —, daß dieses Gesetz keine Korrektur des Länderfinanzausgleichs darstellt und auch nicht darstellen darf.
Die erste Bewährungsprobe werden die Kriterien dieses Gesetzes zu bestehen haben, wenn die Zahlen der Volkszählung und neuere Daten über die übrigen Indikatoren vorliegen. Vor diesem Hintergrund muß man fordern, daß eine frühzeitige Revision ermöglicht wird. Es ging ja in der Diskussion gestern nur um die Revisionsklausel, aber nicht darum, die Daten der Volkszählung unmittelbar einzuführen. Ich bedaure, daß dies nicht aufgenommen worden ist.
Dieses Gesetz kuriert an Symptomen. Es wird nicht die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik herstellen. Es kann auch keine Reform des Länderfinanzausgleichs ersetzen. Es ist noch nicht abzusehen, ob dieses Gesetz in Bundestag und Bundesrat eine Mehrheit finden wird.
Wenn dies am Ende der Fall sein sollte, gilt dennoch: Es ist ein Kind der Not, es ist ein ungeliebtes Kind.
Es ist zugleich aber auch eine Herausforderung, endlich die Aufgabe der Reform unserer Finanzverfassung anzugehen, welche die föderale Struktur unseres Staates auf Dauer gewährleistet.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister Stoltenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns schon in einer gewohnten Situation: Auf der einen Seite zeichnet sich eine überwältigende Mehrheit für
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8421
Bundesminister Dr. Stoltenberg
dieses Gesetz ab, auf der anderen Seite hören wir bis zum Schluß die Klagen jener, die ihre Zustimmung, Herr Kollege Struck, sehr mühsam begründen müssen oder die bis zum Schluß meinen, daß sie zuwenig und andere Länder zuviel bekommen.
Ich will aus der intensiven Diskussion der letzten Wochen und Monate nur einige wichtige Punkte noch einmal hervorheben. Nach der Bundesregierung haben auch der Haushaltsausschuß und die mitberatenden Ausschüsse den Gesetzentwurf verfassungsrechtlich geprüft. Nach diesen Prüfungen entspricht der Entwurf der Finanzordnung des Grundgesetzes, insbesondere Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes. Vor allem sieht das Strukturhilfegesetz keinen Nebenfinanzausgleich vor. Alle anderslautenden Behauptungen sind unzutreffend. Es geht nicht um die Zuweisung allgemeiner Haushaltsmittel, sondern die Bundesmittel werden exakt zweckgebunden zur Förderung wachstumswirksamer Investitionen der Länder und Gemeinden zur Verfügung gestellt. Insofern begrüße ich die präzisierende Ergänzung, die der Haushaltsausschuß hier noch vorgenommen hat.
Insofern, Herr Senator Krupp, ist Ihre Bewertung unzutreffend. Sie ist übrigens auch unzutreffend in der erneuten falschen Schilderung der Vorgeschichte dieses Gesetzes.
Die Zeit erlaubt es mir leider nicht, darauf einzugehen.
Die Kriterien für die Auswahl der empfangsberechtigten Länder und die Verteilung der bereitgestellten Mittel sind sachgerecht. Sie entsprechen natürlich nicht denen des Finanzausgleichs; sonst hätten wir einen Nebenfinanzausgleich geschaffen. Aber das Grundgesetz erlaubt nach Art. 104 a Abs. 4 einen erweiterten Ermessensspielraum. Herr Senator, ich will Sie einmal daran erinnern, daß wir diesen erweiterten Ermessensspielraum ja genutzt haben, als wir in der Verantwortung dieser Bundesregierung über Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes den norddeutschen Ländern eine befristete Finanzhilfe zur Meisterung der Folgeprobleme an Werftstandorten bewilligt haben. In diesem Zusammenhang haben wir von Hamburg solche Bedenken überhaupt nicht gehört, obwohl Nordrhein-Westfalen, das Saarland und andere strukturschwache Gebiete an dieser Förderung nicht beteiligt waren.
Es sind auch keine Bedenken erhoben worden, als wir als erste Bundesregierung unter ähnlichen, vergleichbaren Strukturvorzeichen dem Saarland nach Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes für drei Jahre Sondermittel zur Verfügung gestellt haben. Es ist schon erstaunlich, wie sich die verfassungsrechtlichen Argumente mancher Bundesländer je nach der Opportunität des Tages und den Berechnungen über die
Wirkungen hier verändern, meine Damen und Herren.
Ich will hier nur sagen, daß wir uns auf die Länder konzentrieren, deren Wirtschaftskraft einen Rückstand gegenüber dem Bundesdurchschnitt aufweist.
Die Unterstellung, hier werde nach parteipolitischen Gesichtspunkten entschieden, ist schon deshalb unsinnig, weil auf die sozialdemokratisch regierten Bundesländer — gemessen an ihrer Einwohnerzahl — ein überproportionaler Anteil der Mittel entfällt.
Das zeigt auch jeder einfache tabellarische Vergleich.
Meine Damen und Herren, die Ausschüsse des Deutschen Bundestages sind der Anregung des Bundesrates, die Zugangskriterien im Gesetz allein abstrakt zu beschreiben, aus gutem Grund nicht gefolgt. Wir sind ebenfalls der Meinung, daß durch die jetzt vorgesehene Gestaltung, nämlich die Benennung der empfangsberechtigten Länder im Gesetz, mehr Klarheit erreicht und der verfassungsrechtlich bessere Weg gewählt wurde. Eine abstrakte Regelung der Zugangsvoraussetzungen bedeutete eine zu starke Gewichtung bestimmter Kriterien als Leitgröße staatlicher Strukturpolitik.
Bei der Verteilung der Finanzhilfen auf die einzelnen Länder wurde der besonderen Situation der kleineren Länder, insbesondere der Stadtstaaten, durch den vorgesehenen Sockelbeitrag, wie wir glauben, angemessen Rechnung getragen. Gerade bei Hamburg und Bremen und auch bei Berlin hat er ein relativ hohes Gewicht. Im übrigen habe ich, Herr Senator, schon bei der ersten Beratung hier darauf hingewiesen, daß die Besonderheiten der Stadtstaaten im Verhältnis zu den Flächenländern im Länderfinanzausgleich durch die Einwohnerwertung sehr nachhaltige Berücksichtigung finden.
Meine Damen und Herren, der Katalog der förderungsfähigen Maßnahmen bezieht sich ausschließlich auf die Förderung von Strukturverbesserungen in den für künftiges Wachstum wichtigen Bereichen, z. B. auf Umweltschutz, einschließlich Entsorgung, sowie Verkehr, Förderung von Forschung und Technologie, Städtebau und — jetzt in der erweiterten Fassung — Dorferneuerung. Wir haben in unserem Verständnis des kooperativen Föderalismus in der Tat den Landtagen, den Landesregierungen bewußt Spielraum für wachstumswirksame Investitionsentscheidungen belassen. Deswegen haben wir auch darauf verzichtet, die Beträge für bestimmte Investitionsbereiche festzuschreiben oder eine Einzelsteuerung vorzunehmen. Wir erwarten allerdings — ich unterstreiche hier die Intention des Entschließungsantrages der Koalitionsfraktionen — , daß die Flächenländer einen erheblichen Teil der Mittel den kommunalen Gebietskörperschaften als wichtigen Trägern, den wichtigsten Trägern der Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung stellen. So können die Länder dazu beitragen, den
8422 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Stoltenberg
weiteren Anstieg der kommunalen Investitionen für die Zukunft zu sichern.
Zu den vollkommen unsinnigen Fehlbehauptungen von Herrn Struck will ich nur eines anmerken.
Sie sind völlig unsinnig. Ich sage das hier: vollkommen unsinnig, Herr Struck.
Ich will hier nur festhalten, daß wir nicht eine Bedrohung, einen Rückgang der kommunalen Investitionen haben, sondern unverändert auch in diesem Jahr einen deutlich weiteren Anstieg.
Seit 1985 steigen die Sachinvestitionen der Kommunen im Jahresdurchschnitt um 4 bis 5 %.
Wir erwarten, daß dieses Gesetz diesen Prozeß nicht nur verstetigt, sondern, wenn möglich, im Interesse der Arbeitsmarktpolitik, der Beschäftigung, auch noch verstärkt. Das ist Beschäftigungspolitik
durch Entscheidungen. Insofern muß man den verbalen Fehldarstellungen, die vor allem wieder von Ihrer Seite kamen, noch einmal kurz widersprechen.
Meine Damen und Herren, die Entscheidung der Bundesregierung und der Mehrheit dieses Hohen Hauses, keine Sozialhilfekosten auf den Bund zu übertragen, ist wohlbegründet. Ich erkenne an — das unterstreicht, was der Kollege Austermann gesagt hat —,
daß Ministerpräsident Albrecht mit seiner Initiative eine Diskussion ausgelöst hat, die jetzt auf anderen Wegen den Ländern mit Strukturproblemen hilft. Aber wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß wir den Weg der Sozialhilfe in der Kostenträgerschaft des Bundes für falsch halten.
Ich will Sie einmal an folgendes erinnern: Wir haben jetzt noch einen Steueranteil des Bundes von 45 % an dem Gesamtsteueraufkommen. 55 % gehen an die Länder, an die Kommunen und an die EG. Aus diesen 45 % finanziert der Bund den gesamten Zuschuß zum Rentensystem, der jetzt die 30-MilliardenDM-Grenze überschreiten wird und mit der Rentenreform strukturell noch angehoben wird. Er finanziert die gesamten Sonderausgaben für Knappschaft und agrarsoziale Sicherung, die jetzt — bei starken Steigerungsraten — etwa 15 Milliarden DM im Jahr betragen. Er trägt die Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit — 4 Milliarden DM in diesem Jahr — und die Arbeitslosenhilfe. Dies sind zusammen fast 60 Milliarden DM. Er trägt traditionell den überwiegenden Teil der Kriegsfolgekosten — ich nenne die Kriegsopferversorgung als den Hauptteil — in einer Größenordnung von 15 Milliarden DM.
Bei einer vernünftigen Aufgabenteilung auf der Grundlage unserer Verfassung müssen Länder und Kommunen einen begrenzten Teil der Sozialaufwendungen weiter tragen, nämlich die Sozialhilfe.
Die Strukturprobleme der Sozialhilfe, die nach meiner Überzeugung in manchen Bereichen veränderungsbedürftig ist, können nicht durch Verschiebung der Lasten gelöst werden. Sie müssen in einer tiefgründigeren Debatte angegangen werden.
Ich möchte am Ende der Debatte allen mitberatenden Ausschüssen, vor allem dem federführenden Haushaltsausschuß, herzlich dafür danken, daß sie den Entwurf mit großer Sorgfalt, aber auch zügig beraten haben, so daß im Interesse der Länder und Kommunen, die ja ihre Haushalte schon auf dieses Konzept hin aufbauen, die Verabschiedung noch in diesem Jahr erfolgen kann.
Als letztes möchte ich — das spielte in der Debatte zu Recht eine Rolle — auf die vor einigen Tagen bekanntgewordenen ersten, vorläufigen Ergebnisse der Volkszählung eingehen. Sie konnten im Gesetzgebungsverfahren selbstverständlich nicht mehr berücksichtigt werden. Nach diesen Ergebnissen sind bei im wesentlichen unveränderter Gesamtbevölkerung zum Teil deutliche regionale Verschiebungen in den Einwohnerzahlen gegenüber den bisherigen statistischen Annahmen zu erwarten. In den letzten zwei Wochen war jedoch eine Überprüfung der Folgen im Hinblick auf die Ihnen vorliegende Gesetzesvorlage nicht möglich, vor allem weil die amtlichen Zahlen für Länder, Kreise und Gemeinden erst zu einem späteren Zeitpunkt vorliegen werden. Es kann sich allerdings die Notwendigkeit ergeben, auch schon vor der ersten im Gesetz vorgesehenen Anpassung auf der Basis dann gesicherter Daten eine Novellierung vorzunehmen. Die Bundesregierung wird diese Frage im nächsten Jahr sorgfältig prüfen und Ihnen dann über die Folgerungen berichten.
Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3683 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit großer Mehrheit angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3683 unter Nr. 2, auch diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8423
Präsidentin Dr. Süssmuth
und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Beratung abgelehnt.
— Ich wiederhole die Abstimmung. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —
Wer stimmt dagegen? —
Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Es bleibt dabei. Wir haben ausgezählt.
Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft in den Ländern. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. —
Wer stimmt dagegen? —
Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit großer Mehrheit angenommen.
— Bitte!
Frau Präsidentin! Ich möchte hier nur zur Geschäftsordnung feststellen, daß Sie am Anfang dieses Tagesordnungspunktes in den Abstimmungen über den Gesetzentwurf des Bundesrates abgestimmt haben. Und dieser Gesetzentwurf hat die Mehrheit dieses Hauses gefunden.
— Selbstverständlich. Das können wir sofort feststellen.
Nun beantrage ich für die SPD-Fraktion, daß Sie auch über diesen ersten Gesetzentwurf eine dritte Lesung herbeiführen, weil wir in zweiter Lesung diesen Gesetzentwurf angenommen haben.
Bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war, glaube ich, ganz eindeutig, daß wir in der Ausschußfassung abgestimmt haben. Die Ausschußfassung war ganz klar das, was der Haushaltsausschuß beschlossen hat. Deswegen ist sowohl der Antrag der GRÜNEN wie auch der Antrag der SPD, soweit es ja auch mit dem Bundesrat übereinstimmt, abgelehnt worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. —
— Dem Entwurf der Bundesregierung.
Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der SPD angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3684 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der GRÜNEN und bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland
— Drucksachen 11/3160, 11/3264 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 11/3637 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Müntefering Geis
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wohnungssituation in der Bundesrepublik Deutschland ist im Augenblick von einer steigenden Nachfrage nach Wohnraum gekennzeichnet. Dies hat viele Gründe. Die Zahl der Haushaltungen wächst. Dies ist bedingt durch einen Wandel in der Altersstruktur, durch erhöhte Schei-
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Geis
dungsraten, aber auch dadurch, daß viele Jugendliche auf Grund ihres Einkommens in der Lage sind, sich eine eigene Wohnung zu leisten. Hinzu kommen Obdachlose, Asylanten, langfristig Arbeitslose, aber auch der immer stärker werdende Zustrom von Aussiedlern, für die Wohnungen bereitgestellt werden müssen.
Wir registrieren aber auch eine erfreulich ansteigende Nachfrage nach Eigentumswohnungen und nach Familieneigenheimen. Dies wiederum hat seinen Grund darin, daß eine ganz breite Schicht unseres Volkes über ein höheres Einkommen, über hohe Sparvermögen verfügt. Dies wiederum kann nicht wundern, wenn man bedenkt, daß in den letzten drei Jahren das durchschnittliche Einkommen der bei uns in der Bundesrepublik Deutschland in abhängiger Arbeit tätigen Personen um über 12 % angestiegen ist.
Diese Gründe haben dazu geführt, daß nach einer längeren Zeit der Flaute wiederum Bewegung in den Wohnungsbau geraten ist. Die Zahl der Genehmigungen für Wohnungen ist in dem jetzt ablaufenden Jahr um 10 % gestiegen und die Zahl der Genehmigungen für Mehrfamilienhäuser sogar um 30 %.
Trotz dieser ausgezeichneten Entwicklung und trotz der Tatsache, daß wir die beste Wohnungsversorgung in den westlichen Industrienationen haben, besteht ein Wohnungsmangel vor allem in den Ballungszentren, aber auch in mittleren und kleineren Städten.
Deshalb hat die Bundesregierung für den Wohnungsbedarf der Aussiedler ein Sofortprogramm eingeleitet und einen Betrag von 1,125 Milliarden DM für die nächsten zwei Jahre zur Verfügung gestellt. Meine Kollegin Frau Rönsch wird darauf noch näher eingehen.
Parallel dazu hat der Bundesbauminister Pläne verfolgt, die bestehende Wohnungsbauförderung flexibler zu gestalten. Neben den bestehenden Förderungsmöglichkeiten, den klassischen zwei Förderungswegen durch Zurverfügungstellung von öffentlichen Baudarlehen und von Aufwendungsbeihilfen, hat der Bauminister einen weiteren, dritten Förderungsweg entwickelt, um auf momentan auftretende Engpässe schneller und möglichst rasch und unkonventionell außerhalb der starren gesetzlichen Regelungen, die der erste und der zweite Förderungsweg vorsehen, reagieren zu können.
Deshalb hat die Regierung den vorliegenden Entwurf des Wohnungsbauänderungsgesetzes, der diesen dritten Förderungsweg vorsieht, nunmehr vorgelegt. Diese neugeschaffene Regelung erfreut sich allgemeiner Zustimmung sowohl bei den Kommunen, den Verbänden der Wohnungswirtschaft, aber auch, wie die letzte Ausschußsitzung gezeigt hat, bei der Opposition.
— Nicht bei den GRÜNEN, aber die unterschieden
sich ja immer in I-Pünktchen; das können wir nicht
verhindern; die kapieren das nicht so schnell. — Aber
die Opposition — das möchte ich ausdrücklich feststellen — hat in der Ausschußberatung zugestimmt.
— Ich höre immer genau zu, wenn Sie reden; aber manchmal wird es mir doch ein bißchen zuviel, vor allen Dingen wenn ich daran denke, wie rüpelhaft Sie sich neulich am Anfang der Rede des Bundestagspräsidenten verhalten haben.
Dieser Gesetzentwurf, den wir nun in zweiter und dritter Lesung beraten, ist, wie ich meine, ein Musterbeispiel für ein rasches, entschlossenes und situationsgerechtes Handeln der Bundesregierung und des Gesetzgebers.
Was ist nun an dem dritten Förderungsweg neu? Worin unterscheidet er sich von den zwei klassischen Förderungswegen? Warum brauchen wir diesen neuen Förderungsweg zusätzlich, und warum brauchen wir ihn so schnell?
Der maßgebliche Unterschied zwischen den zwei bestehenden Förderungswegen und dem nun neu überlegten und heute zu verabschiedenden dritten Förderungsweg besteht darin, daß der Bewilligungsgeber freier über seine Mittel entscheiden kann, daß er mit dem Unternehmer auf der Basis der Gleichberechtigung einen privatrechtlichen Vertrag im privatrechtlichen Bereich — also nicht im Über-/Unterordnungsverhältnis im öffentlichen Bereich, wie das der erste und zweite Förderungsweg vorsieht — machen und sagen kann, in welcher Weise die öffentlichen Mittel einzusetzen sind.
Anders gewendet bedeutet dies, daß mehr marktwirtschaftliche Elemente in den Wohnungsbau eingebracht werden sollen und mit weniger Bürokratie versucht werden soll, punktuell und bei bestehenden Notsituationen oder bei bestehenden Engpässen schneller, unkonventionell, ohne die sehr starre bürokratische Regelung des ersten und des zweiten Förderungsweges — die ich durchaus nicht verurteilen will, sondern die durchaus ihre Berechtigung hat — und schneller, als diese Förderungswege es vorsehen, zu handeln.
Der erste Förderungsweg bindet sowohl die Bewilligungsbehörde als auch den Unternehmer sehr langfristig. Der Bewilligungsgeber, die Bewilligungsbehörde muß öffentliches Kapital langfristig zur Verfügung stellen und damit binden. Der Unternehmer ist an die Kostenmiete langfristig gebunden, kann also über sein Eigentum nicht frei verfügen und muß eine Wirtschaftlichkeitsberechnung vorlegen, nach der er dann die Bewilligung bekommt.
Dies alles entfällt in dem nun möglichen dritten Förderungsweg, wie er vorgesehen ist. Die Vorlage einer Wirtschaftlichkeitsberechnung ist in diesem Fall nicht erforderlich. Dafür aber kann die Bewilligungsbehörde ihr Kapital freier anbieten. Der Unternehmer kann mit der Bewilligungsbehörde freier vereinbaren, wie seine Bindung an das Kapital und damit natürlich auch an die Vorstellungen der öffentlichen Hand aussehen soll. Der Bewilligungsgeber, die Bewilligungsstelle kann aus dem Kreis interessierter Unternehmer
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8425
Geis
das beste Angebot auswählen. Es entsteht also eine Art Konkurrenzverhältnis, das durch die starren Regelungen des ersten Förderungsweges, insbesondere aber auch des zweiten Förderungsweges bislang in diesem Fall so nicht bestanden hat.
Die nach diesem bisherigen Förderungsweg — vor allem auf Grund der langfristigen Bindung — immer wieder auftretenden Mietverzerrungen und Fehlbelegungen können auf diesem Weg stärker vermieden werden.
Die Förderintensität, d. h. der Förderbetrag pro Wohnung oder pro Wohnfläche, kann — je nach Bedarf — einzeln vereinbart werden, ist also nicht an gesetzliche Regelungen in dem Maße gebunden, wie dies beim ersten und zweiten Förderungsweg vorgesehen ist.
Durch diese Möglichkeit der freieren Handhabung öffentlichen Kapitals für den Bau von Wohnungen wird es jedenfalls besser möglich sein, zusätzliche Wohnungen schnell und möglichst unkonventionell zu bauen. Das ist die Forderung der Stunde. Gerade deshalb brauchen wir ein flexibleres Förderinstrument.
— Auch das wird über diesen dritten Förderungsweg zur Verfügung gestellt werden. Wir werden dort helfen, wo Not ist. Wir wollen aber die Förderinstrumente sehr vorsichtig einsetzen. Denn wir registrieren — ich habe es eingangs gesagt — eine ansteigende Konjunktur im Bauwesen. Es wäre völlig falsch, diese Entwicklung seitens der öffentlichen Hand zu sehr zu stören. Es kommt uns darauf an, daß wir mit diesem dritten Förderungsweg in punktuell bestehenden Notsituationen helfen können. Das ist der Sinn dieses Gesetzes.
Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zu den Wohnungsproblemen ist überfällig. Das gilt für diesen Tagesordnungspunkt, bei dem es um eine Änderung des Wohnungsbaugesetzes geht, das gilt aber auch für den nächsten Tagesordnungspunkt, der durch die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion ausgelöst worden ist.
Diese Debatte ist fällig, weil der Bundesbauminister die Probleme, die es tatsächlich gibt, bis in die letzten Tage hinein mit unglaublicher Ignoranz geleugnet hat.
Nun gibt es — daran muß man sich erinnern — den Wohnungsbauminister tatsächlich noch. Wenn es ihn nicht mehr gäbe, wäre es ehrlicher. Dann hätte auch niemand mehr die Illusion, da gäbe es noch jemand in der Bundesregierung, der sich um die Wohnungsprobleme kümmert. Es gibt ihn noch, aber er wird seiner Aufgabe nicht gerecht.
Der Oberbürgermeister von Köln meldet 29 000 Wohnungssuchende. Die CDU-Fraktion in Düsseldorf meldet Wohnungsnot. Studenten zelten auf Straßen und nächtigen in Zügen. 250 000 bis 400 000 Menschen in der Bundesrepublik haben überhaupt kein Dach überm Kopf oder wohnen nicht in eigenen Mietwohnungen. 100 000 sind ganz akut von Obdachlosigkeit bedroht. Kein Zweifel also: Es fehlen Wohnungen. Es gibt inzwischen an vielen Stellen Wohnungsknappheit, und es gibt punktuell auch Wohnungsnot. Es müssen Wohnungen her!
In dieser Situation meldet sich der Bundesbauminister mit dem Wohnungsbauänderungsgesetz. Dabei handelt es sich um einen zusätzlichen Paragraphen. Im Zweiten Wohnungsbaugesetz soll ein neues, zusätzliches Fördersystem zugelassen werden. Man kann dem zustimmen, aber die Wohnungsprobleme werden damit nicht gelöst.
Die Bundesregierung sagt: Die Feuerwehr kann außer mit dem großen Tanklöschfahrzeug zukünftig auch mit dem kleinen löschen. Das ist ja gut, aber die Feuerwehr braucht Wasser; darauf kommt es an.
Man kann also zukünftig außer mit dem traditionellen ersten und zweiten Förderweg auch mit dem dritten Förderweg fördern. Das ist ja gut, aber man braucht für die Förderung Geld, und das ist das Problem.
Dieser dritte Förderweg, die sogenannte vereinbarte Förderung, ist ein flexibles Instrument. Die Darlehens- und Zuschußgeber können von Fall zu Fall entscheiden, wieviel Geld sie für welchen konkreten Zweck zur Verfügung stellen. Sie können auch entscheiden, für welchen Mieterkreis die Wohnung zur Verfügung stehen soll, wie hoch der Mietzins ist, wie schnell er steigen darf und wie lange die Zweckbindung garantiert ist. Diese Flexibilität ist gut, wenn sie vernünftig und sozial verantwortlich genutzt wird. Deshalb stimmen wir zu. Die Flexibilität kann allerdings auch ein Ärgernis werden, wenn sie zu Mitnehmereffekten führt, wenn die gefördert werden, die sich ohnehin selbst helfen können, wenn der Mietzins zu hoch und die Zweckbindung zu kurz angesetzt werden.
8426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Müntefering
Deshalb betrachten wir die Zustimmung heute als ein Experiment. Wir werden sehen, was in den nächsten Jahren aus dem Instrument wird,
und es muß auch möglich sein, sich zu korrigieren, wenn es sich als unsozial herausstellen sollte.
Das Wohnungsloch ist hausgemacht, besser: hausgeschneidert. Es war falsch und folgenreich, daß sich der Bund aus dem sozialen Mietwohnungsbau völlig und aus dem sozialen Eigenheimbau bis auf ein Minimum zurückgezogen hat. Die Länder haben das alle mitverschuldet, und sie haben ihre Programme selbst reduziert.
Noch schlimmer aber war, daß der Bundesbauminister gegen viele Fakten und gegen die unverkennbaren Indikatoren seit Jahren erklärt, Bauen lohne sich nicht mehr, die Wohnungsprobleme im Lande seien gelöst. Der Wohnungsmarkt, Herr Minister, hat auch seine Psyche. Und wenn der Wohnungsbauminister landauf, landab über Jahre gegen Neubau argumentiert, hat das schon seine Wirkung. So wurde den Bauherren der Mut genommen.
Der Bundesbauminister macht munter weiter, zuletzt am 1. Dezember 1988, als er im Fernsehen erklärte, die Wohnungssituation in der Bundesrepublik sei ausgezeichnet. Herr Minister, das ist blanker und eitler Dilettantismus, der überdies unverschämt gegenüber denen ist, die in den Löchern hausen.
Es ist zunächst nötig, den Bedarf deutlich zu machen, die Verzerrungen der Bundesdurchschnittszahlen auszuräumen. Ihr immer wieder auftauchendes Argument, pro Person stünden immer mehr Quadratmeter zur Verfügung, ist nicht falsch. Nur, wenn der eine Haushalt eine Zunahme von 80 auf 100 Quadratmetern hat und der andere Haushalt hat überhaupt keine Wohnung, dann nutzt das dem, der überhaupt keine Wohnung hat, überhaupt nichts.
Die Bundesdurchschnittszahlen taugen zu überhaupt nichts. Diese Bundesdurchschnittszahlen sollten in ihrer Gewichtung einmal anders dargestellt werden.
Es muß gesagt werden, daß wir Wohnungen brauchen, daß die Zahl der Haushalte bis 1995 um mindestens 800 000 zunehmen wird. Dazu kommen noch die Aussiedler und Übersiedler. Es muß gesagt werden, daß sich Bauen lohnt. Es muß denen Mut gemacht werden, die als freie Wohnungsunternehmer davon ausgehen können, Mieter und auch Rendite zu finden. Es müssen diejenigen herausgefordert werden, die als
Geldinstitute, als Versicherungen und sonstige Kapitalsammelstellen die Milliarden zur Verfügung haben, die wir für den Wohnungsbau brauchen. Es müssen diejenigen an ihre Mitverantwortung erinnert werden, die als Unternehmen für ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vielleicht sogar betriebsnah und verkehrsentzerrend, Wohnungen bauen können. Notfalls muß mit denen auch darüber gesprochen werden, zu welchen Bedingungen sie dies können sollen. Denn Mitarbeiterpflege und Facharbeiterpflege können auch bedeuten, daß Unternehmen ihren Mitarbeitern und deren Familien gute Wohnungsperspektiven geben. Auch das wäre eine sinnvolle Investition.
Ich spreche über das, was der Markt leisten kann und was er leisten muß.
Die 25 000 Wohnungen, die im Jahr 1988 mehr gebaut werden als im letzten Jahr, 1987, sind frei finanzierte Wohnungen.
Der Markt reagiert, und die Politik wäre dumm, wenn sie diese Chance nicht nutzen würde. Aber, Herr Minister, Sie sollten bitte nicht durch dilettantische Redereien so tun, als ob das Problem gar nicht bestände. Machen Sie denen, die auch in der freien Wirtschaft inzwischen verstanden haben, daß man sich bewegen muß, Mut. Das Pflänzchen muß gegossen, gelockt und gestützt und nicht wieder ausgerissen werden. Dies ist die Verantwortung, der Sie im Augenblick nicht gerecht werden.
Sich in der heutigen Situation auf den freien Wohnungsmarkt zu berufen und zu verlassen, ihm aber gleichzeitig zu signalisieren, es gäbe überhaupt keine Wohnungsprobleme, ist ein Ausmaß politischer Unfähigkeit ohne Beispiel.
Ich verstehe, Herr Minister, wenn in Bayern inzwischen selbst dem Minister Stoiber die kalte Wut kommt und er den Bundesbauminister attackiert.
Was neben all dem, was der Markt leisten kann, auch noch nötig ist, das ist der soziale Wohnungsbau. Da laufen einem in diesen Wochen viele kluge Leute über den Weg, die sich über den sozialen Wohnungsbau mokieren und sich nicht schnell genug von ihm distanzieren können. Das sind lauter Leute, die selbst gut wohnen — mit Marmortreppen und vergoldeten Armaturen und mindestens Teppichböden in den Toiletten oder was da so der Maßstab ist.
Wie es sich in Wohncontainern und ohne eigene Toilette wohnt, kann keiner hier im Hause mitfühlen. Da müssen wir uns mal ein bißchen überlegen, daß es solche Menschen gibt bei uns im Land.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8427
Müntefering
Da gibt es überhaupt nichts zu lachen. Diejenigen, die da fragen, was wir mit sozialem Wohnungsbau sollen, wissen nicht mehr, wie es ist, wenn man keine Wohnung hat. Und die wissen nicht, wie es ist, wenn man in einer schlechten, menschenunwürdigen Wohnung sitzt. Vier Personen .auf 16 Quadratmetern, diese Situation haben wir doch heute wieder. Da können Sie doch nicht sagen, die Probleme seien alle gelöst.
Nachdem nun viele hier im Hause und manche draußen den sozialen Wohnungsbau nur noch mit spitzen Fingern anfassen, ist es, glaube ich, nötig, ein paar Worte zu seiner Funktion zu sagen. Sozialer Wohnungsbau heißt: Die Gemeinschaft aller nimmt etwas von dem, was sie gemeinsam in die Steuerkasse gegeben hat und fördert damit Wohnungen für die, die nicht allein Wohnungen kaufen oder mieten können. Das ist auch eine Form der Solidarität, die bei uns im Lande unverzichtbar ist.
Unser sozialer Wohnungsbau ist eine der großen Errungenschaften dieser Republik. Er ist keine Sünde der Vergangenheit, sondern eine Leistung, um die uns andere Länder beneiden.
Viele haben Anteil daran — auch bei Ihnen.
Das gilt übrigens auch für die gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften und die Genossenschaften, die von der Mehrheit des Hauses in diesem Sommer wie irgendwelche Relikte abgemeiert und in den freien Markt entlassen worden sind.
Und ich sage an dieser Stelle auch ein Dankeschön an Kurt Müller,
der auf seine Art über viele Jahre dazu beigetragen hat, daß der soziale Wohnungsbau in der politischen Diskussion geblieben ist.
Wir brauchen sozialen Wohnungsbau nie mehr in dem Umfang wie noch in den 70er Jahren. Aber, meine Damen und Herren, 53 000 Sozialmietwohnungen in 1982 und nur noch 12 000 in 1987, das ist ein zu krasser Absturz.
Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau, wenn nicht die Kellerkinder der Wohnungsmarktwirtschaft über fünf oder zehn Jahre vergeblich auf eine Besserung ihrer Wohnungssituation warten sollen, während die anderen in dicken Sesseln das Gewissen damit beruhigen, daß der Markt irgendwie und irgendwann langsam, langsam sickernd die ganz unten auch erreicht.
Deshalb müssen wir weiter auch sozialen Wohnungsbau haben — neben all dem anderen, was der Markt leisten kann.
Sozialer Wohnungsbau heißt, am richtigen Platz eine Wohnung zu bauen für eine junge oder kinderreiche Familie, für Alleinerziehende, Studenten oder Aussiedler, Deutsche oder Ausländer, die auf diese Solidarität angewiesen sind.
Deshalb heißt die Forderung der SPD-Bundestagsfraktion: 1989 und in den Folgejahren eine gute Milliarde DM Bundesmittel für den sozialen Mietwohnungsbau.
Wenn das, Herr Minister, mit den Theorien Ihrer Berater nicht übereinstimmt, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Wechseln Sie die Theorien, wechseln Sie die Berater.
Nehmen Sie das Geld, und geben Sie es dem Herrn Rommel in Stuttgart, dem Herrn Schmalstieg in Hannover und dem Herrn Kronawitter in München. Die wissen alle, was sie damit machen können. Sie haben überhaupt keine Probleme, guten sozialen Wohnungsbau für die Notfälle zu machen, die sie in den Städten haben.
Nehmen Sie die Sorgen der Stadt Köln. Über die akut Obdachlosen hinaus stellten 1988 bisher in Köln 26 000 berechtigte Haushalte einen Antrag auf eine Mietwohnung. 12 000 davon waren dringende Fälle. Das waren Menschen, die in unbewohnbaren Wohnungen wohnten, das waren Behinderte, da ging es um Familienzusammenführungen, da ging es um extrem überbelegte Wohnungen — fünf Personen mit weniger als vier Räumen —, da ging es um akute Räumungsverfahren, da ging es um Menschen, die in Übergangsheimen stecken und da raus müssen, und da ging es um Weitpendler, die jeden Tag 100 Kilometer und weiter fahren müssen.
Übrigens, trotz der 1 400 Beschlagnahmen, die die Stadt Köln in diesem Jahr an Wohnungen durchführt, muß sie inzwischen, weil das Problem anders gar nicht zu lösen ist, jeden Tag 70 000 DM für Hotelbetten zahlen, weil sie anders die Menschen überhaupt nicht unterbringen kann.
Dies ist doch wirklich abstrus. Der Bundesbauminister stellt sich hin und sagt: Problem gelöst.
Wer angesichts solcher Situationen immer noch tatenlos bleibt, wie es diese Bundesregierung tut, der handelt unsozial. Menschenwürdig zu leben ist ein Grundrecht.
Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich war zwar fertig, aber ich mache das gerne.
8428 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Stimmen Sie mit mir überein, daß es in diesem Falle, den Sie vorhin von Köln zitiert haben, besser gewesen wäre, wenn die entsprechende Bewilligungsbehörde oder Wohnungsbaubehörde von Köln die Kosten der Miete bezahlt hätte statt Hotelkosten in Höhe von 70 000 DM pro Tag?
Verehrter Herr Kollege, es gibt die Methode des Wohngeldes und viele andere, die hilfreich bei der Bewältigung der Wohnungsprobleme sind; nur, wo keine Wohnungen sind, da kann man auch nichts zuweisen. Das ist das Problem, das Sie nicht begreifen wollen.
Das ist genau das Problem der Durchschnittszahlen, das ich vorhin schon angesprochen habe. Es ist nicht so, daß man von jeder Wohnung irgendwo ein paar Quadratmeter nehmen und sie neu schneidern kann, sondern der Fakt ist, daß 3 %, 5 % oder 8 % der Bevölkerung — wie immer man das ansetzt — bei uns in der Bundesrepublik entweder keine Wohnung haben oder eine, die menschenunwürdig ist. Das wollen wir nicht weiter so zulassen. Dagegen kämpfen wir.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mich recht entsinne, haben wir keine verbundene Debatte vereinbart. Sie haben zur Sache selbst, zum Gesetz zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes, überhaupt nicht gesprochen.
Ich hoffe nicht, daß Sie das Pulver der SPD ganz verschossen haben; es war Magerpulver. Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, ich bin ganz enttäuscht, Herr Müntefering, daß Sie eine Debatte beginnen und an dem Gesetzentwurf völlig vorbeiargumentieren.
Meine Damen und Herren, der Anlaß für die Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes war doch, daß der Zustrom deutscher Aussiedler in die Bundesrepublik zugenommen hat und die Bundesregierung gehandelt hat. Ziel war: eine schnelle Hilfe ist die beste Hilfe.
Nun sagen Sie: Dazu braucht man nur Geld. Ich sage Ihnen, daß das nicht nur mit Geld zu machen ist. Das ist auch notwendig; aber so, wie Sie mit dieser Unsensibilität dieses Thema hier behandelt haben, ist den Aussiedlern und auch anderen Leuten, die Wohnungen suchen, überhaupt nicht gedient.
Meine Damen und Herren, ich sage das einmal in dieser Stunde und an diesem Ort ganz offiziell: Ich habe etwas Sorge, daß Teile unserer Öffentlichkeit das Thema der Aussiedler nicht richtig behandeln. Ich sage das auch einmal als einer, der als sudetendeutscher Bürger in dieses Land gekommen ist, als einer,
der damals Hilfe in Anspruch nehmen konnte, weil andere mir geholfen haben. Ich stelle heute fest, daß es viel schöner ist zu helfen, als auf Hilfe angewiesen zu sein.
Ich glaube, wir sollten das einmal offen aussprechen.
Ich widerspreche ausdrücklich von dieser Stelle aus den gestern gemachten Ausführungen des Herrn Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Franke, der gesagt hat: Die Aussiedler belasten unseren Arbeitsmarkt. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich wünschte mir, daß die Bürokratie bei den Aussiedlerproblemen, sowohl bei der Arbeitsplatzvermittlung als auch bei der Wohnungsvermittlung, etwas flexibler und menschlicher handelt, als dies im Augenblick der Fall ist.
Ich möchte hier gar keine näheren Beispiele aufzählen. Geben wir doch diesen Menschen eine neue Chance! Das sind zum großen Teil kinderreiche Familien, deren Hilflosigkeit, deren Unsicherheit und deren erstmals in Freiheit zur Geltung gekommenes Selbstbewußtsein nicht durch Deutschtümelei geholfen werden kann, sondern denen wir helfen können, indem wir ihnen helfen und sonst gar nichts. Das ist unsere Aufgabe, und das erfüllt zum Teil dieses Wohnungsbindungsgesetz.
Was ist der Inhalt dieses Gesetzes? Der Inhalt dieses Gesetzes ist, daß der Bund den Ländern Finanzhilfen gewährt, um schnelle, flexible und effiziente Lösungen zu ermöglichen. Ich gebe zu, daß wir Liberalen bei diesem Gesetz einige Schwierigkeiten mit der Akzeptanz hatten, denn wir waren seit eh und je — das wissen Sie — auf dem Weg weg von der Objektförderung hin zur Subjektförderung. Aber außergewöhnliche Ereignisse, wie es zweifellos der Zustrom der deutschen Aussiedler ist, erfordern eben außergewöhnliche Maßnahmen. Genau diesem Ziel wird dieses Gesetz gerecht.
Die Vorteile sind doch erkennbar. Wir machen keine langfristigen Bindungen des Mietpreises und der Belegungsfristen mehr.
Das ermuntert die Investoren, hier schnell, unbürokratisch und flexibel zu handeln.
Wir geben staatliche Zuschüsse oder Darlehen, aber wir begrenzen sie. Wir möchten möglichst viele fördern. Je mehr wir fördern, desto mehr wird schnell neuer Wohnraum entstehen. Wir wollen die Mietpreise nicht festklopfen und damit auch die Fehlbelegung vermeiden, die ja ein Übel im sozialen Wohnungsbau insgesamt ist.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8429
Grünbeck
Wir wollen diese Wohnungen im Anschluß an die Bindungen in den Markt entlassen. Das ist Flexibilität und Anpassung an die Marktentwicklung. Das Ziel ist doch klar.
Meine Damen und Herren, ich wünschte nur, daß Sie von der SPD — ich komme beim nächsten Tagesordnungspunkt darauf noch einmal näher zurück — vorgestern den Herrn Pfeiffer gehört hätten. Er gehört ja Ihrer Partei an.
— Nein, er kam zu spät; er kam erst fast zum Schluß des Vortrags. Ich habe genau aufgepaßt, Herr Kollege. — Es war hörenswert — ich habe ihn nachher aufgefordert, zu uns überzutreten — , was Herr Pfeiffer als Sozialdemokrat über eine Entwicklung in der europäischen Wohnungspolitik vorgetragen hat. Der Vortrag — ich muß ihn mir von Herrn Pfeiffer einmal besorgen — müßte eigentlich Ihnen allen unter das Kopfkissen gelegt werden, damit Sie ihn möglichst oft lesen. Er sagt: In der europäischen Marktentwicklung hat sich gezeigt, daß alle staatliche Reglementierung, alle staatlichen Eingriffe bei der Wohnungswirtschaft im Grunde genommen zunehmend versagen und daß in zunehmendem Maße auf marktwirtschaftliche Entwicklungen zurückzukommen ist.
— Ich zitiere doch den Herrn Pfeiffer, nicht mich.
— Was der Herr Pfeiffer gesagt hat?
— Ich werde es ihm trotzdem nicht ausrichten, Herr Conradi, das besorgen Sie bitte selbst.
Herr Abgeordneter Grünbeck, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gerne.
Herr Kollege Grünbeck, hätten Sie die Freundlichkeit, dem Plenum dann auch mitzuteilen, was er über die Folgen, die diese Politik in England angerichtet hat, gesagt hat?
Das ist richtig; das tue ich gerne. Die Engländer haben sich viel zu spät — das hat er gesagt — an marktwirtschaftliche Entwicklungen gehalten und haben damit heute erhebliche Strukturanpassungsprobleme. Aber er hat Ihnen ja auch die Probleme in Frankreich und Italien dargelegt, in dem im Grunde genommen eine ständige staatliche Intervention sowohl auf dem Kapitalmarkt als auch im Mietrecht zu einer katastrophalen Entwicklung im sozialen Wohnungsbau geführt hat. Genau das wollen Sie ja ständig fortsetzen. Darum bitte ich um Erleuchtung. Ich bitte, Ihrem Parteifreund zuzuhören.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz — damit möchte ich auch schließen — wollen die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien viele Investoren gewinnen, möglichst viel bauen, möglichst viel Wohnraum schaffen. Das ist der beste Weg für die Mietpreisstabilität und für einen wirksamen Mieterschutz.
Das ist unser Weg. Deshalb werden wir dem Gesetz zustimmen.
Das Wort hat die Abgeordnete Oesterle-Schwerin.
Kolleginnen und Kollegen! Wir GRÜNEN lehnen den vorliegenden Entwurf zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes ganz entschieden ab.
Dieser Entwurf ist in keiner Weise dazu geeignet, die immer größer werdende Wohnungsnot einzudämmen, ganz im Gegenteil. Das wird auf Seite 8 der Berichterstattung der Abgeordneten Müntefering und Geis ja auch ganz offen zugegeben: Der Dritte Förderweg sei nicht geeignet, Wohnraum für sozial schwache Mieter zu schaffen. So heißt es dort ganz unverblümt.
Dabei möchte ich den Begriff „sozial schwach" hier ausdrücklich zurückweisen. Von Wohnungsnot in der Bundesrepublik sind Menschen mit niedrigem Einkommen betroffen. Wer ein niedriges Einkommen hat, ist deswegen noch lange nicht sozial schwach, genauso wenig wie ein hohes Einkommen als besondere soziale Tugend gelten kann.
Das aber nur nebenbei.
Mit dem neuen Förderweg sollen Wohnungen für Menschen mit niedrigem Einkommen also ausdrücklich nicht gefördert werden, und das in einer Zeit, in der es gerade für diese Leute immer weniger Wohnungen gibt.
Ich frage die Bundesregierung, ich frage die Koalitionsparteien, ich muß aber leider auch die Kolleginnen und Kollegen von der SPD fragen:
Für wen denn wollen Sie Wohnungen schaffen, wen denn wollen Sie eigentlich fördern, wenn nicht diejenigen, die es am nötigsten haben? Warum eigentlich wollen Sie gerade die, die es am nötigsten haben, nicht fördern? Das muß mir jemand von Ihnen einmal beantworten.
8430 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Oesterle-Schwerin
Die Wohnungen, deren Förderung durch diese Gesetzesänderung ermöglicht werden soll, sind keine Sozialwohnungen. Da sie keiner Belegungsbindung und keiner Preisbindung unterliegen, werden sie auf Dauer nur mit besserverdienenden Mieterinnen und Mietern belegt werden können, während Arme, Alte, Alleinerziehende, Ausländerinnen, Asylsuchende sowie Aussiedlerinnen und Aussiedler mit niedrigem Einkommen weiterhin außen vor bleiben werden. Das ist die Realität.
Langfristig werden diese Wohnungen natürlich — das ist genau das, was Sie schon gesagt haben und was Sie beabsichtigen — als Eigentumswohnungen verhökert werden.
Diese meine Auffassung wurde vom Direktor des Deutschen Mieterbundes, Herrn Schlich, ohne jede Einschränkung gestern beim Hearing, das wir im 16. Ausschuß hatten, bestätigt.
Daß die Bundesregierung durch solche Maßnahmen zusätzliche Geschenke an Bauunternehmer verteilen will, das ist verständlich.
Sie vertreten hier Ihre Klientel, Herr Ruf.
Aber wen vertritt eigentlich die SPD, wenn sie diesem Gesetzentwurf zustimmt?
— Ich habe zugehört.
Sie befinden sich in totalem Konflikt mit dem Deutschen Mieterbund, mit Ihrem Verein, Herr Jahn.
Sie befinden sich mit Ihrer Auffassung diametral entgegen zu der Position des Deutschen Mieterbundes.
Es ist doch schlimm genug, daß die Preis- und Belegungsbindungen im herkömmlichen sozialen Wohnungsbau nach 25 bis 30 Jahren ablaufen. Wenn dagegen nicht schleunigst etwas unternommen wird, dann werden von den 4 Millionen sozialen Mietwohnungen, die es heute gibt — ganz genau weiß man ja nie, wie viele es noch sind — , im Jahre 1995 höchstens noch 1 Million übrigbleiben.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Gerne, Herr Kollege.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die SPD-Bundestagsfraktion und der Deutsche Mieterbund in Übereinstimmung festgestellt haben, daß das Wohnungsbauänderungsgesetz, das wir jetzt beschließen, eine kleine Möglichkeit der Verbesserung der Situation ist, die großen Wohnungsprobleme aber nicht lösen wird?
Nein, es war so, daß Direktor Schlich vom DMB meine Auffassung, daß dieser Weg schädlich ist, gestern ausdrücklich bestätigt hat. Das können Sie dem Wortprotokoll entnehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Sehr gerne.
Frau Kollegin, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß es angebracht gewesen wäre, wenn der Kollege Müntefering das, was er jetzt gefragt hat, vorher in seiner Rede gesagt hätte?
Ich muß das nicht beantworten.
Wir fordern die Verlängerung der jetzt auslaufenden Bindungen der älteren Sozialwohnungen. Anstatt das zu tun, also die Bindungen zu verlängern, schafft die Bundesregierung einen sogenannten dritten Förderungsweg, bei dem es so gut wie gar keine Bindungen mehr gibt bzw. bei dem wesentlich kürzere Bindungen ausgehandelt werden können. Also, dümmer geht es wirklich nicht, bzw. offensichtlicher kann die Politik zugunsten von Wohnungsunternehmen gegen Mieterinnen und Mieter, gegen Wohnungssuchende überhaupt nicht mehr gemacht werden.
Kein Investor und keine Landesregierung werden das herkömmliche System des sozialen Wohnungsbaus mehr anwenden, wenn es ein anderes System gibt, das für sie wesentlich lukrativer ist.
Bei der Anhörung zum Thema Obdachlosigkeit, die gestern im 16. Ausschuß stattgefunden hat, forderte der größte Teil der geladenen Sachverständigen den Bau von sozialen Mietwohnungen und die Einführung von Dauerbindungen für öffentlich geförderte Wohnungen.
Der Deutsche Mieterbund hat sich von der Ablehnung seiner Forderung nach dem Bau von 100 000 Wohnungen im Jahr — nicht 10 000, Herr Müntefering, sondern 100 000 Wohnungen fordert der Deutsche Mieterbund; dazu brauchen Sie nicht 1 Milliarde DM, sondern 10 Milliarden DM im Jahr — nicht abschrecken lassen, sondern diese Forderung in dieser Woche wiederholt. Wir lassen uns ebenfalls nicht abschrecken und wiederholen unsere Forderung nach
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8431
Frau Oesterle-Schwerin
einem Fünfjahresprogramm zur Schaffung von 500 000 Wohnungen im Laufe von fünf Jahren. Das bedeutet 100 000 Wohnungen im Jahr. Das bedeutet 10 Milliarden DM im Jahr. Alles andere ist Augenwischerei.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich komme zum Schluß.
Was Sie heute hier verabschieden wollen, ist ein Gesetz gegen den sozialen Wohnungsbau, gegen Wohnungssuchende mit niedrigem Einkommen, gegen Mieterinnen und Mieter. Das können Sie machen, aber bitte ohne uns, ausdrücklich ohne uns.
Das Wort hat die Abgeordnete Rönsch.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Noch vor zwei Jahren haben wir uns im Raumordnungsausschuß über die hochverdichteten Neubausiedlungen unterhalten und überlegt, wie man architektonische Schäden aus der Nachkriegszeit beheben kann und wie man Bausünden wiedergutmachen kann, indem man vielleicht Wohnungen zurückbaut. Jetzt unterhalten wir uns über neue Bewegungen auf dem Wohnungsmarkt.
Es ist unzweifelhaft so, daß das Baugewerbe in Bewegung ist, mit ausgesprochen positiver Tendenz. Die Zahl der Baugenehmigungen nimmt zu. Auch die Zahlen, die Herr Franke vorgestern aus Nürnberg hat verlauten lassen, sind ein deutlicher Indikator dafür, daß im Baugewerbe wieder Beschäftigung ist. Wir haben auch — leider erst jetzt — die Daten der Volkszählung vorliegen. Diese Daten aus der Volkszählung haben uns zur Kenntnis gebracht, daß eine Million weniger Wohnungen zur Verfügung stehen, als bisher angenommen wurde.
— Herr Conradi, wenn Sie an dieser Stelle „peinlich" sagen und wenn sich Frau Oesterle-Schwerin an dieser Stelle beschwert, habe ich dafür wenig Verständnis. Wir hätten die Daten der Volkszählung gerne wesentlich früher gehabt, um gesichertes Datenmaterial zu haben.
Fragen Sie beide, die Sie sich gerade zu Wort gemeldet haben, sich doch einmal, wer die Ursache dafür war, daß die Daten erst jetzt zur Verfügung stehen.
Es ist mit Sicherheit so, daß es zu wohnungspolitischen Engpässen kommt, gerade in den Ballungsgebieten.
Allerdings nimmt die Bevölkerung ab, die Zahl der Haushalte nimmt zu. Aber ich erbitte doch eine saubere Analyse, welche Haushalte zunehmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Liebe Kollegin, sind Sie der Auffassung, daß die Volkszählung den Bau von Wohnungen verhindert hat, oder nicht vielmehr der, daß die Streichung der Mittel Wohnungsbau in der Republik verhindert hat?
Die Volkszählung hat uns jetzt deutlich gemacht, daß eine Million weniger Wohnungen zur Verfügung stehen.
Sie sagt uns aber auch, daß die Bevölkerungszahl rapide abnimmt. Ich meine, daß uns die Volkszählung auch Auskunft darüber gibt, daß geändertes Wohnverhalten zu den Engpässen auf dem Wohnungsmarkt geführt hat. Zu diesem geänderten Wohnverhalten will ich gern noch ein paar Worte sagen.
Wir haben durch einen wesentlich höheren Lebensstandard eine ganz andere Quadratmeternachfrage. Wer früher noch mit zwei Personen mit 54 oder 56 Quadratmetern zufrieden war und die auch finanziert hat, fragt jetzt wesentlich mehr nach. Die Lebensplanung von sehr vielen Familien sieht ganz anders aus. Denn die Jugendlichen ziehen mit 18, 19 Jahren aus dem elterlichen Haus aus, wenn es vielleicht gerade fertig finanziert ist, gründen einen eigenen Haushalt und verlangen vom Wohnungsamt natürlich Unterstützung bei der Wohnungssuche. Wenn z. B. eine Ehe getrennt wird, wenn eine Scheidung erfolgt, suchen jetzt vier Personen je eine Wohnung. Sie ziehen nicht wieder zusammen. Ich meine, das sind alles Faktoren, die man durchaus berücksichtigen muß.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
8432 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Kollegin, sind Sie bereit zuzugestehen, daß die Wohnfläche im sozialen Wohnungsbau bei einem Vierpersonenhaushalt für eine Person bei 20 Quadratmetern liegt und daß einem Kind im sozialen Wohnungsbau nur 7 oder 5 1/2 Quadratmeter zur Verfügung stehen?
Frau Kollegin Oesterle-Schwerin, Sie wissen ganz genau, wie die Wohnungsämter einweisen.
54 und 56 Quadratmeter sind die Norm für einen Einpersonenhaushalt. So wird auch eingewiesen. Alles andere sind die Wohnungsnotstände. Auf die werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Diese Wohnungsnotstände schlagen z. B. beim Wohnungsamt Köln, wie gestern ausgeführt, mit 26 000 zu Buche. Da, muß ich sagen, hätte ich mir von dem Wohnungsamtsleiter aus Köln eine sauberere Analyse gewünscht. Wir hatten gestern das große Thema der Obdachlosigkeit und dazu eine Anhörung. Aber die Obdachlosen sind gestern auf der Strecke geblieben. Sie, Frau Oesterle-Schwerin, haben teilweise mit dazu beigetragen; denn es wurde nicht sauber getrennt zwischen den Leuten, die kein Dach mehr über dem Kopf haben, und den Leuten, die einen verbesserten Wohnraum suchen.
Ich kann die 18jährige junge Frau oder den 18jährigen jungen Mann, die zu Hause hervorragend untergebracht sind, sich aber verselbständigen wollen, wofür ich großes Verständnis habe, nicht zu den 26 000 obdachlosen Wohnungssuchenden zählen, wie das gestern leider von dem Amtsleiter gemacht wurde.
Sie werden doch mit mir einer Meinung sein, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland — wir Deutschen sind ja für das Reisen bekannt und gehen da auch über das europäische Ausland hinaus — hervorragend mit Wohnungen versorgt sind.
Wer das bezweifelt, dem wünsche ich, daß er nur eine kleine Reise, vielleicht in das benachbarte Ausland, Herr Menzel, macht. Da sieht es wesentlich anders aus. Die Wohnraumversorgung bei uns ist ausgesprochen gut.
Wenn es zu Engpässen kommt, liegt es an den Faktoren, die ich eben genannt habe. Es liegt aber auch daran, daß in diesem Jahr, 1988, etwa 200 000 Aussiedler gekommen sind und daß vermutlich im Jahr 1989 noch einmal die gleiche Anzahl kommen wird. Ich meine, daß diese Menschen, die es 40 Jahre nach dem Krieg wünschen, im freien Teil Deutschlands zu leben, es verdient haben, daß wir sie mit offenen
Armen aufnehmen und daß wir auch Vorsorge dafür treffen.
Wenn wir bisher noch nicht in dem Umfang, wie es notwendig gewesen wäre, darauf reagieren konnten, liegt das u. a. mit daran, daß man mit den großen Zuströmen von Aussiedlern vorher gar nicht rechnen konnte.
— Der Bundeswohnungsbauminister, Herr Kollege Müntefering, hat den Hydranten aufgedreht, um Geld für die Aussiedler zu spenden.
Er hat im Jahre 1988, in der Mitte des Jahres, 700 Millionen DM zur Verfügung gestellt, und die Länder stellen noch einmal den gleichen Betrag zur Verfügung. Es ist etwas erstaunlich, daß sich die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften nicht in der Lage sehen, dafür Wohnungen zu bauen,
daß allerdings die privaten Bauherren z. B. in BadenWürttemberg die Mittel, die für Baden-Württemberg zur Verfügung gestanden haben, schon überzeichnet haben.
Ich muß auf der anderen Seite sagen, daß es große Schwierigkeiten bei den Einheimischen gibt, die die Nutzung dieser Wohnungsbaufördermittel noch nicht richtig verstanden haben; denn an Stammtischen wird sehr oft von einer einseitigen Förderung der Aussiedler gesprochen. Ich muß Ihnen sagen: Da müssen wir noch viel tun. Ich bitte Sie, daß Sie mithelfen, diese Aufklärungsarbeit zu leisten, zu verdeutlichen, daß auch die Einheimischen in den Genuß dieses „Aussiedler-Programms" kommen können; denn auch jeder Mieter im sozialen Wohnungsbau kann diese 50 000 DM erhalten, wenn er Wohnraum freimacht, eine Aussiedlerfamilie in diese Wohnung im sozialen Wohnungsbau einziehen kann und er sich dadurch Eigentum schafft. Eigentum schaffen können sich auch die Aussiedler. Wir werden auch den Einheimischen zum Aus- und Umbau die 50 000 DM zur Verfügung stellen, die bereit sind, diese Wohnung auf sieben Jahre mit Aussiedlern zu belegen. Ich meine, wir sollten diesen Faktor noch wesentlich deutlicher nach draußen tragen; denn sehr viele unserer Bürger, die seit dem Krieg oder schon immer hier gewohnt haben, wissen gar nicht, daß auch das ein Instrumentarium für sie ist, zu neuem Eigentum zu kommen. Ich finde, das ist eine hervorragende Lösung, wie sie sich jetzt anbietet. Ich meine, wir sollten das noch viel mehr gemeinsam nach draußen tragen. Ich habe so ein bißchen den Eindruck, daß Sie ganz bewußt bei der Diskussion draußen vor Ort — —
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8433
Frau Rönsch
— Ich muß Ihnen sagen, Herr Kollege Menzel: Die 750 Millionen DM, die die Bundesregierung für das Jahr 1988 zur Verfügung gestellt hat, kann man nicht, wenn sich die Länder entsprechend beteiligen, als „kleine Sache" bezeichnen. Aber 1989 wird der Bundesminister noch einmal neu überlegen müssen;
denn die Aussiedlerzahlen nehmen weiter zu.
Ich bin sicher, auch dadurch werden wir den Wohnungsmarkt noch weiter beleben.
Ich habe aber an dieser Stelle aber auch noch eine Bitte an die kommunalen Baubehörden. Um Wohnungsraum sehr schnell zur Verfügung stellen zu können, werden wir etwas unkonventioneller denken müssen. Gerade beim Umbau und beim Dachausbau halten sich Bauämter leider oft an Zentimetern fest, wenn es um Firsthöhe, Treppenbreite oder Treppenstufenhöhe geht.
In der jetzigen Zeit kommt es darauf an, daß jeder unkonventionell brauchbaren Wohnraum zur Verfügung stellt. Wir wollen unsere guten deutschen Baunormen nicht über den Haufen werfen. Aber in einer Zeit der Wohnungsnachfrage, wenn Leute in Wohncontainern oder überfüllten Wohnheimen wohnen, muß man auch bei unserer deutschen Bauordnung einmal — ich sage es so — fünf gerade sein lassen und vielleicht einmal 2 oder 3 cm Firsthöhe übersehen.
— Das, Herr Reschke, meine ich nicht. Ich hatte gehofft, Sie haben zugehört. Wir hatten die Diskussion über deutsche Baunormen schon oft im Ausschuß. Ich meine, gerade beim Dachausbau sollte man an der einen oder anderen Stelle einmal ein bißchen nachgeben.
Wenn wir alle gemeinsam, jeder an seiner Stelle, dazu beitragen und versuchen, auf diesem problematischen Feld Polemik außen vor zu lassen, können wir den Menschen, die jetzt dringend eine Wohnung suchen, weil sie wirklich kein Dach über dem Kopf haben, am ehesten gemeinsam helfen.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.
Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich,
sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? —
Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit Ausnahme der Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Müntefering, Reschke, Conradi, Amling, Dr. Böhme , Erler, Großmann, Dr. Hauchler, Huonker, Ibrügger, Dr. Klejdzinski, Menzel, Dr. Niese, Oesinghaus, Scherrer, Weiermann, Lohmann (Witten), Nehm, Schmidt (Salzgitter), Dr. Sperling, Wartenberg (Berlin), Jahn (Marburg), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Für eine soziale Wohnungs- und Städtebaupolitik
— Drucksachen 11/1388, 11/2606 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Jahn .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist höchste Zeit, daß wir uns mit der Lage auf dem Wohnungsmarkt befassen, und es ist höchste Zeit, daß diese Bundesregierung ihre Verantwortung für eine soziale Wohnungspolitik erkennt.
Die Antwort dieser Regierung auf unsere Große Anfrage ist dafür allerdings eine ungeeignete Grundlage.
Sie ist ein Dokument der Schönfärberei, daß mit der Wirklichkeit für Hunderttausende Wohnungssuchende nichts zu tun hat.
Am 23. Mai 1987 erklärte der Bundeskanzler vor dem Zentralverband der deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundstückseigentümer in Berlin:
Für mich führt kein Weg daran vorbei, daß in einer sozialen Marktwirtschaft die Wohnungspolitik auch ihre soziale Funktion erfüllen muß.
An diesem Bekenntnis messen wir das Handeln der Bundesregierung.
Deshalb frage ich: Was haben Sie getan, um dem gerecht zu werden? Was haben Sie getan, damit alle Bürger ausreichend mit Wohnraum versorgt werden? Was haben Sie getan, damit die Wohnungen für alle Bürger erschwinglich sind? Was haben Sie getan, damit die Wohnung für alle Bürger sicherer wird? Die Antwort ist schlicht und einfach: Nichts!
Sie haben eine Fehlentscheidung nach der anderen
getroffen. Mit dem Mietrechtsänderungsgesetz haben
8434 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Jahn
Sie 1982 den gesetzlichen Kündigungsschutz durchlöchert und es den Vermietern erleichtert, höhere Mietforderungen durchzusetzen. Die sozialen Schutzrechte der Mieter wurden erheblich eingeschränkt. Sie haben gesagt, weniger Mieterschutz und höhere Mieten schaffen mehr neue Mietwohnungen. Den Mietern haben Sie Sand in die Augen gestreut mit dem Versprechen, die Mieten würden nicht stärker steigen als die Lebenshaltungskosten.
Herr Abgeordneter Jahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte!
Herr Kollege Jahn, würden Sie mir bestätigen, daß die Mietrechtsänderungen von Ende 1982 konzeptionell und fast bis ins Detail bereits in der sozialliberalen Koalition ausgehandelt waren?
Diese Behauptung kann ich nicht bestätigen; diese Frage war in der damaligen Koalition auf das höchste umstritten.
Es waren Ihre Vorstellungen, aber eine Verständigung darüber unter den Fraktionen bis zu einem endlichen Abschluß ist nicht zustande gekommen.
Nein, meine Damen und Herren, Ihr Rezept hat versagt, es war falsch. Ihr Versprechen an die Mieter haben Sie gebrochen.
Von 1984 bis 1987 hat sich der Wohnungsneubau fast halbiert. Der Neubau von Mietwohnungen ist auf ein Drittel des damaligen Umfanges zusammengeschrumpft. Fachleute schätzen, daß 1987 nur noch rund 30 000 Einheiten fertiggestellt wurden.
Und zu den Mieten: Von Dezember 1982 bis Oktober 1988 ist der Gesamtmietenindex des Statistischen Bundesamtes um 18,9 % gestiegen, der Index für Altbaumieten um 23 To und der Index für den freifinanzierten Wohnungsneubau um 14,1 %. Die allgemeinen Lebenshaltungskosten erhöhten sich im selben Zeitraum dagegen nur um 7,6%:
Das Wohnen zur Miete hat sich also zwei- bis dreimal so stark wie die allgemeine Lebenshaltung verteuert. Dabei spiegelt der Bundesmietenindex das tatsächliche Ausmaß der Mietsteigerungen nur unvollständig und mit großer zeitlicher Verzögerung wider.
Wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage die Auswirkungen ihres neuen Mietrechts in dem Satz zusammenfaßt — ich zitiere — : Die Mietrechtsreform von 1982 hat wichtige Voraussetzungen für nachfragegerechte Wohnungsbauinvestitionen wiederhergestellt, dann stellt sie die
Tatsachen auf den Kopf. Tatsächlich war das Gesetz zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen ein wohnungspolitischer Etikettenschwindel. Es war und ist ein Gesetz zur Verschlechterung der Mieterrechte und zur Erhöhung der Mieten.
Die Bundesregierung hat auch nichts getan, um die Talfahrt des Mietwohnungsbaus zu stoppen, im Gegenteil. Sie hat diese Talfahrt noch beschleunigt. 1986 zog sich der Bund aus der Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus vollständig zurück, mit dem Ergebnis, daß 1987 bundesweit gerade noch 12 212 Mietwohnungen gefördert wurden, ein knappes Drittel gegenüber 1983.
Begründet wurde dies mit der angeblich ausreichenden Wohnungsversorgung und einem angeblich ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Diese Begründung — darauf haben Fachleute immer hingewiesen — war damals schon falsch und wird auch durch ständige Wiederholung nicht richtig. Leerstehende Wohnungen und Vermietungsschwierigkeiten, die es zeitweise gegeben hat, waren nur das Ergebnis einer Nachfrageschwäche. Die Bundesregierung hat sich diese Nachfrageschwäche sogar noch als Verdienst angerechnet. Wir haben einen Mietermarkt!, verkündete der Bundesbauminister.
Noch im Januar 1987, nachzulesen im Bundesbaublatt, stellt die Bundesregierung in einer Bilanz ihrer Wohnungspolitik fest, der Wohnungsmarkt habe sich entspannt und sei global ausgeglichen. Tatsächlich bedeutet dies, es gibt keinen sozialen Mietwohnungsbau mehr, weil die Bundesregierung jahrelang die für die Wohnungsnachfrage entscheidenden Einflußgrößen völlig unterschätzt hat,
vor allem die Zunahme der Haushalte um jährlich 100 000 bis 200 000, den Zustrom der Aussiedler, den Wegfall von 130 000 Wohnungen pro Jahr durch Abriß, Zweckentfremdung und Umwandlung und den Wunsch vieler Bürger, in besseren Wohnungen zu leben. Mit der Propaganda vom angeblichen Mietermarkt wurden potentielle Bauherren von Mietwohnungen gründlich verunsichert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau OesterleSchwerin?
Bitte schön.
Herr Kollege Jahn, meine Frage bezieht sich auf die Umwandlung von Mietwohnungen. Ich habe in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen, daß der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Gerhard Jahn, angesichts der steigenden Wohnungsnot ein Umwandlungsverbot verlangt hat. Ich möchte Sie fragen: Wann können wir diesbezügliche parlamentarische Initiativen von Ihrer Seite erwarten?
Ich spreche hier als Vertreter der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, und
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8435
Jahn
wenn Sie mit dem Präsidenten des Deutschen Mieterbundes reden wollen, dann müssen Sie es außerhalb dieses Hauses tun.
Dies ist ein Thema, das wir sehr ernst nehmen und das in der Diskussion in der Tat auch sehr sorgfältig geprüft werden muß. Ich habe von meiner Auffassung, die ich in München geäußert habe, nichts wegzunehmen. Ich bleibe bei dieser Auffassung. Aber dies bedarf in der parlamentarischen Beratung noch sorgfältiger Auseinandersetzung.
Warum sollen wir Mietwohnungen bauen, wenn es genug davon gibt?, war die Auffassung bei den Investoren infolge der Äußerungen des Bauministers. Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen wohnungspolitischer Versäumnisse. In weiten Teilen der Bundesrepublik Deutschland ist der Markt für Mietwohnungen leergefegt. Wohnungssuchende sehen sich Mietforderungen ausgesetzt, die in Großstädten und Ballungsräumen um 20 bis 30 % über den bisherigen Mieten liegen. Eine normale Drei-Zimmer-Wohnung ist vielerorts unter 1 000 DM Monatsmiete ohne Nebenkosten nicht mehr zu bekommen. Selbst 20 DM Miete pro Quadratmeter sind keine Ausnahme mehr.
Das Alarmierende an dieser neuesten Entwicklung ist: Die immer höheren Neuvermietungsmieten von heute sind die Bestandsmieten von morgen, dank Ihres neuen Mietrechts.
Zunehmend verdrängen zahlungskräftige Wohnungssuchende die Bürger, die nur ein durchschnittliches oder niedriges Einkommen haben. Niemand behauptet, daß wir eine allgemeine Wohnungsnot haben wie nach 1945. Aber für Hunderttausende ist es Not, daß sie geeigneten Wohnraum nicht finden und bezahlen können, daß sie unzureichend oder notdürftig untergebracht sind, wie etwa jene Aussiedlerfamilien, die in Wohncontainern von 13,5 Quadratmetern leben müssen.
Bayerns Innenminister Stoiber sagte vor wenigen Tagen zu den Ergebnissen der Wohnungszählung: „Wir waren davon ausgegangen, es gebe in Bayern keine Wohnungsnot mehr. Sie wird aber jetzt wieder zum Thema. "
Diese Notlage auf dem Wohnungsmarkt wird sich durch die dritte Fehlentscheidung verschärfen: die Aufhebung der Bindungen für die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen. Deren Bestand von 3,4 Millionen Wohnungen fällt für die soziale Wohnraumversorgung in den nächsten Jahren weg. Die Behauptung des Bauministers, die gemeinnützigen Unternehmen hielten an ihrem sozialen Auftrag freiwillig fest, ist reines Wunschdenken. Selbst dort, wo der Bund eigene gemeinnützige Wohnungsunternehmen hat, geht er noch mit schlechtem Beispiel voran und veräußert seine Bestände auf dem freien Markt. Wissen Sie eigentlich nichts von den Sorgen und Ängsten der
Tausende von Mietern in Salzgitter, wo der bundeseigene Salzgitter-Konzern seine Wohnungen privatisiert?
Die Regierung setzt weiterhin auf die Kräfte des freien Marktes und auf das Wohngeld.
Die Erfahrungen aus den vergangenen fünf Jahren zeigen: Der freie Markt stellt den Wohnraum nicht bereit, den wir brauchen, um alle Bürger angemessen zu versorgen, und Wohngeld schafft keinen neuen Wohnraum. Entgegen allen Lippenbekenntnissen gibt es keine soziale Wohnungspolitik des Bundes,
und es ist Zeit für ein grundlegendes Umsteuern.
Berichtigen Sie Ihre Fehler. Bringen Sie wieder Ruhe und Stetigkeit in die Wohnungspolitik durch sichere Rechte für alle Mieter, durch Bewahrung der Wohnungsgemeinnützigkeit, durch Sicherung der Bindungen im Bestand an Sozialwohnungen und durch Rückkehr zu einem ausreichenden sozialen Mietwohnungsbau.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kansy.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Dach über dem Kopf ist ein Thema, mit dem man Emotionen wecken kann. Herr Kollege Jahn, Sie haben Erfahrung darin; wir bestätigen es Ihnen gern. Aber solange Sie sich hier nicht einer ernsthaften Diskussion stellen, solange Sie sich nicht den Fakten stellen,
sondern wieder mit Ihrer alten Leier — das haben wir ja nun schon zweimal erlebt — von den 1982 angeblich vogelfreien Mietern, von den Mietenexplosionen angefangen, so lange werden Sie keine gemeinsame Basis mit uns finden.
Ich möchte Sie noch einmal an die Situation erinnern, in der wir hier noch vor wenigen Jahren gewesen sind. Ich habe noch einmal in meinen Presseakten nachgeblättert: Es ist keine zwei Jahre her, da hatten die Medien nicht die angebliche neue Wohnungsnot am Wickel, sondern an jedem zweiten Abend Wohnungsleerstände in ihrer Berichterstattung.
Da gab es schlaue Professoren, die sagten, — ich zitiere — wir sollten doch bitteschön mit den wertvollen Steuergeldern keine Schlafplätze fördern, sondern bitteschön Arbeitsplätze.
Besonders progressive Städtebauer, Herr Müntefering, auch aus Ihrer Fraktion, aber nicht nur dort, spra-
8436 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr.-Ing. Kansy
chen vom Rückbau unserer Siedlungen. Das heißt ja letztlich: Abriß von Wohnungen.
Ich muß doch noch einmal — was die Kollegin Rönsch sehr richtig getan hat — auf die Volks- und Wohnungsstättenzählung zurückkommen. Wer damals auf eine möglichst schnelle Zählung drängte, wer auf Zahlen drängte, der wurde — von den GRÜNEN sowieso — auch aus Teilen Ihrer Fraktion als Volksaushorcher beschimpft.
Dieselben Leute sind es heute wieder, die sich an die Spitze der Bewegung setzen und sagen: Oh, oh, oh, warum habt ihr als Staat so schlecht geplant? Wie soll es denn der Staat anders wissen, wenn man ihm solche Untersuchungen verweigert? Dann muß man darauf warten, daß der Markt reagiert, mit den Problemen, die wir heute haben.
Nun wird argumentiert — es ist heute schon mehrmals angesprochen worden — , wir hätten eine Million Wohnungen weniger. Ich wundere mich einfach, warum man darauf so ohne weiteres eingeht. Eine Million wovon, Herr Kollege? Von welcher Zahl? Haben wir nicht immer behauptet, alleine durch den berühmten Mikrozensus, also durch die Minifortschreibung, bekommt man keine vernünftigen Werte?
Und was ist genug? Wir haben seit der letzten Wohnungsstättenzählung im Jahre 1970 6,6 Millionen Wohnungen mehr. Das sind 34 %, Herr Kollege Menzel. Die Bevölkerung ist im gleichen Zeitraum um knapp 1 % gewachsen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Grünbeck? Im übrigen wird das Wort zu einer Zwischenfrage von hier erteilt.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Dr. Kansy, könnten Sie mit mir übereinstimmen, daß wir noch viel mehr Wohnungen notwendig hätten, wenn wir dem Rat eines der bedeutenden SPD-Politiker aus NordrheinWestfalen gefolgt wären und die Hochhäuser alle in die Luft gesprengt hätten?
Herr Kollege Grünbeck, ich stimme Ihnen fast immer zu; auch in diesem Falle.
Meine Damen und Herren, ich will das Thema nicht bagatellisieren, aber wer hier das Wort von einer neuen Wohnungsnot in den Mund nimmt — und das tun Sie ja immer zwischen den Zeilen — , der geht
deswegen falsch, weil er vorhandene Situationen
— auf die ich gleich noch zu sprechen komme —
mit der Durchschnittsversorgung verwechselt. Deswegen führt natürlich auch der Hinweis allein, daß wir heute in einer Wohnung statistisch nur noch 2,3 statt 3,1 Personen haben — und das ist wahr —, nicht wesentlich weiter. Weil das so ist, weil der Durchschnittswert die Situation bestimmter Gruppen verdunkelt, ist staatliches Handeln für die Haushalte, die übrigbleiben, geboten; sie bleiben manchmal sogar übrig, nicht weil sie die Miete nicht bezahlen können, sondern — wie wir es gestern in der Anhörung gehört haben — weil die Vermieter sie nicht nehmen, aus was für Gründen auch immer. Sie sind im Grunde die Leidtragenden der Situation, die — ich wiederhole mich noch einmal — u. a. auftritt, weil es eine Marktreaktion gibt, obwohl wir im Wohnungsbau eigentlich keinen richtigen Markt haben. Dieser Markt reagiert natürlich anders als z. B. bei Limonadenknappheit in der Hitzeperiode. Das ist nämlich das Problem, was weder von Ihnen noch von dem Kollegen Jahn — von den GRÜNEN möchte ich jetzt gar nicht reden —
hier seriös angesprochen ist. — Ja, Frau Kollegin, wir kennen Ihre Meinung, was Eigentum und Wirtschaft betrifft. Die liegt ungefähr zwischen Karl Marx und Pippi Langstrumpf, ungefähr in der Mitte.
Die Wohnung ist nämlich nicht nur ein Sozialgut, sondern die Wohnung ist auch ein Wirtschaftsgut. Und in dieses Wirtschaftsgut sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur Milliarden, sondern Billionen von Mark investiert worden. Das muß man zur Kenntnis nehmen.
— Billionen. Mit B.
— Ich habe dem Mieterpräsidenten gerade etwas Nachilfe gegeben.
Es ist natürlich so, daß der Markt zunächst einmal sozial blind ist. Keiner von uns hat das jemals abgestritten. Der Minister hat das in Dutzenden von Artikeln geschrieben.
Wenn wir erheblich größere Kaufkraft, erheblich größere Nachfrage haben, entstehen natürlich insbesondere für diejenigen Probleme, die sich auf diesem Markt nicht allein versorgen können.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8437
Dr.-Ing. Kansy
— Herr Kollege Müntefering, ich will Ihren Zwischenruf aufnehmen; wir sind hier ja kein großes Auditorium. Ich finde es wirklich bedauerlich, daß Sie nichts Besseres tun, als diese Lage wieder unglaublich zu dramatisieren, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Ober Ihre fahrplanmäßig wiederkehrenden Horrorvisionen hatte ich schon gesprochen. Aber ich muß Ihnen einmal etwas sagen: Je intensiver Sie diese Mär von einer allgemeinen Wohnungsnot verbreiten,
um so sicherer reden Sie die Mieten in die Höhe.
Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Deswegen ist bereits Ihr erster Satz in der Großen Anfrage — ich darf zitieren: „Es gibt keine Wohnungspolitik des Bundes mehr. " —
falsch. Wir machen eine andere Wohnungspolitik als Sie,
eine Politik, die die Steuergelder — bis auf die Eigentumsförderung und die große Menge für das Wohngeld — nicht mehr in Stein und Beton gießt, auch nicht mehr, Herr Kollege Menzel — so leid es Ihnen tut, und es tut Ihnen weh, ich weiß — , in Hunderttausende verwirtschaftete Wohnungen z. B. von der Neuen Heimat, für die Sie ja eine nicht unerhebliche Mitverantwortung tragen
und die vorübergehend beim Berliner Bäckermeister gelandet waren. Damit erreichen Sie heute nicht mehr die wirklich Bedürftigen. Wir machen vielmehr eine Politik, die auf den einzelnen Bedürftigen zugeht.
Das ist eben die Idee des Wohngeldes. Wir geben dieses Jahr 4 Milliarden DM Wohngeld aus. Wenn Sie an das gestrige Hearing denken, werden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß das Wohngeld von keinem als ein wirksames Instrument in Frage gestellt worden ist.
Das Hearing hat uns aber gezeigt, daß der Staat mit der Aufgabe überfordert ist, das Wohnungsangebot zu jeder Zeit an jedem Ort und für jeden einzelnen Haushalt bedarfsgerecht zu steuern. Trotz Fehlbelegungsabgabe z. B. ergeben sich nach wie vor riesige Vorteile für gut verdienende Mitbürger, die zu Unrecht in den Wohnungen wohnen. Dagegen kommen andere, die neu auf den Wohnungsmarkt kommen — die angesprochenen jungen Familien, Studenten usw. —, nicht in die Wohnungen, weil dort eben andere wohnen.
Wir sprechen uns nicht gegen den sozialen Wohnungsbau aus.
Aber die direkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus, Herr Kollege Conradi — ich muß das wiederholen —, ist eine Aufgabe, die im Grundsatz und nach
dem Grundgesetz primär den Ländern zusteht. Wir haben sie dabei jahrzehntelang unterstützt.
Aber 1984, zur Zeit der letzten Wohnungshalden, verlangten die Ministerpräsidenten aller Bundesländer vom Bundeskanzler die sogenannte Entflechtung im Wohnungsbau mit dem Ziel, die Förderung voll durch die Länder zu übernehmen.
Richtig ist, daß die Bundesregierung daraufhin ihre Ansätze reduziert und sich auf das Wohngeld und auf die Förderung von Eigenmaßnahmen konzentriert hat.
Für uns hat sich immer die Frage gestellt: War das, was damals gemacht wurde, vernünftig? Denn es gab im Grunde keine Entscheidung. Man hatte sich damals nicht geeinigt. Deswegen wiederhole ich die Forderung: Der Bund und die Länder müssen sich jetzt wirklich als erstes kurzfristig und eindeutig darüber einigen, wer unter welchen Umständen für die Versorgung derjenigen Gruppen der Bevölkerung zuständig ist, die sich mit eigenen Mitteln nicht versorgen können. Nur, eines geht natürlich nicht: Wenn in dieser ewigen Wellensituation zwischen zu vielen und zu wenigen Wohnungen Entspannung herrscht, ziehen die Landesbauminister — auch mancher Ministerpräsident tut das — durch die Lande und segnen das Volk mit der Kompetenz, die sie eigentlich nicht so sehr brauchen;
doch wenn ein etwas schärferer Wind weht wie heute, fällt allen nur noch der Bund ein. Meine Damen und Herren, das gilt von Herrn Zöpel bis zu Herrn Stoiber. Wir sollten nicht in dieser Art und Weise mit unserem föderativ verfaßten System umgehen, daß man erst eigene Kompetenzen geltend macht, dann aber die eigenen Anstrengungen für den sozialen Wohnungsbau zurückführt. Das gilt für alle Bundesländer. Ich habe mir noch einmal die Zahlen für das letzte abgerechnete Jahr herausgesucht: Von 1986 auf 1987 haben die Bundesländer, die heute nach dem Bund rufen, von München bis nach Düsseldorf, ihre eigenen Mittel um durchschnittlich 23,6 % reduziert.
Und die sozialdemokratischen Länder, meine Damen und Herren, gehen da mit gutem Beispiel voran. Damit hier kein Mißverständnis auftritt: Auch der Freistaat Bayern war darunter, der seine Mittel reduziert hat und heute diesen Minister anklagt, daß er zuwenig getan hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jahn?
Ja.
8438 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Meinen Sie, Herr Kollege Kansy, im ernst, daß irgendeinen Wohnungssuchenden dieser alberne Kompetenzstreit wirklich interessiert?
Nein, das meine ich nicht, Herr Kollege Jahn. Aber alberne Kompetenzstreitigkeiten sind dann für die Leute von Bedeutung, wenn eine wesentliche Aufgabe wie der soziale Wohnungsbau plötzlich als Schwarzer Peter zwischen Bund und Ländern hin- und hergeschoben wird.
Das ist die Situation. Wir können Bundesmittel — der Finanzminister hat vorhin den Anteil des Bundes an dem Gesamtsteueraufkommen dargelegt — doch nur sinnvoll ausgeben, wenn die Herren Ministerpräsidenten uns erst einmal zugestehen, unter veränderten Bedingungen wieder für den sozialen Wohnungsbau zuständig zu sein. Um die Klärung dieser Frage mit den Ministerpräsidenten kommt der Bundeskanzler nicht herum. Wir werden uns dann als Fraktion dieser Verantwortung stellen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?
Bitte schön!
Meinen Sie nicht, daß die erste Vorbedingung dafür wäre, daß zunächst einmal der Bundesbauminister und die Bundesregierung ihre politische Führungsfunktion in der Frage übernehmen?
Bei Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern, Herr Kollege, selbst wenn es so ein wichtiges Gebiet wie den Wohnungsbau betrifft, ist es nach meiner Auffassung eine Verantwortung der Regierungen insgesamt. Nicht Herr Minister Schneider hat sich 1984 danach gedrängt, den sozialen Wohnungsbau loszuwerden.
Das waren in Bonn und in den Bundesländern ganz andere Leute.
Meine Damen und Herren, jetzt noch ein kurzes Wort zu der Wirtschaftlichkeitsfrage. Wir verkennen ja gar nicht, daß es trotz der verbesserten Situation auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten gibt, die die Haushalte betreffen, die z. B. erstmals eine Wohnung nachfragen oder die umziehen müssen und — wie wir gestern in der Anhörung vernommen haben — bestimmten sozialen und einkommensschwachen Gruppen angehören. Aber, meine Damen und Herren — das sage ich jetzt doch einmal an die Kollegin Oesterle-Schwerin gerichtet — , Vorstellungen, daß das im wesentlichen der Staat bewerkstelligen könnte, gehen an den Möglichkeiten vorbei.
Unabhängig von der bereits angesprochenen Wohnungsbauförderung von Bund und Ländern war eine Hauptursache dafür, daß der Neubau so wesentlich zurückgegangen ist, natürlich die Zurückhaltung privater Investoren, die Sie dauernd verteufeln. Heute deuten — das ist schon gesagt worden — alle vorliegenden Daten darauf hin, daß der private Sektor wieder zu investieren beginnt. Er tut das natürlich nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern weil er angesichts der Marktlage Renditeverbesserung erwartet. Aber, meine Damen und Herren, ich warne davor, diese normale Marktreaktion jetzt durch hektischen Aktivismus zu stören oder ihn zu verteufeln, als wenn die Leute, die im Laden Brot und Wurst verkaufen, das auch nur aus reiner Menschenfreundlichkeit machten. Wir haben nur dann eine Chance, wenn wir private Investoren in dieser Situation davon überzeugen, daß ihre Investitionen langfristig so sicher sind, daß sie ja sagen zur Investition auch im Bereich des Wohnungsbaus.
Ich möchte zusammenfassen: Wir sind uns, glaube ich, alle darüber klar, daß der Markt nicht alle Probleme lösen wird.
— Sie haben schon einmal intelligentere Zwischenrufe gemacht als „Aha".
Aber die Vorstellung, daß wir als Staat es allein leisten können, geht an den ökonomischen Realitäten vorbei. Wir sind bereit, mit einer klugen Politik zeitlich begrenzter und auf die jeweilige Situation abgestimmter Hilfen zu reagieren.
Aber wir als Bund sind nicht primär gefordert, da sind die Gemeinden gefordert, z. B. durch vermehrte Baulandausweisung — wie wir vorgestern auf einem Parlamentarischen Abend des Deutschen Verbandes gehört haben —, da sind die Länder gefordert — ich wiederhole es — durch die Wahrnehmung ihrer primären Aufgaben und endlich einmal durch eine Klarstellung, ob Mischfinanzierung oder nicht Mischfinanzierung, und vielleicht sind auch wir gefordert, wenn so entschieden wird.
Meine Damen und Herren, angesichts der tatsächlich guten durchschnittlichen Situation bei der Wohnraumversorgung, aber der erkennbaren regionalen und sektoralen Engpässe erwarte ich, daß nach der Einigung zwischen Bund und Ländern über den sozialen Wohnungsbau der Bundestag mit diesen Fraktionen reagieren wird und daß wir der Aufgabe, die der Mieterbundpräsident zu Recht angerissen hat, gerecht werden. Dies ist die Voraussetzung; kein Aktionismus, keine Verteufelung von Investoren, den Menschen wirklich helfen, damit man die Wohnung als das betrachten kann, was sie immer war und noch ist: ein Stückchen des menschlichen Lebens, aber auch ein Wirtschaftsgut.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8439
Dr.-Ing. Kansy
Unsere Aufgabe besteht nicht darin zu versuchen, einen Keil zwischen diese ambivalente Situation zu bringen, sondern alles so zusammenzufügen, daß wir künftig wieder für alle eine angemessene Wohnung haben.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Teubner.
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Guten Morgen, Herr Minister! Ist erst der Mythos etabliert, regiert sich's gänzlich ungeniert — der Mythos vom „global ausgeglichenen Wohnungsmarkt", den Sie nicht müde werden zu hätscheln, nicht erst seit dieser Legislaturperiode, aber jetzt erst recht. Man könnte Ihnen zwar zugute halten: Als Sie die Antwort auf die Große Anfrage geschrieben haben, war es erst Juni; da kannten Sie die Katastrophenmeldungen dieses Herbstes noch nicht. Aber Sie sind nicht schlauer geworden.
Gerade in der letzten Woche — in direktem Zusammenhang mit den Ergebnissen der Wohnungszählung: amtlich festgestellter Fehlbetrag von einer Million — konnte man von Ihnen lesen — Schlagzeilen von Schneider — : „Keine Wohnungsnot! Wohnungsversorgung hierzulande ausgezeichnet! " „Die Lage ist ausgezeichnet." „Nur im Einzelfall fehlt Wohnraum!" Schneider: „Wohnungsnot gibt es nicht! Versorgung ist besser als anderswo auf der Welt! "
Das ist mehr als peinlich: Das ist eine dreiste Verhöhnung von Hunderttausenden von Menschen, die Woche für Woche von Vermieter zu Vermieter rennen auf der Suche nach Wohnungen. Das ist eine Verhöhnung von Hunderttausenden, denen die Räumungsklage droht, von Zehntausenden, die schon heute überhaupt kein Dach mehr über dem Kopf haben.
Doch damit nicht genug: Diese Regierungsantwort enthält eine ganze Fülle solcher Verdrehungen der Realität. Man muß das hier wirklich einmal öffentlich zitieren; diese Drucksachen gehen oft so schnell in den Archiven unter. Vielleicht schämen Sie sich wenigstens dann, wenn Sie das hier in der Öffentlichkeit einmal hören, wenn Sie schon nicht selber merken, wie realitätsfern Sie sind.
Schon der erste Satz hier heißt:
Die Bilanz der Wohnungs- und Städtebaupolitik der Bundesregierung ist positiv.
— Ja, ich lese das gerne; die Zuhörer und Zuhörerinnen können sich, denke ich, ihren eigenen Reim darauf machen. — Dann heißt es weiter:
Die Ergebnisse ihrer erfolgreichen Wohnungs-
und Städtebaupolitik sind auf dem Wohnungsmarkt sichtbar geworden ... der Wohnungsmarkt ist global ausgeglichen.
Dann zum Mieterschutz:
Daß ein ausreichendes Wohnungsangebot der beste Mieterschutz ist, wurde für viele Mieter zur praktischen Erfahrung.
Dann weiter:
Die Bundesregierung geht davon aus, daß auch künftig der Wohnungsmarkt
— Ich kann doch nicht die ganze Drucksache vorlesen. —
auf die Angebots- und Nachfragebedingungen reagiert und sich weitgehend
— es lebe die Prognose! — spannungsfrei und flexibel fortentwickelt.
Und dann — vorläufiges Fazit — : „Die Bundesregierung sieht daher keine Veranlassung, ihre Wohnungspolitik zu korrigieren."
Die Betroffenen, wie gesagt, werden sich schon ihren eigenen Reim darauf machen.
Nun kann man mir natürlich entgegenhalten, ich hätte doch nicht im Ernst erwartet, daß die Regierung in diesem Text eine selbstkritische Bilanz ihrer gescheiterten Wohnungspolitik zieht. Sie müßte dann ja auch zu ganz anderen Konsequenzen kommen. Darf man aber so etwas wirklich nicht erwarten? Ich habe mal gelernt — man kann es auch in politikwissenschaftlichen Büchern lesen —,
parlamentarische Anfragen — und über eine solche diskutieren wir heute — sind ein wichtiges Instrument des Parlaments bei der Kontrolle der Regierung. Zwar gilt als eigentlicher Souverän im Staat das Volk. Aber man hat es ja nicht so gern, wenn es sich allzusehr und direkt in die Politik einmischt.
Dazu soll es sich, bitte schön, des Parlaments bedienen.
Was unter dieser Regierungskontrolle genau zu verstehen ist, darüber belehrt uns auch die politische Wissenschaft. Ich will Ihnen da einmal etwas aus einem Buch über Anfragen zitieren. Da heißt es:
Durch sie
— also, durch diese Kontrolle —
soll beim Kontrollierten das Bewußtsein wachgehalten werden, daß er beobachtet wird, wodurch in erheblichem Maße korrektes Verhalten bewirkt werden kann.
8440 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Teubner
Und zur Kontrollfunktion der Großen Anfragen speziell kann man lesen:
Sie dienen heute oft nicht hauptsächlich als Mittel zur Befriedigung des Informationsbedürfnisses, sondern als Antrag auf Debatteneröffnung und somit als Kontrollakt des Parlaments in Form der öffentlichen Aussprache.
Ich füge hinzu: Um ein „korrektes Verhalten" der Regierung zu bewirken. Aber die Kontrollierten brauchen sich deswegen nicht weiter beunruhigt zu fühlen.
Denn in demselben Text, den ich soeben zitiert habe, findet sich ein paar Seiten weiter die schlichte Aussage:
Die Parteivertreter gehen von vornherein davon aus, daß ihre Argumente auf ihre politischen Gegner ohne Einfluß bleiben.
Wir haben das hier heute ja auch wieder zur Genüge bewiesen bekommen. Das ist nichts Neues. Neu und immer wieder überraschend aber ist die Dreistigkeit, mit der die Regierung auf die an sie gerichteten Fragen teilweise reagiert.
Interessant sind übrigens auch die Bereiche, in denen sie Nichtwissen zugeben muß. Z. B. hat sie keine konkreten Informationen darüber, aus welchen Gründen zahlreiche Menschen, die bezugsberechtigt wären, das ihnen zustehende Wohngeld nicht in Anspruch nehmen. Nichts wissen Sie über das Problem der Verdrängung von Mietern durch Luxussanierung und Umwandlung. Keine Ahnung haben Sie von dem Umfang der Obdachlosigkeit in diesem Land. Sie hätten fragen können, Sie hätten sich kundig machen können, wären Sie an die Vertreter der Interessenorganisationen, an den Mieterbund und andere, herangegangen.
Aber das kümmert Sie einfach nicht, weil das nicht die Lobby ist, für die Sie angetreten sind.
Es kann natürlich sein, daß Sie gestern etwas dazugelernt haben. Und wenn Sie schon nicht auf die GRÜNEN hören, müßte man vermuten, daß Sie wenigstens das zur Kenntnis nehmen, was der Städtetag sagt, was die Wohlfahrtsverbände sagen, was der Mieterbund sagt: Wir brauchen ein langfristig angelegtes Wohnungsbauprogramm.
In diesem Land erwartet die Industrie in diesem Jahr Rekordgewinne. In diesem Land schwimmen die Unternehmen in Geld. Sie legen es auch in Bauten an. Die „Wirtschaftswoche" hat z. B. vor einem Jahr zitiert, daß für Frankfurt in den nächsten Jahren jährlich 150 000 Quadratmeter Fläche, Bürofläche gebaut werden. 5 bis 6 Milliarden DM werden da im Baubereich investiert werden, allein in Frankfurt.
Aber man weiß, wofür. Die Obdachlosigkeit und die Wohnungsnot werden damit nicht vermieden und nicht beseitigt. Obdachlosigkeit und Wohnungsnot in diesem Land sind eine Schande — aber nicht für die, die davon betroffen sind, sondern für die, die solches zulassen.
Ich will jetzt aber noch ein paar Anmerkungen — kritische, versteht sich — zu der SPD machen. Sie haben Ihre Anfrage unter einen recht anspruchsvollen Titel gestellt: „Für eine soziale Wohnungs- und Städtebaupolitik". Gemessen an diesem Titel finde ich das Fragenpanorama doch ein bißchen dürftig.
Demnächst wird hier ja „40 Jahre Bundesrepublik" gefeiert. Das heißt auch: 40 Jahre Wiederaufbau, verbunden mit unbeschreiblichen Verwüstungen — das wissen Sie alle — , die die Planer in den Städten hinterlassen haben.
In all den Jahren wurde aber kaum so deutlich wie heute, daß die Städte den Interessen der Wirtschaft überlassen werden. Die Wirtschaft bestimmt, wie die Räume heute gegliedert werden, wie Nutzungen verteilt werden, wie die Lebensbedingungen aussehen, unter denen die Menschen in den Städten wohnen. Jede Planung, jede Investition in den Städten, ob im Verkehr, im Kulturbereich, in der Architektur, sogar im Grünbereich, jede Investition rechnet sich heute für die Entscheidungsträger ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Standortqualität, von Stadtvermarktung.
Stadtumbau, Stadtverschönerung, das klingt alles ganz gut. Sie haben aber heute dazu geführt, daß es Stadtbilder gibt, in denen Randgruppen nicht mehr gern gesehen werden, in denen Randgruppen kaum noch vorkommen. Daraus ergeben sich Probleme, nach denen beim Thema „soziale Städtebaupolitik" auch gefragt werden muß.
Eine Stadt, die sich um Olympische Spiele oder um die Weltausstellung bewirbt, denkt natürlich lieber über teure Museumsbauten als über Freizeiteinrichtungen für die Bevölkerung nach.
Sie denkt lieber über First-Class-Hotels als über sozialen Wohnungsbau nach, sie denkt lieber über Penthouse-Dachwohnungen für zahlungskräftige Yuppies als über Ausländerinnen und Ausländer nach, die kein Dach über dem Kopf haben. Solche Städte den-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8441
Frau Teubner
ken lieber über Spielbanken als über Kinderspielplätze nach.
Hier wird zwar sogenannte Urbanität wiedergewonnen, aber erkauft durch die Ausblendung ganzer sozialer Gruppen.
In Frankfurt hat man überlegt, ob man vielleicht ganze Straßenzüge für Ausländer zu Sperrzonen erklären sollte. Früher hat man die Hochhäuser dort gehaßt, heute ist man stolz auf die Skyline. Jeder Penner, jede Prostituierte stören da nur. Auch angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie Städtebaupolitik, die sich als sozial versteht, darauf reagieren kann. Die bestehenden Planungsinstrumente haben offensichtlich nicht ausgereicht, diese neue Stadtgesellschaft, diese neue Stadt zu verhindern, die auch eine Klassengesellschaft ist, deren Mitglieder voneinander abgeschottet sind und immer mehr voneinander abgeschottet werden.
30 % aller Bundesdeutschen wohnen in Großstädten, 50 % aller Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, 50 % aller Ausländer und Ausländerinnen, 40 % aller alten Leute über 65 Jahre, 40 % aller Arbeitslosen wohnen in Großstädten. Armut in Großstädten ist eine Realität; in den Sozialetats hat sie sich längst niedergeschlagen. Auch für eine soziale Städtebaupolitik ist die Frage wichtig — das hätte meines Erachtens auch in dieser Großen Anfrage beleuchtet werden müssen.
Sind die Städte auf die Bewältigung dieser Aufgaben eingestellt? Auf welche Aufgaben müssen sie sich neu einstellen? Mit welchen Größen muß Stadtentwicklung zum Jahr 2000 hin rechnen? All das sind zentrale Fragen einer sozialen Städtebaupolitik. Die Debatte ist noch lange nicht zu Ende.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das dunkle Gemälde, das der Herr Müntefering heute morgen begonnen hat, hat Herr Jahn fortgesetzt. Wenn man daraus eine Filtration ableiten würde, könnte man sagen: das war eine Analyse und eine Prognose, die eher eine Synthese von Angstmacherei und Irrtum als irgend etwas anderes darstellt.
Die Behauptung, es fehlten nach der Volkszählung 1 Million Wohnungen, kann man natürlich so nicht aufstellen, da die Volkszählung nur hergibt, daß 1 Million Wohnungen weniger da sind, als angenommen war. Das ist der Irrtum in den Prognosen, den wir richtigzustellen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn, Herr Kollege?
Ja, gern.
Da Sie so gern flotte Bewertungen vornehmen, möchte ich Sie fragen: Wären Sie bereit, sich selber als einen Gesundbeter zu bezeichnen, Herr Kollege?
Für die Marktwirtschaft, ja. Da würde ich mich so bezeichnen lassen, aber ich würde mich nicht selbst so bezeichnen. Aber wenn Sie mir diese Ehre erweisen, dann akzeptiere ich das.
Entgegen Ihrer dunkelsten Prognosen darf ich mal die Fakten aufzählen.
In der Zeit von 1968 bis 1987 ist die Bevölkerung in der Bundesrepublik um 0,7 % gewachsen. Im gleichen Zeitraum, von 1968 bis 1987, ist der Wohnungsbestand um 33,7 % gewachsen. Von 1968 an war eine Wohnung durchschnittlich mit 3 Personen belegt, 1987 waren es noch 2,3 Personen. Und 1968 haben 24 Quadratmeter Wohnraum pro Einwohner zur Verfügung gestanden. 1987 waren es 35 Quadratmeter. Und Sie reden hier von einer schlechten Wohnraumversorgung und von einer Wohnungsnot. Ich glaube, Sie müßten sich besser orientieren.
Immer weniger Einwohner pro Wohnung bedeutet natürlich eine Neubelebung der Nachfrage. Die spüren wir im Augenblick. Der Sachverständigenrat hat ja ein eindeutiges Urteil abgegeben, nämlich daß der Markt diese Dinge besser regelt als die staatlichen Interventionen und die Reglementierungen. Und den Beweis können wir Ihnen antreten.
Der Wohnungsmarkt ist ein träger Markt. Das wissen wir alle. Da ist keine schnelle Reaktion möglich. Aber dennoch freue ich mich darüber, daß bis Ende Oktober 1988 die Wohnbaugenehmigungen um 10 % zugenommen haben, also weit über jedem Wachstum liegen, das sonst in allen anderen Branchen gegeben ist.
Und die Stabilität des Kapitalmarktes, für die diese Bundesregierung ja verantwortlich zeichnet, zieht doch mit. Diese Bundesregierung zeichnet für die Stabilität am Kapitalmarkt verantwortlich. Sie hätten vorgestern den Herrn Pfeiffer hören müssen. Er hat Ihnen mal deutlich vorgeführt, was eigentlich die Stabilität auf dem Kapitalmarkt für die Investoren und die Mieter bedeutet. Das kann man besser gar nicht belegen.
Wir brauchen — da stimme ich mit dem Kollegen Kansy ausdrücklich überein — das Vertrauen der Investoren für klare und kontinuierliche Rahmenbedingungen. Wir brauchen keinen rotgrünen Aktionismus in dieser Bundesrepublik. Der Unterschied zwischen dem Sozialdemokraten Pfeiffer und Ihnen, der SPD-Bundestagsfraktion, ist doch der, daß der Herr Pfeiffer bei seiner weltweiten Untersuchung des Wohnungsmarktes etwas dazugelernt hat. Und das ist alles. Sie
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Grünbeck
lernen einfach nichts dazu, bleiben auf Ihren alten Kisten sitzen und wissen eigentlich nicht, was Sie damit anfangen sollen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, wir haben einen guten Grund, dieser wohnungspolitischen Entwicklung, für die die Bundesregierung verantwortlich zeichnet, eine positive Benotung zu geben. Was ist denn eigentlich geschehen? Durch die Rahmenbedingungen ist der Wohnungsbau im Aufschwung.
Und nun komme ich mal zu der Bewertung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Was hat man für Horrorgemälde von Ihrer Seite und von allen anderen Seiten an die Wand gemalt, als diese Bundesregierung die Kraft hatte, die Steuerbefreiung der Wohnungsgemeinnützigkeit endlich zu beenden?
Was ist denn die Folge? Die Folge ist, daß die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften, die auf ihren Beständen sitzenbleiben wollen, jammern. Aber es gibt auch gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften, die erkannt haben, welche Chancen sie auf dem Markt haben, wenn die Wohnungsgemeinnützigkeit aufgehoben ist. Sie werden sehen, wie die jetzt in den Markt hineingreifen und sich als gute Investoren und gute Partner im sozialen Mietwohnungsbau und im Eigentumswohnungsbau betätigen.
Meine Damen und Herren, aus Ihrer sogenannten Großen Anfrage ist herauszulesen — ich dachte, ich lese nicht recht —, ob die Bundesregierung denn das Bausparen stranguliere. Ich weiß nicht, haben Sie denn eigentlich überhaupt keine Tuchfühlung mehr zu den Bausparern? Die Bausparer haben gewaltig zugenommen. Das Bausparen hatte noch nie einen so dynamischen Zuwachs, seit die Bundesregierung das Vermögensbildungsgesetz geändert, das Konten- und Versicherungssparen auf den Nulltarif gesetzt hat und das Produktivkapital und das Bausparen fördert. Jetzt haben die Bausparkassen einen wahnsinnigen Zuwachs. Und Sie reden von der Strangulierung. Sie sind doch weltfremd geworden, meine Damen und Herren! Das muß man Ihnen doch mal sagen.
Und dann sagen Sie noch, daß die Mieten stärker gestiegen seien als das Einkommen. Also, meine Damen und Herren, wir haben 1986 bis 1988 einen real verfügbaren Einkommenszuwachs von 12 % und einen realen Mietzuwachs von 6% zu verzeichnen. Und Sie drehen das genau um. Ich frage Sie doch mal ernsthaft: Wollen Sie eigentlich ewig auf dieser Angstmacherei und Verunsicherung unserer Bevölkerung sitzenbleiben? Ist es denn eine soziale und humane Politik, unsere Bürger nur zu verunsichern und aus dem Sumpf der Verunsicherung politisches Kapital zu schlagen? Ich kann Ihnen dabei nicht helfen. Da werden Sie bei Ihren Wählern kein gutes Ergebnis erzielen.
Und nun sage ich noch mal etwas zu der gestrigen Anhörung, Frau Oesterle-Schwerin. Ich war ja leider Gottes nur kurze Zeit da, weil ich im Wirtschaftsausschuß in einer anderen Debatte gebunden war. Aber, es muß hier in aller Öffentlichkeit einmal festgehalten werden, was der Sozial- oder Wohnungsreferent der Stadt Köln dort gefordert hat und wie weit diese Menschen sich von unserem Grundgesetz und unseren ordnungspolitischen Vorstellungen entfernt haben. Es ging darum, daß der Vermieter einem Mieter im Rahmen einer Räumungsklage kündigt, weil dieser nicht zahlt. Die Nichtbezahlung hat er zum Großteil mit der sogenannten Sozialschwäche des Mieters begründet. Ich weiß nicht, was er damit gemeint hat. Aber er hat ausdrücklich betont, daß einer nicht gezahlt, einen Zahlungsbefehl vom Richter bekommen und sich gar nicht gemeldet hat. Er hat dann unter Berufung auf den Art. 14 des Grundgesetzes — Sozialpflichtigkeit des Eigentums — eine Gesetzesänderung dahingehend verlangt, daß erst dann gekündigt oder die Räumungsklage vollzogen werden kann, wenn der Vermieter dem nichtzahlenden Mieter eine Ersatzwohnung beschafft hat; das sei die Aufgabe des Vermieters.
Wenn wir das in politische Realität umsetzen würden, wie wollen Sie dann noch einen Investor finden, der sich mit diesem Gesetz solidarisch erklärt? Dann müssen Sie lange nach einem Investor suchen, der sich dann bereit findet, Wohnungen zu bauen. Genau das ist es ja: Sie wollen dauernd Dinge, die im Grunde genommen die Situation dramatisch verschlechtern, aber nicht verbessern.
Herr Abgeordneter, kann ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ich nehme an, Frau Präsidentin, daß das nicht angerechnet wird.
Natürlich nicht. Herr Conradi bitte.
Herr Kollege Grünbeck, Sie haben hier eben behauptet, in unserer Anfrage sei von einer Strangulierung des Bausparwesens die Rede. Ich habe gestutzt und ich habe die Anfrage in der Hand: Bitte sagen Sie mir, in welcher Frage, in welcher Ziffer das Wort „strangulieren" des Bausparens hier vorkommt.
Ich bitte um Nachsicht, Herr Conradi, wenn ich das so formuliert habe. Ich habe in Erinnerung, daß ich formuliert habe,
daß Sie etwa das Bausparen einer Strangulierung nahesetzen, weil Sie die Quellensteuer erwähnen und weil Sie erwähnen, die Bundesregierung dränge das Bausparen zurück.
— Das war sinngemäß gemeint, und sinngemäß stimmt es schon. Es ist gut, daß Sie das jetzt erkennen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8443
Grünbeck
Ich darf, Herr Jahn, vielleicht auch noch einmal einen ordnungspolitischen Punkt nennen. Sie haben gesagt: Wohngeld schafft keinen Wohnraum.
— Nein, das ist falsch. In direkter Ansprache sage ich Ihnen, daß das falsch ist, weil natürlich viele Investoren gerne Sozialmieter aufnehmen, weil sie wissen, daß bei einer Wohngeldleistung die Vermietung möglich ist. Es ist doch klar, daß wir auch durch das Wohngeldinstrument im Grunde genommen eine Vertrauenslandschaft zwischen Vermieter und Mieter herstellen und die das Investieren erleichtern. Warum Sie das auch noch bekritteln, das weiß ich überhaupt nicht. Aber ich finde mich allmählich damit ab, daß Sie hier in der Wohnungspolitik im Grunde genommen auf dem Gleis der Orientierungslosigkeit gelandet sind. Vor lauter hektischem Aktionismus überlegen Sie eigentlich gar nicht mehr, was denn eigentlich zum Ziel führt.
Damit bin ich eigentlich am Schluß meiner Ausführungen. Im Grunde genommen, ich habe Ihnen das letztes Mal schon angekündigt, sind wir gerne bereit, über die eigentlichen Probleme der Wohnungspolitik miteinander zu reden, nämlich darüber, daß sich in den Ballungsräumen die Probleme verschärfen
und daß wir zu einer ausgewogenen Raumordnung kommen müssen. Ohne jetzt einer Adresse die Schuld zuzuweisen, sage ich: unsere Raumordnung ist eher eine Unordnung, weil wir eben im Grunde genommen keine ausgewogene Struktur mehr zwischen Ballungsräumen und ländlichen Räumen haben. Darüber reden wir gern.
— Das ist so, aber ich habe ausdrücklich keinen Vorwurf an irgendeine Adresse erhoben. Daran haben wir alle unseren Anteil. Wenn ich Ihre Große Anfrage beantwortet hätte, dann hätte ich darauf geantwortet,
daß die Große Anfrage eher eine kleine Antwort auf Ihre Orientierungslosigkeit ist.
Ich wünsche Ihnen bessere Tage.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Menzel.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Grünbeck, ich habe in den letzten Tagen aus bestimmtem Anlaß die Enzyklika Rerum novarum gelesen, und die ist ja jetzt fast 100 Jahre alt. Ich glaube, es war Leo VIII., der diese erlassen hat. Er ist geradezu ein Revolutionär, wenn
man Ihre Ansprache hört. Da wissen Sie, wie weit Sie hinter der Zeit her hinken.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! „Die Bauarbeiter wollen bauen, die Wohnungsuchenden suchen Wohnungen, die Vermieter wollen vermieten, die Investoren wollen investieren, und trotzdem klappt es nicht. "
Das sind die Worte, mit denen der Kollege Dr. Jahn 1981 — ich betone 1981 — eine Rede hier begann. Tenor seiner Rede war: Wir wollen eine andere Wohnungspolitik, weg von der Objektförderung, hin zur Subjektförderung, der Markt wird schon richten, laßt uns mal ran, dann wird alles besser werden.
In denselben Tenor stimmte damals anschließend der heutige Wohnungsbauminister, Herr Kollege Schneider, in seiner Rede ein. Das war 1981, Herr Kansy. Damals haben Sie Ihre Politik verkündet: weg von der Objektförderung, hin zur Subjektförderung, und nicht nach dem Beschluß der Ministerpräsidenten; an den war damals gar nicht zu denken.
Nach der Wende haben Sie beide, Herr Jahn als Parlamentarischer Staatssekretär und Herr Schneider als Minister, mit zu dem beigetragen, was wir heute haben, und tragen dementsprechend die Verantwortung dafür. Damals, 1981, hatten wir noch 365 000 Fertigstellungen, davon 117 900 in Mehrfamilienhäusern. 1987, also nach fünf Jahren Ihrer Wohnungspolitik, sind die Fertigstellungen auf 217 000 insgesamt und bei Mehrfamilienhäusern auf 71 000 zurückgegangen, und darunter ganze gut 17 000 öffentlich geförderte. Damals, 1981, gab es im Bauhauptgewerbe noch 59 640 Betriebe mit 1 148 000 Beschäftigten; 1987 waren es 59 030 Betriebe, also rund 600 weniger, mit 1 010 000 Beschäftigten. Das heißt, 138 000 Bauarbeiter haben durch Ihre Politik allein im Bauhauptgewerbe bis 1987 ihren Arbeitsplatz verloren.
Das sind die Realitäten Ihrer Politik. Über die Folgen dieser Politik für die Menschen, für das Schicksal der Menschen wird noch zu reden sein.
Allein diese Zahlen machen schon deutlich, daß Sie mit Ihrer Wohnungsbaupolitik gescheitert sind. Das sind keine Zahlen, die in der Parteizentrale der SPD festgestellt worden sind, sondern Zahlen, die sich aus Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage ergeben.
Ich halte für gut, daß wir über diese Anfrage diskutieren, nachdem die Ergebnisse der Volkszählung auf dem Tisch liegen, denn diese Ergebnisse zeigen viel deutlicher, wie die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist und welche Situation Sie mit Ihrer Politik herbeigeführt haben, als die Wischiwaschi-Formulierungen in der Antwort auf die Große Anfrage.
Diese Folgen, die Ihr Kabinettskollege Zimmermann nun schwarz auf weiß auf den Tisch gelegt hat,
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Menzel
können Sie weder durch Ihre manchmal an Gesundbeterei grenzenden Sonntagsreden noch durch Interpretationskünste aus der Welt schaffen. Sie schreiben in Ihrem Bericht, Herr Minister:
Die Bundesregierung verspricht sich von einer die Marktkräfte stärkenden Wohnungspolitik — letztlich auch im Interesse der einkommensschwächeren Haushalte — bessere Ergebnisse als von einer interventionistischen Wohnungspolitik, die den Staat mit der Aufgabe überfordert, das Wohnungsangebot zu jeder Zeit und für jeden einzelnen Haushalt bedarfsgerecht zu steuern.
In dieser Formulierung liegt zunächst einmal die Unterstellung, daß das irgend jemand annimmt oder irgend jemand will. Auch wir wissen, daß der Staat nicht das Wohnungsangebot für jeden Haushalt bedarfsgerecht steuern kann. Deswegen haben wir ja auch Subjektförderung und Objektförderung nebeneinander betrieben; das ist also nicht die Frage. Kernfrage ist, ob nun der Markt bei staatlicher Beschränkung auf die Subjektförderung eine bedarfsgerechte Wohnungsversorgung garantiert. Diese Politik haben Sie betrieben, und über die Ergebnisse dieser Politik für die Menschen, und zwar für die breiten Schichten, für die Einkommensschwachen, für die Familien reden wir heute.
Ihre Politik läßt im übrigen jede geschichtliche Erfahrung außer acht. Sie beachtet nicht, daß Wohnungsmangel immer zu Lasten der sozial Schwachen geht. Das Ergebnis Ihrer Politik sind fehlende Wohnungen und Schlangen von Wohnungssuchenden. Das Ergebnis ist, daß Menschen in unsrem Lande wieder in Containern leben.
Das Ergebnis ist, daß die Mieten an der Spitze der Preisentwicklung stehen und Ihr Parteifreund, Herr Minister, und wohnungspolitischer Sprecher der CSU-Fraktion, Herr Schön, von einem explosionsartigen Anstieg der Mieten spricht. Das ist das ungeschönte Ergebnis Ihrer Politik, meine Damen und Herren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Gern.
Herr Abgeordneter Geis, bitte.
Herr Kollege Menzel, stimmen Sie mit mir darin überein, daß wir trotz des Gemäldes, das Sie eben gemalt haben, in der Bundesrepublik Deutschland die beste Wohnungssituation aller westlichen Industrieländer haben?
Es ist richtig. Sie leben noch von der Substanz, die wir geschaffen haben.
— Wenn Ihnen nichts anderes mehr einfällt und Sie ganz am Ende sind, schreien Sie: Neue Heimat. Das ist wirklich nicht sehr geistreich.
Wenn Sie es mit Ihrer Politik „Der Markt wird es schon richten, und der Staat garantiert durch das Wohngeld, daß jeder eine bedarfsgerechte Wohnung beziehen kann" ernst meinen, meine Damen und Herren, dann muß der Wohnungsbauminister doch ganz schnell die Beine in die Hand nehmen, zum Finanzminister laufen, höhere Ansätze für das Wohngeld beantragen und hier eine Novelle zum Wohngeldgesetz vorlegen, die den veränderten Verhältnissen Rechnung trägt.
Wir wissen doch, daß die letzte Anpassung schon nicht ausreichend war. Schon der letzte Wohngeld- und Mietenbericht zeigte, daß 30,5 %, d. h. jeder dritte Mietzuschußempfänger, wegen des Höchstbetrages nicht das Wohngeld erhalten, das sie eigentlich erhalten müßten, um zu verhindern, daß der Mietanteil einen bestimmten Anteil am Einkommen überschreitet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Ja.
Lieber, verehrter Herr Kollege Menzel, ist Ihnen anläßlich des Wohngeld- und Mietenberichtes der Bundesregierung in Erinnerung, daß die Kollegen aus Ihrer Fraktion bemängelt haben, daß sich die Bundesregierung sozusagen rühmt, daß sie das Wohngeld erheblich aufgestockt hat, und daß das eigentlich ein Zeichen einer schlechten Wohnungspolitik wäre? Wenn wir jetzt das Wohngeld noch einmal aufbessern, müßten wir dann nicht befürchten, daß Sie die Bundesregierung noch schlechter machen, als das schon jetzt der Fall ist?
Also, Herr Kollege Grünbeck, ich kann Ihren Gedankengang schlecht nachvollziehen. Wir haben schon bei der Vorlage des letzten Wohngeld- und Mietenberichtes darauf hingewiesen, daß wir die Umstrukturierung für richtig halten, daß aber die Anhebung des Wohngeldes zu gering war.
Nun will ich fortfahren. Sie klammern sich an die Durchschnittszahlen. Wir wissen, daß die durchschnittliche Wohnkostenbelastung von 1982 bis 1987 um 2 % gestiegen ist. Das ist aber nicht das Ausschlaggebende; viel entscheidender ist, daß — da müssen doch auch bei Ihnen die Alarmglocken schellen — bei den unteren 40 % der Einkommenspyramide die Mietbelastung einschließlich Nebenkosten bereits 31 % des Einkommens ausmacht.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8445
Menzel
Wenn bei Ihnen hier nicht die Alarmglocken schrillen und der Minister jetzt keine neue Novellierung des Wohngeldgesetzes vorlegt, dann frage ich mich, ob Sie selber noch an den Erfolg Ihrer Politik glauben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege, von Frau Rönsch?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege, gestatten Sie mir auch zwei Zwischenfragen? Frau Präsidentin, ist das erlaubt?
Vielleicht eine nach der anderen.
Eine nach der anderen; anders ist es mir auch nur schwer möglich.
Herr Kollege Menzel, Sie konnten gestern bei unserer Anhörung leider nicht da sein. Würden Sie vielleicht die Freundlichkeit haben, bei Ihren Kollegen nachzufragen: Es wurde gestern von 20 % der Mietbelastung gesprochen, die gerade die unteren Einkommensschichten zu erbringen haben. Wir hatten gestern Experten da; da wurden diese Zahlen genannt.
Jetzt kommt die zweite Frage: Herr Kollege Menzel, Sie stimmen mit Sicherheit mit mir überein, daß die Mieten gerade bei den billigeren Wohnungen gestiegen sind. Sind Sie mit mir nicht auch der Meinung, daß durch die Modernisierung, die wir gerade im sozialen Wohnungsbau und bei den gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften durchgeführt haben, ein natürlicher Mietanstieg wegen der besseren Wohnraumausstattung zwingend notwendig war?
Lassen Sie mich mit der Antwort auf Ihre letzte Frage beginnen: das heißt doch nicht, daß deswegen das Wohngeld nicht angepaßt werden muß. Damit haben Sie die Antwort auf Ihre letzte Frage.
Zur zweiten Frage: Ich stütze mich auf einen Experten, der einen guten Überblick hat, auf den Vorsitzenden des Verbandes der Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen, Herrn Steinert. Er hat diese Zahlen nämlich verkündet.
Es ist doch geradezu hilflos, Herr Minister, und es geht auch an den Tatsachen vorbei, wenn Sie in Ihrem Bericht den anhaltenden Anstieg des verfügbaren Einkommens als Ursache — wie Sie es nennen — für das Anziehen der Wohnungsnachfrage nennen. Richtiger müßte es heißen, daß dies die Ursache für die Wohnungsnot ist.
Ich kenne keinen der 2,1 Millionen Arbeitslosen und keinen Sozialhilfeempfänger, bei dem in den letzten Jahren das Einkommen gestiegen wäre. Im Gegenteil, meine Damen und Herren von der CDU:
Diese Leute haben Sie in den letzten Jahren doch geradezu geschröpft.
Es ist zwar richtig, wenn Sie in Ihrer Antwort schreiben, ein ausreichendes Wohnungsangebot ist der beste Schutz vor willkürlicher Kündigung und unangemessenen Mieterhöhungen, bloß: Sie handeln nicht nach dieser Erkenntnis. Sie sind von einem ausreichenden Wohnungsangebot weiter weg als je zuvor. Sie haben doch die Ihnen 1982 übergebene Substanz verwirtschaftet. Sie haben den traurigen Ruhm, mit Ihrer Politik eine Situation herbeigeführt zu haben, in der Menschen in unserem Lande wieder in Containern leben. Versuchen Sie sich doch nicht mit gestiegenen Aussiedlerzahlen herauszureden. Hätten Sie die erfolgreiche Wohnungspolitik der SPD und FDP bis 1982 weiterbetrieben und fortgesetzt, wären Sie nicht aus dem sozialen Wohnungsbau ausgestiegen, dann wäre den Menschen in unserem Lande das Fiasko, in Containern hausen zu müssen, erspart geblieben.
Aber das scheint Sie kalt zu lassen. Denn Sie erklären ja ausdrücklich, daß Sie Ihre verfehlte Politik fortsetzen wollen.
Das grüne Lämpchen leuchtet. Wieviel Zeit habe ich noch?
Eigentlich nur noch eine halbe Minute.
Herr Kansy,
Ihr Zwischenruf bedeutet, daß Sie die Probleme und die Nöte der Menschen, die Wohnungen suchen und keine finden, nicht erkennen. Da Sie sie nicht erkennen, sind Sie auch nicht in der Lage, die richtige Politik zu betreiben.
Recht schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Möller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen und auch in der Diskussion heute wird wieder von der angeblichen Wohnungsnot gesprochen.
8446 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr. Möller
Der Kollege Menzel hat hier Horrorgemälde gezeichnet.
Es wird sofort nach einem neuen staatlichen Wohnungsbauprogramm in Milliardenhöhe gefragt. Das sind, meine Damen und Herren, die Ladenhüter der vergangenen Zeit.
Die kosten viel Geld und bringen in der Sache nicht viel weiter.
Die CDU/CSU-Fraktion wird sich dieser Forderung nicht anschließen. Wir wollen nämlich eine dauerhafte, gute Wohnungsversorgung für alle Menschen in unserem Land. Dazu ist jedoch ein Mammutprogramm im sozialen Wohnungsbau nicht erforderlich.
Es wäre vielmehr für eine dauerhafte Wohnversorgung schlecht und schädlich.
Die Wohnung ist ein wirtschaftliches Gut — wir haben es eben wieder gehört — , das seinen Preis hat. Die Bundesrepublik ist gerade auf dem Weg zu einem funktionierenden Wohnungsmarkt, der global ausgeglichen ist. Mittlerweile hatten wir sogar eine längere Phase einen Mietermarkt. Wenn jetzt das Wohnungsangebot in manchen Regionen knapper zu werden scheint oder, wie einige meinen, knapper zu werden droht, ist das kein Zeichen dafür, daß der Wohnungsmarkt versagt hat. Die Ursachen liegen vielmehr in der gestiegenen realen Kaufkraft, die durch diese Regierung herbeigeführt wurde. Sie liegen in den steigenden Wohnansprüchen. Sie liegen in der ständig steigenden Zahl der Haushalte. Sie liegen auch in der Übervorsicht der privaten Investoren, denen die Leerstände noch „in den Knochen" sitzen. Sie liegen an der Zeitverzögerung zwischen Investitionsentscheidungen und ihrer Verwirklichung.
Daß eine Reaktion vorhanden ist, zeigt die steigende Zahl der Baugenehmigungen, die wir zu verzeichnen haben. Die Neuauflage eines großen Sozialwohnungsbauprogramms würde diesen Markt empfindlich stören oder verzögern. Es würde die privaten Investoren verunsichern und wegen der längeren Anlaufzeit der öffentlichen Verwaltung den Boom verstärken, mit all den negativen Folgen, die wir kennen.
Meine Kollegen von der SPD, wir teilen die Auffassung des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, der von einem früheren Wohnungsbauminister geführt wird, „daß der Markt am besten geeignet ist, für breite Schichten der Bevölkerung eine sachgerechte Verteilung von Wohnraum zu regeln". Das ist ein Wort, auch von diesem Verband.
Dem stimmen wir voll zu.
Wir bekennen uns zu sozial ausgerichteter Wohnungspolitik; denn die Wohnung ist auch ein soziales Gut. Familien, Bürger, die sich aus eigener Kraft eine angemessene Wohnung nicht beschaffen können, haben gegenüber der Gemeinschaft einen Anspruch auf Hilfe. Diese Hilfe wird bei uns in der Bundesrepublik Deutschland in der Form des Wohngeldes gewährt. Wir haben das eben gehört. Etwa 2 Millionen Haushalte empfangen Wohngeld.
Die durchschnittliche Leistung beträgt etwa 145 DM pro Monat, die an die Wohngeldempfänger gezahlt werden.
Meine Damen und Herren, durch die Steuerreform wurden die Wohngeldleistungen sogar noch verbessert. Bei der Berechnung des für das Wohngeld maßgebenden Einkommens werden in Zukunft nicht nur 564, sondern 2 000 DM abgezogen.
Dies führt zu einer weiteren Anhebung des Wohngeldes für die einfachen Schichten unserer Bevölkerung.
Es ist immer wieder — und das haben wir eben auch vom Kollegen Jahn gehört — zu hören, daß mit dem Wohngeld keine einzige zusätzliche Wohnung errichtet werde. Diese Kritik liegt einfach neben der Sache. Wenn die Wohnkaufkraft gestärkt wird, hat dies auf Dauer auch Auswirkungen auf die Angebotsseite. Deswegen ist gerade das Wohngeld von ganz besonderer Wichtigkeit.
Wir bekennen uns dazu, daß das Wohngeld auch immer wieder an die entsprechende Miet- und Einkommensentwicklung angepaßt werden muß.
Meine Damen und Herren, ich räume ein, daß das Wohngeld nicht alle sozialen Probleme bei der Wohnungsversorgung lösen kann.
Es gibt Bevölkerungsgruppen mit Zugangsschwierigkeiten zum Wohnungsmarkt. Hier nützt kein noch so groß angelegtes Sozialwohnungsbauprogramm. Solche Programme würden, wenn sie weitergeführt würden, zu Ghetto-Bildung führen und nicht zur Integration bestimmter Bevölkerungsgruppen beitragen. Für diese Bevölkerungsgruppen — das haben wir auch gestern in einem Teilbereich erfahren — genügt es nicht, nur eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8447
Dr. Möller
Eine intensive rechtzeitige Beratung und Betreuung muß hinzukommen. Das hat das Hearing gestern erbracht.
Es handelt sich hier um eine Aufgabe an der Nahtstelle zwischen Wohnungspolitik und Sozialpolitik, individueller Sozialpolitik. Hier müssen die Kommunen durch Kooperationsverträge zwischen den Wohnungsbaugesellschaften und den Trägern anderer Gruppierungen tätig werden.
Ich meine, daß das ein vernünftiger Weg ist, den wir einzuschlagen haben.
Ich meine, auch die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen haben dabei ein wichtiges Betätigungsfeld.
Hier können sie beweisen, daß sie ihren Grundsätzen der Gemeinnützigkeit treu bleiben wollen und treu geblieben sind.
— Die Wohnungsgemeinnützigkeit, Herr Kollege, ist nicht abgeschafft, sondern nur das Gesetz ist abgeschafft. Die gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften haben sich ausdrücklich verpflichtet, an der Wohnungsgemeinnützigkeit festzuhalten. Daran sollten wir sie festbinden.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Wohneigentum sagen: Auch die Förderung des Wohneigentums kann die soziale Wohnungspolitik ergänzen. Die steuerliche Förderung muß unbedingt beibehalten werden. Die Eigentumsquote ist in den letzten Jahren auf 42 % gestiegen.
Wer Wohneigentum erwirbt, macht Wohnraum frei, der dann für andere zur Verfügung steht. Ich glaube, daß das eine vernünftige Politik ist.
Ein letzter Punkt: Wir müssen die Städte und Gemeinden weiterhin unterstützen in ihrer Aufgabe der Erneuerung und Sanierung unserer Heimat.
Die städtebauliche Erneuerung in Stadt und Land — das haben wir gemeinsam beschlossen, meine Kollegen — ist eine der großen Zukunftsaufgaben unseres Landes. Das haben diese Regierung und diese Koalition rechtzeitig erkannt. Die Städtebauförderung wurde verdreifacht. Ihre Regierung, die SPD-Regierung, hatte nur 220 Millionen DM bereitgestellt, jetzt stehen 660 Millionen DM zur Verfügung.
Die Städtebauförderung muß weitergeführt werden. Dadurch werden die Kommunen befähigt, alte Wohnungsbestände wieder bewohnbar zu machen,
das Wohnumfeld zu verbessern und Bauland bereitzustellen.
Die Städte und Gemeinden müssen auch die planerischen Voraussetzungen für mehr Neubauinvestitionen schaffen. Ich glaube, daß das Baugesetzbuch dafür einen klaren und guten Rahmen gegeben hat.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion hat sich für die sozial orientierte Wohnungsmarktwirtschaft entschieden. Es wäre kurzsichtig, das Heil wieder in dirigistischen Eingriffen zu suchen. Dem werden wir uns entschieden widersetzen und an der erfolgreichen Politik der letzten Jahre festhalten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Conradi, um Zeit zu sparen.
— Das können Sie leider nicht bestimmen, Herr Kollege.
Dann will ich aber festhalten, Frau Präsidentin: Wir könnten nach den Worten des Ministers erneut die Debatte eröffnen. Wir halten es für einen unguten Stil, daß die Minister immer versuchen, hier das Schlußwort zu haben, und zwar entgegen der Geschäftsordnung.
Bei einer Großen Anfrage der SPD will die SPD hier die abschließende Bewertung vornehmen. Aber ich folge gern Ihrer Aufforderung und rede jetzt.
Wer die Erklärung des Ministers hört: „Es gibt keine Wohnungsnot; es gibt nur regionale Versorgungsengpässe", der fragt sich: Wo lebt dieser Minister? Was für Zeitungen liest dieser Minister? Wer informiert diesen Minister? Mit wem redet dieser Minister? Wie ist es möglich, daß ein Minister in dieser Republik so weit von der Realität entfernt ist?
Waren Sie, Herr Wohnungsbauminister, in den letzten Jahren ein einziges Mal beim Wohnungsamt oder beim Sozialamt einer deutschen Großstadt?
Haben Sie, Herr Wohnungsbauminister, ein einziges Mal mit einer wohnungsuchenden Familie mit Kindern in Nürnberg, in München oder in Stuttgart oder in Frankfurt geredet?
8448 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Conradi
Waren Sie, Herr Wohnungsbauminister, einmal in einer Schwangerschaftsberatungsstelle, und haben Sie einmal mit einer jungen Frau geredet,
die sich fragt, wie sie als Alleinerziehende für sich und ihr Kind eine Wohnung finden soll?
Haben Sie, Herr Wohnungsbauminister, einmal mit einer Rentnerin geredet, die von einem Wohnungsmakler aus der Wohnung herausgedrückt wird, damit diese gewinnbringend verkauft werden kann? Es gibt allein in Stuttgart 1 500 Umwandlungsfälle dieser Art im Jahr.
Nein. Sie haben nichts von alldem getan. Das alles interessiert Sie nicht. Die Wohnungsnot läßt Sie kalt. Ihre Antwort „Es gibt nur regionale Versorgungsengpässe" ist eine kalte Bürokratenantwort. Unter dem Zeichen von Glasnost dürfte so etwas heute nicht einmal ein Wohnungsminister in der Sowjetunion vortragen.
Mit dem Wort „sozial" in Ihrem Parteinamen hat das alles nichts mehr zu tun.
Was Sie hier als CSU-Minister exekutieren, ist die eiskalte Politik der FDP,
nämlich die gewerbliche — —
— Wenn Sie das so aufregt, dann habe ich Sie offenbar an einer wunden Stelle erwischt.
Sie wollen im Interesse der gewerblichen Wohnungswirtschaft, der Banken und der Versicherungen, für die Herr Lambsdorff hier, wie er selbst sagt, „als Abgeordneter mit privatwirtschaftlichen Interessen" tätig ist: die Mieten hochtreiben. Und die Mieten hochtreiben kann man am besten, wenn das Angebot verknappt wird.
Etwas Zurückhaltung bitte. Die Redezeit ist begrenzt!
Sie argumentieren mit Durchschnitts- und Prozentzahlen. Ein echter Prozentminister! Es stimmt ja, daß die Mehrheit bei uns so gut und so groß wohnt wie nie zuvor. Da sind wir überhaupt nicht im Streit.
Aber rechtfertigt es diese Tatsache, sich von den Problemen von Minderheiten wie ein Pharisäer kalt
abzuwenden und zu sagen: im Durchschnitt sind die Leute gut untergebracht?
Sie rühmen sich der höchsten Wohngeldzahlungen in dieser Republik. Das ist richtig. So hoch waren die noch nie. Das hat Dr. Möller soeben noch einmal vorgetragen.
Aber was besagen denn diese Wohngeldzahlungen anderes, als daß eine wachsende Zahl von Menschen eine angemessene Wohnung nicht mehr bezahlen kann?
Sich dieser Wohngeldzahlungen zu rühmen, ist so pervers, wie wenn Herr Blüm sich als Arbeitsminister der hohen Zahlungen für die Arbeitslosen als Erfolg seiner Politik rühmen würde.
Der Bauminister verhält sich ähnlich wie der Fürst Potemkin. Nur: Der Rhein ist nicht die Wolga, und Helmut Kohl ist nicht Katharina, und „der Große" wird er auch nicht. Der Bauminister verweist wie Potemkin auf die prozentualen Steigerungen der Baugenehmigungen. Nur kann man in Prozenten nicht wohnen, Herr Minister, und in Baugenehmigungen kann man auch nicht wohnen.
Ihre Art von Prozentrechnung ist unseriös, weil Sie verschweigen, daß Sie von der niedrigsten Neubaubasis seit Bestehen dieser Republik ausgehen.
Das kann man doch jedem leicht erklären: Wenn 10 Wohnungen da sind und 1 dazugebaut wird, ist das Wachstum 10 %. Wenn 100 Wohnungen vorhanden sind und 1 wird zusätzlich gebaut, ist das Wachstum 1 %. Beide Male ist es nur 1 Wohnung. Das sind Potemkinsche Rechnungen, die der Minister hier vorträgt.
Warum nennt er nicht die wirklichen Zahlen? Warum sagt er nicht, daß die starken Geburtsjahrgänge jetzt auf den Wohnungsmarkt kommen? Warum sagt er nicht, daß wir durch Trennungen und Scheidungen eine wachsende Zahl von Haushalten versorgen müssen?
Warum sagt er nichts davon, daß die anhaltende hohe Arbeitslosigkeit dazu führt, daß Menschen ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8449
Conradi
Warum sagt er nichts davon, daß alte Menschen zunehmend keine passenden Wohnungen mehr finden?
— Nein, nein; wir reden hier über seine Antwort — —
— Also, verehrter Herr Kollege Link, wir können uns ja hier anblödeln. Das machen Sie im Augenblick.
Wir reden hier über die Antwort dieses Ministers auf unsere Große Anfrage und wenn ich frage: „Warum sagt er nichts davon?", sollten Sie mir nicht mit solchen Zwischenrufen dazwischengehen.
Nun kommen noch 200 000 Aussiedler in diesem Jahr dazu, möglicherweise eine Million bis 1990. Die Umsiedler will ich gar nicht erst erwähnen. Würde die DDR unseren Forderungen entsprechen und mehr Freizügigkeit gewähren, was würde da erst bei uns geschehen!
Ihr Wohnungsbauprogramm für die Aussiedler ist völlig unzureichend. Es wirft sozialen Sprengstoff in unsere Städte. Das haben Ihnen Herr Stoiber, Herr Späth und Herr Rommel gesagt, nur Sie begreifen es nicht. In Stuttgart ist mehreren Aussiedlerfamilien eine renovierungsbedürftige aber preiswerte Altbauwohnung angeboten worden. Alle haben mit der Begründung abgelehnt, sie hätten Anspruch auf eine Neubauwohnung aus dem sozialen Mietwohnungsbau. Daraufhin wurde die Wohnung Einheimischen angeboten. Es gab mehr als 20 Interessierte, und drei Stunden später war die Wohnung an ein einheimisches Paar vermietet. Das, Herr Minister, schafft böses Blut.
Was sollen wir den Menschen sagen, die in unsere Sprechstunde kommen und uns vorhalten, die Bundesregierung baue ja nur für Aussiedler. Was sollen wir den Menschen sagen, die uns fragen, ob man aus Polen kommen muß, um hier endlich zu einer angemessenen Wohnung zu kommen?
Ihre dickfällige Weigerung
anstelle des unzureichenden Aussiedlerwohnungsbauprogramms den sozialen Mietwohnungsbau in den Städten für alle, nämlich für Einheimische und für Aussiedler, wieder aufzunehmen, schafft in unseren Städten sozialen Unfrieden. Da helfen auch die frommen Sprüche des Herrn Bundeskanzlers nicht, wir sollten die Aussiedler mit offenen Armen empfangen. Was ist denn von diesen Sprüchen zu halten, wenn der Bundesfinanzminister und der Bundeswohnungsbauminister nicht mit offenen Armen dastehen, sondern die Bundeskasse mit beiden Händen fest zuhalten.
— Ach, Herr Grünbeck, Geld ist doch da. Sie geben jedes Jahr über 20 Milliarden DM für die steuerliche Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums aus, aber für den sozialen Mietwohnungsbau haben sie null Mark.
Keine Prozentschneiderei führt daran vorbei, daß wir in der Bundesrepublik rund eine Million Wohnungen weniger haben als bisher angenommen. Der Wohnungsbauminister ist nicht nur realitätsblind, er kann wohl auch nicht rechnen. Wenn Sie irgendeinen Fachmann fragen, wird er Ihnen sagen, daß heute kein vernünftiger Mensch sein Geld im Wohnungsbau anlegt, weil es lohnendere Möglichkeiten der Kapitalanlage gibt; fragen Sie Herrn Lambsdorff, von Geld versteht er was.
Jeder Fachmann wird Ihnen sagen, neue Wohnungen können Sie heute nur bauen
für Mieten von 20 DM naßkalt, also mit Wasser ohne Heizung. Darunter kriegen Sie keine rentierliche Miete, d. h. der Markt schafft keine Wohnungen für die Leute, die eine Wohnung für eine vernünftige Miete suchen.
Bitte, Herr Kollege!
Zu einer Zwischenfrage Herr Abgeordneter Geis.
Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die Zahl der Genehmigungen für Wohnungen um 10 T. zugenommen hat, und die Zahl der Genehmigungen für Mehrfamilienhäuser in diesem Jahr um 30 % zugenommen hat?
Ich habe Ihnen schon vorhin gesagt: bei Prozenten kommt es immer auf die Basis an. Wenn Sie von der niedrigsten Fertigstellungsrate seit Beginn dieser Republik reden, dann sind natürlich die Prozentzuwächse bei den Neubaugenehmigungen beträchtlich. Nur, noch einmal: Weder in diesen Prozentsätzen noch in den Genehmigungen kann man wohnen. Wohnen kann man nur in einer Wohnung. Aber die gibt es nicht.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Gattermann?
Ich gestatte gerne eine Frage des Herrn Kollegen Gattermann.
Herr Kollege Conradi, was die Potemkinschen Berechnungen mit dem Basiseffekt betrifft, so frage ich Sie: Können Sie mir einen Baujahrgang seit 1951 nennen, bei dem die Fertigstellungsrate — in absoluten Zahlen — niedriger als im Jahre 1987 war?
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Aus der Großen Anfrage, die sich auf Ihrem Platz befindet, können Sie die Fertigstellungsraten ersehen. Sie werden feststellen, daß wir seit Ihrer Regierungsübernahme, also seit 1982, einen ständigen Rückgang der Zahl der Fertigstellungen zu verzeichnen und daß wir inzwischen einen Tiefstand erreicht haben. In keinem Sechs-Jahres-Zeitraum seit 1949 hat es so wenige Neubauwohnungen wie in Ihrer Regierungszeit gegeben.
— Weil der Markt allein keine Wohnungen zu erschwinglichen Mieten zustande bringen kann, muß der Staat eingreifen. Sie nehmen es doch sonst mit der Marktwirtschaft nicht so genau: Nach den Gesetzen der Marktwirtschaft, Herr Minister, verkauft sich kein Airbus. Da muß der Steuerzahler satt mitzahlen. Aber wenn die Marktwirtschaft beim Wohnungsbau versagt, dann soll der Staat nicht helfen. Das ist eine unsoziale Politik.
Hören Sie auf mit Ihren Prozentrechnungen. Hören Sie auf mit Ihren Durchschnittswerten. Hören Sie auf mit Ihren Sprüchen von den heilsamen Marktkräften. Herr Wohnungsbauminister, tun Sie endlich, was Ihres Amtes ist. Tun Sie, was Sie in Ihrem Amtseid geschworen haben, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Kehren Sie zurück zur Mitverantwortung des Bundes für die Wohnungspolitik. Unsere gute Wohnungsversorgung ist doch kein Ergebnis der Marktwirtschaft, sondern ein Ergebnis des Zusammenwirkens von Staat und Markt. Jahrzehntelang wurde diese Wohnungspolitik von uns gemeinsam getragen. 1980 haben Sie diese Gemeinsamkeit aufgekündigt. Seitdem ziehen sich die Bundesregierung und die CDU/CSU/FDP Schritt um Schritt aus der Mitverantwortung für die Wohnungspolitik zurück. Wir sind der Meinung: der Staat ist dafür verantwortlich, daß nicht nur die große Mehrheit, Herr Minister, sondern daß auch die Minderheit, daß jeder Mensch in dieser Republik eine angemessene gute Wohnung findet.
Das Wort hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Herr Dr. Schneider.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe lange aufmerksam zugehört, und ich will dieser etwas polemischen Debatte wieder einen sachlichen Zug geben. Lassen Sie mich daher feststellen: Das Konzept der Bundesregierung ist eine marktwirtschaftliche, sozial abgesicherte Wohnungspolitik. Die Zwischenbilanz dieser Regierung nach sechs Jahren ist eindrucksvoll. Übrigens, meine Damen und Herren: Fast auf den Tag genau vor sechs Jahren, nämlich am 10. Dezember 1982, fand im Deutschen Bundestag die Debatte über das Wohnrechtsänderungsgesetz statt.
— Damals habe ich vorausgesagt, daß sich die Mieten in etwa parallel zu den Einkommen entwickeln werden. Ich habe mich getäuscht.
Die Einkommenszuwächse sind doppelt so hoch wie die Mietsteigerungen.
Ich habe mich zugunsten der Mieter getäuscht. Damals haben Sie von Mietsteigerungen in Höhe von 70 %, 80 % und 100 % gesprochen. Wir konnten im Jahre 1987 die geringsten Mietsteigerungen in unserem Lande seit 25 Jahren, seitdem es überhaupt den Mietenindex gibt, verzeichnen. Dies ist ein sozialer Erfolg, und es ist vor allen Dingen ein sozialer Erfolg für die sozial Schwächeren in unserem Lande.
Ich stelle ohne Wenn und Aber fest — Kollege Conradi, das hat mit Prozentschneiderei gar nichts zu tun — :
Wir haben quantitativ und qualitativ die beste Wohnraumversorgung, die es jemals in der Bundesrepublik Deutschland, in Deutschland insgesamt gegeben hat.
Wir haben die soziale Absicherung durch die letzte Wohngelderhöhung wesentlich verbessert. Die Wohngeldnovelle hat etwas ganz Neues gebracht: Sie hat die Wohngelderhöhung im wesentlichen an die jeweilige Miethöhe gekoppelt, und dies ist der Grund dafür, weshalb wir das Wohngeld in der Amtszeit dieser Bundesregierung, in sechs Jahren, um 100% steigern konnten. Im Durchschnitt erhält jeder Bezieher von Wohngeld monatlich etwa 145 DM.
Sowohl die allgemeine Wohnungsversorgung als auch die sozialpolitischen Hilfen für Einkommensschwache werden von unseren Nachbarländern als einmalig und beispielhaft angesehen. Meine Kollegen in Großbritannien, Frankreich und Italien beneiden uns um die Leistungsfähigkeit unseres Mietwohnungsmarktes.
Seit einigen Tagen liegen nun die Ergebnisse der Wohnungs- und Gebäudezählung vor. Meine Damen und Herren, an die SPD und vor allem an die GRÜNEN gerichtet: Daß die Zahlen so spät vorliegen, haben nicht die CDU/CSU und die FDP zu verantworten, nicht die jetzige Bundesregierung, sondern Sie mit Ihrem Protest.
Diese Zahlen liefern erstmalig den objektiven und unbestechlichen Leistungsnachweis für unsere Politik. Seit der letzten Zählung im Jahre 1968, seit 20 Jahren, hat die Zahl der Wohnungen um 33,7 zugenommen, aber die Bevölkerungszahl hat nur eine Zuwachsrate von 0,7 %. Was entscheidend ist: In die
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Bundesminister Dr. Schneider
Wohnfläche pro Einwohner ist auch jeder Ausländer,
jeder Aussiedler, jeder Zuwanderer mit eingerechnet. Ich muß zunächst einmal mit globalen Zahlen rechnen. Auf die wohnungspolitische Verantwortung des Bundes und der Länder werde ich noch eingehen. Das muß im Deutschen Bundestag debattiert werden. Wir haben hier eine gemeinsame Verantwortung,
und vieles was zu beklagen ist — was ich auch beklage —, kann nicht vom Bund her korrigiert werden, sondern das muß vor Ort korrigiert werden.
Die Wohnfläche pro Kopf ist von 24 qm im Jahre 1968 auf 35 qm bis heute gestiegen.
Das ist ein Zuwachs von rund 50 %. Wann in der Geschichte ist diese Leistung jemals erzielt worden? In welchem Land der Erde, in Euorpa, in den Industriestaaten, haben wir eine gleiche Wohnflächenquote wie in der Bundesrepublik Deutschland?
Die nüchternen Fakten bestätigen: Wir haben insgesamt — pauschal und global — eine ausgezeichnete Wohnungsversorgung.
Daran kann es keinen Zweifel geben.
Ich habe immer darauf hingewiesen, daß es regionale Engpässe und daß es in Einzelfällen auch Fälle der individuellen Wohnungsnot gibt.
Einer meiner Mitarbeiter hat mir eben einen Zeitungsbericht, ein Interview mit mir, aus der „Süddeutschen Zeitung" vom 29. Juni 1988 vorgelegt. Und was steht darin?
Da wird gesagt: Wir müssen mehr bauen, und wir müssen auch den sozialen Wohnungsbau fortsetzen. Es kann doch davon gar keine Rede sein, daß sich die Bundesregierung aus dem sozialen Wohnungsbau verabschieden möchte.
Es kann davon doch gar keine Rede sein,
daß ich nicht Jahr und Tag gefordert habe: Wir müssen zwischen 250 000 und 300 000 Wohnungen
bauen. — Jetzt hören Sie mir ganz gut zu! Als ich vor
wenigen Jahren wegen dieser Sache massiv angegriffen worden bin,
als es geheißen hat, 150 000 Wohnungen reichten aus und keine Mark öffentliche Förderung mehr, weil ich sonst die Enteignung mit Steuerpfennigen finanzieren würde, da habe ich keine SPD-Stimme gehört, die mir zur Seite getreten ist.
Dann ein weiteres: Warum wurde nicht mehr gebaut?
Herr Bundesminister, darf ich Sie vorher fragen, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einen Augenblick. — Warum wurde nicht mehr gebaut? Es wurde deshalb nicht mehr gebaut, weil wir die große Leerstandsdiskussion hatten. Der Skandal „Neue Heimat" war doch zum Teil auch eine Leerstandsdiskussion.
Und der Kollege Zöpel aus Nordrhein-Westfalen hat keinen anderen Ausweg gewußt, als zu erklären: Wir sprengen die leerstehenden Wohnhochhäuser in die Luft.
— Nein, ich habe von in die Luft sprengen überhaupt nichts gesagt. Im Gegenteil, ich habe ein Programm aufgelegt zur sozialen Integrierung, zur städtebaulichen Verbesserung, zur wohnungswirtschaftlichen Nutzung. Ich habe geholfen, und andere wollen Dynamit anlegen.
Herr Bundesminister — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr Reschke, Sie haben eine Zwischenfrage.
Herr Minister, sie haben die „Süddeutsche Zeitung" in die Diskussion eingeführt, und ich will daraus eine Schlußfolgerung ziehen, die ich gleich sagen will. Ich will zunächst vier Äußerungen
— die vierte bezogen auf die „Süddeutsche Zeitung" — zitieren und Sie fragen: Stimmen Sie mir zu, daß Sie im Grunde genommen das größte Investitionshemmnis für den Wohnungsbau sind, weil keine Orientierung mehr da ist? Ich will aus Ihrer Regierungserklärung am 20. Mai 1987 vor dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zitieren.
— Die Frage kommt. Ich begründe sie gerade. Ich zitiere: „Noch nie in der Geschichte der Bundesrepu-
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Reschke
blik Deutschland war der Wohnungsmarkt in einer so ausgezeichneten Verfassung wie heute."
Das war, wie gesagt, im Mai 1987. Am 3. Dezember 1987 haben Sie davon gesprochen, daß wir eine Sättigung hätten, weil die Nachfrage nicht mehr gegeben sei.
Am 4. Dezember 1987, einen Tag später, schrieben Sie an den Finanzminister:
... und möchte noch einmal mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hinweisen, daß auch Wohnungsbauinvestitionen in das erweiterte Kreditprogramm hineinkommen müssen.
Kommen Sie jetzt bitte zur Frage!
Am 29. Juni 1988 zitiert Sie die „Süddeutsche Zeitung" : „Ein sozial bedrohlicher Wohnungsmangel liegt vor, wenn die Investitionen nicht gesteigert werden."
Meine Frage an Sie: Sind Ihre widersprüchlichen Aussagen nicht mittlerweile Anlaß zu der Feststellung, daß das größte Wohnungsbauinvestitionshemmnis in der Bundesrepublik diese Regierung und dieser Wohnungsbauminister sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ihre Frage macht mich lachen, heißt es bei Faust.
Ich lasse die Zahlen, die Daten und die Fakten sprechen und bleibe dabei: Noch zu keinem Zeitpunkt hat es — das habe ich immer wieder gesagt — eine global, quantitativ und qualitativ so großartige Wohnungsversorgung in Deutschland wie heute gegeben. Ich füge hinzu, daß das Problem darin besteht, daß wir innerhalb eines Jahres, vielleicht innerhalb von eineinhalb Jahren eine auseinanderklaffende Schere zwischen wachsender Nachfrage und dem Angebot am Markt haben. Hier gibt es immer eine gewisse Zeitverschiebung von zwei bis drei Jahren. Mit diesem Problem haben wir es zu tun. — Jetzt darf ich fortfahren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte um Verständnis, wenn ich mit Rücksicht auf die knappe Zeit und auf die Tagesordnung keine weiteren Fragen mehr zulasse.
Ich sehe die Probleme, wie ich es in der „Süddeutschen Zeitung" deutlich erklärt habe — ich habe mich damals eingehend auf München eingelassen — , sehr wohl und weiß genau, was dort passiert. Alle Fragen, Herr Kollege Conradi, die Sie rhetorisch an mich gerichtet haben, könnte ich mit Ja beantworten.
Ich weiß auch, welche Aufgaben wer dort wahrzunehmen hat, und ich verweise auf die gemeinsame Kompetenz des Bundes, der Länder und eben auch der Gemeinden.
Ich darf Ihnen einige Zahlen nennen. Auch wenn die allgemeinen wirtschaftlichen und wohnungswirtschaftlichen Bedingungen richtig gesetzt sind, wird es einzelne Personen und Gruppen mit sehr unterschiedlichen Problemen geben, um die sich Städte und Gemeinden im Einzelfall kümmern müssen. Das kann nach der Verfassungslage der Bundesbauminister überhaupt nicht tun. Nach Bekanntgabe der ersten Wohnungszählergebnisse sind merkwürdige Schlagzeilen aufgetaucht. Es wurde von einer „Wohnungsnot" geredet, von einer Million verschwundener Wohnungen. Dies alles ist natürlich rhetorischer Quatsch. Alle Experten wissen, daß die Fortschreibung des Wohnungsbestandes zu erhöhten Zahlen führt. Ich habe immer gesagt, daß die Zahlen nicht stimmen. Ich habe es immer beklagt, daß wir keine exakten Zahlen haben. Zusammenlegungen, Selbstnutzung von Einliegerwohnungen durch Eigentümer, Umwidmungen und dergleichen mehr werden von der laufenden Statistik nicht vollständig erfaßt. Die Wohnungspolitik des Bundes hat schon zu Zeiten der sozialliberalen Koalition nicht mehr mit dem fortgeschriebenen Wohnungsbestand operiert.
Die statistisch nicht erfaßten Abgänge sind aber mit gut 50 000 Wohnungen pro Jahr allerdings geringer, als von uns erwartet, ausgefallen. Die Wohnflächen sind weitgehend erhalten geblieben. Aus der statistischen Korrektur des Wohnungsbestandes abzuleiten, daß plötzlich eine Million Wohnungen fehlten, wäre genauso abwegig wie die Forderung, in München müßten 27 000 Wohnungen abgerissen werden, weil dort 27 000 Wohnungen mehr gezählt wurden, als nach der Fortschreibung vorhanden sein dürften. Das sind doch paradoxe Fragestellungen. Die Wohnungsprobleme in München haben sich auch nicht dadurch gelöst, daß in den Wohnungen 90 000 Menschen weniger leben, als es in der Fortschreibungsstatistik angegeben wurde. In meiner Heimatstadt Nürnberg beispielsweise ist die Bevölkerung durch Abwanderung in den Jahren 1973 bis 1987 um 44 000 zurückgegangen. In der gleichen Zeit wurden in der Stadt 27 000 Wohnungen zusätzlich gebaut. Im Jahre 1973 hatten wir eine Leerstandsdebatte; heute heißt es, wir hätten eine Wohnungsnot. Wir haben natürlich im einzelnen echten Bedarf,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8453
Bundesminister Dr. Schneider
und es gibt auch beklagenswerte Einzelfälle von Wohnungsnot, in denen die öffentliche Hand helfen muß.
Dafür setzen wir ja den sozialen Wohnungsbau fort. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich daran erinnern, daß nach dem Gesetz der Bund verpflichtet ist, im Jahr 150 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau bereitzustellen.
Er stellt aber im Jahr 1989 nicht 150 Millionen DM, sondern 1,05 Milliarden DM bereit. Das ist also fast das Siebenfache von dem, was wir leisten müssen. Richtig ist, was schon vor dem Bekanntwerden der Volkszählungsdaten am Wohnungsmarkt sichtbar wurde: In den letzten Jahren ist die Nachfrage nach Wohnraum deutlich stärker gestiegen als das Angebot. Es wurden pro Jahr über 50 000 Wohnungen zuwenig gebaut. Der Grund liegt allerdings auf der Hand. Die verfügbaren Einkommen breiter Schichten der Bevölkerung sind in den letzten drei Jahren real um 12 To gestiegen; in absoluten Beträgen sind das annähernd 150 Milliarden DM jährlich.
Diese Einkommenssteigerung ist Ausdruck einer erfolgreichen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik und einer erfreulichen Wirtschaftsentwicklung, eine Entwicklung, die wir alle miteinander eigentlich nicht als Problem beklagen wollen.
Wir wollen uns ja darüber freuen, daß die deutschen Bürger in den letzten drei Jahren 150 Milliarden DM mehr in ihre Taschen bekommen haben.
Diese Verelendungstheoretiker haben immer unrecht gehabt. Sie werden auch in dieser Frage durch die Wirklichkeitsentwicklung widerlegt werden.
Es ist eine altbekannte Erfahrung, daß steigende Einkommen auch für mehr Wohnkonsum genutzt werden. Die Angebotsausweitung auf den Wohnungsmärkten hat mit diesem Nachfragewachstum nicht Schritt gehalten. Das ist wahr. Noch vor wenigen Jahren bin ich von Politikern und Verbänden gescholten worden, ich würde die Wohnungsnachfrage überschätzen. Andere hielten damals lediglich noch 150 000 neue Wohnungen pro Jahr für notwendig. Angesichts geringer Leerstände wurden in unserem Land damals Abrißprämien gefordert. Von dem Vorschlag, sie in die Luft zu sprengen, habe ich schon geredet.
Leider hat der Markt sofort reagiert, als sich die Mieten wieder verändert haben.
Seit über einem Jahr aber zeigt der Trend bei den Baugenehmigungen deutlich nach oben, zuletzt mit zweistelligen Zuwachsraten und besonders stark im
Geschoßwohnungsbau. Der Wohnungsbau ist wieder zum Wachstumsmotor unserer Wirtschaft geworden.
Darüber sollten Sie sich freuen. Ich habe geglaubt, hier vorweihnachtliche Freudengesänge zu hören. Was höre ich: eine miesepetrige Verelendungstheorie.
Von den knapp 220 000 Wohnungen, meine Damen und Herren, die in diesem Jahr fertiggestellt werden dürften, werden 180 000 ohne jede Förderung im sozialen Wohnungsbau errichtet.
Die steigenden Genehmigungszahlen und Auftragseingänge kommen ausschließlich von den privaten Investoren. Ich bin sicher, daß die privaten Investoren ihr Engagement noch deutlich verstärken werden. Anerkannte Experten, die bisher immer recht behalten haben, rechnen für 1990 wieder mit einem Fertigstellungsvolumen von mindestens 280 000 Wohnungen — ohne neue Programme. Dies sage ich mit Blick auf all diejenigen, die meinen, der Staat müsse jetzt eine generelle Angebotslücke schließen. Wir brauchen ein riesiges soziales Wohnungsbauprogramm in Milliardenhöhe.
— Danke! Mieterbund, Gewerkschaften, GRÜNE fordern Hand in Hand 10 Milliarden DM pro Jahr für 100 000 neue Sozialwohnungen.
— Wer solche Vorschläge macht, meine Damen und Herren, sollte zuerst bei seinen Parteifreunden, auch bei der SPD, nachfragen, ob die jeweiligen Landesregierungen und Landtage überhaupt bereit wären, die entsprechenden Landesmittel aufzubringen.
— Mit großem Stolz sogar. Unter meiner Amtszeit hat es die geringsten Mietsteigerungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gegeben.
Unter meiner Amtszeit ist die beste Wohnungsversorgung erreicht worden. Unter meiner Amtszeit können sich die Leute für das Wohnen am meisten leisten. Unter meiner Amtszeit gibt es über 25 Millionen Bausparverträge mit einer Bausparsumme
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Bundesminister Dr. Schneider
von über 890 Milliarden DM. Das ist Weltspitzenleistung.
Meine Damen und Herren, wir werden nicht den Fehler von Anfang der 70er Jahre wiederholen. Damals wurde auf Grund der Wohnungs- und Gebäudezählung, nämlich auf Grund von 800 000 statistisch weggefallenen Wohnungen, ein großes soziales Wohnungsbauprogramm aufgelegt. Mit dem Programm wurde der Bauboom 1972/73 noch angeheizt. Zinsen, Baupreise, Baulandpreise wurden hochgetrieben, und dann mußte die Bundesregierung nach dem Motto stop and go eine Vollbremsung vornehmen. § 7 Abs. 5 und § 7 b wurden damals bekanntlich ausgesetzt.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird handeln. Ich werde für Januar 1989 die Investoren, die Mieter, die Vermieter, die Architekten, die Kapitalanleger, die Länder, die Städte und Gemeinden zu einer wohnungswirtschaftlichen Konferenz nach Bonn einladen.
Ziel dieser Konferenz ist eine konzertierte Aktion zur Steigerung des Wohnungsbaus, zur Mobilisierung der Privatinitiative und zur abgestimmten solidarischen Hilfe für Haushalte mit besonderen Problemen.
— Ich habe nie behauptet, daß alles in Ordnung ist. Ich habe lediglich die Zahlen, Daten und Fakten, die sich aus der Volks- und Wohnungszählung ergeben, vorgetragen und habe sie verantwortlich, insbesondere in sozialer Verantwortung, zutreffend interpretiert.
Ich bedanke mich für diese engagierte Debatte zur Wohnungspolitik. Ich deute sie positiv dahingehend: Die Sozialdemokraten werden daraus die richtigen Schlüsse ziehen und werden den Bundesbauminister bei seiner Wohnungsbaupolitik, die dazu führt, daß wir in Zukunft im Jahr 50 000 bis 80 000 Wohnungen mehr bauen, nach besten Kräften unterstützen, zumal in den Ländern, in denen sie regieren, und in den Gemeinden, in denen sie über Mehrheiten verfügen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:
10. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts zu der Verordnung der Bundesregierung
Zustimmungsbedürftige Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1989
— Drucksachen 11/3477, 11/3676 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sprung
b) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bericht des Bundesrechnungshofes gemäß § 99 BHO über Risiken für den Bundeshaushalt aufgrund neuerer Entwicklungen beim Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes
— Drucksache 11/2858 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers für Wirtschaft
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1985 —
— Drucksachen 10/6784, 11/2172 —
Berichterstatter: Abgeordneter Esters
d) Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes
„Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1986 —
— Drucksache 11/1508 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8455
Vizepräsident Frau Renger
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Kohlevorrangpolitik
— Drucksache 11/3284 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stratmann, Dr. Daniels und der Fraktion DIE GRÜNEN
Ersatz des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer
— Drucksache 11/3655 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 75 Minuten vorgesehen, d. h. es gibt keine Mittagspause. — Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitz .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute über die Verordnung der Bundesregierung über die Erhöhung des Prozentsatzes der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz. Diese Verhandlungen sind sehr schwierig gewesen. Die Vorlage dieser Verordnung und der sich abzeichnende Kompromiß sind für uns eine tragfähige Grundlage. Für das Jahr 1989 wird dadurch zunächst einmal das weitere Anwachsen des Defizits des Verstromungsfonds abgemildert.
Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß die Tatsache der Erhöhung der Ausgleichsabgabe von 7,25 % auf 8,5 % dazu führt, daß die Belastungen für die Stromverbraucher mit rund 1 Milliarde DM anzusetzen sind und daß die Unternehmen, die deutsche Steinkohle verstromen, im Jahre 1989 auf Grund des Jahrhundertvertrages rund 6 Milliarden DM einnehmen.
Meine Damen und Herren, die Diskussion der letzten Tage hat gezeigt, daß es hier Grenzen der Belastbarkeit gibt. Wer dies leugnet, der gibt sich einer Selbsttäuschung, einer Illusion hin. Auch in diesem Zusammenhang — ich sage das ganz bewußt als Nordrhein-Westfale — gibt es eine Schmerzgrenze; ist sage das völlig emotionslos. Dies müssen alle Beteiligten sehen.
Es hat sich herausgestellt, daß die Energiepolitik, auch der Einsatz der Steinkohle, eines gesamtwirtschaftlichen, wenn nicht sogar eines nationalen Konsenses bedarf.
Glaubenskriege — ich sage das hier ganz eindeutig — haben noch keinen einzigen Arbeitsplatz im Bergbau gesichert — keinen einzigen!
Ich darf hinzufügen, meine Damen und Herren, daß sowohl der Bundeskanzler wie auch die CDU/CSU-Fraktion ganz erhebliches Verständnis dafür haben, daß die Bergleute Sorgen haben. Aber wir müssen an die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen und gleichermaßen an die an der Saar appellieren, die Belastbarkeit der Gefühle auch der revierfernen Länder nicht überzustrapazieren. Dies müssen wir in aller Deutlichkeit sagen.
Es wäre im Grunde genommen für die Anhebung des Kohlepfennigs kein Problem, hier eine breite Mehrheit herzustellen, wenn nicht von diesen Ländern die Gefahr ausginge, daß der Kohle-KernkraftVerbund auf der einen Seite aufgekündigt wird und auf der anderen Seite verlangt wird, wir müßten den Strompfennig anheben.
Beides gleichzeitig führt dazu, daß wir uns gegenseitig ins Abseits stellen. Dies ist in der Sache nicht richtig und dient auch den Bergleuten nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man muß auch Herrn Rau, der heute erklärt, er wolle Gespräche mit den EVUs führen,
sagen, daß er das längst hätte tun können.
Man muß aber gleichzeitig auch den EVUs sagen — meine Damen und Herren, lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen — : Wenn hier schon Einnahmen getätigt werden, dann könnt ihr als Elektrizitätsversorgungsunternehmen euch nicht eurer sozialen und ökonomischen Verantwortung entziehen.
Wenn wir jetzt den Kohlepfennig anheben, fordern wir auch in aller Deutlichkeit, daß die Länder Nordrhein-Westfalen, Saarland und auch alle anderen Länder einen Beitrag dazu leisten, die Stabilisierung des Ausgleichsfonds durch eigene Beiträge zu erreichen. Wir meinen auch, meine Damen und Herren, daß — sicherlich notwendige — Einsparungen nicht dazu führen dürfen, daß der Revierausgleich und die Sonderregelung für die niederflüchtige Kohle zur Folge haben, daß Unternehmen dort gefährdet werden.
8456 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Schmitz
Dies, meine ich, muß bei allen Verhandlungen berücksichtigt werden.
Als letztes, meine Damen und Herren, fordern wir, daß diese Verhandlungen — Bund, Länder und EVUs gleichermaßen einbezogen — auf hohem Niveau und mit einem großen Maß an Kompromißbereitschaft auf allen Seiten geführt werden. Dies ist Voraussetzung dafür, daß wir wieder zu einem nationalen Konsens in der Energiepolitik zurückkehren können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jung.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren!
Vordergründig geht es in dieser Debatte, die wir sozusagen in letzter Minute führen, um die Höhe des Kohlepfennigs für das Jahr 1989.
In Wirklichkeit geht es aber darum, eine Politik zu vereiteln, die den Jahrhundertvertrag noch vor dem Ende seiner Laufzeit im Jahre 1995 aus den Angeln heben will.
Es geht letztlich darum, der deutschen Steinkohle, der einzigen heimischen Energiequelle von Bedeutung, ihren Platz in unserer Energieversorgung zu sichern. Ich glaube, daß es dafür in diesem Hause eine Mehrheit gibt. Ob sie sich aber über die Parteigrenzen hinweg durchsetzen kann, ist die eigentlich offene Frage.
Wenn es nur darum ginge, die Höhe des Kohlepfennigs für das nächste Jahr festzusetzen, dann wäre die Angelegenheit ganz einfach: Wir müßten nur § 8 des Dritten Verstromungsgesetzes anwenden, der vorschreibt, daß sich die Höhe der Ausgleichsabgabe und damit die Einnahmen des Verstromungsfonds nach den voraussehbaren Ausgaben zu richten haben.
Uns ist natürlich bewußt, daß der Kohlepfennig in diesem Fall auf mehr als 11% festgesetzt werden müßte. Das fordern wir nicht. Wir fordern es ausdrücklich nicht, weil uns klar ist, daß uns dies von einem möglichen Konsens noch weiter entfernen würde.
Aber man muß an dieser Stelle doch auch einmal sagen: Wenn der Bundeswirtschaftsminister den Kohlepfennig für die Jahre 1986 und 1987, nachdem die Weltmarktpreise für Öl, Erdgas und Importkohle zusammengebrochen waren und der Dollar-Kurs so drastisch abgesunken war, rechtzeitig und gesetzeskonform angehoben hätte, wenn er die Bugwelle von nicht erfüllten Ausgleichsansprüchen der Energieversorgungsunternehmen, die sich in diesem Jahr auf mehr als 6 Milliarden DM summieren, nicht so hätte anwachsen lassen,
dann würde heute ein Kohlepfennig zwischen 8 und 9 To ausreichen, um die zukünftigen Ansprüche zu erfüllen.
Das hat der Bundeswirtschaftsminister nicht getan.
Das hat er bewußt nicht getan, das hat er nicht gewollt.
Im Gegenteil: Auf der Wirtschaftsministerkonferenz im Oktober 1987 in Mettlach hat Herr Bangemann — gegen den Widerstand der Bergbauländer — sogar den Beschluß durchgedrückt, den Kohlepfennig bis 1995 schrittweise auf 4% abzusenken.
Damit hätte das Defizit des Verstromungsfonds auf 20 Milliarden DM anwachsen können. Und dabei sollte das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages möglichst aufrechterhalten werden.
Ich betone ausdrücklich: möglichst, d. h. nur wenn es geht.
Das haben viele Kenner der Materie als Quadratur des Kreises bezeichnet. Zu keinem Zeitpunkt hat Herr Bangemann alle Beteiligten an einen Tisch zu holen versucht, um ein Gesamtpaket zu schnüren, das bis zum Ende des Jahrhundertvertrages halten könnte. Er hat vielmehr versucht, die Beteiligten gegeneinander auszuspielen, und damit ist er im September konsequent gescheitert, als die Elektrizitätswirtschaft ihre Bereitschaft zur Mitfinanzierung der Verstromungsregelung zurückgezogen hat. Erst danach kam dem Bundeswirtschaftsminister die Einsicht, daß es notwendig ist, den Kohlepfennig anzuheben. Wäre Herrn Bangemann diese Einsicht früher gekommen, dann hätte er schon in diesem Jahr eine gute Chance gehabt, mit der Elektrizitätswirtschaft zu einem Solidarbeitrag zu kommen.
Als zusätzliche Finanzierungsquelle ist ihm eingefallen, den Revierausgleich aus dem Verstromungsfonds herauszunehmen und die Zuschüsse für die niederflüchtige Kohle zu streichen. Mit dieser Regelung würden die Länderhaushalte von Nordrhein-Westfalen und dem Saarland, die ohnehin schon hohe Lasten
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8457
Jung
zur Stützung der Kohle zu tragen haben, noch weiter belastet werden.
Weiter: Diese Regionalisierung der Kohlelasten lehnen wir ab. Ich möchte hier ausdrücklich sagen, daß wir den Punkt 6 der Begründung der Verordnung nicht mittragen. Wir lehnen ihn ab, sowohl in der alten Formulierung wie auch in der nachgeschobenen Formulierung.
Auch die nachgeschobene Begründung steht nicht im Einklang mit der nationalen Aufgabe, unsere Energieversorgung zu sichern, und ist deswegen auch verfassungsrechtlich bedenklich, worauf der Bundeswirtschaftsminister von seinen eigenen Beamten hingewiesen worden ist. Außerdem würde mit dieser Regelung ein neuer Subventionstatbestand geschaffen werden, der im Licht der Wettbewerbsregeln der Europäischen Gemeinschaft — anders als das Verstromungssystem — angreifbar ist.
Meine Damen und Herren, als die Verstromungsregelung 1980 beschlossen wurde, war das Konzept eigentlich ganz klar: Die Finanzierungslasten der Kohleverstromung sind von den Stromverbrauchern zu tragen und nicht von den öffentlichen Haushalten, schon gar nicht von Landeshaushalten. Weiter sollte die Kohle reviernah, d. h. in der Nähe der Lagerstätten verstromt werden. Wenn einige Bundesländer, an der Spitze Bayern und Niedersachsen, nunmehr seit 2 Jahren gegen dieses System Sturm laufen, dann stellen sie die Geschäftsgrundlage des Jahrhundertvertrages und auch des Dritten Verstromungsgesetzes in Frage.
Ihrem Argument, Sie müßten den teuren Kohlestrom von der Saar und von der Ruhr mit bezahlen, halten wir mit Helmut Schmidt entgegen,
daß die Steuerzahler in den anderen Bundesländern die horrenden Subventionen mitfinanziert haben, die in den vergangenen Jahrzehnten zur Entwicklung und Errichtung von Kernkraftwerken auch in Niedersachsen und Bayern gezahlt wurden.
Hier besteht ein sehr enger Zusammenhang.
Die Politik des Bundeswirtschaftsministers läßt doch nur zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: Entweder ist Herrn Bangemann wirtschaftspolitisches Unvermögen vorzuwerfen,
oder es muß ihm die Absicht unterstellt werden, die Finanzierungsschwierigkeiten des Verstromungsfonds mutwillig herbeigeführt zu haben.
Welche Interpretation auch richtig ist,
es steht fest: Der Bundeswirtschaftsminister hat alle Beteiligten in höchstem Maße verunsichert, die Elektrizitätswirtschaft, den Steinkohlebergbau, dem jede verläßliche Planungsgrundlage genommen wurde, die Bergbauregionen und nicht zuletzt die Bergleute und ihre Familien. Er hat auf diese Art und Weise auch die Regierungskoalition fast gespalten, die sich ihrer Mehrheit zeitweilig nicht mehr sicher sein konnte, die in dieser Frage ihre Regierungsfähigkeit fast verloren hätte.
Ich sage dazu: wirklich kein starker Abgang des Bundeswirtschaftsministers. Man kann sich durchaus vorstellen, daß auf keiner Seite dieses Hauses so richtige Traurigkeit darüber aufkommt.
Die CDU-Landesgruppe in Nordrhein-Westfalen hat in Übereinstimmung mit uns Anfang November eine langfristige Regelung im Rahmen des Jahrhundertvertrages gefordert, die den Revierausgleich und die Kosten für niederflüchtige Kohle im Ausgleichsfonds beläßt. Aber die Koalitionsbeschlüsse von Mitte November haben ihre Forderungen nicht berücksichtigt. Und in den vergangenen Wochen mußte man auch mit ansehen, wie ein Landesvorsitzender Blüm, der übrigens an keiner Koalitionsrunde beteiligt war,
die nicht gewollten Beschlüsse wie saures Bier angepriesen hat. In diesem trickreichen Spiel reichen halt hehre Forderungen nicht aus, meine Damen und Herren von der CDU in Nordrhein-Westfalen. Sie müssen schon ein bißchen mehr tun, um die Interessen Ihres Landes durchzusetzen.
Sie sind es nämlich, die darüber entscheiden, ob die Regierungskoalition noch über eine Mehrheit verfügt oder nicht — nicht wir, die Opposition.
Wenn wir der Verordnung heute zustimmen, dann darf das allerdings nicht falsch verstanden werden.
Wir stimmen den 8,5 To zu, weil jede Erhöhung des Kohlepfennigs die Finanzierungsschwierigkeiten des Verstromungsfonds abmildert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Blüm?
8458 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Ja, gestatte ich, wenn die Zeit nicht angerechnet wird, Frau Präsidentin.
Herr Kollege, wie werden Sie mit der Tatsache fertig, daß ich an jeder Koalitionsrunde teilgenommen habe?
Dann bin ich falsch informiert, Herr Kollege.
Wenn der Kohlepfennig längerfristig auf mindestens 9 % angehoben wird, wird bei gleicher Bemessungsgrundlage davon ausgegangen, daß der Revierausgleich und die Erschwerniszuschläge für niederflüchtige Kohle im Ausgleichsfonds verbleiben.
Wir stimmen diesem Prozentsatz zu, weil er jetzt neuen Verhandlungsspielraum eröffnet, um Lösungsmöglichkeiten zur Entlastung des Verstromungsfonds auszuloten.
Die Verabredung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und dem Saarland, gemeinsam die Verhandlungen mit den Energieversorgungsunternehmen wieder aufzunehmen, ist in unseren Augen das wichtigste Ergebnis des Gesprächs vom vergangenen Montag im Kanzleramt.
Eine der Vorbedingungen der Elektrizitätswirtschaft dafür, einen zusätzlichen Beitrag zur Kohlefinanzierung zu leisten, nämlich die Anhebung des Kohlepfennigs, wird heute beschlossen werden. Nun ist es an der Elektrizitätswirtschaft, das Angebot einzulösen, eine Plafondierung des Ölausgleichs, des größten Ausgabepostens des Verstromungsfonds, zu akzeptieren.
Meine Damen und Herren, wir empfehlen dem zukünftigen Bundeswirtschaftsminister, von den Verhandlungstricks und der falschen Politik seines Vorgängers Abschied zu nehmen. Herr Haussmann übernimmt zwar in der Kohlepolitik einen Scherbenhaufen, aber er hat auch eine gute Chance zu einem Neuanfang. Dabei sollten von Anfang an alle Beteiligten — insbesondere die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und dem Saarland und auch die IG Bergbau und Energie — einbezogen werden. In den Vordergrund sollte die Versorgungssicherheit gestellt werden. Daran bemißt sich der Einsatz der heimischen Steinkohle.
Meine Damen und Herren, die Kohlevorrangpolitik muß wieder ein unbestrittenes Element unserer Energiepolitik werden. Anders werden Sie mit den Sozialdemokraten keinen neuen energiepolitischen Konsens — ich betone: keinen neuen energiepolitischen Konsens — erreichen können.
Schönen Dank!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Jung, das einzige, was ich zu Ihren Ausführungen sagen möchte, ist, daß der Herr Kollege Haussmann am morgigen Tag keinen Scherbenhaufen, sondern einen Haldenbestand in zweistelliger Millionenhöhe übernehmen wird.
Meine Damen und Herren, die FDP stimmt dem Vorschlag der Bundesregierung zur Erhöhung der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1989 auf 8,5 % zu. Auch uns fällt diese erneute Erhöhung der Belastungen der deutschen Stromverbraucher nicht leicht. Sie ist jedoch im Interesse der Sicherung der Energieversorgung notwendig. Wir lassen uns dabei von zwei Grundüberlegungen leiten.
Erstens. Der Jahrhundertvertrag ist ein langfristig angelegtes privatwirtschaftliches Vertragswerk mit energiepolitischer Bedeutung. Er wird daher vom Dritten Verstromungsgesetz flankierend unterstützt. Die Bundesregierung und die FDP stehen zu dieser vertraglichen Regelung.
Zweitens. Der Jahrhundertvertrag und das Dritte Verstromungsgesetz sind als eine Versicherung gegen Energieknappheiten auf dem Weltmarkt angelegt. Das bedeutet umgekehrt aber auch, daß in Zeiten des Energieüberflusses die Kosten überproportional ansteigen.
Trotzdem ist festzuhalten, daß die Bundesrepublik Deutschland angesichts des immensen Rückgangs unserer gesamten Öl- und Gaspreise und durch den Energiepreisverfall auf den Weltmärkten unter dem Strich noch immer beachtlich entlastet wird. Dies rechtfertigt auch wirtschaftlich, eine vertretbare Versicherungsprämie für unsere einzige nationale Energiereserve auch in Zukunft zu leisten.
Dreh- und Angelpunkt des Jahrhundertvertrages bleibt freilich der bundesweite energiepolitische Konsens. Der Einsatz der teuren deutschen Steinkohle kann nach wie vor in der Stromrechnung nur dann aufgefangen werden, wenn preisgünstige andere Energiearten wie Kernenergie oder Braunkohle in der Grundlast für einen insgesamt vertretbaren Mischpreis sorgen.
Erschwert wird dieser politische Kurs allerdings durch das ständige Störfeuer — diese Bemerkung kann ich der Opposition nicht ersparen —, mit dem die SPD-regierten Länder die im Jahrhundertvertrag festgelegte Linie des politischen Konsenses unterlaufen.
Meine Damen und Herren, ein kurzfristiger Ausstieg aus der Kohle ist ebensowenig möglich wie ein solcher aus der Kernenergie.
Kohle und Kernenergie, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben in den vergangenen Jahren ihren Anteil an der Stromerzeugung ausgeweitet. Immerhin ist der Anteil der Steinkohle in der Verstromung in den letzten zehn Jahren von knapp 24 % auf knapp 30 % gestiegen. Eine Verdrängung der Kohle durch
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8459
Beckmann
die Kernenergie findet also nicht statt und wird von uns politisch auch nicht zugelassen. Alles Gerede, diese Koalition lasse den Ausbau der Kernenergie auf Kosten der Kohle zu, ist unverantwortlich und vollständig unfundiert. Im Gegenteil, wir haben mit unserer Energiepolitik erreicht, daß die Importenergien Öl und Gas aus der Verstromung zurückgedrängt werden konnten. Das war ein vorrangiges energiepolitisches Ziel. Die deutsche Kohle hat offensichtlich und unwiderlegbar von dieser Verdrängung profitiert.
Meine Damen und Herren, in den nächsten Jahren wird der Bergbau wegen der Absatzrückgänge im Wärmemarkt und im Stahlbereich noch über das bisherige Ausmaß hinaus einem erheblichen und tiefgreifenden Anpassungsprozeß unterworfen werden.
In der Kohlerunde 1987 ist der Abbau von weiteren 30 000 Arbeitsplätzen mit allen Beteiligten vereinbart worden. Es gibt keinen Anlaß, bereits jetzt in eine neuerliche Kohlerunde zur nachträglichen Verschärfung dieses Ergebnisses einzutreten. Damit würden wir den Weg des Konsenses und der sozialen Verträglichkeit ohne Not verlassen. Unsere Linie bleibt es, den Bergleuten wie bisher ehrlich und ohne Illusion zu sagen, wohin der Weg gehen wird, andererseits aber auch Augenmaß und soziale Verantwortung gegenüber den Kumpeln zu zeigen, indem wir die Anpassung weiterhin sozial flankieren.
Nun, meine Damen und Herren, die Signale, die der Aufsichtsratvorsitzende der Ruhrkohle ausgesandt hat, haben wir mit Erstaunen empfangen.
Die Erklärung der IGBE vom 6. Dezember dazu zeigt aber, daß es sich bei diesen Vorschlägen durchaus nicht um die einvernehmliche Haltung aller im Bergbau Beteiligten handelt. Zwar verstehen wir das Begehren des Bergbaus, endlich Investitions- und Planungssicherheit bis zum Jahr 2000 zu erlangen, dies ist aber mit einem solchen einsamen Vorstoß nicht zu erreichen. Wir fordern daher Unternehmen und Gewerkschaften auf, weiterhin über die Situation der Kohle nachzudenken und realistische Vorschläge zu machen.
Meine Damen und Herren, unsere Stromrechnung ist im Vergleich zu anderen Ländern erheblich angestiegen und wird auch im nächsten Jahr mit der Anhebung des Kohlepfennigs noch einmal teurer.
Klipp und klar muß festgehalten werden: Das Ende der Fahnenstange ist damit erreicht. Weitere Belastungen können Bund, Länder und Stromverbraucher nicht mehr tragen. Die revierfernen Länder — darauf ist schon hingewiesen worden — haben schon jetzt erhebliche Probleme, ihren Bürgern klarzumachen, warum die Belastungen noch weiter steigen, ohne daß dort heimische Kohle verstromt würde.
Wir müssen somit gemeinsame Wege gehen und gemeinsame Wege suchen, um die Belastungen in Zukunft einzugrenzen. Darum unterstützen wir auch den Versuch der Bundesregierung, den Ölausgleich nach dem Dritten Verstromungsgesetz zu plafondieren. Dazu bedarf es natürlich der Zustimmung der Elektrizitätswirtschaft.
Nun appellieren wir, die FDP-Fraktion, an die Energieversorgungsunternehmen, die in diesem Jahr begonnenen und bisher leider erfolglosen Verhandlungen im Interesse der gemeinsamen energiepolitischen Verantwortung zu einem vernünftigen Ende zu bringen. Ich warne davor, zu glauben, daß die staatlichen Kassen auf Dauer dort einspringen müßten, wo der Verstromungsfonds nicht mehr ausreicht.
Bei Abschluß des Jahrhundertvertrags ist von keiner Seite vorausgesehen worden, daß sich die Anforderungen an den Fonds jemals in dieser Höhe entwikkeln konnten. Das Beharren auf den Ansprüchen mag zwar durch eine streng formale Auslegung des Vertrages gedeckt sein, aber eine solche Position widerspricht dem Geist des Vertrages, der Vorteile und Lasten gerecht zu verteilen versucht. Sie verträgt sich aber auch nicht — darauf weise ich mit allem Ernst hin — mit der Aufgabenstellung einer öffentlichen Energieversorgung auf der Grundlage von Gebietsmonopolen.
Wenn es uns beim besten Willen nicht gelingen sollte, zu einem gütigen Einvernehmen insgesamt zu gelangen,
wird uns die Suche nach Mitteln und Wegen geradezu aufgezwungen, die öffentliche Energiewirtschaft in die Verantwortung zu nehmen oder, noch genauer, in der Verantwortung zu halten. Ich brauche nicht eigens hervorzuheben, daß eine derartige Entwicklung nicht unser politischer Wunsch sein kann.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion begrüßt insbesondere, daß die Bundesregierung unmißverständliche Erklärungen abgegeben hat, daß die Existenz derjenigen Zechen, die niederflüchtige Kohle fördern, nicht durch die einschränkenden Maßnahmen in Gefahr geraten wird.
Wir wollen nicht zulassen, daß die notwendige Entlastung des Verstromungsfonds zu Lasten bestimmter einzelner Zechen und deren Belegschaften geht.
Die jetzt zu beschließende Erhöhung der Verstromungsabgabe reicht nur für das Jahr 1989. Sie erreicht nicht annähernd die Höhe, die notwendig wäre, um alle Ansprüche gegen den Fonds abzudecken. Eine Anhebung über die 8,5 % hinaus wäre aber nicht durchsetzbar und ebensowenig vertretbar.
Zusätzliche Maßnahmen sind unumgänglich. Wir sollten daher jetzt alles tun, insbesondere aber auch alles Abträgliche, wie etwa die in Frage gestellte Entsorgung der Kernkraftwerke, unterlassen, damit der Kohleabsatz im Strombereich gesichert und mittelfristig wieder auf finanziell solide Beine gestellt wird. Die Erhöhung der Ausgleichsabgabe ist daher der erste wichtige Schritte zu diesem Ziel auf einem sehr steinigen Wege.
Vielen Dank.
8460 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Die Absicht der Bundesregierung, den Kohlepfennig lediglich auf 8,5 % zu erhöhen, kann nur im Zusammenhang mit der politischen Begründung für den vorliegenden Verordnungsentwurf bewertet werden. Verordnung und Begründung bilden zusammen eine politische Einheit. Daher kann diese Verordnung nur als offene Kriegserklärung der Atomlobby gegen die heimische Steinkohle angesehen werden.
Wir GRÜNEN lehnen daher diese Verordnung ab und haben als Alternative dazu einen eigenen Antrag in den Bundestag eingebracht, der Ihnen vorliegt: Ersetzung des Kohlepfennigs durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer.
Punkt 6 der Begründung des vorliegenden Verordnungsentwurfs, der dem Parlament erst gestern vorgelegt worden ist, lautet im letzten Absatz:
Es wird festgestellt, daß eine Mengenausweitung ab 1991 nicht möglich ist. In die Verhandlungen mit den EVU wird deshalb die Frage einbezogen, wie die Aufstockungsmengen für den Vertragszeitraum 1991 bis 1995 auf die anschließenden Jahre gestreckt werden können.
Mit dieser Aussage haben die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen eindeutig vom Jahrhundertvertrag Abschied genommen;
denn im Jahrhundertvertrag ist vertraglich vorgesehen, ab 1991, wenn dem die Stromverbrauchsentwicklung nicht entgegensteht, die Verstromungsmengen aufzustocken. Wenn Sie auf eine Aufstockung um ca. 2,5 Millionen t jährlich verzichten, heißt das: Stilllegung einer weiteren Großzeche in den Kohlerevieren über die Stillegung einer Kapazitätsstätte hinaus, die schon im Dezember letzten Jahres beschlossen worden ist. Damit hat sich die Koalition dem politischen Druck der Atomlobby in den Atomländern Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen sowie der Atomwirtschaft selber gebeugt.
Bundeskanzler Kohl hat damit eindeutig und offen sein mehrfach gegebenes Wort gebrochen, er stehe zum Jahrhundertvertrag. Deswegen muß die vorliegende Verordnung von nun an als die Kohlelüge dieser Bundesregierung in die Geschichte der Kohleauseinandersetzungen eingehen.
Der Punkt 6 der Begründung kann nur im Zusammenhang mit dem vorgestern veröffentlichten Brief von Bennigsen-Foerder, Vorstandsvorsitzender der VEBA AG, an den Bundeskanzler Kohl interpretiert werden, in dem zum erstenmal ein maßgeblicher Manager der Atom- und Energiewirtschaft für die Aufkündigung des Jahrhundertvertrages eintritt
— Herr Kollege Niggemeier, Sie schütteln den Kopf; Sie kennen den Brief doch offensichtlich —, in dem er ausdrücklich sagt: Im nächsten Jahr soll der Jahrhundertvertrag neu verhandelt werden, und ab 1990 bis über das Jahr 2000 hinaus soll ein neuer Vertrag auf der Basis einer Verstromungsmenge von 30 Millionen t vorgelegt werden. Das heißt: dramatische Reduzierung der Verstromungsmengen, wie sie im vorliegenden Jahrhundertvertrag vorgesehen werden.
Wer ist von Bennigsen-Foerder? Es ist ja nicht irgendeiner, der das zum erstenmal in dieser Offenherzigkeit bekennt: erstens energiepolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl, wie jeder weiß,
zweitens Vorsitzender der VEBA AG, der hundertprozentigen Mutter der Preußenelektra, die sieben Atomkraftwerke betreibt, u. a. den Schrottreaktor Stade, der mit Biblis A auch gestern wieder in die Schlagzeilen gekommen ist. In einer Situation, wo die Atomkraftwerksbetreiber aus Sicherheitsgründen wieder einmal in die Defensive geraten sind,
starten Sie sozusagen den Totalangriff auf die Kohle. Dieser Angriff von Bennigsen-Foerder ist um so gefährlicher, als derselbe Mann gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Ruhrkohle AG ist,
weil die VEBA 40 % des Aktienanteils an der Ruhrkohle hat. Jetzt ist wahr geworden, wovor wir seit mehreren Jahren gewarnt haben, als die VEBA ihren Aktienanteil bei der Ruhrkohle aufstockte.
Wir haben damals gesagt: Die VEBA AG ist wie ein Krebsgeschwür im Herzen der Ruhrkohle AG und schwächt den Widerstand der Ruhrkohle gegen die Verdrängung durch die Atomenergie. Genau das erleben wir in diesen Tagen.
— Ja, Herr Niggemeier, weil wir eben nicht zur Atomlobby gehören wie Sie, sehen wir einige Dinge trennschärfer als Sie.
Wir sagen aus diesem Grund: Der vorgelegte Verordnungsentwurf ist kein Schritt in die richtige Richtung, wie die SPD meint, sondern der Anfang vom Ende des Jahrhundertvertrages. Der Entwurf muß abgelehnt werden.
Die Alternative ist folgende: Wir fordern, daß der Kohleausgleichsfonds finanziell so ausgestattet wird, daß er seine gesetzlich vorgeschriebenen Ausgabenleistungen tatsächlich erfüllen kann. Dazu gehören selbstverständlich — da besteht Konsens — der Revierausgleich und die Erschwerniszuschläge für die niederflüchtige Kohle.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8461
Stratmann
Das heißt, die 8,5 % , denen Sie zustimmen wollen, reißen im Jahre 1989 nach Aussagen des Wirtschaftsministeriums ein Loch in Höhe von 5 Milliarden DM.
Nicht nur eine zukünftige Belastung von Bundes-und Landeshaushalt im Saarland und in Nordrhein-Westfalen bedeutet das;
es wäre eine Erhöhung des Kohlepfennigs von 13,7 im kommenden Jahr notwendig. Wir fordern eine entsprechende finanzielle Ausstattung in der Größenordnung von 13,7 % Kohlepfennig für den Kohleausgleichsfonds.
Noch ein kritisches Wort zur SPD, Herr Jung: Sie haben im letzten Jahr mit Ihrem Abstimmungsverhalten selber dazu beigetragen, daß wir Ende 1986 eine Deckungslücke im Verstromungsvorhaben von 6 Milliarden DM haben. Sie haben vor einem Jahr lediglich eine Beibehaltung des Kohlepfennigs von 7,5 % gefordert. Auch mit diesen 7,5 % hätten Sie heute eine Dekkungslücke von über 5 Milliarden DM. Das wissen Sie doch! Insofern sind Sie für dieses Deckungsloch mitverantwortlich.
— Sie haben 3,5 % gefordert und die Bundesregierungskürzung auf 7,25 % abgelehnt. So war die Lage.
Unsere Alternative dazu ist folgende: gesetzlich vorgeschriebene Ausstattung des Kohleausgleichsfonds in einer Größenordnung von 13,7 %. Allerdings sehen wir, daß der Kohlepfennig als Instrument zur finanziellen Ausstattung des Kohlefonds nicht mehr geeignet ist.
Wir sind deswegen dafür, daß dieses Instrument durch eine Primärenergie- und Atomstromsteuer ersetzt wird. Diese Primärenergie- und Atomstromsteuer könnte mit den von uns zur Diskussion vorgeschlagenen Bemessungswerten ein Gesamtaufkommen von ca. 50 Milliarden DM pro Jahr haben. Das entspricht ungefähr dem volkswirtschaftlichen Gewinn, den wir seit 1985 durch den Ölpreisverfall haben: derzeit in der Größenordnung von 60 Milliarden DM.
Das heißt, mit den Steuervorschlägen, die wir machen, wird die Volkswirtschaft unter keinen Umständen unverkraftbar belastet.
Aus diesem Steueraufkommen sollen mehrere Sachen finanziert werden, u. a. die gesetzlich vorgeschriebene Aufstockung des Kohleausgleichsfonds. Darüber hinaus sollen ein ehrgeiziges Energieeinsparprogramm finanziert werden, die Förderung von
Techniken zur Gewinnung erneuerbarer Energien und ein Klimaschutzprogramm. Mit diesem Programm könnte der ökologische Umbau der Kohlereviere in Angriff genommen werden, der gleichzeitig neue und ökologisch verträgliche Arbeitsplätze in den Kohlerevieren bereitstellt.
Ich fasse zusammen. Die geplante Erhöhung des Kohlepfennigs reicht hinten und vorne nicht aus, um die notwendigen Ausgaben des Kohleausgleichsfonds zu decken. Der Verordnungsentwurf der Bundesregierung ist kein Schritt in die richtige Richtung, wie die SPD meint. Er ist der Anfang vom Ende des Jahrhundertvertrags.
Wir GRÜNEN lehnen ihn daher ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hinsken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine komische Situation in diesem Hause heute mittag: Da trommelt und tönt der Herausforderer monatelang, findet endlich die Auseinandersetzung, das Spiel statt; dann sind die Hauptspieler nicht zugegen. Ein Ersatzspieler ist da, und er hat den Ballholer noch mitgebracht. Wo ist denn, meine Damen und Herren, der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen?
Wo ist der Ministerpräsident des Saarlandes?
So geht es doch nicht, meine Damen und Herren. Der Arbeitsminister Blüm ist da,
einer der führenden Leute unserer Bundesregierung, der sich gerade um die Kohle so kümmert wie kein anderer und dem es in erster Linie darum geht, die Arbeitsplätze zu erhalten und weiterhin zu sichern. Er ist heute genauso da, wie er an den Gesprächen teilgenommen hat, in denen es darum ging, wie dieses Problem gelöst werden kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst konkret auf die Themenstellung eingehen.
Mit der Erhöhung des Kohlepfennigs am 1. Januar 1989 auf 8,5 % ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Das muß den Revierländern klar sein. Denn die Kosten tragen allemal die anderen.
8462 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Hinsken
Mit dem jetzt vorliegenden Ergebnis ist nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung zurückgelegt. Die Forderung nach Regionalisierung, d. h. nach stärkerer Spreizung des Kohlepfennigs, steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Auch die verfassungsrechtlichen Bedenken sind nicht ausgeräumt.
Die Zuschüsse für niederflüchtige Kohle und zum Ausgleich von Revierunterschieden sind regional und arbeitsmarktpolitisch bedingt, also nicht aus Gründen der Stromvorsorge, und sollen deshalb nicht mehr aus dem Fonds bezahlt werden.
Das Prinzip: ihr kriegt für den Einsatz der Kernenergie Prügel — wie das bei uns der Fall ist — und zahlt den Kohlepfennig, führt nicht weiter.
Die Forderung ist klar: zurück zum Konsens in der Energiepolitik, ein Ende des Anbiederns von Rau und Lafontaine — von denen sich heute wenigstens einer vertreten läßt — an die GRÜNEN mit ihrem Aufspringen auf den Zug, den Ausstieg aus der Kernenergie zu verlangen, die überhaupt erst den Einsatz der teuren Steinkohle möglich macht.
Tatsachen sind doch, meine Damen und Herren:
Erstens. Ohne die preisgünstige Kernenergie wäre die Steinkohle längst am Ende.
Zweitens. Ein Dreipersonenhaushalt — z. B. in meinem Heimatland Bayern — subventioniert die Kohle bei 8,5 % mit ca. 85 DM bis 120 DM. Herr Kollege Stratmann, wenn Platz greifen würde, was Sie hier fordern — den Kohlepfennig auf 13,7 % anzuheben —, dann würde das gerade den Haushalt eines einfachen Arbeitnehmers in strukturfernen Gebieten in Bayern mit über 200 DM belasten.
Drittens. Ein mittelständischer Grenzlandbetrieb aus meinem Wahlkreis — ich möchte das bewußt hier erwähnen —, der schon jetzt bei einem jährlichen Umsatz von 70 Millionen DM 130 000 DM Ausgleichsabgabe zahlt, wird mit weiteren ca. 17 000 DM zur Kasse gebeten — obwohl er bei 330 Beschäftigten pro Arbeitnehmer sowieso schon 400 DM an Ausgleichsabgabe zahlt. Das sind 10 % der 2%igen Umsatzrendite.
Viertens. Besonders im Hinblick auf die hohen Exportanteile kann dies den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und damit den Wegfall von Arbeitsplätzen bedeuten, insbesondere wenn wir ohnehin um ein Drittel höhere Stromkosten im europäischen Vergleich haben.
Fünftens. Bei fast 70 000 DM Subvention je Arbeitsplatz im Steinkohlenbergbau, und zwar ohne die zusätzlichen Mittel für die Knappschaft, muß man sich fragen, wie sinnvoll es ist, wenn die Subventionskosten sogar höher sind als die durchschnittlichen Einkommen der dort Beschäftigten.
Aus dem Bundeshaushalt und dem Verstromungsfonds sind für die deutsche Steinkohle in den letzten fünf Jahren insgesamt über 25 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden.
Sechstens. Wer angesichts dieser Tatsachen wie Rau und Lafontaine, aber auch die SPD-Opposition versucht, den notwendigen Eigenbeitrag zu verweigern, erweist der Steinkohle einen Bärendienst.
Die Zahlung der Zeche für die Zeche ist nämlich keine Einbahnstraße.
Lassen Sie mich deshalb abschließend konstatieren: Ab 1991 — das war auch die nun erfüllte Forderung der CSU —
wird eine Mengenausweitung nicht mehr möglich sein, ja, die Wirtschaft verlangt zu Recht eine Reduzierung des Mengengerüsts. Elektrizitätsversorgungsunternehmen und Revierländer müssen sich zu ihrer Verantwortung bekennen. Es wurde zu Recht beschlossen, daß auf diese Weise bis Ende März 1989 die notwendigen Einsparungen erreicht werden müßten.
Ihre Redezeit ist zu Ende, Herr Kollege.
Ein Satz noch.
Bitte schön. Wenn Sie aber weiterreden, nehmen Sie den anderen Kollegen die Zeit weg.
Geschieht dies nicht, muß der Ausgleichsfonds von den Kosten für den Revierausgleich und von dem Erschwerniszuschlag für die niederflüchtige Kohle entlastet werden. Die Kohleländer und Bergbauunternehmen sind dann gefordert.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen. Bitte, Herr Dr. Jochimsen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hinsken, wenn man Sie hört, hat
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8463
Minister Dr. Jochimsen
man den Verdacht, daß hier der Ausstieg aus der Kohle geprobt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Kohlerunde vor einem Jahr bestand Einigkeit darüber, daß die verabredeten unausweichlichen Anpassungsmaßnahmen nur bei vollem Erhalt der Absatzposition der heimischen Steinkohle in der Verstromung sozialverträglich gestaltet werden könnten. Damals ist für das dafür bestehende Ausgleichssystem von keinem der an der Kohlerunde Beteiligten dies zur Disposition gestellt worden. Die Bundesregierung und die Bergbauländer waren sich vielmehr einig, daß das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages auf der Basis des bestehenden Verstromungssystems zu erhalten sei und daß die dafür notwendige Finanzierung des Ausgleichsfonds gesichert werden solle.
Was ist seither geschehen? Die neue Anpassung im Steinkohlenbergbau läuft; das sind 13 bis 15 Millionen t zusätzlich; es geht auf 65 Millionen t runter. Ich erinnere daran, daß noch 1983 die Formel gegolten hatte: 90 für '90, d. h. 90 Millionen t für 1990. Wir sind jetzt bei 65 Millionen t für 1995.
Diese schmerzlichen Einschnitte verlangen große Opfer von den Bergleuten und ihren Familien jetzt und in den kommenden Jahren.
Meine Damen und Herren, nach der Kohlerunde haben wir uns über die Plafonds für die Kokskohlenbeihilfen in den nächsten drei Jahren geeinigt, auch über eine Fortsetzung der Erblastenregelung, ein wichtiger Schritt nach vorn, für den ich der Bundesregierung ausdrücklich auch heute hier meine Anerkennung zolle.
Das weiß ich; auch bei uns. Das sind bei uns 3,5 Milliarden DM in den nächsten drei Jahren, Herr Kollege.
Nachdem in schwierigen Bereichen Einvernehmen erzielt werden konnte, droht jetzt das inzwischen wichtigste Standbein der heimischen Steinkohle — das ist inzwischen die Verstromung — wegzubrechen. Ich frage mich hier: Was ist eigentlich seit Dezember 1987 an Neuem hier geschehen? Der Ölpreis ist nach wie vor sehr niedrig. Die Ansprüche der kohleverstromenden Energieversorgungsunternehmen an den Ausgleichsfonds sind entsprechend hoch. Das bereits 1986 und 1987 gewachsene Defizit ist weiter gewachsen. Zum Zeitpunkt der Kohlerunde stand aber doch schon fest, daß der Ausgleichsabgabensatz — damals 7,5 %; er wurde dann auf 7,25 % gesenkt — nicht ausreichen wird, um die laufenden Ausgaben zu decken, geschweige denn, die Fondsverschuldung abzubauen.
Ich erinnere daran — das ist hier schon von dem Kollegen Jung ausgeführt worden — , daß das 3. Verstromungsgesetz verlangt, die Ausgleichsabgabe so festzusetzen, daß die Einnahmen den Bedarf decken,
und daß nicht umgekehrt der Bedarf den Einnahmen angepaßt wird.
Das Gesetz bestimmt eindeutig den Weg. Dieser Weg wurde in den letzten Jahren verlassen. Die Bundesregierung hat den Kohlepfennig nicht rechtzeitig und nicht angemessen angehoben, und das seit 1986 Jahr für Jahr nicht.
Wir haben ereignisreiche Wochen und geradezu dramatische letzte Tage hinter uns, Herr Kollege Schmitz. Die Koalitionsparteien haben sich bemüht, sicher vor dem Hintergrund der subsidiären Haftung des Bundeshaushalts für einen defizitären Ausgleichsfonds, unorthodoxe Möglichkeiten zur Fondskonsolidierung zu finden, nämlich bei Dritten — bei Dritten, die bei der Kohleverstromungsfinanzierung bisher überhaupt nicht beteiligt gewesen sind.
Die Vorschläge gingen zum einen — Herr Kollege Hinsken hat das wiederholt — auf einen gespaltenen Kohlepfennig, der ja verfassungswidrig ist. Sie gingen zum anderen dahin, daß hier Finanzierungslasten übernommen werden sollen.
Zu den heute anstehenden Entscheidungen erkläre ich für das Land Nordrhein-Westfalen: Wir unterstützen den Vorschlag der Bundesregierung, den Ausgleichsabgabensatz auf 8,5 % anzuheben, auch wenn wir 9% für angemessener gehalten hätten.
Ich weise darauf hin, daß ein volles Drittel dieser Einnahmesteigerungen von den Stromverbrauchern in Nordrhein-Westfalen aufzubringen ist — ein volles Drittel.
In dieser Situation kommt es aber auf die spürbare Anhebung des Abgabesatzes an. Damit bekommen wir eine Atempause. Sie ist dringend notwendig, um im kommenden Jahr die Finanzierungsprobleme sachgerecht und langfristig zu bewältigen.
An dieser Stelle fordere ich die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien erneut und mit großer Eindringlichkeit auf, die geltenden Verstromungsregelungen, nämlich das 3. Verstromungsgesetz und den Jahrhundertvertrag, nicht anzutasten. Dies hätte unabsehbare Folgen für eine sichere Energieversorgung der Bundesrepublik insgesamt und in den Bergbaurevieren.
Änderungen der geltenden Finanzierungsregelung gefährden das Mengengerüst und damit die Sozialfriedlichkeit des einvernehmlich festgelegten Anpassungsprogramms, das bis 1995 reicht.
Zum Vorschlag der system- und vertragswidrigen Herausnahme des Revierausgleichs und der Zu-
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Minister Dr. Jochimsen
Schüsse für niederflüchtige Kohle sage ich: Das 3. Verstromungsgesetz dient der Sicherung der heimischen Elektrizitätsversorgung durch den vorrangigen Einsatz heimischer Steinkohle im Interesse einer sicheren gesamtstaatlichen Energieversorgung, und zwar in allen seinen Teilen.
Im Mengengerüst werden die Abnahmemengen für die drei Jahrfünfte bis 1995 festgelegt, ohne daß etwa eine Differenzierung nach Kohlequalitäten oder eine mengenmäßige Aufteilung auf bestimmte Kohlereviere oder der Ausschluß bestimmter Zechen oder die Zuteilung auf bestimmte Energieversorgungsunternehmen vorgenommen werden.
Im Gegenteil: Bei der Einbeziehung der Zuschüsse für niederflüchtige Kohle und des Revierausgleichs in das bis 1995 geltende Ausgleichssystem hat der Sicherheitsgedanke gegenüber regionalwirtschaftlichen Aspekten eindeutig überwogen. Ansonsten hätte man diese Zuschüsse ja gar nicht ins Ausgleichssystem aufnehmen dürfen.
Im übrigen sind auf diese Entscheidung wichtige Ausbau- und Bauentscheidungen von Kohlekraftwerken begründet worden. Ich erinnere nur an das Kraftwerk in Ibbenbüren. Eine Ausgliederung dieser Zuschüsse und deren gleichzeitige Übernahme in die Haushalte der Revierländer bzw. einzelner Bergbauunternehmen wäre, abseits von der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit und von den Auswirkungen auf die Vertragspartner des Jahrhundertvertrags, haushaltspolitisch eigentlich gar nicht tragbar. NordrheinWestfalen ist mit seiner Beteiligung an den Kohlehilfen schon längst an den Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit.
Der Bund kann dazu die zweckgebundenen Einnahmen der Heizölsteuer heranziehen. Er hat diese ja in den letzten Jahren ganz überwiegend ausreichend ausschöpfen können.
Die Landesregierung ist dennoch bereit, kooperativ an der Sicherung der nationalen Energieversorgung, der Zukunft der Kohle und der Zukunft der Menschen in den Revieren mitzuwirken. Das haben wir gestern in einer Regierungserklärung im Landtag von Nordrhein-Westfalen dargelegt.
Aber bei der Lösung der Verstromungsprobleme sind unverändert alle gefordert, auch die Elektrizitätswirtschaft. Auch die Elektrizitätswirtschaft, der die Einnahmen aus dem Kohlepfennig zufließen, wird einen Beitrag leisten müssen.
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen steht daher zur Verfügung, die Bundesregierung bei Verhandlungen mit der Elektrizitätswirtschaft zu unterstützen,
die eine Plafondierung des Ölausgleichs zum Ziele haben. Sie sagen, das habe lange gedauert; Herr Kollege Bangemann hat die Gespräche geführt. Er hat keinen dazu eingeladen. Er hat mich dazu nicht aufgefordert.
Im übrigen ist das eine merkwürdige Vermischung der Zuständigkeiten. Es handelt sich beim Verstromungsgesetz um ein Bundesgesetz, es handelt sich um einen Parafiskus des Bundes.
Der Bund muß dafür geradestehen.
Meine Damen und Herren, mit einem solchen Beitrag auch der Elektrizitätswirtschaft müssen sich dann die Finanzierungsprobleme des Verstromungsfonds bis 1995 so stabilisieren lassen, daß damit auch die Grundlage gelegt ist für eine Anschlußregelung, die ins nächste Jahrzehnt reichen muß.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Herr Lammert, bitte.
Herr Minister Jochimsen, werden Sie persönlich beziehungsweise die Landesregierung Nordrhein-Westfalen bei den künftigen Gesprächen mit den EVU die von Ihnen gerade als notwendig dargestellte Kooperationsbereitschaft der Landesregierung für die von Ihnen wie von mir für notwendig gehaltene Anschlußregelung zum Jahrhundertvertrag auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß Sie die bei den EVU aus guten Gründen entstandenen Spekulationen darüber beseitigen, ob die Geschäftsgrundlage des Jahrhundertvertrages erstens bis 1995 aufrechterhalten und dann nach 1995 fortgesetzt wird, die rechtlich, ökonomisch und politisch von der Nutzung von Kohle und Kernkraft als Basis unserer Energieversorgung ausgeht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, die Energieversorgungsunternehmen können auch in Zukunft von der Geschäftsgrundlage des Dritten Verstromungsgesetzes ausgehen, auch davon, daß wir uns an den Verhandlungen beteiligen wollen. Meine Zielrichtung ist ganz eindeutig die, das, was wir bei der Plafondierung der Importkohleregelung ja schon haben, nun auch auf das Öl zu übertragen, weil in der Tat eine langfristige Lösung nur auf diese Weise gefunden werden kann. Das, worauf Sie abzielen, ist ja eine Geschäftsvereinbarung als Anlage zum Vertrag zwischen Energieversorgungs- und Bergbauunternehmen, die immer wieder, was die Öffentlichkeitsarbeitswirkung angeht, zur Grundlage erklärt wird. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Hier wird ja Ursache und Wirkung völlig umgedreht. Ich habe das eben schon in meinen Ausführungen zu Herrn Kollegen Hinsken kurz sagen können.
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Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Herr Jochimsen, wenn Sie sich gerade selbst, wie auch die EVU, auf die Geschäftsgrundlage des gültigen Jahrhundertvertrags und die Fortsetzung desselben über 1995 hinaus positiv beziehen, die heißt: Kohle und Atomenergie, wie vereinbaren Sie dann einen solchen Konsens über Kohle und Atomenergie über 1995 hinaus, also auch über das Jahr 2000 hinaus — die Geltungsdauer des künftigen Anschlußvertrages — mit dem gleichzeitig von Ihnen propagierten Atomausstieg?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe zu der Zeit nach 1995 nicht gesagt, daß man dies einfach fortsetzen kann.
— Nein, ich habe dem ja gerade widersprochen, was Kollege Lammert mir abverlangt hat. Ich denke gar nicht daran, daß dies die Grundlage ist, sondern wir müssen den Sicherheitssockel über 1995 hinaus verantwortlich bestimmen, was die Kohle angeht. Da ist der zerbrochene Konsens neu zu gewinnen, aber nicht durch eine Wiederherstellung und ein Klopfen auf eine Formel von 1979, die sich überholt hat. Dafür habe ich mich hier schon mehrfach ausgesprochen.
Meine Damen und Herren, ich gehe in diese Verhandlungen, wenn das der Bundeswirtschaftsminister will, mit einer Unterstützung hinein. Ich sage das ganz deutlich, denn er hatte sich diese Verhandlungen, wie es auch seines Amtes ist, vorbehalten. Er hat ja die Verantwortung dafür gehabt, daß in Mettlach auf seinen Vorschlag hin die Quadratur des Kreises als politische Forderung beschlossen worden ist. Damit ist er gescheitert; meine Damen und Herren von der Koalition, das müssen Sie zur Kenntis nehmen.
Meine Damen und Herren, die Menschen in den Bergbaurevieren erwarten, daß die Bundesregierung ihre Zusage in der Kohlerunde vorigen Jahres einlöst, also das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages bis 1995 sichert, und daß eine Fortsetzungsregelung gefunden wird, die über 1995 hinaus an das geltende Vertragswerk anknüpft.
Meine Damen und Herren, dieses Anknüpfen heißt natürlich, daß dieses auch europarechtlich, vernünftig energiepolitisch und wettbewerbspolitisch gelöst werden muß. Da hat die EG-Kommission noch nicht alle Antworten auf den Tisch gelegt. Die reden leider mehr über Wettbewerbspolitik als über Energiepolitik und Energieversorgungssicherheit in Europa ab 1992. Da wird ja auch eine Verschleierungstaktik erheblichen Umfanges gefahren.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Abschluß. Wir müssen die jetzt gewonnene Zeit nutzen, um die Energieversorgung langfristig abzusichern und um unserem Steinkohlenbergbau wieder eine dringend benötigte Planungssicherheit zu verschaffen und den Menschen in den Kohlerevieren wieder mehr Zukunftsperspektive zu geben. Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an dieses Hohe Haus, dem vorliegenden Verordnungsentwurf — selbstverständlich ohne Punkt 6 der Begründung — eine breite Mehrheit zu geben.
Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sprung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jochimsen, den letzten Sätzen, die Sie hier soeben gesagt haben, können wir voll und ganz zustimmen.
Meine Damen und Herren, die Anhebung des Kohlepfennigs auf 8,5 % für 1989 ist ein Kompromiß. Es ist ein Kompromiß, der für viele von uns nur schwer zu akzeptieren ist und der nur eine Zwischenlösung zur Linderung der akuten Finanzierungsprobleme des Verstromungsfonds sein kann. Worauf es jetzt ankommt, ist — darin stimmen wir überein — , längerfristige Regelungen für die Zeit nach 1989 zu finden.
Heimische Steinkohle kostet annähernd dreimal soviel wie Importkohle. Läßt sich, so muß man fragen, diese Belastung unserer Volkswirtschaft, die sich auch in den im Vergleich zu unseren Nachbarn erheblich höheren Energiekosten niederschlägt und zwangsläufig zu beachtlichen Wettbewerbsnachteilen führt, noch rechtfertigen? Trägt das Argument der Versorgungssicherheit im Zeitalter Europas mit einem einheitlichen Binnenmarkt noch und in welchem Umfang? Ich meine, diese Fragen müssen bei der Suche nach einer künftigen Regelung der Kohleverstromung beantwortet werden.
Ohne Ausgleichsmaßnahmen käme die deutsche Steinkohle, wie wir alle wissen, in erhebliche Schwierigkeiten. Unter reinen Kostengesichtspunkten müßte der deutsche Steinkohlebergbau von heute auf morgen eingestellt werden. Daß dies nicht die Politik der CDU ist, zeigen die ständig gestiegenen Hilfen des Bundes für den Steinkohlebergbau. Die Verantwortung für die Bergleute, für ihre Familien und für die Bergbauregionen erfordert es, daß wir den Bergbau und seine Beschäftigten nicht im Stich lassen.
Wir müssen uns aber auch der Frage stellen, wie die Strukturprobleme, die trotz jahrelanger finanzieller Hilfen nicht geringer geworden sind, bewältigt und die notwendigen Anpassungsprozesse vollzogen werden können. Die jüngsten Verhandlungen haben gezeigt, daß es immer schwieriger wird, das Mengengerüst von 1980 auch in den 90er Jahren beizubehalten. Es ist auch deutlich erkennbar, daß die derzeitige Verstromungsmenge inländischer Steinkohle bei realistischer Sicht immer schwieriger abzusetzen sein wird.
Meine Damen und Herren, die revierfernen Länder bekennen sich zur Solidarität mit den Kohleländern. Diese Solidarität der revierfernen Länder kann aber kein Blankoscheck sein. Für sie ist das Ende — das sage ich hier mit aller Deutlichkeit — der Belastbarkeit erreicht. Die Opferbereitschaft der privaten und der gewerblichen Stromverbraucher stößt deutlich an Grenzen. Weitere Belastungen sind diesen Verbrau-
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Dr. Sprung
chern, die ja keinerlei Vorteile aus dem Kohlepfennig haben, nicht mehr zumutbar, Herr Jens.
Die revierfernen Länder stimmen der Anhebung des Kohlepfennigs zu, wenn auch mit erheblichen Bedenken,
weil die Kohleländer endlich ihre Bereitschaft erklärt haben, an Verhandlungen über den Kohlepfennig in den Jahren nach 1989 mitzuwirken, und weil mit ihnen Übereinstimmung besteht, daß die Ansprüche an den Verstromungsfonds reduziert werden müssen. Die EVU werden dazu hoffentlich einen substantiellen Beitrag leisten. Sollte auf diesem Wege eine deutliche Entlastung des Verstromungsfonds nicht erreicht werden, so ist eine Novellierung des Dritten Verstromungsgesetzes unumgänglich.
Die revierfernen Länder erwarten aber auch, daß in den künftigen Verhandlungen ihre Forderung nach einer anderen regionalen Aufteilung des Kohlepfennigs gründlich geprüft und gegebenenfalls umgesetzt wird.
Alle Beteiligten sind zu solidarischem Verhalten aufgerufen und müssen ihren Beitrag leisten. Die Solidarität der revierfernen Länder kann aber nur dann erwartet werden, wenn Nordrhein-Westfalen und das Saarland zu dem Konsens in der Energiepolitik zurückkehren, den es ja einst gegeben hat. Nur durch die Nutzung der kostengünstigen Kernenergie war es bisher möglich, die hohen Kosten für die Verstromung einheimischer Steinkohle in einem erträglichen Maß auszugleichen.
Daran, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde auf die Argumente der Kollegen aus den revierferneren Ländern, Herrn Hinsken und Herrn Sprung, eingehen, will aber vorab feststellen, daß die heute anstehende Erhöhung des Kohlepfennigs ein erster Schritt in die richtige Richtung ist; mehr aber auch nicht. Die vielen von der Bundesregierung bislang auf die lange Bank geschobenen ungelösten Probleme werden erst einmal auf das nächste Jahr vertagt. Die Zitterpartie für die Bergleute und ihre Familien wird fortgesetzt.
Der Eindruck verstärkt sich, daß bis zum letzten Augenblick ein auch für die Bundesregierung unwürdiges Schwarze-Peter-Spiel aufgeführt wird. Es soll von der eigenen Unfähigkeit, die Probleme angemessen zu lösen, abgelenkt werden.
Auf Antrag der Koalitionsfraktionen wurde gestern noch im Haushaltsausschuß beschlossen, daß sofern bis zum 31. März nächsten Jahres keine Einigung mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen zustande kommt, die Kosten des Revierausgleichs zur Disposition stehen. Es ist allerdings eine höchst sonderbare Verhandlungsstrategie: Sie reichen den finanziell sehr gut ausgepolsterten Energieversorgungsunternehmen auf dem silbernen Tablett die Alternative für den Fall, daß die Energieversorgungsunternehmen einen eigenen, angemessenen Beitrag zur Lösung der Probleme ablehnen. Das kommt fast schon einer Einladung zur Ablehnung gleich, so wie die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung aufgebaut ist.
Zudem hat der Haushaltsausschuß gestern mehrheitlich beschlossen, daß eine Mengenausweitung der Kohle ab 1991 nicht möglich sein soll. Dies widerspricht den bisherigen Vereinbarungen des Jahrhundertvertrages. Bislang hat die Bundesregierung öffentlich durch ihre führenden Vertreter immer wieder beteuert, an dem vertraglich vereinbarten Mengengerüst festhalten zu wollen. Die Frage ist, wieviel ein bislang mehrfach öffentlich gegebenes Wort der Bundesregierung noch wert sein soll.
Herr Kollege Hinsken, Herr Kollege Sprung, Sie haben auf den Solidarbeitrag der revierfernen Länder hingewiesen. Ich sage Ihnen: Sie irren. Alle politischen Kräfte irren, die meinen, daß die Erhöhung des Kohlepfennigs eine einseitige und unangemessene Solidarleistung der revierfernen Länder darstellt.
Der Kollege Jung hat soeben in seinem Beitrag Helmut Schmidt zitiert. Ich will Ihnen Helmut Schmidt erneut zitieren, weil ich denke, daß er den eigentlichen Punkt präzise auf den Begriff gebracht hat. Er hat im vorigen Jahr auf dem internationalen Energieforum in Hamburg gesagt: „Wenn heute einige Bundesländer so tun, als sei es unangebracht, daß sie den teuren Kohlestrom von der Saar oder von der Ruhr mitbezahlen müssen, kann ich nur sagen, dann wäre es genauso unangebracht, daß die Steuerzahler in anderen Bundesländern mitbezahlt haben, daß die letzteren ihre Kernkraftwerke entwickelt und hingestellt bekamen.
Hier besteht doch ein innerer Zusammenhang. " Sind die bayerischen Kernkraftwerke von den bayerischen Steuerzahlern oder von den bundesdeutschen Steuerzahlern finanziert worden?
Im übrigen ist der eigentliche Punkt, um den es geht, folgender: Nach § 1 des Verstromungsgesetzes ist es zur Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Bundesrepublik unerläßlich, daß bestimmte, im Gesetz genannte Gesamtmengen heimischer Kohle in den Kraftwerken eingesetzt werden. Die Gewährleistung der Verstromungssicherheit ist eine allgemeine Staatsaufgabe des Bundes und nicht einzelner Bundesländer.
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Schreiner
Gilt das für die Politik auch in Zukunft? Gilt für die Koalitionsfraktionen noch, daß nur auf der Basis eines angemessenen Anteils heimischer Kohle die nationale Energieversorgung relativ unabhängig von krisenanfälligen Energieimporten gemacht werden kann? Das ist die Frage, die Sie beantworten müssen. Gilt das noch? Halten Sie daran noch fest?
— Wir müssen sie gemeinsam beantworten. Wenn die Koalition der Meinung ist, daß dies noch gilt, denke ich, daß die gemeinsame Antwort dadurch erleichtert wird.
Es ist mehrfach auf die Regionalbeiträge der Kohleländer hingewiesen worden. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hinsken, Herr Kollege Sprung: Das Saarland hat seine eigenen finanziellen Verpflichtungen — das gilt in gleichem Maße für Nordrhein-Westfalen — gegenüber der Kohle bis an die Grenzen der eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit erfüllt: in der Vergangenheit, in der Gegenwart, und das wird in Zukunft so bleiben.
Bundesrat und Bundesregierung haben die, wie es heißt, jetzt schon an sich verfassungswidrige Haushaltsnotlage des Saarlands anerkannt. Die Gesamtverschuldung des Landes ist mehr als zur Hälfte von den Montan-Lasten aus der Vergangenheit geprägt. 1989 wird das Land mindestens 100 Millionen DM aus eigenen Mitteln für die Kohle aufbringen. Das Saarland steht jetzt schon am Rande der finanziellen Handlungsfähigkeit. Selbst die Bundesregierung, die ja vieles kann, kann eines nicht: Sie kann einem nackten Mann nicht in die Hosentaschen greifen. Auf das Saarland entfielen bei einer Regionalisierung des Revierausgleiches ca. 125 Millionen DM. Eine gleich hohe anteilige Belastung würde für den Bundeshaushalt eine Zusatzbelastung von 8 Milliarden DM bedeuten. Ich möchte gern einmal den Bundesfinanzminister hören, wenn ihm dies abverlangt werden würde.
Bei uns haben sich alle Landtagsparteien, die CDU wie die FDP wie die SPD, gegen eine stärkere Eigenbeteiligung des Landes gewehrt. Auch die FDP hat im Landtag einen Antrag eingebracht, der sich entschieden gegen die Abwälzung des Revierausgleichs auf den Landesetat ausspricht. Das Land spricht in dieser Frage mit einer einzigen Stimme.
Eine Herausnahme des Revierausgleichs aus dem Verstromungsfonds hätte übrigens keine nennenswerten Auswirkungen auf das von den revierfernen Ländern immer wieder geltend gemachte Strompreisniveau. Die entsprechende Entlastung beliefe sich bei einem Durchschnittshaushalt in Niedersachsen oder Bayern auf weniger als 1 DM monatlich. Lohnt es sich, dafür nicht nur einen Landeshaushalt, sondern ein ganzes Bundesland in die Knie zwingen zu wollen? Lohnt sich das?
Ich sage Ihnen zum Schluß: Die Bergleute haben nach dem Zweiten Weltkrieg einen ganz wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau dieser Republik geleistet.
Sie haben Anspruch auf unsere gemeinsame Solidarität auch heute und in Zukunft.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will zu Beginn dieser Debatte sagen, daß ich es schon gern gesehen und auch erwartet hätte, daß wenigstens ein einziger Beamter der saarländischen Landesregierung heute auf der Bundesratsbank Platz genommen hätte.
— Ich sage ja nur: Wenigstens ein Beamter hätte hier sein können.
Meine Damen und Herren, wir vertreten hier die Interessen der Kohleländer. Wir vertreten diese Interessen nicht nur verbal und ideell, sondern auch im Bewußtsein der energiepolitischen Realitäten. Wir wollen schließlich zu Ergebnissen kommen.
Gestatten Sie zwei Zwischenfragen, Herr Kollege, nachdem Sie sie gerade herausgefordert haben?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Schreiner und dann Herr Beckmann.
Herr Kollege Müller, weil Sie soeben kritisiert haben, daß von der saarländischen Landesregierung niemand hier sei, möchte ich Sie fragen, wie Sie denn das Fernbleiben sowohl des Bundeskanzlers wie auch des Bundeswirtschaftsministers in dieser Debatte einschätzen, wohlwissend, daß die Fragen, die hier zu entscheiden sind, in erster Linie Bundesaufgaben sind.
Herr Kollege Schreiner, ich stelle fest, daß die Bundesregierung hochrangig hier vertreten ist.
Ich stelle weiter fest, daß die Forderungen der saarländischen Landesregierung an die Finanzhilfen des Bundes im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Präsenz auf der Bundesratsbank am heutigen Tage stehen.
Lassen Sie die zweite Frage des Herrn Beckmann auch noch zu?
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Bitte schön.
Herr Kollege Müller, Ihnen ist doch sicherlich bekannt, daß der Bundesminister für Wirtschaft sich am heutigen Tag bei den GATT-Verhandungen in Montreal aufhält, um dort die Positionen deutscher Arbeitnehmer zu wahren? Es gibt ja noch andere Wirtschaftsbereiche als den deutschen Bergbau.
Ich kann diese Äußerungen nur bestätigen.
Ich darf dann sagen, daß, wenn wir heute die Erhöhung des Kohlepfennigs beschließen, das ein pragmatisches Ergebnis unserer Politik ist. Wir sehen auch die Koalitionsvereinbarung so, wie sie geschlossen worden ist, als pragmatisches Ergebnis, weil sie die Chance eröffnet, daß alle wieder an einen Tisch kommen, auch die saarländische Landesregierung, auch die Elektrizitätsversorgungsunternehmen, alle, die damit etwas zu tun haben.
Wenn im übrigen hier an der Mengenentwicklung der nächsten Jahre gemäkelt wird, dann darf ich darauf hinweisen, daß in dieser Koalitionsvereinbarung von der Aufstockungsmenge die Rede ist, die von 1991 bis 1995 kontrahiert werden soll. Wenn wir über energiepolitische Realitäten sprechen, müssen wir auch anerkennen, daß infolge der Stahlkonjunktur erheblich mehr Kokskohle abgesetzt werden konnte. Dies führt beispielsweise im Haushalt für 1989 immerhin zu dem stolzen Betrag von 2,9 Milliarden DM.
Sehr oft ist hier vom energiepolitischen Konsens gesprochen worden. Meine Damen und Herren, Sie von dieser Seite haben diesen Konsens verlassen. Ich empfehle Ihnen allen noch einmal die Lektüre des Papieres, das aus Ihren Reihen stammt und das „Plädoyer für einen energiepolitischen Realismus" heißt. Auf dieser Grundlage könnten wir schon gemeinsam die Diskussion wieder beginnen.
Wenn hier vom Jahrhundertvertrag gesprochen wird, dann muß man den Jahrhundertvertrag auch in seiner Gesamtheit sehen. Hier ist oft der § 8 zitiert worden, Herr Jochimsen. Nur steht in diesem § 8 unter Abs. 3 das Zusammenspiel von Kohle und Kernenergie. Das darf man dann nicht vergessen.
Ich fordere von dieser Stelle aus die saarländische Landesregierung — sie ist ja leider nicht da — auf, ihre belehrende, besserwisserische, ja missionarische Art, ihre energiepolitische Konzeption anderen aufzuschwatzen, zu beenden.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Bitte schön.
Herr Kollege Müller, da Sie den Wirtschaftsminister im besonderen gelobt haben, möchte ich Sie fragen: Fanden Sie es zweckmäßig, daß der Wirtschaftsminister zu einem Zeitpunkt, zu dem wir alle uns um einen Konsens in der Kohlepolitik bemüht haben, den Vorschlag gemacht hat, den Prozentsatz des Kohlepfennigs von 7,25 auf knapp 4 % zu senken?
Das ist ja die Geschäftslage des vergangenen Jahres gewesen. Jetzt unterhalten wir uns — —
— In der Tat, ich habe Anlaß, das Wirtschaftsministerium und den Wirtschaftsminister zu loben, weil wir jetzt mit der Beschlußfassung, die wir nachher hoffentlich erreichen werden, in die Lage versetzt werden, zu einer wesentlichen Entschärfung der Problematik beizutragen.
— Nein, ich möchte jetzt hier im Kontext fortsetzen und meine Ausführungen beenden.
Das gilt für alle? Auch für den Kollegen Hinsken?
Das gilt für alle; ich bitte um Verständnis.
Ich möchte nur zu der missionarischen Art und Weise zurückommen, mit der versucht wird, eine Energiepolitik an den Mann zu bringen, die wirklich hanebüchen ist. Zum Beispiel hat der saarländische Wirtschaftsminister einmal vorgerechnet, daß der Kohlestrom billiger als der Strom aus Kernenergie sei.
Wenn das so ist, dann brauchen wir keine Subventionen! Wo ist denn da die Logik?
Meine Damen und Herren, es ist sehr oft auch an die Vereinbarungen des vergangenen Jahres, an die große nationale Kohle-Runde im Dezember 1987 erinnert worden. Zu dieser nationalen Kohle-Runde hat auch auf saarländischer Seite eine sogenannte Vorrunde stattgefunden. Ich möchte einmal zitieren, was damals von allen Beteiligten festgehalten worden ist: „daß die bewährten kohlepolitischen Instrumente unter Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Möglichkeiten beibehalten werden und die durch den kurzfristigen Verfall der Weltenergiepreise entstandenen Belastungen des Ausgleichsfonds zur Kohleverstromung einvernehmlich mit allen am Jahrhundertvertrag Beteiligten abgebaut werden". Das bildet in der Tat eine Grundlage dafür, in neue Gespräche einzutreten, weil sich hier auch die saarländische Landesregierung zu dem bekannt hat, was jetzt notwendig ist, wobei ich die Kurzfristigkeit des Weltenergiepreisverfalls allerdings relativieren möchte.
Ich möchte abschließend vier Punkte nennen. Erstens müssen kostenmäßige Begrenzungen der Bela-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8469
Müller
stungen aus der Kohleverstromung gefunden werden. Es müssen zweitens die saarländischen Besonderheiten anerkannt werden. Hier ist eine sehr interessante Gesprächsbereitschaft und eine Hilfestellung seitens des Bundesfinanzministers in Aussicht gestellt worden. Drittens muß die Gestaltung eines Stromtarifes gefunden werden, der auch den strukturellen Erfordernissen strukturschwacher Regionen gerecht wird. Viertens müssen wir alle miteinander über die europäische Dimension der Dinge nachdenken, die wir jetzt hier bereden. Wenn wir mit diesem energiepolitischen Realismus an die Arbeit gehen, dann haben wir auch etwas für die Bergleute getan.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Ihnen heute vorliegenden Verordnungsentwurf soll der Kohlepfennig von heute 7,25 % auf 8,5 % im Bundesdurchschnitt im Jahre 1989 angehoben werden. Dem Verstromungsfonds sollen damit Mehreinnahmen in Höhe von 800 Millionen DM zugeführt werden. Dies ist die rein finanzielle Bedeutung des Vorschlages.
Wenn der Bundestag, wie zu erwarten ist, diesem Entwurf mit möglichst breiter Mehrheit zustimmt, so liegt darin auch eine weit über diese Einnahmeregelung hinausgehende Aussage; denn dieser Kohlepfennig ist ein wichtiger Eckstein der deutschen Kohlepolitik. Eine breite parlamentarische Zustimmung würde auch unterstreichen, daß es eine gemeinsame Basis für die Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland geben könnte. Diese Bedeutung hatte der Kohlepfennig auch in der Vergangenheit. Die Abstimmungen im Bundestag in den vergangenen Jahren für einen Kohlepfennig über 4,5 % hinaus haben dies ja bewiesen.
Diese Einbettung in die größeren Zusammenhänge ist auch für die Bundesregierung und für die Koalitionsfraktionen der entscheidende Grund dafür gewesen, den Stromverbrauchern diese Anhebung zuzumuten.
Die sachlichen Gründe für die Notwendigkeit dieser Verordnung sind von einigen meiner Vorredner genannt worden. Das seit Mitte 1986 niedrigere Ölpreisniveau hat zu Ansprüchen an den Verstromungsfonds geführt, die bei Abschluß des Jahrhundertvertrages — Herr Beckmann hat mit Recht darauf hingewiesen — von niemandem erwartet wurden. Bedenken Sie bitte: 1980 betrug der Preis für schweres Heizöl für die Verstromung 230 DM pro Tonne Steinkohleeinheit; er stieg dann im Jahr 1984 auf 384 DM und liegt heute, im Jahr 1988, im Durchschnitt der ersten neun Monate bei 123 DM. Das ist die dramatische Veränderung.
Wenn Sie, Herr Kollege Jochimsen, fragen: Was ist zwischen Dezember 1987 und Dezember 1988 passiert?, dann antworte ich Ihnen: Es sind diese minus 25 DM beim Ölpreis. Der Verstromungsfonds ist dadurch in eine sehr problematische Finanzsituation geraten; er hat wachsende Defizite in Milliardenhöhe.
Wir haben, meine Damen und Herren, in den letzten Tagen in schwierigen Gesprächen die Bereitschaft erreicht, den Kohlepfennig für 1989 auf 8,5 % im Bundesdurchschnitt zu erhöhen. Dieser notwendige politische Konsens ist allerdings nur haltbar — das sollten wir deutlich machen — , wenn keiner der Beteiligten überfordert wird. Der Kohlepfennig sichert den Einsatz der deutschen Steinkohle im Bundesgebiet ab. Er soll mit seiner bundesweiten Aufbringung und mit seinen Zuschüssen an den Standorten der Kohlekraftwerke die finanziellen Lasten dieser Kohlepolitik ausgewogener verteilen.
Wir sollten auch Verständnis haben. Es ist einsichtig, daß die Stromverbraucher in den revierfernen Ländern, die die Probleme der Kohleregionen an der Ruhr und an der Saar nicht hautnah erleben, bei dem Ausmaß dieses Kohlepfennigs mehr und mehr den Sinn dieser Politik in Frage stellen.
Andererseits ist die Bundesregierung entschlossen, diese Politik im Interesse der Sicherheit unserer Versorgung, insbesondere aber auch unter Berücksichtigung der regionalen und der sozialen Probleme in den Bergbauregionen weiterzuführen. Die Bundesregierung hat deshalb in den Gesprächen mit allen Beteiligten ein Konzept entwickelt, das sich in der geänderten Begründung der Verordnung niedergeschlagen hat.
Ich muß aber auch darauf hinweisen, daß der höhere Beitrag der Stromverbraucher in den revierfernen Ländern nur dann erwartet werden kann, wenn die so ausgedrückte Solidarität, die von den Revierländern erwartete Solidarität mit der deutschen Kohle auch in den anderen Energiebereichen eine Parallele hat.
Wer diese Kohlepolitik erhalten sehen möchte, muß das energiepolitische Interesse an der Nutzung der Kernenergie anerkennen und darf dies nicht konterkarieren.
Die Mischkalkulation zwischen teurer deutscher Kohle und günstiger Kernenergie muß weiterhin möglich sein. Das ist das zweite, Herr Minister Jochimsen, was passiert ist — da Sie fragten: Was ist seit Dezember 1987 passiert? Sie haben in Ihrer Rede von sich aus das Wort Kernenergie überhaupt nicht in den Mund genommen.
Die SPD probt seit Herbst letzten Jahres den Ausstieg aus der Kernenergie.
Wenn wir von Konsens reden, dann denken Sie bitte daran, daß nicht nur Kohle mit K anfängt, sondern auch Kernenergie mit K anfängt und daß es deshalb
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Parl. Staatssekretär Dr. von Wartenberg
einen Konsens geben muß: Planungssicherheit braucht nicht nur die Kohle, Planungssicherheit braucht auch die Kernenergie.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Herr von Wartenberg, ich möchte Sie fragen: Das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich steht still. Die Stillegungskosten pro Tag sind sehr hoch. Wer trägt diese Kosten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Sellin, bei allen Überlegungen hinsichtlich der Energie müssen wir Wert darauf legen, daß die Konsumenten des Stroms diese Kosten nach einer sorgfältigen Kalkulation bezahlen.
Es führt nicht zum Konsens, meine Damen und Herren, wenn Sie zwar ständig von Kohlevorrangpolitik reden, aber diese Politik mit Ihrer Forderung nach dem Ausstieg aus der Kernenergie gleichzeitig gefährden.
Der Kohlevorrang wurde 1980 auf der Grundlage dieses Vertragswerkes definiert. Wer sich gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie ausspricht, verläßt die politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des Jahrhundertvertrages.
Herr Kollege Jung, ich entdecke eine Diskrepanz zwischen der von Ihnen zugesagten Zustimmung zu der Verordnung und den in Ihrer Rede vorgebrachten Argumenten.
Ich möchte dies im Interesse der Bergleute zwar nicht vertiefen, aber Ihr Wort aufgreifen, daß die Chance zum Neuanfang gegeben sei. Ich möchte Sie einladen, mitzudenken: Es ist doch offensichtlich, daß der vorgeschlagene Kohlepfennig von 8,5 % die finanziellen Probleme des Fonds alleine nicht lösen kann. Der Vorschlag muß so zügig wie möglich durch andere Maßnahmen ergänzt werden, die eine Entlastung bringen.
Die Bundesregierung und der Bundestag haben dafür bereits wichtige Maßnahmen beschlossen: Die Steuererhöhung für das Verstromungs-Heizöl läßt beim Ölausgleich eine jährliche Entlastung von 600 Millionen DM erwarten. Die sogenannten Erblasten der Bergbauunternehmen werden bis 1991 weiterfinanziert, wodurch ein Ansteigen des Fondsdefizits um weitere 200 Millionen DM pro Jahr verhindert wird.
Die Bergbauunternehmen haben zugesagt, ihre Preise für Kraftwerkskohle konstant zu halten.
Aber wir müssen auch nüchtern erkennen, daß diese bereits eingeleiteten Aktionen nicht ausreichen. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen sind daher nicht bereit, die Elektrizitätswirtschaft aus ihrer Verantwortung für das Vertragswerk selbst zu entlassen. Bundesregierung, Gesetzgeber und Elektrizitätswirtschaft gingen 1980 gemeinsam davon aus, daß zur Finanzierung sämtlicher Zuschüsse ein Volumen von rund 2 Milliarden DM und eine Ausgleichsabgabe in der Größenordnung um 4 % ausreichen würden. Der Elektrizitätswirtschaft fließen nunmehr seit 1986 unerwartete Zuschüsse in Milliardenhöhe zu, ohne daß dem ein entsprechender Anstieg der Brennstoffkosten gegenübersteht. Herr Kollege Stratmann, ich verstehe Ihren Vorschlag, auf 13,7 % zu gehen, überhaupt nicht, da Sie ansonsten doch auch gegen windfall profits argumentieren. Wäre diese Entwicklung 1980 voraussehbar gewesen, dann hätten Bundesregierung und Gesetzgeber entsprechende Vorsorge getroffen.
Wir werden deshalb, meine Damen und Herren, mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen über eine Plafondierung beim Ölausgleich nochmals sprechen. Andererseits erkennen wir an, daß die vorgesehene Anhebung der Verstromungsmengen ab 1991 erhebliche Probleme bei den Elektrizitätsunternehmen auslöst. Im Interesse eines Gesamtkompromisses muß deshalb erörtert werden, wie die Aufstockungsmengen für den Vertragszeitraum 1991 bis 1995 auf die anschließenden Jahre gestreckt werden können.
Diese Verhandlungen können mit um so größerer Aussicht auf Erfolg geführt werden, je breiter der politische Wille für eine gemeinsame Energiepolitik ausgedrückt wird. Wir haben die Gespräche — in Kontakt mit der Landesregierung von NRW — unverzüglich aufgenommen; die Termine sind in Vorbereitung.
Ich bitte Sie deshalb um die Zustimmung zu dieser Verordnung.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß der Aussprache.
Das Wort zu einer Erklärung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Becker erbeten. Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden der Beschlußempfehlung folgen, der Verordnung der Bundesregierung — Drucksache 11/3477 — zuzustimmen. Aber diese Drucksache hat eine Begründung. In dieser Begründung gibt es den Punkt 6, der heißt: Die Bundesregierung erwartet in diesem Fall, daß die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8471
Becker
Kohleländer die Kosten für den Revierausgleich und die Bergbauunternehmen die Erschwerniszuschläge für den Einsatz niederflüchtiger Kohle übernehmen.
Dies ist ein wichtiger Satz, der noch immer auf der Tagesordnung steht. Wir wollen uns auf keinen Fall damit identifizieren; denn dies wäre eine schrittweise Hinrichtung der Bergbauunternehmen mit niederflüchtiger Kohle. Diesen Punkt nehmen wir also bei der Beschlußfassung aus. Dem können wir nicht zustimmen. Wir können uns da nicht festlegen lassen.
Herr Dr. Unland, Sie wollen auch eine Erklärung für Ihre Fraktion gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung abgeben? — Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu der Erklärung des Kollegen Becker möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, daß der alte Punkt 6 der Begründung gar nicht zur Abstimmung steht.
Erstens ist die Begründung nicht Gegenstand unserer Beschlußfassung, und zweitens hat die Bundesregierung ausdrücklich eine andere Formulierung in die Verhandlungen eingebracht, und die ist Gegenstand des Berichtes des Berichterstatters geworden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist klargeworden: Es geht um einen Teil, der nicht zur Abstimmung steht, aber wozu Erklärungen abgegeben worden sind.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft zu der zustimmungsbedürftigen Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1989. Es ist die Drucksache 11/3676. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen! — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit, bestehend aus den Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion, gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Zu den Tagesordnungspunkten 10b, 10d und 10 e sowie zu dem Zusatztagesordnungspunkt 2 wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu andere Meinungen? — Das ist nicht der Fall. Sie sind einverstanden. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 10c. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers für Wirtschaft zur Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" . Wer für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/2172 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Jetzt habe ich einen schönen Zettel vor mir, auf dem steht: Unterbrechung der Sitzung zur Mittagspause. Das kann ich uns allen und insbesondere unseren Mitarbeitern leider nicht gönnen; wir müssen fortfahren. Es tut mir leid, aber das hat sich aus der Debatte des Vormittags ergeben. Insofern brauche ich auch die unterbrochene Sitzung nicht wiederzueröffnen; sie bleibt eröffnet.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Verantwortung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Zusammenhang mit den Vorfällen im Atomkraftwerk Biblis A
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unser Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu oben genanntem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wollny.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche Ihnen allen ein frohes Fest. Es gibt Grund zum Feiern, denn wir leben noch. Seit einer Woche wissen wir, daß dies ein Zufall ist; denn täglich, ja stündlich kann uns ein Atomreaktor um die Ohren fliegen.
Wir wissen dies nicht, weil unsere Atombehörden uns gewarnt haben, sondern wir wissen das, weil es in Amerika in der Zeitung stand.
Unsere Aufsichtsbehörden sind nämlich keine Aufseher, sondern Wegseher.
Sie benehmen sich genauso wie die Bedienungsmannschaft in Biblis. Wenn auf den Warntafeln ein Licht aufglüht — und das passiert ständig — , wird es nicht beachtet. Man verläßt sich darauf, daß es schon gutgehen wird. Ihnen wird nie ein Licht aufgehen.
Und kommt dann auf irgendeine fatale Weise wie jetzt ein Vorfall heraus, wird er heruntergespielt, wird abgewiegelt. Die Verantwortung wird hin und her geschoben. Getan wird gar nichts. Bei alldem wird die Bevölkerung belogen und betrogen.
8472 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Wollny
Biblis war nur ein E-Störfall von vielen im Jahr, heißt es. Wir können ja darüber reden, wenn irgendwann die Störfall-Liste kommt.
Herr Baum, wenn es so ist, daß alle E-Störfälle von der gleichen Kategorie sind wie dieser, dann können wir nicht warten. Denn dann können wir uns an den Fingern abzählen, wann uns ein Reaktor um die Ohren fliegt.
Es ist uns gleichgültig, Herr Töpfer, wer letzten Endes die Verantwortung trägt: ob Betreiber oder Landesregierung oder Sie. Wenn erst Millionen betroffen sind, wenn unser Land unbewohnbar geworden ist, fragt keiner mehr danach.
Ich verstehe ja, weshalb Sie sich mit Halb- und Falschmeldungen zufriedengeben. Sie könnten sich ja sonst irgendwann gezwungen sehen, Atomkraftwerke abzuschalten und Ihre sogenannten Experten dahin zu schicken, wohin sie gehören, nämlich sie zum Teufel zu jagen.
Aus dem gleichen Grunde können Sie auch die Öffentlichkeit nicht informieren; denn wenn die Leute wüßten, was in unseren Kernkraftwerken los ist, könnte es passieren, daß man Sie zum Teufel jagt
und mit Ihnen alle übrigen Protagonisten der Kernenergie.
Wenn Sie sich jetzt gezwungen sehen zu beschließen, ein paar neue Beauftragte zu ernennen, wenn Sie sich entschließen, die Störfälle zu veröffentlichen, so ändert das gar nichts. Dadurch wird kein einziges AKW sicherer.
Und wenn Sie versprechen nachzurüsten — ich möchte Sie alle bitten, auf das Wort zu achten: nachrüsten —, dann heißt das immer nur, daß vorher etwas faul war. Und irgendwann wird es zu spät sein zum Nachrüsten.
Deshalb: Steigen Sie aus aus der Atomenergie. Fangen Sie an, indem Sie den Betreibern von Biblis und Stade die Betriebsgenehmigung entziehen.
Wenn Ihnen dazu der Mumm fehlt, dann gehen Sie selber!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Aufgabe ist es — auch wenn es der Opposition sehr schwerfällt —, reale Politik in einer Welt zu machen, in der es keine
Technik ohne Störung und keine Menschen ohne Fehler gibt.
Die Kernenergiewirtschaft wäre gut beraten — sagte der Kollege Schäfer von der SPD im Zusammenhang mit dem Störfall im Kraftwerk Biblis A — , deutsche Atomkraftwerke als technische Systeme anzusehen, die auch versagen können.
Exakt diese Erkenntnis, Herr Kollege Schäfer, ist doch der Grund, weshalb wir uns vor den Gefahren der Radioaktivität durch ein vielfach gestaffeltes Sicherheitssystem mit mehrfachen Barrieren schützen. Seine ständige Verbesserung und Überprüfung ist eine Aufgabe von hohem Rang. Dieses Schutzsystem soll technisches und menschliches Versagen so frühzeitig auffangen, daß keine Schäden für Mensch und Umwelt eintreten. Es hat sich auch in Biblis bewährt.
Dieser Störfall am 16./17. Dezember 1987 ist trotz dreifachen menschlichen Fehlverhaltens erkannt und behoben worden, lange bevor die Gefahrenlage einer Kernschmelze hätte entstehen können. Eine ganze Kette weiterer Versagen — vor allem auch technischer Versagen der automatisierten Schutzeinrichtungen — hätte vor einem solchen Unfall hinzukommen müssen. Darüber hinaus ist auch darauf hinzuweisen, daß sich die Blöcke Biblis A und B gegenseitig stützen und am Ende einer solchen Eskalation des Versagens Notkühlfunktionen wechselseitig übernehmen könnten. Diese Feststellung findet natürlich nicht den Beifall derer, die sich auf ein absolutes Nein zur friedlichen Kernenergienutzung festgelegt haben. Deshalb möchte ich noch eine Feststellung hinzufügen: Nach dem Unfall in Harrisburg 1979 hat die Bundesrepublik Deutschland in enger Kooperation mit vielen Industriestaaten mit großem Forschungsaufwand untersucht, ob die Containments unserer Kernkraftwerke einem Kernschmelzunfall standhalten und eine Umweltkatastrophe verhindern könnten.
Die vorliegenden Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten sind sehr beruhigend. Es sind weitere Nachrüstmaßnahmen durchgeführt worden, um ein unkontrolliertes Versagen der Sicherheitseinschlüsse auch in diesem äußerst unwahrscheinlichen Fall nach menschlichem Ermessen auszuschließen.
Das fachliche Störfallmeldeverfahren mit seinen Kontroll- und Korrekturmechanismen hat sich ebenfalls bewährt. Das Ereignis in Biblis ist umgehend fachlich geprüft und bewertet worden.
Es ist einer breiten nationalen und internationalen
Fachöffentlichkeit bekannt geworden. In den Länder-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8473
Dr. Laufs
aufsichtsbehörden, in den Fachgremien des Technischen Überwachungs-Vereins — über den Bund-Länder-Arbeitskreis, die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die Reaktorsicherheitskommission bis hin zur Kernenergieagentur der OECD — müssen Störfälle exakt untersucht werden. Dort gehören sie zuallererst hin. So ist es auch mit dem Ereignis Biblis geschehen. Als Konsequenzen sind technische Nachrüstungen und Nachschulungen durchgeführt worden. Die Einstufung ist von der Kategorie N nach E verändert, und ein Ordnungswidrigkeitsverfahren ist eingeleitet worden.
Die Prüfung weiterer Maßnahmen gegen den Betreiber ist noch nicht abgeschlossen. Die Kritik setzte vor allem mit der Frage ein, warum besondere Vorkommnisse dieser Art nicht sofort auch der politischen Öffentlichkeit bekanntgemacht werden, sondern erst zusammenfassend im Jahresbericht der Bundesregierung.
Es gibt etwa 400 Störfälle der niedrigsten Kategorie pro Jahr, die nicht direkt mit Gefahren für Mensch und Umwelt verbunden sind. Es ist nicht sinnvoll und auch nicht sachgerecht, alle diese Fälle jeweils in breiter Öffentlichkeit zu diskutieren.
Anders ist dies bei den etwa zehn Fällen pro Jahr, die als „Eilt-Fälle" eingestuft werden. Hier möchte ich empfehlen, daß diese Fälle jeweils unverzüglich im zuständigen Umweltausschuß des Deutschen Bundestages erörtert werden.
Politischer Schaden tritt dann ein, wenn der Eindruck von Verheimlichung und Vertuschung entsteht. Ich möchte betonen, daß dieser Vorwurf an die Bundesregierung jeder Grundlage entbehrt.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Brunsbüttel, Harrisburg, Tschernobyl, Biblis A und Stade: Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es ein Gemeinsames.
Es ist geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen.
Sie, Herr Töpfer, haben gestern im Umweltausschuß gesagt, in Biblis hätte ein nicht zu beherrschender Störfall eintreten können und — so haben Sie ausgeführt — Sie hielten eine Wiederholung dieses Störfalles für ausgeschlossen. In Wirklichkeit lautet die Frage nicht, ob ein solcher Störfall in seiner Wiederholung ausgeschlossen werden kann, in Wirklichkeit heißt die Frage nur, wann und wo sich ein solcher Störfall wiederholen wird. Dies ist die entscheidende Schlußfolgerung. Vor einem Jahr ereignete sich der Hanauer Atomskandal. Sie, Herr Minister, haben damals tiefe Schnitte angekündigt, um neues Vertrauen zu schaffen. Heute, fast ein Jahr später, schreibt eine renommierte Wochenzeitschrift — „Die Zeit" — vom GAU des Vertrauens, der durch diesen Vorgang deutlich hervorgerufen worden ist. Wir müssen sagen, Herr Töpfer: Sie tragen wesentlich mit die Verantwortung dafür, daß es zu diesem GAU des Vertrauens gekommen ist.
Aber auch die Spitzen der Betreiberfirmen kerntechnischer Anlagen sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
Die Betreiber von kerntechnischen Anlagen haben einfach so weiter gemacht, als ob es den Hanauer Atomskandal gar nicht gegeben hätte. Das Prinzip Vertuschen wird offensichtlich noch immer vor das Prinzip Transparenz gestellt.
Jetzt kam mir gerade die „dpa"-Meldung Nr. 175 von 12.41 Uhr auf den Tisch. Die lautet in der Oberschrift: „RWE: Steckt ausländische Konkurrenz hinter Wirbel um Biblis?" Dann führt Herr Klätte vom RWE dort aus: Er behaupte, die deutsche Kernkraftwerksindustrie solle — wörtlich zitiert — „kaputtgemacht" werden.
Ich sage, meine Damen und Herren: Es bedarf keiner finsteren Mächte — ob im Ausland oder im Inland —, um die deutsche Kernkraftwerksindustrie kaputtzumachen. Dies betreiben am nachhaltigsten die Betreiber und ihre Helfer in der Öffentlichkeit, die Skandale vertuschen wollen, selbst.
Aber auch Sie, Herr Töpfer, sind in Ihrer Informationspolitik Ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden. Spätestens seit dem 12. Oktober 1988 wußten Sie persönlich um die Schwere des Vorgangs, waren Sie über alle Einzelheiten informiert, kannten Sie die Einmaligkeit der Bedeutung dieses Störfalls in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Statt Ihren eigenen Anspruch zu erfüllen, durch eine offene Informationspolitik, durch Transparenz Vertrauen herzustellen, haben Sie sich an der Vertuschungsstrategie beteiligt. Sie haben die Öffentlichkeit erst informiert, als über ein ausländisches Fachblatt dieser Vorgang in der deutschen Öffentlichkeit bekanntgeworden ist. Wer sich so verhält, wie Sie sich in diesem Falle verhalten haben, Herr Töpfer, der zeigt nicht nur ein gebrochenes Verhältnis zum Parlament, was seine Informationsbringschuld angeht, sondern der macht sich auch mitschuldig daran, daß die Glaubwürdigkeit nicht nur der Person Töpfer, sondern auch des Parlaments insgesamt beschädigt werden kann.
8474 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Schäfer
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur um menschliches Fehlverhalten, es geht nicht nur um Fragen einer verfehlten Informationspolitik. Es geht darum, daß dieser Vorgang einmal mehr deutlich gemacht hat, daß das Risiko Kernenergie auf Dauer nicht zu verantworten ist und daß es unsere gemeinsame Aufgabe ist, wenn wir unserer Verantwortung für die nach uns folgenden Generationen und für die jetzt Lebenden gerecht werden wollen, alles zu tun, um diese nicht verantwortbare Technologie möglichst schnell durch alternative, risikoärmere Technologien zu ersetzen.
Deswegen sagen wir Sozialdemokraten: Wir bleiben bei unserem energiepolitischen Kurs, möglichst schnell sichere Energieversorgung ohne Kernenergie umweltfreundlich und preiswert für die Bundesrepublik Deutschland möglich zu machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe drei Fragen.
Erstens frage ich mich: Warum wurde der Störfall von den Betreibern so niedrig eingestuft und den Aufsichtsbehörden gegenüber so verharmlosend dargestellt? Ich kann der Meldung, die Bundesminister Töpfer gestern vorgelesen hat, nicht entnehmen, daß hier der entscheidende Faktor menschliches Fehlverhalten hinreichend zum Ausdruck kommt. Wenn der Betreiber in einer solchen Weise einen Störfall falsch einschätzt, ist die Frage zu stellen, ob ihm entweder die Fachkunde fehlt oder die Zuverlässigkeit. Hinzu kommt, daß sich die Behörden bei anderen Störfällen in der letzten Zeit ebenfalls gezwungen sahen, eine Höherstufung vorzunehmen. Warum — so frage ich — besteht bei Betreibern offenbar die Neigung zur Verharmlosung? Sie verlieren damit an Glaubwürdigkeit und Vertrauen.
Es ist beruhigend, daß sich die Aufsichtsbehörden schon unmittelbar nach dem Störfall im Dezember 1987 mit dieser Meldung nicht zufriedengaben, den Störfall aufgerollt, Gutachten in Auftrag gegeben und schließlich eine korrekte Einordnung in die Störfallkategorie E vorgenommen haben. Es sind im Laufe der folgenden Monate auch die notwendigen Weitermeldungen an alle Länderbehörden und an die internationalen Behörden erfolgt, und die Anlage ist nachgebessert worden.
Zweitens. Mich hat erschreckt, welche Bedeutung nach wie vor der Faktor Mensch, besser gesagt: der Risikofaktor Mensch beim Betrieb eines Kernkraftwerkes hat.
Warum konnte menschliches Fehlverhalten eine solche Wirkung haben? Warum ist viele Stunden lang das Fehlverhalten von Menschen nicht durch das technische System korrigiert oder so gemeldet worden, daß der Mensch zum Handeln gezwungen war?
Störungen, so meine ich, müssen doch letztlich von der Automatik beherrscht werden, weil nicht auf alle Menschen in jeder Situation Verlaß ist.
Mir kam bei dieser Gelegenheit eine Passage aus dem Sachverständigengutachten 1987 in Erinnerung
— ich zitiere — :
Eine nüchterne Diskussion von Risiken wird dadurch belastet, daß unsere Gesellschaft die Schwierigkeiten des Umgangs mit den — von ihr selbst produzierten — Risiken kaum bewältigt. Damit
— so sagt der Rat —
taucht die Frage auf, ob sich langfristig das Denken und Fühlen der Menschen den Risiken anzupassen hat ... oder ob unsere Gesellschaft auf die Produktion von Risiken verzichten sollte, die sie ... nicht bewältigen .. .
Im Falle von Harrisburg, dem ungleich gefährlicheren Störfall, bei dem menschliches Verhalten eine noch viel größere Rolle gespielt hat, waren wir in der Analyse durch das damalige Bundeskabinett der Meinung, daß der Risikofaktor Mensch einer stärkeren Kontrolle unterworfen werden sollte.
Warum ist das nicht geschehen?
Ich komme zum dritten Kritikpunkt. Warum wurde der Störfall erst jetzt und auf diese Weise veröffentlicht? Behördenintern hat die notwendige Kommunikation stattgefunden. Der Störfall wäre sicher auch in dem Bericht erschienen, Herr Töpfer, den Sie dieser Tage publizieren.
Ich meine allerdings, daß es nach § 139b der Gewerbeordnung notwendig ist, die Beteiligten zu verpflichten, die Offentlichkeit unverzüglich zu unterrichten.
Ich zitiere die „Stuttgarter Zeitung" vom 6. Dezember 1988, die sagt:
Das Kernkraftwerk Biblis stand im Dezember 1987 keineswegs unmittelbar vor einer großen Katastrophe: Von dem Störfall bis zu dem größten von den Experten noch für beherrschbar gehaltenen Atomunfall ... wäre noch ein weiter Weg gewesen.
Tatsächlich hätten sich letztlich auch die Bedienungsmannschaft und die Sicherheitseinrichtungen bewährt. Es handele sich aber um einen erheblichen Störfall. Wir könnten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Wir befassen uns erneut mit dem sogenannten Restrisiko. Alle diejenigen, die jetzt angesichts der Klimakatastrophe, des Treibhauseffektes glauben, sie
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8475
Baum
könnten die Augen vor diesem Restrisiko verschließen, sollten angesichts dieses Störfalls nachdenklich werden.
Ich bekräftige die Auffassung der FDP, daß die Nutzung der Kernenergie als Übergangsenergie zeitweilig vertretbar ist unter der Voraussetzung, daß gleichzeitig und sichtbar alle Anstrengungen unternommen werden, den Ausstieg tatsächlich zum frühstmöglichen Zeitpunkt zu erreichen.
Damit scheidet nach unserer Auffassung ein nachhaltiger Rückgriff auf fossile Energieträger aus. Wir sind der Auffassung, daß sparsame und rationale Energienutzung ein Hauptziel der Energiepolitik sein muß,
daß herkömmliche Energieversorgungssysteme fortschreitend zu ersetzen sind durch neue schadstoffarme Energien und
daß drastisch verstärkte Anstrengungen erforderlich sind, um risikoärmere Energietechniken zu entwikkeln.
Ich habe aus Beschlüssen meiner Partei vom Mai dieses Jahres zitiert. Wir unterscheiden uns damit ganz deutlich von den Ausstiegsszenarien der SPD und der GRÜNEN. Wir sind der Meinung, daß der Bundesumweltminister hier korrekt gehandelt hat; er ist seiner Verantwortung gerecht geworden.
Wir haben keinen Anlaß, ihn zu kritisieren. Wir haben alles auf dem Tisch, Herr Schäfer. Hier bei dieser Gelegenheit den Versuch zu machen, dem Umweltminister des Bundes etwas anzuhängen, ist völlig verfehlt. Sie sollten hier die Sachlage nüchtern betrachten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will Ihnen eine Freude machen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Wollny hat uns soeben erklärt, daß wir dicht vor der Katastrophe waren. Frau Kollegin Wollny, ich zitiere jetzt nicht irgendeinen, der angeblich mit der Atomwirtschaft unter einer Decke steckt, sondern Ihren Kronzeugen, den Atomexperten Lothar Hahn. Er hat in einem Interview eine Frage beantwortet. Ich lese Ihnen vor, was er auf die Frage, wie weit man war, geantwortet hat — „Frankfurter Rundschau" vom 6. Dezember 1988 — :
Wie dicht man an einem Unfall war, kann man .. . im Moment wohl schlecht angeben.
Da sind weitere Analysen notwendig, etwa um herauszufinden, wie der Unfall ohne das Abschalten des Reaktors weiter verlaufen wäre . . .
— Frau Kollegin Wollny, das ist das mindeste, was man einräumen muß, wenn man bei der Wahrheit bleiben und nicht nur agitieren will.
Wir haben uns mit dieser Frage gestern im Umweltausschuß doch mindestens drei Stunden lang befaßt und haben dort den Eindruck gehabt — es war wenigstens mein Eindruck — , daß wir vom Unglück weit entfernt waren. Ich sage Ihnen aber — da stimme ich Herrn Hahn zu — , daß dieses Ereignis für mich noch nicht abgehakt ist.
Das muß näher untersucht werden. Wir sind durchaus empört, daß man nicht nach Betriebshandbüchern verfährt, müssen aber in diesem Zusammenhang einmal eines feststellen. Wir haben uns mit unserer Sicherheitsphilosophie nie darauf verlassen, daß der Mensch bei der Bedienung einer nuklearen Anlage fehlerfrei handelt. Wir gehen bisher davon aus, daß die Technik so ausgelegt ist, daß sie Fehler verzeiht. Ob das richtig ist, werden wir jetzt an Hand dieser Ereignisse nochmals in aller Ruhe überprüfen.
Punkt 2. Alle anderen Dinge sind meines Erachtens zum Teil mehr als ärgerlich, aber nicht entscheidend, weil es nicht um die Frage geht, ob die Kraftwerke sicher sind, sondern nur darum, wie wir mit solchen Vorkommnissen richtig umgehen.
Ich möchte hier nicht im einzelnen erläutern, weshalb wir betroffen sind und auch vieles nicht verstehen. Betroffen sind wir darüber, wie dieser Unfall der zuständigen Stelle gemeldet wurde.
Zum Betreiber möchte ich sagen: Ein solches Verhalten zerstört Schritt für Schritt die ohnehin schon gesunkene Akzeptanz der Kernenergie. Das ist das Gegenteil von dem, was wir nach der Bewertung der verschiedenen Stromerzeugungstechniken nach den Kriterien Sicherheit, Umweltfreundlichkeit und Wirtschaftlichkeit für erforderlich halten.
Wenn wir — drittens — das Kapitel Informationspolitik — darauf komme ich nachher noch — außer Betracht lassen, verstehe ich überhaupt nicht, weshalb hier und anderswo hessische Ministerien oder unser Bundesumweltministerium kritisiert werden.
In Hessen hat man sofort Verdacht geschöpft,
8476 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr. Friedrich
die richtigen Gutachter unverzüglich eingeschaltet, die vorgesehenen Gremien informiert.
— Vielleicht provoziert Sie das. In fünf Minuten kann ich es nicht im Detail erläutern, aber im Ausschuß. Vielleicht provoziert Sie das.
Ich bin der Überzeugung, daß der Vorfall zeigt, daß sich die atomrechtliche Aufsicht geradezu bewährt hat.
Die verleumderische Behauptung vor allem der GRÜNEN ist widerlegt worden, daß es zwischen den Betreibern und den Gutachtern, z. B. in der Reaktorsicherheitskommission, Abhängigkeit und Kumpanei gibt.
Die haben die Fehler doch aufgedeckt. Und Sie zitieren jetzt diese Leute. Wie können die mit den Betreibern unter einer Decke stecken? Da fehlt Ihnen die Logik in der Argumentation.
Zur Informationspolitk noch letzte Anmerkungen. Die Medien kommentieren das ganze nach dem Motto: Wer uns nicht informiert, der vertuscht. Bei den Journalisten habe ich dafür sogar noch ein gewisses Verständnis. Aber wir können doch nur rügen, wenn die hier bekannten und vereinbarten Spielregeln verletzt werden.
Ob die richtig sind, ist etwas anderes.
Spielregel im Umweltausschuß ist — das wissen Sie doch, Herr Kollege Lennartz; warum haben Sie nicht früher eine Änderung beantragt —, daß wir über Störfälle einmal jährlich zusammengefaßt unterrichtet werden.
Es ist deshalb völlig falsch,
wenn der Herr Seiler vom Öko-Institut Darmstadt in einem Pressebericht erklärt hat,
in der Bundesrepublik könnten normalerweise alle Störfälle geheimgehalten werden. Wir haben doch in unseren Archiven die jährlichen Berichte.
Wir erörtern sie. Jede unserer Fragen ist bisher beantwortet worden. Das bedeutet allerdings nicht, daß es klug war, erst den Jahresbericht abzuwarten.
Herr Abgeordneter — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, das ist mein letzter Satz: Überlegen Sie sich, an wen Sie den Vorwurf richten, an die Aufsicht des Bundes über die Länder oder an die Atomaufsicht, nämlich Länderbehörden, über die Anlagen oder an die Betreiber.
Herr Abgeordneter, jetzt fängt gerade ein neuer Satz an. Ich muß Sie bitten, aufzuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sozialdemokraten in den Aufsichtsräten der RWE haben viel zu tun.
Dort sind viele Vorwürfe zu erheben.
Herr Abgeordneter — — Dr. Friedrich : Vielen Dank.
Es ist leider nun einmal so, daß wir bei Aktuellen Stunden die Zeitguillotine sehr scharf benutzen müssen, um alle gleich zu behandeln.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau WieczorekZeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich erschreckt ein bißchen, daß hier von „Vorkommnissen" — so sagt es Herr Töpfer —, von „Spielregeln", von „Berichten" gesprochen wird und nicht von Menschen. So wird nämlich der mögliche Strahlentod von Hunderttausenden von Menschen in der Bürokratensprache kleingeschrieben.
Der 16. und der 17. Dezember, das war eine Woche vor Weihnachten, und ich will von Menschen sprechen.
— Vor einem Jahr. — Eltern kauften Geschenke für ihre Kinder, freuten sich auf gemeinsame Urlaubstage, und in der Stadtkirche St. Georg in Bensheim, 10 km Luftlinie von Biblis entfernt, fand ein Adventssingen statt.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8477
Frau Wieczorek-Zeul
— Sie reden nur von der Sache, wir reden von den Menschen.
Während diese Menschen feierten, während sie atmeten, sich freuten, war 15 Stunden lang der Größte Anzunehmende Unfall in ihrer Nähe möglich.
Nur noch ein weiteres technisches Versagen, und die nachfolgenden Rohrleitungen in Biblis A wären geplatzt, der Kern des Atomreaktors hätte schmelzen können.
Was hätten Sie, Herr Töpfer, und was hätte der Hessische Umweltminister, der Herr Weimar, getan, wenn auch die zweite Barriere in Biblis A gefallen wäre? Die Wahrheit ist: Sie hätten nichts mehr tun können. Sie wissen, es gibt nichts, was der Katastrophenschutz im Umkreis von 25 km überhaupt noch für die Menschen tun kann, geschweige denn darüber hinaus. Innerhalb weniger Tage würden Zehntausende von Menschen durch akutes Strahlensyndrom sterben. Und sie sterben elend. Darüber sollten Sie sprechen. Die Haare fallen aus. Der Körper zerfällt von innen wie durch einen schnellen Krebs. Sie kennen die Fotos von Nagasaki und Hiroshima. Hunderttausende würden in den folgenden Jahren an Leukämie und Krebs sterben.
Vor drei Monaten haben wir am Beispiel Ramstein erlebt, wie überfordert unser Katastrophenschutzsystem in einer solchen Katastrophe ist.
Wie wollen Sie Menschen nach dem atomaren GAU noch helfen können?
Im Umfeld von 30 km um Biblis leben mindestens 1 Million Menschen. Sie wissen, daß nach Tschernobyl im Umkreis von 30 km die Menschen evakuiert wurden. Wohin, Herr Töpfer, so frage ich Sie, wollen Sie die Menschen in Worms, in Ludwigshafen, in Mannheim, in Alzey, in Heidelberg, in Bensheim, in Darmstadt, in Riedstadt, in Großgerau, in Wiesbaden, im Rhein-Main-Gebiet, Frankfurt, evakuieren?
Die Wahrheit ist: Sie können nichts tun. Sie können sie nicht evakuieren. Selbst wenn Sie sie evakuieren könnten, was nicht möglich ist: In dieser Region wäre Leben nicht mehr möglich.
Das wissen wir nach Tschernobyl.
Sie sagen, Herr Töpfer: Ein solcher Störfall wird sich nach menschlichem Ermessen so nicht wiederholen. Die Anlage war einwandfrei. Die Menschen haben versagt. — Die Wahrheit ist, Herr Töpfer: Ihr System setzt den unfehlbaren, den perfekten, den fehlerfreien Menschen voraus.
Und den gibt es nicht. Deshalb ist in dem technischen System der Atomenergie das Inferno programmiert. Lernen Sie das doch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wollen Sie warten, bis wirklich etwas passiert?
An die Adresse von Herrn Weimar, dem hessischen Umweltminister, sage ich: Sie haben der hessischen Bevölkerung die Wahrheit über die Gefahr verschwiegen, als Sie sie erfuhren. Und Herr Weimar kannte spätestens ab 17. Februar 1988, als der TÜV Bayern seine beunruhigenden Ergebnisse seinem Hause vorlegte, die Wahrheit. Wer aber Informationen verschweigt, die er über Gefährdungen besitzt, der läßt die Menschen schutzlos und der verletzt als Politiker seinen Amtsauftrag.
Wenn Sie, Herr Weimar, einen Funken von Anstand, Ehre und Gewissen haben, dann müssen Sie eingestehen: Sie haben in einer entscheidenden Stunde in Ihrer persönlichen Verantwortung versagt. Treten Sie zurück!
Ihnen beiden, Herr Töpfer und Herr Weimar, und Ihnen von der CDU/CSU und der FDP sage ich: Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kolleginnen und Kollegen der CDU aus dem Kreis Bergstraße! Sie haben sich nicht an die Parteilinie gehalten. Sie haben im Kreistag mit der SPD und den GRÜNEN für das Abschalten von Biblis A gestimmt und damit für die Abkehr von der Atomenergie.
Haben Sie nichts aus Tschernobyl gelernt? Vizepräsident Westphal: Frau Abgeordnete — —
Reichen Ihnen die Menetekel an der Wand noch nicht, Harrisburg, Tschernobyl? Wollen Sie verantworten, daß es eines Tages heißt: Biblis, Stade, Brokdorf und Wackersdorf?
Frau Abgeordnete, ich muß Sie leider unterbrechen. Es tut mir leid. Ich muß hier alle gleich behandeln.
Ich bin fertig.
Kehren Sie um. Treten Sie mit uns für die Stillegung von Biblis A und für den Ausstieg aus der Atomenergie ein.
Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war, wie ich meine, verehrte Frau
8478 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Harries
Kollegin, eine schlimme Rede; das war eine verantwortungslose Rede.
Das war genau das Geschäft mit der Angst.
Das war eine Politik, die wir alle, auch vor dem Hintergrund dieser sehr ernsten Situation, nicht machen dürfen.
Auch ich weiß, daß die Akzeptanz der Bevölkerung nach den Ereignissen in Biblis vor einem Jahr erschüttert ist.
Auch ich frage mich, was ich in meinem Wahlkreis in Diskussionen sage,
in einem Wahlkreis, in dem Gorleben liegt, in dem an der Grenze Krümmel für Tausende sichtbar ist. Was antworte ich auf kritische Fragen?
Insofern ist die Situation weiß Gott ernst.
Aber wir sind zu einer sachlichen Aufklärung aufgerufen, nicht — ich wiederhole es — zu einem Geschäft mit der Angst der Bevölkerung.
Wir haben uns nach den Ereignissen in Biblis zu fragen: Wie hat die Technik reagiert? Wie ist die Technik zu beurteilen? Wie haben die Menschen reagiert? Wie sind die Menschen hier in einem Kernkraftwerk in der Verantwortung am Ort zu beurteilen? Wie ist der Betreiber zu beurteilen? Und wie ist die Aufarbeitung durch die verantwortlichen Stellen nach dem Eintreten und dem Bekanntwerden solcher Ereignisse zu beurteilen?
Bei der Beurteilung dieser verschiedenen Ebenen können wir alle sagen, daß die Technik in diesem Fall noch am besten, am sichersten reagiert hat,
daß aber die Menschen hier offenbar überfordert waren
und zu einem Fehlverhalten gekommen sind.
Aber das läßt sich heute nach der breiten, fairen, offenen und nichts verbergenden Diskussion im Umweltausschuß und in der Presse unter Fachleuten wirklich sagen:
daß hier ein weiteres Sicherheitssystem den von uns allen befürchteten Störfall und GAU verhindert hat.
Trotzdem hatte unser Bundesumweltminister
völlig recht, als er feststellte, daß das Fehlverhalten von Personen einen Zustand herbeigeführt hat, der von den Betriebsbeschreibungen überhaupt nicht mehr abgedeckt war.
Ein kritisches Wort zu den Betreibern. Für meine Begriffe ist hier ein schwerer Vorwurf den RWE — ich nenne den Namen — zu machen,
weil sie nicht schon damals in den ersten Meldungen den Vorfall und die Ereignisse so geschildert haben, wie man das von verantwortungsbewußt, verantwortungsvoll Handelnden nicht nur erwarten kann, sondern erwarten muß.
Schon die Eingruppierung dieses Ereignisses, dieses nicht eingetretenen Störfalls nach „N" und „E" — wir wissen das — war damals verkehrt und hätte, wie ich meine, vom Betreiber erkannt werden müssen.
Ich lese jetzt, daß die Ereignisse im Kernkraftwerk Stade der Aufsichtsbehörde in Hannover deswegen nicht termingerecht sofort und schnell gemeldet worden sind, weil ein Wochenende — Sonnabend und Sonntag — dazwischen gelegen hat. Das ist auch für mich völlig unerklärlich und nicht zu akzeptieren. Dazu ist die Sache viel zu ernst.
Auch hier muß dem Betreiber, der PreussenElektra in Stade, der Vorwurf, der Vorhalt gemacht und verlangt werden,
daß sofort gearbeitet, gehandelt, aufgeklärt und informiert werden muß.
Daran hat es gefehlt.
Wir rufen ganz bewußt auch von dieser Stelle den Betreibern der Kraftwerke zu: So geht es nicht! Sie müssen mitarbeiten, wenn diese Energie auch in den nächsten Jahren für uns gegenüber der Bevölkerung noch zu tragen sein soll.
Was hervorragend geklappt hat, ist das Zusammenspiel der verantwortlichen Stellen,
der Aufsichtsbehörde in Hessen, des Umweltministeriums, des TÜV, der Reaktorsicherheitskommission
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8479
Harries
und der Gesellschaft. Das ist überhaupt keine Frage.
Da ist es doch erfolgt, daß die Höhereinstufung von „N" auf „E" korrekt vorgenommen wurde.
Es wurde auch nachgerüstet, und es wurden Maßnahmen ergriffen, um die Personen, die in den Kraftwerken vor Ort verantwortlich arbeiten, zu schulen und immer wieder zu schulen.
Meine Damen und Herren, ich sprach eingangs von der Frage: Wie sage ich es in meinem Wahlkreis bei kritischen Rückfragen?
Meine Antwort lautet in diesem Zusammenhang, ohne etwas zu verharmlosen: Daß Technik und Zivilisation, in der wir leben, nicht ohne Risiko ist, daß aber ein Ausstieg aus Technik und Risiko genauso mit schweren und nicht übersehbaren Risiken behaftet ist.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie unterbrechen, bitte kommen Sie zum Schluß.
In Anbetracht dieser Situation sind wir, wenn wir nicht aussteigen, zu einem fairen und offenen ständigen Dialog mit der Bevölkerung verpflichtet. Hierzu sind wir alle verpflichtet, denn wir sitzen gemeinsam in einem Boot.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Störfall, der sich im Dezember 1987 im Kernkraftwerk Biblis ereignete, war, so sagen uns die Experten, gravierend. Die sicherheitstechnische Relevanz des Vorfalls und die aus ihm zu ziehenden Konsequenzen können heute bestimmt noch nicht abschließend beurteilt werden. Eines läßt sich aber zum jetzigen Zeitpunkt feststellen: Die Informationspolitik in diesem Fall und in dieser Frage ist ein einmaliger Skandal.
Wenn ich die heutige Debatte verfolge, dann drängt sich mir der Verdacht auf, daß Sie nach dem Motto handeln, schuld sind die Amerikaner, weil sie mit der
Veröffentlichung in ihrer Zeitschrift zu schnell waren.
— Wer sagt da Quatsch? — Es wird auch nicht besser, wenn das aus der liberalen Ecke kommt.
— Dann nehme ich es zurück.
Der hessische Umweltminister hat in seiner grenzenlosen Einfalt auch erklärt, im Grunde genommen waren wir gerade dabei, die Öffentlichkeit ins Bild zu setzen, aber die Amerikaner kamen uns zuvor. Das kann ja wohl nicht sein, meine Damen und Herren.
Ich will aus einer Frankfurter Zeitung einmal vortragen, was der eigentliche Grund sein könnte, warum man das so verzögert hat. Da steht:
Aber es ist nicht zu vergessen, in welche Situation dieser offensichtlich beherrschte Störfall fiel. Anfang dieses Jahres bestimmten die Vorgänge um die Hanauer Nuklearbetriebe die Schlagzeilen in der Bundesrepublik. Eine durch Biblis ausgelöste zweite Lawine der öffentlichen Diskussion hätte die Energiepolitik der Bundesrepublik, die nun einmal eine Teilversorgung mit Atomstrom für unvermeidlich hält, unter sich begraben. Die Nichtinformation ist allenfalls ein Schönheitsfehler,
den in der damaligen Situation die politische Klugheit gebot.
Nun verstehe ich die Aufgeregtheit des Herrn Harries und der anderen, die hier reden, nicht, auch nicht die des Herrn Ministers Töpfer. Wenn das alles doch nur politische Klugheit war, dann frage ich mich, warum wir eine Aktuelle Stunde machen und warum Sie verbittert und enttäuscht über die RWE sind. Das gleiche höre ich auch von Minister Weimar in Hessen. Auch er fühlt sich enttäuscht oder getäuscht von RWE, aber nur als Mensch, nicht ais Minister. Als Minister fühlt er sich nicht getäuscht, das hat er erklärt. Juristisch kann er aus dieser Enttäuschung keine Schlüsse ziehen.
Nein, meine Damen und Herren, hier ist ein Hinterfragen gefordert, ob wir uns das alles als Parlamentarier gefallen lassen dürfen.
— Wenn es um deinen Weihnachtsfrieden geht, Hermann, kann ich auch ruhiger reden.
Wenn am 23. Dezember des vergangenen Jahres das hessische Umweltministerium den TÜV Bayern beauftragt,
dann müssen doch dort schon die Signalglocken geläutet haben. Die haben doch nicht den TÜV Bayern beauftragt, weil sie dem einen Auftrag zuschanzen wollten. Ihr „Gott sei Dank", Herr Kollege Baum, ist
8480 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Reuter
völlig fehl am Platz, denn eigentlich hätte auch der Minister informiert werden müssen. Das aber geschah erst einige Monate später. Er hat gestern in Hessen den Umweltausschuß auch wieder in seiner ihm eigenen Art informiert, wie wir ihn im Untersuchungsausschuß kennengelernt haben. Er ist uninformiert. Ihn kennzeichnet ein erschreckendes Ausmaß an Hilflosigkeit, Schludrigkeit und Inkompetenz. Meine Damen und Herren, so kann man diese Probleme nicht lösen.
Frau Wieczorek-Zeul hat darauf hingewiesen, daß der Kreistag Bergstraße — unser ehemaliger Kollege Klaus Kübler hat mir den Beschluß zugestellt — die Abschaltung von Block A in Biblis fordert.
— Da waren sie noch nicht so klug, wie Sie heute sind. — Man muß natürlich dazusagen — das sage ich auch an Ihre Adresse, Herr Dr. Kappes — : Acht aufrechte Christdemokraten haben dort mitgestimmt. Ich finde das beachtlich. Sie sollten auch hier einmal etwas auf die Basis hören, wenn Sie hier Beschlüsse fassen.
Ich will zum Schluß kommen und sagen: Herr Bundesumweltminister Töpfer, Sie haben einen Eid geleistet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden; Sie haben keinen Eid geleistet, Schaden von der Atomindustrie abzuwenden.
Ich fordere Sie auf: Weisen Sie Weimar an, abzuschalten. Weimar kann man nur empfehlen: Wer so inkompetent ist, sollte seinen Hut nehmen. Er würde der Sache einen guten Dienst erweisen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ablauf des Störfalls am 16./17. Dezember 1987 im Kernkraftwerk Biblis A ist gestern in der Sitzung des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages ausführlich dargestellt worden. Mein Bericht liegt dem Ausschuß mittlerweise schriftlich vor. Im Rahmen dieser Aktuellen Stunde ist es deswegen sicher nicht erforderlich, diese Darstellung erneut zu wiederholen.
Mir liegt aber entscheidend daran, in aller Öffentlichkeit noch einmal folgendes festzuhalten.
Erstens. Durch ein dreifach erhebliches menschliches Versagen und Fehlverhalten hat sich in Biblis ein bedeutsamer Störfall ereignet. Der TÜV Bayern hat in seinem Gutachten, das am 23. Dezember in Auftrag gegeben worden ist, aber auch gesagt, daß der Ereignisablauf, der zu einem nicht beherrschbaren Störfall geführt hätte, hinreichend unwahrscheinlich gewesen sei.
Der Anlagenzustand des Kernkraftwerks Biblis A wurde jedoch durch die vorhandenen technischen Einrichtungen und das dann richtige Verhalten des Betriebspersonals soweit aufgefangen, daß es zu einer Gefährdung für Mensch und Umwelt nicht gekommen ist.
Ich halte zweitens fest: Dieser Störfall bedurfte und bedarf der intensiven Untersuchung durch die Sicherheits- und Aufsichtsbehörden und durch die Reaktorsicherheitskommission.
Er bedurfte und bedarf ebenfalls der Weiterleitung an alle anderen Bundesländer, an die Betreiber von Kernkraftwerken, an die sachverständigen Organisationen und nicht zuletzt auch an die internationale Fachöffentlichkeit. Ich stelle fest: Diese Aufgaben sind durchgeführt und erfüllt worden.
Der hessische Umweltminister hat den TÜV Bayern, wie ich ausführte, am 23. Dezember 1987 mit einer Stellungnahme beauftragt. Das Bundesumweltministerium hat eine Weiterleitung dieser Information an die anderen Bundesländer über die GRS veranlaßt. Eine Höherstufung des Vorgangs von der Meldekategorie „N" nach „E" ist erfolgt. Die Reaktorsicherheitskommission hat sich umfassend mit diesem Vorgang beschäftigt und eine entsprechende Stellungnahme abgegeben, von der auch gestern im Umweltausschuß gesagt wurde, sie sei sicherlich nicht beschönigend ausgefallen.
Auch die anderen Bundesländer wurden über diese Vorgänge entsprechend unterrichtet. Die Störfälle wurden ebenfalls Anfang September 1988 an die Internationale Störfallmeldestelle nach Paris gemeldet.
Maßnahmen, die von der Reaktorsicherheitskommission vorgeschlagen wurden, wurden oder werden in Biblis umgesetzt. Für vergleichbare Anlagen wird dies ebenfalls gewährleistet.
Nach menschlichem Ermessen ist eine Wiederholung dieses Falles dadurch ausgeschlossen. Dabei vertrauen wir keineswegs auf den unfehlbaren, auf den moralisch integer handelnden Menschen, und wir haben das an manchen Stellen auch hier bereits sehr deutlich unterstrichen. Wir setzen vielmehr immer
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8481
Bundesminister Dr. Töpfer
darauf, daß sich das Verhältnis von Mensch und Maschine so darzustellen hat, daß daraus keine unkontrollierten Risiken für Mensch und Umwelt resultieren.
Dies ist die Grundaussage.
Hart kritisiert, meine Damen und Herren, wird die Entscheidung über die Veröffentlichung dieser Vorgänge, aber auch generell aller Vorkommnisse, Ereignisse und Störfälle in Kernkraftwerken. Ich habe mich dieser Kritik zu stellen und habe in der Zwischenzeit wie folgt entschieden:
Erstens. In Zukunft werden alle Vorkommnisse, Störfälle und Störungen in deutschen Kernkraftwerken nicht mehr nur jährlich, sondern quartalsweise veröffentlicht. Der Quartalsbericht wird spätestens vor Ablauf des folgenden Quartals vorgelegt.
Zweitens. Vorkommnisse, die oberhalb der Kategorie N eingeordnet werden, werde ich nach Überprüfung durch die Aufsichtsbehörden unmittelbar dem Umweltausschuß und danach der Öffentlichkeit mitteilen.
Ich habe dies dem Vorsitzenden des Umweltausschusses schriftlich mitgeteilt.
Ich habe ihm gleichzeitig mitgeteilt, daß mir gestern eine Meldung der Kategorie E für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich übermittelt worden ist. Ich habe ihm auch diese Nachricht übermittelt.
Drittens. Die Störfallmeldestelle wird wie geplant in das neue Bundesamt für Strahlenschutz eingebunden. Auch dadurch erhoffen wir uns unmittelbare Information.
Darüber hinaus halte ich es für erforderlich, einen Störfall- und Sicherheitsbeauftragten für jedes Kernkraftwerk gesetzlich vorzuschreiben. Dieser Beauftragte soll nach Zustimmung durch die Aufsichtsbehörde vom Betreiber ernannt werden. Er wird in seiner Arbeit unabhängig und der Behörde gegenüber verantwortlich sein. Er wird rechtlich dieselbe Position haben wie der Strahlenschutzbeauftragte.
Darüber hinaus wird weiterhin und verstärkt das Verhältnis Mensch-Maschine auf mögliche Schwachstellen untersucht. Wo immer möglich, werden Verbesserungen etwa bei der ergonomischen Gestaltung, vor allem der Schaltwarte, aufgegriffen und umgesetzt. Ich werde darüber hinaus in die Reaktorsicherheitskommission einen weiteren Experten für dieses Aufgabenfeld Mensch-Maschine berufen.
Wie bei allen Vorkommnissen im Bereich von Anlagen der Kerntechnik muß selbstverständlich auch in diesem Fall, meine Damen und Herren, überprüft werden, ob sich Hinweise ergeben, die die Genehmigungsvoraussetzungen der Zuverlässigkeit und Fachkunde berühren oder in Frage stellen könnten. Das ist in diesem Fall in erster Linie eine Frage an die hessische Behörde, also an die Aufsichtsbehörde für dieses Kernkraftwerk. Ich habe entsprechende Äußerungen des Kollegen Weimar zum Anlaß genommen, ihn um . eine Stellungnahme zu der Frage der Zuverlässigkeit und Fachkunde des Betreibers zu bitten. Der hessische Umweltminister hat mir heute mitgeteilt, daß die Zuverlässigkeit bzw. Fachkunde des Betreibers nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 des Atomgesetzes für ihn zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen worden ist. Er hat ferner erklärt, daß seine in der Presse wiedergegebenen Äußerungen, die innerhalb einer Pressekonferenz gefallen sind, aus dem Zusammenhang gerissen worden sind. Ich halte es für erforderlich, diese außerordentlich wichtige und weitreichende Fragestellung mit der Aufsichtsbehörde zu erörtern. Eine abschließende Entscheidung behalte ich mir vor.
Der Bundesumweltminister, meine Damen und Herren, hat heute den Abschlußbericht der Öffentlichkeit vorgestellt, den die Reaktorsicherheitskommission zur Gesamtüberprüfung der 23 deutschen Leistungsreaktoren in den letzten zwei Jahren auf Auftrag meines Vorgängers Wallmann erarbeitet hat. Ich habe diesen Bericht ebenfalls dem Umweltausschuß zur Verfügung gestellt. Auch dabei zeigt sich, daß mit großem Nachdruck die Sicherheit der Kernkraftwerke ständig erneut überprüft werden muß und überprüft wird.
Meine Damen und Herren, ich hielte es für sehr besorgniserregend, wenn aus Sorge um die Aussage über die Sicherheit von gestern mögliche Weiterentwicklungen der Sicherheitstechnik für heute und morgen nicht mehr herausgearbeitet und umgesetzt würden. Ich bin der festen Überzeugung, daß Sicherheit eine ständig neu zu stellende Frage ist und daß wir ihr nicht ausweichen können. Sicherheit ist insgesamt bei Technik ein dynamischer Prozeß.
Es wäre, meine Damen und Herren, sicher leichter, aus der Verantwortung für die Kernenergie auszusteigen. Aber, meine Damen und Herren, nicht der Ausstieg aus den Risiken moderner Technik bewältigt die vor uns liegenden Probleme, sondern die ständige Verantwortung für die Suche nach mehr, nach weiterreichender Sicherheit im Umgang mit der modernen Technik.
Dies ist die Aufgabe, der wir uns weiterhin stellen werden.
8482 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Bundesminister Dr. Töpfer
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Daniels .
Herr Minister! Meine Damen und Herren! Liebe besorgte Bürgerinnen und Bürger! Ich habe das Gefühl, daß der Herr Umweltminister zum wiederholten Male hier über die eigentlichen Probleme hinweggeredet hat.
Von wem könnten folgende Sätze stammen:
Wir alle müssen uns die Frage gefallen lassen, ob wir uns nicht wegen eines vermeintlichen Nutzens auf Risiken einlassen, die wir letztendlich nicht kontrollieren können.
Genau, wir erkennen ihn an seinen Worten: Bundesumweltminister Töpfer! So geschehen bei der Jahrestagung Kerntechnik im Mai dieses Jahres in Travemünde.
Wer die Anspruchslatte verbal so hoch hängt, muß auch versuchen, Taten folgen zu lassen.
Und er kann den Mund noch voller nehmen:
Wenn Vertrauen in eine erfolgreiche Kerntechnik zum Nutzen von Mensch und Umwelt wiederhergestellt werden soll, dann muß rückhaltlos aufgeklärt und offen informiert werden.
So ebenfalls Töpfer in Travemünde.
Oder noch deutlicher in der Erklärung über die Behandlung radioaktiver Abfallstoffe am 13. Januar von dieser Stelle aus:
Vertrauen wird nur erwartet werden können, wenn nichts verheimlicht und bagatellisiert, sondern offen informiert und bewertet wird.
Was, so frage ich Sie, machen Herr Töpfer und die ihm zur Seite stehenden Institutionen aber tatsächlich?
Sie verheimlichen, verschleiern, versuchen abzulenken und führen die Öffentlichkeit seit Jahren hinters Licht.
Zu dem nach einem Jahr bekanntgewordenen Störfall in Biblis gesellen sich in der Zwischenzeit noch eine Latte anderer schwerwiegender Unfälle, so das Leck in der Hauptkühlpumpe im Kernkraftwerk Obrigheim am 23. Oktober letzten Jahres und das Versagen des Notstromaggregats im Reaktor in Phillipsburg im April dieses Jahres. Wir, das Parlament und die Öffentlichkeit, wissen heute noch nicht, welche weiteren Störfälle sich in diesem Jahr ereignet haben. Das ist ungeheuerlich.
Seit dem 13. Juli dieses Jahres wußte Ihr Ministerium über den Störfall in Biblis Bescheid, und ein halbes Jahr später erfahren Umweltausschuß und Öffentlichkeit nur durch einen Zufall auch davon! Ist das nicht eine als grotesk zu bezeichnende Abweichung der wahrlich traurigen Wirklichkeit von Ihren Ansprüchen?
Noch etwas anderes, Herr Töpfer! Wie sagten Sie in Travemünde zur Überprüfung deutscher Atomkraftwerke durch die Internationale Atomenergiebehörde:
Bisher sind drei Atomkraftwerke überprüft worden, darunter Biblis A, Krümmel und Phillipsburg II. Die Prüfergebnisse sind veröffentlicht worden. Sie sind, wie mir der Generaldirektor der IAE, Herr Blix, bestätigt, ausgezeichnet.
Ich stelle fest, Herr Töpfer, daß einer von Ihnen hier die Unwahrheit gesagt haben muß, Sie oder Herr Blix. Ist der Zustand in Biblis A nun ausgezeichnet, oder ereignete sich ein bis Anfang dieser Woche verschwiegener Störfall, der Auswirkungen auf die Sicherheitskonzepte aller Atomkraftwerke hatte?
Ich stelle zusammenfassend fest: Wer so handelt wie Sie, gefährdet vorsätzlich die Gesundheit der Bevölkerung. Die GRÜNEN im Bundestag müssen deshalb in aller Deutlichkeit warnen: „Töpfer gefährdet Ihre Gesundheit, liebe Bürgerinnen und Bürger! "
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über diesen schwerwiegenden Vorgang läßt sich offenbar am emotionsreichsten reden, wenn man keine Sachinformationen hat, Frau Wieczorek-Zeul. Ich finde, Sie haben hier eine außerordentlich schlimme Rede gehalten.
Es wäre gut gewesen, wenn Sie sich von Ihren Kollegen, die gestern im Umweltausschuß dabei waren, wenigstens etwas über den tatsächlichen Sachverhalt hätten sagen lassen,
wobei es ein merkwürdiger Kontrast zu Ihrer Katastrophenrede ist, daß gerade drei der ordentlichen Mitglieder des Umweltausschusses der SPD-Fraktion hier im Plenum sind. Wenn das solche Vorgänge wären, wie Sie sie hier beschreiben, hätte das ja wohl eine andere Präsenz zur Folge.
Ich möchte Ihnen zunächst zu der sicherheitstechnischen Bedeutung noch einmal korrekt sagen, worum es geht: Was uns in den dreieinhalb Stunden intensiver Information deutlich geworden ist, waren drei verschiedene menschliche Fehlhandlungen bei der Bedienung dieses Reaktors, die allerdings nicht zu irgendeiner Überschreitung zulässiger Werte geführt
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8483
Dr. Göhner
haben, und es ist auch zu keinem sicherheitsrelevanten Schaden gekommen.
Ein solcher hätte nur entstehen können, wenn weitere Bedingungen unwahrscheinlicher Art hinzugetreten wären. Das ist keine Bagatellisierung, sondern das gehört zum Tatbestand, daß zwei zusätzliche Bedingungen hätten hinzutreten müssen
— alles andere, was Sie hier erzählen, entspricht nicht den Tatsachen — : Erstens hätte sich die geöffnete Prüfarmatur nicht wieder schließen lassen dürfen, und zweitens hätte ein nicht abstellbares Versagen der Prüfleitung hinzutreten müssen, und zwar nicht innerhalb der Ringleitung, sondern außerhalb der Ringleitung; innerhalb der Ringleitung hätte das vierfache Notkühlsystem zur Verfügung gestanden. Das ist der Sachverhalt.
Er ist sehr sorgfältig zu prüfen, und die Konsequenzen daraus sind bereits gezogen worden. Da gibt es überhaupt nichts zu bagatellisieren, aber ich wehre mich gegen die panikartige, völlige Verdrehung, Verstellung und Unterschlagung des tatsächlichen Sachverhaltes.
Das Verhalten des Betreibers allerdings ist für mich völlig unerklärlich. Die uns im Umweltausschuß vorgetragene Meldung des RWE an die zuständigen Stellen enthielt nicht einen Hinweis darauf, daß über zwei Schichten lang der tatsächliche Zustand nicht erkannt worden war. Sie enthielt keinen erkennbaren Aufklärungssachverhalt darüber, in welcher Weise versucht worden ist, diese Störung zu beheben.
Was nun die Unterrichtung der zuständigen Stelle angeht, finde ich den Vorwurf der Geheimhaltung wirklich mit nichts zu belegen. Im Mai letzten Jahres sind alle Bundesländer — alle Bundesländer! — und über 20 weitere Institutionen von dem Vorfall unterrichtet worden, und es sind die notwendigen Konsequenzen vorgeschlagen worden, die in Biblis mittlerweile auch vollzogen wurden.
Bleibt die Frage der Information von Öffentlichkeit und Parlament.
Wir alle, Sie, der frühere Bundesminister Baum, Herr Töpfer, haben es akzeptiert, daß uns die Störfälle in einem jährlichen Bericht vorgelegt werden. Das ist nie kritisiert worden. Die letzte Störfallbericht ist dem Umweltausschuß des Deutschen Bundestages Ende Oktober dieses Jahres zugeleitet worden. Niemand hat kritisiert, dies sei zu spät, dies sei unzureichend und dies müßte unverzüglich erfolgen.
Jetzt erkennen wir gemeinsam aus guten Gründen, daß diese Informationen des Störfallberichtes nicht
hinreichend seien, und verlangen eine unverzügliche Information, wie es der Bundesminister Töpfer dem Ausschuß aus eigener Initiative jetzt auch zugesagt hat. Ich möchte nur festhalten, daß diese neue Regelung, die wir alle für vernünftig halten, vorher von niemanden gefordert worden ist.
Es bleibt die Frage: Wie ist es mit der Öffentlichkeit? — Ich denke, daß wir gerade bei dieser Kompliziertheit der technischen Materie das notwendige Vertrauen der Bevölkerung nur dann wiedergewinnen können, wenn rückhaltlos jederzeit jeder dieser Vorfälle aufgeklärt wird. Ich bin davon überzeugt, daß, wenn im Mai dieses Jahres nicht nur die zuständigen Länder und die weiteren Institutionen unterrichtet worden wären, sondern auch wir als Parlament und die Presse, das dann nicht zu der Aufregung geführt hätte, die wir jetzt haben. Wollen wir das vermeiden, müssen wir unverzüglich informieren; das sollten auch die Betreiber erkennen.
Ich muß mich fragen, ob diejenigen, die die erste Meldung im Dezember 1987 gemacht haben, den tatsächlichen Sachverhalt entweder bewußt nicht gemeldet haben oder ihn nicht erkannt haben. Beides ist nicht akzeptabel. Darüber muß, finde ich, weiter geredet werden. Ich begrüße die Ankündigung des Bundesministers, sich nicht mit der Erklärung aus Hessen zufriedenzugeben, daß die Zuverlässigkeit des RWE jederzeit gegeben war.
Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Eines wissen wir nach dem Lehrstück Biblis mit Gewißheit: Wenn Störfälle beim Betrieb kerntechnischer Anlagen die Bagatellgrenze übersteigen, werden die Protagonisten der Kernenergie — seien sie nun Betreiber, seien sie Kontrolleure — alles daransetzen, diese Vorgänge zu verheimlichen, zumindest herunterzuspielen.
Wie gut dieses Verschleierungs- und Verharmlosungskartell bei uns funktioniert, zeigt die einjährige Geschichte des erst jetzt ans Tageslicht gekommenen schweren Störfalles im Kernkraftwerk Biblis. Da wußten — oder wissen bis heute — sicherlich bereits Hunderte von Personen auf allen erdenklichen staatlichen und privatwirtschaftlichen Ebenen über Tragweite und Gefährdungspotential dieses weiß Gott nicht auf die leichte Schulter zu nehmenden Störfalles Bescheid, ohne daß ein Sterbenswörtchen davon an die gefährdete Bevölkerung
und an die in einem demokratischen Staat kontrollierende Öffentlichkeit drang. Es ist beschämend.
8484 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Bachmaier
und bedrückend zugleich, daß wir alle erst ein Jahr später — und dann über eine amerikanische Publikation — von dem uns existentiell berührenden schweren Versagen erfahren haben. Ich frage mich, wie weit die fast verschworen anmutende Wagenburgmentalität der Verantwortlichen der Nukleargemeinde schon fortgeschritten sein muß,
damit es zu einem solchen Akt kollektiven Schweigens kommen konnte. Letztlich enthüllen aber diejenigen, die sich der Ideologie der totalen Beherrschbarkeit einer in ihren Gefahren nicht absehbaren Technologie gläubig verschrieben haben, gerade durch ihr Verschleierungsmanöver, daß sie selbst nicht einmal mehr ihrer Sicherheitsideologie vertrauen und es nur nicht wagen, sich selbst und der Öffentlichkeit einzugestehen, daß dieser Weg ein Irrweg ist.
Geradezu unerträglich und unverzeihlich stellt sich auf diesem Hintergrund das Fehlverhalten der politisch Verantwortlichen dar, heißen sie nunmehr Töpfer oder Weimar. Von Herrn Weimar wissen wir spätestens seit seinem denkwürdigen Auftritt vor dem Atomskandal-Untersuchungsausschuß, daß er Vorfällen von einiger Tragweite nicht im geringsten gewachsen ist,
sondern in schwierigen Situationen vielmehr selbst zum Sicherheitsrisiko wird.
Bundesminister Töpfer — unbestreitbarer Meister der folgenlosen rhetorischen Bewältigung von Skandalen, aus denen verantwortliche Politik und verantwortliche Politiker dringend Konsequenzen zu ziehen hätten — ist in die Verschleierung und Vertuschung der Ereignisse von Biblis im Dezember 1987 zutiefst mitverstrickt.
Es ist geradezu zynisch, Herr Minister, wenn Sie jetzt, nachdem dieser Skandal ohne Ihr Zutun an das Licht der Öffentlichkeit kam, wiederum nach altbewährtem Muster Gefahren und Risiken herunterspielen, Abhilfe in Randbereichen, da und dort, versprechen und im übrigen zutiefst Beunruhigendes rhetorisch aus der Welt zu schaffen versuchen. Dies wird Ihnen in diesem Fall nicht gelingen.
Nach Harrisburg, Tschernobyl und unserem eigenen, noch nicht einmal ansatzweise bewältigten Atomskandal, der ebenfalls in Hessen seinen Ausgang nahm, haben die Menschen es satt, mit ihren berechtigten Ängsten nicht ernst genommen zu werden.
Grundlage verantwortlicher Politik in einem demokratischen Staat hat die lückenlose Information über Ereignisse zu sein, die das Wohlergehen der Menschen unmittelbar berühren. Wenn Sie aber selbst schon Angst vor der öffentlichen Erörterung der Risiken bei der Nutzung der Kernenergie haben, ist es höchste Zeit, umzukehren.
Als Sofortmaßnahmen fordern wir deshalb: die Offenlegung aller Daten und Fakten zu den Störfällen; eine unabhängige Sicherheitsüberprüfung aller Kernkraftwerke unter Beteiligung der gesamten Breite des Sachverstandes der Wissenschaft;
die Überprüfung der Zuverlässigkeit aller Betreiber von Kernkraftwerken, und wo Sicherheitsvorschriften nachweisbar verletzt wurden, da ist die Betriebserlaubnis zu entziehen.
Es geht hier nicht um Kavaliersdelikte. Deshalb müssen die Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten drastisch erhöht werden. Wir haben in unserem Kernenergieabwicklungsgesetz vor zwei Jahren Geldbußen bis zu 20 Millionen DM verlangt. Und wer grob fahrlässig das Atomgesetz verletzt, handelt kriminell und muß entsprechend bestraft werden.
Daß hier von 500 DM Geldbuße die Rede ist, ist für sich genommen ein Skandal, der seinesgleichen in dieser Republik sucht.
Biblis hat das Vertrauen in die Sicherheit der Atomkraft erneut und zutiefst erschüttert. Deshalb, Herr Minister, meine Damen und Herren. Kehren Sie um! Erkennen Sie endlich die Zeichen der Zeit! Gehen Sie mit uns zusammen einen Weg,
der uns Schritt für Schritt von der zur Geißel werdenden Kernenergie befreit.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Segall.
Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! Den klaren, sachlichen Aussagen des Bundesministers für Umwelt, Töpfer, ist nichts hinzuzufügen. Aber zu der politischen Debatte, wie sie hier heute geführt wurde, ist etwas zu sagen. Es ist schon erschütternd, wie hier Frau Wieczorek-Zeul von der SPD argumentiert, nein, nicht argumentiert, sondern polemisiert.
Da Ihnen sachlich nichts einfällt und Sie sich offensichtlich nicht informiert haben, machen Sie hier in purer Emotion.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8485
Frau Dr. Segall
Doch nun zur Sache. Wir reden über einen Vorfall in einem deutschen Kernkraftwerk. Gerade weil die Kernkraft in der Bevölkerung kritisch beurteilt wird, muß der Vorfall so dargestellt werden, wie er sich tatsächlich zugetragen hat, und dafür danke ich Herrn Töpfer.
Doch der Reihe nach. Ausgangspunkt dieser neuen öffentlichen Debatte war eine Meldung der „Frankfurter Rundschau", die sich auf einem Report aus „Nucleonics Week" bezog. Die „Frankfurter Rundschau" stellt dar, daß es in diesem Bericht heiße, es sei zu einem schwerwiegenden Störfall gekommen, und daß es nur die Geistesgegenwart der Betriebsmannschaft gewesen sei, die einen Super-GAU verhindert hätte.
Jetzt einmal zu dem, was wirklich in dem Bericht der „Nucleonics Week" steht: Thomas Murly, der Direktor der nuklearen Sicherheitsbehörde der USA, sagte, daß es nichts Beunruhigendes an dem BiblisVorfall gegeben habe. Im übrigen heißt es in dem Bericht, daß es zu einem relevanten Kühlmittelaustritt nur hätte kommen können, „if several other failures had occured", wenn also noch weitere Fehler hinzugetreten wären.
Aber selbst dann hätte von einem Super-GAU noch nicht im entferntesten die Rede sein können, denn gerade für den Fall des Kühlmittelaustritts gibt es mehrere redundante, also voneinander unabhängig funktionierende Kühlsysteme, die den Super-GAU verhindert hätten.
— Man fragt sich wirklich; Sie waren nicht in der Sitzung. Selbst aus Biblis B können Sie noch nachfahren. Das haben Sie nicht gehört oder nicht hören wollen.
— Wir reden von Biblis A, und Birkhofer hat gesagt: Aus Biblis B können Sie nachfahren.
Nun hören Sie aber wirklich auf!
Eine derartig richtig lautende Meldung hätte wohl kaum dieses Aufsehen erregt. Die Frage ist nur: Warum versucht es die Presse immer wieder, die deutsche Bevölkerung mit gezielten Fehlinformationen zu verängstigen? Das gelingt ihr meist auch.
Was die GRÜNEN mit den permanenten Schreckensmeldungen bezwecken wollen, ist ja hinlänglich evident.
Nun zu dem nächsten Vorwurf in dieser Angelegenheit. Es wird von Vertuschung und Schlamperei gesprochen. Auch wenn es nicht opportun ist, sage ich Ihnen ganz offen: Der Nachweis des Störfalls, seine endgültige Einstufung durch die Aufsichtsbehörde und u. a. auch die Information der Bundesländer zeigen deutlich, wie die zuständigen Behörden arbeiten. Teil der so sorgsamen Kontrollen ist die Frage der sachgerechten Einstufung. Es ist zwar richtig, daß zunächst der Betreiber den Störfall bei der Meldung beschreibt und einstuft. Die Einstufung des Betreibers spielt aber für die endgültige Einstufung durch die Reaktorsicherheitskommission keine Rolle und beeinflußt, wie der Fall in Hessen zeigt, auch nicht die Aufsichtsbehörden, die nach der Meldung sofort den TÜV Bayern eingeschaltet haben.
Für die endgültige Einstufung werden also der TÜV, die Landesaufsichtsbehörden und Sachverständige gehört. Dieses langwierige Prüfungsverfahren erklärt auch den großen Zeitbedarf, den die „Frankfurter Rundschau" als böses Machwerk der Atomindustrie zu brandmarken versucht.
Darum finde ich es unredlich, genau diese Zeit anzuführen, um Unsicherheit in der Bevölkerung zu wekken. Die zeitliche Verzögerung dient nicht der Vertuschung, sondern der Sicherheit der Bevölkerung.
Noch etwas zu dem Vorwurf, daß es immer noch durch menschliches Versagen zu atomaren Katastrophen kommen könnte. Wenn in diesem Zusammenhang das Idealbild von einer Anlage gezeichnet wird, in der der Mensch nicht mehr in den automatischen Ablauf eingreifen kann, weil dies angeblich mehr Sicherheit bringt, so will ich Ihnen deutlich sagen, daß ich diese Auffassung nicht teilen kann. Gerade die Opposition kritisiert doch immer blinden Technikglauben. Konsequenterweise muß man also fordern, daß der Mensch die Technik immer kontrollieren kann. Das richtige Verhältnis von Technik und menschlichem Know-how bringt optimale Sicherheit und nicht die Ausschaltung des Menschen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Einschätzung von Minister Töpfer, daß Biblis ein bedeutsamer Vorgang ist, wird von uns geteilt. Es ist auch ein bedeutsamer Vorgang, wie das hier im Parlament in einer Aktuellen Stunde behandelt wird. Ich denke, daß wir, die wir von seiten der Koalition in der Verantwortung stehen, spätestens jetzt — einigen war das schon wesentlich früher klar — davon ausgehen müssen, daß die Opposition sich aus dieser Verantwortung davonstiehlt mit mehreren Argumenten.
Da ist erstens ihr altes Patentrezept des Ausstiegs. Zweites Patentrezept ist, Rücktritte zu fordern. Das dritte Patentrezept besteht darin, emotional so zu reagieren, daß man dem Andersdenkenden abspricht, daß er Politik für den Bürger macht. Liebe Frau Kollegin, ich fand, dies war nicht die richtige Art, wie Sie sich hier präsentiert haben. Ich finde, Sie können auch denen, die heute in der Verantwortung stehen, nicht absprechen, daß sie Politik für den Bürger machen
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Schmidbauer
und den Menschen im Mittelpunkt ihrer Politik sehen.
Und ich habe sehr wohl Ihre Reaktionen beobachtet. Mit dem Argument „Jeder muß zulernen" ist es nicht getan. Ich würde Ihnen schon empfehlen, in einem sehr intensiven Gespräch mit Ihrem früheren Bundeskanzler und mit dem früheren Ministerpräsidenten des Landes Hessen einmal über dieses Problem zu reden und sich hinterher zu fragen, ob es in dieser einfachen Art und Weise zu bewältigen ist.
In anderer Weise ist dies ein bedeutsamer Vorgang Ich denke, daß Reaktorsicherheit — —
— Wissen Sie, Herr Bachmaier, Sie sind Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses. Und der Zwischenruf eben und was Sie hier dargeboten haben, spricht nicht für Ihre Qualifikation, als Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses zu fungieren.
Sie reden hier von Verheimlichung, von Verharmlosung und von Rücktritten, ohne auf die Sache einzugehen. Dann nennen Sie doch hier Roß und Reiter.
Und im übrigen zu Ihren Vorschlägen: Also wirklich, die Dinge sind ja nun schon lange im Werden und realisiert. Kollege Göhner hat Ihnen das ja vorhin gesagt. Wer hat Ihnen eigentlich das Recht abgesprochen, sich jederzeit über jeden Störfall zu infomieren? Warum tun Sie eigentlich so, als ob Sie sich nie im zuständigen Ausschuß zu Wort melden können? Wieso können Sie nicht den Minister fragen, der im übrigen sehr häufig da ist? Sie können fragen: Wie sieht es eigentlich mit dem Störfallbericht aus?
Und im übrigen denke ich, daß wir auch bei diesem bedeutsamen Vorgang durchaus feststellen müssen, daß die Zuverlässigkeit des Betreibers ebenfalls hinterfragt werden muß. Im Gegensatz zur Reaktorsicherheit ist die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit teilbar und daher auch Sache der Elektrizitätsversorgungsunternehmen.
Um dies an dieser Stelle einmal ganz deutlich zu sagen: Der Umweltausschuß des Deutschen Bundestages ist zuständig für die Reaktorsicherheit. Wir sind nicht die Öffentlichkeitsabteilung des RWE oder irgend eines anderen Energieerzeugers. Von den Betreibern erwarten wir Vorschläge zur Gewährleistung einwandfreier Störfallmeldungen und zu einer besseren Information der Öffentlicheit. Wer ein Mindestmaß an Akzeptanz der Kernenergie erhalten will, der muß endlich auch von sich aus für mehr Transparenz sorgen.
Und ich denke, wer die Störfallmeldung gehört hat — der Minister hat dies in aller Offenheit vorgetragen —, der kann schon feststellen, daß es hier eine Diskrepanz gibt zwischen der Realität und dem Meldebogen. Ich finde, das muß aufgeklärt werden.
Ich bin sehr dankbar, Herr Minister Töpfer, daß Sie die neuen Konsequenzen hier dargelegt haben: daß wir zu einem anderen Rhythmus der Information kommen, daß wir den Störfallbeauftragten mit einer anderen Stellung versehen und daß wir uns eben auch sehr genau die Dinge ansehen, die in den letzten Monaten gemeldet wurden. Wir sollten uns überlegen: Gibt es die N-Meldungen, die zu E aufgestuft wurden? Gibt es S-Meldungen, und wie sieht die Situation wirklich aus? Ich denke, wir sollten diesen besonderen Vorgang in Biblis zum Anlaß nehmen, noch mehr darüber nachzudenken, wie wir insgesamt dem Thema Reaktorsicherheit gerecht werden; nicht dadurch, daß wir einfach die Augen zumachen und aussteigen.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir haben nun eine Beratung vor uns, die mit einem Tagesordnungspunkt des heutigen Vormittags zu tun hat.
Heute morgen sind bei der Beratung der Tagesordnungspunkte 7 a bis c — es ging um den Finanzausgleich — Mißverständnisse bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Drucksache 11/3683, aufgetreten.
Meine Damen und Herren, wir haben im Ältestenrat in der Mittagszeit darüber beraten und Einvernehmen darüber erzielt, daß diese Abstimmung ausnahmsweise in der zweiten Beratung wiederholt wird. Ich habe hierzu die Wortmeldung eines Abgeordneten.
Herr Dr. Struck, nach § 31 unserer Geschäftsordnung wollen Sie vor der Abstimmung eine persönliche Erklärung abgeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute morgen haben wir in zweiter Lesung über die Art. 1 bis 4 des Gesetzentwurfes des Bundesrates zur Umverteilung der Sozialhilfelasten abgestimmt. Bei den Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion, insbesondere auch bei den sachkundigen Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, den Kollegen Helmut Esters und Karl Diller und anderen, hat es keinerlei Mißverständnisse darüber gegeben, worüber abgestimmt wurde. Es wurde über die Initiative des Bundesrates abgestimmt. Wir haben ihr zugestimmt, und ich stelle hier fest, daß Mißverständnisse oder Verwirrungen oder Irrungen nur bei den Mitgliedern der CDU-Fraktion entstanden sein können, die dem nämlich zugestimmt haben.
Ich sehe, daß es weitere Wortmeldungen gibt. Handelt es sich um Erklärungen zur Abstimmung, Herr Kleinert? Ich habe leider nicht beachtet, wer der erste von Ihnen gewesen ist. Bitte schön, Herr Kleinert.
Ich wollte bei dieser Gelegenheit vor diesem Haus nur deutlich machen, daß meine Fraktion in diesem Fall der Meinung ist,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8487
Kleinert
daß man hier sehr großzügig verfahren sollte, wenn die CDU/CSU-Fraktion sich nicht im Stande sieht, korrekt abzustimmen. Wir sind in diesen Dingen nicht so penibel. Wir lassen da auch schon einmal — wie das so schön heißt — Gnade vor Recht ergehen. Wir sind allerdings der Meinung, daß dieser Maßstab dann für alle in diesem Hause gelten sollte.
Ich habe anläßlich der Sitzung des Ältestenrates deutlich gemacht, daß wir in der Vergangenheit verschiedene Fälle hatten, wo das Präsidium gegenüber unserer Fraktion weniger großzügig war, als wir hier vorschlagen, das gegenüber Ihrer Fraktion zu praktizieren. Bei dieser Gelegenheit gebe ich der Erwartung Ausdruck, daß wir in Zukunft von allen Seiten mit einer gewissen Großzügigkeit rechnen können.
Herr Abgeordneter Bohl zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Struck, ich möchte zunächst an Ihre Adresse gerichtet doch sagen, daß ich es nicht für besonders kollegial halte, wenn man sich im Ältestenrat über die Reparatur solcher Dinge, die im parlamentarischen Alltag jederzeit passieren können, verständigt, dann anschließend noch mit billiger Münze zu versuchen, Kapital herauszuschlagen. Das finde ich, Herr Kollege Struck, nicht korrekt. Ich will das hier deutlich sagen. Ich glaube, wir haben ein mögliches Verfahren gewählt; es gibt ja zwei Möglichkeiten. Wir haben dieses Verfahren im Ältestenrat verabredet, und dabei sollte es auch bleiben.
Ich finde, Herr Kollege Kleinert — ich habe es Ihnen zwar vorhin auch schon sagen können — , daß wir in diesem Hohen Hause schon hin und wieder erlebt haben, daß insbesondere die Oppositionsfraktionen gewisse Schwierigkeiten bei den Abstimmungen haben, sich jeweils so zu verhalten, wie sie sich das vorher in den Fraktionssitzungen vorgenommen haben. Wir waren bisher immer so kollegial, daß wir ihnen dabei auch gewisse Hilfestellungen noch gegeben haben. Sie waren dafür immer sehr dankbar und haben diese Hilfestellung angenommen. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Wir bieten ihnen ausgesprochen kollegial diese Hilfestellung für die Zukunft an.
Vielen herzlichen Dank.
So etwas kommt von so was.
Ich gehe von der im Ältestenrat erreichten Übereinstimmung aus, die da heißt, daß wir ausnahmsweise die Abstimmung in der zweiten Beratung wiederholen. Es geht um die Drucksache 11/3683. Ich rufe Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Brauchen Sie noch Beratung, Herr Kleinert? —
Ich stelle fest, in zweiter Beratung sind diese Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs.
Meine Damen und Herren, es hat ein trauriges Ereignis draußen gegeben, von dem ich Ihnen Kenntnis geben möchte. Es läuft über die Ticker und ist mir von daher bekannt. In Remscheid ist eine Militärmaschine auf ein Wohngebiet gestürzt. Der Polizeisprecher hat mitgeteilt, daß es sich vermutlich um eine amerikanische Militärmaschine handelte, dieses schlimme Ereignis sei um 13.30 Uhr gewesen und daß es mit Sicherheit einen Toten und zahlreiche Schwerverletzte gegeben hat.
Ich denke, wir werden dieses Ereignisses an anderer Stelle zu gedenken haben. Ich wollte Sie unterrichten. Aber ich wollte nicht, daß dies zu einem Thema unserer vorangegangenen Debatte geworden wäre. Ich muß das aus dem Grunde sagen, weil es einen Kollegen gegeben hat, der dort extra betroffen ist, weil es sein Wahlkreisgebiet ist, und hier dazu eine Erklärung geben wollte. Ich glaube, es ist das bessere Verfahren, daß ich das hier erwähne, als daß es zu einer Erklärung kommt, die Debatten auslöst. Ich bitte um Verständnis für dieses Verhalten.
Meine Damen und Herren, ich rufe nun diejenigen Tagesordnungspunkte auf, bei denen wir keine Debatte vor uns haben.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
a) Beratung der Übersicht 7 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 11/1987 —
b) Beratung der Übersicht 8 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 11/2341 —
c) Beratung der Übersicht 9 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 11/2950 —
Wer für die Beschlußempfehlungen des Rechtsausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 und Zusatzpunkt 4 auf
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
8488 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
— Drucksache 11/3581 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 93 zu Petitionen
— Drucksache 11/3582 —
ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
— Drucksache 11/3670 —
Wer für diese Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN sind diese Beschlußempfehlungen angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
a) Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2772/75 über Vermarktungsnormen für Eier
b) Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2782/75 über die Erzeugung von und den Verkehr mit Bruteiern und Küken von Hausgeflügel
— Drucksachen 11/2841 Nr. 5, 11/3300 —
Berichterstatter: Abgeordnete Frau Flinner
Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine zweite Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute und zur Änderung der Richtlinie 77/780/EWG
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Eigenmittel von Kreditinstituten
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates für einen Solvabilitätskoeffizienten für Kreditinstitute
— Drucksachen 11/2089 Nr. 2, 11/2266 Nr. 2.1, 11/2580 Nr. 5, 11/3662 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Wieczorek
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 hinsichtlich der Koordinierung der Interventionen der verschiedenen Strukturfonds einerseits und zwischen diesen und den Interventionen der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzinstrumente andererseits
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 hinsichtlich des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 hinsichtlich des Europäischen Sozialfonds
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 hinsichtlich des EAGFL, Abteilung Ausrichtung
— Drucksachen 11/3117 Nr. 2.2, 11/3652 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gautier
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
— Drucksache 11/3643 —
Berichterstatter: Abgeordneter Geis
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist also einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern, und zwar um die Beratung der Beschlußempfeh-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8489
Vizepräsident Westphal
lung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München, Dachauer Straße — Drucksachen 11/3567 und 11/3685 —.
Sind Sie damit einverstanden, daß wir dies auf die Tagesordnung bringen? — Dazu sehe ich keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich rufe diesen Tagesordnungspunkt zur Beratung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München, Dachauer Straße
— Drucksachen 11/3567 und 11/3685 —
Ich gehe davon aus, daß ein Redebeitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden ist. Als erste Wortmeldung liegt mir die Wortmeldung des Abgeordneten Weiss vor.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem angesprochenen Grundstücksverkauf geht es um das Gebiet des Bebauungsplans 1009 der Landeshauptstadt München. Es ist das Gebiet der Theaterhallen an der Dachauer Straße und des Flohmarktgeländes, auf dem nunmehr eine Wohnbebauung errichtet werden soll.
Ich möchte hier vorwegschicken, daß es hier nicht darum gehen kann, die Wohnbebauung zu verhindern. Wir haben in München eine gewisse Wohnungsnot. Das ist richtig, und das Grundstück ist dafür auch geeignet. Nur, Sie müssen jetzt einmal schauen, was Sie anrichten, wenn das im Eil- und Galoppverfahren über die Bühne gehen soll.
Den Theatern, die in diesen Hallen einquartiert sind, ist bereits zum 1. Januar durch das Bundesvermögensamt gekündigt worden. Es scheint nun so zu sein, daß der Verkauf auf die schnelle durchgezogen werden soll. Deswegen kommt dieses Thema heute so überraschend auf die Tagesordnung. Sie wollen das Vorhaben durchführen, um den Käufern steuerliche Vorteile noch für das Jahr 1988 zu ermöglichen.
Das aber führt dazu, daß bei den Leuten, die das Gelände jetzt nutzen — ganz konkret: zwei private Theater und der Flohmarkt — , der wirtschaftliche Ruin eintritt. So geht es nicht. Wir sind durchaus bereit, eine Bebauung, auch wenn sie einen Flächenverbrauch bedeutet, mitzutragen. Ich halte das für richtig, auch wenn ich denke, man könnte bei dem Anteil von Sozialwohnungen — vorgesehen sind 100 — durchaus etwas höher gehen. Wir müßten grundsätzlich auch darüber reden, wie wir mit Anträgen für den Verkauf von bundeseigenen Grundstücken umgehen, ob es immer sinnvoll ist, Grundstücke der privaten Wohnwirtschaft zur Verfügung zu stellen.
Hier im konkreten Fall geht es darum, Schaden zu verhindern, der einen Kahlschlag in der Münchener Kulturlandschaft bedeutet. Es gibt große Bemühungen der Stadt München und des Kommunalreferenten Georg Welsch, dort Ersatzgebäude und Ersatzflächen zur Verfügung zu stellen, auf denen die Theater angesiedelt werden können. Wie es ausschaut, wird es auch möglich sein, das bis März, April, Mai zu schaffen. Dann könnte der Übergang ganz ohne Probleme vor sich gehen. Wenn Sie das Projekt jetzt aber auf die schnelle durchziehen, dann bewirken Sie nur, daß Sie Münchener Kleinkunstbetriebe praktisch auslöschen. Das kann nicht in unser aller Interesse sein.
Deswegen bitte ich Sie: Schauen wir, daß Sie die Beratung etwas verschieben; denn es muß nicht sein, das bis zum 1. Januar durchzuziehen. Es ist ja so, daß man damit die Münchener Kleinkunstszene um einiges ärmer macht. Aber aus welchen Gründen? Nur um den Erwerbern steuerliche Vorteile noch für das Jahr 1988 zu gewähren. Das ist eigentlich unmöglich. Ich finde es schon fast skandalös, daß das hier nur wegen der Vorteile der Erwerber auf die schnelle durchgezogen wird.
Ich glaube, das können wir nicht zulassen.
Deswegen möchte ich bitten, daß wir als erstes versuchen, den Verkauf zu verschieben. Sollte das nicht möglich sein, stelle ich hier den Änderungsantrag, daß in die Beschlußempfehlung aufgenommen wird, daß der Verkauf erst zum 1. Juli 1989 erfolgt. Sollten sowohl die Verschiebung wie auch der Änderungsantrag abgelehnt werden, sehen wir uns gezwungen, den Antrag des Bundesministers der Finanzen abzulehnen.
Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Roth .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages hat am gestrigen Nachmittag der Veräußerung eines bundeseigenen Geländes in der Stadt München in der Dachauer Straße gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zugestimmt. Er hat in diesen Veräußerungsvorgang eingewilligt.
Dieses Gelände in München südlich des Oberwiesenfeldes in der Nähe des Olympiageländes ist für Zwecke des Bundes entbehrlich. Auf diesem als Misch- und Wohngebiet im Bebauungsplan der Stadt München ausgewiesenen Areal sollen 800 Wohnungseinheiten errichtet werden, u. a. 100 Sozialwohnungen und 80 sogenannte Bundesdarlehenswohnungen, die insbesondere für Angehörige der Bundeswehr zur Verfügung gestellt werden sollen.
Meine Damen und Herren, wir haben im Haushaltsausschuß den Vorgang sorgfältig geprüft. Es handelt sich um eine beschränkte Ausschreibung, die im Sommer dieses Jahres vorgenommen worden ist. Von einem kurzfristigen Verkaufsvorgang kann hier überhaupt nicht die Rede sein, Herr Kollege Weiss.
8490 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Roth
Sie führen hier die deutsche Öffentlichkeit völlig hinters Licht. Seit Monaten sind diese Verkaufsverhandlungen im Gange. Für den Wohnungsmarkt der Landeshauptstadt München ist dieses Projekt von großer Bedeutung, ganz abgesehen von den Einrichtungen, die dort ansonsten entstehen sollen: der Deutsche Wetterdienst und das Goethe-Institut.
Meine Damen und Herren, wir Haushaltspolitiker des Bundes hatten vor unserer Einwilligung zu prüfen, ob den rechtlichen Erfordernissen Rechnung getragen worden ist. Dieses Grundstück wird zu einem sehr hohen Gesamtpreis von 117 Millionen DM veräußert. Das ist weit mehr, als der baufachliche Verkehrswert beträgt. Dieses Grundstück wird einem wichtigen Zweck zugeführt. von daher besteht überhaupt kein Anlaß, a) diese Entscheidung hier im Parlament zu vertagen und b) die Veräußerung zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen. Herr Kollege, Sie machen sich offenbar überhaupt keine Gedanken darüber, welche Verpflichtung das Haushaltsrecht für dieses Parlament hat. Sie dürfen davon ausgehen, daß der monatliche Zinsverlust im Falle einer unmotivierten Verschiebung
weit über einer halben Million Mark liegen würde. Insofern ist Ihr Vorschlag,
haushaltspolitisch überhaupt nicht verantwortbar und wird deshalb von unserer Seite mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen.
Die Fraktion der CDU/CSU willigt, wie gestern im Haushaltsausschuß beschlossen, in diese Veräußerung ein.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich den Anträgen der Fraktion DIE GRÜNEN nicht anschließen. Sie wird aber auch nicht der Veräußerung des Grundstücks zustimmen, sondern sich der Stimme enthalten. Ich darf das kurz begründen.
Das Verhandlungsergebnis der Bundesregierung über dieses zu veräußernde Grundstück ist in letzter Sekunde gestern abend im Haushaltsausschuß noch einmal durch ein nachgeschobenes Angebot etwas in Frage gestellt worden. Wir Sozialdemokraten sahen uns nicht in der Lage, innerhalb dieser kurzen Frist zu prüfen, ob das neue Angebot von einem seriösen Anbieter erfolgt, und haben uns deshalb im Haushaltsausschuß gestern abend auch der Stimme enthalten. Ich füge aber hinzu, daß wir großen Wert darauf legen — das wird durch die Veräußerung dieses Grundstücks auch erreicht — , daß Wohnraum für Bundesbedienstete geschaffen wird. Das ist gerade im Raum München von besonderer Bedeutung.
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.
Ich muß feststellen, daß es keine Übereinstimmung der Fraktionen hinsichtlich des Wunsches auf Vertagung gibt.
Den Änderungsantrag des Abgeordneten Weiss , die Zustimmung zum Verkauf am 1. Juli 1989 zu geben — das ist ein Änderungsantrag, den ein Abgeordneter stellen kann — , stelle ich zur Abstimmung. Wer für diesen Änderungsantrag ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/3685.
Wer dieser Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Ich rufe den Punkt 18 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Saibold, Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN
Kein Tourismusverkehr mit dem ApartheidStaat
— Drucksache 11/3161 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Verkehr
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN
Keine Kreditvergabe der Kreditanstalt für Wiederaufbau an Südafrika
— Drucksachen 11/2313, 11/2998 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Mitzscherling
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN
Keine Hermesbürgschaften für Südafrika-Geschäfte
— Drucksachen 11/2311, 11/2999 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Mitzscherling
Stopp der Kohleimporte aus Südafrika — Drucksachen 11/2312, 11/3000 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kittelmann
Im Ältestenrat, meine Damen und Herren, ist eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 18a bis 18d mit zwei Beiträgen bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Das heißt also, daß wir zwei Debattenrunden nacheinander haben werden. Sind Sie damit einverstanden? — Das scheint der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Frau Eid ist die erste Rednerin. Bitte schön.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Der Zeitpunkt für die heutige Südafrika-Debatte hätte nicht passender gewählt werden können. Ich sage dies nicht, weil ich heute morgen aus Südafrika zurückgekommen bin, sondern weil in Südafrika gerade der größte politische Schauprozeß in der jüngsten Geschichte des Apartheid-Staates zu Ende geht.
Der sogenannte Delmas-Prozeß ist eine Wiederholung des vor einem Vierteljahrhundert geführten Rivonia-Prozesses, der damals zu lebenslangen Zuchthausstrafen für die politischen Führer der schwarzen Bevölkerung führte, die, wie z. B. Nelson Mandela, immer noch nicht frei sind. Diesmal wurden 22 Männer des Hochverrats beschuldigt. Nach ca. 440 Verhandlungstagen wurde der Schuldspruch Mitte November verkündet. Vier Angeklagte, nämlich Popo Molefe, der auch in der CDU-Fraktion Freunde hat, Patrik Lekota und Moses Chikane, drei führende Persönlichkeiten des Oppositionsdachverbandes „Vereinigte Demokratische Front", und Tom Manthata, ein Mitarbeiter des Südafrikanischen Kirchenrates, sind des Hochverrates für schuldig befunden worden. Ihnen wird vorgeworfen, den Umsturz der Regierung betrieben zu haben. Der Schuldspruch basiert ausschließlich auf dem Vorwurf der „feindlichen Gesinnung".
Sieben weitere Angeklagte sind des Terrorismus für schuldig befunden worden. Ihnen wirft die Anklage vor, ein Klima geschaffen zu haben, das gewaltsame Aktionen zur Folge gehabt habe. Auch in diesem Falle wird den Beschuldigten selbst keine Gewalttätigkeit vorgeworfen.
Zusammen mit der südafrikanischen Opposition können wir GRÜNEN nicht akzeptieren, daß mit diesem Schuldspruch die Ablehnung von Apartheid und der Widerstand gegen das unterdrückerische Regime in Pretoria Hochverrat sein sollen. Ich kann mir nicht vorstellen und ich will es auch nicht glauben, daß irgendjemand hier in diesem Hause bereit wäre, zu akzeptieren, daß mit diesem Schuldspruch der Zusammenschluß in Organisationen und die Mobilisierung der Unterdrückten, der Opfer und der Gegner der Apartheid ein Verbrechen sein soll. Aber genau darum geht es im Delmas-Prozeß.
Ich hatte von Montag bis gestern die Gelegenheit, als Beobachterin an dem Prozeß teilzunehmen. — Leider hat der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler meine Einladung nicht angenommen, das gleiche zu tun. — Ich hörte die Aussagen fast aller Entlastungszeugen, unter denen so hochangesehene Persönlichkeiten waren wie z. B. die Schriftstellerin Nadine Gordimer und Herr Dr. Kistner, Träger des Bundesverdienstkreuzes. Alle meine Gesprächspartner waren sich einig darin, daß es bei diesem Schauprozeß nicht um einzelne Personen geht, sondern daß die demokratischen Ideale und der legitime Protest der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit kriminalisiert werden sollen.
Die demokratische Opposition in Südafrika ist einhellig der Auffassung, daß mit diesem Schuldspruch eine neue Phase der Unterdrückung eingeleitet werde. Sollten die Angeklagten verurteilt werden, werde eine Versöhnung zwischen Weiß und Schwarz nahezu unmöglich — so die einhellige Meinung, die ich in Südafrika hörte. Auch Ankündigungen, Nelson Mandela freizulassen, änderten daran nichts; denn seine Freilassung wäre ohne Bedeutung, solange die politischen Führer aus der jüngeren Generation einer nach dem anderen ins Gefängnis wanderten.
Ich appelliere an den Bundeskanzler, der südafrikanischen Regierung unmißverständlich klarzumachen, daß er den Schuldspruch des Richters van Dijkhorst verurteilt, was ja selbst die US-amerikanische Regierung schon getan hat. Zusammen mit der südafrikanischen Opposition meinen wir GRÜNEN, daß am Ende dieses Schauprozesses für die elf Angeklagten nur Freispruch stehen kann.
Die vor wenigen Minuten verkündeten Urteile zwischen fünf und zwölf Jahren Gefängnis können, auch wenn sie milder als erwartet, ausgefallen sind, von keiner Demokratin und von keiner Apartheidgegnerin akzeptiert werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hornhues.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir das vorige Mal hier über Südafrika diskutiert haben, haben wir am Ende etwas zustande gebracht, was bei dem Thema nicht häufig vorkommt, nämlich wir haben eine gemeinsame Resolution beschlossen, die das Ziel hatte, die Begnadigung der „Sharpville Six" zu erreichen.
Ich möchte die erste Debattenrunde danach zum Thema Südafrika generell nicht verstreichen lassen, ohne denen ein Dankeschön zu sagen, die diesen Beschluß gemeinsam ermöglicht haben, was ja nicht für alle ganz einfach war. Ich tue es deswegen besonders gern, weil sich ab und zu zeigt, daß der Versuch erfolgreich sein kann, die eine oder andere Auseinandersetzung außen vor zu lassen und gemeinsam etwas
8492 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr. Hornhues
anzustreben. Die „Sharpville Six" sind begnadigt worden.
Die Tatsache, daß Nelson Mandela nicht wieder ins Gefängnis gebracht wurde, die begründete Aussicht, daß Namibia die Unabhängigkeit nunmehr erlangen kann,
das erkennbare Bemühen Südafrikas, das Verhältnis zu seinen Nachbarstaaten zu verbessern, all das ist zu begrüßen, wiewohl es noch weit davon entfernt ist, das eigentliche Problem Südafrikas der Lösung näherzubringen.Diese Schritte können — und deswegen will ich sie nicht gering werten — wichtige Beiträge sein, um die klimatischen Umfeldbedingungen für die Lösung der eigentlichen Südafrika-Frage, nämlich der Überwindung der Apartheid, zu bessern.
Andererseits: Frau Kollegin Eid, Sie haben soeben den Prozeß erwähnt. An einem Teil des Prozesses habe ich Anfang des Jahres teilgenommen. Einer oder mehrere der dort Angeklagten und Verurteilten sind Gesprächspartner von mir über die Jahre gewesen. Solche Urteile konterkarieren solche Urteile, auch wenn das Strafmaß für südafrikanische Verhältnisse vergleichsweise bescheiden ausgefallen ist — was ein wenig hoffen läßt — , das Bemühen, klimatische Umfeldbedingungen zu schaffen, die eine Verhandlungslösung erleichtern und näherbringen könnten.
Denn dies muß unverändert das eigentliche Ziel auch unseres Bemühens sein: die Voraussetzungen zu schaffen, daß endlich die Verhandlungen über die Zukunft in Südafrika zwischen allen Südafrikanern beginnen kann.
Deswegen fordere ich, wie schon wiederholt, die südafrikanische Regierung auf, den politischen Gefangenen die Freiheit zu geben, den Ausnahmezustand aufzuheben, die Bannung von Organisationen und Personen zu beenden und damit Voraussetzungen zu schaffen, ohne die — das ist meine Überzeugung — es nicht zum gemeinsamen Tisch kommen kann.
Genauso bitte ich die Opposition in Südafrika oder bestimmte Gruppen der Opposition in Südafrika, die meinen, auf Gewalt nicht verzichten zu können und Gewalt anwenden zu müssen, dies einzustellen, damit auch von dieser Seite her Voraussetzungen geschaffen werden können, daß nicht Gewalt immer neue Gegengewalt und Gegengewalt neue Gewalt zeugt, sondern daß endlich der friedliche Prozeß in Gang gesetzt werden kann.
Eine Sanktionspolitik — und der Kern der Anträge läuft auf weitere Sanktionen hin — ist — das ist unsere feste Überzeugung — nicht geeignet, dies zu erreichen.
Deswegen — mein Kollege Kraus wird das sogleich deutlicher sagen — lehnen wir — das wird Sie nicht verblüffen — die Anträge ab.
Wir setzen darauf, daß es notwendig ist, statt dessen den Dialog mit allen zu intensivieren, und daß es notwendig ist, daß die Bundesregierung sich im Verbund mit den anderen westlichen Ländern konkret und massiv ins Spiel bringt, um das Ziel, nämlich Verhandlungen, zu erreichen.
Wir hoffen sehr darauf, daß die Veränderungen, die sich in Amerika abzeichnen, auch in dieser Frage dazu führen werden, daß die Vereinigten Staaten unmittelbar, sobald die neue Administration im Amt ist, genau bei diesem Thema die notwendige Aktivität entfaltet.
Wir haben, meine sehr geehrten Damen und Herren, wie ich es schon bei vielen Gelegenheiten gesagt habe, eine Fülle von Möglichkeiten, solche Prozesse konzentriert zu unterstützen. Wenn die IG-Metall nach dem Besuch von Herrn Steinkühler, etwa bezogen auf die deutsche Wirtschaft in Südafrika, konkrete Vorschläge im Rahmen eines 14-Punkte-Katalogs gemacht hat, der Standards beinhaltet, die deutsche Unternehmen einhalten sollten im Sinne einer neuen und besseren Gesellschaft in Südafrika, dann begrüßen wir dies mit allem Nachdruck.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten deutlich machen, daß wir gewillt sind, für den Fall, daß endlich das Signal gegeben werden kann, daß Verhandlungen über die Zukunft Südafrikas beginnen, daß wir bereit, willens und in der Lage sind, einen solchen Prozeß nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten zu unterstützen.
Sollte ein solcher Prozeß endlich beginnen, dann heißt dies für uns, daß wir dafür eintreten, bestehende Sanktionen und Boykotte zu beenden und daß wir eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit anbieten, damit das Problem, wodurch sich dieses Land im negativen Sinne auch auszeichnet, nämlich Erste und Dritte Welt zugleich zu sein, einer Lösung nähergeführt werden kann.
Herr Abgeordneter, ich darf Sie bitten — —
Herr Präsident, ich habe es geahnt. — Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das ist nun mal mein Amt hier.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8493
Vizepräsident Westphal
Frau Professor Ganseforth ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich nicht nur oberflächlich und pharisäerhaft, sondern ehrlich mit den Fragen der Menschenrechte befaßt, merkt man schnell, daß man von pauschalen Urteilen Abschied nehmen muß. Die Verhältnisse sind meistens kompliziert, sie sind in jedem Lande anders, sie haben eine Geschichte, es gibt Ursachen und es gibt Erklärungen für die Situation. Und nur nebenbei bemerkt, man stellt auch schnell fest, daß es im eigenen Lande durchaus noch einiges zu tun gibt.
Will man in einem Lande von außen her die Entwicklung zur Beachtung der Menschenrechte hin und zur Demokratie beeinflussen, so ist manchmal viel Geduld, Fingerspitzengefühl und Behutsamkeit angebracht.
Das Land, das am hartnäckigsten gegenüber allen Versuchen, durch Verständnis und Geduld, durch kritischen Dialog und nachdrückliche Ermahnungen war, ja nicht einmal durch UN-Beschlüsse sich hat bewegen lassen, das die Zeit der Erklärungen, der Fragen nach geschichtlichen Ursachen hat verstreichen lassen, ohne sich überhaupt zu bewegen, ohne von der brutalen Unterdrückung der eigenen Bevölkerung sich abbringen zu lassen, dieses Land ist Südafrika.
Es hat nicht nur den Terror im eigenen Land geschürt, es hat ihn auch in die Nachbarländer getragen. Ich erinnere an die Destabilisierung in Mosambik. Jeder Tag, den dieser Zustand weiter andauert, wird die Anstrengungen vergrößern, deren es bedarf, um eines Tages ein demokratisches und humanes System in Südafrika zu verankern und um die Wunden, die der eigenen Bevölkerung und der Bevölkerung der Nachbarstaaten geschlagen wurden, zu heilen.
40 Jahre sind vergangen, seit die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte durch die Vereinten Nationen bekanntgegeben worden ist. Wir begehen diesen Anlaß gerade in diesen Tagen. Ebenso lange ist es her, daß das System der konsequenten Rassentrennung in Südafrika begann. Es ist ein großer Schritt gewesen, als die Völkergemeinschaft sich auf gemeinsame wichtige Vereinbarungen zur Einhaltung der Menschenrechte verständigt hat. Genauso lange ist es her, nämlich 40 Jahre, seit dieses System in Südafrika sich nicht bewegt.
Wieviele Jahrzehnte und Jahre soll dieser Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in Südafrika noch andauern? Wieviele Menschen sollen noch verletzt, getötet, eingesperrt, verurteilt und hingerichtet werden?
Herr Kollege Hornhues, wenn Sie sagen, wir haben es erreicht, daß die sechs von Sharpville nicht zum Tode verurteilt wurden, sondern daß die Urteile in eine lebenslängliche Gefängnisstrafe umgewandelt worden sind, so muß man sehen, daß andererseits schon 115 Todesurteile in diesem Jahr ausgeführt worden sind. Von Fortschritten kann also nicht die Rede sein. Glauben Sie, daß man mit Dialog und mit
Geduld weiterkommen kann oder daß so endlich ein Friedensprozeß, von dem Sie gesprochen haben, in Gang gesetzt werden kann? Geben Sie doch zu, daß dieses Konzept gescheitert ist.
Ich habe den Eindruck, daß Sie nicht wirklich berührt, was in Südafrika passiert, und daß für Sie die Änderung der Verhältnisse gegenüber anderen Dingen nicht den nötigen Stellenwert zu haben scheint. Wie können Sie sonst weiter für Hermes-Bürgschaften für Südafrika-Geschäfte sein? Wie können Sie weiterhin für eine Kreditvergabe durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau sein, wenn Ihnen Änderungen wirklich am Herzen liegen? Wie können Sie weiterhin für Kohleimporte aus Südafrika sein? Wer nicht bereit ist, konkret zu handeln und nicht mehr zu reden, der unterstützt die herrschende Clique in Südafrika.
Wir lehnen die Empfehlung des Wirtschaftsausschusses, der sich gegen die Anträge der GRÜNEN ausgesprochen hat, ab. Der Tourismusverkehr mit Südafrika dient nicht der Völkerverständigung. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, im Interesse der unterdrückten Menschen in Südafrika fordere ich Sie auf: Reden Sie nicht nur, sondern handeln Sie.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion ist
— wie alle Fraktionen dieses Hauses — ein erklärter Gegner der südafrikanischen Apartheidpolitik.
— Wir lassen uns von Ihnen in dieser Überzeugung auch nicht übertreffen. Die Frage ist nur: Was können wir als Deutsche, was können wir als Bundesrepublik tun, um einen friedlichen Wandel in diesem Lande zu unterstützen,
aber nicht mit dem Ergebnis, daß dieser Wandel verzögert wird und daß dort noch eine Verhärtung entsteht? Das ist eine sehr schwierige Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist.
Der FDP-Parteitag hat sich kürzlich sehr intensiv mit den Problemen in Südafrika beschäftigt und ist zu einer Reihe konkreter Beschlüsse gekommen, von denen ich hier einige aufzählen werde, weil sie zeigen, wo man konkret ansetzen kann, ohne den falschen Weg zu allgemeinen Wirtschaftssanktionen zu gehen.
Erstens: Verzicht auf wirtschaftliche Ausnutzung der Apartheid. Das beinhaltet die Selbstverpflichtung aller Unternehmen, sich sowohl an den Verhaltenskodex der Europäischen Gemeinschaft als auch an die Mindeststandards für Arbeitsbeziehungen und Ar-
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Dr. Solms
beitskonflikte in südafrikanischen Tochterunternehmen deutscher Unternehmen zu binden, die von der IG Metall und dem Südafrikarat des internationalen Metallgewerkschaftsbundes entwickelt worden sind. Die deutschen Unternehmen, die diesen Grundsätzen zuwiderhandeln, sollen von staatlicher Förderung — also auch von Hermes-Krediten — ausgeschlossen werden.
Zweitens: Die Förderung der Frontstaaten einschließlich Namibias durch eine verstärkte wirtschaftliche, finanzielle und technische Hilfe, um die Unabhängigkeit der Frontstaaten von Südafrika zu stärken, die Förderung landeseigener Einrichtungen der schulischen und der beruflichen Erwachsenenbildung sollen unterstützt werden.
Drittens: die Förderung von Bildungsprojekten in Südafrika selbst, z. B. durch Förderung von Bildungseinrichtungen der Kirchen, Stiftungen, Bürgerrechtsorganisationen zugunsten der schwarzen Bevölkerung; Bereitstellung der sachlichen und personellen Mittel der deutschen bzw. europäischen Schulen im Rahmen solcher Programme; Ausbau der Integrationsprogramme zwischen weißen und nichtweißen Schülern in den deutschen bzw. in den europäischen Schulen.
Viertens: die Einführung einer Herkunftskennzeichnung für aus Südafrika eingeführte Erzeugnisse,
soweit im Rahmen der GATT-Regelung zulässig, denn dann steht es jedem deutschen Verbraucher frei, ob er diese Produkte zu kaufen wünscht oder nicht, und das ist eine Entscheidung des mündigen Bürgers.
Fünftens: absolute Sicherung des Waffenembargos für Lieferungen nach Südafrika einschließlich Waffenvormaterial
und Konstruktionsunterlagen jeder Art, auch im Rahmen von Kooperationsverträgen.
Sechstens: Einführung der Visumpflicht für Südafrikaner und Verweigerung der Einreise dann, wenn die Ausreise von nach Europa eingeladenen Personen behindert wird.
Es gibt weitere Vorschläge, aber die mir zur Verfügung stehende Redezeit erlaubt es nicht, sie alle zu verlesen.
Ich glaube, daß dies vernünftige Schritte sind, durch die wir Einfluß ausüben können.
Die Begrenzung des Tourismusverkehrs würde ich im Gegensatz dazu für einen völlig falschen Schritt halten, denn unseren Bürgern soll ja freigestellt sein, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen und mit diesem Bild hier Überzeugungsarbeit zu leisten, aber auch dort in Gesprächen auf einen Bewußtseinswandel hinzuwirken. Allerdings müssen wir darauf achten, daß diese Reisen natürlich auf eigene Kosten zustande kommen und nicht vom südafrikanischen Staat subventioniert werden.
Ich glaube, der mündige Bürger hat es selbst in der Hand, sich ein Bild zu machen. Es ist keiner so weise, daß er den Bürgern vorschreiben kann, in welcher Weise Sie sich selbst informieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung haben mehrfach unterstrichen, daß sie sich nachhaltig für die Abschaffung der Apartheid auf friedlichem Wege einsetzen. Die Bundesregierung trägt die Maßnahmen der übrigen EG-Staaten mit. Zu letzteren zählen insbesondere der EG-Verhaltenskodex für Unternehmen in Südafrika von 1977 und in der Neufassung von 1985, Bildungsmaßnahmen und soziale Leistungen für Opfer der Apartheid.
Die Bundesregierung begrüßt auch in diesem Zusammenhang die Zielrichtung der von der IG Metall Anfang des Jahres vorgelegten Mindeststandards für Arbeitsbeziehungen und Arbeitskonflikte in Südafrika, die von den Sozialpartnern vor Ort vereinbart werden sollen. Sie vertiefen unseres Erachtens einen Teil der Anliegen des EG-Kodexes, obwohl wir wissen müssen, daß ihre Akzeptanz bereits bei einigen EG-Mitgliedstaaten Probleme hervorrufen.
Wirtschaftssanktionen lehnt die Bundesregierung als Mittel der Politik aber strikt ab. Sie sind wirklich nicht geeignet, politische Ziele zu erreichen. Der Bundeskanzler hat dies in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 4. Februar dieses Jahres noch einmal deutlich — auch für Südafrika — hervorgehoben. Meine Damen und Herren, wären das nicht im Grunde genommen Zeichen der Hilflosigkeit? Sie tragen nicht zur Abschaffung der Apartheid bei. Wir müssen uns doch fragen, ob sie nicht den Entscheidungsspielraum der Regierung in Südafrika einengen, weil sie den Zulauf zur rechtsradikalen konservativen Partei fördern, die die volle Wiederherstellung der Apartheid fordert und auch bereits bei den Parlamentswahlen am 6. Mai des vergangenen Jahres die liberale Partei überrundete und die Oppositionsrolle übernommen hat. Bei den Kommunalwahlen vom 26. Oktober dieses Jahres konnte sie sogar ihre Stellung ausbauen.
Als Stichwort kann man hier nur die Gemeinde Boksburg mit ihren nicht hinnehmbaren rückschrittlichen Maßnahmen nennen. Wirtschaftssanktionen sind somit für eine notwendige Änderung der politischen Verhältisse kontraproduktiv.
Werden Sanktionen tatsächlich durchgesetzt und schwächen sie die Wirtschaft Südafrikas, so mindern sie zudem die Kraft des Landes für die notwendige Verbesserung der Wirtschafts- und Sozialstrukturen zugunsten der Schwarzen. Sie schaden damit letztlich
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Parl. Staatssekretär Dr. von Wartenberg
den schon jetzt von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Schwarzen, denen sie helfen wollen.
Auch treffen sie die wirtschaftlich von Südafrika in den Sektoren Transport, Energie, Gastarbeiterüberweisungen, Bergbauinvestitionen und Management abhängigen Nachbarstaaten.
Sanktionen gegen den südafrikanischen Kohlebergbau — nur als Beispiel — würden sich gegen einen Sektor richten, in dem fast 60 000 Schwarze beschäftigt sind, darunter Gastarbeiter aus Lesotho, Mosambik, Swasiland und Malawi. Diese Beschäftigten haben für einen Kreis von etwa 250 000 Menschen den Lebensunterhalt aufzubringen. Ich möchte Sie schon fragen, ob Sie in diesem Bereich etwa Verantwortung übernehmen würden oder nicht doch mit einem gewissen Sarkasmus hier urteilen.
Wie negativ sich die von einigen Staaten verfolgte Sanktionspolitik ausgewirkt hat, zeigt sich, abgesehen vom erwähnten Rechtsruck, daran, daß die Regierung Botha nicht nur keine Bereitschaft zeigt, den Kern der Apartheid zu beseitigen — also den Ausschluß der Schwarzen vom Wahlrecht, die Homelandpolitik, Group Area Act — , sondern im Gegenteil sogar einige Rückschritte zeigt. So sind z. B. das Verbot der politischen Betätigung von 17 Oppositionsgruppen am 24. Februar dieses Jahres und das kürzlich in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des Arbeitsrechts, das Einschränkungen des Streikrechts vorsieht, in unseren Augen Rückschritte.
Nachdem sich — der Kollege Hornhues hat mit Recht darauf hingewiesen — der Sanktionsdruck in den letzten beiden Jahren nicht mehr erhöht hat, scheint die südafrikanische Politik wieder in Bewegung gekommen zu sein. Bei aller gebotenen Vorsicht: Südafrika hat seine Truppen aus Angola abgezogen, und der Unabhängigkeitsprozeß Namibias ist einen Schritt weiter. Mit Mosambik werden intensive Gespräche über regionale Sicherheit und Entwicklung geführt.
Die Sharpville Six sind begnadigt, und einzelne politische Gefangene sind freigelassen worden. Angesichts dieser Entwicklung erschiene mir der Versuch, neuen politischen Druck über Wirtschaftssanktionen zu erzeugen, wenig geschickt.
Nach allem sind die von der Fraktion der GRÜNEN geforderten Maßnahmen in den Bereichen Tourismus, Kreditvergabe durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau, Hermes-Bürgschaften und Kohleimporte abzulehnen. Den Beschlußempfehlungen des Wirtschaftsausschusses schließe ich mich namens der Bundesregierung vollinhaltlich an.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja wieder einmal die schwierigste Frage in der Südafrika-Politik überhaupt, mit der wir uns heute beschäftigen müssen, nämlich die Frage, ob Sanktionen ein Mittel sein können, den friedlichen Wandel herbeizuführen, oder nicht.
Wir haben es uns damit ja nie leichtgemacht. Es ist schon erstaunlich, Herr Staatssekretär, daß man bei Betrachtung desselben Sachverhaltes zu so völlig unterschiedlichen Analysen und Konsequenzen kommen kann. Ich gehe einmal davon aus, daß wir ungefähr über dieselben Kenntnisse darüber verfügen, welche Länder der Welt Sanktionen gegenüber Südafrika verhängt haben, und daß wir auch über ungefähr dieselben Erkenntnisse verfügen, welche politischen und ökonomischen Wirkungen diese Sanktionen haben.
Es kann doch nicht bestritten werden, daß die südafrikanische Politik in den letzten Jahren, in denen der Sanktionsdruck nicht gesunken, sondern vor allen Dingen auf Grund der amerikanischen Politik permanent gewachsen ist, zu Konzessionen bereit gewesen ist, zu denen sie vorher nicht bereit war. Selbst wenn Sanktionen gar nicht verhängt werden müssen, ist die Drohung, daß es zu Sanktionen kommen könnte, ein Instrument der Politik, das in der Südafrika-Politik die allergrößte Bedeutung hat, wie jeder weiß, der dort mit beiden Lagern spricht. Das ist ja eine Sache, die durchaus auch im weißen Lager akzeptiert wird.
Ich habe ein bißchen Schwierigkeiten damit, im einzelnen auf die Anträge der Fraktion DIE GRÜNEN einzugehen, weil man das Problem nicht auf Grund selektiver Einzelanträge darstellen kann. Ich will nur eine Bemerkung dazu machen. Ich finde, daß wir die Frage der Hermes-Bürgschaften, auch die Frage der Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau ganz anders als die allgemeine Sanktionsdiskussion bewerten müssen. Hier geht es nämlich schlicht und einfach darum, ob wir es als Parlament für richtig halten, daß die Bundesrepublik Deutschland selber als Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft mit ihren wirtschaftlichen Institutionen an der Stabilisierung des Apartheid-Systems mitwirkt. Das kann man nun leider nicht bezweifeln, wenn wir uns ansehen, wohin diese Kredite gehen, nämlich in die für das ApartheidSystem strategisch wichtigen Bereiche Kommunikation, Transport und Technologie, und wenn wir uns ansehen, was mit den Hermes-Bürgschaften finanziert wird, nämlich Lieferungen in genau wieder diese für die Apartheid strategisch wichtigen Bereiche. Ich muß Ihnen ja Zitate von Herrn Botha nicht vorführen, in denen zum Ausdruck kommt, wie wichtig diese Form wirtschaftlicher Zusammenarbeit für das Überleben des Apartheid-Systems ist.
Angesichts dessen stellt sich doch die Frage, ob wir das auch noch als Staat Bundesrepublik Deutschland tun müssen, wenn wir schon nicht den Mut aufbringen können, unserer Wirtschaft zu sagen, daß sie es nicht tun solle. Wir selber haben aber ohne weiteres die Fähigkeit zu sagen, wir brauchten das nicht mitzumachen. Das ist keine Sanktion, die in irgendeiner Form das südafrikanische System zum Wandel bringen könnte. Darüber mache ich mir keine Illusionen; dazu
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Verheugen
müßte man schon auf etwas mehr als auf HermesBürgschaften und Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau zurückgreifen. Aber es wäre ein deutliches Signal, auf das viele in Südafrika warten.
Die Kollegen, die hier sind und häufige Kontakte nach dort unterhalten, wissen das. Kollege Hornhues, Sie haben auf Ihre Gespräche mit den Angeklagten und jetzt Verurteilten in dem UDF-Prozeß hingewiesen. Sie werden Ihnen nichts anderes als mir gesagt haben, nämlich daß sie auf ein deutliches Signal der Bundesrepublik Deutschland warten, daß wir es nicht bei Appellen bewenden lassen, sondern wirklich etwas tun sollten.
Was hier vorgeschlagen wird, meine Damen und Herren, ist nun wirklich die allerweicheste Option, die man sich vorstellen kann. Wie man dem widersprechen kann, ist mir schwer verständlich.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Tourismus und zu den Kohleimporten sagen, weil das schwierigere Themen sind. Ich bin Ihrer Meinung, Herr Solms, daß wir die Menschen reisen lassen sollten, wohin sie reisen wollen, und daß wir es begrüßen sollten, wenn sie sich an Ort und Stelle informieren.
Ich weiß allerdings nicht, ob Sie schon einmal die Gelegenheit hatten, sich Tourismusprogramme in Südafrika anzusehen. Es ist, wenn Sie an einem Tourismusprogramm in Südafrika teilnehmen, eben nicht so, daß Sie sich dann über die Lage in Südafrika informieren können; Sie informieren sich über einen ganz bestimmten Ausschnitt. Wer viele Südafrikaveranstaltungen macht, der weiß, was passiert: In diesen Veranstaltungen treten dann die Leute, die dort hingereist sind auf, und sagen: Das stimmt ja gar nicht, was du da erzählst; ich bin ja dort gewesen; die Schwarzen in meinem Hotel waren alle so freundlich, und ich habe sie doch gefragt: Werdet ihr hier anständig behandelt?, und sie haben gesagt: Jawohl, wir werden hier anständig behandelt.
Wenn Sie Südafrikareisen machen können, die Sie wirklich in den Mittelpunkt der Probleme bringen, dann habe ich nichts dagegen einzuwenden. Aber hier geschieht doch nichts anderes, als daß die verzweifelte wirtschaftliche Lage dieses Landes, insbesondere seine verzweifelte Währungssituation, für einen ausgesprochenen Billigurlaub mit einem für afrikanische Verhältnisse im übrigen ungewöhnlichen Komfort ausgenutzt wird.
An die Adresse der bundeseigenen Unternehmen, insbesondere der Lufthansa, sei gesagt: Ich finde, es ist schon ein starkes Stück, daß dann, wenn der amerikanische Kongreß Luftfahrtsanktionen verhängt, das bundeseigene Unternehmen Lufthansa in Südafrika seine Werbung verstärkt und den Leuten sagt: Fliegt mit uns; wir bringen euch nach Amerika, wenn die Amerikaner das nicht mehr tun.
Das gehört zu dem, was wir in der Ausschußberatung noch zu behandeln haben. Im übrigen geht es um Anträge, die in unseren weitergehenden Anträgen bereits enthalten waren. Die Probe aufs Exempel, Herr Solms, in bezug auf das, was Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben, steht Ihnen ja unmittelbar bevor; denn die weitergehenden Anträge, in denen das enthalten ist, was Sie vorschlagen, stehen hier bald zur Beratung an.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kraus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wenn man das Thema Boykott in der Weise behandelt, daß man sagt, nur mehr oder weniger starker Druck von außen könnte die Verhältnisse in Südafrika wesentlich ändern, läßt man sträflicherweise völlig außer acht, daß die innersüdafrikanischen Entwicklungen wahrscheinlich doch die Hauptrichtung bestimmen.
Zu sagen, die Mittel, die wir mehr oder weniger unterstützen, würden dazu benötigt, Kommunikation, Transportwesen und Technologie aufzubauen, und zu sagen, das seien genau die Bereiche, in denen eine Stabilsierung des Regimes stattfindet, mag ja angehen. Aber gleichzeitig sind es auch die Bereiche, die gefördert werden müssen, wenn man zu einem bescheidenen Wohlstand, zu wirtschaftlichem Wachstum kommen will und muß. Da ist meines Erachtens eine Unterscheidung nicht möglich.
Die CSU verurteilt Menschenrechtsverletzungen in Südafrika in derselben Weise, wie sie das auch bei Menschenrechtsverletzungen in allen anderen Ländern tut.
Bei allem Ärger und bei aller Empörung über die Politik der Apartheid in Südafrika wäre es aber nach unserer Auffassung verantwortungslos und politisch leichtfertig, wenn man die Lage in Südafrika auf eine Schwarzweißpolitik einengen wollte, wenn man die drohende Gefahr von Stammeskriegen übersehen würde, wenn man dem Land Südafrika von außen Patentlösungen aufdrängen wollte, die der unendlich komplizierten Problematik einer vielrassigen Gesellschaft nicht gerecht werden.
Wir sollten deshalb nach unserer Auffassung den Tourismus nach Südafrika auch nicht behindern. Wir sollten vielmehr dafür sorgen, daß möglichst viele Bürger aus unserem Land selber die Möglichkeit haben, sich an Ort und Stelle ein Bild zu machen.
Dieses ist für sehr viele Menschen möglich — das wissen auch Sie — , die persönliche Bekannte oder Verwandtschaft in Südafrika aufsuchen und dabei auch die Möglichkeit wahrnehmen können, unsere Auffassung zu der Politik klar zum Ausdruck zu bringen.
Ich wüßte nicht, Frau Eid, daß Sie in bezug auf ein anderes Land, von dem wir ebenfalls wissen, daß es dort Menschenrechtsverletzungen gibt, bisher gefordert haben, daß der Tourismus dorthin nicht mehr stattfinden soll. Wir denken also, daß auch für Südafrika diese Möglichkeit weiterhin bestehen sollte.
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Kraus
Was sollen die wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen, insbesondere der Stopp von Kohleimporten aus Südafrika? Diese Maßnahmen würden nach unserer Auffassung die Menschen am meisten treffen, denen Sie angeblich helfen wollen. Natürlich sind die untersten Schichten einer Bevölkerung von derartigen Maßnahmen sehr viel früher und sehr viel heftiger betroffen als Leute, die eben über einen gewissen Rückhalt verfügen. Natürlich werden Sie auch Leute, die Geschäfte machen, mit diesem Boykott, wenn er kommen sollte, treffen — aber sehr viel später und jedenfalls nicht in dieser existentiellen Weise, wie das bei den einfachen Bevölkerungsschichten der Fall ist.
Die schwarze Bevölkerung Südafrikas hat heute einen Lebensstandard erreicht, der immerhin wesentlich höher ist als der in sämtlichen anderen schwarzafrikanischen Ländern.
Allein 280 000 Flüchtlinge kamen aus den umliegenden Staaten nach Südafrika und ergriffen die dort angebotenen Arbeitsmöglichkeiten. Rund 1,4 Millionen Schwarze aus den Nachbarländern kommen freiwillig als Arbeitssuchende nach Südafrika.
— Freiwillig, natürlich, sie sind doch dazu nicht gezwungen. Sie sind bestensfalls durch die Verhältnisse in ihren Ländern gezwungen,
Verhältnisse, die Sie auch in Südafrika herbeiführen wollen. Insofern bin ich sogar sehr zurückhaltend, wenn ich das noch als „freiwillig" bezeichne.
Unsere Aufgabe als Land der freien Welt kann es deshalb nicht sein, die schwarze Bevölkerung dieses sowieso äußerst bescheidenen Wohlstandes zu berauben.
Unser Ziel kann es nicht sein, dieses Land zu isolieren, zu diskriminieren und seine industrielle und landwirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu lähmen. Dann würden in Südafrika und in den Nachbarländern viele Millionen Schwarze hungern. Der Prozeß der Radikalisierung würde beschleunigt. Es ist wohl das, was Sie wollen.
Wir sind im Ziel, gegen die Apartheid zu arbeiten, die Apartheid abzuschaffen, sicher nicht auseinander. Wir streiten uns über den richtigen Weg. Wir für uns lehnen es jedenfalls ab, einen Weg zu finden oder anzubieten, der mehr Unheil bringt als das, was dort im Augenblick schon geschieht. Wir haben es schon in vielen Ländern erlebt, daß über ein neues System gestritten wurde.
Die alten Systeme sind verschwunden. Aber leider war es häufig so, daß das, was nachkam, noch wesentlich schlimmer war.
Ich glaube, in der Politik kommt es eben auch darauf an, die Dinge verantwortlich zu sehen und Verantwortung auch für die Zukunft mittragen zu helfen.
Wir wollen, daß die Apartheid abgeschafft wird.
Wir fordern deshalb auch die südafrikanische Regierung auf, den Prozent der Abschaffung der Apartheid, den sie eingeleitet hat und der unserer Auffassung nach in die richtige Richtung geht, zu beschleunigen und in absehbarer Zeit hoffentlich auch abzuschließen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Eid.
: Herr Präsident! Wenn man — wie ich jetzt — drei Tage in Südafrika war und dort an dem Prozeß teilgenommen hat und sich hier diese Argumente anhören muß, dann ist es zum Verzweifeln. Ich glaube, daß viele überhaupt nicht wissen, worüber sie reden.
Herr Hornhues, ich bin absolut entsetzt darüber, daß gerade Sie Botha auf den Leim gehen. Auch Sie argumentieren, daß da unten ein Prozeß eingeleitet wird, der zur Abschaffung der Apartheid führt. Das stimmt doch gar nicht! Sie nennen den Namibia-Prozeß. Niemand soll sich doch der Illusion hingeben,
daß die südafrikanische Regierung verhandlungsbereit ist, um der Weltöffentlichkeit einen Gefallen zu tun. Nein, die Regierung handelt doch aus einem wirtschaftlichen Zwang heraus und deshalb, weil es in Südafrika eine politische Krise gibt und — das kommt hinzu — weil der Druck aus Südafrika selber, und zwar auch von den weißen Südafrikanern, zunimmt, da sie die Rechtmäßigkeit des Krieges in Angola und die Besetzung Namibias mittlerweile in Frage stellen. Letzteres zeigt sich z. B. daran, daß die Zahl der Kriegsdienstverweigerer immer weiter steigt. Daß die südafrikanische Regierung dies als große Bedrohung empfindet, wird daran deutlich, daß gerade in den letzten Tagen wieder ein 18jähriger Kriegsdienstverweigerer zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden ist.
Selbstverständlich freuen wir uns darüber, daß die Sechs von Sharpville begnadigt wurden und die Todesstrafe zunächst in lebenslange Haft umgewandelt worden ist. Aber wir müssen dabei berücksichtigen, daß dies zynisch mit der Begnadigung von zwei weißen Polizisten verknüpft wurde, die wegen Mordes angeklagt sind. Das macht Botha doch nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit.
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Frau Eid
Auch die Tatsache, daß in den letzten Wochen einige politische Gefangene aus mehrjähriger Haft entlassen wurden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ziel der südafrikanischen Regierung die Zerschlagung der Opposition und die Aufrechterhaltung ihrer Machtdominanz mit allen Mitteln sind. Die Haftentlassungen werden dadurch entwertet, daß sie mit Auflagen verbunden sind, die die Menschen politisch mundtot machen. Herr Kollege Hornhues, ich nenne hier nur einen Namen: Eric Molobi.
Er ist zwar aus dem Gefängnis entlassen worden, aber er ist doch gar nicht frei. Sie kennen ganz sicherlich die Auflagen, die er hat.
— Dann darf man hier doch nicht sagen: Die politischen Gefangenen sind entlassen worden. Nein, damit kann man nicht zufrieden sein.
Wir dürfen nicht vergessen, daß am 24. Februar dieses Jahres 17 Oppositionsorganisationen verboten wurden; mittlerweile sind es 23. In dieser Situation, wo die bedeutendsten Organisationen des friedlichen Widerstandes mundtot gemacht wurden, wird mit dem jetzt geführten Delmas-Prozeß die juristische Basis für die Kriminalisierung der Opposition gelegt. Davon haben Sie hier überhaupt nicht geredet.
Wenn dieses Urteil rechtskräftig wird, hieße dies: Jeder Widerstand gegen das Unrechtsregime in Südafrika ist Hochverrat. Selbst Gottesdienste sind vor dem Zugriff des Sicherheitsapparates nicht geschützt. Zwei Vertreter der EKD und ich selbst wurden als Teilnehmer an einem Gebetsgottesdienst für die im Delmas-Prozeß Angeklagten am Mittwoch in der Methodistenkirche von Johannesburg Zeugen davon, wie die Sicherheitspolizei mitten in der Ansprache von Alan Boesak den Gottesdienst unterbrach und für illegal erklärte. Alle waren sich darin einig, daß nur die Anwesenheit von internationalen Gästen Schlimmeres verhindert hat. Alle Aktivitäten im Zusammenhang mit diesem Prozeß wurden mit der Begründung verboten, sie würden für den totalen revolutionären Angriff gegen die Regierung mobilisieren. Ich frage mich, ob sich die EKD-Vertreter dazu hergegeben hätten.
Ich frage den Bundeskanzler — vorhin war er ja da, jetzt ist er wieder weg — , ob er angesichts der Tatsachen, die wir jetzt schon gehört haben, immer noch glaubt, daß Botha bereit ist, die Apartheid abzuschaffen. Bisher hat die Bundesregierung geglaubt, durch positive Maßnahmen den friedlichen Wandel in Südafrika zu fördern. Durch einen neuen Gesetzentwurf — das finde ich für uns hier ganz wichtig — , der die Kontrolle ausländischer Finanzierungen südafrikanischer Organisationen zum Gegenstand hat, werden selbst solche Bemühungen unmöglich gemacht, indem ein vom Justizminister ernannter Beamter kontrolliert, welche Organisation oder Einzelperson aus welcher ausländischen Quelle wieviel Geld wofür erhält.
Diese Auflage ist ein politisches Disziplinierungsinstrument, das Abschreckungscharakter haben soll. Ich fordere die Bundesregierung auf, im Hinblick auf den EG-Spezialfonds für die Opfer der Apartheid die Auflagen der südafrikanischen Regierung nicht zu akzeptieren. Hierbei bin ich mir dessen natürlich voll bewußt, daß solche positiven Maßnahmen, wie sie der EG-Spezialfonds vorsieht, zwar den Opfern helfen, aber die Apartheid nicht abschaffen. Um das Regime in Pretoria zu grundlegenden Änderungen zu bewegen, hat sich das Mittel der moralischen Überzeugung eben nicht bewährt, auch wenn dies manche meiner Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite dieses Hauses immer noch glauben.
Vielmehr bedarf es deutlicher politischer Signale, um die südafrikanische Regierung von der Ernsthaftigkeit der von der Bundesregierung seit Jahren vorgegebenen Forderungen nach Abschaffung der Apartheid zu überzeugen. Deshalb bitte ich Sie, die Beschlußempfehlung abzulehnen und den von uns vorgelegten Anträgen zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Anträge der GRÜNEN sind im Auswärtigen Ausschuß nicht behandelt worden, sondern nur im Wirtschaftsausschuß. Dennoch ist es ganz klar, daß sich hierzu auch die Außenpolitiker zu Wort melden müssen, ganz besonders deshalb, Frau Kollegin Eid, weil wir ja sehr umfassende Anträge zur Beratung anstehen haben. Herr Verheugen hat mit Recht darauf hingewiesen, daß viele Elemente, die in Beschlüsse des Bundesparteitages der FDP eingingen, auch von uns behandelt werden und daß hier ganz sicher aus außenpolitischer Sicht noch andere Gesichtspunkte eingebracht werden müssen, als das aus reinen wirtschaftspolitischen Erwägungen bisher geschehen ist.
Es besteht auch gar kein Zweifel, und es ist auch gar kein Geheimnis, daß es — übrigens nicht nur in unserer Partei — zwar nicht unterschiedliche Meinungen, aber doch unterschiedliche Akzente in der Frage gibt: Genügt es, wie bisher zu versuchen, mit möglichst positiven konstruktiven Maßnahmen, mit immer wiederholten Mahnungen und Forderungen die südafrikanische Regierung endlich zu bewegen, das menschenverachtende Regime der Apartheid aufzugeben, oder muß nicht doch der Druck, durch welche Maßnahmen auch immer, verstärkt werden? Ich bin im Laufe dieses Jahres zu der Überzeugung gekommen, daß es ohne einen verstärkten Druck gegen Südafrika nicht besser wird und daß deshalb die westliche Staatengemeinschaft — ob das die EG ist, ob das andere Zusammenschlüsse sind — wirklich aufgefordert ist, gemeinsam wirtschaftspolitische Möglichkeiten auszuschöpfen und den Druck zu verstärken.
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Frau Dr. Hamm-Brücher
Ganz sicher ist es so, Herr Verheugen, daß das, was in dieser Hinsicht schon geschehen ist — insbesondere seitens der USA — , auch einige Fortschritte bewirkt hat. Daran sieht man ja, daß das durchaus ein Instrument ist, das der südafrikanischen Regierung nicht gleichgültig sein kann.
Meine Damen und Herren, unsere Kollegen Hirsch und Baum sind in diesem Jahr zum zweitenmal in Südafrika gewesen. Ihre Berichte über die Menschenrechtslage sind so bedrückend und so erschütternd, daß ich hier nur noch mal unterstreichen kann, was Frau Kollegin Eid und Frau Kollegin Ganseforth — und Herr Verheugen sowieso — gesagt haben.
Die Lage hat sich nicht gebessert. Es sind genau die gleichen Maßnahmen — die gleiche Unterdrückung, die gleiche Ausgrenzung —, wie wir sie immer erlebt haben. Auch wir, die wir in der Politik gegenüber Südafrika immer darauf gesetzt haben, daß die südafrikanische Regierung bereit ist, diesen Prozeß zu beschleunigen, müssen uns — angesichts der Tatsachen und auch angesichts des Prozesses und anderer Verfahren — darüber klarwerden, daß wir auf die Dauer mit diesem Alibi nicht davonkommen.
Darum möchte ich uns zum Schluß alle herzlich bitten — gerade weil wir ja morgen noch eine allgemeine Menschenrechtsdebatte führen werden — , daß wir in dieser Frage wirklich glaubwürdig bleiben und den friedlichen Wandel mit positiven Maßnahmen unterstützen. Wenn sich aber des weiteren daraufhin in der Sache, in der Substanz selbst — in bezug auf die Überwindung und Abschaffung der Apartheid — nichts bewegt, dann hoffe und wünsche ich, daß wir zumindest in dem gleichen Umfang Sanktionen im Rahmen der EG beschließen und durchführen, wie das die Vereinigten Staaten längst getan haben.
Und alle, die immer so sehr darauf aus sind, daß wir alles möglichst in Übereinstimmung mit den Vereinigten Staaten haben, möchte ich hier mal bitten, auch danach zu handeln.
Herzlichen Dank! Meine Redezeit ist abgelaufen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN „Kein Tourismusverkehr mit dem Apartheid-Staat" an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe Zustimmung. Es ist so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/2998. Der Ausschuß empfiehlt, den
Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2313 abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/2999 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2311 abzulehnen. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen. Mit Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/3000 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2312 abzulehnen. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen. Diese Empfehlung ist damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordungspunkt 20 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/2383 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/3656 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Heistermann Frau Olms
Richter
Dr. Kappes
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/3674 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Frau Rust
b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/2212 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/3656 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Kappes Richter
Frau Olms
Heistermann
8500 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Vizepräsident Westphal
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 11/3675 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Frau Rust
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Stunde Aussprache vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ganz.
Ganz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist richtig und notwendig, sich bietende Gelegenheiten dazu zu nutzen, darauf hinzuweisen, daß sich diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in den zurückliegenden Jahren stetig und, wie ich meine, auch erfolgreich bemüht haben, die soziale Lage der Soldaten zu verbessern.
Ich erinnere nur an die Absicherung Längerdienender gegen Arbeitslosigkeit, an die Anhebung der Leistungen nach dem Unterhaltsicherungsgesetz um 30 % , an die Ausweitung der Berufsförderung, der Erhöhung der Stellenzahl für Längerdiener um 15 000 und die damit verbundene Entlastung ihrer Kameraden, an das Personalstrukturgesetz, an die Erhöhung des Wehrsoldes, des Weihnachts- und des Entlassungsgeldes und an die Erhöhungen der Stellenzulagen, um nur einige zu nennen.
Deshalb bin ich froh darüber, daß wir heute auf dem Wege der Gesetzgebung ein weiteres Problem bewältigen, das uns seit Jahren in zunehmendem Maße beschäftigt und dessen Lösung sich der Bundesminister der Verteidigung und der Verteidigungsausschuß zur Aufgabe gestellt haben.
Es geht um das Problem der Dienstzeitbelastung, oder besser gesagt, der Dienstzeitentlastung der Soldaten. Schon bei der Beschreibung des Umfangs des Problems gibt es mittlerweile unterschiedliche Auffassungen und Meinungen.
Während die SPD-Fraktion in ihrem Gesetzentwurf — basierend auf Erhebungen aus dem Jahre 1981 des Ministeriums — noch davon ausgeht, daß 70 % der Soldaten des Heeres im Jahresdurchschnitt mehr als 56 Wochenstunden Dienst leisten, vertritt die militärische Führung im Ministerium und auf Verbandsebene die Auffassung, daß sich das Problem in den letzten Jahren entschärft habe.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß sich ein Streit darüber nicht lohnt; denn festzustellen ist, daß in der Tat auf der einen Seite durch die Weisung des Generalinspekteurs vom 14. März 1986 und durch die Weisungen der Inspekteure der Teilstreitkräfte nicht nur das Problembewußtsein zum Faktor Zeit bei den Vorgesetzten aller Ebenen mehr geschärft wurde, sondern es auch deutliche Entlastungen bei der Dienstzeit und Verbesserungen bei planbarer Freizeit gibt.
Auf der anderen Seite ist aber ebenso unbestritten, daß immer noch viele Soldaten und Einheiten, insbesondere im Heer, weit über das normale Maß hinaus dienstlich in Anspruch genommen werden. In der Hauptsache sind davon Unteroffiziere und Mannschaften betroffen, aber auch Kommandeure auf der Einheitsebene. Auch ein Streit darüber, in welchem Umfang diese Mehrbelastungen durch Anordnung von Sonderdiensten sozusagen hausgemacht sind, lohnt nicht, weil selbst bei deren Wegfall immer noch ein Handlungsbedarf bliebe.
Der Verteidigungsausschuß war sich bereits mit Bundesminister Wörner einig, daß die von der Vorgängerregierung im Jahre 1980 eingeführte Pauschalregelung zur Milderung des Problems durch ein anderes Verfahren abgelöst werden muß, weil sich dieses Verfahren nicht bewährt hat, und zwar deswegen nicht, weil damit keine Rahmendienstzeit, kein Zwang zum Freizeitausgleich vorgegeben war und Ungerechtigkeiten beim finanziellen Ausgleich eingetreten sind.
Allenfalls war die 56-Stunden-Woche als Berechnungsgrundlage für die auf Einheiten bezogene Pauschalabgeltung eine vage Dienstzeitorientierung.
Ebenfalls einig war sich der Verteidigungsausschuß mit dem Verteidigungsminister darüber, daß das neu zu erarbeitende Konzept zur Beseitigung dieser Mängel folgende Ziele verfolgen und im Ergebnis erbringen muß, nämlich: erstens die hohe Dienstzeitbelastung durch Verringerung, Straffung und Zusammenfassung von Aufgaben sowie durch vermehrten Einsatz zusätzlicher Technik und Infrastruktur zu verringern, nur Dienst zu befehlen, der sich aus militärischen Erfordernissen wie Ausbildung und Einsatzbereitschaft ergibt, sowie den Dienst vorausschauend zu planen und zeitlich zu begrenzen; zweitens überhöhte zeitliche Belastungen durch planbare Freistellungen vom Dienst, soweit möglich, auszugleichen; drittens überall dort, wo beides nicht möglich ist, die besonders hohen Belastungen künftig nicht mehr durch eine Pauschalvergütung, sondern individuell leistungsbezogen und damit gerechter als bisher finanziell anzuerkennen.
Nicht einig waren wir uns dabei über den einzuschlagenden Weg. Der Bundesverteidigungsminister hat, nachdem, wie bereits dargestellt, der Generalinspekteur und die Inspekteure der Teilstreitkräfte durch Weisungen an die Truppe eine größere Ausschöpfung der Möglichkeiten der Dienstzeitentlastung und des Freizeitausgleichs angeordnet haben, als Regierungsentwurf das sogenannte Streitkräftemodell vorgelegt. Die SPD-Fraktion legte dazu einen eigenen Gesetzentwurf vor. Die Koalitionsfraktionen im Verteidigungsausschuß waren sich schon im Vor-
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Ganz
feld der Beratungen darüber einig, daß beide Entwürfe unseren Intentionen nicht entsprechen. Den SPD-Entwurf lehnen wir aus grundsätzlichen Erwägungen ab; Gründe dafür habe ich in meinem Beitrag zur ersten Lesung von dieser Stelle aus schon aufgezeigt.
Ich nenne die wichtigsten noch einmal, lieber Kollege Kolbow. Eine gesetzliche Dienstzeit, verbunden mit einer Mehrarbeitsvergütung, wie im Beamtenrecht, hätte zur Folge, daß jede soldatische Tätigkeit danach hinterfragt würde, ob und in welchem Umfange sie als Dienst im Sinne des Dienstrechts zu bewerten ist. Ebenfalls zur Debatte stünden die auf dem Soldatenberuf beruhenden Abweichungen vom allgemeinen Beamtenrecht, wie Lebensarbeitszeit der Soldaten, Freistellung der Soldaten im Rahmen der Berufsförderung, Soldatenurlaubsverordnung usw.; ich brauche das nicht zu wiederholen.
Kurz: nach unserer Überzeugung vertragen sich Dienst nach Stechuhr, Dienst nach Kassenlage nicht mit dem Auftrag, der der Bundeswehr vom Grundgesetz gestellt ist.
Den Regierungsentwurf haben wir als Basis für die Fortentwicklung des Dienstzeitrechts begrüßt, aber auch als änderungsbedürftig erkannt, weil die darin vorgesehenen Bestimmungen zwar die Fehler des bisher geltenden Rechts nicht wiederholt, dessen Schwächen aber auch nicht ganz beseitigt haben, die darin liegen, daß auch im Regierungsentwurf keine Rahmendienstzeit vorgegeben ist, kein Zwang zum Freizeitausgleich vorgesehen war und Ungerechtigkeiten beim finanziellen Ausgleich nicht auszuschließen waren.
Ich hätte mir allerdings — das gestehe ich ehrlich — nicht träumen lassen, daß die, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen, vorzunehmenden Änderungen so viel Aufwand und Zeit erfordern würden. Details zu regeln, eindeutige Formulierungen zu finden, gesetzestechnische Verfahrensfragen zu lösen war ein äußerst schwieriger Prozeß.
An dieser Stelle möchte ich meinen Kollegen, insbesondere Willy Wimmer, Bernd Wilz, Herrn Ronneburger und Günther Nolting herzlich Dank sagen für ihre engagierte Unterstützung und Mitberatung. Dank sagen möchte ich aber auch Herrn Bundesverteidigungsminister Scholz für seinen ganz persönlichen Einsatz in dieser Sache und für sein kooperatives und kollegiales Mitwirken.
Dies gilt auch für Frau Staatssekretärin Hürland-Büning
und für die Offiziere der Abteilung FüS I.
Die von uns gemeinsam erarbeiteten Änderungen des Regierungsentwurfs müssen allerdings im Zusammenhang mit anderen Vorschriften gesehen werden. Die vorgenommenen Änderungen des § 50 a des Bundesbesoldungsgesetzes bzw. die Änderung des Wehrpflichtgesetzes, für sich allein betrachtet, lassen nur insoweit eine Verbesserung erkennen, als hier erstmals von einer täglichen bzw. wöchentlichen Rahmendienstzeit im Gesetz die Rede ist und als Grundlage für die individuell zu vergütende Mehrarbeit Dienstzeiten in Stunden angegeben sind.
Aber Herzstück der Neuregelung wird die auf dieser Basis ebenfalls zu ändernde Zentrale Dienstvorschrift 10/5 sein, die — darauf haben wir besonderen Wert gelegt — im Entwurf vorliegt. In ihr werden in Kasernen und Standorten als tägliche Rahmendienstzeit von Montag bis Donnerstag 10 Stunden und freitags 6 Stunden festgelegt. Das entspricht einer wöchentlichen Rahmendienstzeit von 46 Stunden, einschließlich der Pausen. Sie beinhaltet weiter einen Zwang zum Freizeitausgleich dann, wenn bis zu zwei Stunden mehr Dienst erbracht wird. Darüber hinausgehende Dienstzeiten sollen vorrangig in zusammenhängender und damit planbarer Freizeit ausgeglichen werden.
Abgerundet wird unser Lösungsvorschlag durch die ebenfalls bereits erstellte Vergütungsverordnung, die eine leistungsbezogene und damit gerechtere finanzielle Abgeltung für nicht durch Freizeit ausgleichbaren Wehrdienst vorsieht. Danach haben Berufs- und Zeitsoldaten einen Anspruch von 15 DM für die 12. bis 16. Stunde und von 30 DM für die 16. bis 24. Stunde. Bei den Wehrpflichtigen, weil nicht zu versteuern, sind die Sätze 6 DM bzw. 11 DM.
Dieses Verfahren, Details nicht durch Gesetz, sondern über Verordnungen zu regeln, haben wir bewußt gewählt, weil es flexibler ist. Weitere eventuell mögliche Dienstzeitreduzierungen bzw. Steigerungen der Vergütungssätze bedürfen nicht der Gesetzesänderung; sie können auf dem Verordnungswege den jeweiligen Veränderungen angepaßt werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, derjenige, der sich ernsthaft und im Detail mit dem Problem befaßt hat, kann mit mir feststellen, daß wir mit dieser Lösung einen bedeutenden Schritt hin zur sachlichen und rechtlichen Fortentwicklung des Dienstzeitrechts der Soldaten getan haben.
Die gleichgewichtigen Schritte unseres Konzepts — Rahmendienstzeit, Freizeitausgleich, Vergütung — sichern dem Disziplinarvorgesetzten einen Handlungsspielraum, den die Truppe zur Erfüllung ihres Auftrages braucht und der mit sinngebender Dienstgestaltung durch sachgerechte und motivierende Menschenführung ausgefüllt werden kann.
Der Innenausschuß hat unserem Vorschlag mit Mehrheit zugestimmt. Auch dafür danke ich.
Ich bitte das Hohe Haus, dem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung zuzustimmen.
Ich bedanke mich.
8502 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heistermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Ganz, der Auftrag des Verteidigungsausschusses, hier eine vernünftige Regelung herbeizuführen, datiert von 1982. Die Kollegen der FDP darf ich daran erinnern, daß das noch zur Zeit der sozialliberalen Koalition war.
Also, Sie haben schon lange gebrütet, um hier heute mit einem — dazu werde ich gleich noch einige Ausführungen machen — wirklich unzulänglichen Entwurf vor dieses Parlament treten.
Ich darf sagen, wenn man das qualifizieren müßte, was von Tagesordnungen abgesetzt worden ist, was immer wieder mit Beratungsbedarf begründet wurde,
würde ich, wenn ich an einem Theater wäre, als Trauerspiel definieren.
— Nein, nein. Das Aus-der-Hüfte-Schießen überlassen wir euch, da seid ihr flinker als wir.
— Kollege Biehle, so viele Abschüsse, wie Sie in den letzten Tagen personell zu verzeichnen hatten, haben wir bei den Sozialdemokraten nicht zu verzeichnen.
— Herr Kollege Biehle, ich möchte weiterreden.
Ich hoffe nicht, daß der Minister, der sich zur Zeit auf einem U-Boot befindet, wegen des Themas abgetaucht ist, das heute hier zur Beratung ansteht. Die bisherige Begründung für die hohe Präsenzstärke der Truppe und die damit verbundene hohe Dienstzeitbelastung wird nach Gorbatschows Initiativen zum Truppenabbau und -abzug von sechs Panzerdivisionen aus der DDR, der Tschechoslowakei und aus Ungarn schwer zu halten sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?
Dem Kollegen Biehle gestatte ich immer eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Heistermann, ich meine es nicht kritisch, ich will es nur für das Protokoll festhalten, weil sonst der Eindruck entsteht, die Hardthöhe würde kneifen. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, daß wegen der Abwesenheit des Ministers die Staatssekretäre anläßlich des Unfalles in Remscheid unterwegs sind und verständlicherweise nicht hier sein können?
Herr Kollege Biehle, das akzeptieren wir auch. Ich habe meine Bemerkung nur auf den Minister bezogen;
das möchte ich hier ausdrücklich bestätigen.
Die Koalition sollte mit uns die Chance nutzen, ein vertrauensbildendes Signal durch eine deutliche Dienstzeitreduzierung für die Soldaten zu setzen. Das wäre ein Beitrag, der der Entspannung zwischen West und Ost dienen und der unseren Soldaten und ihren Familien zugute kommen würde. Wie die Bundesregierung und die sie tragende Koalition mit dem Faktor Zeit der Wehrpflichtigen, der Zeit- und Berufssoldaten umgehen, zeigt ihr Gesetzentwurf einer Dienstzeitregelung für Soldaten.
Meine Damen und Herren von der Koalition, was diese Bundesregierung bei der Einberufung der Wehrpflichtigen vorhatte, ist schlicht ein Skandal.
Sie wollte auch dem Wehrpflichtigen zumuten, daß seine Lebensplanung wesentlich vom Bundesminister der Verteidigung mitbestimmt wird.
Studium, Berufsausbildung und Wehrdienst haben sich danach einem Verfahren unterzuordnen, das zum Widerspruch und zur Verweigerung geradezu herausfordert. Zeit kostet nichts: Das war das bisherige Prinzip in der Bundeswehr. Also verfügte man über sie.
— Das ist das Thema: Zeit.
Ohne ausreichende Begründung werden Soldaten Rechte vorenthalten, die Arbeitern, Angestellten und Beamten seit langem gewährt werden.
Herr Abgeordneter Heistermann, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Wenn Sie mir das nicht anrechnen, Herr Präsident.
Ich habe immer gestoppt. Heistermann : Gut.
Bitte schön, Herr Ronneburger.
Herr Kollege Heistermann, wenn Sie von einer von Ihnen gewünschten Reduzierung der Dienstzeitbelastung sprechen, geben Sie mir
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Ronneburger
dann nicht zu, daß eine Reduzierung von dem bisherigen 56-Stunden-Modell in seiner Absolutheit und Pauschalierung auf eine wöchentliche Rahmendienstzeit von 46 Stunden einschließlich Pausen nicht tatsächlich eine wesentliche Reduzierung darstellt?
Kollege Ronneburger,
ich werde Ihnen gleich darauf antworten, zu welchen Bedingungen Sie einem Soldaten diese Regelung zumuten wollen. Diese Antwort werden Sie gleich bekommen.
— Das ist die richtige Antwort, Kollege Wimmer.
Wir fragen, warum Sie vor der Einführung von mehr Beteiligungsrechten und Mitbestimmung bei den Soldaten und vor einer gesetzlich geregelten Arbeitszeit Angst haben. Glauben Sie wirklich, daß die große Mehrzahl der Soldaten Ihren halbherzigen Kompromiß mitträgt? Sie täuschen sich. Denn bei jeder Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst werden Sie den Soldaten sagen müssen, was bei ihren Dienstzeiten abgebaut wird.
Was die Arbeit der Soldaten der Bundesregierung wert ist, zeigt die Höhe der Mehrarbeitsvergütung in Ihrem Entwurf. Für einen Hungerlohn von 3,75 DM pro Stunde
muten Sie ihnen zu, von der 13. bis zur 24. Stunde Arbeit zu leisten, wenn eine Freizeitgewährung nicht möglich ist. Auch ist keine besondere Entschädigung für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit vorgesehen. Wiederum wird ein schwammiger Dienstbegriff verwendet. Die Auslegung dieses Begriffs wird dem Bundesminister des Innern anheimgestellt. Künftig bestimmt der Innenminister, was Dienst bei der Bundeswehr ist. Ein beachtlicher Vorgang!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich gestatte. Aber einen Satz möchte ich bitte noch sagen.
Es ist wahrlich erschreckend, wie weit Sie sich von der Auffassung bei den Soldaten entfernt haben. Das ist der eigentliche Vorwurf, den wir Ihnen nicht ersparen können.
Herr Abgeordneter, bitte sehr.
Ganz (CDU/CSU): Herr Kollege Heistermann, ich bitte um Nachsicht, daß ich dazwischenfrage. Sie monieren die geringen Sätze für die Mehrarbeitsvergütung. Darf ich fragen, wie die Bemerkung in Ihrem Gesetzentwurf zu verstehen ist, die da lautet:
Die im Bundeshaushalt 1988, Einzelpan 14, eingestellten 195 Mio. DM für die Vergütung von Spitzendienstzeiten sind zur Deckung des Finanzbedarfs ... umzuschichten und ggf. der Grenzziehung für den finanziellen Ausgleich von zeitlicher Mehrarbeit zugrunde zu legen.
Sie wollten doch selbst nicht darüber hinausgehen. Wieso beklagen Sie sich jetzt, wenn wir die 195 Millionen DM voll ausschöpfen?
Kollege Ganz, ich gebe Ihnen darauf gleich eine Antwort. Ich darf nur daran erinnern, daß wir bei den Haushaltsberatungen dieses Jahres eine Erhöhung um weitere 15 Millionen DM beantragt haben,
um damit den Auftrag zu erfüllen, eine gesetzliche Dienstzeit voll finanzieren zu können, und zwar auf der Grundlage einer Vorlage Ihres Innenministers. Wenn Sie Ihrem eigenen Innenminister nicht trauen, dann ist das nicht unser Problem, dann ist das Ihr Problem.
Mit der Einführung einer gesetzlichen Dienstzeit für Soldaten wäre endlich Schluß mit dem Tatbestand, daß die Soldaten in unserem Land von einem zentralen Bestandteil des sozialen Rechtsstaats ausgeschlossen sind. Die Besonderheiten des Dienstes der Soldaten und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr stehen einer gesetzlichen Dienstzeitregelung nicht entgegen. Schon gar nicht gibt es stichhaltige Gründe, die es rechtfertigen könnten, den Soldaten in Friedenszeiten den Schutz einer gesetzlichen Dienstzeitregelung vorzuenthalten. Soldaten wollen gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft sein. Dem tragen wir mit unserem Gesetzentwurf Rechnung.
Wir wissen: Soldaten wollen keine Almosen und keine Gnadenerlasse. Soldaten wollen von Flensburg bis Passau gleichbehandelt werden. Diesem Ziel werden Sie mit Ihren Gesetzentwurf nicht gerecht.
Die Soldaten in der Bundeswehr werden eines mit Bitterkeit registrieren: Sie bewilligen Milliarden für den Jäger 90. Aber 15 Millionen DM für eine vernünftige Dienstzeitregelung für Soldaten haben Sie nicht übriggehabt.
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Heistermann
Es wird Ihnen schwerfallen, bei den Soldaten und ihren Familien dafür Verständnis zu finden.
Bei allem Verständnis für Ihre Argumentation, durch Ihre Kontrolle sei der Entwurf der Bundesregierung verbessert worden,
sollten Sie zugeben, daß ohne den Einsatz der vielen Soldaten, ohne die Haltung des Bundeswehrverbandes und ohne den Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion Ihr Gesetzentwurf nicht zustande gekommen wäre.
Mit Ihren Änderungen erfüllen Sie eigentlich nur Mindestanforderungen.
Wir bleiben deshalb bei Anerkennung der erreichten Verbesserung bei dem Urteil: Ihre Dienstzeitregelung ist weniger, als sachlich möglich gewesen wäre.
Im übrigen: Das Hin und Her zwischen der militärischen Führung einerseits und den politisch Verantwortlichen andererseits war kein Beispiel für Führungsstärke.
Zusammenfassend stelle ich für meine Fraktion jedenfalls fest:
Erstens. Ihr Gesetzentwurf für eine Dienstzeitregelung ist unzureichend.
Er behandelt die Soldaten anders als alle anderen Gruppen im öffentlichen Dienst.
Das haben Sie zu verantworten. Und da werden wir auch im weiteren Verfahren die Meßlatte bei Ihnen anlegen.
Zweitens. Sie erwarten von den Soldaten für einen Hungerlohn von 3,75 DM pro Stunde Mehrarbeit. Für diese Zumutung können Sie von uns keine Zustimmung erwarten.
Drittens. Sie tragen mit Ihrer Dienstzeitregelung dazu bei, daß die Motivation bei den Soldaten weiter abgebaut wird.
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt deshalb Ihren Gesetzentwurf ab. Sie bleibt bei ihrer grundsätzlichen Auffassung, daß nur durch eine gesetzliche Dienstzeitregelung Verbesserungen für die Soldaten zu erreichen sind. Deshalb bitten wir um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf auf Drucksache 11/2212.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Beratungsgegenstand sagen, daß wir es ausdrücklich begrüßen, daß es zwischen der ersten Lesung des Entwurfs und der jetzigen Beratung mit der anschließenden Beschlußfassung zu inhaltlichen Veränderungen und zu absoluten Verbesserungen durch die Ausschüsse des Bundestages gekommen ist.
Ich bedanke mich hier bei allen, die daran beteiligt waren, vor allem bei meinen Kollegen Ronneburger, Dr. Heuer, Richter und natürlich auch den Kollegen von CDU und CSU.
Meine Damen und Herren, die alte, ungerechte pauschale Abgeltung soldatischer Mehrdienste ist tot — das ist gut so —, es lebe die neue Individualregelung im Interesse unserer Bundeswehrsoldaten.
Wenn ich diesen Ausruf gleich an den Beginn meiner Ausführungen stelle, so deshalb, weil uns allen ein Stein vom Herzen gefallen ist;
denn wir lösen heute das Problem Nummer eins der Truppe, Herr Heistermann. Hier bestand für uns Handlungsbedarf. Wir haben als Gesetzgeber die Herausforderung angenommen
und uns verantwortungsvoll den Fragen gerechterer Ausgleichsmöglichkeiten gestellt. Hier hat sich — das betone ich ausdrücklich — das Parlament durchgesetzt.
Meine Damen und Herren, in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs, der noch das sogenannte Streitkräftemodell zum Dienstausgleich beinhaltete, hat mein Kollege Manfred Richter zu Recht darauf hingewiesen, daß der vom Ministerium erarbeitete Entwurf den Belangen der Soldaten nicht genügend Rechnung getragen habe.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?
Ja, bitte schön, wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird.
Kollege Nolting, wie würden Sie denn das Abstimmungsverhalten Ihrer Minister im Kabinett beurteilen, die einem anderen Entwurf zugestimmt haben? Sind Sie der Auffassung, daß Ihre Minister nicht im Besitz der vollen Kenntnis waren, worüber sie abgestimmt haben?
Herr Heistermann, ich habe vorhin gesagt: Hier hat sich das Parlament durchgesetzt. Ich
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Nolting
meine, es ist das vornehmste Recht eines Parlaments, Gesetzentwürfe zu ändern und entsprechende Änderungsanträge zu stellen.
Wir reden nicht über Parlamentsreform. Wir praktizieren sie.
Das vom Innen- und vom Verteidigungsausschuß nunmehr vorgelegte individuelle Modell von FDP, CDU und CSU wird eine Änderung im militärischen Denken bewirken:
Erstens. Mit diesem Modell muß mit der knappen Ressource Zeit der Bundeswehrsoldaten endlich wirtschaftlich umgegangen werden.
Zweitens. Es wird vor allem die pädagogische Wirkung erzielt, die Dienste und damit die Dienstzeiten insgesamt zu reduzieren.
Damit ist gesichert, daß unsere Soldaten im Hinblick auf Arbeitszeitverkürzungen nicht weiter vom sozialen Standard der zivilen Arbeitnehmer abgekoppelt werden, was Sie, Herr Heistermann, vorhin wieder behauptet haben. Mit dieser Maßnahme werden wir auch die Attraktivität des „Arbeitsplatzes Bundeswehr", um nicht zu sagen: des „Dienstleistungsbereichs Bundeswehr" verbessern.
Für die FDP ist die allgemeine Senkung der Dienstzeit der Soldaten weiterhin erstes Ziel. Erst danach soll ein Dienstzeitausgleich durch planbare — ich betone: planbare — Freizeit erfolgen. Als letzte Möglichkeit sehen wir die finanzielle Vergütung.
Stichpunktartig möchte ich mögliche Dienstentlastungen für die Truppe vorschlagen; ich gehe davon aus, daß sie vom BMVg aufgegriffen werden:
Erstens. Verringerung von Aufgaben, die nicht zwingend auftragsbedingt sind. Hier sollten allerdings auch Vorschläge der aktiven Soldaten Berücksichtigung finden.
Zweitens. Technische und elektronische Mittel müssen so weit wie möglich Soldaten beim Wachdienst ersetzen. Die FDP wird diesen Punkt offensiv vertreten.
Drittens. Es muß geprüft werden, ob ziviles Wachpersonal kurzfristig verstärkt in militärischen Einrichtungen eingesetzt werden kann.
Viertens. Sonderaktionen der Truppe müssen auf ein Minimum beschränkt werden.
Fünftens. Schließlich müssen auch Länge von Übungen, des Technischen Dienstes und der Ausbildung kritisch geprüft werden. Das ist einer der wichtigsten Punkte.
Die FDP hat nach langen und — ich sage es an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal — teilweise auch schwierigen und unerfreulichen Verhandlungen folgende Forderungen durchgesetzt:
Erstens. Die Dienstzeit der Soldaten wird weiter verkürzt. Wir erwarten allerdings, daß beim Abbau von hoher Dienstzeitbelastung das Bundesverteidigungsministerium konkrete Weisungen an die Truppenvorgesetzten gibt, was an Stunden durch Streichung, Verringerung, Zusammenlegen oder ähnliches vermindert werden kann. Vorgesetzte aller Art in den unteren Verantwortungsbereichen haben hierzu oft nicht die innere Freiheit.
Zweitens. Der Dienstzeitausgleich wird bei noch verbleibendem Mehrdienst durch planbare Freizeit vorrangig erreicht.
Drittens. Mehrbelastungen, die nicht durch Freizeit ausgeglichen werden können, werden durch individuelle finanzielle Vergütung abgegolten.
Viertens. Die einzelnen Maßnahmen dieses neuen Dienstzeitmodells werden für den einzelnen Soldaten einklagbar. Sie werden in der Zentralen Dienstvorschrift festgeschrieben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?
Dem Kollegen Heistermann immer, Herr Präsident, vorausgesetzt, das wird nicht auf meine Zeit angerechnet.
Der Präsident ist gnädig, Herr Kollege Nolting. — Kollege Nolting, da Sie mit dem Kollegen Hoyer eine Presseerklärung abgegeben haben, die Entschädigungssätze seien in einem Koalitionsgespräch auf 20 bzw. 50 DM festgelegt worden, aber der heute vorliegende Gesetzentwurf nur von 15 und 30 DM redet, können Sie dem Haus erklären: Ist die FDP da eingeknickt; oder welche Gründe gibt es dafür, daß neue Sätze vereinbart wurden?
Herr Kollege Heistermann, erstens knickt die FDP-Fraktion nicht ein; wir stehen immer aufrecht.
Auf den zweiten Teil Ihrer Frage werde ich gleich noch eingehen, wenn ich zu den einzelnen Stundensätzen selbst etwas sagen werde.
Im einzelnen, meine Damen und Herren, sieht das Modell zur Regelung der Dienstzeit der Soldaten vor — ich will es wiederholen, weil uns der Vorwurf gemacht wurde, man habe es von seiten der Opposition nicht richtig verstanden; deshalb spreche ich jetzt auch etwas langsamer — :
Erstens. Die Rahmendienstzeit beträgt wöchentlich bis zu 46 Stunden einschließlich der Pausen. Jeder kann nachrechnen, wenn er denn rechnen kann, was das für den Soldaten bedeutet.
Zweitens. Die tägliche Rahmendienstzeit einschließlich Pausen beträgt montags bis donnerstags bis zu 10 Stunden und freitags bis zu 6 Stunden.
Drittens. Bis zu 2 Stunden über die tägliche Rahmendienstzeit — das ist eben die 11. und 12. Stunde — geleisteter Dienst an einem Tag, Herr Horn, muß zwingend in Freizeit ausgeglichen werden. Dieses „muß zwingend in Freizeit ausgeglichen werden" ist für die Bundeswehr revolutionär.
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Nolting
Viertens. Bei darüber hinaus geleistetem Mehrdienst findet eine Abstufung statt. Sollte ein Ausgleich hier mit Freizeit nicht möglich sein, erfolgt eine finanzielle Vergütung nach folgender Maßgabe — Herr Heistermann, jetzt komme ich zu Ihrer Frage —: für den Bereich der Zeit- und Berufssoldaten in der ersten Stufe 15 DM, in der zweiten Stufe 30 DM; für Wehrpflichtige in der ersten Stufe 6 DM und in der zweiten Stufe 11 DM.
Diese Erbsenzählerei, die Sie dauernd vornehmen, kann ja wohl nicht richtig sein, wenn Sie immer nur die maximale Stundenzahl nehmen.
Ich glaube, Sie müssen auch einmal überlegen und sich das Modell einmal genau ansehen, was es bedeutet. Wenn ein Soldat nur 13 Stunden leistet, dann bekommt er auch diese 15 DM. Ich erwarte, daß Sie dann auch zugeben, daß er einen Stundensatz von 15 DM bekommt.
Eines sage ich an dieser Stelle gleich dazu, in Richtung Opposition und auch in Richtung Koalition, daß wir als FDP nämlich gerne höhere Sätze gesehen hätten, Herr Heistermann, um auf Ihre Frage noch einmal einzugehen; wir sind aber angehalten, den von uns selbst gesetzten Finanzrahmen einzuhalten.
Sie selbst nehmen ja in Ihrem Gesetzentwurf auch auf diesen Finanzrahmen Bezug. Sie sollten sich an Ihrem eigenen Gesetzentwurf ausrichten. Außerdem heißt es in Ihrem Gesetzentwurf „so können an ihrer Stelle Soldaten in Besoldungsgruppen mit aufsteigenden Gehältern eine Vergütung erhalten". Wir sagen nicht, sie können Geld erhalten, sondern bei uns erhalten die Soldaten das Geld, das ihnen zusteht.
Bei uns besteht damit auch Rechtssicherheit.
Damit komme ich zum fünften Punkt: An Sonn- und Feiertagen wird stundenweise eins zu eins ausgeglichen.
Wir werden nach gut einem Jahr oder eineinhalb Jahren vom Verteidigungsministerium uns einen Bericht geben lassen, damit eventuelle Nachbesserungen kurzfristig vorgenommen werden können.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle noch einmal, daß die FDP in Zukunft darauf drängen wird, daß sich die soziale Lage der Bundeswehrsoldaten weiter verbessert. Stichpunktartig heißt das: Verbesserung des Umzugskostengesetzes , Novellierung des Unterhaltssicherungsgesetzes , Anpassung des Bundespersonalvertretungsgesetzes für die Bundeswehr und den Vertrauensmann als Vermittler, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Lassen Sie mich abschließend sagen, daß wir heute mit diesem Dienstzeitmodell den entscheidenden Schritt für unsere Soldaten tun. Die FDP-Fraktion ist davon überzeugt, daß sich die neue Dienstzeitregelung vom 1. April 1989 an in der Truppe zugunsten unserer Soldaten bewähren wird.
Unser Modell ist gerecht, individuell zu handhaben und praktikabel.
Jetzt meine Bitte an die Opposition. Wir sind kurz vor Weihnachten.
Tun Sie unseren Soldaten etwas Gutes und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Olms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Soldat wäre, würde ich mir zu Weihnachten etwas anderes wünschen als diesen Gesetzentwurf.
Ich will jetzt aber auf den vorliegenden Gesetzentwurf eingehen.
— Das kann ich mir denken.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften ist der Versuch, die Vergütung von Überstunden der Soldaten und Wehrpflichtigen zu regeln. Dabei wird wieder einmal nur an Symptomen herumkuriert, anstatt an die Ursachen heranzugehen.
Wozu machen Soldaten und vor allem Wehrpflichtige überhaupt noch Überstunden? Wozu der ganze militärische Drill, wozu die Nacht- und Orientierungsmärsche, der probeweise sogenannte NATO-Alarm, wo die Soldaten nach Mitternacht aus ihren Betten gescheucht und zu sinnlosen Märschen gezwungen werden?
Das alles dient, meine Kolleginnen und Kollegen, nicht dem Frieden, sondern die Überstundenschinderei gehört mit zum militärischen Drill, zur Durchsetzung des Prinzips von Befehl und Gehorsam. Rückgrate sollen gebrochen werden, Wehrpflichtige sollen seelisch gefügig und kaputtgemacht werden. All das wird von den gedemütigten Soldaten nach dem sinnlosen Dienst mit Alkohol und Drogen kompensiert. All das ist der Zweck von Überstunden von wehrpflichtigen untergebenen Soldaten. In ihrer Dienstzeit müssen sie dem Staat vollständig zur Verfügung stehen, abgesondert in Kasernen.
Meine Damen und Herren, warum wollen Sie eigentlich die Notwendigkeit von Überstunden noch
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Frau Olms
verkaufen? Was soll es, wenn Wehrpflichtige gedemütigt werden und nach zehn Stunden Dienst noch zwei Stunden robben oder eine Stunde mit ABC-Schutzmaske herumlaufen müssen? Dient das dem Frieden?
Ihre Abschreckungsphilosophie wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr zur Kenntnis genommen. Immer mehr Menschen sind der völlig richtigen Ansicht, daß der böse Feind nicht aus dem Osten kommt. Während die Kompaniechefs jeden Tag im sogenannten wehrkundlichen Unterricht die Stories von der Bedrohung herunterbeten müssen, die man sowieso nicht glaubt,
erklärt der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow, daß er einen Teil der riesigen angehäuften konventionellen Streitkräfte abbauen und Waffensysteme einstampfen will.
Wie wollen Sie vor dem Hintergrund der jüngsten Abrüstungsvorschläge noch Überstunden für Soldaten begründen? Ihre Gesetzesänderung verkommt zur bloßen Kosmetik. Die Vergütungsregelungen, die Sie hier für sinnlose Überstunden vorschlagen, sind winzige Entschädigungen, für die niemand, aber auch niemand in der sogenannten freien Wirtschaft auch nur einen Finger krummachen würde.
Auch weiterhin halten Sie daran fest, daß die Wehrpflichtigen als billige und willfährige Arbeitskräfte brutal ausgenutzt werden und daß diese Menschen auch weiterhin von der übrigen gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden. Es wäre doch immer die beste Lösung, wenn die Soldaten überhaupt keinen Dienst mehr tun müßten.
Da dem leider noch nicht so ist, fordern wir zunächst eine Dienstzeitregelung für Soldaten, die zumindest den gesellschaftlichen Entwicklungen entspricht. Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, müssen Soldaten auch angemessen für geleistete Überstunden vergütet werden.
Für Wehrpflichtige sollte es überhaupt keine unsinnige Überstundenschinderei mehr geben. Nicht Vergütung, sondern ein vermehrter und angemessener Freizeitausgleich für Soldaten und Wehrpflichtige ist einzuführen und zu verbessern. Wenn aber mehr Freizeit unbedingt vonnöten ist, dann ist auch eine Verbesserung des Freizeitangebots vonnöten.
Ich komme zum Schluß. Erst wenn Dienstzeitregelungen den Arbeitszeitregelungen der Gesellschaft angeglichen sind, wenn der Freizeitausgleich voll ausgeschöpft ist, sind Überstunden im Zweifelsfall nach den Regelungen im öffentlichen Dienst zu entschädigen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft, von der besonders viele kluge Kerlchen sagen, sie sei bereits eine Freizeitgesellschaft, ist auf dem Weg zur 35-
Stunden-Woche. Da wäre es eigentlich naheliegend, wenn dieses Parlament dafür sorgen würde, daß der allgemeine Trend zur Arbeitszeitverkürzung auch vor den Streitkräften nicht haltmacht. Eine Entscheidungshilfe haben wir Ihnen mit unserem Gesetzentwurf zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften — Drucksache 11/2212 — gegeben. Sie bemerken: Das ist der berühmte Streit von der Henne und dem Ei. Hier war die Henne früher da. Später haben Sie Ihr Ei gelegt.
Mein Kollege hat den Gesetzentwurf bereits erläutert. Ich mache das noch etwas drastischer. Ich frage Sie ganz ernsthaft: In welch körperlicher und psychischer Verfassung ist ein Heer, in dem über 70 % der Soldaten mehr als 56 Stunden in der Woche Dienst tun,
in dem nur 8 % der Soldaten eine 40- bis 45-StundenWoche haben, die übrigen 92 % auf mehr als 45 Stunden kommen und jeder fünfte Dienstleistende auf 60 Wochenstunden kommt?
— Wenn es ein bißchen weniger ist, dann ist es auch noch eine ganz erhebliche Belastung.
Das alles sind nur Durchschnittswerte. Sie selbst gehen in Ihrem nachgeschobenen Gesetzentwurf, den Sie heute hier beschließen wollen, von Dienstzeiten aus — ich zitiere — , die 12 bis 16 und mehr als 16 bis 24 Stunden betragen. Das haben Sie geschrieben.
Es müßte Ihnen eigentlich der naheliegende Gedanke kommen, daß dies der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nicht eben förderlich ist und daß es deshalb sinnvoll wäre, die Heeresführung per Gesetz zu zwingen, das anders zu organisieren.
Das genau haben wir vor. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir erreichen, daß in Friedenszeiten die gesetzliche Regeldienstzeit 40 Wochenstunden beträgt. Kaum einen Gedanken verschwenden Sie an diese Idee. Was will ich damit sagen?
— Ich würde Ihnen gerne einmal etwas sagen, falls ich Ihr Ohr und Ihren Kopf erreichen kann.
Ein ordentliches Management — so möchte ich Ihnen mitteilen — trauen Sie Ihrem Verteidigungsminister, den Generälen und Admirälen unserer Bundeswehr nicht zu. Ausgepumpte, übermüdete Arbeitnehmer würde man in unserer modernen Industriegesellschaft als zuverlässiges Indiz für eine miserable Personalpolitik werten. Man würde befürchten, daß dies die Effizienz der Produktion und die Qualität der Fer-
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Lutz
tigung erheblich beeinträchtigt. Man würde den Personalchef feuern, dem nichts anderes einfiele, als mit dem Fahren von Überstunden das Produktionsziel zu erreichen. Warum? Es würde sich nicht rechnen.
Sie rechnen anders, unterstellen ganz offensichtlich ein nicht effizientes Personalmanagement der Truppe und suchen dann ihr Heil in jener finanziellen Regelung der 12- bis 16-, 16- bis 24-Stunden-Dienstzeit am Stück, wie Sie es mit Ihrem heutigen Gesetzentwurf formulieren. Wenn ich bös formulieren wollte — aber das ist ja nicht meine Art —, müßte ich sagen: Wenn Sie so etwas beschließen, disqualifizieren Sie sich für den Einsatz in der industriellen modernen Großproduktion.
Für die Produktion von Sicherheit scheint es aber noch zu reichen.
Wenn das so wäre, kann es mit der äußeren Bedrohung nicht weit her sein.
Herr Ronneburger, Sie wollten etwas fragen?
Herr Ronneburger, bitte sehr.
Herr Kollege, stimmen Sie nicht mit mir darin überein, daß die Bundeswehr auch in Zukunft z. B. Nachtübungen nicht wird ausschließen können, daß bei der Marine Borddienstzeiten entstehen werden, die Dienstzeiten in der Größenordnung erforderlich machen werden, wie wir sie im Gesetzentwurf beschrieben, aber gleichzeitig als Ausnahmesituation, als entschädigungsbedürftig dargestellt haben?
Herr Ronneburger, Sie müssen mein Manuskript gelesen haben. Da geht es nämlich wie folgt weiter: Ich komme aus dem graphischen Gewerbe und aus dem Pressewesen mit außergewöhnlichen Dienstzeiten und Belastungen. Beispielsweise heute ist wieder so ein Tag. In diesem Beritt ist das sehr viel besser organisiert. Da Sie jeden Morgen Ihre Zeitung bekommen, sehen Sie ja selbst, daß es auch funktioniert. Ich behaupte: Unser Gesetzentwurf rechnet sich nicht nur, er würde die Bundeswehr zu einer intelligenten Personalwirtschaft und zu einem humanen Abfahren der Spitzenbelastung zwingen.
Das war die Antwort, Herr Ronneburger.
Aber dazu haben Sie ja nicht den Mut.
— Ja, das hatte ich gesagt. Ich schließe ja nicht aus, daß man intelligente Personalwirtschaft in der Bundeswehr fördern könnte.
Wir lehnen ein Leistungsgesetz ab, nicht etwa, weil wir den Soldaten eine kärgliche Verbesserung ihres Solds bei überlangen Dienstzeiten nicht gönnen würden, sondern weil wir ein Stückchen mehr Normalität bei der Produktion von Sicherheit erreichen möchten.
Bis jetzt habe ich nur von der Effizienz gesprochen, in der Hoffnung, daß Sie wenigstens dieses Argument würdigen. Jetzt wird es Zeit, von dem Menschen zu reden und davon, wie es wohl um die Motivation der Menschen bestellt ist, von denen wir überlange Dienstzeiten mit Ihrem Gesetz verewigen würden. Genau das tun Sie aber heute.
Deshalb noch einmal im Klartext zum Mitdenken: Was nützt Ihnen der übermüdete, demotivierte Soldat, der eine bescheidene Entschädigung für die Folgen von schlechtem Personalmanagement in der Bundeswehr bekommt? Treiben Sie — dazu möchte ich Sie ermuntern — die Truppe zu kreativen Lösungen an! Wenn Sie das wirklich wollen, müssen Sie die Regeldienstzeit auf 40 Stunden begrenzen, wie wir es vorschlagen.
Damit das funktioniert, haben wir natürlich auch einen Ausgleich vorgesehen.
— Der Präsident ist auch ein Franke. Ich werde schon wieder unterbrochen; aber Sie rechnen mir das auch nicht an, nicht wahr?
Bitte schön, Herr Abgeordneter Nolting.
Herr Kollege, haben Sie zur Kenntnis genommen, daß wir eine Rahmendienstzeit von 46 Stunden einführen wollen — ich betone ausdrücklich noch einmal: einschließlich Pausen — , und wissen Sie als Innenpolitiker überhaupt, wie viele Pausen am Tag und damit in der Woche bei der Bundeswehr anfallen? Wenn Sie das dann ausrechnen, stimmen Sie dann mit mir überein, daß Sie unter die 40-Stunden-Woche kommen?
Also, ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich würde die Verteidigung nicht den Verteidigungspolitikern überlassen. Auch die Personalwirtschaft würde ich nicht den Verteidigungspolitikern überlassen.
Ich würde Druck machen, und das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf. Das beantwortet auch Ihre Frage.
— Entschuldigen Sie bitte, Sie hatten ja nach meiner Meinung und nicht nach Ihrer Meinung gefragt, und Sie wollten ja meine Antwort und nicht die Ihre.
Im Grunde wollen wir, aus dem Personalwirtschaftshandbuch gesagt, folgendes: Die Einheiten, die sich als unflexibel erweisen und bei denen Über-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8509
Lutz
stunden anfallen, die sie nicht ausgleichen können, bekommen nach unserem Entwurf spätestens nach zwei Jahren vom Rechnungshof eine Rüge und werden allein dadurch zu neuerlichem Nachdenken gezwungen. Damit rechnet sich auch unser Entwurf. Ich meine, Sie gehen sehr hasenherzig mit unserer modernen Armee um.
Die Rechnungsgrößen beider Gesetzentwürfe sind annähernd gleich. Wir Innenpolitiker sind da auf die Angaben der Experten angewiesen.
Wenn das aber so ist, dann stünde es diesem Haus gut an, die intelligentere und effizientere Lösung heute zu beschließen.
Damit bleibt die letzte Frage: Ist Mehrarbeit in dem Umfange, in dem Sie sie verewigen wollen, zur Aufrechterhaltung des Standards der äußeren Sicherheit notwendig? Auch dieser Frage sollte man sich unbefangen stellen. Ich höre mit Vergnügen, daß Sie offensichtlich über Ihre eigenen Ängste gestolpert sind. Es fehlt der Bundeswehr nicht der Nachwuchs, wie Sie befürchtet haben, sondern Sie überlegen selbst, ob Sie die gegen unsere Warnungen beschlossene Verlängerung der Wehrdienstzeiten wieder rückgängig machen wollen.
Herr Abgeordneter Lutz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Biehle?
Herr Präsident, darf ich die letzten paar Sekunden — —
Bitte schön, diese Entscheidung ist allein in Ihre Hände gelegt.
Das mindert meinen Respekt vor Ihnen nicht; aber der Respekt vor dem Haus gebietet es.
Sie wissen selbst, daß Sie genügend Soldaten haben. In diesen Überlegungen können wir Sie nur bestärken. Damit Sie beim Nachdenken nicht wieder ins Stottern geraten, hat unsere Fraktion einen entsprechenden Antrag eingebracht. In einem, so denke ich, sind wir doch noch übereinstimmender Meinung. Wir brauchen keine — —
— Wir sind es immer gewohnt, Probleme im Zusammenhang zu sehen, Herr Mischnick; Sie eigentlich auch.
Wir brauchen keine überdimensionierte Armee. Wir brauchen gerade so viel, wie zur Aufrechterhaltung der Stabilität in Europa notwendig ist. Wir brauchen keine überrüstete Bundeswehr, gerade so viel, daß der Gedanke der Sicherheitspartnerschaft auch den Sicherheitspartnern einleuchtet. Wir brauchen — das ist heute der Punkt, über den wir abzustimmen haben — auch keine übermüdete Armee. Wir wollen
keinen Dienst, in dem der Dienst durch unprofessionelles Management zur Qual wird.
Ich erteile dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Waffenschmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich vertrete hier heute Frau Kollegin Hürland-Büning, die wegen des Flugzeugabsturzes in Remscheid ist. Ich finde, wir sollten auch von dieser Stelle den Betroffenen unser Mitgefühl sagen und den Verletzten gute Genesungswünsche übermitteln.
Das heute zur Verabschiedung anstehende Gesetz ist im Zusammenhang mit der Neuregelung besonderer zeitlicher Belastungen der Soldaten von entscheidender Bedeutung. Als Ausgleich für die hohe Dienstzeitbelastung der Soldaten wurde 1980 eine Pauschalvergütung eingeführt, die jedoch nur die Soldaten erhalten konnten, deren Einheit oder Teileinheit insgesamt im Jahresdurchschnitt überdurchschnittlich hoch belastet war.
Diese Lösung — das klang in der Diskussion mehrfach an — hat sich in der Praxis insgesamt nicht bewährt, da sie zur Dienstzeitentlastung wenig beigetragen hat und die Leistung des einzelnen Soldaten nicht hinreichend honoriert wurde. Der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung nach Verkürzung der Arbeitszeit sowie nach planbarer Freizeit konnte somit nicht Rechnung getragen werden. Dabei möchte ich hier ausdrücklich betonen, daß die Soldaten keiner Arbeitszeit unterliegen und wir eine Übernahme arbeitszeitrechtlicher Begriffe nach wie vor ablehnen.
Wir stimmen sicher alle miteinander in der Auffassung überein, daß es deshalb einer ganz neuen Regelung bedarf, wie auch hier in der Diskussion mehrfach begründet worden ist, zumal die Bundeswehr in angemessenem und nachvollziehbarem Maße sich der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen muß. Dabei geht es letztlich sicher auch um die Attraktivität der Streitkräfte.
Die Verringerung der Dienstzeitbelastung der Soldaten muß jedoch dort ihre Grenze finden, wo der verfassungsmäßige Auftrag der Streitkräfte und unsere Bündnisverpflichtungen gefährdet werden. Stundenrechnen und Stechuhrmentalität widersprechen — dies wurde hier mit Recht ausgeführt — dem Verständnis des soldatischen Dienstes.
Die Streitkräfte haben — dafür ist sehr zu danken — ein Konzept zur Dienstzeitentlastung erarbeitet, das drei Schwerpunkte vorsieht: erstens Verminderung der Dienstzeitbelastungen und vorausschauende Dienstgestaltung, zweitens Ausgleich unabweisbarer zeitlicher Belastungen primär durch planbare Freistellungen vom Dienst und drittens Abgeltung unvermeidbarer verbleibender Belastungen durch eine individuelle finanzielle Vergütung.
8510 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Parl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt
Die ersten beiden Schritte, meine Damen und Herren, sind bereits in Teilen in die Praxis umgesetzt. Die Dienstzeitbelastung wurde in den vergangenen Jahren durch entsprechende Maßnahmen erheblich reduziert, die planbare Freizeit für die betroffenen Soldaten spürbar verbessert.
Der dritte Schritt bedarf der heute zu beschließenden Neufassung des § 50 a des Bundesbesoldungsgesetzes. Die Bundesregierung hat im März dieses Jahres hierzu einen Gesetzentwurf eingebracht. Dieser Entwurf wurde, wie bereits in der ersten Lesung am 13. Oktober durch die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angekündigt, wesentlich dadurch verbessert — das sei hier ausdrücklich festgestellt —,
daß die Vergütungssätze erhöht wurden, bereits im ersten Anrechnungsfall vergütet wird und zwei Stufen der finanziellen Vergütung eingeführt wurden. Diese Verbesserungen werden die Akzeptanz in der Truppe erhöhen und die Attraktivität der Streitkräfte verbessern helfen.
Eines möchte ich jedoch deutlich herausstellen, meine Damen und Herren: Ziel aller Maßnahmen ist nicht die finanzielle Vergütung, sondern vorrangig weiterhin die Reduzierung der hohen Dienstzeit und die planbare Freistellung vom Dienst für überhöhte zeitliche Inanspruchnahme. Hierzu werden die Streitkräfte — dies will ich hier ausdrücklich heute sagen — im Rahmen einer Zentralen Dienstvorschrift verbindliche Vorgaben für die Rahmendienstzeit im Standort sowie Freistellung vom Dienst erhalten.
Meine Damen und Herren, der durch die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP geänderte Regierungsentwurf wird den Belangen der Streitkräfte am besten gerecht. Der Entwurf wurde noch verbessert.
Darüber kann man sich im Interesse der Soldaten nur freuen. Darum bitte ich Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, diesem geänderten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften zuzustimmen.
Den Gesetzentwurf der Opposition zur Einführung einer gesetzlichen Dienstzeitregelung und einer Mehrarbeitsvergütung für die Soldaten, der das Verständnis vom Dienst der Soldaten in unserem Lande in wesentlichen Bereichen völlig verändern würde, bitte ich abzulehnen.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß das, was heute voraussichtlich beschlossen wird, den Soldaten, ihrem Dienst und dem Interesse unseres Landes hilfreich ist.
Vielen herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften. Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltung. Mit Mehrheit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt.
Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung jede weitere Beratung.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Lesung angenommen.
Wir treten nun in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 90 zu Petitionen — Drucksache 11/3468 —
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3667 und 11/3696 vor.
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion verabredet worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter von der Wiesche.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Petenten fordern mit dieser Petition umfassende Initiativen zur sozialen Neuordnung der Stahlindustrie. Sie sollen der Sicherung der Beschäftigung, der Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen, dem Ausbau des Kündigungsschutzes und der sozialen Leistungen dienen.
Die Petition wird von mehr als 190 000 Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes unterstützt, die als direkt und indirekt Betroffene Angst um ihre Existenz haben. Sie spüren, daß die Eisen- und Stahlindustrie ganze Stahlstandorte auslöschen will. Beispielhaft erinnere ich an die Städte Hattingen, Oberhausen, Osnabrück und Rheinhausen sowie an das Siegerland und das Saarland.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung immer wieder aufgefordert, zusammen mit den Arbeitnehmern, ihren gewerkschaftlichen Vertretern, den Unternehmen, den Eigentümern und den betroffenen Ländern ein Konzept für die Sicherung der deutschen Stahlindustrie zu erarbeiten. Die Bundes-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8511
von der Wiesche
regierung hat die Zeit jedoch unbefriedigend genutzt,
Antworten auf die absehbaren strukturellen, regionalen und sozialen Probleme zu erarbeiten und umzusetzen.
Statt dessen setzt die Bundesregierung auf die Selbstheilungskraft der Wirtschaft. Die Menschen zählen hier scheinbar wenig. So sind allerdings die schwierigen Probleme nicht zu lösen. Deshalb muß die Bundesregierung unverzüglich handeln, und das gerade in Zeiten eines Stahlbooms, wie wir ihn derzeit erleben. Sie muß die dringend gebotenen Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz der deutschen Eisen- und Stahlindustrie und der von ihr abhängigen Menschen einleiten. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dazu eine Reihe von Anträgen und Vorschlägen im Deutschen Bundestag eingebracht. Alle Initiativen wurden allerdings von den Koalitionsfraktionen unverständlicherweise abgelehnt.
Ich will einige dringend notwendige Sofortmaßnahmen deshalb hier noch einmal aufzählen. Dazu gehören u. a. die Einrichtung eines nationalen Stahlausschusses zur Erarbeitung eines Stahlkonzeptes, eine europäische Stahlpolitik mit fairen Wettbewerbsbedingungen —
u. a. Einhaltung der EGKS-Mengenabsprachen —, die Einhaltung des Subventionskodexes und Förderung des Anpassungsprozesses durch ein Zukunftsprogramm Montanregion, die Verlängerung des Stahlstandorteprogramms, strukturelle Hilfen, Aufstokkung von ABM-Mitteln, zukunftsorientierte Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen.
Ich hege nur die Vermutung, daß gerade durch die 9. Novelle zum AFG in diesem entscheidenden Punkt erhebliche Schwierigkeiten entstehen.
Die Neuordnung des Länderfinanzausgleiches und die Verwirklichung des Sondervermögens „Arbeit und Umwelt" sind dringend erforderlich. Dazu gehören auch die verstärkte Nutzung von ERP-Mitteln und die Erarbeitung eines Anpassungskonzeptes für die Stahlunternehmen.
Meine Damen und Herren, die Petition soll der Bundesregierung als Material überwiesen werden. Die bisher durch die Bundesregierung eingeleiteten und vereinbarten Maßnahmen reichen nicht aus, um den Forderungen der Petenten gerecht zu werden. Deshalb reicht auch Materialüberweisung nicht. Aus diesem Grunde fordern wir, die Petition der Bundesregierung und dem Bundesminister für Wirtschaft zur Berücksichtigung zu überweisen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grünewald.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dank der guten Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung boomt die deutsche Stahlindustrie.
Die von dem IG Metall-Vorstand Düsseldorf vor über Jahresfrist eingebrachte und in der Tat von über 190 000 besorgten Bürgern gestützte Petition hat deshalb erfreulicherweise ein wenig an Aktualität verloren. Ich betone ganz ausdrücklich: ein wenig; denn die strukturellen Probleme der Stahlindustrie sind durch diese konjunkturelle Hausse jedenfalls auf Dauer nicht gelöst.
Die CDU/CSU-Fraktion bringt deshalb dem Grundanliegen der Petition auch großes Verständnis entgegen. Wir unterstützen daher auch die meisten der Anliegen nachdrücklich, und das nicht nur verbal, sondern tatsächlich durch eine Vielzahl aktiver Maßnahmen für eine zukunftsgesicherte Struktur- und Sozialpolitik in den Stahlregionen.
Auch wir möchten — erstens — die von weltweiten Überkapazitäten bedrohten Arbeitsplätze in der Stahlindustrie, soweit das wirtschaftlich nur eben vertretbar ist, sichern. Wir setzen dabei auf eine Wirtschaftspolitik, die sich aktiv zum notwendigen Strukturwandel bekennt und die dafür sorgt, daß auch die deutsche Stahlindustrie in einem funktionierenden Markt ihre Wettbewerbsvorteile zur Geltung bringen kann; denn nur so kann auf Dauer die Mehrzahl der Arbeitsplätze in diesem wichtigen und traditionsreichen Wirtschaftszweig erhalten bleiben.
Zweitens. Auch wir treten leidenschaftlich für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen in den Stahlstandorten ein. Subventionen, die nur veraltete Strukturen verfestigen und Produkte stützen, für die es in der Zukunft erkennbar keinen Markt gibt, machen ganz einfach keinen Sinn. Sie sind für den unumgänglichen Strukturwandel sogar schädlich, weil kontraproduktiv. Gefragt sind also Innovationen und Investitionen, die in stahlfremden Bereichen neue, zukunftsgerichtete Arbeitsplätze schaffen. Das inzwischen verlängerte Stahlstandorteprogramm dient diesem Ziel ebenso wie die Bereitstellung von zusätzlichen öffentlichen Haushaltsmitteln in Milliardenhöhe für die Montanregionen.
Auch das am heutigen Vormittag in diesem Hause verabschiedete Strukturhilfegesetz mit einem Volumen von weit über 24 Milliarden DM im zeitlichen Horizont zielt in diese Richtung.
Erinnert sei auch an die Ruhrgebietskonferenz vom Februar dieses Jahres. Auch da wurde über 1 Milliarde DM zusätzlich für arbeitsschaffende Investitionen bereitgestellt.
Drittens. Auch dem Anliegen der Petenten nach einem Mehr an Kündigungsschutz hat der Bund durch die von ihm ganz maßgeblich mit beeinflußte soge-
8512 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr. Grünewald
nannte Frankfurter Vereinbarung weitgehend Rechnung getragen.
Nach dieser Vereinbarung sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen.
Viertens. Es besteht ferner Einvernehmen darüber, daß der schmerzliche Strukturwandel durch geeignete soziale Maßnahmen abgefedert, also für die betroffenen Arbeitnehmer sozialverträglich gestaltet werden muß. Auch in bezug auf solche flankierenden Maßnahmen ist inzwischen Beachtliches geschehen. Nur einige Stichworte: Anpassungsbeihilfe, Wartegeld, Umschulungsbeihilfe, Übergangsbeihilfe und, und, und.
Fünftens. Mit besonderer Befriedigung stellen wir fest, daß wir eine weitere Forderung der Petition erst in der vergangenen Woche erfüllt haben, nämlich die Sicherung der Montan-Mitbestimmung. Ich meine, gerade diesen Tatbestand sollten unsere lautstarken Kritiker — auch und insbesondere die IG Metall — einmal dankbar anerkennen.
Sechstens. Die Forderung nach Einrichtung eines nationalen Stahlausschusses hingegen lehnen wir ab. Wir haben nämlich die begründete Sorge, daß durch die Schaffung einer solchen Institution die maßgebliche Verantwortlichkeit unternehmerischer Entscheidungen vermischt und notwendige Entscheidungsprozesse unnötig verzögert werden könnten.
Schlußendlich siebtens. Wir sind konsequent und strikt gegen die Vergesellschaftung der Stahlindustrie; denn wir sind zutiefst davon überzeugt, daß eine solch sozialistische Maßnahme nun wirklich völlig ungeeignet ist, die strukturellen Probleme der Stahlindustrie zu bewältigen. Schon ein flüchtiger Blick in die EG-Staaten bestätigt die Richtigkeit dieser unserer Überzeugung. Wo immer Staaten dirigistisch und zentralistisch in den Stahlmarkt eingegriffen haben, sind vergleichsweise höhere Arbeitsplatzverluste zu beklagen als bei uns.
Aus diesem Grunde können wir auch dem neuerlichen, im übrigen nur wiederholten Antrag nicht zustimmen, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zuzuweisen.
Herzlichen Dank!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir GRÜNEN unterstützen die vorliegende Resolution der IG Metall; denn wir halten sie für eine wichtige Initiative, um zu einer sozial verantwortbaren Neuordnung der deutschen Stahlindustrie zu kommen. In Hattingen und Rheinhausen hat sich gezeigt, wie brutal die Folgen einer urwüchsigen, an den Interessen der Stahlunternehmen orientierten Neuordnung sind, und das, obwohl die Stahlunternehmen inzwischen wieder durchweg schwarze Zahlen schreiben, wie auch der Kollege Grünewald angeführt hat.
Wir GRÜNEN verkennen nicht, daß in mittel- und langfristiger Perspektive weniger Stahl gebraucht wird. Aber gerade deshalb muß es heute darum gehen, Stahlstandorte zu sichern und den regionalen Umbau voranzutreiben. Für das Ruhrgebiet, die größte Montanregion in der Bundesrepublik, erarbeiten wir zur Zeit ein ökologisches und soziales Umbauprogramm, in dem die auf den verschiedensten Ebenen ansetzenden Maßnahmen in ein Konzept integriert werden.
Das Gegenteil vollzieht sich in der Politik der Bundesregierung. Die eine Hand spendiert ein Montanprogramm mit 400 Millionen DM für die Montanregionen in NRW. Die andere Hand nimmt demselben Bundesland durch die bevorstehende Neuregelung des Kohlepfennigs in Form der Abwälzung des Revierausgleichs und der Belastung durch die niederflüchtige Kohle über 1 Milliarde DM wieder weg.
Dieser regionale Umbau kann sich nicht gegen die Konzerne vollziehen. Wie gering deren Bereitschaft ist, Verantwortung für die Regionalentwicklung zu übernehmen, hat sich in der Vergangenheit gezeigt. Grundstücke wurden gehortet, um sich gegen unliebsame Konkurrenz abzuschotten. Altlastensanierungen mit immensen Kosten wurden an die öffentlichen Hände abgeschoben. Die Herren in den Vorstandsetagen investieren lieber in anderen Teilen der Bundesrepublik als gerade im Ruhrgebiet, im Saarland oder in anderen Montanregionen. Die Flucht aus der Verantwortung wird augenfällig im Verhalten des Thyssen-Vorstandes, der von Duisburg nach Düsseldorf umziehen will.
Vor diesem Hintergrund muß auch die Forderung der IG Metall nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie die in unserem vorliegenden Änderungsantrag enthalten ist, verstanden werden.
Schon heute mischen Bundes- und Landesregierung kräftig mit. Sie finanzieren den Arbeitsplatzabbau über Sozialpläne. Wir GRÜNEN meinen, daß solche öffentlichen Subventionen nur noch in Form von Kapitalbeteiligungen vergeben werden sollten, um entsprechend dem finanziellen Einsatz auch Einflußmöglichkeiten zur Sicherung des öffentlichen Interesses zu bekommen. Das sind wichtige Schritte in Richtung Vergesellschaftung der Stahlindustrie.
Vergesellschaftung heißt für uns GRÜNE, daß die Stahlbelegschaften in Verbindung mit Standortkommunen und Umweltverbänden den beherrschenden Einfluß auf die Unternehmenspolitik gewinnen. Nur so können die Arbeitsplatzinteressen auch mit ökologischen Erfordernissen abgestimmt werden.
Aus diesem Grunde haben wir einen Änderungsantrag vorgelegt, der in seiner Begründung auch den Hinweis auf diesen Bestandteil der IG Metall-Petition, nämlich die Vergesellschaftungsforderung, enthält.
Ich danke Ihnen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8513
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Walther, in einer kleineren Fraktion muß jeder jedes machen, sich u. a. auch mit Petitionen befassen, was ich z. B. sehr gerne tue. Das ist eine sehr gute Sache. Sie sollten, Herr Kollege Walther, auch einmal in den Petitionsausschuß kommen, dann werden Sie nämlich die Sorgen der Bevölkerung auch hinsichtlich der Post noch besser kennenlernen.
Trotz der derzeit guten Auslastung in der Stahlindustrie kann es ja wohl keinem Zweifel unterliegen, daß erhebliche strukturelle Probleme in der europäischen Stahlindustrie bestehen. Das liegt insbesondere daran, daß weltweit Überkapazitäten bestehen. Die Kapazitäten dürften langfristig die Stahlnachfrage übersteigen. Das gilt vor allem für alle Massenstahlsorten. Die dadurch hervorgerufenen Kapazitätsanpassungen müssen — das hat die Bundesregierung in der Vergangenheit auch immer getan — sozial abgefangen werden. Es kann jedoch nicht Aufgabe unserer Marktwirtschaft sein, durch die Vergesellschaftung der Stahlindustrie künstlich Kapazitäten aufrechtzuerhalten mit der Folge, daß dadurch diese Industriezweige — wie im übrigen die meisten vergesellschafteten Unternehmen — langfristig mit roten Zahlen arbeiten müssen.
Die soziale Marktwirtschaft will den Markt, ist jedoch bereit, bei sozialen Schwierigkeiten und Marktanpassungen soziale Lösungen zu finden. Das wird auch stets von meiner Partei unterstützt. Insbesondere hat die Bundesregierung alles getan, um der deutschen Stahlindustrie gegenüber subventionierter Konkurrenz Flankenschutz zu gewähren.
Die Bundesregierung hat sich für den Abbau der Subventionen in der Europäischen Gemeinschaft erfolgreich eingesetzt und wird es auch weiterhin tun. Sie wird auch darauf drängen, daß der Subventionskodex eingehalten wird.
Dies gilt auch für den Fall Finsider in Italien. Jedoch zu glauben, daß durch die Vergesellschaftung in der Stahlindustrie auch nur eines der Probleme gelöst wird, ist — lassen Sie mich das etwas hart sagen — Kinderglaube.
Dadurch wird nämlich nicht eine Tonne mehr Stahl am Markt verkauft; denn wir können ja wohl nicht mehr Stahl verkaufen, als der Markt hergibt.
Zusammenfassend möchte ich bemerken, daß meine Partei alles tun wird, um soziale Härten in der Industrie und auch in allen anderen Dienstleistungszweigen, die von Strukturveränderungen betroffen sein werden, auszugleichen. Wir werden aber nicht zulassen, daß notwendige Strukturveränderungen künstlich verhindert werden, da unsere Wirtschaft nur durch ständige Anpassungen an Strukturveränderungen wettbewerbsfähig bleiben wird. Wir werden nicht zulassen, daß aus falsch verstandener Solidarität heraus Strukturveränderungen verhindert werden und dadurch unsere deutsche Wirtschaft inflexibel wird.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3667. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei drei Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wer für den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN — Drucksache 11/3696 — stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD ist dieser Änderungsantrag ebenfalls abgelehnt.
Wer für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/3468 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der SPD ist diese Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 91 zu Petitionen — Drucksache 11/3469 —
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3671 vor.
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von fünf Minuten für jede Fraktion vorgesehen worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Unserer Fraktion genügt es nicht, die Forderungen, die immer wieder von Tierschützern erhoben werden, als erledigt anzusehen. Die wachsende Zahl der engagierten Tierschützer in der Bundesrepublik sollte uns verdeutlichen, daß von diesen Tierschutzgruppen Probleme thematisiert werden, die unser Handeln erforderlich machen.
Wir bringen den Änderungsantrag ein, dem Begehren nach Verbandsklage im Tierschutzrecht zu folgen. Die organisierten Tierschutzverbände beweisen seit Jahren, daß der Tierschutz — sei es in der Pelztierhaltung, sei es bei Tierversuchen oder sei es in der Massentierhaltung — gesetzlich mehr als mangelhaft abgesichert ist oder der Tierschutz in ungesetzlicher Manier mit Füßen getreten wird.
8514 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Garbe
Den Tierschutzverbänden wie den Naturschutzverbänden im Bundesnaturschutzgesetz ein Verbandsklagerecht im Tierschutzgesetz einzuräumen gäbe unserer Gesellschaft die Chance, manche Frage der Tierhaltung und Tierbehandlung so zu lösen, wie es, glaube ich, den meisten im Haus im Sinne steht, nämlich der Kreatur gerecht zu werden, sie nicht im Sinne eines Maximalprofits oder um eines miesen Spaßes willen bis aufs letzte auszubeuten oder zu schikanieren.
Ich bin der Meinung, ein weiteres Anliegen der Petenten sollte unsere vermehrte Unterstützung erfahren. Zu Recht beklagen Tierschützer die stiefmütterliche Behandlung des Tierschutzes im Landwirtschaftsressort. Die Ausgliederung dieser Abteilung aus dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und ihre Überführung in das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, wird gefordert. Nach dem Willen des Petitionsausschusses soll immerhin dieser Gesichtspunkt der Bundesregierung als Material überwiesen werden. Also auch die Ausschußmehrheit kann sich nicht der Logik entziehen, daß der Tierschutz sachlich eventuell beim Umweltminister ressortieren sollte, der ja nun einmal die Verantwortung auch für den Naturschutz hat.
Mit der Schaffung des BMU ist die Umressortierung zwangsläufig gegeben. Auch wenn dieser Minister bereits sehr eingespannt ist, um sicherzustellen, daß alle Kontrollämpchen zur rechten Zeit wahrgenommen werden, so sollte sein Gewicht doch auch zugunsten des Tierschutzes in die Waagschale geworfen werden.
Unsere Forderung geht dahin, ein ressortübergreifendes Referat Tierschutz einzurichten.
Über Jahrhunderte hinweg hat die bäuerliche Land- und Forstwirtschaft unsere Kulturlandschaft mit ihrer vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt hervorgebracht und gesichert. Landwirtschaft, Naturschutz und Tierschutz müssen kein Gegensatz sein. Aber die Agrarpolitik des Wachsens und Weichens zwingt die bäuerlichen Betriebe in die Chemie und in die tierquälerische Massentierhaltung.
Unser Ziel ist eine bäuerliche Wirtschaftsweise, die im Einklang mit der Natur wirtschaftet und die eine artgerechte Tierhaltung betreibt. Deshalb müssen Naturschutz, Tierschutz und Landwirtschaft endlich wieder zusammen gehen. Dies sollte sich auch referatsmäßig wiederspiegeln.
Ich nehme an, auch Sie bekommen Post von Tierschützern und Tierschutzverbänden zugesandt. Vielleicht bekommen Sie wie auch ich manches Mal ganze Berge von Post, so z. B. vor der Olympiade und beim Robbensterben. Vielleicht waren Sie auch einmal bei einer Veranstaltung von Tierschützern. Wenn Sie schon einmal da waren, dann müßten Sie wissen, welcher Zündstoff in diesen unzufriedenen Gruppen herrscht, weil sie des Wartens müde sind, weil bei der Novellierung des Tierschutzgesetzes damals soviel versprochen wurde und weil bis jetzt so gut wie nichts eingehalten wurde. Die Ethikkommission löst sich allmählich auf, die Tierversuchsersatzkommission leistet nicht das, was versprochen wurde; alles Defizite, über die wir sprechen und die wir bald abbauen müssen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dempwolf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Petition, die Frau Garbe soeben angesprochen hat, haben wir im Petitionsausschuß schon mehrfach eingehend beraten.
Der Petent fordert mit seiner Eingabe die Ausgliederung des Tierschutzreferates aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium und setzt sich für die Verbandsklage im Tierschutzrecht ein.
Die Bundesregierung hat den Tierschutz stets als wichtige Aufgabe angesehen, und sie wird sich auch in Zukunft sehr für den wirksamen Schutz der uns anvertrauten Tiere einsetzen.
Die Belange des Tierschutzes können von der Sache her im Gegensatz zu Interessen der Nutzung und Haltung von Tieren stehen. Für die eine Seite sind die ethisch untermauerten Schutzanliegen der Tiere und für die andere Seite die ökonomischen wissenschaftlich und ethischen Aspekte zugunsten des Menschen dominierend.
Diese Interessengegensätze spiegeln sich sowohl innerhalb des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als auch zwischen den Ressorts wider und müssen natürlich zum Ausgleich gebracht werden. Die Kompetenz für den Ausgleich dieser Interessengegensätze liegt beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, weil er auch mit vielen anderen in den Tierschutzbereich einfließenden Fachgebieten, z. B. Tiergesundheit, Hygiene, Pathologie, Ernährung, Tierzucht, Verhaltensforschung, produktivwirtschaftliche Aspekte usw., befaßt ist. Ihm obliegt, durch die Beteiligung aller betroffenen Kreise und der sonst berührten Ressorts eine ausgewogene, sachgerechte Entscheidung herbeizuführen.
Die Verlagerung des Tierschutzes in das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit würde zu großen Problemen führen, weil gerade die Sparten, die ich soeben nannte — Tiergesundheit, Hygiene und Pathologie — , ja schon im Landwirtschaftsministerium angesiedelt sind. Es käme hier zu einer komplizierten Zusammenarbeit der Ressorts. Wir wollen das nicht; das sage ich ganz deutlich. Wir wollen nicht, daß es zu einer zusätzlichen Ausweitung kommt und daß verschiedene Ressorts doppelt arbeiten.
Dies ist auch dem Petenten mitgeteilt worden. Wir haben dem Petenten ferner mitgeteilt, daß eine Bleichlautende Eingabe einer parlamentarischen Prüfung bereits unterzogen wurde. Dieses Hohe Haus hat damals, am 8. Oktober 1987, beschlossen — es ist richtig, was Frau Garbe sagt — , diese Petition der Bundesregierung als Material zu übersenden.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8515
Frau Dempwolf
Weiterhin fordert der Petent die Einführung der Verbandsklage. Auch das vermag der Petitionsausschuß nicht zu unterstützen. Gerade durch die Novellierung des Tierschutzgesetzes im Jahre 1986 hat sich der Deutsche Bundestag gegen eine Verbandsklage im Tierschutzrecht ausgesprochen. Statt dessen wurden sehr weitgehende Beteiligungsrechte insbesondere der Tierschutzverbände, etwa bei der Vorbereitung von Rechtsvorschriften, festgelegt. Ich darf daran erinnern, daß der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vor dem Erlaß von Rechtsverordnungen verpflichtet wurde, die Tierschutzkommission anzuhören. Hierzu sind neben Wissenschaftlern mehrere Sachverständige auch aus überregionalen Tierschutzverbänden beteiligt.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung nach § 16d des Tierschutzgesetzes dem Deutschen Bundestag alle zwei Jahre — erstmals ab 1. Januar 1989 — einen Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes vorzulegen:
Ich meine, Frau Garbe, es ist sicherlich für uns ganz wichtig, daß wir uns diesen Bericht erst einmal vorlegen lassen und dann über dieses Thema weiterreden.
Ich beantrage, die Empfehlung des Ausschusses, die Eingabe als erledigt zu betrachten, anzunehmen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein Beifall!
Vielleicht machen Sie das bei mir auch. Ich würde mich sehr darüber freuen.
Wenn es fachkundige, engagierte Bürgerinnen und Bürger und ihre Verbände nicht gäbe, müßte man sie erfinden. Das gilt für viele Bereiche, auch für den Bereich des Tierschutzes. Ohne ihre Wachsamkeit wären die Auswüchse und Probleme im Tierschutz und bei der Behandlung von Tieren noch viel katastrophaler, als sie es jetzt sind.
Auf der anderen Seite, auf der Seite derer, die die Tiere vermarkten oder nutzen wollen, gibt es auch Sachverstand: in der Landwirtschaft, die für die Tiertransporte und die Massentierhaltung zuständig ist, in der Forschung, in der Medizin und Kosmetik, die an Tierversuchen interessiert sind, bei der Jagd usw. Dort gibt es nicht nur Sachverstand, sondern auch ein sehr starkes Engagement und teilweise massive wirtschaftliche Interessen. Ohne ein entsprechendes Gegengewicht, ein Engagement zugunsten der Tiere geht es nicht.
In der Petition geht es darum, den Verbänden und Tierschutzorganisationen die Möglichkeit zur Verbandsklage gegen das Tierschutzrecht einzuräumen.
Was spricht dagegen, den kritischen Sachverstand der engagierten Bürgergruppen zu nutzen? Warum, Vertreter und Vertreterinnen der Koalition, sind Sie nicht bereit, der Petition in diesem Punkt zuzustimmen? Das bestehende Tierschutzgesetz leistet das nicht, auch wenn das Landwirtschaftsministerium so ähnlich wie Frau Dempwolf versucht, diesen Eindruck zu erwekken.
Die bestehenden Beteiligungsrechte der Tierschutzverbände reichen bei weitem nicht aus. Nach der Novelle des Tierschutzgesetzes werden sie nur bei der Vorbereitung der Rechtsvorschriften beteiligt. Das Beteiligen — Sie haben das eben auch gesagt — ist nur eine Anhörung. Die Mitglieder der Kommission, die die zuständigen Behörden bei der Entscheidung über die Genehmigung von Tierversuchen unterstützt, müssen nur zu einem Drittel aus Vorschlagslisten der Tierschutzverbände ausgewählt werden. Ein Drittel ist zu wenig. Diese Besetzung entspricht nicht dem, was nötig ist. Die Tierschützer müßten in den entsprechenden Kommissionen viel stärker vertreten sein.
Vor allem müssen sie gegen die Gesetze und Rechtsvorschriften den Klageweg beschreiten können.
Natürlich: Es wird weniger bequem, wenn die Tierschutzorganisationen ein Klagerecht haben. Aber das darf kein Grund für ihre Ausschaltung sein. Bedenken Sie: Je mehr Sie den Verbänden die legalen Mitwirkungsmöglichkeiten verwehren, um so mehr ermutigen Sie diejenigen, die ungesetzliche Aktionen zum Schutz der Tiere durchführen.
— Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren der Koalition. Das ist eine Petition, mit der wir uns in der letzten Petitionsausschußsitzung intensiv beschäftigt haben. Das ist ein schwieriges Problem.
Je geringer die legalen Möglichkeiten sind, desto mehr ermutigen wir ungesetzliche Taten, desto größer wird die Gruppe derjenigen, die mit Sympathie darauf reagieren. Durch Ihr Verhalten bewirken Sie allenfalls die Radikalisierung der Tierschützer, über die Sie sich empören.
Ich habe Probleme mit der Stimme, aber ich hoffe, daß es nicht daran liegt, wenn Sie unaufmerksam sind.
Sinnvoller wäre es, aus diesen Gründen der Petition zuzustimmen.
Ein weiteres Anliegen des Petenten ist die Auslagerung des Tierschutzreferates aus dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Auch dieses Anliegen ist berechtigt und längst überfällig. Das Landwirtschaftsministerium, das an der Vermarktung der Nutztiere interessiert ist, ist kein guter Sachwalter für Tierschutzfragen.
8516 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Ganseforth
Man macht förmlich damit den Bock zum Gärtner. Tierschutz und Naturschutz gehören zusammen. Insofern haben wir als Kompromiß — und dem haben auch Sie zugestimmt — im Petitionsausschuß beschlossen, die Petition in dem Punkt als Material der Bundesregierung zu überweisen. Wir hoffen, daß Sie auch dem anderen Antrag zustimmen werden, nämlich die Verbandsklage für die Tierschutzverbände zuzulassen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Ganseforth, es kann überhaupt keine Frage sein, daß in der Bevölkerung der Tierschutz eine hervorragende Rolle spielt. Der Tierschutz spielt auch für uns im Petitionsausschuß eine ganz große Rolle; denn wir haben uns in den letzten Jahren nicht umsonst intensiv mit Fragen des Tierschutzes beschäftigt. Ich erinnere z. B. an die Petition bezüglich der Schlachtpferde, die von Polen nach Frankreich durch die Bundesrepublik reisen mußten. Die Fragen des Tierschutzes haben wir im Petitionsausschuß also schon sehr ernst genommen.
Wir Liberalen haben genauso wie die anderen Parteien den Tierschutz sehr ernst genommen. Nicht umsonst hat auch der Bundesjustizminister die Frage des Tierschutzes und auch die der Rechtsstellung des Tieres in unserer Rechtsordnung auf die Tagesordnung gesetzt.
— Herr Dr. Weng, so weit würde ich nicht gehen. Aber sie sind, wie es der Bundesjustizminister formuliert hat, „Lebewesen". Und diese Lebewesen gehören mit zu unserem Umfeld, mit zu unserer Umwelt und müssen deswegen ganz besonders mit geschützt sein.
Ich glaube, insoweit sind wir hier in allen Fraktionen einer Meinung. Wir werden das, was der Bundesjustizminister an Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch vorhat, das Tier nicht mehr als Sache zu bezeichnen, gemeinsam hier im Bundestag vertreten.
Unsere Bürger werden auch in Zukunft dieses Problem des Tierschutzes als ihr eigenes Problem erkennen. Und auch der Petitionsausschuß wird weiterhin mit diesen Fragen sehr befaßt sein.
Wir unterstützen mit den GRÜNEN, den Sozialdemokraten und den Christdemokraten, daß das Tierschutzreferat aus dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ausgegliedert werden soll und dieses Referat beim Umweltminister angesiedelt wird.
— Herr Kollege Eigen, ich teile Ihre Auffassung sogar, daß im Landwirtschaftsministerium der entsprechende Sachverstand vorhanden ist.
— Herr Kollege Eigen, das ist doch nicht die Frage, sondern die Frage ist: Kann das zuständige Referat im Landwirtschaftsministerium in einer Tierschutzfrage unter Umständen befangen sein, vielleicht wegen zu großer eigener Sachkenntnis?
Es ist manchmal recht gut, wenn mit einer solchen Sache jemand beschäftigt ist, der an solche Probleme unbefangen herangehen kann. Deswegen meine ich, daß die Gefahr von Interessenkollisionen gegeben ist
— das meine ich im übrigen mit Kollegen aus Ihrer Fraktion — und daß wir besonders im Hinblick auf die Massentierhaltung in der Landwirtschaft diese Überführung in das Umweltministerium anstreben sollten.
Denn der Grundsatz, daß schon der Anschein der Befangenheit in der Öffentlichkeit nicht entstehen sollte, sollte uns leiten.
Die Einführung einer Verbandsklage im Tierschutzbereich, Herr Kollege Eigen, lehnen wir mit Ihnen jedoch ab.
In der erst 1986 durchgeführten Novellierung des Tierschutzgesetzes hat der Bundestag die Tierschutzklage geprüft und eine Verbandsklage abgelehnt. Es hilft, glaube ich, der Bevölkerung überhaupt nichts, wenn wir ein Gesetz neu fassen, beispielsweise 1986, und zwei Jahre später sagen: Was interessiert uns unser dummes Geschwätz vor zwei Jahren; jetzt ändern wir das Gesetz erneut. Das kann wohl nicht richtig sein. Wir müssen hier auch konsequent sein.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3671, der auf Berücksichtigung der Petition gerichtet ist. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung ab. Dazu ist beantragt worden, die Abstimmung nach den Buchstaben getrennt durchzuführen. Habe ich das richtig verstanden?
Von der Beschlußempfehlung auf der Drucksache 11/3469 rufe ich zunächst den Buchstaben a auf. Ich bitte diejenigen, die ihm zuzustimmen wünschen, um
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8517
Vizepräsident Stücklen
das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Abschnitt ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Wir kommen zu dem Buchstaben b. Wer ihm zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Abschnitt ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zu dem Buchstaben c. Wer diesem Abschnitt zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Abschnitt ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen schließlich zu Buchstabe d. Es geht um die Beschlußempfehlung, die Petition als erledigt anzusehen, soweit das Anliegen über die Punkte a bis c hinausgeht. Wer stimmt dem zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Abschnitt d ist einstimmig angenommen.
Ist es nun noch notwendig, über die Beschlußempfehlung insgesamt abzustimmen? — Das ist nicht der Fall. Es ist jetzt alles klar. Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Müntefering, Vosen, Catenhusen, Wischnewski, Dr. Ehmke , Dreßler, Fischer (Homburg), Großmann, Grunenberg, Heistermann, Ibrügger, Dr. Jens, Lohmann (Witten), Frau Matthäus-Maier, Nagel, Dr. Nöbel, Poß, Lennartz, Schanz, Schluckebier, Schröer (Mülheim), Stahl (Kempen), Frau Steinhauer, Frau Terborg, Toetemeyer, Waltemathe, Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten in Köln-Porz
— Drucksache 11/1641 —
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vosen, Fischer , Bulmahn, Catenhusen, Ganseforth, Grunenberg, Dr. Klejdzinski, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Erler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Weltraumpolitk der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 11/1995 —
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vosen, Vahlberg, Fischer , Bernrath, Bulmahn, Catenhusen, Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Dr. Skarpelis-Sperk, Stahl (Kempen), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Informationstechnik 2000
— Drucksache 11/2592 —
d) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Antwort Europas auf die technologische Herausforderung der modernen Zeit
— Drucksache 11/595 — e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lenzer, Maaß, Engelsberger, Gerstein, Dr. Götz, Hauser , Linsmeier, Magin, Dr. Neuling, Dr. Rüttgers, Seesing, Dr. Voigt (Northeim) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr.-
Ing. Laermann, Kohn, Neuhausen, Dr. Thomae, Timm und der Fraktion der FDP
Naturmedizin erforschen und anwenden
— Drucksache 11/1960 —
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vosen, Bulmahn, Catenhusen, Fischer , Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Börnsen (Ritterhude), Dr. Hauchler, Huonker, Dr. Jens, Kastning, Lennartz, Matthäus-Maier, Dr. Mertens (Bottrop), Oesinghaus, Opel, Poß, Reschke, Stahl (Kempen), Westphal, Dr. Wieczorek, Zander, Bernrath, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Fortführung der Steuerbegünstigung für Erfinder
— Drucksache 11/3101 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordungspunkte 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.
Ich kann die Aussprache eröffnen. Das Wort hat der Abgeordnete Fischer .
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir heute über die Weltraumpolitik der Bundesrepublik Deutschland sprechen, müssen wir uns fragen:
Erstens. Wie sieht diese Weltraumpolitik der Bundesrepublik, der Bundesregierung aus?
Zweitens. Was hat die Bundesregierung bzw. der Bundesforschungsminister bisher erreicht bzw. unterlassen;
wo liegen die Schwerpunkte; wo gibt es Fehler?
Drittens. Wurde die von kompetenter Seite geäußerte Kritik an den drei Großprojekten Ariane, Hermes und Columbus berücksichtigt und in die weiteren Planungen einbezogen?
Viertens. Ist die friedliche Nutzung bei Columbus gegeben?
Fünftens. Sind alle Entscheidungen zur Gründung der Deutschen Raumfahrtagentur DARA endlich getroffen worden, und kann sie, wie versprochen, im kommenden Jahr — für den Januar war es wohl versprochen — ihre Arbeit aufnehmen?
Sechstens. Ist es dem Minister gelungen, wie angekündigt, die Industrie zur Mitarbeit an den Weltraumprojekten und zu ihrer Mitfinanzierung zu bewegen und die Öffentlichkeit vom Nutzen und der Notwendigkeit der Raumfahrt zu überzeugen?
8518 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Fischer
So viele Fragen und so wenige Antworten; jedenfalls ich habe bisher wenige gehört.
— Nein, ich meine jetzt nicht hier und heute, sondern bis zu diesem Zeitpunkt habe ich wenig gehört.
Es kann hier nicht darum gehen, daß Sie die nicht nur von uns Sozialdemokraten, sondern auch von großen Teilen der Industrie und vielen Wissenschaftlern geäußerte Kritik elegant vom Tisch reden.
Trotz streckenweiser guter Zusammenarbeit im Ausschuß und bei aller Sympathie muß hier ganz klar und unmißverständlich gesagt werden: Es geht hier nicht um die Form, um Äußerlichkeiten, es geht hier um wichtige Inhalte, rechtzeitige Entscheidungen und milliardenteure Programme.
Ich habe Ihnen, Herr Minister, an gleicher Stelle ungefähr vor einem Jahr vorgehalten:
Ihre gesamte Weltraumzauderpolitik ist geprägt von Entschlußlosigkeit, Entscheidungsarmut und Konzeptionslosigkeit.
Ich möchte Ihnen an zwei Beispielen verdeutlichen, warum diese Aussage leider immer noch stimmt.
Erstens. Wir Sozialdemokraten haben uns schon immer für eine verstärkte Zusammenarbeit mit der UdSSR auch im Bereich der Weltraumforschung ausgesprochen.
— Ja, ja Herr Rüttgers.
Alexander Dunayev, der Chef der sowjetischen Raumfahrtagentur Glawkosmos, betont im übrigen auch öffentlich, daß vom Bonner Forschungsministerium jede Möglichkeit einer Ost-West-Kooperation in der Raumfahrt genutzt werden sollte.
Solcher Zusammenarbeit kommt auch Bedeutung für eine neue Phase der Entspannungspolitik zu. Diese Kooperation im Weltraum gibt es schon seit längerer Zeit zwischen der UdSSR und anderen westeuropäischen Ländern. Selbst amerikanische Firmen arbeiten mit den Sowjets in Sachen Weltraum zusammen, und zwar trotz Cocom-Liste. Wo gibt es diese Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik? Während französische Astronauten — in dem Fall war es nur einer — in jüngster Zeit mit einer sowjetischen Raumkapsel MIR mitfliegen, also mit der Station, haben wir erst jetzt, obwohl schon lange konkrete Vorschläge der UdSSR vorlagen, ein Weltraumabkommen unterzeichnet. In der „Frankfurter Rundschau" vom 10. 10. 1988 lesen wir dazu:
Über diesen Entwurf sei inzwischen Einigkeit erzielt. Außenminister Hans-Dietrich Genscher habe sich damit gegen den zunächst zaudernden Forschungsminister Hans Riesenhuber durchgesetzt. Riesenhuber habe befürchtet, eine deutschsowjetische Zusammenarbeit im All könnte die inzwischen abgeschlossenen Verhandlungen mit den USA über eine gemeinsame Raumstation belasten.
Ein zweites Beispiel. Heute sind die Verhandlungen zu DARA, also zur Deutschen Weltraumagentur, immer noch nicht abgeschlossen. In der Presse und aus Ihrem Ministerium heißt es dazu: DARA-Entscheidungen vertagt, Organisationsstruktur mißfällt der Koalition, Arbeit wird nicht im Januar, sondern im März 1989 aufgenommen. — Soviel zum Management oder Mißmanagement Ihres Ministeriums.
Die SPD-Position zur bundesdeutschen Weltraumfahrt ist bekannt, die Anträge liegen ja vor. Ich verweise auf diese beiden Anträge.
Eines aber möchte ich vorwegnehmen: Es gibt natürlich in meiner Partei — wie sollte es auch in einer großen Volkspartei anders sein? — zu einzelnen Punkten unterschiedliche Auffassungen. Das werde ich auch kurz ansprechen. Das ist aber nicht nur in unserer Partei so, sondern auch bei Ihnen und auch in der CDU. Das ist nichts Neues, das haben wir bei den Ausschußberatungen so gesehen.
Zu Ariane. Beim Ariane-Programm gibt es unbestritten Erfolge. Trägersysteme wie die Ariane sind für die europäische Raumfahrt die Grundlage der kommerziellen Unabhängigkeit in der Raumfahrt. Schon heute wird die Hälfte aller Nutzlasten, deren Bestimmungsort der Weltraum ist, von Arianespace, der kommerziellen Organisation der ESA, befördert. In den Auftragsbüchern stehen 67 Starts im Gesamtwert von umgerechnet 6 Milliarden DM; Stand: Juni 1988.
— Das ist ein Erfolg. — Um auch künftig im Geschäft mit den immer größer und schwerer werdenden Satelliten konkurrenzfähig zu bleiben, sollte die derzeit in Entwicklung befindliche Ariane V gebaut werden. Warum — wird man wohl sicher noch fragen dürfen — wird Ariane bei diesen wirtschaftlichen Erfolgen noch immer mit staatlichen Mitteln gefördert?
Zu Hermes. Zu Hermes gibt es zum jetzigen Zeitpunkt wenig Neues zu berichten. Hermes wird immer kleiner und immer teurer. Die Mehrheit in meiner Fraktion ist daher der Ansicht gewesen, daß es bei seiner Fertigstellung ein bereits veraltetes System sein wird und daß Hermes auch auf Grund seiner minimalen Nutzlast keine interessanten Einsatzmöglichkeiten hat. Eine Minderheit ist allerdings der Auffassung gewesen, daß Hermes einen wichtigen Zwischenschritt zum voll wiederverwendbaren deutschen Raumgleiter Sänger bedeuten kann. Ich möchte diese beiden Positionen hier auch einmal ansprechen.
Zu Columbus. Ich sage das auch im Hinblick auf meine norddeutschen Freunde gerade aus Bremen, die auch die Interessen von MBB und ERNO mit zu vertreten haben: Der Vertragsabschluß und die vorherigen Verhandlungen über die gemeinsame Raumstation Columbus haben unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Es ist den Europäern nicht gelungen, eine rein friedliche Nutzung zu erreichen. Wie schrieb „Die Zeit" am 8. April 1988 kurz und treffend: „SDI läßt grüßen. " Wenn man Art. 9 des ESA-NASA-Ab-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8519
Fischer
kommens liest, dann findet man exakt dies bestätigt.
— Nein, lies einmal Art. 9 des ESA-NASA-Abkommens nach. Das steht dort so drin. — Da militärische Forschung bei diesem Abkommen nicht ausgeschlossen werden kann, lehnen wir Sozialdemokraten Columbus ab.
Zu DARA. Viele Fragen sind bei DARA noch offen, z. B. die Finanzausstattung, die Organisationsstruktur und die Kompetenzen des Chefs der DARA. Diese und andere wichtige Fragen sollten endlich geklärt werden, und zwar bevor man darüber streitet, wer der neue Chef der DARA sein wird.
Die Position der SPD zur bundesdeutschen Weltraumpolitik ist bekannt. Bekannt ist auch die dramatische Verschiebung im Haushalt zu Lasten zahlreicher Forschungsbereiche und zugunsten der großen ESA-Weltraumprojekte für 1989 und in der mittelfristigen Finanzplanung bis 1992. Mein Fraktionskollege Fred Zander hat diese negative Entwicklung zu Lasten vieler wichtiger Forschungsprojekte in seiner Haushaltsrede vom 23. November 1988 mit eindrucksvollen Zahlen belegt. Er hat Ihnen gleichzeitig eine Reihe von wichtigen Fragen zum Finanzmanagement und zu der Finanzkontrolle Ihres Hauses in bezug auf die ESA-Großprojekte gestellt, die bis heute noch nicht befriedigend beantwortet worden sind. Herr Minister, wir warten auf die Beantwortung unserer Fragen und auf längst fällige Entscheidungen. Ihre mit Fehlern, finanziellen Risiken, Unwägbarkeiten behaftete und durch die Belastung anderer Forschungsbereiche geprägte Weltraumpolitik können wir Sozialdemokraten nicht mittragen.
Auf der Weltraumtagung in Straßburg im April dieses Jahres, an der ich teilgenommen habe, haben Sie, Herr Riesenhuber, ausgeführt — Zitat — : „Diese drei Länder werden die Programme ... in den kommenden Jahren aktiv und kritisch verfolgen." Daß Sie aktiv und kritisch die Weltraumprogramme begleiten, muß von uns Sozialdemokraten entschieden bezweifelt werden. Seien Sie aber gewiß, daß wir gerne den kritischen Teil übernehmen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Fischer, es ehrt Sie, daß Sie in Ihrer Rede auf die sehr unterschiedlichen Auffassungen zur Raumfahrtpolitik in Ihrer Fraktion offen eingegangen sind. Als ich die Anträge im Frühjahr zum erstenmal las, habe ich mir gedacht: Schade, die Forschungspolitiker in der SPD haben einen Kampf in der Fraktion verloren.
So lesen sich auch die Anträge.
Das ist ein Dokument sozialdemokratischer Konfliktbewältigungen und nichts anderes.
Ich weiß nicht, ob die Tatsache, lieber Herr Catenhusen, daß wir das nach so vielen Monaten erst diskutieren, vielleicht auch etwas über die Einschätzung Ihres Fraktionsmanagements zu den Anträgen wiedergibt.
Man hat schlichtweg große Probleme, Herr Catenhusen, einfach nachzuvollziehen, wer bei Ihnen welche Auffassung vertritt. Ich weiß z. B., daß der Kollege Vosen, Obmann im Forschungsausschuß, für Hermes ist, Sie, Herr Catenhusen, haben sich gegen Hermes ausgesprochen. Herr Albrecht Müller, der in Sachen Raumfahrt für die Abteilung für den großen politischen Wurf bei Ihnen zuständig ist, hält das Ganze für Zinnober. Demgegenüber ist der Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier der Auffassung, daß wir dringend den Einstieg in die bemannte Raumfahrt brauchen,
und Johannes Rau, der nordhrhein-westfälische Ministerpräsident, war auch für die bemannte Raumfahrt, zumindest bis zur Standortentscheidung für die DARA.
Nun gut, ich gebe gerne zu, daß solche Debatten in keiner Partei einfach sind. Aber das mindeste, was man von einem solchen Antrag, lieber Herr Vosen, verlangen muß, ist, daß die Argumente stimmen.
Da sind leider Gottes in diesem Antrag auch nur Fehlanzeigen festzustellen.
Lassen Sie mich ein Zitat von Professor Lüst, dem Generaldirektor der ESA, bringen. Er hat in einem Brief an Ihren Fraktionsvorsitzenden, Herr Vosen, Ihren Antrag wie folgt bewertet — ich zitiere —:
Vor allem halte ich die vorgetragenen Argumente für nicht schlüssig, ja widerspruchsvoll. Darüber hinaus verläßt die SPD damit die Linie der Weltraumpolitik, die sie verfolgte, als sie noch in der Regierungsverantwortung stand.
— Ein profunder Kenner der Raumfahrt in Europa.
Und der Politikprofessor Karl Kaiser — gleichzeitig auch SPD-Mitglied — hat natürlich auch die Problemlage vom Hintergrund her einmal beschrieben, indem er gesagt hat: „Die SPD hat eine grundlegende Aversion gegen Hochtechnologie." Ich glaube, das ist auch der Hintergrund für diesen Antrag und für seine Widersprüchlichkeit.
Ich will nicht verkennen, Herr Fischer, daß es in dem Antrag Punkte gibt, über die wir uns sehr schnell
8520 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr. Rüttgers
einigen können. Wir sind gemeinsam für die friedliche Nutzung des Weltraums. Wir wollen unsere Weltraumaktivitäten im Rahmen einer wirtschaftspolitischen Gesamtkonzeption fahren. Wir sind gemeinsam für die Fortentwicklung von Ariane. Wir sind für ein Überschalltechnologieprogramm in Sachen Sanger, und die Bedeutung der Erderkundung und die Förderung von Automatik und Robotik dürfte, glaube ich, zwischen uns unstrittig sein.
Aber mit einer solchen Aussage — passen Sie auf, Herr Vosen — kann man heute eben keine Lorbeeren mehr gewinnen — und das ist das Problem Ihres Antrages —, weil eben solche Aussagen, wenn sie von Ihnen kommen, so etwas wie die Qualität einer Nulloption haben. Oder glauben Sie etwa, Sie könnten sich in einer Raumfahrtpolitik heute noch dafür feiern lassen, daß Sie für Satellitenkommunikation oder daß Sie für die abendliche Wetterkarte oder für Fernsehübertragungen von einem Ende der Welt zum anderen sind. Das gehört heute zur Selbstverständlichkeit unseres Lebens. Die Punkte, die wir gerade angesprochen haben, bilden letztlich die Voraussetzung dafür.
Aussagewert hat Ihr Antrag nur da, wo Sie nein sagen, nämlich nein zu Hermes — Sie haben es gerade vorgetragen — und nein zu Columbus. Das heißt im Klartext — und darüber, meine ich, muß man sich im klaren sein — : Die SPD ist gegen eine eigenständige bemannte Raumfahrt in Europa.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Wenn es nicht angerechnet wird, gerne.
Bitte schön, Herr Catenhusen.
Herr Kollege Dr. Rüttgers, meinen Sie nicht auch, daß man in dieser Debatte zwei Positionen unterscheiden muß? Die eine recht müßige Diskussionen, die auf ein abstraktes Ja oder Nein zur bemannten oder unbemannten Raumfahrt hinausläuft, und die andere, denke ich, wichtigere Debatte, in der es darum geht, ob das finanzielle Volumen, das jetzt in der bemannten Raumfahrt angestrebt wird, eigentlich im Gesamtkontext der Technologiepolitik zu verantworten ist, ob das die richtigen Prioritäten sind und ob nicht vielleicht in anderen Technologieförderungen wichtigere Fragen anstehen, die Priorität haben? Ist das nicht der Kern des Streites und nicht das müßige Ja oder Nein, über das wir lange philosophieren können, ohne etwas an den Positionen zu ändern?
Lieber Herr Catenhusen, ich bin sehr für Differenzierungen. Insofern haben wir ja schon viele Debatten miteinander geführt. Nur, wenn Sie Ihr Nein zu Columbus, Ihr Nein zu Hermes allein mit finanziellen Argumenten begründet hätten, dann könnten wir uns jetzt über Zahlen unterhalten.
Sie haben es aber — wie Herr Fischer gerade vorgetragen hat — mit politischen Argumenten begründet. Dazu möchte ich gleich auch noch etwas sagen.
Mit der CDU/CSU-Fraktion ist auf jeden Fall eine solche Politik nicht zu machen; denn ohne den Einstieg in die bemannte Raumfahrt verwirkt Europa seinen Anspruch auf Eigenständigkeit, auf Partnerschaft und auf Wettbewerbsfähigkeit.
Ich will jetzt einmal die Argumente Ihres Antrags unter diesen drei Punkten kurz beleuchten.
Erstes Argument: Sie halten Columbus für forschungspolitisch entbehrlich. Nun ist Columbus aber die logische Fortsetzung des Raumlabors Spacelab. Mit diesem Konzept ist die Bundesrepublik unter einem SPD-Forschungsminister ja in die bemannte Raumfahrt eingestiegen.
Es ist zwischen Fachleuten völlig unstrittig, daß wir hier Kompetenz erworben und internationale Anerkennung gefunden und damit die Grundlage für eine führende Rolle bei Columbus geschaffen haben.
Jetzt wollen Sie — das besagt Ihr Antrag — diese Entwicklung zu einem Zeitpunkt abbrechen, zu dem es gerade interessant und erfolgversprechend wird.
Damit degradieren Sie Spacelab — so bewerte ich das — zu einer weiteren Ruine sozialdemokratischer Forschungspolitik.
Der Vorsprung deutscher Hochschulen und Unternehmen in der Schwerelosigkeitsforschung würde verspielt, wenn man diesem Antrag zustimmte, und eine wichtige technologiepolitische Option wäre blokkiert.
Zweites Argument: Sie behaupten, mit Columbus seien militärische Optionen der USA verbunden. Wir haben dies mehrfach diskutiert, und Sie wissen, daß das falsch ist. Die Columbus-Elemente werden gemäß der ESA-Konvention ausschließlich zivil genutzt. Man braucht sich auch nur zu fragen, wie denn sonst die neutralen ESA-Mitglieder Schweiz, Österreich und Schweden dem Abkommen hätten zustimmen können.
Herr Fischer hat eben gesagt, wir sollten auch eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Weltraum anstreben. Dem stimmen wir zu. Aber ich bin einmal gespannt, Herr Fischer, wie Sie sich dazu äußern, wenn wir im Rahmen dieser Weltraumzusammenarbeit an die sowjetische Raumstation Mir kommen. Es ist ja nun wirklich kein Geheimnis, daß diese Raumstation von den Russen militärisch genutzt wird.
Drittes Argument: Sie lehnen Hermes ab, wollen aber die Option auf Sänger aufrechterhalten. Ich meine, verehrter Herr Kollege Fischer, daß Sie sich in diesem Punkt schon entscheiden müssen. Ohne die Erfahrungen und den Technologiegewinn bei Hermes
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Dr. Rüttgers
wird es Sänger nicht geben. Ohne Hermes wird sich Europa nur aus der bemannten Raumfahrt und damit gleichzeitig — das ist dann eine besonders schlimme Folge — aus dem Luftverkehr des nächsten Jahrhunderts verabschieden. Man kann eben nicht eine Fahrkarte für die bemannte Raumfahrt lösen, dann aussteigen und später wieder einsteigen wollen, wenn der Zug längst abgefahren ist.
Viertes Argument: Sie beklagen in Ihrem Antrag die Kosten der ESA-Großprojekte; Herr Catenhusen hat darauf gerade noch einmal abgehoben. Es ist richtig, daß die Ausgaben für die Raumfahrt-Großprojekte für den nationalen und den europäischen Technologie- und Forschungsteil bis auf 2 Milliarden DM in den 90er Jahren steigen können. Wir sind uns einig, daß das viel Geld ist. Aber ich frage Sie angesichts der Kürze der Zeit: Warum sprechen Sie nicht auch einmal über die Einnahmen? Allein die Deutsche Bundespost verbucht jährlich Einnahmen aus der Satellitenkommunikation in Höhe von 1,5 Milliarden DM.
Sie haben selbst gesagt, Arianespace verzeichne Aufträge in Höhe von 5 Milliarden DM. Davon sind 1 Milliarde DM für die deutsche Industrie.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe?
Herr Kollege Rüttgers, wie erklären Sie sich bei diesen Zahlen, die ja wohl darauf hinauslaufen, daß aus dem Plafond des Einzelplans für Herrn Riesenhuber bis zu 25 % für die Ramfahrtförderung bestimmt sein werden, daß es den Konflikt zwischen Herrn Minister Riesenhuber und Herrn Minister Stoltenberg darüber gab, wie die zusätzlichen Ausgaben für die Weltraumpolitik aus dem allgemeinen Haushalt finanziert werden können? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie ja der Meinung, daß durch die Einnahmen bei der Post Herr Stoltenberg Herrn Riesenhuber mehr Geld bewilligen könnte.
Herr Kollege Waltemathe, erstens tun wir alle gut daran, wenn wir neben der kameralistischen Betrachtung, die wir nun einmal bei den öffentlichen Haushalten haben, auch einmal mit einem Blick in andere Haushalte schauen, die auch etwas mit Weltraum zu tun haben.
— Nein, damit lenke ich nicht ab. — Das zweite ist — —
— Darf ich vielleicht einmal antworten? — Der zweite Punkt ist, daß ich mit Herrn Minister Riesenhuber der Auffassung bin, daß es notwendig ist, diesen Anteil sobald wie möglich zu senken, weil Raumfahrt — das werde ich gleich noch ausführen — nicht nur etwas mit Forschungspolitik, sondern auch etwas mit Wirtschaftspolitik und mit Außenpolitik zu tun hat und insofern lang- und mittelfristig auf jeden Fall — wenn es nach mir ginge, schon im nächsten Haushaltsjahr — hier eine Erhöhung notwendig ist. Das ist meine persönliche Meinung; ich habe sie auch als solche qualifiziert.
Dann gibt es noch einen Wunsch nach einer Frage.
Aber Sie rechnen die Zeit doch nicht an, nicht?
Ich rechne die Zeit nicht an, aber ich denke auch an die Kollegen, die hier heute Nacht noch weiter reden wollen oder müssen.
— Bitte schön, Herr Vahlberg.
Herr Rüttgers, ist Ihnen bekannt, daß es sich bei all den schönen Ergebnissen der Weltraumfahrt, die Sie hier aufgeführt haben, nämlich Erderkundung, Wetterbeobachtung usw., um Ergebnisse der unbemannten Weltraumfahrt handelt, basierend auf der Ariane, und daß im Gegensatz zu der Behauptung, die Sie hier aufstellen, die SPD-Fraktion ausdrücklich diese Weltraumprogramme unterstützt?
Wir haben wahrscheinlich Verständigungsprobleme.
— Nein, das ist nicht wahr. — Ich habe eben ausdrücklich erklärt, daß ich anerkenne, daß Sie im Bereich der unbemannten Raumfahrt mit uns auf einer Linie liegen; das habe ich ausdrücklich ausgeführt. Nur, daraus ergibt sich noch kein Argument gegen die bemannte Raumfahrt — das hatte ich ausdrücklich gesagt; da war es allerdings etwas unruhig bei Ihnen. Die Tatsache, daß wir erst etwa 800 Forschungsstunden im Bereich der bemannten Raumfahrt als Europäer im Weltraum haben, zeigt, daß man von großen Ergebnissen notwendigerweise noch nicht sprechen kann. Insofern ist es falsch, jetzt zu sagen: Ich steige bereits jetzt aus, bevor ich überhaupt die ersten Erfahrungen damit habe.
Ich möchte zu einem fünften Argument kommen, das Sie vorgetragen haben: Manche von Ihnen behaupten, die bemannte Raumfahrt sei eine Prestigesache. Dabei wird übersehen, daß sich die bemannte Raumfahrt global weiterentwickeln wird, und zwar mit oder ohne deutsche oder europäische Beteiligung. Die technischen Möglichkeiten der Raumfahrt werden sich dann erweitern, und es wird sich für uns die Frage stellen, ob wir an den technischen Möglichkeiten teilhaben wollen.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit den Großprojekten der bemannten Raumfahrt notwendige, aber anspruchsvolle Aufgaben gestellt. Sie erfordern ein professionelles Management der Projekte, eine sorgfältige Planung, eigene Programminitiativen, neue Anstrengungen zur stärkeren Beteiligung der Industrie und eine wirksame Interessenvertretung auf internationaler Ebene. Deshalb brauchen wir eine deutsche Raumfahrtagentur, und wir begrüßen die geplante Einrichtung. Die Standortentscheidung für NRW ist gefallen. Ein schlüssiges Organisationskonzept steht aber noch aus.
8522 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr. Rüttgers
Ich will hier ganz kurz die Kriterien nennen, an denen die CDU/CSU-Fraktion die Vorlage der Regierung messen wird: Die Raumfahrtagentur darf nach unserer Auffassung kein zahnloser Papiertiger werden. Sie braucht echte Kompetenzen in der Raumfahrtförderung, in der Zusammenfassung der Weltraumaktivitäten aller Ressorts und die Übertragung der Vertretung auf internationaler Ebene an die DARA. Die Raumfahrtagentur darf nicht am kurzen bürokratischen Gängelband geführt werden, sondern sie muß eigenständig, flexibel und unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten können.
Ich verhehle nicht, daß die bisher bekannten Vorstellungen diesen Kriterien nicht entsprechen. Aber auch ausgetretene Pfade müssen die beteiligten Ressorts verlassen und eine kreative Lösung finden. DARA muß ein Zeichen für die Deregulierung staatlicher Aufgaben werden. Deshalb erwarten wir eine solche Vorlage in den ersten Tagen des neuen Jahres und werden sie kritisch begleiten.
Meine Damen und Herren, es ist in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages nicht vorgesehen, sonst würde ich dem Hohen Hause empfehlen, einen so widersprüchlichen Antrag der SPD zur Weltraumpolitik einfach in die Ablage des Oppositionsführers zu überweisen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hier der übliche kleine Kreis, in dem man solche Dinge diskutiert. Ich habe heute morgen vor einer Betriebsversammlung eines High-Tech-Betriebes im Ruhrgebiet vor 500 Arbeiterinnen und Arbeitern zum Thema „neue Technologien" gesprochen. Ich werde mich darauf als konkretes Beispiel noch beziehen; denn das, denke ich, widerlegt einige der Hoffnungen, die insbesondere an die Entwicklung neuer Technologien hier geknüpft werden: 40 v. H. Produktionssteigerung mit neuen Technologien stehen 6 v. H. Arbeitsabbau gegenüber.
Daß das BMFT ein Bündel insbesondere aus Raumfahrtpolitik und Politik auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien schnürt, ist kein Zufall. Das hat meines Erachtens im wesentlichen zwei Gründe: Damit soll einerseits von den Flops der Atomenergieforschung und -förderung abgelenkt werden. Das BMFT — das alte Atomministerium — soll ein neues Image bekommen. Was bietet sich dazu besser an als Technologien, die uns neue Medien, also bunte Bilder, internationale Anerkennung, sprich: deutsche Astronauten, und klinisch saubere HighTech-Arbeitsplätze bringen?
Zweiter Punkt: Die Bundesregierung und das BMFT wollen meines Erachtens der F- und T-Politik einen neuen Stellenwert geben. Die Bedeutung des BMFT ist im Rahmen der Gesamtpolitik über die Jahre ja kontinuierlich gestiegen, zwar fast unmerklich, aber sie ist gestiegen. Sie wollen ihm einen neuen Stellenwert und eine neue Ausrichtung geben. Insbesondere mit der Raumfahrttechnik soll der Wirtschaft und der
Industriestruktur in der Bundesrepublik ein neuer, hochpotenter High-Tech-Sektor verpaßt werden. Das zielt, denke ich, insbesondere auch auf die Bedingungen, die durch den europäischen Binnenmarkt der Jahre nach 1992/93 geschaffen werden. So viel vielleicht zur grundsätzlichen Einschätzung dieser Bündelung von Forschungs- und Technologievorhaben, über die wir hier heute diskutieren.
Aber vorweg eine Bemerkung zu einem Gebiet, das ja auch auf dieser Liste erscheint, das uns als GRÜNEN besonders am Herzen liegt. Da gibt's einen Antrag der CDU „Naturmedizin erforschen und anwenden" ; das hört sich sehr gut an. Was wir aber in dem Zusammenhang sofort befürchten müssen, sind zwei Dinge. Erstens: Sie wollen die Naturmedizin an die etablierte Medizin heranführen, um sie zu kontrollieren, um kritische Ergebnisse noch besser als bisher unterdrücken zu können.
Zweitens: Sie wollen diese Ergebnisse nutzen, um sie insbesondere den potenten Pharmakonzernen in den Rachen zu werfen.
— Jawohl, das ist genau Ihre Absicht. Da bin ich ganz sicher, daß Sie das in Ihren Hinterstübchen längst so ausgekocht haben.
Zug um Zug mit dieser konzeptionellen Neuordnung der Forschungs- und Technologiepolitik tauchen über die Probleme hinaus, die wir heute schon mit Forschung und Technologie haben, verschärft zusätzliche Probleme auf.
Ich will zunächst etwas zur Raumfahrt sagen, weil das jetzt in diesem Zusammenhang meines Erachtens der gewichtigere Punkt ist. Der erste Punkt ist die Gründung der DARA. Das ist schlicht und einfach ein Witz. Wenn man das wirksam organisieren wollte, dann könnte man dazu die bestehenden Einrichtungen bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt nutzen und das entsprechend ausbauen. Das wollen Sie aber nicht. Warum? Weil das eine reine Prestigeangelegenheit ist, damit der Minister Riesenhuber, wenn er künftig draußen in der Welt herumreist, den Direktor einer nationalen Agentur und nicht einen Abteilungsleiter einer Abteilung der Deutschen Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt mit sich herumführen kann. Das ist der wesentliche Hintergrund. Wenn Sie da einmal unter praktischen Gesichtspunkten herangehen, müssen Sie sich doch sofort fragen — parallel übrigens auch im Bereich der Bundespost bei der sogenannten Poststrukturreform — , warum Sie da eine neue Bürokratie mit zusätzlichen Gemeinkosten schaffen, warum Sie da zusätzliche Erschwernisse in die Entscheidungsverfahren, so denke ich, immanent einführen. Also, irgendwo stimmt das von vorn bis hinten nicht. Das ist der erste Punkt, sozusagen vorweg.
Der zweite Punkt ist: Der wachsende Anteil der Raumfahrtforschung und -förderung am BMFT-
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Dr. Briefs
Haushalt — das ist auch von den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion verschiedentlich zu Recht moniert worden — droht den BMFT-Haushalt und damit die Zurverfügungstellung von Mitteln für wirklich sozial und gesellschaftlich notwendige und sinnvolle Zwecke buchstäblich zu strangulieren.
Das muß man sehen. Diese Gefahr bahnt sich hier weiter an.
Dritter Punkt: Wie bei der WAA besteht hier eine Gefahr. Die WAA ist ja so ein Kernstück, um den Deutschen sozusagen auf längere Sicht den Griff auf die deutsche Atombombe zu ermöglichen. Das ist ein Kern dieser Geschichte.
Und so ähnlich ist das bei der Raumfahrt: Die Raumfahrt dient dazu, den europäischen Mächten, die im Begriff sind, sich erneut — enger noch als bisher — zu formieren, die Möglichkeit zu geben, eine eigene europäische Basis, eine militärisch nutzbare Basis im Weltraum zu schaffen. Das ist, denke ich, ebenfalls im Hinterkopf. Sie hüten sich sehr bewußt und sehr sorgfältig, das irgendwo so offen anzusprechen. Ich denke, das ist ein ganz klares Ziel dieser Politik.
Vierter Punkt: Was hier geschieht — jetzt komme ich so auf etwas, was Ihnen sowieso ein bißchen ferner liegt, nämlich dazu, wie sich das auf die Situation der großen Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen in der Bundesrepublik auswirkt — , ist eine industriepolitische Inzucht. Mit der Weltraumfahrt und mit einigen anderen ähnlichen Förderungsrichtungen soll so etwas wie ein High-Tech-Sektor — ich habe es soeben einleitend schon angesprochen — geschaffen werden, in dem im Grunde spitzentechnologische Betriebe für andere spitzentechnologische Betriebe produzieren.
Die Kernprobleme — ich will sie nur kurz ansprechen — sind dabei meines Erachtens, daß dabei relativ wenig an Produkten herauskommt, die für die Bürgerinnen und Bürger nutzbar sind.
Das ist schon der erste wesentliche Punkt.
Zweiter Punkt — da können Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen — : Diese Art von Produktion kann nur wenige Arbeitsplätze zur Verfügung stellen — aus geradezu naturwissenschaftlich-technischen Gesetzmäßigkeiten heraus. Das sind hoch kapitalintensive Produktionen. Daran kann man sich nicht vorbeibewegen. Das beste Beispiel ist wieder die WAA, sozusagen das Parallelbeispiel. Da müssen für jeden einzelnen Arbeitsplatz in der WAA mehr als 5 Millionen DM investiert werden.
— Aber selbstverständlich, das ist auch eine Frage von Arbeitsplätzen. Das steht bei denen, die diese Politik betreiben — da gebe ich Ihnen recht, Kollege Catenhusen — , nicht im Vordergrund, aber das muß für uns im Vordergrund stehen, angesichts einer Massenarbeitslosigkeit, die inzwischen bei weit über 10 % liegt und im Ruhrgebiet noch erheblich höher ist. Ich meine, so — bald hätte ich gesagt „souverän", denn es ist in der Tat in gewissem Sinne konservativ-souverän, was Sie machen — kann man doch an den Interessen der Bürgerinnen nicht vorbeigehen.
Diese Produktion ist hoch kapitalintensiv; das kann kein Beitrag zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit sein. Es erfolgt in den Betrieben ein Auseinanderdividieren, ein Auseinanderreißen der Belegschaften in kleine Gruppen, Ingenieure, Entwickler, ein paar EDV-Fachkräfte usw., die dabei besser wegkommen, und normale Beschäftigte werden mehr und mehr in Teilzeitarbeitsplätze, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse usw. abgedrückt. Das füge ich an der Stelle mal hinzu.
Als Gewerkschaftler, als nach wie vor für den DGB auch freiberuflich tätiger Mitarbeiter, sage ich noch folgendes dazu:
Diese Art von Fertigung, diese Art von Produktion, diese Art von Industrie, die Sie systematisch fördern wollen, führt dazu, daß die gesetzlich verbrieften Rechte der Kolleginnen und Kollegen in Betriebsräten, in den entsprechenden Ausschüssen usw. noch zusätzlich abgebaut werden, wegen der Erfordernisse des Geheimnisschutzes und allem, was dazu noch so gehört. Das müssen Sie sehen.
Ich denke, was Sie hier machen, ist schlicht und einfach falsch. Es ist nicht nur falsch, es ist kontraproduktiv, es ist gefährlich.
Es ist übrigens — der Punkt muß auch sofort angesprochen werden — auch unter Umweltschutzgesichtspunkten gefährlich. Die Art von Betrieben, die da entwickelt wird, birgt zunehmend Umweltrisiken in sich, weil diese Art von Produktion nicht aufrechtzuerhalten und zu erweitern ist, ohne daß man zusätzlich z. B. hochgiftige Chemikalien einsetzt. Die berühmte Chip-Produktion — also „Chip" nicht als Kartoffelchip, sondern als höchstintegrierte Schaltungen — kann nur auf der Grundlage des Einsatzes von hochgiftigen Chemikalien stattfinden. Das wissen Sie. Aus dem berühmten Silicon Valley, dem Sie damit im Grundmuster nachzueifern versuchen, kommen inzwischen Berichte darüber, daß gerade von diesen Chip-Fabriken sehr beträchtliche Grundwasserbelastungen und sonstige Umweltbelastungen ausgehen.
Ich möchte Ihnen an der Stelle jetzt nur der Kürze halber auch gleich die Gegenfrage stellen. Sie argumentieren natürlich damit, daß Sie sagen: Damit schaffen wir neue Arbeitsplätze. Wo sind denn die neuen Arbeitsplätze des Bildschirmtextsystems? Da haben Sie über 1 Milliarde DM investiert, und dann sind es statt 2 Millionen erwarteter Abonnenten zum
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Dr. Briefs
heutigen Zeitpunkt gerade etwas über 100 000 geworden. Wo sind denn die neuen Arbeitsplätze? Können Sie mir das mal sagen?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bohl?
: Bitte schön.
Herr Kollege, könnten Sie mir denn sagen, um welche Beratertätigkeit es sich handelt, da ich im Bundestagshandbuch, Teil 2, eine solche Angabe nicht finde?
Diese Angabe ist im Bundestagshandbuch enthalten. Es ist keine Beratertätigkeit, sondern es ist eine Tätigkeit als freiberuflicher Mitarbeiter. Das ist etwas anderes. Ich bin gern bereit, Ihnen das gleich zu erläutern.
Ich nehme an, daß mir das nicht von meiner Zeit abgezogen wird. Das ist dort enthalten; ich sage es Ihnen gleich.
Ich will jetzt die verbleibende kurze Zeit nutzen, um ein paar grundsätzliche Dinge zur Auffassung der GRÜNEN zu sagen. Wir sind deshalb gegen diese forcierte Politik, weil sie in sich nicht stimmt. Sie kann die Wachstumshoffnungen nicht erfüllen, die Sie damit verfolgen. Wenn sie sie erfüllen könnte, wäre es verheerend, will ich dazu sagen, denn das würde uns die Umweltprobleme, die wir ohnehin schon haben, verschärfen.
Was wir wollen — ich sage es mal ganz klar und hart — , ist ein radikaldemokratischer Umgang. Wir wollen parlamentarische Kontrolle in einer viel wirksameren Weise als bisher, eben nicht von der Industrie — wie beim Informationstechnik-2000-Programm — praktisch diktierte Inhalte, Programme, die sich das BMFT von der Industrie vorschreiben läßt. Das wollen wir nicht, das muß ganz anders werden. Da müssen alle betroffenen Gruppen einbezogen werden, auch die Industrie, sage ich dazu, aber auch die BürgerInnen, insbesondere die Beschäftigten, die Gewerkschaften. Das sollten Sie sich mal zu eigen machen; das wäre eigentlich eine demokratische Selbstverständlichkeit. Bei Ihnen fehlt das.
Es fehlen Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen an den Arbeitsplätzen, also Arbeitsplatzabbau, Kontrolle und Überwachung. Was gut wäre, in dem Zusammenhang unerläßlich ist, auf längere Sicht, denke ich, in jedem Fall durchgesetzt wird, ist der Ausbau der Mitbestimmungsrechte sowohl der Beschäftigten wie auch der Betriebsräte und Personalräte. Insbesondere ist eine andere Forschungs- und Technologiepolitik notwendig, die sich frühzeitig auf die mit neuen Techniken verbundenen Risiken einstellt und diese nach besten Kräften und besten Möglichkeiten zu ergründen versucht. Sie blockieren die Technologiefolgenabschätzung. Die Technologiefolgenabschätzung ist nun allerdings nur eine Vorfeldaktivität. Die Politik beginnt erst jenseits. Aber sie muß her. Was notwendig ist, sind andere Prioritäten der F- und T-Politik.
Notwendig ist eine Verlagerung von Prioritäten und Finanzmitteln nicht in die Richtung, wie Sie es jetzt vorhaben — Raumfahrtförderung und I- und K-Technologien —, sondern in die Richtung, die dazu beiträgt, die ganz dringenden Probleme — sowohl die Arbeitsmarktprobleme wie insbesondere auch die Umweltprobleme — zu lösen.
Ich denke, mit diesen kurzen Anmerkungen ist das Wesentliche gesagt.
Danke schön!
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute eine sogenannte forschungspolitische Debatte, die sich dadurch auszeichnet, daß wir die verschiedensten Themen hier diskutieren sollen. Ich stehe jetzt vor dem Problem, mit der geringen mir zur Verfügung stehenden Zeit nun einige Aspekte zu den verschiedensten Themen hier vortragen zu sollen. Ich will deswegen versuchen, das in zwei Abteilungen zu machen, und mich deshalb zunächst mit den Fragen der Weltraumpolitik und der Raumfahrt, die ja hier in der Diskussion bisher einen breiten Raum eingenommen hat, auseinanderzusetzen.
Ich will dazu nur sagen, daß sich für die FDP die Raumfahrtpolitik der Bundesrepublik Deutschland in einem längerfristigen staatlichen Programm darstellt, das als 5. Weltraumprogramm derzeit zur Fortschreibung ansteht. Dieses Weltraumprogramm soll vornehmlich den Interessen der Bundesrepublik Deutschland dienen — ich hoffe, darin sind wir uns doch einig — , sich aber gleichwohl auch unter übergeordneten Gesichtspunkten und Zielsetzungen den internationalen Programmplanungen einfügen. Und dies wird deutlich durch unsere Beteiligung und Einbeziehung in die Europäische Raumfahrtagentur.
Wir wollen ein schlüssiges Konzept, das folgenden grundsätzlichen Anforderungen genügt: Erstens der Erschließung der Nutzbarkeit des Weltraums für Aufgaben der staatlichen Vorsorge, für Wissenschaft und Forschung und auch für Wirtschaftstätigkeit — ausschließlich unter der Prämisse, wie sie in den ESA-Statuten steht, nämlich für friedliche Zwecke.
Zweitens meinen wir, daß auch die Sicherung des Zugangs zum Weltraum notwendig ist, und zwar durch Bereitstellung von oder Zugriff auf Boden, Transport- und Weltrauminfrastrukturen sowie durch Aufbau und Erhaltung des erforderlichen System- und Managementwissens mittels einer wissenschaftlich-industriellen Fachbasis.
Drittens nenne ich die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von Industrie und Wirtschaft in praktisch allen Branchen als Folge hoher Anforderungen an die jeweilige Leistungs- und Innovationstätigkeit in neuartigen und komplexen Systemzusammenhängen. Und, Herr Briefs, ich will mich nicht im Detail mit
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Dr.-Ing. Laermann
Ihren Ausführungen auseinandersetzen. Ich wüßte gar nicht, wo ich da ansetzen sollte. Es war im übrigen nichts Neues dabei. Also einige Argumente habe ich zum dritten Mal von Ihnen gehört.
Sie müßten mal unterscheiden zwischen Arbeitsplätzen im Produktionsbereich und solchen, die im erweiterten tertiären Bereich anfallen. Sie haben sie ja genannt. Oder sind etwa Arbeitsplätze für Ingenieure und Techniker, die in der Entwicklung, im Design und im Management tätig sind, keine Arbeitsplätze? Ich möchte wissen, daß Sie das einmal zusammenbringen.
Wir sehen also die Notwendigkeit eines solchen 5. Weltraumprogramms auch in bezug auf die internationale Zusammenarbeit auf bilateraler und multilateraler Basis. Herr Kollege Fischer, genau da ist ja auch der Ansatzpunkt, daß wir auch die Kooperation mit der Sowjetunion — wie sie angeboten und ja vereinbart worden ist — suchen. Nur wundere ich mich über Ihre Argumentationskette. Die Schlüssigkeit vermisse ich da. Sie erklären auf der einen Seite, Sie seien gegen bemannte Weltraumfahrt. Und auf der anderen Seite kritisieren Sie den Forschungsminister, daß er nicht schon längst auf das Angebot der Sowjetunion eingegangen ist, sich an der bemannten Weltraumfahrt zu beteiligen. Also dies paßt ja nun weiß Gott nicht zusammen.
Durch die Beschlüsse der Bundesregierung und der ESA-Ratskonferenzen auf Ministerebene von Rom und Den Haag — schließlich bekennen wir uns zu Europa — sind mit der Beteiligung der Bundesrepublik an den drei Großprojekten ,,Ariane 5", „Hermes" und „Columbus" bereits weitreichende inhaltliche und zugegebenermaßen auch finanzielle Marksteine für das 5. Weltraumprogramm der Bundesrepublik Deutschland gesetzt worden, ohne daß damit jedoch das Programm in seiner Gesamtheit bereits abschließend definiert wäre.
Die Entwicklung der deutschen Programmvorstellungen in einem klaren Weltraumkonzept muß nun möglichst bald zu Ende gebracht werden, damit es als kalkulierbarer Maßstab und als Orientierungslinie für die Dispositionen in Wissenschaft und Wirtschaft sowie bei den internationalen Partnern ebenso dienen kann wie für die Planungen der vorhandenen Expertenteams bei den bereits in Arbeit befindlichen Raumfahrtprojekten.
— Na ja, Herr Kollege Vosen, ich habe hier ausdrücklich gesagt, worum es geht. Ich will im einzelnen noch einmal darauf zurückkommen, was die Situation der DARA, der deutschen Raumfahrtagentur betrifft.
Für die Entwicklung derartiger Weltraumprogramme sowie für die Planung, Koordinierung und Durchführung von Weltraumprojekten benötigt die Bundesrepublik Deutschland eine Raumfahrtagentur. Da sind wir sicher einig. Diese muß so konzipiert sein, daß sie den Erfordernissen dieser Aufgaben entsprechen kann und auf der internationalen Ebene als gleichwertiger und durchsetzungsfähiger Partner Anerkennung findet. Deswegen tritt die FDP für die Einrichtung einer deutschen Agentur für Raumfahrtangelegenheiten ein.
Die notwendigen Schritte zur Schaffung der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen sollen unverzüglich eingeleitet werden. Kompetenzausstattung, rechtliche Konstruktion und Gestaltung der Finanzierung sind entscheidende Randbedingungen für die dringend benötigte Effizienzverbesserung bei der Planung und Durchführung des Managements staatlicher Raumfahrtprogramme. Teilweise widerstreitende Teilziele wie Flexibilität auf der einen und Kontinuität auf der anderen Seite müssen von der Organisationsform in geeigneter Weise aufgefangen werden.
Es muß darauf ankommen, die organisatorischen Randbedingungen so zu setzen, daß den Interessen der Bundesrepublik Deutschland auf diesem Gebiet bestmöglich entsprochen werden kann. Raumfahrtaktivitäten sind zumeist in Langfristprogramme eingebunden. Demzufolge wird ein langfristiges, die erforderliche Kontinuität gewährleistendes Management benötigt, das von kurzwelligen Turbulenzen des aktuellen politischen Geschäfts weitgehend entkoppelt ist.
Andererseits muß auch gewährleistet werden, daß die neue Agentur die erforderliche Erneuerungs- und Anpassungsfähigkeit an jeweilige Aufgabenstellungen erhält, damit Parkinsonsche Auswüchse und Verknöcherungseffekte hier von vornherein vermieden werden. Wir wollen keine Bürokratie,
wir wollen keinen ausufernden Bürokratismus. Die einzelnen Essentials brauche ich hier nicht zu wiederholen, die hat der Kollege Rüttgers hier vorgetragen.
Das sind die Punkte, die hier beachtet werden müssen, wenn es darum geht, wie die Organisationsstruktur und die finanzielle Ausstattung dieser DARA letztendlich aussehen wird.
Wir sind auf diese Grundsätze fixiert, und wir erwarten, daß nach diesen Grundsätzen hier uns endgültig Konzeptionen vorgetragen und vorgelegt werden.
Deswegen hat die Koalition den in den Ansätzen bekannt gewordenen Überlegungen, wie eine solche Organisationsstruktur aussehen soll, nicht folgen können. Ich sage das hier ausdrücklich, weil Sie diese Dinge wohl mit verfolgt haben. Damit halten wir auch nicht hinter dem Berg zurück. Wir möchten, daß wir hier zu einer schlagkräftigen, konzeptionellen Einheit kommen, die dann auch mit Kompetenz in den internationalen Gremien auftreten kann. Dies möchte ich hier an dieser Stelle zu DARA sagen.
Vielleicht lassen Sie mich abschließend — eine Sekunde, Herr Präsident — sagen: Es gibt einen Scherz. Die Italiener meinen, daß wir die Raumfahrt zum
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Dr.-Ing. Laermann
Ruhme der Beteiligten brauchen; die Franzosen brauchen sie zum Ruhme der Nation; Großbritannien braucht sie aus kommerziellen Zwecken, und die Deutschen wissen noch nicht warum, sie müssen sich noch entscheiden. Wir meinen, daß wir uns nun sehr bald entscheiden müssen.
Ich danke Ihnen.
Das muß eine seltsame Sekunde gewesen sein — aber interessant. Herr Vahlberg ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Rüttgers hat hier ausgeführt, die Forschungspolitiker der SPD-Fraktion seien die Verlierer in der Weltraumdebatte — fraktionsintern — gewesen. Das ist nicht so, Herr Rüttgers, denn das, was als Antrag hier vorliegt, ist das Ergebnis der Diskussionen der Forschungspolitiker der SPD. Wir haben uns mit unseren Vorstellungen in der Fraktion durchgesetzt
und Sie liegen, wenn ich das inhaltlich etwas präzisieren darf, falsch, wenn Sie uns als Weltraumfeinde hier apostrophieren.
Sondern: Wir haben erstens ein klares Ja gesagt zur unbemannten Weltraumfahrt und zu dem Trägersystem Ariane; das haben wir schon in Rede und Gegenrede hier erörtert. Wir haben auch grundsätzlich ein Ja zur bemannten Weltraumfahrt gesagt. Wir wollen die D-Missionen weiterführen, und wir verschließen uns auch nicht weiterführenden Überlegungen Richtung „Sanger" usw. Wir haben unsere Bedenken angemeldet, was die zwei Projekte Hermes und Columbus anlangt. Dies ist nicht ein grundsätzliches Nein zur bemannten Weltraumfahrt, kein Nein für alle Ewigkeit.
Ich will die Gründe, die uns bewogen haben, zu Hermes und Columbus nein zu sagen, hier nicht weiter ausführen; das ist schon geschehen. Im übrigen soll ich zur Informationstechnik 2000 reden, zu dem Programm oder zu dem hoffentlich irgendwann vorliegenden Programm.
Wir haben nur die Sorge, weil Sie von Verlierern sprechen, daß letztlich der Bundesminister und die Bundesregierung Verlierer bei dem Mittelverzehr sein werden, der bei der Weltraumfahrt zu erwarten ist, daß eben andere Projekte, zielorientierte Projekte wie die Entwicklung regenerativer Energien, Energieeinsparen, aber auch so etwas wie Programme im Bereich Informationstechnik bei der Situation, die die Weltraumfahrt schafft, unter die Räder kommen.
Herr Bundesminister, Sie wissen selbst, daß Sie und Ihr Haus auf dem forschungspolitischen Feld der Informationstechnik zur Zeit kein überzeugendes Bild abgeben, unaggressiv ausgedrückt.
Ende dieses Jahres läuft der alte Bericht aus, und weder das Parlament noch die Industrie, noch andere
wichtige interessierte Organisationen, wie etwa Gewerkschaften oder Kirchen, wissen bis jetzt, wohin die Reise in den 90er Jahren gehen soll. Ich fürchte, auch Sie wissen dies bis zum heutigen Zeitpunkt nicht. Dabei mußte Ihnen klar sein, daß es zu einer solchen Debatte wie jetzt über die Informationstechnik kommen würde, denn: Erstens. Sie konnten wissen, daß der 31. Dezember 1988 mit Sicherheit kommt, Auslaufen des alten Berichts. Zweitens. Die vier Berichte zur Informationstechnik der Arbeitskreise der Industrie liegen seit rund anderthalb Jahren vor; die Industrie hat also ihre Vorstellungen entwickelt. Der QueisserBericht, auf dem diese vier Berichte basieren, liegt seit, ich glaube, Herbst 1985 vor. Drittens. Der Ausschuß für Forschung und Technologie hatte den Punkt Informationstechnik 2000 in diesem Jahr dreimal auf der Tagesordnung und hat damit sein ganz besonderes Interesse an diesem Thema bekundet.
Nun haben Sie in der Sitzung des Ausschusses am 9. November angekündigt, der Bericht werde voraussichtlich im ersten Quartal 1989 von Ihnen vorgelegt werden, nachdem sie ihn schon einmal für den Frühsommer angekündigt hatten. Wir hoffen, daß es bei dem jetzigen Termin bleibt: erstes Quartal 1989. Wir hoffen, daß sich die zusätzliche Zeit, die Sie gebraucht haben, auf die Qualität des Berichts und die darauf fußenden Programme auswirken wird.
Mit unseren Sorgen wollen wir dennoch nicht hinter dem Berg halten, die Sorgen nämlich — das habe ich eben schon angedeutet — , daß die Informationstechnik als die entscheidende Schlüsseltechnik für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht den gebotenen Platz bekommen wird, der ihr gebührt, und daß Ihr Ministerium zu einem Raumfahrtministerium degeneriert.
Dabei besteht ja — wenn ich die GRÜNEN, Herrn Briefs, einmal ausnehme — bei allen Fraktionen Einvernehmen darüber, daß auf den Feldern Mikroelektronik , Informationsverarbeitung, Kommunikationstechnik, aber auch in ausgewählten Bereichen der Unterhaltungselektronik, wenn ich an den hochauflösenden Bildschirm denke, Förderprogramme notwendig und sinnvoll sind. Bei wichtigen Projekten, wie etwa dem 4-Megabit-Projekt JESSI hüllen Sie sich nach wie vor in undurchdringlichen Nebel. Herr Briefs, wenn Sie zu Recht sagen, im Silicon Valley gibt es große Umweltprobleme bei der Chip-Fertigung, dann müssen Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß es durchaus Substitutionsstoffe gibt, durch die man heute giftige Stoffe ersetzen kann.
— Doch, kann man ersetzen.
Herr Briefs, wir haben uns im Ausschuß darüber auseinandergesetzt, daß diese Chip-Produktion wichtig ist, und daß es auch wichtig ist, von einem 1-Megabit-Chip zum 4-Megabit-Chip zu kommen. Das ist eigentlich unumstritten, wenn ich Sie einmal ausnehme. Vielleicht aber gelingt es uns noch, auch Sie von der industriepolitischen Bedeutung dieses Projekts zu überzeugen.
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Vahlberg
Sie wissen, Herr Minister, die SPD-Fraktion unterstützt Sie bei allen plausiblen Programmen auf diesem Gebiet.
Das Folgende noch einmal an Ihre Adresse, Herr Rüttgers: Wir sind keine Feinde der Hochtechnologie. Ganz im Gegenteil: Wir bedauern, daß nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt das I & K-Technikprogramm 2000 zur Beratung auf dem Tisch gelegen hat.
— Nein, es war gar nicht anders. Solange ich zu diesem Punkt rede, ist es so, wie ich es hier darstelle.
An Zeiten vorher kann ich mich deshalb nicht erinnern, weil ich nicht eingebunden gewesen bin. — Lachen Sie nicht so, Herr Laermann.
Wir erwarten dann allerdings auch, daß Sie sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Technik intensiv beschäftigen; sie sind ja nicht gering zu achten. Diese Auswirkungen sind ganz erheblich für die Arbeitswelt, für den Datenschutz, wo Probleme hier noch gar nicht angedacht sind, aber auch für den Komplex Datensicherheit, der bisher in den Diskussionen keine Rolle gespielt hat.
Offensichtlich bedarf es erst spektakulärer HackerAngriffe auf sensible Programme und Datenbestände, um die besonderen Gefahren, die sich aus der informationstechnischen Vernetzung unserer Welt ergeben, zu erkennen. Wie immer: Wahrscheinlich muß das Kind im freien Fall den Brunnen durchmessen haben, bis man sich eines solchen Problems annimmt.
All diese Fragen müßten mit den gesellschaftlichen Gruppen — also mit Gewerkschaften, Kirchen usw. — diskutiert werden. Wenn ich mich allerdings daran erinnere — hier setzt mein Erinnerungsvermögen wieder ein, Herr Laermann — , daß 1984, als das jetzt auslaufende Programm diskutiert wurde, die Gewerkschaften in diese Diskussion nicht eingebunden waren, dann zweifle ich an Ihrem Problembewußtsein und Ihrer Kooperationsbereitschaft. Allerdings muß ich hinzufügen: Die Tatsache, daß wir heute einen Antrag vorliegen haben, in dem all diese Punkte behandelt werden, gibt Ihnen die Möglichkeit, durch Zustimmung unsere Zweifel auszuräumen.
Ich will noch ein paar Anmerkungen zu dem Antrag „Fortführung der Steuerbegünstigung für Erfinder" auf Drucksache 11/3101 machen; ich will diesen Antrag begründen. Wir fordern, daß die Bundesregierung die Steuervergünstigungen über den 31. Dezember 1988 hinaus gewährt.
Die Vergünstigung besteht erstens darin, daß die freien Erfinder ihre Verluste während der Forschungsphase steuermindernd geltend machen können. Sie werden damit völlig zu Recht als natürliche Personen den juristischen Personen, also Firmen, gleichgestellt, die ihre Aufwendungen im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprozesses ja auch steuermindernd geltend machen können. Wir wollen zweitens, daß der steuerliche Freibetrag für Arbeitnehmererfinder beibehalten wird.
Mit diesen steuerlichen Vergünstigungen, die übrigens noch aus der Zeit Ludwig Erhards stammen, sind viele Anreize zu erfinderischer Tätigkeit gegeben worden; zumindest ist die Arbeit der Erfinder erleichtert worden.
Wer sich einmal, meine Damen und Herren, selber davon überzeugt hat, mit welcher Leistungsbereitschaft und mit welcher Aufopferung Erfinder ihre Ideen entwickeln und verfolgen, wer weiß, wie sie ihr ganzes Vermögen, ihr Haus, ihre Altersversorgung in diese Sache einbringen, sich und ihre Familien zum Teil verschulden, höchsten Belastungen aussetzen, für den ist die kaltschnäuzige Abfertigung durch die Bundesregierung mit dem Argument, bei der Steuervergünstigung gebe es Mitnahmeeffekte, blanker Zynismus.
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluß kommen.
Wir wollen also, daß dieses Programm fortgeführt wird. Wir glauben, daß die kleine Schar der Erfinder, die keine mächtige Lobby hat, darauf einen Anspruch hat. Wir bedauern es audrücklich, daß Sie sich an dieser kleinen Schar der Erfinder, die sehr viel für die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft tut, schadlos halten.
Das Wort hat der Abgeordneten Maaß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe eben schon einen Schreck bekommen. Ich dachte, Herr Vahlberg, da kommen noch einige Punkte. Aber tatsächlich ist in Ihrer Rede kaum etwas da, auf das ich eingehen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß versuchen, hier zu begrenzen, und möchte den gesamten Bereich der Informationstechnik aufrollen. Hier sind einige Behauptungen in den Raum gestellt worden, die eigentlich einer Korrektur bedürfen.
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung hat 1984 den ersten zusammenfassenden Bericht zur Informations- und Kommunikationstechnik vorgelegt. Wir wissen, daß die technologische Entwicklung in der Vergangenheit rasant vonstatten gegangen ist. Wir wissen auch, daß wir neuen Herausforderungen begegnen müssen. Aus diesem Grunde bedanken wir uns und finden es auch vernünftig und richtig, daß der Bundesminister für Forschung und Technologie seine Zusage hier deutlich gemacht hat, in den nächsten Monaten eine Fortschreibung des IT-2000-Berichtes vorzulegen.
Lassen Sie mich kurz auf den Antrag der SPD eingehen. Hier wird die Behauptung erhoben, daß die Gewerkschaften und andere gesellschaftlich rele-
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Maaß
vante Gruppierungen nicht zu Wort gekommen sind.
Das stimmt leider nicht, lieber Herr Kollege Vosen,
Tatsache ist, daß auch an den DGB eine Einladung ergangen ist. Nur hat sich der DGB bislang lediglich über die Presse dazu geäußert, ohne einen konstruktiven Vorschlag zu machen. Die Tür ist nicht zu. Aber ich glaube, es wäre sinnvoll, bevor man engagiertes und konstruktives Industrieinteresse auf den Tisch bekommt, auch vom DGB konstruktive Vorschläge zu erhalten. Die sind nicht da.
Die müssen nachgeliefert werden.
Meine Damen und Herren, weitere Punkte, die von der SPD hier vorgetragen werden: sozial-, datenschutz- und umweltschutzrechtliche Aspekte. Ankündigung von Riesenhuber — ich bin sicher, daß sie realisiert wird —, 9. November im Ausschuß; Verzahnung von europäischen Programmen ESPRIT und RACE, angekündigt und umgesetzt im künftigen IT-
2000-Programm. Nächster Punkt: Grünbuch für die Telekommunikation. Auch hier gilt die verbindliche Zusage des Ministers. Und so weiter, und so weiter.
Meine Damen und Herren, damit können wir den Antrag der SPD zu den Akten legen.
Lassen Sie mich aber, da mir die Sache sehr wichtig ist, auf einige Kernpunkte eingehen, die wir vom IT-
2000-Fortschreibungskonzept erwarten.
Wir müssen die Entwicklung, die jetzt vor uns liegt, als unerhört große Chance betrachten. Hier müssen bestimmte Eckpfeiler realisiert werden:
Erstens die Schaffung geeigneter Normen und Standards zumindest EG-weit, europaweit.
— Danke schön. — Zweitens. Ich glaube, daß auch hier kein Dissens besteht. Herr Queisser äußerte, daß wir bis zum Jahre 2000 einen Fehlbedarf von ca. 40 000 Informatikern haben. Das ist eine rasante Herausforderung, erstens für die Wirtschaft, zweitens für die Wissenschaft und drittens auch für Politik. Hier müssen neue Wege gegangen werden, um diesen Bedarf zu decken.
Drittens. Ich höre die heftige Kritik, hier würden nur die Großen gefördert, die Kleinen würden vergessen. Meine Damen und Herren, es gibt immer wieder ganz bestimmte Projekte, die Sie nur mit der Großindustrie machen können. Das ist ein Faktum. Das muß man zur Kenntnis nehmen. Dennoch fordern wir auch in diesem Zusammenhang, daß dann eine breite Förderung und Unterstützung der mittelständischen Unternehmen sichergestellt sein muß. Eine Forderung der Union ist, bei dem IT-2000-Konzept deutlich zu sagen: Wie ist die Mittelstandskomponente?
Nächster Punkt. Ich sprach vorhin von einer großen Chance. Die Chance liegt darin, wirtschaftliche Rahmenbedingungen durch steuerliche Anreize im innovativen Bereich und durch Handelspolitik zu realisieren. Hier müssen Weichenstellungen vorgenommen werden. Wir müssen es als Chance verstehen, daß wir die Möglichkeit haben, 1992 einen europäischen Binnenmarkt zu bekommen.
Ich denke daran, daß wir noch vor wenigen Jahren an dieser Stelle gesagt haben: Die Bundesrepublik Deutschland hat zu kleine Marktsegmente. In einem kleinen Markt können wir nicht wirklich große Technologiesprünge machen: damit können wir den USA und Japan kaum widerstehen. Hier haben wir die Chance, daß wir endlich sowohl mit der Wirtschaft als auch mit der Wissenschaft zusammenarbeiten können.
Der nächste Punkt ist die Schaffung einer nationalen und europäischen Telekommunikationsstruktur. Ich nenne natürlich auch den gesamten Bereich der Sozialverträglichkeit.
Aber lassen Sie mich auf die Telekommunikationsinfrastruktur zurückkommen. Genau da fängt das Gezeter auf Ihrer Seite an, indem Sie sich gegen die Neuorganisation der Deutschen Bundespost wehren. Alles, was darangeht, Reformen, neue Strukturen zu schaffen, wird von Ihnen entweder kritisiert oder Sie sagen: Laßt uns das bitte in Bundesländern machen, die eine SPD-Regierung haben. Und dann bleiben Sie auf der halben Strecke der Realisierung stehen.
Ich darf hier einige Stichworte sagen. Wir haben die Brüter-Diskussion in Kalkar. Ich will gar nicht darauf eingehen.
Vor wenigen Tagen ging der Kollege Austermann darauf ein, daß — —
— Lieber Kollege Vahlberg, heute abend werden noch viele andere Kollegen reden. Lassen Sie uns den Dialog im Ausschuß fortsetzen. Ich halte es für unfair, wenn wir diese Zeit jetzt verlängerten.
Stichwort „Schleswig-Holstein" : Noch vor wenigen Wochen mußte die Regierung Engholm überzeugt werden, daß sie zum Thema „Sauberer Fluß" hier eine akzeptable Vorlage einbringen müsse.
Weitere Stichworte: Die Schnellbahnstrecke Transrapid soll nach Nordrhein-Westfalen kommen. Aber man ist nicht in der Lage, sich jetzt schon konkret zu äußern, wie man so etwas realisieren will.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8529
Maaß
Stichwort „regenerative Energien" : Es wird nur gezetert, geschrien und geschimpft, und die Pilotprojekte stehen in CDU-regierten Bundesländern.
Sie können das alles fortführen.
Ich bin dankbar und froh, daß wir die DARA, die Deutsche Weltraumagentur, als Bundeseinrichtung haben, daß wir sie in den Köln-Bonner Raum und damit in die unmittelbare Nähe der Bundesregierung bringen können.
Würde sie nach Düsseldorf kommen, wäre der Absturz jetzt schon vorprogrammiert.
— Meine lieben Freunde der SPD, lassen Sie mich doch darauf eingehen. Manchmal hat man den Eindruck, daß Sie ein Verhältnis zu den neuen Technologien haben wie Herr Honecker zu Perestroika und Glasnost. Das muß man doch mal nüchtern sehen.
Meine Damen und Herren, ich darf in diesem Zusammenhang auch einmal auf das Stichwort JESSI eingehen. Ich glaube, in der öffentlichen Diskussion ist die Tragweite und die Bedeutung dieser Institution noch gar nicht bekannt. Wir sollten versuchen, hier möglichst schnell vernünftige Konturen zu schaffen. Das ist ein Projekt, für das in den nächsten sieben Jahren über den großen Daumen ungefähr 7 Milliarden DM aufgewandt werden. Hier muß meiner Meinung nach einiges geändert und korrigiert werden.
Die Industrie muß erstens wissen, was sie will.
Die Industrie muß wissen, was es kostet und in welchem Zeitraum es realisiert werden soll.
Der Staat muß seine Beteiligung definieren. Staat und Industrie müssen definieren, unter welchen strukturpolitischen Gesichtspunkten sie Standorte auswählen. Ich habe den Eindruck, daß die ganze Diskussion eher verkehrt herum geführt wird, daß wir bereits heute über Standorte diskutieren — —
— Ihre SPD-Landesregierung in Schleswig-Holstein macht uns das im Grunde genommen vor.
Hier müssen wir anfangen.
Ein weiterer Punkt: Jetzt bemüht sich sogar noch Herr Rau um JESSI.
Das wird doch auch wieder ein Absteigeprojekt, wenn wir das in Ihre Verantwortung bringen.
Erstens muß sichergestellt sein: Die Reihenfolge muß sinnvoll sein. Zum zweiten muß beachtet werden: Es ist ein Industrieprojekt mit europäischer Dimension.
Es ist kein Staatsprojekt mit industrieller Beteiligung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich — es ist leider durch die Zusammenstellung der Tagesordnungspunkte nicht zu vermeiden — auf die Erfindervergünstigungen, steuerliche Vergünstigungen, eingehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen uns hier einmal klarmachen — ich sage das ganz ohne Emotionen — , daß die Forschungspolitiker der Union klipp und klar gesagt haben, daß sie mit der Streichung nicht einverstanden sind. Dennoch müssen wir die Argumente, die in der Diskussion angeführt worden sind, akzeptieren. Herr Vahlberg, alte Gesetze müssen nicht immer gute Gesetze sein. Sie sagten, diese Gesetze oder Gesetzesvorlagen resultierten aus der Zeit von Ludwig Erhard. Nein, sie sind wesentlich älter. Sie hätten besser recherchieren sollen. Sie stammen aus den Jahren 1943 und 1944. Es sind Erlasse und Sonderregelungen des damaligen Reichsministers der Finanzen.
Wir wissen — und da müssen ja auch Sie mir zustimmen — , daß wir hier Mitnahmeeffekte gehabt haben
und daß wir nicht überzeugt sind, ob wir über diesen Weg tatsächlich Innovations- und Erfindungsprozesse in Gang setzen können.
Aus dem Grund ist der Wegfall durchgeführt worden, und zwar mit der Begründung, Einzelprivilegierungen jetzt herauszunehmen, aber die gesamte Steuerstruktur zu korrigieren.
Hier bin ich so ehrlich und offen — ich glaube, das gibt auch bei Ihnen einen Pluspunkt — , zu überlegen, ob man diese Strukturreform, die erste Strukturreform der Steuergesetzgebung, dieses Ziel erreicht hat. Ich gehe sogar so weit — wir werden es als Merkposten festhalten — , daß im Rahmen der zweiten Strukturreform, nämlich dort, wo wir die Unternehmensbesteue-
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Maaß
rung strukturieren und aufs neue reformieren wollen, diesen Aspekt mitberücksichtigen sollen.
— Nein; er soll redlicher und vernünftiger sein.
Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt eingehen. Er ist mir wichtig genug. Es ist das Stichwort Naturmedizin. Sie wissen, daß wir von der Regierungskoalition diesen Antrag vorgelegt haben.
Wir betreiben ihn nicht als Schaugeschäft, wie es hier unterstellt worden ist, sondern weil es ein öffentliches dringendes Anliegen ist.
Wir halten es für bedeutungsvoll und wichtig, hier einmal die Spreu vom Weizen zu trennen und hier deutlich zu machen, daß dieser Sektor nicht pauschal als Scharlatanerie verteufelt werden kann.
Da mir die Zeit jetzt wirklich etwas fehlt und mir der Punkt so wichtig ist, sage ich schon an dieser Stelle, daß wir, die CDU/CSU — und ich bin sicher, daß der Koalitionspartner hier mitstimmen wird — , diesen Punkt in den nächsten Wochen und Monaten intensiv beraten und dazu auch eine Anhörung machen werden, um hier Leitlinien für die Zukunft aufzustellen.
Ich komme zum Schluß. Ich muß Ihnen eines sagen: Die Vorträge und die Anträge der Kollegen der SPD sind kleine Fragmente, die am Kern und am Ziel der wesentlichen Strukturierung vorbeigehen. Wir ergehen uns hier nicht in Problembeschreibung, Problemdramatisierung oder Problemen der Verunsicherung der Öffentlichkeit, sondern wir sind angetreten, Problemlösungen zu präsentieren.
Diese Regierungskoalition bringt Problemlösungen. Wir werden damit die Weichen stellen für die Zukunft: für die 90er Jahre und für das Jahr 2000.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir haben heute eine große Anzahl von Vorlagen, die einen Querschnitt der Arbeit darstellen, und wir können nicht alle im einzelnen behandeln.
Herr Maaß ist auf die Frage der Naturheilkunde und der unkonventionellen Therapien eingegangen. Das ist eine Frage, an der wir uns seit vielen Jahren mit ganz unterschiedlichen Ansätzen heranzuarbeiten versucht haben. 1980 gab es einen Antrag zu unkonventionellen Krebstherapien, der von der Union eingebracht war. Er wurde von allen Fraktionen des Hauses verabschiedet. Er wurde nicht sehr stark umgesetzt — um es höflich zu sagen — unter früheren Ministern für Forschung und Technologie. Wir haben dies aufgegriffen. Wir haben zur Zeit für 7 Millionen DM Projekte unterwegs. Wir haben Witten-Herdecke zur Projektträgerschaft für ein Gebiet gewonnen, an das sich andere nur sehr zäh herangemacht haben. Wir haben im neuen Gesundheitsforschungsprogramm die Naturheilkunde als einen Punkt aufgenommen, den wir angehen wollen.
Wir streben an, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Universitäten, die Max-Planck-Gesellschaft zu einer Diskussion zu gewinnen, die über die Grenzen der klassischen Medizin hinausgeht und für neue Fragen aufgeschlossen ist — nicht mit der Absicht, jetzt alles in der klassischen Weise zu verwissenschaftlichen, aber doch Brücken zwischen unterschiedlichen Bereichen zu schlagen, wissend, daß alles, was den Menschen helfen kann, erschlossen und genutzt und nahegebracht werden muß.
Wir haben hier einen Antrag zur Förderung der Erfinder. Der Kollege Erich Maaß sprach im einzelnen über die Situation, in der wir jetzt sind. Wir sind der Überzeugung, daß die Erfinder, insbesondere die freien Erfinder, aber auch die Arbeitnehmererfinder einen Teil der Leidenschaft und Dynamik unserer technischen Entwicklung mittragen.
Um hier zu helfen, haben wir noch andere Instrumente als die Steuergesetze. Wir haben die Fraunhofergesellschaft, die Erfinder berät. Wir haben die Gesellschaft unterstützt und diese Unterstützung in den letzten zwei Jahren ausgebaut. Im Jahr 1985 waren wir bei 3,6 oder 3,7 Millionen DM, heute liegen wir bei 6,4 Millionen DM im Jahr. Wir geben hiermit eine Infrastruktur als Möglichkeit vor. Wir bauen die Datensysteme aus, so daß die Recherche nach dem Stand der Technik verläßlich ist. 30 % der Patentanmeldungen in Deutschland werden zurückgewiesen, weil der Stand der Technik nicht hinreichend recherchiert ist.
Der Zugang zum Stand der Technik setzt Kapazitäten frei auch und gerade für die freien Erfinder. Das Netz der Patentauslegestellen, das in den nächsten Jahren vom Wirtschaftsminister mit 2 Millionen DM im Jahr gefördert werden wird, gibt hier zusätzliche Möglichkeiten.
Was im einzelnen an Notwendigkeiten vorhanden ist, hat Kollege Maaß in eindrücklicher Weise gezeigt. Daß wir dies unterstützen, haben wir an Beispielen vorgeführt. Daß wir uns aber dabei darauf verlassen müssen, daß erhalten bleibt, was in beeindruckender Weise vom Kollegen Vahlberg am Engagement der freien Erfinder beschrieben worden ist, ist das Dritte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vahlberg?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8531
Ja, unter den üblichen Bedingungen, keine Redezeitanrechnung.
Obwohl Sie doch 14 Minuten haben, Herr Minister. Das ist eigentlich eine Zeit, in der man auch eine Antwort unterbringen kann. Behandeln Sie sie gleich?
Ja.
Herr Vahlberg, bitte.
Herr Minister, Sie wissen, daß wir mit den Förderungsprogrammen die Firmen erreichen, so daß die Firmen also die Möglichkeit haben, finanzielle Unterstützungen abzurufen. Dies gilt für die Erfinder nicht, mit der Einschränkung dessen, was Sie eben gesagt haben, was den Zugang und den Zugriff zu Informationssystemen anlangt; aber das sind ja nicht direkte Unterstützungen, während die Industrie Stundensätze in erheblichem Ausmaß abrechnen kann. Wieso also sind Sie der Auffassung, daß es nicht sinnvoll ist, daß die Erfinder in der bisherigen Weise steuerlich begünstigt werden; warum konnten Sie sich, frage ich jetzt, im Kabinett — wir haben ja gehört, die Forschungspolitiker sind im Grunde unserer Auffassung — nicht durchsetzen?
Ich möchte hier einmal eine grundsätzliche Auffassung festhalten. Ich bin wirklich der Überzeugung, daß es richtig und notwendig ist, die Vielfalt von Sondertatbeständen abzuschaffen, die Steuern insgesamt zu senken und solche Freiräume zu schaffen, daß der einzelne diese Freiräume wirklich nutzen kann. Weil dies wahr ist, akzeptieren wir hier durchaus auch in einzelnen Bereichen Entscheidungen, die in den Bereichen, über die wir sprechen, auch schwierig sein mögen. Wenn ich hier die Fraunhofergesellschaft angeführt habe, dann ist dies etwas anderes als bloße Datenvermittlung. Es ist eine tatkräftige Unterstützung der Erfinder. Ich glaube, daß dies ein richtiger, systemkonformer und hilfreicher Ansatz ist, der in außerordentlicher Weise in Anspruch genommen wird. Hier werden wir durch Ausbau der Infrastruktur weiterhelfen.
— Im Gegenteil, es ist eine Infrastruktur. Die Aufgabe des Staates ist es nicht, beliebige Subventionen, seien sie steuerlicher Art oder seien es andere, zu verteilen. Die Aufgabe des Staates ist es, Infrastrukturen und Voraussetzungen in einem freien und beweglichen Steuerrecht so zu schaffen, daß der einzelne die Möglichkeit hat, seinen eigenen Arbeitsraum zu gestalten.
Herr Rüttgers hat im einzelnen die Schwerpunkte in der Weltraumpolitik dargestellt. Hier liegen in der Tat alle weiteren Fragen, die diskutiert worden sind. Ich möchte nur wenige Punkte aufgreifen. Die Diskussion über die Großprojekte ist in der Tat die einzige streitige Diskussion. Denn hinsichtlich der Grundlagenforschung sehe ich keinen Streit. Und ich sehe keinen Streit bezüglich der Erdbeobachtung und ich sehe keinen Streit über die Nachrichtentechnik. Und wiederum sehe ich bei den Großprojekten keinen Streit um Ariane. Sie stimmen zu, daß wir von 15 auf 22 %, von Ariane 4 auf Ariane 5, gegangen sind. Jetzt kommen wir auf die Frage Columbus zurück. Was ist Columbus? Columbus ist die freifliegende Plattform, das automatische Labor und das angekoppelte Labor. Anderthalb von diesen drei Elementen sind automatische Elemente, denn die freifliegende Plattform selbst, die die Erde beobachtet, gehört wiederum zur Erdbeobachtung. Worüber streiten wir uns? Der einzige Streitpunkt, der übrig blieb, war die Frage der friedlichen Nutzung. Wie sieht es mit der friedlichen Nutzung aus? Als Sie Ihren Antrag gestellt hatten, waren die Verträge nicht da. Inzwischen sind sie unterschrieben.
Was steht in diesen Verträgen an erster Stelle? In Übereinstimmung mit der ESA-Konvention die friedliche Nutzung zu zivilen Zwecken. Nun ist die Sache so: Wir haben hier ja einen außerordentlich sensiblen Seismographen. Die neutralen Staaten in der ESA — ob sie sich jetzt daran beteiligen oder nicht — halten dies entweder für akzeptabel oder nicht. Alle müssen zustimmen, auch diejenigen, die dem Programm nicht beitreten. Keiner der neutralen Staaten — weder Schweden noch die Schweiz noch Österreich — war der Überzeugung, daß er als neutraler Staat dieses Programm nicht mittragen könne. Insofern halte ich das für ein gut ausgehandeltes Programm, das optimale Voraussetzungen für Wissenschaft und Technik schafft.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Ja.
Bitte schön.
Ich will es angesichts der fortgeschrittenen Zeit ganz kurz machen. Herr Minister, einen Sachverhalt können Sie doch nicht vom Tisch fegen, nämlich den Sachverhalt, daß in dem Vertragswerk ausdrücklich festgehalten wird, daß jeder einzelne für seinen Teil festlegt, was Nutzung zu friedlichen Zwecken ist. Das heißt: Forschung — etwa zu defensiven militärischen Zwecken — ist auch den Amerikanern nach übereinstimmender Interpretation vieler neutraler Beobachter möglich, keine Waffenentwicklung, aber Grundlagenforschung zu militärischen Zwecken. Wollen Sie das bestreiten?
Wenn Sie hier bestreiten wollen, daß die Forschung für defensive Zwecke unzulässig ist, dann müssen Sie es auch für unzulässig halten, daß die Erdbeobachtung genutzt werden kann, um Panzeraufmärsche festzustellen.
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Bundesminister Dr. Riesenhuber
— Deshalb ist es kein ESA-Projekt, sondern ein Projekt von Partnern. Es kann nicht unterstellt werden. Wir verlangen für unsere Elemente unsere Hoheit. Sie ist uns zugestanden worden. Wir sind gleichberechtigte Partner, nicht Untermieter. Wir haben das gleiche Recht zu akzeptieren, zu respektieren wie unsere Partner. Wenn für den Vertrag insgesamt gilt, daß friedliche Nutzung für zuviele Zwecke möglich ist, müssen sich auch derartige mögliche Forschungen daran messen.
Sie haben hier Hermes angesprochen. Ich weise nur beiläufig darauf hin, daß wir vereinbart haben, daß wir Ende 1990, Anfang 1991 noch einmal abschließend hierüber entscheiden werden. Aber natürlich ist Ihr Argument richtig, daß hier ein Zusammenhang mit Sänger besteht. Wenn wir von Deutschland aus langfristige Strategien, mit denen wir auch große europäische Systeme prägen, verfolgen, dann können wir nicht abenteuerliche Sprünge über technische Stufen hinweg machen. Insofern ist es richtig, daß wir dieses Projekt fördern, denn wir brauchen die Techniken. Das Spektrum reicht von der Wiedereintauchtechnik bis zur Avionik.
Ich glaube, wenn Sie hier schon sagen, Sänger könne ein vernünftiges Projekt sein
— richtig, ich stimme Ihnen zu; auch wir behalten uns ein Urteil bis nach der Vorprüfungsphase vor —, dann muß man akzeptieren, daß auch die Zwischenstufe vernünftig ist.
Einigermaßen überrascht war ich im Hinblick auf Ihre Argumentation betreffend die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Lieber Herr Fischer, es ist verblüffend, wenn Sie nach der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion in der Vergangenheit fragen. Selbst wenn man nicht die Berichte der Max-Planck-Gesellschaft liest und wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, was die Akademie der Wissenschaften veröffentlicht: Daß „Giotto", der Besuch bei dem Halleyschen Kometen, ein sichtbares Ereignis war, ist ja wirklich unbestreitbar. „Giotto" war Ergebnis einer Zusammenarbeit; der Flugkörper war mit einer deutschen Kamera bestückt, er enthielt sowjetische Elemente. Es sind Vorausmissionen geflogen worden. Jetzt könnten wir die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die sich prächtig entwickelt hat, über die Grundlagenforschung hinaus auf breite Bereiche ausdehnen.
Sie sagen voller Stolz, Sie hätten den Anstoß zu dieser Forschung gegeben. Ja, warum distanzieren Sie sich jetzt davon? Das ist eine prima Sache. Ich habe von Ihnen ja nicht nur Unfug geerbt; ich habe auch außerordentlich wertvolle und gute Sachen geerbt.
Wir haben sie prächtig weiterentwickelt.
— Ich habe auch Probleme. Aber das ist heute nicht unser Thema.
Wir haben eine Zusammenarbeit daraus entwickelt. Nun sagen Sie, es habe Streit gegeben. Ich muß Ihnen sagen: Es gab nur einen relevanten Punkt, in bezug auf den hier — ich sage es einmal höflich — unterschiedlichen Meinungen einmal öffentlich diskutiert worden sind. Das betraf die Frage, ob wir, wie GlawKosmos sich das vorgestellt hat, jetzt dafür bezahlen sollen, daß ein deutscher Astronaut mitfliegt, ob wir andere Dienstleistungen bezahlen sollen oder nicht. Ich habe hierzu eine schlichte Auffassung gehabt. Ich habe gesagt: Wenn es eine technische Zusammenarbeit ist, dann bringt jeder seine Elemente mit ein, wie es in anderen Fällen auch gemacht wird, und jeder bezahlt für seine eigenen Elemente. Aber in den Verträgen, die wir mit anderen Staaten geschlossen haben, steht: No exchange of funds. Genau dies ist geschehen. Hier gab es eine Differenz, okay. Die Bundesregierung hat die Position, die ich immer für richtig gehalten habe, zugrunde gelegt. Was die Zeitpläne betrifft: Wir sind genau richtig übereingekommen. Das zeitliche Ziel war immer der Besuch des Bundeskanzlers in Moskau. Dieses Ziel haben wir mit einer Präzision erreicht, die für die Arbeit der Bundesregierung nicht untypisch ist.
Jetzt kann ich leider einige Themen nur sehr verkürzt darstellen, und zwar aus Zeitgründen.
— Verschlabbern, dies ist das Wort; Sie haben es genannt.
Wir haben mit DARR eine völlig neuartige Aufgabe. Ich habe mich sehr über dies engagierte Plädoyer gefreut, das Kollege Laermann ebenso wie Kollege Rüttgers aus ihrer großen Fachkunde geleistet haben.
— Ich bin immer in der Schwierigkeit: Entweder ich sage, daß es irgendwann in den neunziger Jahren ist
— dann kann ich nie widerlegt werden — , oder ich setze einen ehrgeizigen Zeitpunkt und mache entsprechend Druck.
— Natürlich war er es. Lieber Herr Catenhusen, ich muß Ihnen wirklich eins sagen: Entweder ich mache hier Druck — und das tue ich — und nenne frühe Termine, oder ich entspanne mich und warte, was so in die Landschaft wächst und schaue dann voller Erbau-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8533
Bundesminister Dr. Riesenhuber
ung, daß nach zwei Jahren auch noch nichts entstanden ist.
Wir kommen hier mit ganz guten Ergebnissen zu einer vernünftigen Zeit. Wenn DARA hier bis in das Vorfeld der politischen Entscheidung Konzepte entwickeln, Strategien und Zusammenarbeit organisieren und verhandeln soll, dann ist es natürlich schon ein ganz neuartiges und gutes Konzept.
Was ich jetzt auch nur in Stichworten angehen kann — und das kann ich mir auch leisten, weil der Kollege Maaß das mit großer Kompetenz dargestellt hat — , ist die Frage der Informationstechnik und der weiteren Strategie. Sie verlangen zu Recht, daß wir hier Bilanz ziehen über das, was seit 1984 geschehen ist. Bilanz kann ich nur begrenzt ziehen, so lange die Zeit nicht wirklich ausgelaufen ist. Sie läuft jetzt aus. Wir haben uns mit dem Wirtschaftsminister zusammengesetzt. Wir müssen das gemeinsam machen, denn es geht nicht nur um eine einzelne Technik oder um einzelne Projekte. Es geht um die Entwicklung übergreifender Strukturen. Das sind die indirekten Programme für den Mittelstand, von denen der Kollege Maaß gesprochen hat.
Was wir hier an Anschub gebracht haben, sehen Sie an der außerordentlichen Dynamik, die mittelständische Unternehmen erfolgreich in die Märkte hineingebracht haben, in einer Weise, die 1982 niemand für möglich gehalten hat. Das sehen Sie an den neuen strategischen Projekten, die nach Europa hineinreichen, an strategischen Projekten wie dem vom hochauflösenden Fernsehen, einem Leitprojekt, das uns erlaubt, neue Strukturen zu entwickeln, große Märkte für den Chip der nächsten Generation zu erschließen, das uns erlaubt, Normen und Standards einheitlich in Europa durchzusetzen, große Märkte und große Serien zu erreichen und damit die Rückkehr der Unterhaltungselektronik auf Märkte, die bis jetzt als verloren galten. Ich nenne weiter COSINE, aus dem deutschen Forschungsnetz entstanden, die Zusammenarbeit der Forschungsinstitute untereinander durch aufeinandergestapelte Softwarepakete. Das bedeutet auch die Durchsetzung einheitlicher europäischer Normen.
Ich bin jetzt mitten im letzten Punkt, mitten in Europa. Herr Vosen, ich hätte gern Ihre Rede gehört, aber die Geschäftsführung hat es anders vorgesehen. Was hier entsteht, sind Normen, Standards und Infrastrukturen, die in Europa wachsen
— ich höre es mit Vergnügen; ich kann nur nicht mehr antworten — , die Europa aufbauen und zusammenführen, die in Europa die kritische Masse an technischer Intelligenz zusammenführen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Briefs?
Ja, Herr Präsident.
Herr Minister, könnte ich Ihren Worten entnehmen, daß Sie damit auch implizit herausstreichen wollen, daß es ein Beitrag der deutschen Forschungsförderung war, daß die Rheinvergiftung entstanden ist, mit der die Nordseeverschmutzung und andere gerade auch durch chemische Substanzen entstandene Umweltprobleme verbunden sind?
Herr Briefs, es ist für mich sehr schwer, die Rationalität dieser Aussage zu erfassen. Was die Nordsee betrifft, so könnten wir eine Rede über EUROMAR halten, darüber, wie wir mit einem 350 Millionen Eureka-Projekt im Querschnitt Umwelttechniken einsetzen, um Umweltschäden zu vermeiden, zu erkennen und rechtzeitig zu bekämpfen. Wie man die Technik anwendet, wie man sie einsetzt, ist nicht eine Frage der Technik selbst, sondern des verantwortlichen Umgangs mit der Technik. Was wir hier in den letzten Jahren mit deutschen und europäischen Projekten angelegt haben, ist eine außerordentliche und einzigartige Leistung in Europa.
— Das muß der Herr Präsident entscheiden.
Haben Sie bitte Verständnis dafür, daß ich irgendwann einmal auch an diejenigen denken muß, die nachher noch weitere Debatten zu führen haben.
Ich bin sehr großzügig gewesen, und es ist auch eine interessante Debatte. Darauf kommt es uns ja an. Aber es muß dann auch verständlich sein, daß das irgendwo begrenzt wird. Der Herr Minister hat noch 34 Sekunden Redezeit, so daß ich vorschlagen würde, daß er ungestört zum Ende kommen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf was wir genauso aufpassen, ist der verantwortliche Umgang mit Technik und auch mit den Gewerkschaften. Im Arbeitskreis Informationstechnik waren von 25 Mitgliedern sieben Gewerkschaftsvorsitzende, und sie haben genauso intensiv wie die Wissenschaftler und Unternehmer mitgearbeitet.
Wir suchen hier einen Konsens auf Ziele hin. Wir suchen hier einen Konsens, der nicht etwa Gegensätze verschleiert, sondern der den Streit erlaubt, aber auf einer rationalen Grundlage. Auf dieser Grundlage legen wir hier eine Strategie an, die Probleme lösbar macht, weil sie sie präzise formuliert, die aber auch gemeinsam, national und in Europa, die Chance erschließt, daß Europa auf den Weltmärkten seine alte Position mit der Kraft für die Renaissance, die es immer gehabt hat, wenn es kritisch geworden ist, wieder besetzt und seinen Beitrag in der Partnerschaft unter den Völkern leistet.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vosen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahresende, letzte Sitzungswoche und Forschungsdiskussion — das gibt auch die Möglichkeit des Rückblicks, die ich hier jetzt nutzen möchte. Ich glaube, daß die Forschungspolitik in diesem Land nicht auf einem guten Weg ist. Sechs Jahre Forschungspolitik seit der sogenannten Wende sind sechs Jahre Entschlußlosigkeit im Hinblick auf die richtigen Konzepte,
sind sechs Jahre der Öffnung des Forschungshaushalts für die Selbstbedienung der Großkonzerne, sind sechs Jahre des Abbaus der Mittelstandsförderung — nach anfänglichem Aufschwung —
und der arbeitnehmerorientierten Humanisierungspolitik. Sechs Jahre Forschungspolitik seit der Wende sind schließlich, in den vergleichenden Statistiken ablesbar, als ein Zurückfallen der Bundesrepublik als Forschungsland hinter die Entwicklungen in den USA und besonders in Japan zu bezeichnen. In diesen sechs Jahren hat die Bundesregierung einen großen Teil der von der sozialliberalen Koalition aufgebauten Positionen verspielt.
Man könnte es in Kurzform fassen: Die Bundesrepublik setzt auf Nobelpreise, was sehr gut ist, und die Japaner setzen darüber hinaus auf Verkaufspreise.
Meine Damen und Herren, diese sechs Jahre wurden von einem beeindruckenden verbalen Feuerwerk begleitet — der Minister ist ja rhetorisch sehr gut —, von vielen schönen Worten, vor allen Dingen meist denselben Worten.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die „Wirtschaftswoche" hat im August die Leistungen des Bundesforschungsministers als „im Abseits" eingestuft. Das war dieses schöne Bild mit den Pinguinen und der Antarktiskarte. Wenn man einmal davon absieht, daß das unschuldige antarktische Tier, der Pinguin, in diesem Zusammenhang nun wirklich nichts dafür kann, so liegt die „Wirtschaftswoche" in der Sache doch nicht falsch.
Der Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin — auch dies eine etablierte Institution — von Mitte Oktober stellt dieses Abseits in allen Einzelheiten dar — ganz entgegen dem blumigen und überschwenglichen Selbstlob, das sich die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage der Regierungskoalitionen zur Forschungspolitik ausstellt.
Das DIW stellt sinngemäß fest, daß die Aufwendungen des Staates und der Wirtschaft als Instrument der Technologie- und Wirtschaftspolitik gesehen werden, das den Strukturwandel in der Bundesrepublik beschleunigt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern hilft. Zur Zeit seien aber leider die Möglichkeiten des Staates und auch die Möglichkeiten der Wirtschaft nicht ausgeschöpft, und die Ertragslage
auch der Wirtschaft lasse eine Steigerung der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen zu. — Soweit das DIW. — Ich stelle fest: Es muß also mehr getan werden, und zwar vom Staat und von der Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, diese Feststellungen sind für die Bundesregierung und für die Bundesrepublik wenig schmeichelhaft. Offenbar funktioniert die Angebotspolitik gegenüber der Wirtschaft im F- und E-Sektor nicht ganz so, wie es hier durch den Forschungsminister immer vorgetragen wird.
Vergleiche des DIW betreffend Kaufkraftparitäten — ausgehend von der Preisbasis 1980 — führen zu dem Schluß, daß wir gegenüber den USA zurückgefallen sind, gegenüber Japan sogar dramatisch zurückgefallen sind. Insgesamt ist dies, wie die Fachinstitute sagen, eine Entwicklung, die wir sehr, sehr negativ sehen müssen. Anders sind die Aussagen hier.
Teilweise sieht es so auch in den Schlüsselbranchen unserer Volkswirtschaft aus: In der chemischen Industrie hat sich unsere Position gegenüber den USA stark verschlechtert, auch gegenüber Japan. Im Maschinenbau konnten wir unsere Position gegenüber den USA verbessern, allerdings hat sie sich gegenüber Japan erheblich verschlechtert. Das gleiche gilt auch für den Straßenfahrzeugbau. In der elektrotechnischen Industrie ist gegenüber beiden Ländern wiederum eine dramatische Verschlechterung festzustellen.
Ich meine, daß diese Position Ihnen, Herr Minister, zu denken geben muß. Es ist ja keine Position, die ich hier formuliere, sondern ich zitiere dies aus anerkannten Gutachten von Wirtschaftsforschungsinstituten. Ich meine, daß wir allen Grund haben, diese Aussagen ernst zu nehmen.
Ich möchte kritisieren — das ist auch getan worden — , daß wir uns in eine Abhängigkeit von der Luft- und Raumfahrtindustrie begeben; sie ist, wenn man so will, eine große Gefahr für die Entwicklung der Forschungslandschaft in unserem Lande.
Sie haben Auflagen zu erfüllen, Herr Minister, in die Sie andere Kollegen hineingebracht haben, z. B. Herr Genscher durch seine Zusagen in Paris, dann Herr Bangemann, dann auch der verstorbene Ministerpräsident Strauß, ebenso Herr Stoltenberg. Alle diese Minister regieren in Ihr Ressort hinein, und Sie haben nicht die Kraft, dagegen anzutreten. Das meint auch die „Wirtschaftswoche", indem sie schreibt: Im Machtkampf am Kabinettstisch zählt der CDU-Mann Riesenhuber zu den Verlierern.
So ist das, so sehen auch wir das. Ich bitte wirklich herzlich darum, mehr Einfluß zu nehmen.
Auch im Falle der DARA ist eine Sammlung von Kompetenzen aus anderen Ministerien nötig. Die Verzögerung der DARA ist doch einfach darauf zurückzuführen, daß es nicht gelungen ist, in dem Kompetenzenstreit der Ministerien einen Durchbruch seitens des Forschungsministers zu erzielen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8535
Vosen
Auch da sieht man wieder die im Grunde genommen geringe Möglichkeit des Einflusses und der Machtdurchsetzung am Kabinettstisch.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es sehr traurig ist, daß es dem Minister nicht gelungen ist, sich aus der Abhängigkeit von der atomtechnischen Industrie zu lösen. Nahezu 1 Milliarde DM im Haushalt machen doch deutlich, daß dieser Zusammenhang zwischen Atomindustrie und Forschungsministerium nach wie vor gegeben ist. Die Verlierer sind der Mittelstand und die Arbeitnehmer. Dort wird gekürzt, dort wird zurückgefahren. Man kann schon von einer Kleinholzpolitik in bezug auf den Mittelstand sprechen. Manches ist am Anfang geschehen, verbal viel mehr als real, und heute stellen wir fest, daß wir vor Trümmern stehen.
Auch die Humanisierung des Arbeitslebens kommt nicht voran, ebenfalls nicht die Technikfolgenabschätzung und -gestaltung. Dies sind alles Fakten.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ob das eine gute Bilanz ist. Auch in der Informationstechnologie — das hat mein Kollege Vahlberg hier vorgetragen — warten wir auf Anschlußprogramme. Wir sehen nicht, daß in diesem Bereich finanztechnisch noch Luft ist, um Entsprechendes auf den Weg zu bringen.
Insgesamt zeichnet sich die Forschungspolitik dieses Jahres und der voraufgegangenen Jahre durch Entschlußlosigkeit, Kraftlosigkeit und viele schöne Worte aus. Das ist, meine ich, eine traurige Bilanz.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat Professor Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zu den Ausführungen des Kollegen Vosen Stellung nehme, lassen Sie mich kurz eines anmerken: Ich bedaure ausdrücklich, daß der Antrag der Koalitionsfraktionen zur Naturmedizin und den Naturheilverfahren vom 8. März 1988 dem Hohen Hause erst jetzt vorgelegt wird. Wir hätten die Beratung über dieses Thema hier längst abschließen können. Das möchte ich hier ausdrücklich kritisch anmerken.
Herr Kollege Briefs, ich muß Ihre Anmerkung, Ihre Unterstellung zurückweisen, dies geschehe nur, um die Naturmedizin, die Naturheilverfahren zu unterdrücken und um die Ergebnisse der Pharmaindustrie in den Rachen zu werfen.
Ich muß dies nachdrücklich zurückweisen. Wir sind der Auffassung, daß die Forschung auf diesem Gebiet ausgeweitet und intensiviert werden soll. Es muß endlich der Brückenschlag zwischen sogenannter Schulmedizin und der Erfahrungsmedizin geschaffen werden. Das ist unsere Absicht, das ist unser Ansinnen, unser Anliegen.
Ich möchte mich dann aber mit den Ausführungen des Kollegen Vosen auseinandersetzen und stelle meine anderen Themen hintan. Herr Kollege Vosen, Sie haben hier ausgeführt, sechs Jahre Forschungspolitik seine sechs Jahre der Entschlußlosigkeit und des Abbaus der Mittelstandspolitik gewesen. Gucken Sie sich doch einmal an, was im Haushalt des Forschungsministeriums drinsteht! Wir haben uns immer für die Mittelstandsförderung ausgesprochen und dafür eingesetzt, und wir tun das nach wie vor.
Wir sind aber der Auffassung, daß man da auch noch einiges mehr tun kann.
Aber immerhin sind die Mittel für die Mittelstandsförderung in diesen sechs Jahren von 300 Millionen DM auf 500 Millionen DM angestiegen.
Die Förderung für Großunternehmen und Großkonzerne dagegen ist wesentlich zurückgefahren worden, gerade zu diesen Zwecken.
Wenn Sie hier feststellen, es sei eine Abhängigkeit von der atomtechnischen Industrie gegeben, dann muß ich Sie fragen: Wer muß sich denn hier zu der Vaterschaft bekennen? Dann nehmen Sie doch bitte auch zur Kenntnis, daß die Aufwendungen für die Projekte in diesen Jahren von 1,5 Milliarden DM auf weniger als 400 Millionen DM zurückgeführt werden konnten. Wahrscheinlich lägen wir noch niedriger, wenn es nicht diese restriktive Haltung einer Landesregierung gäbe, die uns hier jetzt sozusagen ein Projekt in den Wartestand zwingt. Sie sind dafür verantwortlich. Sie müssen sich dieser Frage auch einmal stellen.
Herr Kollege Vosen: Wer ist denn hier der Verlierer?
Wenn ich mir Ihre Ausführungen vor Augen führe, dann halte ich Sie, mit Verlaub gesagt, für den Verlierer. Sie reden davon, daß die chemische Industrie, der Maschinenbau, der Straßenfahrzeugbau in einer schlechten Situation ist und daß bei der Elektronik eine dramatische Verschlechterung zu verzeichnen ist. Sie hören auf das, was aus den Instituten und aus den Medien überkommt. Es ist so, daß jeder natürlich nach mehr schreit. Viele sind aber auch verwöhnt — sagen wir das einmal offen —; sie schreien und halten die Hand auf, und dann ist da immer irgend jemand, der auch etwas in die Hand hineingibt. Solange dies geschieht, halten sie die Hand auch auf. Ich verstehe sogar, daß man das tut. Aber unsere Aufgabe ist
8536 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Dr.-Ing. Laermann
es, hier nicht Subventionspolitik, sondern sinnvolle Forschungspolitik und Forschungsförderung zu betreiben und in gegebenen Fällen auch Hilfen zu geben, um Schwierigkeiten zu überwinden, zu überbrücken, damit das wieder zum Selbstläufer wird. Ich denke, daß wir das mit der Forschungspolitik in vielen Bereichen geschafft haben, die vernünftigerweise so angelegt worden ist, daß sie nicht zur Dauersubvention verkommen darf.
Dies muß man doch einmal ausdrücklich sagen.
Ich meine, daß unsere Leistungsbilanz ja wohl ausweist, daß es hier gute Erfolge gibt. Sie sprechen davon, wir seien hinter die Leistungen der USA und Japans zurückgefallen; die Wirtschaft müsse für die Forschung mehr tun. Auf der einen Seite sagen Sie, der Staat müsse mehr tun, auf der anderen Seite sagen Sie, die Wirtschaft müsse mehr tun.
Bitte, nehmen Sie doch auch zur Kenntnis, in welch hohem Maße die Wirtschaft insgesamt Forschungs- und Entwicklungsförderung betrieben hat. Ich denke, wir sollten uns darüber einig sein, daß das System der Verbundforschung, das hier von Forschungsminister Riesenhuber eingeführt worden ist, eine gute Sache ist, weil wir hier nämlich auch solche mittelständischen Unternehmen, die keine eigene Forschungsabteilung aufbauen können, mit in die Entwicklung einbeziehen, weil wir die Fachhochschulen, Hochschulen und Universitäten mit einbeziehen und weil wir damit Instrumentarien für einen vernünftigen Technologietransfer geschaffen haben, der inzwischen zu greifen beginnt, weil wir gewisse ideologische Schranken bei der sogenannten Drittmittelforschung überwunden haben. Ich denke, das ist eine gute Sache. Was Sie hier hinsichtlich der negativen Bilanz ausgeführt haben, müßten Sie eigentlich noch einmal überdenken. Ich denke, Sie waren da ein verbaler Verlierer, Herr Kollege Vosen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Zu den Tagesordnungspunkten 23 a bis 23f schlägt der Ältestenrat vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlagen unter den Tagesordnungspunkten 23 c und
23 d sollen zusätzlich zur Mitberatung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 24 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 5 und 6 auf:
24. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Beer und der Fraktion DIE GRÜNEN
C-Waffen-Konferenz in Paris vom 7. bis 11. Januar 1989
— Drucksache 11/3472 — b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Beer, Frau Schilling, Dr. Mechtersheimer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Keine Produktion und Endmontage neuer amerikanischer C-Waffen, Abzug der C-Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 11/1185 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Initiativen zum Verbot der Herstellung und Lagerung chemischer Waffen und der Verhinderung ihrer Weiterverbreitung
— Drucksache 11/3669 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Lamers, Lummer, Schwarz, Frau Geiger und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Dr. Feldmann, Frau Dr. Hamm-Brücher, Irmer, Ronneburger, Dr. Hoyer, Nolting und der Fraktion der FDP
Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Weitergabe und des Einsatzes von chemischen Waffen
— Drucksache 11/3680 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
Interfraktionell ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte vereinbart worden, und zwar ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und rufe als ersten Redner Frau Beer auf.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Vorweg möchte ich sagen, daß ich von der Abrüstungsinitiative Gorbatschows begeistert bin. Gorbatschows Politik der einseitigen Abrüstungsschritte kommt den Konzepten der GRÜNEN sehr nahe. Der Westen, die NATO sind jetzt am Zug. Wir sehen in diesen Tagen, was die westlichen Abrüstungsbeteuerungen wert sind.
Die GRÜNEN haben die heutige Debatte über das Verbot der chemischen Waffen beantragt. Die chemischen Waffen gehören zu den grausigsten Errungenschaften der modernen Militärtechnik. Zum erstenmal wurden sie von den deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg eingesetzt. 1925 wurde der Einsatz chemischer Waffen durch das sogenannte Genfer Protokoll völkerrechtlich verboten. Allerdings nur der Einsatz, nicht die Produktion und Lagerhaltung der chemischen Waffen sind durch diesen Vertrag verboten.
Ungeheure Massen an Giftgas haben die Militärs inzwischen angehäuft, insgesamt mehrere hundert-
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tausend Tonnen fabriziert. Im Golfkrieg zwischen Iran und Irak hat sich gezeigt, wie unsicher dieses Verbot durch das Genfer Giftgasprotokoll ist. Der Irak hat über Jahre hinweg in großem Umfang Giftgas eingesetzt, zuerst gegen Truppen im Iran, dann gegen die kurdische Bevölkerung im Nordosten des Landes. Einige der Giftgasopfer sind mit ihren entsetzlichen Verletzungen in Spezialkliniken in der Bundesrepublik in Behandlung gewesen. Ihre Bilder gingen damals durch die Presse; wir erinnern uns. Es gab beträchtliche humanitäre Anteilnahme am Los der Giftgasopfer, aber es gab überhaupt keine Reaktion gegenüber den Tätern. Der Irak setzte Giftgas ein, rücksichtslos, völkerrechtswidrig, zynisch, und seine Verbündeten im Westen nahmen das einfach nicht zur Kenntnis.
Die Waffenlieferungen an den Irak gingen genauso weiter wie die politische Unterstützung für ihn. Der Kampf gegen den Iran war dem Westen als Ziel wichtig genug, um den Giftgaseinsatz durch den Verbündeten Irak billigend in Kauf zu nehmen. Das ist der eigentliche Skandal und die große Gefahr für die Zukunft. Die fehlenden Reaktionen der anderen Staaten auf den verbrecherischen Giftgaseinsatz eines Landes haben schlimme Maßstäbe für die Zukunft gesetzt.
Seit den 60er Jahren wird im Rahmen der UNO über ein völliges Verbot der chemischen Waffen verhandelt, ein Verbot, das die Produktion und die Lagerung umfaßt, das die Zerstörung der gigantischen Bestände erzwingt und diese Mordmittel von der Erde verbannt. Diese Verhandlungen sind lange Zeit nur langsam vorangekommen. Lange Zeit schien es so, als würden die Ostblockländer einen Vertragsabschluß verhindern, weil sie keine vernünftigen Überprüfungsmaßnahmen zulassen wollten. Seit die Sowjetunion ihre Politik aber geändert hat — auch hier wieder Gorbatschow — und selbst für scharfe Kontrollmaßnahmen eintritt, ist ein erstaunlicher Wandel in den Verhandlungspositionen eingetreten. Seit dem letzten Winter ist offenkundig, daß die USA und Frankreich die Verhandlungen verschleppen. Die USA lassen verlauten, eigentlich seien Chemiewaffenverbote sinnlos, weil man es sowieso nicht überprüfen könne.
Früher war also der Russe schuld. Jetzt stellt man fest: Es klappt sowieso nicht.
In ihrem Windschatten kündigten die Franzosen an, erst einmal selbst neue chemische Waffen produzieren zu wollen. Später könne man sie ja vielleicht wieder abbauen.
Zumindest zur Stabilisierung dieser US-Position hat die Bundesregierung entscheidend beigetragen. Denn die US-Militärs haben ihre Interessen an einem C-Waffen-Verbot nicht ganz plötzlich verloren, sondern weil sie etwas Besseres gefunden haben, geben sie nach.
Statt die C-Waffen abzuschaffen, produzieren sie neue, wirksamere C-Waffen, die sogenannten binären C-Waffen. Sie bestehen aus zwei Komponenten, die jede für sich ungiftig bzw. nur begrenzt giftig sind. Dadurch sind sie besser zu lagern und zu transportieren. Und sie sind in ihrer Wirkungsweise besser für den Einsatz auf dem Schlachtfeld zugeschnitten.
Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber General Rogers hatte sie für das europäische Schlachtfeld eingefordert. Seit Dezember 1987 produzieren die USA binäre Artilleriegranaten mit kurzlebigen Giftstoffen. Demnächst wird eine Flugzeugbombe — die „BigEye" — mit einem langwirkenden Giftgas hinzukommen. Die Idee dabei ist, mit den Granaten ein Gebiet kurzfristig zu verseuchen und dann mit den eigenen Truppen hindurchzustoßen. Da darf das Gift natürlich nicht zu lange wirken, damit die eigenen Truppen nicht gefährdet werden. Andererseits sollen mit den Bomben Flughäfen, Verkehrsknotenpunkte und ähnliches im Hinterland für längere Zeiträume blockiert werden.
Diese Einsatzvorstellungen sind nüchterner militärischer Alltag der US-Streitkräfte und in deren Feldhandbüchern nachlesbar. Binäre chemische Waffen gelten den US-Militärs als moderne und zweckmäßige Mittel der Kriegsführung.
Die Produktion dieser neuen binären chemischen Waffen stieß aber in den USA selbst auf erheblichen, außerordentlich heftigen Widerstand. Fünf Jahre lang scheiterten daran die entsprechenden Anträge Reagans im US-Kongreß. Und der Beschluß, den er 1985 zustande bekam, spricht Bände. Die nationale Entscheidung der USA, binäre C-Waffen zu produzieren, machte der Kongreß von der Zustimmung der europäischen Verbündeten abhängig.
Der Kongreß beschloß: Der NATO-Rat muß diese Waffen anfordern, ihre Produktion billigen. Der NATO-Rat hat entschieden, einstimmig. Eine klare Nein-Stimme hätte genügt, um diese Waffen nicht herstellen zu lassen. Hätte die Bundesregierung doch einfach gesagt: Nein, diese Waffen wollen wir nicht, wir stimmen nicht zu.
Aus allen, wirklich allen Fraktionen kamen erschütternde Stimmen über die geplante Neuaufnahme der Giftgasproduktion in den USA. Ein Nein der Bundesregierung hätte — selten genug — wohl einstimmige Zustimmung im Bundestag gefunden.
Die Bundesregierung ging einen anderen Weg, den Weg des Paktes mit dem Bösen. Sie stimmte im NATO-Rat zu, ermöglichte die Produktion der neuen Waffen — seit 1969 gibt es zum erstenmal wieder eine C-Waffen-Produktion in den USA, und das mit Hilfe der Bundesregierung! — , aber sie bekam dafür eine Gegenleistung. In den sogenannten Tokio-Vereinbarungen gab Reagan die Zusage, daß die alten C-Waffen bis 1992 aus der Bundesrepublik abgezogen werden. Diese Zusage fiel den Amerikanern relativ leicht, weil sie ohnehin vorhatten, die alten C-Waffen wegen ihrer Überalterung zu vernichten, wenn die neuen Waffen fertig sind.
Soweit alles klar. Die Bundesregierung hat damals praktisch das weltweite C-Waffen-Verbotsabkommen geopfert — denn daran haben die US-Militärs jetzt kein Interesse mehr — , um die chemischen Waffen vom Boden der Bundesrepublik wegzubekommen.
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Und die Bundesregierung sagt uns: Neue binäre C-Waffen kommen uns einstweilen nicht ins Land, höchstens in Krisenzeiten. Die Bundesrepublik würde also 1992 eine informelle chemiewaffenfreie Zone sein.
Diese Zusicherung der Bundesregierung klingt aus unserer Betroffenensicht recht erfreulich. Aus US-Sicht ist sie vollständig absurd.
Man bedenke die Vorgeschichte. Der NATO-Oberkommandeur Europa klagt, er habe für einen wochenlangen Kampf mit chemischen Waffen nicht genug Munition. In schwerem politischem Ringen entschließen sich die USA, für den europäischen Kriegsschauplatz die militärisch erforderlichen Waffen zu beschaffen. Man holt dazu sozusagen die ausdrückliche Zustimmung der Europäer ein. Und dann kommen die Deutschen plötzlich daher und sagen: Ätsch, wir wollen diese Waffen gar nicht hier haben. Und der Vorschlag, sie in den USA zu lagern, aber in Krisenzeiten, kurz vor dem russischen Überfall sozusagen, über den Atlantik einzufliegen, ist dann komplett grotesk.
Man muß sich das bildlich vorstellen. Es geht nicht um eine Flugzeugladung, es geht um eine tonnenweise Ladung, die es ermöglichen könnte, einen monatelangen Kampf zu führen. Diese Ladung in Kriegszeiten hier einzufliegen —,
da würde jeder US-Senatsbeteiligte die Allianz selber auslachen, würde er das ernst nehmen.
Des Rätsels Lösung, die sogenannte Tokio-Vereinbarung, ist nirdendwo schriftlich festgehalten. Sie ist ein Männerwort zwischen Kohl und Reagan.
Auch hierauf zielt unser jetziger Antrag. Wir fordern, daß diese angebliche Vereinbarung schriftlich festgehalten wird.
So ist die Ausgangsposition absolut ungünstig. Die GRÜNEN haben nun zwei Anträge zum weiteren Vorgehen eingebracht. Den ersten wollen wir in die Ausschüsse bringen, um dort noch einmal zu diskutieren. Die Zusage der Produktion soll zurückgezogen werden. Die Bundesregierung soll die weitere Produktion der binären C-Waffen und die Möglichkeit der Kriegsführung verweigern. Wir fordern die Bundesregierung auf, Auskunft darüber zu geben, inwieweit die Zusicherung, bis 1992 die alten Bestände abzuziehen, eingehalten werden können. Bisher wird auch den Ausschüssen die Auskunft hierüber verweigert. Dies kritisieren alle Fraktionen, nicht nur die der GRÜNEN.
Unser zweiter Antrag befaßt sich mit der Konferenz Anfang Januar in Paris. Wir fordern die Bundesregierung auf, eindeutig Stellung zu beziehen, und nicht zuzulassen, daß diese Konferenz im kommenden Januar ein Verweigerungsschritt ist, die bisher blockierten Verhandlungen durch Frankreich und die USA in den Windschatten zu drücken. Wir wollen sofort ein weltweites Verbot der C-Waffen.
Es ist unmöglich, in der jetzigen Situation anderen Staaten zu ermöglichen, diese C-Waffen — die durch sehr einfache Mittel herzustellen sind — weiter zu produzieren. Die einzige Wirksamkeit sind eine Verweigerung der Neuproduktion gegenüber den USA und der sofortige Stopp sowie natürlich chemiewaffenfreie Zonen. Das kann nur ein erster Schritt sein.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich nicht wieder zu drücken, sondern Signale zu setzen. Wir fordern auf, in Paris zu streiken und diese nationalen und internationalen Interessen angesichts der schrecklichen Ereignisse durchzusetzen auch mit dem Risiko, sich eine Niederlage und den Streit in der NATO einzuhandeln.
Kommen Sie bitte zum Ende, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluß.
Wir bitten Sie, in dieser Form diesem Antrag zuzustimmen. Verweigern Sie anderen Ländern die Atombombe des kleinen Mannes zu produzieren und einzuführen.
Es gibt nur noch eine Möglichkeit: Stopp der Produktion und weltweites Verbot jetzt sofort in Paris im Januar.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lummer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es denn zu Beginn ein Lob sein soll, dann bin auch ich gerne bereit, die Initiative Gorbatschows hier zu loben. Wir freuen uns darüber. Allerdings sehe ich mich nicht in der Lage, nur dann in Begeisterung auszubrechen, wenn er etwas Gutes tut; das gelingt mir immer auch bei der Bundesregierung und dann und wann auch bei den Amerikanern.
Meine Damen und Herren, wir haben uns mit diesem Thema mehrfach beschäftigt. Wir haben auch heute mehrere Anträge zu diesem Thema des C-Waffen-Verbots vorliegen. Wenn man sie studiert, dann stellt man fest, daß doch eine sehr hochgradige Übereinstimmung vorhanden ist, und das, glaube ich, sollte festgehalten werden, auch für den weiteren Fortgang der Dinge.
Wenn man die Unterschiede sucht, dann beziehen sie sich einmal auf das Thema der C-Waffen-freien Zonen und zum zweiten vielleicht auf das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, von denen man möglicherweiser nicht erwartet, daß sie bis 1992 das reali-
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sieren, was sie uns versprochen haben, und denen man mit Skepsis begegnet, bezogen auf das Thema Verifikation in Genf. Wie sich die Bundesregierung in einer Antwort auf Kleine Anfragen von seiten der SPD äußert, haben die Vereinigten Staaten dieses Mißtrauen nicht verdient.
Zum Thema der chemiewaffenfreien Zonen verweise ich auf die Antwort der Bundesregierung. Ich glaube nicht, daß dies eine Zwischenlösung sein kann, sondern die Gründe, die da vorgetragen worden sind, die auch nicht neu sind, tragen weiterhin.
Insofern, meine Damen und Herren, bleiben wir dabei: Die Konzentration auf das Thema der C-Waffen-freien Zonen ist eine Ablenkung vom eigentlichen Problem und schafft möglicherweise den trügerischen Eindruck falscher Sicherheiten. Wir bleiben bei der Feststellung — das war, Frau Kollegin, zum Schluß auch Ihre — : Zum absoluten C-Waffen-Verbot gibt es keine Alternative.
— Die Neuproduktion ist eine Entscheidung, die die Vereinigten Staaten in ihrer eigenen Verantwortung ganz allein treffen.
— Das ist nicht falsch, sondern eine Feststellung der Bundesregierung, die ihre Gültigkeit hat.
Wir sind für das generelle Verbot, d. h. der Produktion, der Lagerung, der Weitergabe und natürlich auch des Einsatzes. In diesem Falle sage ich also schlicht und einfach: Wir sind Absolutisten; wir wollen alles und möglichst sofort.
Deshalb, meine Damen und Herren — wir reden ja hier und heute am Vorabend der Konferenz in Paris — heißt dies für die Konferenz in Paris: Diese Konferenz darf und kann kein Ersatz für Genf sein,
sondern sie darf wirklich nur eine komplementäre Funktion haben. Es darf wirklich nur darum gehen, ein Impuls für die Verhandlungen in Genf zu sein. Von uns ist formuliert worden: Die Teilnahme der Bundesregierung an dieser Konferenz soll davon abhängen, daß es Impuls ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Danke, ich habe ein bißchen zuwenig Zeit; ich bitte um Entschuldigung.
Herr Kollege, Sie wissen — —
Bitte keine Zwischenfrage!
Meine Damen und Herren, Paris ist zustande gekommen — ich denke, das ist gut so —, weil wir beobachten mußten, daß es einen aktuellen Einsatz von C-Waffen gab und auch eine Entwicklung festzustellen ist, wo sich manche diese Mittel beschaffen, und sicherlich auch deshalb, weil der erwünschte Erfolg in Genf noch nicht eingetreten ist. Es ist immerhin schlimm und schrecklich, wenn man sich der Bilder erinnert, die wir vom Einsatz im iranisch-irakischen Konflikt gehabt haben. Es kann natürlich überhaupt nicht befriedigen, wenn man etwa vom irakischen Außenminister in einer jüngsten Darstellung, in einem Interview liest, auf die Frage, ob der Irak sie eingesetzt habe: Wir haben von unserem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht, und wir haben uns gegen diese barbarischen Wellen des Angriffs verteidigt, auch mit Giftgas. — Es ist schlimm, auch wenn in diesem Zusammenhang der Begriff der Existenzsicherheit eines Staates genannt wird. Wir meinen nach wie vor, daß C-Waffen aus den Arsenalen zu verschwinden haben, und zwar ganz und gar.
Meine Damen und Herren, man kann die Pariser Konferenz begrüßen, wie wir das tun. Die Sozialdemokraten haben in ihrem Antrag gewisse Besorgnisse angedeutet, aber sie haben dann auch gesagt: Die Pariser Konferenz ist nur dann sinnvoll, wenn es den Außenministern gelingt, das weltweite Herstellungs- und Lagerungsverbot konkret voranzubringen. — Meine Damen und Herren, dann aber hat es Sinn, und diesen Sinn unterstreichen wir nachhaltig und nachdrücklich. Das erwarten wir, und das wollen wir auch im Zusammenhang mit der Pariser Konferenz.
Was sind nun die Ziele in Prais? Ich denke, einmal die Bestätigung des Genfer Protokolls.
— Natürlich nicht. — Das ist der Versuch, die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren. Wir leisten heute ja auch unseren bescheidenen Beitrag dazu.
— Ich bitte Sie! Ich sage deswegen: „bescheidenen Beitrag". — Aber wir wollen doch im Grunde die Öffentlichkeit mobilisieren, daß sich der Gedanke des weltweiten absoluten Verbots durchsetzt und sich keiner mehr vor einer solchen Zielvorstellung drücken kann. Wir wollen eben deutlich machen, daß jeder, der diesem Verbot nicht zustimmt, seine Reputation in der Gemeinschaft der Völker verliert.
Es geht zum zweiten auch darum, weitere Beitritte zu veranlassen, obwohl das nicht absolut wichtig ist, denn jedermann weiß inzwischen, daß das Verbot des Ersteinsatzes Völkergewohnheitsrecht geworden ist. Aber dennoch scheint es uns wichtig zu sein, den Versuch zu machen, die schon große Zahl der beigetretenen Länder zu erhöhen.
Es geht, meine Damen und Herren, auch darum, eine Verbesserung der Prozeduren beim Verdacht auf C-Waffen-Einsatz zu erreichen. Ich erinnere daran: Wir haben in den letzten Sitzungen darüber diskutiert. Wir haben aufgefordert, dem Irak doch zu gestatten, daß Beobachtungen im Lande stattfinden, ob ein
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Einsatz, z. B. gegen die Kurden, festzustellen war. Wir haben auch die Türkei gebeten, zuzulassen, daß die Lager beobachtet werden, ob ein Einsatz feststellbar ist. Es gab eine negative Antwort. Das ist bedauerlich; denn wir sagen nach wie vor: Wenn jemand das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen hat und sagt: „Wir haben das nicht eingesetzt, und wir wollen das nicht einsetzen", warum soll er sich dann für solche Kontrollen nicht öffnen? Das ist ein Punkt, der zu bereden ist und bei dem wir hoffen, daß es Fortschritte gibt.
Natürlich, meine Damen und Herren, geht es auch darum, die Weitergabe zu verhindern; ein Thema, das hier auch oft angesprochen wird. Letztendlich geht es natürlich darum, Impulse für Genf zu finden.
Es gibt unterschiedliche Einschätzungen. Herr Kollege Bahr hat einmal eine Formulierung gefunden, daß die technischen Fortschritte, die bei der Produktion erzielt worden sind, gewissermaßen ein Grund sind, daß die Kontrolle immer schwieriger wird und dadurch die Aussichtslosigkeit eines Abkommens überhaupt heraufdämmert. Das ist eine sehr skeptische Position, die er einnimmt oder zumindest gelegentlich geäußert hat.
Wir sehen das ein bißchen anders. Die Bundesregierung hat ja in der Antwort, die Sie gestern bekommen haben, sehr deutlich gemacht, daß die bisherige Entwicklung ein positives Ergebnis erreichbar erscheinen läßt. Die Voraussetzungen für einen Abschluß haben sich im letzten Jahr verbessert.
Ich meine, daß wir uns diesen Optimismus wirklich zu eigen machen sollten. Ich meine auch, daß ein Abschluß dann leichter möglich sein wird, wenn gewissermaßen ein Vertrauenszuwachs zustande kommt, der die Anforderungen an die Verifikation reduziert. Denn eines wissen wir alle: Vollkommen wird das Spiel der Verifikation nicht sein können, und ohne ein Stück Vertrauen geht es an dieser Stelle überhaupt nicht. Aber wir haben diesen Optimismus.
Lassen Sie mich damit schließen, meine Damen und Herren, daß ich darauf verweise, daß sich der Bundeskanzler
am 23. November in Hamburg vor der Atlantischen Versammlung dahin geäußert hat,
daß das Ziel der Bundesregierung nach wie vor darin bestehe, bei den C-Waffen so schnell wie möglich zu einem weltweiten Verbot zu kommen. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe.
Ein bißchen Optimismus mag vielleicht auch die Äußerung verbreiten, die Gorbatschow gestern getan hat. Er hat vor den Vereinten Nationen gesagt:
Hier sind, wie uns scheint,
— bezogen auf das C-Waffen-Verbot —
die Voraussetzungen dafür vorhanden, daß das Jahr 1990 zu einem entscheidenden Jahr wird.
Das hoffen wir, meine Damen und Herren. Wir erwarten, daß die Bundesregierung ihren Beitrag dazu leistet. Wir werden sie mit Optimismus, aber auch mit Nachdruck begleiten.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der französische Präsident Mitterrand hat für den 7. Januar nächsten Jahres die 158 UNO-Mitgliedstaaten zu einer C-Waffen-Konferenz in Paris einberufen. Er hat damit einen Vorschlag von Präsident Reagan aufgenommen. Die Sowjetunion hat positiv darauf reagiert; auch die Bundesregierung hat positiv darauf reagiert. Natürlich haben wir jede Initiative zu begrüßen, die weltweit den Kampf gegen die C-Waffen unterstützt.
Aber es fällt doch eines auf, nämlich daß von dieser Konferenz ein wesentlich bescheideneres Ziel formuliert wird als das Ziel in Genf. Es fällt auf, daß es hier darum geht, für das Genfer Giftgasabkommen von 1925 zu werben, dem bisher 111 Länder beigetreten sind, dabei aber lediglich auf den Einsatz von Giftgas verzichtet haben.
Das Ziel von Genf ist viel weiter gefaßt. In der UNO wird seit 1961, in Genf seit 1983 darum gerungen, ein weltweites umfassendes und verläßlich verifizierbares Verbot chemischer Waffen und ihrer Produktionseinrichtungen zu erreichen. Insofern ist die Pariser Konferenz ein besorgniserregendes Zeichen. Denn es stellt sich hier die Frage, ob bei diesem Prozeß jetzt ein Rückfall auf den Status des Jahres 1925 und damit praktisch um 60 Jahre droht.
Daß dies auf der Konferenz in Paris als bescheidenes Ziel formuliert werden muß, sagt natürlich auch einiges über den Stand der Verhandlungen in Genf.
Nun ist dort ja schon einiges erreicht worden. Die vierzig Länder, die sich an den Beratungen beteiligen, haben sich darauf geeinigt, daß das Ziel eine kontrollierte Vernichtung der C-Waffen und der Produktionsstätten in zehn Jahren ist. Sie haben sich darauf geeinigt, daß es darum geht, die Überwachung der Nichtherstellung zu schaffen, dabei Regelkontrollen der sogenannten erklärten Fabrikationsanlagen vorzunehmen, in denen es möglich ist, nach drei Substanzlisten gegliederte toxische Stoffe herzustellen, und eine unabweisbare Verdachtskontrolle dann vorzunehmen, wenn ein Anfangsverdacht auf Verstoß gegen die Vereinbarung besteht.
Es herrscht ferner Einigung darüber, daß dazu eine internationale Vertragsorganisation notwendig ist, die wahrscheinlich aus einer Vollversammlung, einem Exekutivorgan und einem technischen Sekretariat für die Abwicklung der Inspektionen bestehen wird. Es ist durchaus zu begrüßen, daß Frankreich, das eine Zeitlang insofern Schwierigkeiten gemacht hat, als es die sogenannten Security Stocks für sich beansprucht hat — also Sicherheitsreserven, die vielleicht in diesen zehn Jahren des Abbaus aller Chemiewaffen erst aufgebaut werden müssen — , jedenfalls wenn man die Rede Mitterrands vom 29. September 1988 richtig versteht, auf dieses Ziel inzwischen verzichtet hat und damit einen weiteren Weg freigemacht hat. Es sieht so
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aus, daß man vielleicht einen Weg findet, diese zehnjährige Abbauphase als Versuchszeit zu nutzen und vielleicht im achten Jahr eine Art Überprüfungskonferenz vorzunehmen.
Aber es gibt noch immer eine ganze Reihe von Fragen, die nicht geklärt sind. Wir hören, daß es immer noch Probleme mit der Definition gibt, auch mit der Abgrenzung von biologischen und chemischen Waffen. Wir hören, daß es immer noch Lücken bei der Kontrolle gibt, und zwar bei der ganz normalen chemischen Produktion der sogenannten nichterklärten Industrie. Man weiß nicht, wie man dort Kontrollen durchführen kann. Und — das ist vielleicht das Bedrohlichste — es gibt inzwischen Zweifel der 40 verhandelnden Länder daran, ob überhaupt noch bei allen Ländern die Bereitschaft besteht — z. B. bei den 20, die schon über chemische Waffen verfügen oder wahrscheinlich darüber verfügen, aber auch bei allen anderen Ländern, die in Krisenregionen beheimatet sind — , einem solchen Vertrag überhaupt beizutreten. Hier haben wir es mit der verhängnisvollen Erfahrung des Golf-Krieges zu tun. Dort war es möglich, erfolgreich und ungestraft chemische Waffen gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung anzuwenden. Es ist die Frage, ob das nicht ein Anreiz für andere Länder ist, gerade für arme Länder, sich eine chemische Bewaffnung im Sinne der „poor man's atomic bomb" zuzulegen, wie das manchmal genannt wird.
Auf jeden Fall steht fest, daß wir so schnell wie erwartet und erhofft keinen Abschluß in Genf haben. Das sagen uns die Amerikaner seit Anfang dieses Jahres. Das sagen uns die Vertreter der Sowjetunion seit Mitte dieses Jahres. Eben hat Herr Lummer Gorbatschow zitiert, der eine Erwartung für einen entscheidenden Schritt nach vorn für das Jahr 1990 in seiner gestrigen UNO-Rede angekündigt hat.
Nur in der Bundesregierung hören wir immer ganz andere Aussagen. Die Bundesregierung erklärt uns seit 1985 jedes Jahr, daß ein Erfolg in Genf unmittelbar bevorstehe.
Sie redet also die Situation in Genf schön, Herr Feldmann. So ist es leider. Es hat auch — das ist interessant — exakt ein halbes Jahr gedauert, bis unsere Kleine Anfrage vom 8. Juni dieses Jahres gestern abend glücklich beantwortet worden ist. Das zeigt, daß es der Bundesregierung bei diesem Thema ziemlich ungemütlich ist. Auch in dieser Antwort steht wieder, daß es trotz zugegebenermaßen technisch äußerst komplizierter Sachprobleme — die werden dort angesprochen — bald zu einem Abschluß in Genf kommen werde.
Ich habe schon Verständnis für diesen übertriebenen Zweckoptimismus der Bundesregierung. Denn in der Tat wäre das die einzige Chance, ihre ziemlich krause Chemiewaffenpolitik in der Vergangenheit zu übertönen.
In der Tat, Herr Feldmann, ist es so, wie Frau Beer es
dargestellt hat, daß die Bundesregierung eine Mitverantwortung für den weiteren Prozeß der weltweiten chemischen Aufrüstung hat.
Sie hat 1986 die Zustimmung zu den Streitkräftezielen erteilt. Sie hat — das war eine der Voraussetzungen, die das amerikanische Repräsentantenhaus gemacht hatte — zum zweiten dann ihre Zustimmung dazu gegeben, daß im Krisenfall diese Waffen in die Bundesrepublik gebracht werden. Die Folge ist die bekannte Aufrüstung mit binären Waffen, übrigens wenige Tage nach Abschluß des INF-Abkommens begonnen, der sich genau heute jährt. Im Windschatten großer Hoffnungen ist es damals mit den binären Waffen losgegangen. Heute werden Artilleriegranaten endgefertigt. Heute wird die Big-Eye-Bombe entwikkelt. Heute haben wir eine Entwicklung im Bereich der binären Munition für die MLRS-Waffensysteme und sogar eine Konzeptphase für die sogenannten Stand-off-Weapons. Von alldem ist in Ihrem Antrag, Herr Lamers, leider gar nicht die Rede.
Insofern gibt es eine Mitverantwortung der Bundesregierung für eine neue, schwerer zu kontrollierende, leichter handhabbare und dadurch auch leichter exportierbare Generation von chemischen Waffen.
Der Gegenwert ist sehr fraglich, wenn man sich anguckt, daß in einer Chronologie der C-Waffenverhandlungen vom 25. Mai 1988 über die unitären amerikanischen C-Waffen, die bis 1992 hier verschwinden sollen, gesagt wird, sie seien größtenteils unbrauchbar und vielfach aus den 40er und 50er Jahren.
Wenn man sich das alles anguckt und dann noch hinzufügt, daß sich die Bundesregierung offenbar fest vorgenommen hat, auf keinen Fall auf das von der SPD ausgehandelte Konzept der C-Waffen-freien Zonen einzugehen, offenbar ausdrücklich nur deswegen, weil es von der SPD vorgeschlagen worden ist, dann wird deutlich, daß übersehen wird, daß hier eine große Chance wäre, Verifikationsregimes, die in Genf nach wie vor umstritten und schwierig sind, an einem solchen Modell auszuprobieren. Wer das sieht, weiß, woher dieser übertriebene Zweckoptimismus kommt.
Ich meine, hier ist die richtige Stelle, die Bundesregierung dazu aufzufordern, von diesem Zweckoptimismus abzurücken, endlich der Öffentlichkeit die Wahrheit über den Verhandlungsstand in Genf zu sagen.
Ich fordere Sie auf: Machen Sie mit uns zusammen eine Anstrengung, die Exporte von Produkten und Fertigungstechniken für chemische Waffen einzustellen.
Machen Sie mit uns eine gemeinsame Anstrengung, damit diese Pariser Konferenz tatsächlich genutzt wird, und nicht einen Rückzug auf eine resignative Position bedeutet. Darüber sind sich übrigens erfreulicherweise alle Beschlußvorlagen hier einig.
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Ich fordere Sie abschließend auf: Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß die C-Waffen insgesamt aus der Bundesrepublik ohne jedes Rückkehrrecht wegkommen.
Ergreifen Sie doch die Chance zu dem Übergangskonzept einer chemiewaffenfreien Zone, um dort die ungeklärten technischen Fragen noch lösen zu können.
Und schließlich: Lassen Sie uns alle gemeinsam etwas dafür tun, daß die weltweite Vernichtung chemischer Waffen, dieser tückischsten und unmenschlichsten aller Waffensysteme, durchgeführt wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Ich mache die Gäste auf der Tribüne darauf aufmerksam: Es ist weder Beifall noch sonst etwas zu äußern.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich muß die Vorwürfe an die Bundesregierung in aller Schärfe zurückweisen.
Die Haltung der Bundesregierung zu C-Waffen ist klar und eindeutig. Die Bundesrepublik — das wissen Sie doch — ist das einzige Land der Welt, das vertraglich auf die Herstellung und den Besitz chemischer Waffen verzichtet hat. Und kein Land hat mehr um die C-Waffen-Abrüstung gekämpft als die Bundesrepublik. Das gilt für diese Bundesregierung, und das gilt auch für die vorherigen Bundesregierungen.
Wir sind uns in diesem Haus immer einig gewesen, daß die chemische Abrüstung gerade für uns Deutsche von besonderer Bedeutung ist. Auf deutschem Boden lagern große Mengen dieser Waffen. Bei einem Einsatz wären vor allem wir betroffen, Soldaten wie Zivilbevölkerung, und zwar ohne Unterschied. Diese Waffen taugen auch nicht zur Abschreckung. Sie sind Kriegsführungswaffen. Der Giftgaseinsatz im GolfKrieg hat dies deutlich gezeigt: Chemische Waffen sind, wie General Domröse seinerzeit in der Anhörung vor dem Verteidigungsausschuß gesagt hat, auch unter militärischen Gesichtspunkten überflüssig wie ein Kropf.
Wir sind uns deshalb sicher in zwei Zielsetzungen einig: Erstens. Nicht nur der Ersteinsatz, sondern auch die Herstellung und der Besitz chemischer Waffen müssen durch ein umfassendes weltweites und zuverlässig verifizierbares Abkommen verboten werden. Zweitens. Die auf deutschem Boden lagernden C-Waffen sollten möglichst bald abgezogen werden.
Dem zweiten Ziel sind wir bereits relativ nah. Die Bundesregierung hat die verbindliche Zusage des amerikanischen Präsidenten, daß diese Waffen 1992 ersatzlos — ich betone: ersatzlos — abgezogen werden. Und diese Zusage ist bindend. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
— Frau Beer, das ist ein großer Erfolg, daß diese Bundesregierung als erste, dieser Bundeskanzler als erster es geschafft hat, die Bundesrepublik C-Waffenfrei zu machen.
— 1992. Das ist doch besser als gar nicht. Die Vorbereitungen für diesen Abzug, der 1992 abgeschlossen sein soll, Frau Kollegin, haben bereits begonnen. Der Abzug erfolgt in enger Abstimmung zwischen Deutschen und Amerikanern. Die Bundesregierung hat eine Arbeitsgruppe eigens dafür eingesetzt. Sie hat sich davon überzeugt, daß diese Waffen transportfähig und nicht so veraltet wie viele in den USA sind. Der Abtransport erfolgt — das ist noch ein wichtiger Punkt — nach deutschem Recht und deutschem Sicherheitsstandard, wie sie auch für deutsche Gefahrguttransporte gelten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bahr?
Dem Herrn Kollegen Bahr immer.
Bitte, Herr Kollege Bahr.
Vielen Dank, Herr Kollege. — Würden Sie, falls das alles so passiert — was wir beide hoffen — , die Charakteristik von dem Kollegen Lummer akzeptieren, daß die Chemiewaffenfreiheit für die Bundesrepublik trügerische Sicherheit gibt?
Das würde ich so nicht sehen. Wir haben dann erstmals eine chemiewaffenfreie Bundesrepublik. Wir haben dann auf bundesdeutschem Boden keine C-Waffen mehr. Herr Kollege Bahr, da stimmen Sie mir sicher zu: Das ist ein großer Erfolg. Das haben Sie selber einmal in unserem gemeinsamen Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle geäußert. Sie haben damals Respekt vor diesem Erfolg des Bundeskanzlers geäußert. Das kann ich heute nur wiederholen: Respekt vor dieser Leistung des Bundeskanzlers, daß wir ab 1992 erstmals keine C-Waffen auf deutschem Boden mehr haben.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — Nein; es ist nicht mehr gewünscht.
Die Vernichtung dieser C-Waffen, wenn sie bis 1992 abgezogen sind — Herr Kollege Bahr, das wissen auch Sie — , wird in den USA in einer neu zu errichtenden Pilotanlage erfolgen.
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Dr. Feldmann
Sie sehen: Die Bundesregierung braucht dazu nicht gedrängt zu werden. Wir sind an die Arbeit gegangen. Ohne das an die große Glocke zu hängen, werden diese Vorbereitungen getroffen. Die Bundesregierung war wieder einmal auch auf diesem Gebiet schneller, als Sie gedacht haben.
— Ich habe es Ihnen doch jetzt gesagt. Das können Sie jederzeit erfragen. Sie können das, was ich gesagt habe, auf den Wahrheitsgehalt prüfen.
Sie laufen nämlich mit vielen Ihrer Forderungen offene Türen ein. Die Dinge sind weiter, als Sie glauben.
Nur, Sie erkundigen sich nicht und wiederholen immer Dinge von früher. Sie reden von Frankreich und „security stock". Das ist doch ein alter Hut, Frau Kollegin.
Aber es gibt auch Forderungen von Ihnen, zu denen wir nein sagen. Wir werden unsere Zustimmung zur Lagerung von C-Waffen auf deutschem Boden nicht zurückziehen. Denn wir haben dieses Problem politisch gelöst. Das ist allemal der bessere Weg. Politisch wird das viel besser gelöst als mit der Brechstange, was Sie immer vorschlagen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Feldmann?
Selbstverständlich, Frau Kollegin Beer.
Frau Kollegin Beer.
Es wird ja nicht auf die Redezeit angerechnet.
Hoffentlich.
Sie sagten, die Frage der „security stocks" sei ein alter Hut. Daher möchte ich Sie fragen, weil Sie in Ihrem Entschließungsantrag die Konferenz im Januar in Paris positiv bewerten: Sehen Sie nicht einen Widerspruch darin, daß ausgerechnet die zwei Staaten, nämlich Frankreich und die USA, die auf der einen Seite durch Sicherheits-Stockpiles, auf der anderen Seite durch Neuproduktion der binären Waffen im Dezember 1987 die Chance auf einen Abschluß des weltweiten Verbots vermindert und unmöglich gemacht haben, zu dieser Konferenz einladen? Wie erklären Sie das?
Frau Kollegin, darin sehe ich keinen Widerspruch.
Wir werden auch — um einer zweiten Forderung von Ihnen entgegenzutreten — die USA nicht zur Einstellung ihrer Produktion binärer C-Waffen auffordern. Wir akzeptieren dies als nationale Entscheidung. Wir begrüßen sie natürlich nicht; das ist doch
ganz klar. Aber die Amerikaner haben ihrerseits unseren Wunsch respektiert, C-Waffen nicht bei uns zu lagern.
Lieber Kollege Horst Ehmke, wir halten auch nichts von Ihrem Vorschlag einer C-Waffen-freien Zone. Wir haben nach wie vor den Glauben, daß die Chance für ein weltweites Verbot noch nicht vertan ist. Das kriegen wir noch hin. Genauso wie Sie damals beim INF-Vertrag zu kurz gesprungen sind, haben wir es doch mit unserer Unterstützung zu einer weltweiten Lösung gebracht.
Wir werden uns auch weiterhin bemühen, den schwierigen Verhandlungen in Genf durch konstruktive Lösungsvorschläge über die entscheidenden Klippen zu verhelfen. Eine chemiewaffenfreie Zone ist keine Lösung. Sie wissen, C-Waffen können mit modernen Trägerraketen über weite Entfernungen punktgenau eingesetzt werden. Außerdem vernachlässigen Sie mit diesem Vorschlag die Sicherheitsinteressen der Dritten Welt. Denn ausschließlich dort und nicht etwa bei uns sind C-Waffen in der jüngsten Geschichte eingesetzt worden.
Natürlich gibt es immer noch Probleme in Genf, Herr Kollege Erler. Wir dürfen aber auch die Fortschritte nicht gering einschätzen.
— Das will ich Ihnen einmal deutlich an einem Beispiel sagen. Es ist wie mit dem Glas Wasser, von dem man sagen kann, es sei halb voll oder halb leer. Sie sagen immer, es sei noch halb voll. Wir sagen aber, es ist schon halb leer.
Wir werden den Rest auch noch schaffen.
Lassen Sie mich klar sagen, natürlich besteht das Hauptproblem in der Verifikation. Sie ist besonders schwierig, darauf haben Sie hingewiesen. Hier hat sich auch die Sowjetunion bewegt. Das begrüßen wir. Sie hat grundsätzlich ihre Zustimmung zu Verdachtskontrollen gegeben, vor Ort und innerhalb von 30 Stunden. Das ist ein wichtiger Durchbruch. Das muß allerdings noch in Vertragssprache umgesetzt werden. Dazu ist die konkrete Mitarbeit der Sowjetunion vonnöten. Wir sind zuversichtlich, daß sich hierbei die Sowjetunion in Genf aktiver beteiligen wird.
Auch wenn Gorbatschow, Frau Kollegin, in seiner gestrigen Rede wieder eine für uns alle positive Überraschung — das sehen wir doch alle so — gebracht hat, so hat sich das „neue Denken" — es ist leider so — noch nicht an allen Verhandlungstischen niedergeschlagen. Das müssen wir auch gelegentlich feststellen.
Die Verifikationsfrage, so wichtig sie auch ist, darf aber nicht zu hoch gehängt werden, meine Damen und Herren. Bereits Verdachtskontrollen können die Wahrscheinlichkeit von Vertragsverletzungen dra-
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Dr. Feldmann
stisch verringern. Darüber hinaus hat die Bundesregierung entscheidende neue Vorschläge zu den systematischen Kontrollen eingebracht. Sie zeigen, daß die Bundesregierung auch in dieser Phase viel an der Lösung der letzten strittigen Fragen mitarbeitet. Von der Konferenz in Paris über das Genfer Protokoll von 1925 erwarten wir alle wichtige, entscheidende Impulse für die Genfer C-Waffen-Verhandlungen. Da stimmen wir ja alle überein.
Die Bemühungen über die weltweite Abschaffung der C-Waffen sollen durch die Pariser Verhandungen auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Das Instrumentarium des Generalsekretärs der Vereinten Nationen soll auch bei Verstößen gegen das Genfer Protokoll gestärkt werden.
Reagan hat die Konferenz vorgeschlagen, weil der Giftgaseinsatz im Golfkrieg gezeigt hat, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, die Einhaltung des C-WaffenVerbots zu überprüfen und durchzusetzen. Diese Möglichkeiten der UNO müssen gestärkt werden. Dies findet die volle Zustimmung der FDP.
Wir sind uns auch alle einig: Die Konferenz darf nicht der Ablenkung von den Genfer Verhandlungen dienen. Sie tut es auch nicht; sonst wären die Liberalen nämlich nicht bereit, diese Konferenz zu unterstützen.
— Nehmen Sie es doch so, wie ich es gesagt habe! Der Vorwurf, der von Ihnen an die Adresse der USA gerichtet wurde, ist haltlos. Gerade George Bush, „the president-elect", ist seit Jahren für eine weltweite Abschaffung aller C-Waffen engagiert. Er hat im Wahlkampf wiederholt erklärt, daß auch er ein Präsident des Friedens und der Abrüstung werden will. Die Abschaffung der C-Waffen hat er zu seinem persönlichen Anliegen gemacht. Hierbei hat er die volle Unterstützung der FDP.
Das Wort hat Herr Staatsminister Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ihre Haltung zu den Bemühungen um ein weltweites Verbot chemischer Waffen — das sollten Sie gelegentlich einmal nachlesen, Frau Kollegin Beer, die Protokolle liegen hier — im Deutschen Bundestag wiederholt — ich möchte sagen: sehr wiederholt — dargelegt. Sie hat dabei insbesondere deutlich gemacht, daß sie den Verhandlungen über ein weltweites Chemiewaffenverbot ganz wesentliche Bedeutung beimißt, daß sie den Abschluß dieses Abkommens als äußerst dringlich ansieht und daß sie eine hinreichende Verifizierbarkeit einer solchen Verbotskonvention für erreichbar hält. Darauf hat Kollege Feldmann hingewiesen.
Im übrigen würde ich Ihnen wünschen, daß Sie vielleicht irgendwo einmal Regierungsverantwortung übernehmen können,
um festzustellen, ob Sie mit Ihrem kessen Ton innerhalb von fünf Minuten 40 Staaten der Welt zur Annahme Ihrer Vorstellungen bewegen können. Ich fürchte, auch da täuschen Sie sich, wie in fast allem, was Sie hier politisch zu verkaufen haben.
Meine Damen und Herren, diese Haltung findet auch ihren Ausdruck. Das muß ich hier einmal sagen, auch im Interesse unserer Delegationen, die — schon in der vorangegangenen Regierung — seit Jahren in Genf mit einer Fülle von Vorschlägen bemüht gewesen sind, einen Fortschritt zu erzielen, den Sie hier — auch Sie, Herr Kollege Erler — einfach mit einer Handbewegung abtun.
So einfach können Sie nicht mit 40 Staaten umgehen. Ich kann Ihnen nur dringend raten, diese Konferenzen vielleicht einmal zu besuchen und sich an Ort und Stelle einmal mit den Schwierigkeiten solcher Verhandlungen auseinanderzusetzen.
Meine Damen und Herren, die Äußerungen des gewählten US-Präsidenten Bush und die gestrige Rede von Generalsekretär Gorbatschow vor den Vereinten Nationen bestätigen uns in der Einschätzung, daß auch die USA und die Sowjetunion möglichst bald ein weltweites Chemiewaffenverbot erreichen wollen.
Zu dem von der SPD in ihrem Antrag erneut aufgegriffenen Vorschlag für eine chemiewaffenfreie Zone — das ist nicht neu; unsere Erwiderung ebensowenig — ist festzustellen: Nur ein weltweites Verbot kann das Problem lösen.
Meine Damen und Herren, die Einrichtung von chemiewaffenfreien Zonen wäre kein Schritt in Richtung auf ein weltweites Verbot, auch kein Modell, Herr Kollege Erler. Sie würde vielmehr völlig neuartige und kaum zu lösende Verifikationsprobleme schaffen, wenn es darum geht, einen Transfer von chemischen Waffen von einer Zone in die andere zuverlässig zu verhindern.
Meine Damen und Herren, Zonenkonzepte führen daher bei der chemischen Abrüstung in eine Sackgasse. Ihre Verwirklichung würde den Verhandlungen über ein weltweites Verbot wichtige Energien entziehen. Der Vorschlag, über eine chemiewaffenfreie Zone in Europa nachzudenken, muß zudem auch überholt wirken zu einem Zeitpunkt, in dem die Berichte über solche Einsätze in anderen Teilen der Welt, über die Sie ja gerade gesprochen haben, nicht abreißen und die Staatengemeinschaft sich darauf vorbereitet, einen wichtigen politischen Impuls für den weltweiten Bann chemischer Waffen zu verabschieden. Auch die neutralen und ungebundenen Staaten haben ihre Abneigung gegen regionale Lösungen bei einem Chemiewaffenverbot deutlich Ausdruck gegeben.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8545
Staatsminister Schäfer
Parallel zu den Genfer Verhandlungen beteiligt sich die Bundesregierung aktiv an der Stärkung aller Instrumente, die schon vor einem weltweiten Chemiewaffenverbot dem Einsatz und der Weiterverbreitung chemischer Waffen entgegenwirken können. Auch vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung die Außenministerkonferenz der Mitgliedstaaten des Genfer Protokolls von 1925 und anderer interessierter Staaten, die vom 7. bis zum 11. Januar nächsten Jahres in Paris stattfinden wird.
Diese Konferenz geht auf eine Initiative Präsident Reagans vor der diesjährigen UN-Generalversammlung zurück. Frankreich als Depositarstaat des Genfer Protokolls hat die Initiative aufgenommen und ist gegenwärtig intensiv mit der Vorbereitung befaßt. Dem Konferenzvorschlag waren nach den Chemiewaffeneinsätzen im Golfkrieg umfangreiche Bemühungen des UN-Sicherheitsrates um Einhaltung des Genfer Protokolles vorausgegangen, an denen die Bundesregierung initiativ beteiligt war. Erst als diese unbeachtet geblieben sind, machte Präsident Reagan diesen Konferenzvorschlag.
Es muß hier jetzt zum wiederholten Male gesagt werden, meine Damen und Herren: Diese Konferenz ist keine Alternative zu den Genfer Verhandlungen. Vielmehr soll sie aus aktuellem Anlaß und für die Zeit bis zur Durchsetzung eines solchen Chemiewaffenverbotes die vorhandenen internationalen Normen stärken.
Erklärtes Ziel der Konferenz — auch all das ist nicht neu — ist die Bekräftigung des Genfer Protokolls von 1925 und damit die Verhinderung zukünftiger Chemiewaffeneinsätze durch wen und wo auch immer.
Das Genfer Protokoll untersagt die Verwendung von erstickenden giftigen oder gleichartigen Gasen und von bakteriologischen Waffen im Kriege.
Ein weiteres Hauptziel ist die Verdeutlichung des gemeinsamen Willens der Teilnehmerstaaten der Konferenz, die Genfer Verhandlungen über ein umfassendes weltweites und verifizierbares Chemiewaffenverbot möglichst bald zu einem Erfolg zu führen, da der Einsatz chemischer Waffen nur durch deren vollständige Abschaffung wirksam verhindert werden kann.
Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede vor den Vereinten Nationen im September 1988 die Initiative zur Pariser Konferenz begrüßt. Er hat zugleich hervorgehoben, daß nur ein weltweites Abkommen, das Herstellung, Lagerung, Transfer und Einsatz chemischer Waffen überprüfbar verbietet, die Menschheit für alle Zeit von dieser Waffenkategorie befreien kann.
Ziele der Konferenz, wie Präsident Mitterrand sie genannt hat, sind ferner weitere Beitritte zum Genfer Protokoll — gegenwärtig ist das Protokoll von 111 Staaten ratifiziert und von zwei weiteren Staaten unterzeichnet — , die Bestätigung und Stärkung der Möglichkeiten des Generalsekretärs der Vereinten
Nationen zu schnellen und effektiven Untersuchungen von Verstößen gegen das Genfer Protokoll und schließlich auch die Verhinderung einer Weiterverbreitung von chemischen Waffen.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, erscheint mir wichtig, klarzustellen, daß die im Antrag der GRÜNEN angesprochene Frage eines Nichtweiterverbreitungsvertrages für chemische Waffen weder in der Genfer Abrüstungskonferenz noch in den Vereinten Nationen ein Diskussionsthema ist.
Übereinstimmung besteht allerdings darin — und das hat die diesjährige Diskussion im ersten Ausschuß der Vereinten Nationen bewiesen — , daß schon vor Abschluß eines weltweiten Chemiewaffenverbots die Ausbreitung chemischer Waffen zu unterbinden ist. Der in dem Antrag der SPD enthaltenen Forderung nach einer Selbstverpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, den Export aller Produkte und Fertigungstechniken, die zur Herstellung solcher Waffen geeignet sind, den Regelungen des Außenwirtschaftsgesetzes oder des Kriegswaffenkontrollgesetzes zu unterwerfen, ist durch die geltende Rechtslage bereits weitgehend Rechnung getragen.
Auf Grund eines von Australien initiierten Abstimmungsprozesses unter 19 westlichen Industriestaaten, zu denen auch die Bundesrepublik gehört, wird in allen diesen Staaten bereits die Ausfuhr von acht chemischen Substanzen kontrolliert, die für die Herstellung chemischer Waffen mißbraucht werden können.
Es geht ja um bestimmte Ingredienzen für ganz andere Zwecke, die erst neuerdings Aufmerksamkeit hervorgerufen haben.
Ich darf darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß darüber hinaus die Bundesrepublik bereits 1984 als erstes und bislang einziges Land der Welt auch die Ausfuhr von Anlagen, Anlageteilen und Ausrüstungsgegenständen, die zur Herstellung chemischer Waffen geeignet sind, unter Ausfuhrkontrolle gestellt hat.
Ergänzend zu dieser Bestimmung führen die betreffeden Unternehmen der chemischen Industrie auf freiwilliger Basis noch weitergehende Kontrollen durch, die nach Auffassung der Bundesregierung sehr effektiv sind.
Die weltweite Reaktion auf den Konferenzvorschlag ist ermutigend. Sowohl in Ost wie in West als auch bei den ungebundenen Staaten wurde der Konferenzvorschlag begrüßt. Kein Staat hat der Konferenz bisher eine Absage erteilt. Dieser sich abzeichnende Konsens könnte es auch später erleichtern, nach Abschluß der Genfer Verhandlungen, die nur unter den 40 Mitgliedstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz geführt werden, eine weltweite Beteiligung an der Chemiewaffenverbotskonvention zu erreichen.
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Staatsminister Schäfer
Die Bundesregierung wird auf der Konferenz darauf hinweisen können, daß wir das Genfer Protokoll 1929 ohne jeglichen Vorbehalt ratifiziert haben, daß wir darüber hinaus schon 1954 als einziger Staat der Welt völkerrechtlich auf die Herstellung von chemischen Waffen verzichtet und uns Kontrollen unterworfen haben, daß wir schließlich bei der Unterzeichnung des B-Waffen-Verbotsabkommens von 1972 zusätzlich erklärt haben, daß wir chemische Waffen weder entwikkeln noch erwerben, noch unter eigener Kontrolle lagern werden.
Das müssen einige Staaten der Welt — entschuldigen Sie, Frau Kollegin — erst einmal nachvollziehen.
Damit ist die Bundesregierung mit ihrer Politik weit über das Genfer Protokoll hinausgegangen. Bei allen Bemühungen um Maßnahmen, die schon jetzt Chemiewaffeneinsatz und die Weiterverbreitung dieser Waffen verhindern sollen, wird die Bundesregierung das prioritäre Ziel des weltweiten Chemiewaffenverbots mit aller Energie weiterverfolgen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren — das ist ein Beitrag, den ich auch für das Bundesverteidigungsministerium übernehmen mußte, weil die beiden Parlamentarischen Staatssekretäre verhindert sind — , noch einige Sätze sagen, die hier eine wichtige Rolle spielen.
Die Modernisierung des amerikanischen Chemiewaffenpotentials ist in diesem Hohen Hause wiederholt ausführlich erörtert worden. Ich verweise insbesondere auf die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 15. Mai 1986 zu dieser Thematik und auf die Aktuelle Stunde vom 11. November 1987. Die Produktion neuer chemischer Waffen ist und bleibt eine nationale Entscheidung der USA, auch wenn Sie hier an dem Tisch noch so sehr schreien, meine Frau Kollegin, und in lauten Tönen den Eindruck erwecken wollen, die Vereinigten Staaten von Amerika würden sich Ihrem Protest sofort anschließen, wenn Sie das nur in Washington versuchen. Sie haben die Gelegenheit dazu in Washington.
Ich habe gar keinen Schrei gehört, Herr Staatsminister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich stehe näher in dieser Richtung, Frau Präsidentin, und empfinde es vielleicht als etwas lauter als Sie dort oben. Aber ich meinte es nicht als schlimme Bemerkung. Schreien ist ein Ausdruck einer gesteigerten menschlichen Stimme.
Ich meinte es also nicht negativ.
Wie die Bundesregierung bereits mehrfach erklärt hat, werden die zur Zeit noch in der Bundesrepublik Deutschland lagernden Bestände chemischer Waffen der Vereinigten Staaten von Amerika spätestens Ende 1992 ersatzlos abgezogen und außerhalb der
Bundesrepublik durch die Vereinigten Staaten vernichtet werden. Gleichzeitig hat die Bundesregierung sichergestellt, daß die durch die Vereinigten Staaten produzierten binären chemischen Waffen im Frieden nicht in der Bundesrepublik stationiert werden. Diese Übereinkunft, meine Damen und Herren, hat nicht nur die Bundesregierung seinerzeit als Erfolg gewertet, sondern auch Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, die während der sozialliberalen Koalition diese Vereinbarung mit uns gemeinsam nicht zustande gebracht haben.
Für die Vorbereitung des Abzugs dieser amerikanischen Waffenbestände hat die Bundesregierung eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die erforderlichen Planungen in enger Zusammenarbeit mit der entsprechenden US-Stelle trifft. Die Arbeiten werden sicherstellen, daß die Chemiewaffen, wie vereinbart, bis spätestens 1992 aus der Bundesrepublik Deutschland abgezogen werden. Bei der Vorbereitung des Abzugs — meine Damen und Herren, das zum Schluß — werden durch die Bundesregierung die Beachtung deutschen Rechts und insbesondere die Beachtung der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Sicherheitsstandards, der Schutz der Bevölkerung und die Wahrnehmung der Belange des Umweltschutzes sichergestellt werden.
Das ist eine starke Fraktion, nicht wahr?
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3472. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist der Antrag abgelehnt.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen unter den Tagesordnungspunkten 24 b sowie den Zusatztagesordnungspunkten 5 und 6 an die auf der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Besteht Einverständnis des Hauses?
— Dann stelle ich den Antrag auf Drucksache 11/3680 zur Abstimmung. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD und Gegenstimmen der GRÜNEN mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Die Vorlagen unter den beiden anderen Tagesordnungspunkten werden gemäß dem Vorschlag des Ältestenrates überwiesen.
Ich rufe Punkt 25 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Wegfall der Befristung einer Ausbildungsregelung bei den Berufen des Masseurs, des Masseurs und
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Vizepräsident Frau Renger
medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten
— Drucksache 11/3409 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Werner .
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates sorgt dafür, daß einige im Jahre 1985 auf seine Initiative eingeführten Erleichterungen für Masseure, Masseure und medizinische Bademeister sowie Krankengymnasten bei der Durchführung des ein- bis anderthalbjährigen Berufspraktikums, das sich an den Lehrgang und an das Examen anschließt, so lange erhalten bleiben können, bis eine umfassende gesetzliche Neuordnung der Ausbildungsgänge für diese Heilberufe erfolgen kann. Daher soll die Befristung der vorläufigen Ausbildungsregelung wegfallen, womit auch in Zukunft die Anerkennung der bisherigen Ausbildung gegeben ist.
Auf Wunsch des Bundestages war ursprünglich eine Frist für diese Erleichterungen auf Ende 1986 festgelegt worden, die dann auf Ende Dezember 1988 verlängert werden mußte. Jetzt sollen diese Erleichterungen unbefristet weiter gelten.
Der Hintergrund dieser Verschiebungen und der Aufhebung der Frist ist, daß die Bundesregierung den 1986 vorgelegten und bis zum Ende der 10. Legislaturperiode nicht mehr im Parlament verabschiedeten Gesetzentwurf aus gutem Grunde bisher nicht erneut vorgelegt hat. Es gibt nämlich in der Bundesrepublik Deutschland ca. 75 Schulen für Krankengymnastik. Ein Drittel davon sind in privater Trägerschaft. Die Meinungsverschiedenheiten in den Reihen der privaten Schulen für Krankengymnastik über die Gestaltung und Durchführung der Ausbildung, vor allen Dingen im praktischen Teil, dauern an.
Leidtragende dieser anhaltenden Auseinandersetzungen sind die Masseure und die Masseure und medizinischen Bademeister, deren Berufsbild und Ausbildung sinnvollerweise im gleichen Gesetz geregelt werden kann und soll und die allen vorgesehenen Vorschriften ihre Zustimmung gegeben haben.
Die Auseinandersetzung geht also weniger um die generelle Verlängerung der Ausbildung in den beiden Berufszweigen von zwei auf drei Jahre; sie geht darum, wie die praktischen Teile der Ausbildung mit dem Lehrgang verzahnt werden sollen und ob die praktische Ausbildung im Rahmen des 18monatigen Praktikums stets auf Klinikplätzen erfolgen muß.
Diese können die in privater Trägerschaft befindlichen Krankengymnastikschulen ja nicht immer selber vorhalten. Daher glaubt eine Reihe dieser Schulen ohne eigene Klinikplätze, daß sie die für sie erforderlichen Plätze in zur Ausbildung ermächtigten Krankenhäusern nicht erhalten werden, zumal dort meist eigene öffentliche Ausbildungsstätten bestehen.
Diese Gruppe von privaten Krankengymnastikschulen sieht sich daher in ihrer Existenz bedroht. Sie befürchtet die völlige Verstaatlichung der Ausbildung.
Die CDU/CSU nimmt die Bedenken dieser Schulen sehr ernst. Sie befürwortet daher den vorliegenden Gesetzentwurf über den Wegfall der Befristung der Ausbildungserleichterungen. Sie fordert aber nachdrücklich alle von einer etwaigen gesetzlichen Neuregelung der Berufsausbildung Betroffenen auf, sich umgehend zusammenzufinden und nochmals über Lösungen zu beraten.
Kompromißlösungen, die den privaten Krankengymnastikschulen ohne eigene Klinikplätze entgegenkommen, sind nämlich unseres Erachtens durchaus denkbar und möglich. Für derartige Kompromißlösungen ist es allerdings notwendig, daß diese Privatschulen ihre Bereitschaft zur Mitwirkung bei der Neuregelung zur Ausbildung erkennen lassen. Kompromisse sind eben nur möglich, wenn alle Beteiligten aufeinanderzugehen wollen.
Die Einbringung eines Gesetzes über die Neuregelung der Ausbildung für die Berufe in der Massage und Krankengymnastik darf unseres Erachtens nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.
Denn diese Neuregelung ist von der Sache her geboten und wird von den meisten Betroffenen auch dringend gefordert.
Die Bundesregierung wird in Verbindung mit den Beratungen über den vorliegenden Gesetzentwurf uns allen deutlich machen müssen, daß sie die geplante Neuregelung der Ausbildung in diesen beiden Heilhilfsberufen auch dann auf den Weg bringen wird, wenn das nochmalige gemeinsame Suchen nach einer einvernehmlichen Regelung für die Frage der praktischen Ausbildung ergebnislos bleiben sollte.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begehen hier den fünften Akt eines Trauerspiels, und es ist noch nicht abzusehen, ob das der letzte Akt sein wird. Herr Kollege Werner, die Bundesregierung kann nicht darauf warten, bis sich alle Partner verständigen. Sie kann nicht alles im Konsens lösen wollen. Sie hat die gesetzliche Verpflichtung, aus ihrer Kraft heraus neue gesetzliche Lösungen vorzuschlagen, wenn ein Problem der Lösung bedarf.
Wir haben hier in Übereinstimmung in einem dieser fünf Akte gesagt: Wir befristen diese vom Bundesrat für erforderlich erachtete Regelung und setzen damit sowohl die Bundesregierung wie uns selbst unter Zugzwang.
8548 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Jaunich
Und was ist geschehen? Geschehen ist nichts. Die Bundesregierung hat ihre Schulaufgaben nicht gemacht.
Der Bundesrat mußte erneut initiativ werden, mußte eine Verlängerung beantragen; der Kollege Werner hat die Stationen hier soeben noch einmal deutlich gemacht.
— Ja, bitte, dann tun Sie's doch! Es ist doch ein Ablenkungsmanöver, was Sie machen. Es geht Ihnen doch nur darum, die Versäumnisse der Bundesregierung zu verschleiern.
Deswegen auch, Herr Kollege Eimer, Ihr Vorgehen am Mittwoch dieser Woche, wir möchten das doch, bitte schön, ohne Aussprache erledigen. Sie haben hier schlechte Karten. Sie stellen sich vor die Bundesregierung, anstatt sie, gestützt auf unseren Beschluß, dazu zu treiben, entsprechend initiativ zu werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eimer?
Ja.
Herr Kollege Jaunich, hat Ihre Fraktion — so wie auch die Bundesregierung — denn nicht die Möglichkeit, ein Gesetz einzubringen? Wäre es dann nicht redlicher zu sagen, daß wir es alle nicht fertiggebracht haben, weil die Differenzen eben so groß sind?
Herr Kollege Eimer, ich muß noch einmal sagen: Alles, was Sie hier tun, ist Ablenkung.
— Lesen Sie doch bitte die entsprechenden Bundestagsdrucksachen. Also, jetzt werde ich — ich habe ja noch ein paar Minuten Zeit — die Dinge einmal der Reihe nach darstellen.
— Erregen Sie sich nicht hier, sondern anderswo.
Das hat Herbert Wehner einmal gesagt. Aber Sie kennen die Fortsetzung, nicht?
— Ja, ja.
Also gehen wir doch chronologisch vor. Auf Drucksache 10/1729 — das war im Juli 1984 — wurde der Bundesrat vorstellig, machte auf eine unbefriedigende Situation im Bereich der praktischen Ausbildungsmöglichkeiten für Masseure, medizinische Bademeister und Krankengymnasten aufmerksam und bat darum, andere Institutionen in diese praktische Ausbildung einzubeziehen. Wir haben das beraten und haben gesagt: Jawohl, das sehen wir ein, wir müssen diese Plätze schaffen. Aber es ist eine Gesamtreform dieses Berufsrechtes nötig. Eine zweijährige Ausbildungsdauer — das ist der springende Punkt — kann ja für heutige Verhältnisse nicht mehr das Richtige sein.
Dann haben wir also gesagt: Wir werden dem Begehren des Bundesrates stattgeben, damit niemand ohne einen Platz für ein Praktikum bleiben muß. Aber, bitte schön, es muß jetzt endlich ein neues Berufsgesetz geschaffen werden. Übrigens hat der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages das schon vor zehn Jahren angemahnt. Also haben wir bei der Verabschiedung dieser zeitlich befristeten Ausnahmeregelung miteinander gesagt: Wir setzen die Bundesregierung und uns selbst unter Zugzwang. Uns selbst! So steht es hier.
Dann wurde das nichts, und der Bundesrat hat erneut die Initiative ergreifen müssen und gesagt: Die Frist läuft im Dezember 1986 aus.
— Aus der Situation der Dinge heraus müssen. Wenn Sie sich mit der Situation beschäftigt hätten, würden Sie einen solchen Zwischenruf nicht machen.
Der Bundesrat hat also seinerseits gesagt: Bitte erneut befristen, die Grenze über den 31. Dezember 1988 hinausschieben. Der Termin steht vor der Tür, es sind nur noch wenige Tage.
Das, was wir heute beraten, führt ohnehin zu einem Vakuum; denn mit Ablauf des 31. Dezember 1988 ist diese Regelung außer Kraft. Aber diesmal geht der Bundesrat gar nicht davon aus, daß eine zeitliche Befristung etwas bringen könnte. Er mißtraut der Bundesregierung nämlich auch. Er traut ihr nicht zu, daß sie ihre Schularbeiten machen und ein neues Berufsgesetz auf den Weg bringen wird.
Deswegen werden wir diesem Begehren nach Verlängerung in den weiteren Beratungen und auch bei der Schlußabstimmung zustimmen. Aber wir werden erneut die Forderung erheben, daß die Bundesregierung endlich initiativ wird. Im übrigen, Herr Kollege Eimer: Machen Sie die Rechnung mal nicht ohne den Wirt. Wir haben die Angst, die Sie offensichtlich haben, den privaten Schulträgern gegenüber nicht.
Ich sehe durchaus die Möglichkeit, daß wir als Fraktion einen solchen Gesetzentwurf einbringen. Nur sage ich Ihnen, aus Erfahrung sprechend: Ich mache Arbeiten nicht gern für die Katz', Herr Kollege Eimer. Erinnern Sie sich bitte daran — —
— Was ist denn mit dem Gesetzentwurf geschehen,
den wir zur Regelung des Heilberufs der Orthoptisten,
eingebracht haben? Darf ich einmal fragen, was damit
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8549
Jaunich
geschehen ist? Den haben Sie weggebügelt, weil er von uns kam. Die warten heute noch darauf. Da haben Sie gesagt: Wir werden das in einem großen Heilberufsgesetz, in dem wir alles Mögliche zusammenfassen, regeln. Nichts, gar nichts ist passiert.
Jetzt sage ich Ihnen: Ich bin in der Lage, für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion innerhalb von drei Monaten einen Gesetzentwurf für diesen Personenkreis zustande zu bringen, und dann werden Sie den bis zum Ende dieser Legislaturperiode schmoren und schlummern lassen. Wissen Sie, Herr Kollege Eimer, so können Sie mit mir nicht umgehen. Ich bin niemand, der das Geschäft hier erst seit gestern kennt. Ich kenne auch Ihre Verhaltensweisen, und ich sage Ihnen und der Bundesregierung: Dies ist kein starkes Stück von Ihnen.
Herr Blüm hat vor wenigen Wochen — 14 Tage ist es wohl her — , als wir die sogenannte Gsundheitsreform verabschiedet haben, hier gestanden und gesagt: Der Gesetzgeber muß handeln, er kann doch nicht die widerstrebenden Interessen freier Kräfte so walten lassen. Was hat er gesagt? reformieren oder Ruin — oder so ähnlich —, ändern oder verenden. Nun ist er ja mit seinem Gesetz verendet.
Hier sagt die Bundesregierung: Weil sich da welche streiten — die einen hätten es gern so, und die anderen hätten es gern anders — , müssen wir — — Und Sie, Herr Werner, sagen als Vertreter der Regierungsfraktion: Bitte schön, du, du, du, wir räumen euch noch ein paar Wochen ein, aber dann kommt die geballte Kraft unserer Intelligenz zum Tragen.
Meine Damen, meine Herren, dies ist ein Trauerspiel. Wir haben, wie gesagt, den fünften Akt eingeleitet, und wenn Sie so weitermachen, dann kommen noch ein paar Akte hinterher.
Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Diese Replik in die Vergangenheit hinein, Herr Jaunich, war ja sehr interessant. Ich war an dem, was in der vergangenen Legislaturperiode geschehen ist, ja nicht beteiligt. Natürlich haben Sie recht: Es ist zu bedauern, daß es weder in der vergangenen Legislaturperiode noch jetzt in diesen zwei Jahren gelungen ist, dieses Berufsgesetz auf den Weg zu bringen und zu verabschieden. Allerdings — Sie haben es selbst gesagt — bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, wem das anzulasten ist. Wir sind der Auffassung, daß das weder der Bundesregierung noch den Koalitionsfraktionen anzulasten ist
— nein, auch nicht von Ihnen zu verantworten ist —
sondern vielmehr Ausdruck kontroverser Auffassungen bei den betroffenen Berufsgruppen selbst ist. Meiner Meinung nach haben sich die Masseure auch völlig zu Recht gegen die seinerzeit vorgesehene Begrenzung der Ausbildung auf zweieinhalb Jahre gewandt.
Wir wissen alle, daß die Nachfrage nach Praktikantenstellen unverändert groß ist und anhält, daß die Verzögerungen bei der Gesamtnovellierung des Berufsrechts natürlich nicht zu Lasten der Auszubildenden gehen dürfen und daß diese erweiterten Möglichkeiten für das Praktikum selbstverständlich so lange gebraucht werden, wie wir kein neues Berufsgesetz haben. Deshalb ist die Aufhebung der zeitlichen Befristung, die mit diesem Gesetz vorgenommen werden soll, sinnvoll.
Wie wir alle wissen, gab es von Anfang an Probleme bei den Krankengymnasten mit der Integration des berufspraktischen Teils der Ausbildung in die Zuständigkeit der Schulen. Das ist vorhin schon von Herrn Werner gut ausgeführt worden. Bei den Masseuren war das nicht so vorgesehen. Zu Recht machen die privaten Krankengymnastikschulen geltend, daß sie die dann notwendigen praktischen Ausbildungsplätze nicht zur Verfügung stellen könnten und dadurch Wettbewerbsnachteile gegenüber an Krankenhäusern angegliederten Schulen hinnehmen müßten. Das kann natürlich so nicht hingenommen werden.
Nur kann ich nicht verhehlen, Herr Jaunich, daß Sie natürlich nicht so unrecht haben, wenn Sie sagen, es bestehe ein großer Handlungsbedarf. Aber auf der anderen Seite geht es uns bei anderen Sachgegenständen und Belangen auch so, daß wir versuchen, möglichst im Einverständnis mit den Betroffenen Gesetze zu machen. Erfreulicherweise liegt inzwischen ein neuer Referentenentwurf vor. Ich bin nicht ganz so pessimistisch wie Sie, sondern hoffe doch, daß es uns gelingt, bis zum Ende dieser Legislaturperiode alles unter einen Hut zu bringen. Denn es ist natürlich so, daß die Entwicklung in der physikalischen Therapie und in der Bewegungstherapie Anpassungen im Berufsbild und in der Ausbildung erforderlich gemacht hat.
Dabei ist vor allem auch wichtig, daß keiner der Berufe durch den EG-Binnenmarkt benachteiligt wird; denn Ausbildungsdauer, Ausbildungsinhalt und Prüfungen müssen natürlich EG-konform gemacht werden. Darauf haben wir zu achten, wenn wir dieses neue Gesetz machen; denn die Freizügigkeit, die wir alle durch die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes erwarten, darf keine Einbahnstraße zu Lasten unserer Masseurinnen und Masseure, Krankengymnastinnen und Krankengymnasten werden.
Zunächst aber gilt es, Nachteile für die in der Ausbildung stehenden jungen Menschen abzuwenden. Deshalb plädieren wir für die Aufhebung der Befristung und für das zügige Weiterarbeiten an dem neuen Gesetz.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Zunächst einmal kann ich es mir nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß gerade in den hier angesprochenen Berufen außerordentlich viele Frauen tätig sind und daß es deshalb durchaus sinnvoll wäre, dies auch in der Überschrift kundzutun. Der Beruf des Krankengymnasten wird zum Beispiel von vielen Krankengymnastinnen ausgeübt. Also warum nennen wir das Gesetz nicht so?
Aber nun zum Inhalt. Wieder einmal liegt der Notwendigkeit eines Gesetzentwurfes die Untätigkeit der Bundesregierung zugrunde. Und es ist völlig richtig, Herr Kollege Jaunich: Seit Jahren warten Masseure und Masseurinnen, Bademeister und Bademeisterinnen, Krankengymnasten und Krankengymnastinnen auf ihre Berufsgesetze. Seit Jahren werden sie von der Regierung vertröstet, ohne daß bisher etwas geschehen ist.
Noch am 16. September 1988 antwortete die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion, wann die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Berufsordnung für Krankengymnastinnen und Krankengymnasten, Masseurinnen und Masseure, medizinische Bademeisterinnen und Bademeister vorlegen würde, mit:
Es ist beabsichtigt, den Entwurf eines Gesetzes über die Berufe in der Massage und in der Krankengymnastik noch in diesem Jahre den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten.
Nachzulesen ist das in der Drucksache 11/2923. Aber wahrscheinlich konnte sich die Bundesregierung auch bei diesem Berufsgesetz — wie in anderen Berufsgesetzen in der Heilkunde — nicht über die Verzahnung von praktischer und theoretischer Ausbildung einigen.
Tatsache ist, daß sich der Bundesrat jetzt genötigt sah, einen Gesetzentwurf einzubringen, um den jetzt
in Ausbildung befindlichen Krankengymnastinnen und Krankengymnasten, Masseurinnen und Masseuren, medizinischen Bademeisterinnen und Bademeistern eine sichere Basis für die Beendigung ihrer Ausbildung zu geben. Kollege Jaunich wies darauf hin: Das bisherige Gesetz läuft am 31. Dezember 1988 aus.
Außerordentlich pessimistisch liest sich der dritte Abschnitt der Begründung des Bundesrates zu Art. 1, in dem der Bundesregierung offenbar nicht zugetraut wird, in absehbarer Zeit überhaupt ein angemessenes Berufsgesetz vorzulegen. Aber auch dieser Gesetzentwurf des Bundesrates kommt natürlich viel zu spät, da er frühestens im Januar 1989 in den Ausschüssen beraten werden kann und die Auszubildenden bis zur letzten Entscheidung über diesen Gesetzentwurf weiterhin im unklaren bleiben.
Meine Herren und Damen, wir empfinden es schon als einen Skandal, daß hier die Unfähigkeit der Politiker wieder einmal auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird.
Ich danke Ihnen.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Das Haus ist damit einverstanden. — Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Dezember 1988, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.