Rede von
Angelika
Beer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Vorweg möchte ich sagen, daß ich von der Abrüstungsinitiative Gorbatschows begeistert bin. Gorbatschows Politik der einseitigen Abrüstungsschritte kommt den Konzepten der GRÜNEN sehr nahe. Der Westen, die NATO sind jetzt am Zug. Wir sehen in diesen Tagen, was die westlichen Abrüstungsbeteuerungen wert sind.
Die GRÜNEN haben die heutige Debatte über das Verbot der chemischen Waffen beantragt. Die chemischen Waffen gehören zu den grausigsten Errungenschaften der modernen Militärtechnik. Zum erstenmal wurden sie von den deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg eingesetzt. 1925 wurde der Einsatz chemischer Waffen durch das sogenannte Genfer Protokoll völkerrechtlich verboten. Allerdings nur der Einsatz, nicht die Produktion und Lagerhaltung der chemischen Waffen sind durch diesen Vertrag verboten.
Ungeheure Massen an Giftgas haben die Militärs inzwischen angehäuft, insgesamt mehrere hundert-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8537
Frau Beer
tausend Tonnen fabriziert. Im Golfkrieg zwischen Iran und Irak hat sich gezeigt, wie unsicher dieses Verbot durch das Genfer Giftgasprotokoll ist. Der Irak hat über Jahre hinweg in großem Umfang Giftgas eingesetzt, zuerst gegen Truppen im Iran, dann gegen die kurdische Bevölkerung im Nordosten des Landes. Einige der Giftgasopfer sind mit ihren entsetzlichen Verletzungen in Spezialkliniken in der Bundesrepublik in Behandlung gewesen. Ihre Bilder gingen damals durch die Presse; wir erinnern uns. Es gab beträchtliche humanitäre Anteilnahme am Los der Giftgasopfer, aber es gab überhaupt keine Reaktion gegenüber den Tätern. Der Irak setzte Giftgas ein, rücksichtslos, völkerrechtswidrig, zynisch, und seine Verbündeten im Westen nahmen das einfach nicht zur Kenntnis.
Die Waffenlieferungen an den Irak gingen genauso weiter wie die politische Unterstützung für ihn. Der Kampf gegen den Iran war dem Westen als Ziel wichtig genug, um den Giftgaseinsatz durch den Verbündeten Irak billigend in Kauf zu nehmen. Das ist der eigentliche Skandal und die große Gefahr für die Zukunft. Die fehlenden Reaktionen der anderen Staaten auf den verbrecherischen Giftgaseinsatz eines Landes haben schlimme Maßstäbe für die Zukunft gesetzt.
Seit den 60er Jahren wird im Rahmen der UNO über ein völliges Verbot der chemischen Waffen verhandelt, ein Verbot, das die Produktion und die Lagerung umfaßt, das die Zerstörung der gigantischen Bestände erzwingt und diese Mordmittel von der Erde verbannt. Diese Verhandlungen sind lange Zeit nur langsam vorangekommen. Lange Zeit schien es so, als würden die Ostblockländer einen Vertragsabschluß verhindern, weil sie keine vernünftigen Überprüfungsmaßnahmen zulassen wollten. Seit die Sowjetunion ihre Politik aber geändert hat — auch hier wieder Gorbatschow — und selbst für scharfe Kontrollmaßnahmen eintritt, ist ein erstaunlicher Wandel in den Verhandlungspositionen eingetreten. Seit dem letzten Winter ist offenkundig, daß die USA und Frankreich die Verhandlungen verschleppen. Die USA lassen verlauten, eigentlich seien Chemiewaffenverbote sinnlos, weil man es sowieso nicht überprüfen könne.
Früher war also der Russe schuld. Jetzt stellt man fest: Es klappt sowieso nicht.
In ihrem Windschatten kündigten die Franzosen an, erst einmal selbst neue chemische Waffen produzieren zu wollen. Später könne man sie ja vielleicht wieder abbauen.
Zumindest zur Stabilisierung dieser US-Position hat die Bundesregierung entscheidend beigetragen. Denn die US-Militärs haben ihre Interessen an einem C-Waffen-Verbot nicht ganz plötzlich verloren, sondern weil sie etwas Besseres gefunden haben, geben sie nach.
Statt die C-Waffen abzuschaffen, produzieren sie neue, wirksamere C-Waffen, die sogenannten binären C-Waffen. Sie bestehen aus zwei Komponenten, die jede für sich ungiftig bzw. nur begrenzt giftig sind. Dadurch sind sie besser zu lagern und zu transportieren. Und sie sind in ihrer Wirkungsweise besser für den Einsatz auf dem Schlachtfeld zugeschnitten.
Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber General Rogers hatte sie für das europäische Schlachtfeld eingefordert. Seit Dezember 1987 produzieren die USA binäre Artilleriegranaten mit kurzlebigen Giftstoffen. Demnächst wird eine Flugzeugbombe — die „BigEye" — mit einem langwirkenden Giftgas hinzukommen. Die Idee dabei ist, mit den Granaten ein Gebiet kurzfristig zu verseuchen und dann mit den eigenen Truppen hindurchzustoßen. Da darf das Gift natürlich nicht zu lange wirken, damit die eigenen Truppen nicht gefährdet werden. Andererseits sollen mit den Bomben Flughäfen, Verkehrsknotenpunkte und ähnliches im Hinterland für längere Zeiträume blockiert werden.
Diese Einsatzvorstellungen sind nüchterner militärischer Alltag der US-Streitkräfte und in deren Feldhandbüchern nachlesbar. Binäre chemische Waffen gelten den US-Militärs als moderne und zweckmäßige Mittel der Kriegsführung.
Die Produktion dieser neuen binären chemischen Waffen stieß aber in den USA selbst auf erheblichen, außerordentlich heftigen Widerstand. Fünf Jahre lang scheiterten daran die entsprechenden Anträge Reagans im US-Kongreß. Und der Beschluß, den er 1985 zustande bekam, spricht Bände. Die nationale Entscheidung der USA, binäre C-Waffen zu produzieren, machte der Kongreß von der Zustimmung der europäischen Verbündeten abhängig.
Der Kongreß beschloß: Der NATO-Rat muß diese Waffen anfordern, ihre Produktion billigen. Der NATO-Rat hat entschieden, einstimmig. Eine klare Nein-Stimme hätte genügt, um diese Waffen nicht herstellen zu lassen. Hätte die Bundesregierung doch einfach gesagt: Nein, diese Waffen wollen wir nicht, wir stimmen nicht zu.
Aus allen, wirklich allen Fraktionen kamen erschütternde Stimmen über die geplante Neuaufnahme der Giftgasproduktion in den USA. Ein Nein der Bundesregierung hätte — selten genug — wohl einstimmige Zustimmung im Bundestag gefunden.
Die Bundesregierung ging einen anderen Weg, den Weg des Paktes mit dem Bösen. Sie stimmte im NATO-Rat zu, ermöglichte die Produktion der neuen Waffen — seit 1969 gibt es zum erstenmal wieder eine C-Waffen-Produktion in den USA, und das mit Hilfe der Bundesregierung! — , aber sie bekam dafür eine Gegenleistung. In den sogenannten Tokio-Vereinbarungen gab Reagan die Zusage, daß die alten C-Waffen bis 1992 aus der Bundesrepublik abgezogen werden. Diese Zusage fiel den Amerikanern relativ leicht, weil sie ohnehin vorhatten, die alten C-Waffen wegen ihrer Überalterung zu vernichten, wenn die neuen Waffen fertig sind.
Soweit alles klar. Die Bundesregierung hat damals praktisch das weltweite C-Waffen-Verbotsabkommen geopfert — denn daran haben die US-Militärs jetzt kein Interesse mehr — , um die chemischen Waffen vom Boden der Bundesrepublik wegzubekommen.
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Frau Beer
Und die Bundesregierung sagt uns: Neue binäre C-Waffen kommen uns einstweilen nicht ins Land, höchstens in Krisenzeiten. Die Bundesrepublik würde also 1992 eine informelle chemiewaffenfreie Zone sein.
Diese Zusicherung der Bundesregierung klingt aus unserer Betroffenensicht recht erfreulich. Aus US-Sicht ist sie vollständig absurd.
Man bedenke die Vorgeschichte. Der NATO-Oberkommandeur Europa klagt, er habe für einen wochenlangen Kampf mit chemischen Waffen nicht genug Munition. In schwerem politischem Ringen entschließen sich die USA, für den europäischen Kriegsschauplatz die militärisch erforderlichen Waffen zu beschaffen. Man holt dazu sozusagen die ausdrückliche Zustimmung der Europäer ein. Und dann kommen die Deutschen plötzlich daher und sagen: Ätsch, wir wollen diese Waffen gar nicht hier haben. Und der Vorschlag, sie in den USA zu lagern, aber in Krisenzeiten, kurz vor dem russischen Überfall sozusagen, über den Atlantik einzufliegen, ist dann komplett grotesk.
Man muß sich das bildlich vorstellen. Es geht nicht um eine Flugzeugladung, es geht um eine tonnenweise Ladung, die es ermöglichen könnte, einen monatelangen Kampf zu führen. Diese Ladung in Kriegszeiten hier einzufliegen —,
da würde jeder US-Senatsbeteiligte die Allianz selber auslachen, würde er das ernst nehmen.
Des Rätsels Lösung, die sogenannte Tokio-Vereinbarung, ist nirdendwo schriftlich festgehalten. Sie ist ein Männerwort zwischen Kohl und Reagan.
Auch hierauf zielt unser jetziger Antrag. Wir fordern, daß diese angebliche Vereinbarung schriftlich festgehalten wird.
So ist die Ausgangsposition absolut ungünstig. Die GRÜNEN haben nun zwei Anträge zum weiteren Vorgehen eingebracht. Den ersten wollen wir in die Ausschüsse bringen, um dort noch einmal zu diskutieren. Die Zusage der Produktion soll zurückgezogen werden. Die Bundesregierung soll die weitere Produktion der binären C-Waffen und die Möglichkeit der Kriegsführung verweigern. Wir fordern die Bundesregierung auf, Auskunft darüber zu geben, inwieweit die Zusicherung, bis 1992 die alten Bestände abzuziehen, eingehalten werden können. Bisher wird auch den Ausschüssen die Auskunft hierüber verweigert. Dies kritisieren alle Fraktionen, nicht nur die der GRÜNEN.
Unser zweiter Antrag befaßt sich mit der Konferenz Anfang Januar in Paris. Wir fordern die Bundesregierung auf, eindeutig Stellung zu beziehen, und nicht zuzulassen, daß diese Konferenz im kommenden Januar ein Verweigerungsschritt ist, die bisher blockierten Verhandlungen durch Frankreich und die USA in den Windschatten zu drücken. Wir wollen sofort ein weltweites Verbot der C-Waffen.
Es ist unmöglich, in der jetzigen Situation anderen Staaten zu ermöglichen, diese C-Waffen — die durch sehr einfache Mittel herzustellen sind — weiter zu produzieren. Die einzige Wirksamkeit sind eine Verweigerung der Neuproduktion gegenüber den USA und der sofortige Stopp sowie natürlich chemiewaffenfreie Zonen. Das kann nur ein erster Schritt sein.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich nicht wieder zu drücken, sondern Signale zu setzen. Wir fordern auf, in Paris zu streiken und diese nationalen und internationalen Interessen angesichts der schrecklichen Ereignisse durchzusetzen auch mit dem Risiko, sich eine Niederlage und den Streit in der NATO einzuhandeln.