Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zu den Wohnungsproblemen ist überfällig. Das gilt für diesen Tagesordnungspunkt, bei dem es um eine Änderung des Wohnungsbaugesetzes geht, das gilt aber auch für den nächsten Tagesordnungspunkt, der durch die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion ausgelöst worden ist.
Diese Debatte ist fällig, weil der Bundesbauminister die Probleme, die es tatsächlich gibt, bis in die letzten Tage hinein mit unglaublicher Ignoranz geleugnet hat.
Nun gibt es — daran muß man sich erinnern — den Wohnungsbauminister tatsächlich noch. Wenn es ihn nicht mehr gäbe, wäre es ehrlicher. Dann hätte auch niemand mehr die Illusion, da gäbe es noch jemand in der Bundesregierung, der sich um die Wohnungsprobleme kümmert. Es gibt ihn noch, aber er wird seiner Aufgabe nicht gerecht.
Der Oberbürgermeister von Köln meldet 29 000 Wohnungssuchende. Die CDU-Fraktion in Düsseldorf meldet Wohnungsnot. Studenten zelten auf Straßen und nächtigen in Zügen. 250 000 bis 400 000 Menschen in der Bundesrepublik haben überhaupt kein Dach überm Kopf oder wohnen nicht in eigenen Mietwohnungen. 100 000 sind ganz akut von Obdachlosigkeit bedroht. Kein Zweifel also: Es fehlen Wohnungen. Es gibt inzwischen an vielen Stellen Wohnungsknappheit, und es gibt punktuell auch Wohnungsnot. Es müssen Wohnungen her!
In dieser Situation meldet sich der Bundesbauminister mit dem Wohnungsbauänderungsgesetz. Dabei handelt es sich um einen zusätzlichen Paragraphen. Im Zweiten Wohnungsbaugesetz soll ein neues, zusätzliches Fördersystem zugelassen werden. Man kann dem zustimmen, aber die Wohnungsprobleme werden damit nicht gelöst.
Die Bundesregierung sagt: Die Feuerwehr kann außer mit dem großen Tanklöschfahrzeug zukünftig auch mit dem kleinen löschen. Das ist ja gut, aber die Feuerwehr braucht Wasser; darauf kommt es an.
Man kann also zukünftig außer mit dem traditionellen ersten und zweiten Förderweg auch mit dem dritten Förderweg fördern. Das ist ja gut, aber man braucht für die Förderung Geld, und das ist das Problem.
Dieser dritte Förderweg, die sogenannte vereinbarte Förderung, ist ein flexibles Instrument. Die Darlehens- und Zuschußgeber können von Fall zu Fall entscheiden, wieviel Geld sie für welchen konkreten Zweck zur Verfügung stellen. Sie können auch entscheiden, für welchen Mieterkreis die Wohnung zur Verfügung stehen soll, wie hoch der Mietzins ist, wie schnell er steigen darf und wie lange die Zweckbindung garantiert ist. Diese Flexibilität ist gut, wenn sie vernünftig und sozial verantwortlich genutzt wird. Deshalb stimmen wir zu. Die Flexibilität kann allerdings auch ein Ärgernis werden, wenn sie zu Mitnehmereffekten führt, wenn die gefördert werden, die sich ohnehin selbst helfen können, wenn der Mietzins zu hoch und die Zweckbindung zu kurz angesetzt werden.
8426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Müntefering
Deshalb betrachten wir die Zustimmung heute als ein Experiment. Wir werden sehen, was in den nächsten Jahren aus dem Instrument wird,
und es muß auch möglich sein, sich zu korrigieren, wenn es sich als unsozial herausstellen sollte.
Das Wohnungsloch ist hausgemacht, besser: hausgeschneidert. Es war falsch und folgenreich, daß sich der Bund aus dem sozialen Mietwohnungsbau völlig und aus dem sozialen Eigenheimbau bis auf ein Minimum zurückgezogen hat. Die Länder haben das alle mitverschuldet, und sie haben ihre Programme selbst reduziert.
Noch schlimmer aber war, daß der Bundesbauminister gegen viele Fakten und gegen die unverkennbaren Indikatoren seit Jahren erklärt, Bauen lohne sich nicht mehr, die Wohnungsprobleme im Lande seien gelöst. Der Wohnungsmarkt, Herr Minister, hat auch seine Psyche. Und wenn der Wohnungsbauminister landauf, landab über Jahre gegen Neubau argumentiert, hat das schon seine Wirkung. So wurde den Bauherren der Mut genommen.
Der Bundesbauminister macht munter weiter, zuletzt am 1. Dezember 1988, als er im Fernsehen erklärte, die Wohnungssituation in der Bundesrepublik sei ausgezeichnet. Herr Minister, das ist blanker und eitler Dilettantismus, der überdies unverschämt gegenüber denen ist, die in den Löchern hausen.
Es ist zunächst nötig, den Bedarf deutlich zu machen, die Verzerrungen der Bundesdurchschnittszahlen auszuräumen. Ihr immer wieder auftauchendes Argument, pro Person stünden immer mehr Quadratmeter zur Verfügung, ist nicht falsch. Nur, wenn der eine Haushalt eine Zunahme von 80 auf 100 Quadratmetern hat und der andere Haushalt hat überhaupt keine Wohnung, dann nutzt das dem, der überhaupt keine Wohnung hat, überhaupt nichts.
Die Bundesdurchschnittszahlen taugen zu überhaupt nichts. Diese Bundesdurchschnittszahlen sollten in ihrer Gewichtung einmal anders dargestellt werden.
Es muß gesagt werden, daß wir Wohnungen brauchen, daß die Zahl der Haushalte bis 1995 um mindestens 800 000 zunehmen wird. Dazu kommen noch die Aussiedler und Übersiedler. Es muß gesagt werden, daß sich Bauen lohnt. Es muß denen Mut gemacht werden, die als freie Wohnungsunternehmer davon ausgehen können, Mieter und auch Rendite zu finden. Es müssen diejenigen herausgefordert werden, die als
Geldinstitute, als Versicherungen und sonstige Kapitalsammelstellen die Milliarden zur Verfügung haben, die wir für den Wohnungsbau brauchen. Es müssen diejenigen an ihre Mitverantwortung erinnert werden, die als Unternehmen für ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vielleicht sogar betriebsnah und verkehrsentzerrend, Wohnungen bauen können. Notfalls muß mit denen auch darüber gesprochen werden, zu welchen Bedingungen sie dies können sollen. Denn Mitarbeiterpflege und Facharbeiterpflege können auch bedeuten, daß Unternehmen ihren Mitarbeitern und deren Familien gute Wohnungsperspektiven geben. Auch das wäre eine sinnvolle Investition.
Ich spreche über das, was der Markt leisten kann und was er leisten muß.
Die 25 000 Wohnungen, die im Jahr 1988 mehr gebaut werden als im letzten Jahr, 1987, sind frei finanzierte Wohnungen.
Der Markt reagiert, und die Politik wäre dumm, wenn sie diese Chance nicht nutzen würde. Aber, Herr Minister, Sie sollten bitte nicht durch dilettantische Redereien so tun, als ob das Problem gar nicht bestände. Machen Sie denen, die auch in der freien Wirtschaft inzwischen verstanden haben, daß man sich bewegen muß, Mut. Das Pflänzchen muß gegossen, gelockt und gestützt und nicht wieder ausgerissen werden. Dies ist die Verantwortung, der Sie im Augenblick nicht gerecht werden.
Sich in der heutigen Situation auf den freien Wohnungsmarkt zu berufen und zu verlassen, ihm aber gleichzeitig zu signalisieren, es gäbe überhaupt keine Wohnungsprobleme, ist ein Ausmaß politischer Unfähigkeit ohne Beispiel.
Ich verstehe, Herr Minister, wenn in Bayern inzwischen selbst dem Minister Stoiber die kalte Wut kommt und er den Bundesbauminister attackiert.
Was neben all dem, was der Markt leisten kann, auch noch nötig ist, das ist der soziale Wohnungsbau. Da laufen einem in diesen Wochen viele kluge Leute über den Weg, die sich über den sozialen Wohnungsbau mokieren und sich nicht schnell genug von ihm distanzieren können. Das sind lauter Leute, die selbst gut wohnen — mit Marmortreppen und vergoldeten Armaturen und mindestens Teppichböden in den Toiletten oder was da so der Maßstab ist.
Wie es sich in Wohncontainern und ohne eigene Toilette wohnt, kann keiner hier im Hause mitfühlen. Da müssen wir uns mal ein bißchen überlegen, daß es solche Menschen gibt bei uns im Land.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988 8427
Müntefering
Da gibt es überhaupt nichts zu lachen. Diejenigen, die da fragen, was wir mit sozialem Wohnungsbau sollen, wissen nicht mehr, wie es ist, wenn man keine Wohnung hat. Und die wissen nicht, wie es ist, wenn man in einer schlechten, menschenunwürdigen Wohnung sitzt. Vier Personen .auf 16 Quadratmetern, diese Situation haben wir doch heute wieder. Da können Sie doch nicht sagen, die Probleme seien alle gelöst.
Nachdem nun viele hier im Hause und manche draußen den sozialen Wohnungsbau nur noch mit spitzen Fingern anfassen, ist es, glaube ich, nötig, ein paar Worte zu seiner Funktion zu sagen. Sozialer Wohnungsbau heißt: Die Gemeinschaft aller nimmt etwas von dem, was sie gemeinsam in die Steuerkasse gegeben hat und fördert damit Wohnungen für die, die nicht allein Wohnungen kaufen oder mieten können. Das ist auch eine Form der Solidarität, die bei uns im Lande unverzichtbar ist.
Unser sozialer Wohnungsbau ist eine der großen Errungenschaften dieser Republik. Er ist keine Sünde der Vergangenheit, sondern eine Leistung, um die uns andere Länder beneiden.
Viele haben Anteil daran — auch bei Ihnen.
Das gilt übrigens auch für die gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften und die Genossenschaften, die von der Mehrheit des Hauses in diesem Sommer wie irgendwelche Relikte abgemeiert und in den freien Markt entlassen worden sind.
Und ich sage an dieser Stelle auch ein Dankeschön an Kurt Müller,
der auf seine Art über viele Jahre dazu beigetragen hat, daß der soziale Wohnungsbau in der politischen Diskussion geblieben ist.
Wir brauchen sozialen Wohnungsbau nie mehr in dem Umfang wie noch in den 70er Jahren. Aber, meine Damen und Herren, 53 000 Sozialmietwohnungen in 1982 und nur noch 12 000 in 1987, das ist ein zu krasser Absturz.
Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau, wenn nicht die Kellerkinder der Wohnungsmarktwirtschaft über fünf oder zehn Jahre vergeblich auf eine Besserung ihrer Wohnungssituation warten sollen, während die anderen in dicken Sesseln das Gewissen damit beruhigen, daß der Markt irgendwie und irgendwann langsam, langsam sickernd die ganz unten auch erreicht.
Deshalb müssen wir weiter auch sozialen Wohnungsbau haben — neben all dem anderen, was der Markt leisten kann.
Sozialer Wohnungsbau heißt, am richtigen Platz eine Wohnung zu bauen für eine junge oder kinderreiche Familie, für Alleinerziehende, Studenten oder Aussiedler, Deutsche oder Ausländer, die auf diese Solidarität angewiesen sind.
Deshalb heißt die Forderung der SPD-Bundestagsfraktion: 1989 und in den Folgejahren eine gute Milliarde DM Bundesmittel für den sozialen Mietwohnungsbau.
Wenn das, Herr Minister, mit den Theorien Ihrer Berater nicht übereinstimmt, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Wechseln Sie die Theorien, wechseln Sie die Berater.
Nehmen Sie das Geld, und geben Sie es dem Herrn Rommel in Stuttgart, dem Herrn Schmalstieg in Hannover und dem Herrn Kronawitter in München. Die wissen alle, was sie damit machen können. Sie haben überhaupt keine Probleme, guten sozialen Wohnungsbau für die Notfälle zu machen, die sie in den Städten haben.
Nehmen Sie die Sorgen der Stadt Köln. Über die akut Obdachlosen hinaus stellten 1988 bisher in Köln 26 000 berechtigte Haushalte einen Antrag auf eine Mietwohnung. 12 000 davon waren dringende Fälle. Das waren Menschen, die in unbewohnbaren Wohnungen wohnten, das waren Behinderte, da ging es um Familienzusammenführungen, da ging es um extrem überbelegte Wohnungen — fünf Personen mit weniger als vier Räumen —, da ging es um akute Räumungsverfahren, da ging es um Menschen, die in Übergangsheimen stecken und da raus müssen, und da ging es um Weitpendler, die jeden Tag 100 Kilometer und weiter fahren müssen.
Übrigens, trotz der 1 400 Beschlagnahmen, die die Stadt Köln in diesem Jahr an Wohnungen durchführt, muß sie inzwischen, weil das Problem anders gar nicht zu lösen ist, jeden Tag 70 000 DM für Hotelbetten zahlen, weil sie anders die Menschen überhaupt nicht unterbringen kann.
Dies ist doch wirklich abstrus. Der Bundesbauminister stellt sich hin und sagt: Problem gelöst.
Wer angesichts solcher Situationen immer noch tatenlos bleibt, wie es diese Bundesregierung tut, der handelt unsozial. Menschenwürdig zu leben ist ein Grundrecht.
Herzlichen Dank.