Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Guten Morgen, Herr Minister! Ist erst der Mythos etabliert, regiert sich's gänzlich ungeniert — der Mythos vom „global ausgeglichenen Wohnungsmarkt", den Sie nicht müde werden zu hätscheln, nicht erst seit dieser Legislaturperiode, aber jetzt erst recht. Man könnte Ihnen zwar zugute halten: Als Sie die Antwort auf die Große Anfrage geschrieben haben, war es erst Juni; da kannten Sie die Katastrophenmeldungen dieses Herbstes noch nicht. Aber Sie sind nicht schlauer geworden.
Gerade in der letzten Woche — in direktem Zusammenhang mit den Ergebnissen der Wohnungszählung: amtlich festgestellter Fehlbetrag von einer Million — konnte man von Ihnen lesen — Schlagzeilen von Schneider — : „Keine Wohnungsnot! Wohnungsversorgung hierzulande ausgezeichnet! " „Die Lage ist ausgezeichnet." „Nur im Einzelfall fehlt Wohnraum!" Schneider: „Wohnungsnot gibt es nicht! Versorgung ist besser als anderswo auf der Welt! "
Das ist mehr als peinlich: Das ist eine dreiste Verhöhnung von Hunderttausenden von Menschen, die Woche für Woche von Vermieter zu Vermieter rennen auf der Suche nach Wohnungen. Das ist eine Verhöhnung von Hunderttausenden, denen die Räumungsklage droht, von Zehntausenden, die schon heute überhaupt kein Dach mehr über dem Kopf haben.
Doch damit nicht genug: Diese Regierungsantwort enthält eine ganze Fülle solcher Verdrehungen der Realität. Man muß das hier wirklich einmal öffentlich zitieren; diese Drucksachen gehen oft so schnell in den Archiven unter. Vielleicht schämen Sie sich wenigstens dann, wenn Sie das hier in der Öffentlichkeit einmal hören, wenn Sie schon nicht selber merken, wie realitätsfern Sie sind.
Schon der erste Satz hier heißt:
Die Bilanz der Wohnungs- und Städtebaupolitik der Bundesregierung ist positiv.
— Ja, ich lese das gerne; die Zuhörer und Zuhörerinnen können sich, denke ich, ihren eigenen Reim darauf machen. — Dann heißt es weiter:
Die Ergebnisse ihrer erfolgreichen Wohnungs-
und Städtebaupolitik sind auf dem Wohnungsmarkt sichtbar geworden ... der Wohnungsmarkt ist global ausgeglichen.
Dann zum Mieterschutz:
Daß ein ausreichendes Wohnungsangebot der beste Mieterschutz ist, wurde für viele Mieter zur praktischen Erfahrung.
Dann weiter:
Die Bundesregierung geht davon aus, daß auch künftig der Wohnungsmarkt
— Ich kann doch nicht die ganze Drucksache vorlesen. —
auf die Angebots- und Nachfragebedingungen reagiert und sich weitgehend
— es lebe die Prognose! — spannungsfrei und flexibel fortentwickelt.
Und dann — vorläufiges Fazit — : „Die Bundesregierung sieht daher keine Veranlassung, ihre Wohnungspolitik zu korrigieren."
Die Betroffenen, wie gesagt, werden sich schon ihren eigenen Reim darauf machen.
Nun kann man mir natürlich entgegenhalten, ich hätte doch nicht im Ernst erwartet, daß die Regierung in diesem Text eine selbstkritische Bilanz ihrer gescheiterten Wohnungspolitik zieht. Sie müßte dann ja auch zu ganz anderen Konsequenzen kommen. Darf man aber so etwas wirklich nicht erwarten? Ich habe mal gelernt — man kann es auch in politikwissenschaftlichen Büchern lesen —,
parlamentarische Anfragen — und über eine solche diskutieren wir heute — sind ein wichtiges Instrument des Parlaments bei der Kontrolle der Regierung. Zwar gilt als eigentlicher Souverän im Staat das Volk. Aber man hat es ja nicht so gern, wenn es sich allzusehr und direkt in die Politik einmischt.
Dazu soll es sich, bitte schön, des Parlaments bedienen.
Was unter dieser Regierungskontrolle genau zu verstehen ist, darüber belehrt uns auch die politische Wissenschaft. Ich will Ihnen da einmal etwas aus einem Buch über Anfragen zitieren. Da heißt es:
Durch sie
— also, durch diese Kontrolle —
soll beim Kontrollierten das Bewußtsein wachgehalten werden, daß er beobachtet wird, wodurch in erheblichem Maße korrektes Verhalten bewirkt werden kann.
8440 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 116. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Dezember 1988
Frau Teubner
Und zur Kontrollfunktion der Großen Anfragen speziell kann man lesen:
Sie dienen heute oft nicht hauptsächlich als Mittel zur Befriedigung des Informationsbedürfnisses, sondern als Antrag auf Debatteneröffnung und somit als Kontrollakt des Parlaments in Form der öffentlichen Aussprache.
Ich füge hinzu: Um ein „korrektes Verhalten" der Regierung zu bewirken. Aber die Kontrollierten brauchen sich deswegen nicht weiter beunruhigt zu fühlen.
Denn in demselben Text, den ich soeben zitiert habe, findet sich ein paar Seiten weiter die schlichte Aussage:
Die Parteivertreter gehen von vornherein davon aus, daß ihre Argumente auf ihre politischen Gegner ohne Einfluß bleiben.
Wir haben das hier heute ja auch wieder zur Genüge bewiesen bekommen. Das ist nichts Neues. Neu und immer wieder überraschend aber ist die Dreistigkeit, mit der die Regierung auf die an sie gerichteten Fragen teilweise reagiert.
Interessant sind übrigens auch die Bereiche, in denen sie Nichtwissen zugeben muß. Z. B. hat sie keine konkreten Informationen darüber, aus welchen Gründen zahlreiche Menschen, die bezugsberechtigt wären, das ihnen zustehende Wohngeld nicht in Anspruch nehmen. Nichts wissen Sie über das Problem der Verdrängung von Mietern durch Luxussanierung und Umwandlung. Keine Ahnung haben Sie von dem Umfang der Obdachlosigkeit in diesem Land. Sie hätten fragen können, Sie hätten sich kundig machen können, wären Sie an die Vertreter der Interessenorganisationen, an den Mieterbund und andere, herangegangen.
Aber das kümmert Sie einfach nicht, weil das nicht die Lobby ist, für die Sie angetreten sind.
Es kann natürlich sein, daß Sie gestern etwas dazugelernt haben. Und wenn Sie schon nicht auf die GRÜNEN hören, müßte man vermuten, daß Sie wenigstens das zur Kenntnis nehmen, was der Städtetag sagt, was die Wohlfahrtsverbände sagen, was der Mieterbund sagt: Wir brauchen ein langfristig angelegtes Wohnungsbauprogramm.
In diesem Land erwartet die Industrie in diesem Jahr Rekordgewinne. In diesem Land schwimmen die Unternehmen in Geld. Sie legen es auch in Bauten an. Die „Wirtschaftswoche" hat z. B. vor einem Jahr zitiert, daß für Frankfurt in den nächsten Jahren jährlich 150 000 Quadratmeter Fläche, Bürofläche gebaut werden. 5 bis 6 Milliarden DM werden da im Baubereich investiert werden, allein in Frankfurt.
Aber man weiß, wofür. Die Obdachlosigkeit und die Wohnungsnot werden damit nicht vermieden und nicht beseitigt. Obdachlosigkeit und Wohnungsnot in diesem Land sind eine Schande — aber nicht für die, die davon betroffen sind, sondern für die, die solches zulassen.
Ich will jetzt aber noch ein paar Anmerkungen — kritische, versteht sich — zu der SPD machen. Sie haben Ihre Anfrage unter einen recht anspruchsvollen Titel gestellt: „Für eine soziale Wohnungs- und Städtebaupolitik". Gemessen an diesem Titel finde ich das Fragenpanorama doch ein bißchen dürftig.
Demnächst wird hier ja „40 Jahre Bundesrepublik" gefeiert. Das heißt auch: 40 Jahre Wiederaufbau, verbunden mit unbeschreiblichen Verwüstungen — das wissen Sie alle — , die die Planer in den Städten hinterlassen haben.
In all den Jahren wurde aber kaum so deutlich wie heute, daß die Städte den Interessen der Wirtschaft überlassen werden. Die Wirtschaft bestimmt, wie die Räume heute gegliedert werden, wie Nutzungen verteilt werden, wie die Lebensbedingungen aussehen, unter denen die Menschen in den Städten wohnen. Jede Planung, jede Investition in den Städten, ob im Verkehr, im Kulturbereich, in der Architektur, sogar im Grünbereich, jede Investition rechnet sich heute für die Entscheidungsträger ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Standortqualität, von Stadtvermarktung.
Stadtumbau, Stadtverschönerung, das klingt alles ganz gut. Sie haben aber heute dazu geführt, daß es Stadtbilder gibt, in denen Randgruppen nicht mehr gern gesehen werden, in denen Randgruppen kaum noch vorkommen. Daraus ergeben sich Probleme, nach denen beim Thema „soziale Städtebaupolitik" auch gefragt werden muß.
Eine Stadt, die sich um Olympische Spiele oder um die Weltausstellung bewirbt, denkt natürlich lieber über teure Museumsbauten als über Freizeiteinrichtungen für die Bevölkerung nach.
Sie denkt lieber über First-Class-Hotels als über sozialen Wohnungsbau nach, sie denkt lieber über Penthouse-Dachwohnungen für zahlungskräftige Yuppies als über Ausländerinnen und Ausländer nach, die kein Dach über dem Kopf haben. Solche Städte den-
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Frau Teubner
ken lieber über Spielbanken als über Kinderspielplätze nach.
Hier wird zwar sogenannte Urbanität wiedergewonnen, aber erkauft durch die Ausblendung ganzer sozialer Gruppen.
In Frankfurt hat man überlegt, ob man vielleicht ganze Straßenzüge für Ausländer zu Sperrzonen erklären sollte. Früher hat man die Hochhäuser dort gehaßt, heute ist man stolz auf die Skyline. Jeder Penner, jede Prostituierte stören da nur. Auch angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie Städtebaupolitik, die sich als sozial versteht, darauf reagieren kann. Die bestehenden Planungsinstrumente haben offensichtlich nicht ausgereicht, diese neue Stadtgesellschaft, diese neue Stadt zu verhindern, die auch eine Klassengesellschaft ist, deren Mitglieder voneinander abgeschottet sind und immer mehr voneinander abgeschottet werden.
30 % aller Bundesdeutschen wohnen in Großstädten, 50 % aller Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, 50 % aller Ausländer und Ausländerinnen, 40 % aller alten Leute über 65 Jahre, 40 % aller Arbeitslosen wohnen in Großstädten. Armut in Großstädten ist eine Realität; in den Sozialetats hat sie sich längst niedergeschlagen. Auch für eine soziale Städtebaupolitik ist die Frage wichtig — das hätte meines Erachtens auch in dieser Großen Anfrage beleuchtet werden müssen.
Sind die Städte auf die Bewältigung dieser Aufgaben eingestellt? Auf welche Aufgaben müssen sie sich neu einstellen? Mit welchen Größen muß Stadtentwicklung zum Jahr 2000 hin rechnen? All das sind zentrale Fragen einer sozialen Städtebaupolitik. Die Debatte ist noch lange nicht zu Ende.