Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Ich darf vor Eintritt in die Tagesordnung folgende Mitteilungen verlesen.Durch die Ernennung des Kollegen Dr. Schäuble zum Bundesminister ist im Vermittlungsausschuß und im Wahlprüfungsausschuß ein Mitglied der Fraktion der CDU/CSU zu ersetzen. Als Nachfolger benennt die Fraktion der CDU/CSU im Wahlprüfungsausschuß den Abgeordneten Bohl als Stellvertreter, im Vermittlungsausschuß den Abgeordneten Bohl als ordentliches Mitglied; das bisherige ordentliche Mitglied, den Abgeordneten Seiters, als Stellvertreter. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung solla) die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Entwurf eines Vertrags zur Gründung der Europäischen Union — Drucksache 10/1423 —, die in der 74. Sitzung zur federführenden Beratung dem Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an einige andere Ausschüsse überwiesen wurde, nachträglich auch dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zur Mitberatung überwiesen werden;b) der Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur Erklärung der Bundesregierung zum Schutz der Nordsee und des Küstenmeeres — Drucksache 10/2376 —, der in der 101. Sitzung dem Innenausschuß zur federführenden Beratung überwiesen wurde, nachträglich auch dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, dem Ausschuß für Verkehr und dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll der Einzelplan 25 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau —, der ursprünglich für Donnerstag vorgesehen war, heute abend als letzter Einzelplan beraten werden.Wir fahren fort mit derZweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1985
— Drucksachen 10/1800, 10/2250 —Beschlußempfehlungen und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksachen 10/2301 bis 10/2330 — Ich rufe auf:Einzelplan 06Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern— Drucksachen 10/2306, 10/2330 —Berichterstatter:Abgeordnete Gerster Dr. Riedl (München)KühbacherFrau Seiler-AlbringKleinert
Einzelplan 36 Zivile Verteidigung— Drucksachen 10/2326, 10/2330 —Berichterstatter:Abgeordnete Gerster KühbacherFrau Seiler-AlbringKleinert
Einzelplan 33 Versorgung— Drucksache 10/2324 —Berichterstatter:Abgeordnete Strube KühbacherVerheyen
Zum Einzelplan 06 liegen Ihnen zwei Änderungsanträge des Abgeordneten Kleinert und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 10/2418 und 10/2494 sowie ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2474 vor.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Einzelpläne 06, 36
Metadaten/Kopzeile:
7630 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Präsident Dr. Jenningerund 33 eine verbundene Aussprache von drei Stunden vorgesehen. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die allgemeine Aussprache.Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die Politik der Bundesregierung und der von ihr vorgelegte Haushalt — dies gilt insonderheit für den Haushalt des Bundesministers des Innern — müssen sich daran messen lassen, ob sie den arbeitsmarkt- und umweltpolitischen Herausforderungen, den beiden Hauptproblemen der deutschen Innenpolitik, gerecht werden. Dies gilt insonderheit für die Politik des Umweltministers Zimmermann. Ich will mich in meinem Beitrag auf diesen Bereich beschränken. Meine Kollegen Dr. Nöbel und Kühbacher werden auf die anderen Felder der Innenpolitik eingehen.Meine Damen und Herren, die politischen Rahmenbedingungen für eine effektive und vorbeugende Umweltpolitik sind heute günstig. Das Umweltbewußtsein der Bürger ist in den letzten Jahren rapide gewachsen.
Man kann es kaum glauben, daß es ein wichtiges Ziel des Umweltprogramms 1971 der Bundesregierung Willy Brandt gewesen war, das Umweltbewußtsein der Bürger zu wecken und zu fördern.
Dieses Ziel ist heute eindeutig erreicht, meine Damen und Herren. Heute wird die Notwendigkeit von Umweltschutz allgemein anerkannt. Der Bürger akzeptiert auch finanzielle Belastungen zugunsten einer gesunden Umwelt.Im Gegensatz zu früher, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, tritt die heutige parlamentarische Opposition nicht auf die umweltpolitische Bremse. Im Gegenteil: Mehr als einmal haben wir der Regierung und allen anderen Fraktionen dieses Hauses eine umweltpolitische Koalition zur Um-und Durchsetzung wirksamer — auch unpopulärer — Maßnahmen zum Schutze der Umwelt angeboten. Wir stehen zu diesem Angebot, meine Damen und Herren, wir erneuern es heute.Die fortschreitende Umweltzerstörung und die davon ausgehende Gefährdung der menschlichen Gesundheit sowie die Milliardenschäden für unsere Volkswirtschaft gebieten schnelles, wenn möglich gemeinsames Handeln aller Fraktionen dieses Hauses. Unser Wissen, meine Damen und Herren, um die Schadensursachen und Schadensfolgen reicht zum Handeln aus.In Ihren Reden, Herr Zimmermann, stimmen Sie darin mit uns überein. Die Wirklichkeit Ihrer Politik, Herr Innenminister, sieht völlig anders aus. Das ist das Hauptdilemma Ihrer Politik, Herr Zimmermann. Reden und Handeln, Ankündigen und Durchsetzen passen nicht zueinander.
Sie tun in Ihrer Umweltpolitik lediglich so, als ob Sie etwas täten.
Ihre Umweltpolitik ist mehr auf Medienwirkung bedacht, aber nicht darauf, tatsächlich etwas real zu bewirken.
Mir fällt zu Ihnen, Herr Zimmermann, und ihrer Politik ein Aphorismus des Polen Stanislaus Leč ein — ich zitiere —: „Und wieder zerschlug sich die Wirklichkeit an ihren Träumen."Sie, Herr Zimmermann, haben es systematisch versäumt, Ihren Ankündigungen auch rechtskräftige Entscheidungen mit absehbaren umweltpolitischen Fortschritten folgen zu lassen.
Ich will dies an einigen wenigen Beispielen belegen:Beispiel eins: Kraftfahrzeugemissionen: Der Kraftfahrzeugverkehr ist am Waldsterben maßgeblich beteiligt. 1,5 Millionen Tonnen Stickoxide pro Jahr, die unsere Umwelt belasten, stammen von ihnen. Auf einen Schlag könnten wir von heute auf morgen, ohne große Umstände, ohne finanzielle Opfer, ohne Belastung unserer Wirtschaft bei Einführung eines Tempolimits die Luft um mindestens 180 000 Tonnen Stickoxide,
um rund 10 000 Tonnen Kohlenwasserstoffe, um mehr als 400 000 Tonnen Kohlenmonoxide entlasten.
Alle vorliegenden Untersuchungen sind sich darin einig. Statt entschlossen zu handeln, Herr Zimmermann, planen Sie einen Großversuch zum Tempolimit, eine reine Alibiveranstaltung,
ein mehr als 12 Millionen DM teurer Großversuch zur Täuschung der Bürger, meine Damen und Herren.
Ich will dies belegen: Bundeskanzler Kohl hat erklärt, bis Ende August 1985 würden die Ergebnisse dieses Großversuchs vorliegen. Sie wissen doch, meine Damen und Herren, Sie, Herr Zimmermann — auch Verkehrsminister Dollinger weiß es —, daß nach übereinstimmender Aussage der TÜVs minde-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7631
Schäfer
stens 14 Monate Untersuchungszeit notwendig wären.
Und dann wären die Landstraßen in den Großversuch noch nicht einmal mit einbezogen.
Sie verschenken zwei Jahre Zeit, in denen Sie etwas Wirksames zur Umweltentlastung tun könnten. Statt zu handeln, reden Sie, meine Damen und Herren.
— Ihr Verhalten, lieber Herr Friedmann, ist unverantwortlich. Der Wald stirbt nämlich viel schneller, als Sie handeln.
1983 waren 34 % des Waldes krank; 1984 sind es bereits 50%.
Freiherr von Boeselager, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Waldbesitzerverbände, hat recht, wenn er folgendes Bild gebraucht — ich zitiere —:Der Wald gleicht dem Wanderer, der zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber fiel.
Der schwerverletzte Wanderer wurde gerettet, weil seine Wunden sofort verbunden wurden und nicht erst eine Kommission gebildet wurde, die feststellen sollte, wie viele Räuber es gewesen waren.
Dieses Bild trifft genau die Situation, in der sich Ihre hinhaltende Umweltpolitik befindet.
Jetzt will ich gern Ihre Zwischenrufe aufgreifen. Sie sagen: 13 Jahre lang nichts getan in der Umweltpolitik. Doch!
— Sie bestätigen es. — Jetzt sollten Sie sich Ihre Argumente genau überlegen. Am 28. Oktober 1982, wenige Wochen, nachdem Sie, Herr Innenminister Zimmermann, Ihr Amt übernommen hatten, hat der Innenminister von diesem Pult aus erklärt, er werde seine Umweltpolitik in der Kontinuität der Umweltpolitik seiner Vorgänger fortführen. Überlegen Sie bitte Ihre Argumentation. Wenn die Umweltpolitik so schlecht gewesen wäre, wie Sie esbehaupten, könnte er die Kontinuität der Umweltpolitik nicht als seinen Maßstab erklären.
Im übrigen gehe ich davon aus, daß die Kollegen der FDP, die die Umweltminister Genscher, Maihofer, Baum gestellt haben, endlich einmal der historischen Wahrheit zuliebe ihre Behauptung, 13 Jahre lang sei nichts geschehen, hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages zurechtrücken werden.
Ich will etwas zu dem zweiten Beispiel sagen: der Einführung des abgasarmen Autos. Auch die mehr als zögerliche Einführung des abgasarmen Autos, wie Sie von der Bundesregierung und Sie von der CDU/CSU und der FDP sie betreiben, wird dem Wald in den nächsten Jahren nicht helfen. Wir hatten im Deutschen Bundestag einstimmig am 9. Februar 1984 beschlossen, bereits zum 1. Januar 1986 nur noch solche Pkws zuzulassen, die den amerikanischen Abgaswerten entsprechen.
Die Bundesregierung und ihre Mehrheit haben sich wie im Fall Buschhaus über diesen einstimmigen Bundestagsbeschluß hinweggesetzt. Sie wissen, daß es so möglich gewesen wäre, jährlich die Luft um 300 000 t Stickoxide zu entlasten. Das Schneckentempo, mit dem die Bundesregierung die Einführung des abgasarmen Autos betreibt, bringt bis zum Jahr 1990 noch nicht einmal die Hälfte dieser sonst bis 1990 Jahr für Jahr möglichen Umweltentlastung.
Beispiel drei: Bodenschutzkonzept. Der Boden ist, wir alle wissen es, eine der natürlichen Lebensgrundlagen für die Menschen, für Tiere und Pflanzen.
Alle Parteien sind sich darin einig, daß ein Schutzkonzept für den Boden überfällig ist. In der vorigen Haushaltsdebatte am 6. Dezember 1983 haben Sie, Herr Zimmermann, angekündigt, Sie würden Anfang 1984 ein entsprechendes Konzept vorlegen. Heute, elf Monate später, warten wir noch immer auf die Vorlage einer abgestimmten Bodenschutzkonzeption durch die Bundesregierung. Am 20. August haben Sie, Herr Zimmermann, einen nicht abgestimmten Referentenentwurf, großartig die Bürger, die Öffentlichkeit täuschend, als Bodenschutzkonzeption der Bundesregierung vorgestellt — übrigens fünf Tage, nachdem wir unseren entsprechenden Antrag zum Schutz des Bodens der Öffentlichkeit vorgelegt hatten.In Ihrem nicht abgestimmten Referentenentwurf, Herr Zimmermann, steht viel Richtiges. Ich will das ausdrücklich unterstreichen. Nur können Sie sich damit bei Ihren Ministerkollegen nicht durchsetzen, weder beim Verkehrsminister mit Ihrer richtigen Forderung nach besonderer Förderung der Schiene — der Verkehrsminister baut lieber
Metadaten/Kopzeile:
7632 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Schäfer
Straßen und kürzt die Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr, eine umweltpolitische Sünde ersten Ranges — noch beim Landwirtschaftminister mit Ihrer richtigen Forderung nach Artenschutz noch beim Bauminister mit Ihrer richtigen Forderung nach Begrenzung des Siedlungsflächenverbrauchs.
Die Beispiele Ihrer Fehler in der Umweltpolitik ließen sich nahezu mühelos für alle Bereiche fortsetzen. Viel reden, wenig tun — Zimmermann, wie er leibt und lebt.Ich will die Behandlung Ihrer Umweltpolitik mit wenigen Zitaten vom Deutschlandtag der Jungen Union abschließen. Sie erhalten von der Jungen Union, dem wahrlich lammfrommen Parteinachwuchs der CDU/CSU,
für Ihre Politik, insbesondere Ihre Umweltpolitik, Bewertungen wie „Schwachstellen", „Pannen", „Skandale". Ihre Haltung zum abgasarmen Auto sei alles andere als „das Gelbe vom Ei".
Bei der Einführung eines Tempolimits dürfe „nicht länger gefackelt" werden.
Wo die Junge Union recht hat, hat sie recht. In diesem Falle hat sie recht, so schlimm und verheerend ihr Beschluß zur Oder-Neiße-Grenze ist.Meine Damen und Herren, wir sprechen inzwischen, auch in diesem Haus, nicht mehr von Umweltschutzpolitik, sondern von Umweltpolitik, von Ökologiepolitik. Umweltpolitik, Ökologiepolitik, das ist in der Tat mehr als die Vermeidung und die Beseitigung von Umweltbeeinträchtigungen und Umweltschäden. Umweltpolitik, Ökologiepolitik, das muß heute zugleich Politik zur Erhaltung und Wiederherstellung der natürlichen Umwelt sein, Politik zur Erhaltung der menschlichen Gesundheit, Politik zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, Politik zur Vermeidung von Milliardenschäden und zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft, Politik zur Förderung von umweltfreundlichen, rohstoffschonenden, energiesparenden, exportträchtigen Technologien. Das ist heute Umweltpolitik, das ist Ökologiepolitik. Eine solche umfassende Umweltpolitik, die Ökologie und Ökonomie miteinander verbindet, die Arbeitsplätze schafft und die Umwelt sichert und erhält, vermissen wir leider bei Ihnen, Herr Bundesinnenminister.
Als einzige Fraktion dieses Hauses, meine Damen und Herren, geben wir Sozialdemokraten mitunserem Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" eine Antwort auf diese Herausforderung.
Wir fordern Sie schon heute auf, unserem Antrag zuzustimmen. Wir helfen damit unserer Umwelt und schaffen mehrere hunderttausend dauerhafte, zukunftssichere, weil umweltfreundliche Arbeitsplätze.
Wir werden unseren Antrag in der nächsten Sitzungswoche im Bundestag einbringen. An Ihrem Verhalten, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition und auch von den GRÜNEN, werden wir sehen, wie ernst es Ihnen mit Ihren Bekenntnissen für besseren Umweltschutz und Schaffung neuer Arbeitsplätze ist.Herr Innenminister, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, auch von der FDP, Sie setzen auch in Ihrer Umweltpolitik fast ausschließlich auf den Markt. Deshalb muß Ihre Umweltpolitik scheitern. Der Markt hat zweifelsohne große wirtschaftliche Vorteile, aber er ist wertblind. Deshalb gehört Umweltpolitik zu den Bereichen, in denen der Staat Daseinsvorsorge betreiben muß, wenn er seiner Verantwortung auch für die nach uns kommenden Generationen gerecht werden will. Gebote und Verbote, ökonomische Anreize, Bewirtschaftungspläne sind unverzichtbare Instrumente einer staatlichen vorsorgenden Umweltpolitik.Mit anderen Worten: Umwelt darf nicht zum Nulltarif genutzt werden. Wie die Faktoren Kapital und Arbeit muß auch der Faktor Natur in die betriebliche Kostenkalkulation eingehen. Wir müssen ökonomische Anreize zur Vermeidung von Umweltschäden schaffen. Es muß für die Betriebe wirtschaftlich günstiger sein, durch entsprechende Investitionen Umweltschäden zu vermeiden, als die Umwelt erst zu belasten und dann zu reparieren. Umweltreparaturen, sofern sie überhaupt möglich sind, sind in aller Regel teurer als vorbeugende Umweltschutzmaßnahmen.
Warum, Herr Zimmermann, weigern Sie sich, diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen? Warum legen Sie nicht beispielsweise einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Schadstoffabgabe vor? Wir haben doch mit dem Instrument der Abwasserabgabe sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir Sozialdemokraten werden einen entsprechenden Entwurf eines Schadstoffabgabegesetzes vorlegen. Ihr Verhalten dazu wird ein weiterer Prüfstein für die Ernsthaftigkeit Ihrer Umweltschutzbekenntnisse sein.
In der vergangenen Woche konnten Sie, Herr Bundesinnenminister, dann endlich einmal handeln statt ankündigen. Sie, Herr Bundesinnenminister, sind dabei prompt in Ihre Lieblingsrolle verfallen, nämlich in die des starken Mannes. Ich sprecheDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7633Schäfer
von Ihrer Entscheidung zur Genehmigung von NUKEM II.
Die hessische Landesregierung hatte bekanntlich mit ihrem Genehmigungsvorbehalt für die nukleare Brennelementefabrik zur Herstellung von kernwaffenfähigem Material durch die Reduzierung des Anreicherungsgrades von dort verwendetem Uran ausschließen wollen, daß die Proliferationsgefahr erhöht wird. Dieser Genehmigungsvorbehalt der hessischen Landesregierung war ein konkreter Schritt, einen wirksamen Schutz vor der Weiterverbreitung kernwaffenfähigen Materials zu erreichen.Herr Zimmermann, wir verurteilen Ihre Anweisung an die hessische Landesregierung entschieden!
Sie unterlaufen damit die Empfehlungen zur internationalen Bewertung des Kernbrennstoffkreislaufs.
Diesen Empfehlungen von mehr als 100 Staaten hatte die sozialdemokratische Bundesregierung besondere Bedeutung zugemessen. Dem Mißbrauch der Kernenergie zu militärischen Zwecken sollte nach diesen Empfehlungen durch technische Maßnahmen begegnet werden. Dazu gehört auch ausdrücklich die Reduzierung des Anreicherungsgrades von waffenfähigem Uran. Genau dies hatte der Genehmigungsvorbehalt der hessischen Landesregierung zum Inhalt.Ihre Entscheidung, Herr Bundesinnenminister Zimmermann, begründet berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit Ihrer Nichtverbreitungspolitik.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Nickels?
Nein. —
Sie verpassen zudem die Chance eines verantwortungsbewußten Umgangs mit Kernenergiefragen.Ich bestätige noch einmal unsere Position: Mit uns Sozialdemokraten wird es keinen Einstieg in die Plutoniumgesellschaft geben. Wir lehnen die kommerzielle Wiederaufarbeitung ab. Ich bekräftige und bestätige unsere Entscheidung.
Nur, meine Damen und Herren, nehmen wir zur Kenntnis — und dies müssen auch die GRÜNEN zur Kenntnis nehmen —: Die Rechtslage nach dem Atomgesetz ist eindeutig. Die Länder handeln bei Fragen der atomrechtlichen Genehmigung als Auftragsverwaltung. Die Landesregierung von Hessen muß demnach der Anweisung der Bundesregierung folgen.Das wissen auch Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, in Bonn, in Hessen und anderswo. Wer von der hessischen Landesregierung etwas anderes verlangt, der fordert offenen Rechtsbruch. Wir Sozialdemokraten hüten den Rechtsstaat als eine der wesentlichsten Errungenschaften des Kulturstaates wie einen Augapfel.
Wir wissen, daß der Rechtsstaat zudem in besonderem Umfange dem Schutz der Minderheiten dient.Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, ernst ist mit Ihrer Feststellung,
angesichts der weltweiten Hochrüstung, angesichts der Massenarbeitslosigkeit und angesichts des Waldsterbens sei es 5 Minuten vor 12, können Sie, wenn Sie glaubwürdig sein wollen, die Zusammenarbeit mit anderen Parteien nicht aus dem Blickwinkel von kurzfristiger Taktik und Politspielereien behandeln,
um meine Kollegen Michael Müller und Horst Peter zu zitieren.
Oskar Lafontaine hat recht, und dies Ihnen ins Stammbuch: Den Ausstieg aus der Kernenergie erreicht man nur auf dem Wege des Einstiegs in die Verantwortung, meine Damen und Herren von den GRÜNEN!
Sie müssen endlich mit sich selbst ins reine kommen.
Sie müssen entscheiden, ob Sie bereit sind, Exekutivverantwortung zu übernehmen, oder ob Sie damit so lange warten wollen, wie die Zerfallszeit des Plutoniums beträgt, nämlich 24 000 Jahre, meine Damen und Herren von den GRÜNEN.
Es genügt nicht, die Welt nur zu interpretieren. Man muß, wenn man seine politischen Forderungen tatsächlich ernst meint, wenn man die Zustände, die man beklagt, gestaltend verändern will, auch bereit sein, Regierungsverantwortung zu übernehmen, ja geradezu nach Regierungsverantwortung streben, weil man nur dann die Verhältnisse, die man be-
Metadaten/Kopzeile:
7634 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Schäfer
klagt, auch zum besseren verändern kann, meine Damen und Herren von den GRÜNEN.
— Ich weiß und habe dafür sogar partiell Verständnis, Frau Nickels, noch fehlt es Ihnen als einer Partei ohne Vergangenheit,
dazu an dem nötigen Selbstbewußtsein. Ihre Angst, in der Regierungsverantwortung könne aus Grün leicht Grau werden,
ist offensichtlich größer als Ihre Entschlossenheit, die von Ihnen beklagten Umstände zu ändern.
Dies ist, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, freilich Ihr Problem, aber es wird zunehmend — das sagen wir voraus, wenn Sie bei Ihrer Haltung bleiben — auch zu einem Problem Ihrer Wähler, meine Damen und Herren von den GRÜNEN.
Der von Ihnen, Herr Bundesinnenminister Zimmermann, vorgelegte Entwurf wird den umwelt- und arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen nicht gerecht. Wir werden Ihren Entwurf ablehnen. Wir bekräftigen damit einmal mehr: Wir Sozialdemokraten wollen keinen Zimmermann-Staat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Schäfers Märchenstunde zum frühen Morgen mit Liebeswerbeeffekten um die GRÜNEN würde ich diese Rede bezeichnen. Herr Schäfer, Sie haben an der Reaktion der GRÜNEN selbst gemerkt: Sie werden da wenig Erfolg haben.
Sie sollten sich in Ihrer innenpolitischen Auseinandersetzung einmal überlegen, ob Sie nicht auf einen Zug der GRÜNEN aufspringen wollen, wobei Sie übrigens jedesmal zu spät auf den Bahnsteig kommen und noch freundlich nachwinken, ohne zu merken, daß dieser Zug in eine falsche Richtung geht.
Ich sage Ihnen, das Problem, das Sie zuletzt hier beschrieben haben, ist weniger das Problem der GRÜNEN. Ihr Nachlaufen hinter Vorstellungen derGRÜNEN — ich werde darauf noch zu sprechen kommen —, 15 Milliarden DM Mehrausgaben für den Umweltschutz im Haushaltsausschuß von den GRÜNEN gefordert, eine gigantische Summe, die kein Minister, keine Behörde und schon gar nicht alternative Buntvögel ordnungsgemäß verwirtschaften könnten, führte doch zu Ihrem Antrag jetzt — im Haushaltsausschuß hatten Sie keinen gestellt —, schnell mal 7 Milliarden DM für den Umweltschutz draufzulegen. Sie sind in der bedauerlichen Rolle, so wie Sie das heute morgen auch hier vorgeführt haben, den GRÜNEN pausenlos nachzulaufen, zu spät zu kommen, deren zum Teil chaotischen Vorstellungen hoffähig zu machen und letzten Endes selbst als große Volkspartei an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Herr Schäfer, ich rate Ihnen statt hektischer Nervosität, statt aufgeregter Gereiztheit zu Besonnenheit gerade bei dem Thema des Umweltschutzes.
Diese Rede des Kollegen Schäfer war ja verräterrisch. Er beruft sich auf das Umweltschutzprogramm Willy Brandts aus dem Jahre 1971. Herr Kollege Schäfer, lesen Sie das Protokoll nach, was dann kommt! Als Erfolgsmeldung dieses Programmes erklärt hier Schäfer mannhaft: Wir haben das Umweltbewußtsein der Bevölkerung geändert. Ende der Fahnenstange. Geredet haben Sie jahrelang, Herr Schäfer, geredet haben Sie, handeln werden wir.
Genau das ist die Situation: Diese Regierung hat 1982 ihr Amt angetreten. Wer ist es denn gewesen, der die Technische Anleitung Luft, der die Verabschiedung der Großfeuerungsanlagen-Verordnung in kürzester Zeit durchsetzte, weiterentwickelte?
Es ist doch diese Bundesregierung, die hier Hausaufgaben macht, die Sie jahrelang haben liegen lassen.Wer hat sich denn mit der Energiewirtschaft hinsichtlich der Verantwortung angelegt?
Wer hat sich denn mit der Großindustrie angelegt? Das ist doch diese Regierung gewesen, während Sie die Dinge über Jahre vor sich hin geschoben haben und nicht zu Ergebnissen gekommen sind.Oder wer ging denn daran — wobei es zugegebenermaßen viele Probleme nationaler und internationaler Art gibt —, endlich das umweltfreundliche Auto einzuführen?
Wo waren Sie denn 1974 und 1976, als Japan und dieUSA den Katalysator eingeführt haben?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7635
Gerster
Sie waren in der Regierung und haben die Entwicklung verschlafen.
Das sage ich j a nicht allein. Auf einer Forumveranstaltung „Arbeit und Umwelt", über die der „Parlamentarisch-Politische Pressedienst" am 24. Oktober 1984 berichtete, sagten Brandt und Vogel — ich zitiere laut „ppp" —:
[SPD]: Wörtlich?) Brandt und Vogel
— er ist entschwunden; wahrscheinlich wußte er, daß ich dieses Zitat bringe —räumten zugleich ein,
— ich begrüße Sie, Herr Oppositionsführer; Sie sind etwas nach hinten gerutscht —
daß es in der Zeit der sozialliberalen Koalition zu umweltpolitischen Versäumnissen gekommen sei. Brandt sagte, während seiner Kanzlerschaft seien die Prognosen des „Club of Rome" auch in der eigenen Partei für „fiktiv" und „dramatisiert" gehalten worden. Vogel erklärte, die SPD habe die Gefährdung der Wälder nicht rechtzeitig erkannt. Beide unterstrichen jedoch zugleich die Lernfähigkeit der SPD.
Herr Kollege Schäfer, ich empfehle Ihnen diese Lernfähigkeit Ihres eigenen Partei- bzw. Fraktionsvorsitzenden, die in ihren Erkenntnissen schon einen bedeutenden Schritt weiter sind als Sie.
Beide nämlich erkennen, daß sie in den 70er Jahren zwar große Programme gemacht, große Ankündigungen von sich gegeben haben, aber letzten Endes auf der Leistungsseite nichts zu erbringen hatten.
— Ich verstehe, Herr Duve, daß Sie da sehr laut werden. Dafür habe ich viel Verständnis. Machen Sie nur weiter so.
Der Kollege Schäfer erklärt, die Politik dieser Bundesregierung müsse sich am Haushalt messen lassen. Das stimmt. Aber, Herr Kollege Schäfer, dann müssen Sie doch feststellen, daß im nächsten Haushaltsjahr gerade der Bereich der Umweltpolitik des von Ihnen so angegriffenen Ministers Zimmermann um sage und schreibe
24,5 % aufwächst.
Die Mittel für den Umweltschutz werden um 24,5 % gesteigert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es gibt in diesem Bundeshaushalt keinen anderen politischen Bereich, der im nächsten Jahr mehr Mittelzuwachs haben wird als gerade der Bereich des Umweltschutzes.
— Verteidigung? 24,5 %, ich bitte Sie. Sie werden verstehen, daß ich mit Ignoranten nicht streite. Jeder Bürger kann in den Zeitungen lesen, wie es beim Verteidigungshaushalt aussieht — eine Steigerung von unter 3% — und wie es im Bereich des Umweltschutzes aussieht.
Wir werden mit diesen Mitteln erstens entscheidend dafür sorgen, daß das Altanlagenprogramm nicht nur fortgeführt, neu aufgelegt, sondern auch ausgeweitet wird.
So werden wir zur Luftreinhaltung, zur Wasserreinhaltung, zur Abfallwirtschaft und zur Lärmminderung entsprechende Maßnahmen in Gang setzen und fördern. Sehen Sie, hier liegt der Unterschied zu Ihnen: Während Sie auf der einen Seite durchs Land ziehen und gegen Subventionen Front beziehen, gehen Sie auf der anderen Seite hin — offenbar durch den 15-Milliarden-DM-Antrag der GRÜNEN animiert — und fordern nun einseitig Subventionen unter dem Deckmantel des Umweltschutzes. Das geht doch nicht auf. Sagen Sie den Bürgern, daß Sie der Energiewirtschaft, den großen Betrieben Mittel nachwerfen wollen, weil Sie in der Tat auf den Zug der GRÜNEN aufsteigen, ohne letzten Endes überprüfen und sorgfältig durchrechnen zu lassen, was jetzt tatsächlich möglich ist.
Der Unterschied zu Ihrer Politik liegt darin, daß wir mit diesem Programm im wesentlichen Projekte unterstützen wollen, die beispielgebend für andere sein können, daß wir aber die Hauptlast der Umweltschutzmaßnahmen natürlich bei den jeweiligen Großbetrieben belassen, wobei wir mit einer Reihe von begleitenden Maßnahmen, z. B. über Kreditprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau — hier sind allein 3,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt —, dafür sorgen wollen, daß Mittel zur Verfügung stehen, aber nicht als staatliche Subventionen, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe, weil wir in der Tat der Meinung sind, daß hier in erster Linie die Großbetriebe selbst gefordert sind.
Eine Dritte Maßnahme wird sein, daß wir im nächsten Jahr entscheidend und erheblich sowohl
Metadaten/Kopzeile:
7636 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Gerster
das Umweltbundesamt als auch die Umweltschutzabteilung im Innenministerium personell verstärken wollen.
Wir tun dies, weil wir der Auffassung sind, daß Regierung und Parlament nicht nur mit Sachverstand, sondern mit genauer Detailkenntnis abwägen müssen, was der Umwelt wirklich dient, was in der Umweltschutzpolitik wirklich notwendig ist, und weil wir gegen modernistisches Gerede vorgehen wollen.Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Bei dem Thema Umweltschutz gibt es inzwischen eine ganze Dynastie von Propheten, die nicht nur sehr gut von diesem Thema leben, sondern auch zum Teil die Menschen mehr verunsichern als wirklich zur Aufklärung beitragen.
Vielleicht ist dies das Ergebnis des Programms von Willy Brandt. Wenn man, liebe Kollegen, diesen Propheten folgen wollte, dürfte man nichts mehr essen, nichts mehr trinken. Man dürfte kaum noch schlafen gehen, Autofahren dürfte man auch nicht. Man sollte um Gottes willen nicht in die freie Luft gehen. Ich glaube, das ist eine reine Angstmacherei, die im Prinzip dem Gedanken des Umweltschutzes schadet und ihm nicht nutzt. Das ist meine feste Überzeugung.
Damit diese Maßnahmen des Umweltbundesamts, das mit neuem Personal ausgestattet wird, entsprechend begleitet und auch in praktische Politik umgesetzt werden können, werden wir auch das Personal für den Umweltschutz im Bereich des Innenministeriums verstärken. Wir stellen — auch dies ist ein Unterschied gegenüber früheren Regierungen — dieses Personal nicht zusätzlich zu Lasten des Steuerzahlers bereit, sondern durch Umschichtungen im Bereich des Innenministeriums werden entsprechende Planstellen freigemacht.
Zumindest insoweit ist die Behauptung des Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, des Kollegen Walther, es würden aus parteiegoistischen Gründen jede Menge Planstellen in den Ministerien geschaffen, falsch, zumindest was den Umweltschutz angeht. Das ist nicht nur irreführend, sondern falsch; denn hier werden aus sachpolitischen Erfordernissen heraus die entsprechenden Planstellen geschaffen.Übrigens, Herr Walther: Sie polemisieren in der Öffentlichkeit gegen neue Stellen in den Ministerien. Zumindest im Umweltschutzbereich haben Sie im Ausschuß zugestimmt. Das sollte man auch der Öffentlichkeit sagen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich den Weg in wenigen Sätzen kennzeichnen. Wir geben dem Umweltschutz im nächsten Jahr die Mittel, die im Rahmen des finanziell Möglichen liegen. Wir werden damit neue Programme möglich machen. Wir werden den Weg für eine saubere Umwelt nicht nur entschlossen und energisch weiterführen, sondern wir werden zugleich — das wird eben von den Politikern erwartet — verantwortlich und verantwortbar gegenüber dem Steuerzahler mit seinen Mitteln umgehen.Deswegen lehnen wir die von mir bereits angesprochenen Anträge sowohl der GRÜNEN als auch der SPD ab, Programme in Milliardenhöhe aufzulegen.Ich darf den Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN folgendes sagen. Herr Kleinert, ich freue mich, Sie besonders begrüßen zu können. Bei den Beratungen des Haushaltsausschusses sind Sie ja in der Regel erst um 13 Uhr eingelaufen. Sie unterstreichen die Bedeutung dieser Debatte dadurch, daß Sie heute früher aus den Federn kamen.
Herr Kollege Kleinert, wenn wir diese Mittel in einer Größenordnung von 15 Milliarden DM wirklich zur Verfügung stellen würden, wären die öffentlichen Behörden überhaupt nicht in der Lage, sie nur halbwegs verantwortbar zu bewirtschaften und zu verwalten. Sie wären — in diesem Fall sogar zu Recht — die ersten, die uns den Rechnungshof auf den Hals jagen würden, weil sie in diesem Fall nach nur wenigen Folgejahren feststellen würden, daß hier Steuermittel leichtfertig verschleudert und nicht angemessen verteilt worden sind.Ihr Antrag, 15 Milliarden DM mehr für den Umweltschutz bereitzustellen — der sich übrigens von den Ausschußberatungen bis zur Plenarsitzung auf 7 Milliarden DM reduziert hat —,
ist eine ebenso heiße Nummer, wie Ihre großartige Forderung, als Bundestagsabgeordnete in Bonn den Dienstwagen nicht zu benutzen. Es wurden Dienstfahrräder angeschafft, und inzwischen fahren die grünen Kollegen nachts- und tagsüber, Tag für Tag mindestens genausoviel mit dem Dienstwagen, und wenn er dazu herhalten muß, um den privaten Schnaps zu mitternächtlicher Stunde in Bad Godesberg zu holen. Das ist die gleiche Luftnummer, heiße Luft, ein Luftballon ohne Substanz.
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich in der Kürze der Zeit zu einem zweiten Schwerpunkt dieses Haushaltes kommen. — Ich verstehe die Kollegen von der SPD, daß sie bei dem Wort „Schnaps" munter werden; nur Mut, meine Herren! —
Zweiter Schwerpunkt des Haushalts sind die Mittel, die für die Aussiedler, Flüchtlinge und Vertriebene zur Verfügung gestellt werden. Der Haushalt des Innenministers setzt hier einen zweiten Schwerpunkt im Haushaltsjahr 1985. Diese Mittel steigen nämlich um 10,7 %.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7637
Gerster
Wir haben noch während der Ausschußberatungen mit der Unterstützung der SPD die Mittel vor allen Dingen für die Rückführung von Deutschen erhöht. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei den Kollegen gerade aus dieser Oppositionsfraktion. Wir wollen mit diesen Mitteln ein Signal gegenüber unseren östlichen Nachbarn setzen: Laßt endlich, 40 Jahre nach Kriegsende, die zerrissenen Familien wieder zusammenkommen! Beseitigt unendliches Leid, das noch heute besteht und eben nur durch die Zusammenführung der Menschen aus mehreren Ländern gelindert werden kann!Ich möchte hier für meine Fraktion in aller Deutlichkeit feststellen: Die Tore unseres Landes stehen für die Deutschen offen. Ich appelliere an dieser Stelle insbesondere an die Regierungen der UdSSR, Polens und Rumäniens, die in großer Zahl vorliegenden Ausreiseanträge in großzügiger Weise zu bearbeiten, sie auch zeitgerecht zu bearbeiten, und damit dazu beizutragen, daß Deutsche mit ihren deutschen Familien in unserem Lande leben können.Im Rahmen dieser Mittel für die Vertriebenen und Flüchtlinge haben wir auch eine weitere Aufstockung der Mittel zur Bewahrung des kulturellen Erbes des deutschen Ostens vorgenommen. Diese Kulturarbeit hat mit Revanchismus — das möchte ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen — überhaupt nichts zu tun. Sie hat allerdings sehr viel mit der Frage zu tun, ob wir uns als Kulturnation verstehen, denn unsere kulturellen Wurzeln gründen — mag die schmerzliche deutsche Teilung auch noch so lange dauern — natürlich auch dort, wo Deutsche gelebt und gehandelt, wo sie gedacht und entwickelt haben.Während die frühere Bundesregierung es ablehnte, die für diese Aufgabe erforderlichen Mittel ausreichend zur Verfügung zu stellen, nehmen wir den gesetzlichen Auftrag ernst, nämlich den Auftrag des Bundesvertriebenengesetzes. Danach haben Bund und Länder das Kulturgut der Vertriebenen und Flüchtlinge zu pflegen. Wir kommen diesem gesetzlichen Auftrag nach, indem wir diese Mittel entsprechend aufstocken.Dritter Bereich, meine Damen, meine Herren, der in diesem Haushalt des Innenministers besondere Priorität hat, ist der Bereich der allgemeinen Kulturpolitik. Auch hier steigen die Mittel überproportional, nämlich um 6,4 %. Bereits diese Steigerungsrate bringt zum Ausdruck, welche Bedeutung die Koalition der Mitte der Kunst und Kultur in unserem Lande beimißt.
Damit werden die Rahmenbedingungen für die Entwicklung vielfältiger Aktivitäten verbessert.Ich möchte an dieser Stelle an den Herrn Bundesinnenminister, an die Bundesregierung, appellieren, die Schaffung der von ihr geplanten und mit den Ländern abgestimmten Kulturstiftung voranzubringen. Zum Nutzen von Kunst und Kultur muß endlich ein zukunftsweisender Sprung getan werden. Frühere Regierungen haben auf diesem Gebiet viel geredet. Auch in diesem Punkt werden dieseKoalition und diese Regierung handeln. Ich möchte die Bundesregierung ausdrücklich ermuntern, diese Arbeiten zum Abschluß zu bringen.Meine Damen, meine Herren, abschließend möchte ich, da ich als erster Redner für die CDU/ CSU zu sprechen die Ehre habe — meine Kollegen Dr. Riedl und Dr. Laufs werden weitere Einzelheiten ansprechen —, den Kollegen im Haushaltsausschuß danken, auch den Kollegen der Oppositionsfraktionen, die trotz vorhandener Gegensätze in Einzelfragen die Beratungen im wesentlichen konstruktiv mitgetragen haben. Ich möchte weiterhin den Beamten im Ausschußsekretariat und den Mitarbeitern, vor allen Dingen in der Haushaltsabteilung des Bundesinnenministeriums, danken. Sie haben die Beratungen hilfreich begleitet. Wir haben bei der Beratung des Einzelplans des Innenministers hart gearbeitet. Der Erfolg wird nicht ausbleiben.Wir, die CDU/CSU, werden dem Einzelplan 06 und dem Einzelplan 36, zu dem zu sprechen ich leider nicht mehr die Gelegenheit habe,
zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Gerster hat soeben wieder ein Beispiel für sein intellektuelles Niveau geliefert.
Das dürfen wir sonst nur im Haushaltsausschuß bewundern.
Herr Gerster, ich spare mir dazu jeden weiteren Kommentar. Das spricht für sich. Ich werde lieber über den Etat des Innenministers sprechen, d. h. den Etat jenes Ministers, der für die Umwelt verantwortlich zeichnet.Es ist schon angedeutet worden: Es handelt sich um den Minister, der in der Vergangenheit oft zur Stelle war, wenn es galt, mit starken Worten das anzupreisen, was diese Regierung eine aktive Umweltpolitik nennt. Wie das dann läuft, haben wir häufig genug erleben müssen: Erst wurde viel Wind gemacht, viel Staub aufgewirbelt, so getan, als plane man durchgreifende Maßnahmen.
Herr Zimmermann kreißte, aber am Ende kamnicht mehr als eine umweltpolitische Maus dabei
Metadaten/Kopzeile:
7638 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Kleinert
heraus — und nicht selten die Kapitulation vor den Interessen der Industrie.
So ist es jüngst erst in der Frage des Abgaskatalysators gewesen. Da waren Sie schnell bei der Hand mit großen Worten, mit großen Ankündigungen,
man werde die Industrie schon in den Griff bekommen. Was ist am Ende herausgekommen? Herausgekommen ist weniger noch als ein lauer Kompromiß, und man muß nach diesen Erfahrungen befürchten, daß es auch bei Ihren neuesten umweltpolitischen Glanzstücken nicht anders sein wird. Man muß befürchten, daß Sie auch die in der letzten Woche mit großem Propagandaaufwand angekündigte Verschärfung der Novelle zum Abfallgesetz am Ende wieder nicht gegen die zu erwartenden Widerstände aus der Wirtschaft durchsetzen werden.Dieses groteske Mißverhältnis zwischen den großen Worten auf der einen Seite und den wenigen Taten auf der anderen Seite ist auch kennzeichnend für diesen Haushaltsentwurf. Während Herr Zimmermann mit dramatischer Geste das Sterben der Wälder beklagt, während Herr Zimmermann eingestehen muß, daß die Schäden katastrophale Ausmaße angenommen haben, haben die Regierungsfraktionen und in fast allen Punkten leider auch die SPD unsere Anträge und Vorschläge, die auf eine Ausweitung der Umweltausgaben abzielten, gerade um endlich eine wirksame Bekämpfung der Luftverschmutzung zu ermöglichen, in den Ausschußberatungen in wenigen Minuten vom Tisch gewischt. Herr Schäfer, das sollten Sie vielleicht auch einmal erwähnen, wenn Sie von Angeboten der SPD zur umweltpolitischen Zusammenarbeit sprechen.
Ich habe darauf gewartet, daß es bei diesen Vorschlägen zu einer solchen Zusammenarbeit kommt. Dazu ist es aber von Ihrer Seite aus nicht gekommen.
Rund 300 Millionen DM, man muß besser sagen: ganze 300 Millionen DM sind es, die einschließlich der Ausgaben für das Umweltbundesamt im Haushalt des Innenministers für das Jahr 1985 für die Zwecke des Umweltschutzes zur Verfügung gestellt werden sollen. 300 Millionen DM — das ist nicht mehr als 1 Promille des Gesamtetats dieser Bundesregierung. 300 Millionen DM — das sind ganze 45 Millionen DM mehr als im Jahre 1984.
— Herr Gerster, Sie preisen das hier mit Worten an, als sei das die gigantischste Steigerungsrate, die jemals bei einem Bundeshaushalt zu verzeichnen gewesen sei. 45 Millionen DM — das ist der ganzeBeitrag an zusätzlichen Umweltausgaben, die Sie zu tätigen bereit sind.
Sagen Sie es doch einmal offen. 45 Millionen DM — das ist die Steigerungsrate im Haushalt des Bundesinnenministers.45 Millionen DM — das sind weniger als 0,2 Promille des Gesamthaushalts.
Das ist alles, was Sie an Mehrausgaben in diesem Bereich zum Schutz der Umwelt aufbringen wollen.
— Der Industrie kann man noch viel mehr zumuten, Herr Friedmann. Es ist einfach unwahrhaftig, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, es sei noch nie eine so starke Erhöhung erfolgt wie in diesem Jahr. Es mag sein, daß Sie früher noch weniger getan haben. Mit diesen 45 Millionen DM werden Sie aber keinen entscheidenden Beitrag dazu leisten können, etwas gegen die Umweltkrise zu unternehmen.
— Vielleicht können Sie einmal ein bißchen stiller sein.Meine Damen und Herren, ein Haushalt ist nichts anderes als die in Zahlen ausgedrückte Umsetzung einer Regierungspolitik. Nirgendwo sonst zeigt sich die Diskrepanz zwischen Worten und Taten einer Regierung so deutlich wie gerade im Haushalt. Wenn man das als Maßstab anlegt, kann das Urteil über die Politik von Herrn Zimmermann nur so lauten: Dieser Herr ist kein Umweltminister; dieser Herr ist allenfalls ein Ankündigungsminister.
Das grüne Mäntelchen, das Sie sich so gern umhängen, steht Ihnen ganz und gar schlecht.
45 Millionen DM mehr für den Umweltschutz — mehr, so mußten wir hören, sei nicht drin; schließlich seien die Gebote sparsamer Haushaltsführung zu beachten.Mehr sei nicht drin — das war auch Ihre Begründung, mit der Sie unseren Antrag abgelehnt haben, beim Umweltbundesamt 50 zusätzliche Stellen einzurichten. Es ist immer die gleiche Argumentation: Das sei alles ganz schön, aber finanziell nicht zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7639
Kleinert
Meine Damen und Herren, an anderen Stellen waren Sie freilich nicht so pingelig, ganz besonders dort, wo es darum ging, Ihre eigenen Pfründe abzusichern. Das gilt — das kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht ersparen — leider auch für die Herren von der SPD. Um diese Pfründe geht es z. B. in Titel 684 05 im Haushaltsplan des Innenministers. Dieser Titel heißt: „Globalzuschüsse zur gesellschaftspolitischen und demokratischen Bildungsarbeit". Aus diesem Titel wird die Tätigkeit der parteinahen Stiftungen finanziert. 87,9 Millionen DM waren im Regierungsentwurf für 1985 dafür vorgesehen. Die Beratungen im Haushaltsausschuß waren lange abgeschlossen. Der Titel war gegen unsere Stimme angenommen. Doch plötzlich erschien Ihnen dieser Titelansatz nicht mehr ausreichend, als Ihnen klar wurde, daß die Großspenden an die etablierten Parteien nicht mehr so großzügig fließen würden.
Die Gründe sind bekannt. Da war Ihnen das nicht mehr genug. Die Parteimanager befanden: Es muß noch ein Nachschlag her. So kamen Sie dann in der allerletzten Sitzung des Haushaltsausschusses ohne jede Vorankündigung, ohne jede schriftliche Vorlage, ohne Information der Berichterstatter, Sie kamen wie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und haben sich unter Umgehung aller sonst üblichen Verfahrensweisen in einen Überraschungscoup so ganz nebenbei weitere 21 Millionen DM genehmigt, genehmigt für die Parteikassen, 9 Millionen direkt für 1985, weitere 12 Millionen an Verpflichtungsermächtigungen für 1986.Meine Damen und Herren, am fehlenden Geld scheint es weniger zu liegen, wenn für die Umwelt in diesem Jahr nur ganze 45 Millionen DM mehr aufgewendet werden können. Geld scheint schon vorhanden zu sein. Es ist ganz offensichtlich immer nur die Frage, welche Zwecke man für wichtig hält und welche Zwecke man für weniger wichtig hält.
Rund 300 Millionen DM finden sich im Etat des sogenannten Umweltministers an Umweltausgaben, rund 1,7 Milliarden DM dagegen sind es, die für Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz ausgegeben werden.
Auch hier zeigt sich, wo die eigentlichen Schwerpunkte des Herrn Zimmermann und seines Ministeriums liegen. Das Bundeskriminalamt soll expandieren, Fahndungsmethoden sollen effektiviert werden, die Ausgaben für den Verfassungsschutz steigen gar um fast 20%.
Was sich dahinter verbirgt, das dürfen wir als GRÜNE ja nicht erfahren.
Der Bundesgrenzschutz erhält neue Waffen, neue Dienstfahrzeuge und neues Gerät, und das, obwohl man eigentlich meinen sollte, daß im Zuge der angestrebten Öffnung der Grenzen auch der Grenzschutz Zug um Zug überflüssig werden müßte. Doch weit gefehlt! Statt dessen wird er als paramilitärische Einrichtung weiter ausgebaut.Meine Damen und Herren, wenn man eine Bilanz von Soll und Haben im vorliegenden Haushaltsplan des Bundesinnenministers zieht, dann zeigt sie klar und deutlich: Die 45 Millionen DM, die in diesem Haushalt zusätzlich für die Umwelt ausgegeben werden sollen, sind nicht einmal kosmetische Korrekturen. Sie werden am katastrophalen Zustand der Umwelt nichts ändern. Die 1,7 Milliarden DM dagegen, die Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz bekommen, werden in diesem Land allerdings etwas ändern. Sie demonstrieren eindringlicher als viele Worte, wo diese Koalition ihre wirklichen Schwerpunkte in der Innenpolitik sieht.
Dazu paßt die vorgesehene Einführung des fälschungssicheren maschinenlesbaren Personalausweises ebenso wie Ihre jüngste Ankündigung, im April 1986 eine Volkszählung durchzuführen, deren Abwicklung sich nach Ihren Vorstellungen nicht wesentlich von dem unterscheiden würde, was wir 1983 als Volksaushorchung kritisiert haben.
Gut die Hälfte des Etats für Überwachung und Bespitzelung und für das, was Sie innere Sicherheit nennen, weniger als 10% für die Umwelt, das ist die klägliche Bilanz dieses Ministers, der sich in seinen Sonntagsreden gerne als Vorkämpfer bei der Rettung des deutschen Waldes abfeiern läßt.Meine Damen und Herren, wir haben zu den Haushaltsberatungen ein umfassendes Entgiftungsprogramm vorgelegt, mit dem eine erste Bresche geschlagen werden sollte, um weitere nicht mehr umkehrbare Zerstörungen unserer natürlichen Lebensbedingungen abzuwehren.
Jetzt sollten Sie einmal hinhören, Herr Schäfer, wenn Sie hier für sich reklamieren, daß die SPD die einzige Partei sei, die wirklich eine praktische Antwort auf Umwelt- und Beschäftigungsprobleme gleichermaßen zu geben versuche. Wir haben vorgeschlagen, daß 2,3 Milliarden DM für die Umrüstung von Kraftwerken und Industrieanlagen ausgegeben werden sollen.7640 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Kleinert
Wir haben vorgeschlagen, 300 Millionen DM für die Kohleentschwefelung auszugeben. Wir haben vorgeschlagen, 1,7 Milliarden DM zur Förderung der Wirbelschichttechnologie zur Verfügung zu stellen. Wir haben vorgeschlagen, 2,3 Milliarden DM für den Umbau der Energieversorgungsstrukturen zur Verfügung zu stellen.
Wir haben vorgeschlagen, Forschung und Einsatz regenerativer Energieträger zu fördern. Wir haben weiter ein Programm zur Sanierung des Wassers gefordert, und wir haben ein Programm zur Umstellung der Müll- und Sondermüllbeseitigung vorgelegt.
Meine Damen und Herren, das alles sind unmittelbar notwendige Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, wenn auch nur den drängendsten Auswirkungen der Umweltzerstörung begegnet werden soll. — Herr Gerster, da haben Sie noch die Stirn, diese ganzen Vorschläge als Unsinn zu bezeichnen.
Selbstverständlich sind es ganz erhebliche Größenordnungen, in denen sich die Summen, die dafür aufgewendet werden müssen, bewegen — wir bestreiten das nicht —, aber diese Größenordnungen entsprechend dem Ausmaß der Probleme, mit denen wir es inzwischen zu tun haben. Wer es ernst meint mit der Forderung, der Umweltzerstörung müsse Einhalt geboten werden, der wird nicht herumkommen um die Einleitung eines ganzen Bündels verschiedenster Vorbeuge- und Reparaturmaßnahmen. Er wird auch nicht um die Einleitung eines ganzen Bündels von Maßnahmen herumkommen, die auch der Umstellung der Produktion in diesem Lande dienen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie gerade in der Umweltpolitik von Sparen reden, dann sparen Sie nun weiß Gott an der falschen Stelle, denn hier geht es um die Sicherung des Fundaments für unsere Zukunft, hier geht es um unsere Existenz. Zum Sparen gibt es in diesem Haushalt wahrlich genügend andere Bereiche, in denen heute maßlose Verschwendung betrieben wird:
in der Weltraumforschung, Rhein-Main-Donau-Kanal, bei der Verkabelung, beim Rüstungshaushalt. Das sind Bereiche, wo gespart werden kann, ja wo gespart werden muß, wenn nicht neue ökologische Schäden die Folge sein sollen.
Die Umwelt braucht Entgiftung und Sanierung. Deshalb kann ich am Schluß nur noch einmal eindringlich an Sie appellieren: Wischen Sie unsere Vorschläge nicht so einfach vom Tisch wie in den Ausschußberatungen! Stimmen Sie den Vorstellungen zur Sanierung von Luft, Wasser und Boden zu! Setzen Sie damit ein sichtbares Zeichen dafür, daßder Kampf gegen Waldsterben und Luftverschmutzung nicht nur in Ihren wohlfeilen Sonntagsreden begonnen hat.Lassen Sie mich am Schluß noch ein Wort an den Kollegen Schäfer und an die SPD-Fraktion richten. — Der Kollege Schäfer ist leider nicht mehr da. — Wenn Sie hier die Intervention Zimmermanns in der Frage der Nuklearbetriebe NUKEM und ALKEM zurückweisen, dann kann ich Ihnen nur zustimmen. Aber wenn Sie hier davon reden, daß es mit der SPD den Einstieg in die Plutonium-Wirtschaft nicht geben werde, dann muß ich Sie schon fragen: Wer hat denn den offenen Konflikt mit der Bundesregierung in dieser Frage gescheut? Das war doch der sozialdemokratische Ministerpräsident Börner.
Wenn Sie diesen Konflikt nicht gescheut hätten, meine Damen und Herren, dann gäbe es das hessische Bündnis heute noch.Herr Schäfer, wenn Ihre Haltung hier so eindeutig ist, dann müssen Sie mir schon eine letzte Frage gestatten: Wieso haben Sie — Sie persönlich — hier von dieser Stelle aus vor wenigen Wochen unseren Entschließungsantrag zurückgewiesen, der dazu dienen sollte, das Problem von NUKEM und ALKEM auf die Ebene zu bringen, auf die es hingehört, nämlich auf die Bundesebene?Meine Kollegen von der SPD, wir GRÜNE stellen uns nicht in die Verweigerungsecke,
aber wir sind nicht bereit, dafür zur Verfügung zu stehen, wenn es um den Zubau des Atomstaates geht. Dazu sind wir nicht bereit. Wenn Sie aber bereit sind, aus dem Atomstaat auszusteigen, dann werden Sie uns allemal an Ihrer Seite wissen.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, auf der Ehrentribüne hat die Knesset-Abgeordnete und Vorsitzende der Israelischen Bürgerrechtspartei, Frau Shulamit Aloni, Platz genommen.
Ich freue mich, Sie, verehrte Frau Aloni, in der Sitzung des Deutschen Bundestages begrüßen zu können. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Das Wort hat Frau Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe zu: Es wäre vielleicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7641
Frau Seiler-Albringviel interessanter gewesen, den rot-grünen Familienstreitigkeiten noch etwas länger zuzuhören.
— Herr Schäfer, ich komme gleich zu Ihnen; keine Bange, aber ich möchte Ihnen doch gerne die Vorstellungen meiner Fraktion zum Einzelplan 06 vortragen.Lieber Herr Kollege Schäfer, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede auf die 1971 unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt konzipierte Umweltpolitik hingewiesen. Sie werden mir sicher beipflichten, daß die eher über den Wolken schwebenden Imaginationen Ihres Kanzlers damals durch die tatkräftige Hilfe unseres damaligen Innenministers Genscher materialisiert wurde.
Meine Damen und Herren, im vorliegenden Haushalt zum Einzelplan 06 werden besondere Akzente dadurch gesetzt, daß wir beim Umweltschutz eine Steigerungsrate von 24,5 % haben. Dies zeigt — auch wenn Sie dies nicht zugeben wollen — deutlich, welch hohe Priorität die Koalition diesem Politikbereich beimißt.Die Bundesregierung ist nach ihrer Regierungserklärung 1982 zügig daran gegangen, die dort umrissenen Zielvorstellungen in politische Initiativen umzusetzen. Trotz Ihrer Unkenrufe erinnere ich daran, daß wir national, aber auch — und das halte ich für wichtig — im europäischen und internationalen Rahmen bedeutsame Fortschritte erzielen konnten. Sie können dies alles nachlesen, und wenn Sie redlich sind, werden Sie zugeben, daß wir hier ein gutes Stück weitergekommen sind.Bei der Einführung des umweltfreundlichen Autos, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung in Europa eine Vorreiterrolle übernommen. Dieser Beschluß sieht vor, mit der Einführung bleifreien Benzins so schnell wie möglich zu beginnen und gleichzeitig den Ausstoß von Schadstoffen — unter Ausschöpfung der zur Zeit verfügbaren, wirksamsten Technolgie — zu vermindern. Von einigen Mitgliedern dieses Hauses — auch von Ihnen, Herr Schäfer — wird kritisiert, daß dies nicht schnell genug gehe; Sie sprachen von „Schneckentempo". Herr Schäfer, wenn schon Schnecke: lieber sicher ans Ziel als Schnecke als vor blindem Aktionismus kopflos gegen die Wand.
Ein Alleingang der Bundesrepublik wäre auf massiven Widerstand bei den anderen EG-Staaten gestoßen. Mit der jetzt vorgelegten Entscheidung, meine Damen und Herren, wurde ein Konflikt mit den EG-Partnern vermieden und die Gefahr von Gegenmaßnahmen ausgeschaltet, die die Arbeitsplätze, u. a. in der Automobilindustrie, in unserem Lande empfindlich getroffen hätten. Sie, Herr Schäfer, als Abgeordneter aus Baden-Württemberg müßten wissen, was dies u. a. für unser Bundesland bedeuten würde.Zusätzlich führen wir einen wissenschaftlich fundierten Großversuch zum Tempolimit durch, damitverläßliche Werte über eine Schadstoffbegrenzung durch Geschwindigkeitsbegrenzung vorliegen. Die uns heute vorliegenden Gutachten, die j a auch für einigen Wirbel in der Presse gesorgt haben, sind insgesamt zu widersprüchlich und stellen deshalb keine geeignete Grundlage für eine Entscheidung zum jetzigen Zeitpunkt dar.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Gern, Herr Gerster.
Frau Kollegin Seiler-Albring, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß bei dieser Umweltdebatte von der selbsternannten Umweltpartei DIE GRÜNEN derzeit eine einzige Abgeordnete anwesend ist?
— Ich bedanke mich, Herr Kleinert. Inzwischen sind es eineinhalb.
Herr Gerster, ich nehme dies zur Kenntnis.
Dies ist für mich Ausdruck eines gesteigerten Interesses der Fraktion DIE GRÜNEN an diesem Problembereich. —
— Nun lassen Sie mich doch bitte einmal weitermachen.Meine Damen und Herren, die Arbeitsgruppe Haushalt der Koalitionsfraktionen hat der Einführung schadstoffarmer Autos Rechnung getragen.
— Also, Herr Kleinert, Ihre Auseinandersetzung können Sie auch draußen fortsetzen.
In Berlin hat man beschlossen, vom 1. Januar 1985 an bei der Neuanschaffung von Dienstfahrzeugen nur noch solche Fahrzeuge zu erwerben, die den Beschlüssen der Bundesregierung Rechnung tragen.Die Umrüstung der Tankstellen ist in vollem Gange. Durch Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln bei der GfN wird dafür Sorge getragen, daß an den Bundesautobahntankstellen bereits im nächsten Jahr genügend Zapfsäulen mit bleifreiem Benzin eingerichtet werden. Seit drei Wochen sind die ersten 53 Autobahntankstellen umgerüstet; diese Aktion wird mit Nachdruck fortgesetzt.Meine Damen und Herren von der SPD, daß im Bereich des Umweltschutzes eine enorme beschäfti-
Metadaten/Kopzeile:
7642 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Frau Seiler-Albringgungspolitisch wirksame Reserve liegt, müssen Sie doch nicht uns erzählen. Sehen Sie sich das Kreditprogramm der KfW an, das zinsgünstige Kredite mit einem Gesamtvolumen von 3,5 Milliarden DM bereitstellt und private Investitionen im Umweltschutz gezielt fördert. Diese Förderung kommt besonders den kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land zugute. Wer sich die ausführlichen Erläuterungen des Hauses hinsichtlich der Vorhaben zum Umweltschutz im Bereich der Luftreinhaltung, des Gewässerschutzes, der Abfallvermeidung und Abfallverwertung, zum Schutz des Bodens, zum Umgang mit Umweltchemikalien oder hinsichtlich der Lärmschutzmaßnahmen ansieht, wird zubilligen, daß auf allen umweltrelevanten Ebenen Maßnahmen zur Wiederherstellung oder Bebauung einer lebenswerten Umwelt geplant oder eingeleitet sind. Wir werden hier auf eine zügige Abwicklung drängen.Zum Thema Umweltschutz gehört auch ein abgestimmtes Konzept zur Überwachung der Nordsee. Es wird zur Zeit auf unsere Bitte im Hause erstellt. Hier liegt unseres Erachtens ein genuiner Aufgabenbereich für den Bundesgrenzschutz, die Polizei des Bundes — die Sie j a gern abschaffen wollen, Herr Kleinert —, von deren hoher Motivation und Leistungsbereitschaft ich mich gemeinsam mit meinem Berichterstatterkollegen Dr. Riedl bei unseren Besuchen immer wieder überzeugen konnte. Wir werden — da muß man mit dem Zoll zu einer vernünftigen Abstimmung kommen — dafür sorgen, daß die für den Schutz der Nordsee vor Umweltverbrechern zuständigen Einheiten des BGS die notwendige technische Ausstattung bekommen.
Es kann nicht angehen, daß Umweltschutz in der Nordsee bei Windstärke 5 am Ende ist, weil die vorhandenen Boote nicht mehr ausfahren können.Der BGS steht vor großen Personalproblemen, weil die Schwierigkeiten der Übernahme zu den Länderpolizeien noch nicht gelöst sind. Diese verminderte Übernahme durch die Länderpolizeien hat unmittelbar eintretende Auswirkungen auf die Ist-Stärke und kann darüber hinaus auf längere Sicht zu einem Abgabeüberhang und damit im Ergebnis zu einer Überalterung der Verbände des BGS führen, was wir alle nicht wollen können. Eine erste Maßnahme ist die Anhebung von 1 000 Planstellen von A 5 nach A 6, damit die erforderliche Zahl von Einstellungen vorgenommen werden kann, um ein Absinken der Ist-Stärke im mittleren Dienst unter den Stand vom April 1984 zu vermeiden. Wir werden hier weiter nach Lösungsmöglichkeiten suchen, und ich bin sicher, unser Kollege Kühbacher von der SPD, dem ich auch ausgesprochen und gern für seine Kooperation im Haushaltsausschuß danke, wird uns dabei weiterhin unterstützen.
Wir haben eine Fürsorgepflicht für die Angehörigen des BGS und werden ihn bei der Lösung seiner Personalprobleme nicht im Stich lassen.
Ein Wort zur Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Voraussetzung für diesen Tarifabschluß, der nach den Vorstellungen der Bundesregierung auf die Beamten, Soldaten und Richter angewendet wird, war die deutliche Verringerung der Neuverschuldung. Wer eine leistungsgerechte Besoldung des öffentlichen Dienstes bejaht — und das tun wir —, wird auch nicht umhin können, die Grundvoraussetzung, also die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, zu begrüßen.Zum Schluß ein Stückchen aus dem Kapitel „Dichtung und Wahrheit" bzw. „Anspruch und Wirklichkeit", bezogen auf unsere geehrten Kollegen der Fraktion DIE GRÜNEN. Mit großer Verwunderung habe ich Ihren Antrag gesehen, die Globalzuschüsse im Bereich der politischen Bildung ersatzlos zu streichen, u. a. mit der Begründung — ich zitiere —, daß diese Zuwendungen gegen den Grundsatz der Chancengleichheit verstoßen, weil nur die im Bundestag vertretenen Parteien bedient würden.Nun hört der erstaunte Berichterstatter, daß für das Haushaltsjahr 1984 für Sie bereits bei der Bundeszentrale für politische Bildung ein Betrag von 100 000 DM vorgesehen war,
von dem Sie bis Mitte November mehr als zwei Drittel abgehoben haben.
Dieser Betrag ist, wenn ich es richtig sehe, u. a. an ein „grünes" Bildungswerk in Nordrhein-Westfalen gezahlt worden. Aus diesen Geldern sind insgesamt 18 Veranstaltungen gefördert worden, die sich mit den Themen Umwelt, Ökologie, alternatives Leben und anderem befaßt haben.
Für das Haushaltsjahr 1985 ist Ihnen ein Betrag in gleicher Höhe zugesichert worden. Es gehört schon eine ganz gute Portion Heuchelei dazu, auf der einen Seite den Puristen zu spielen und gleichzeitig die Hand aufzuhalten.
Ich gehe davon aus, daß der Antrag auf Drucksache 10/2494 von Ihnen selber nicht ganz so ernst gemeint ist. Deshalb werden Sie nicht traurig sein, wenn wir ihn ablehnen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Nickels?
Meine Redezeit geht zu Ende. — Meine lieben Kollegen von der Opposition, auch in diesem Jahr findet die Veranstaltung der Tragödie „Ende aller Liberalität" mittels des Haushalts 06 nicht statt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7643
Frau Seiler-AlbringVernünftige Kompromisse sind, wie wir gesehen haben, bei Wahrung der politischen Identität der Koalitionspartner möglich.
Wir werden dem Einzelplan 06 unsere Zustimmung geben.Herr Kleinert, wir können uns im Haushaltsausschuß, wenn Sie einmal da sind, gerne über diese Fragen unterhalten. Ich habe großes Verständnis für die Zeitnöte in einer kleinen Fraktion.
Aber ich glaube, das muß man bei Ihnen wohl einer um sich greifenden Prärotationslethargie zuschreiben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern, Dr. Zimmermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schäfer hat mir immerhin Medienwirkung attestiert.
Medienwirkung kann man bekanntlich nur haben, wenn vorher Wirkung dagewesen ist. Ich bedanke mich für das Kompliment.
— Dürftiger geht es nicht mehr!
— In München sagt man dazu: Da fehlt es um die ganze Neuhauser Straße. Haben Sie das schon einmal gehört?
— Das macht nichts. Sie lernen es auch nicht mehr. Es gibt ein paar, die haben es verstanden. Das genügt mir.
Die Bundesregierung hat auch in diesem Jahr auf wichtigen Feldern der Innenpolitik sichtbare Erfolge vorzuweisen. Das gilt für den Umweltschutz ebenso wie für die innere Sicherheit oder die Kulturpolitik. Aber das dringendste innenpolitische Anliegen — ich danke dem Kollegen Gerster, ich danke überhaupt dem Haushaltsausschuß — ist eine enorme Steigerung von 24,5% für den Umweltschutz. Der Haushalt des Innenministeriums liegt mit einer Steigerung von 3, 9% deutlich über der Steigerungsrate des Bundeshaushalts. Dafür, daßder Umweltschutz in einem so hohen Maße beteiligt ist, dankt der dafür zuständige Minister, besonders der Regierungskoalition, aber auch Kollegen aus der SPD-Fraktion
— des Haushaltsausschusses.
Wir haben Maßnahmen eingeleitet und durchgesetzt, die die Umweltsituation für jedermann spürbar verbessern werden. Wir haben bei der Luftreinhaltung ganz systematisch alle Gruppen von Verursachern in die Pflicht genommen. Schwefeldioxid und Stickoxide werden in einer Größenordnung verringert, die zu einer Absenkung der Belastung auf die Hälfte oder ein Drittel noch in diesem Jahrzehnt führen wird. Alle Maßnahmen sind begonnen. Sie werden in den nächsten Jahren ihre Wirkungen zeigen.Wir geben uns mit diesen Leistungen nicht zufrieden. Wir wissen, daß wir ganz konsequent und rigoros diesen Weg weiterbeschreiten müssen. Wir werden unsere Umweltvorsorgepolitik engagiert, aber ohne Hektik vorantreiben. Wir werden konsequent handeln, aber ohne täglich wechselnde Planvorgaben. Mit ihrer für Verbraucher und Wirtschaft gleichermaßen kalkulierbaren und marktwirtschaftlichen Umweltpolitik folgt die Bundesregierung auch einer entsprechenden Empfehlung des Sachverständigenrats der Wirtschaft, dieser Tage veröffentlicht.Wir wissen alle, daß erfolgreiche Umweltpolitik einer internationalen Zusammenarbeit bedarf. Wir haben auf internationaler Ebene in diesem Jahr 1984 mit der Münchner Konferenz 31 Staaten aus Ost und West zu Fragen des Umweltschutzes versammelt. Das hat es vorher noch nie gegeben. Zur Nordseekonferenz kamen alle Anrainerstaaten der Nordsee auf deutschen Boden. Beide Konferenzen fanden unter dem Vorsitz des Bundesinnenministers statt. Wir haben internationale Zeichen gesetzt. Es zeigt wohl auch die Bedeutung, die die Bundesrepublik Deutschland international im Umweltschutz hat, da es möglich war, diese beiden Konferenzen in Deutschland stattfinden zu lassen.
Das umweltfreundliche Auto kommt, und zwar schneller, als manche gedacht haben.
— Sie können heute den Autoteil jeder beliebigen Tageszeitung — aber vielleicht lesen Sie nicht; das kann sein — aufschlagen,
Metadaten/Kopzeile:
7644 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. Zimmermannund Sie werden feststellen, daß Autoindustrie und -handel sich voll auf Katalysator und bleifreies Benzin eingestellt haben.
— Ich habe schon viel Unsinn gehört, aber der, den Sie da von sich geben, sprengt wirklich jeden Rahmen.
Wir werden ab Anfang 1985 eine Pflicht zur jährlichen Abgassonderuntersuchung einführen und damit eine Entlastung um bis zu 20% bei Kohlenmonoxiden und um bis zu 10% bei Kohlenwasserstoffen erreichen.Wir werden uns auf der europäischen Ebene am 6. Dezember in Brüssel ganz unverrückbar verhalten und sehen überhaupt keinen Anlaß zum Nachgeben, denn unsere europäischen Partner müssen wissen, wie ernst es uns in dieser Sache ist.In den Ausschüssen des Bundestages hat die Beratung über die Entwürfe zur Novellierung des Bundesimmissionsschutzgesetzes begonnen. Dabei ist die Sanierung der Altanlagen unser zentrales Problem. Die sehr strengen Grenzwerte der neuen TA Luft müssen auch bei bestehenden Anlagen angewendet werden. Ich hoffe, daß die Beratungen zügig vor sich gehen.Das hoffe ich auch für die vierte Novelle zum Abfallbeseitigungsgesetz. Entgegen allen Beteuerungen — mein erstes Gespräch in dieser Richtung gab es im Herbst 1982 — geht der Anteil der Mehrwegverpackungen zurück, und sogar das freiwillige Angebot von Mehrwegverpackungen parallel zu Einwegverpackungen wird teilweise blokkiert.
— Richtig! — Ich möchte den Deutschen Bundestag nicht im unklaren darüber lassen, daß ich bei dieser unerfreulichen Sachlage für eine Verordnung bin, die die Einzelhändler zu einem Angebot von Pfandflaschen neben Getränkedosen verpflichtet.
— Herr Kollege Schäfer, er hat schon ein einschlägiges Gespräch geführt und dabei die gleichen Erfahrungen gemacht wie ich vor eineinhalb Jahren. Das war heilsam.
— Ich nehme an, die Bundesregierung wird ein Konzept — —
— Ja, natürlich! Im Gegensatz zu Ihnen bin ich nicht immer so sicher, sondern nehme zunächst einmal an.
Dazu benötigt der Innenminister einen entsprechenden Handlungsspielraum durch das Abfallbeseitigungsgesetz. Ich bitte für diese richtungweisende Novellierung des Gesetzes um die Unterstützung des Parlaments.
— Ich werde es Ihnen rechtzeitig sagen.
Im Gewässerschutz arbeiten wir an einer Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes.
Wir wollen vor allem bei gefährlichen Stoffen den „Stand der Technik" einführen, die Indirekteinleiter einbeziehen und das Grundwasser besser schützen. Wir werden diese Novelle Anfang 1985 im Bundeskabinett beschließen.Im BMI ist eine Bodenschutzkonzeption entworfen und mit den anderen beteiligten Bundesministerien intensiv beraten worden. Im Dezember wird der Entwurf mit den Bundesländern erörtert, und anschließend wird das Bundeskabinett darüber beschließen.
Im Oktober konnten wir die Regierungsverhandlungen mit der DDR über die Reduzierung der Werra-Versalzung aufnehmen. Ich halte das für einen weiteren ganz wichtigen Schritt auf dem Wege zu gemeinsamen Umweltschutzanstrengungen in beiden Teilen Deutschlands.Ein Wort zum atomrechtlichen Genehmigungsverfahren NUKEM II. Ich habe am 20. November dem hessischen Minister für Wirtschaft und Technik meine Entscheidung mitgeteilt, daß von der von ihm beabsichtigten Beschränkung des Anreicherungsgrades in den Brennelementen im Genehmigungsbescheid NUKEM II abzusehen ist. Anlaß für diese Entscheidung war der Versuch der hessischen Landesregierung, mit einer rechtlich unzulässigen Kompromißformel dem rot-grünen Bündnis noch einmal über die Hürden zu helfen. Die hessische Landesregierung hat dabei übersehen, daß sie mit den GRÜNEN über einen Gegenstand verhandelt hat, der nach der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit in die ausschließliche Entscheidungskompetenz des Bundes gehört.
Der Bundesminister des Innern mußte daher handeln. Die Weisung fordert — um mit dem hessischen Wirtschaftsminister Steger selbst zu sprechen — nichts anderes als die strikte Beachtung von Recht und Gesetz. Nur darum geht es.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7645
Bundesminister Dr. ZimmermannDer Bundesminister des Innern vollzieht seine bundesaufsichtliche Aufgabe allein nach diesem Maßstab.
Die Wahrnehmung dieser Aufgabe ist weder dem Inhalt noch dem Zeitpunkt nach einem politischen Kalkül unterworfen.
— Teile der Presse haben mir vorgeworfen, ich wollte damit das rot-grüne Bündnis festigen. Aber Ihr Gelächter beweist mir,
daß ich recht hatte.Der Bundesminister des Innern trifft also eine bundesaufsichtliche Entscheidung dann, wenn die zu entscheidende Frage entscheidungsreif ist, und nicht erst dann, wenn er sich von der politischen Konstellation etwas verspricht.
Dabei möchte ich eines deutlich sagen: Eine Untersagungsverfügung in einem bundesaufsichtlichen Verfahren gegenüber einem Bundesland, das eine rechtlich unzulässige Regelung beabsichtigt
— übrigens eine Rarität in der Geschichte zwischen Bund und Ländern —, gehört nicht gerade zu den erfreulichen Aufgaben des Bundesministers des Innern. Aber ich sage Ihnen, daß ich mich gleichwohl dieser Verpflichtung stellen werde, wann immer das notwendig ist.
Die von der hessischen Landesregierung ins Auge gefaßte Beschränkung der Anreicherung bei NUKEM II hätte am Sicherheits- und Sicherungsstandard nichts geändert, aber die Ziele der Nichtverbreitung verfehlt. Sie konnte insbesondere auch deshalb nicht akzeptiert werden, weil sie den Verzicht auf Kernwaffen und die Nichtverbreitungspolitik der Bundesrepublik Deutschland sowie die Wirksamkeit unserer nationalen Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen durch eine Mißtrauensregelung diskreditiert hätte und damit geeignet gewesen wäre, das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu schädigen.
Die Bundesregierung hält dagegen an ihrer seit Jahren kontinuierlich verfolgten und bewährten Politik der Nichtverbreitung fest.
Darüber gab es lange Zeit auch Übereinstimmung — ich hoffe, es gibt sie mit der SPD immer noch —,
die eine mißbräuchliche Verwendung von Kernbrennstoffen auch bei den Hanauer Betrieben ausschließt. Ich erwarte nunmehr, daß die hessische Landesregierung auch im Interesse der Arbeitnehmer die für die letzte Novemberwoche angekündigte Genehmigung erteilt.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh darüber, daß der Deutsche Bundestag dem Umweltschutz ebenfalls hohe Prioritäten zugewiesen hat. Ich habe das anfangs schon erwähnt. Der Umweltschutz ist nicht morgen oder übermorgen erledigt. Er ist eine langfristige Aufgabe, eine Daueraufgabe. Die Maßnahmen brauchen Zeit zum Wirken. Hysterie und Hektik sind schädlich.
Es muß klare und verläßliche Vorgaben geben, damit die notwendigen Investitionsentscheidungen getroffen werden. Nur eine berechenbare Umweltpolitik wird auf die Dauer erfolgreich sein können.
Die Bewahrung der inneren Sicherheit bleibt unabhängig von der jeweiligen aktuellen Gefährdungslage eine der zentralen staatlichen Verpflichtungen. Die Bundesregierung dankt den Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden für ihre aufopferungsvolle Arbeit im Dienste des inneren Friedens. Ein wichtiger Sicherheitsfaktor für unser Land ist der Bundesgrenzschutz mit seinen Verbänden und dem Einzeldienst. Zu seinen zahlreichen Aufgaben gehören nunmehr auch Umweltschutzmaßnahmen in der Nordsee, eine wichtige, neue Aufgabe.
Die Mittel, die dafür zur Verfügung stehen, reichen noch nicht aus, um das zu tun, was eigentlich notwendig wäre. Die große Bedeutung des Grenzschutzeinzeldienstes liegt in der Ermittlung und Fahndung sowie in der Verhinderung der illegalen Einreise von Ausländern.
Gleichzeitig benötigt der Bundesgrenzschutz intakte Verbände, um seine Sicherungsaufgaben in Zusammenarbeit mit den Ländern erfüllen zu können. Die Zahl der Aufgriffe ist im Jahre 1984 gestiegen: 170 000 nicht einreiseberechtigte Ausländer sind an den Grenzen zurückgewiesen worden. Wir haben zusammen mit den Ländern wichtige Aufgaben; wir wollen ein weiteres Absinken der IstStärke des Bundesgrenzschutzes verhindern. Die zugrunde gelegte Stärke von 20 500 Mann kann vorerst jedoch nicht erreicht werden. Wir werden aber alle Anstrengungen unternehmen, um möglichst rasch wieder an die vorgesehene Ist-Stärke im mittleren Polizeivollzugsdienst des BGS heranzukommen.
Metadaten/Kopzeile:
7646 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. ZimmermannDie Entwicklung der Kriminalität erfüllt uns nach wie vor mit großer Sorge, auch wenn die Schätzungen für das laufende Jahr eine leichte Besserung erkennen lassen.Unverändert ernst ist trotz aller Anstrengungen die Situation beim Rauschgift: 1983 472 Tote durch Drogenmißbrauch, ein Viertel mehr als im Vorjahr. Besonders kräftig ist die Zunahme der Kriminalität im Zusammenhang mit Kokain. 1983 wurden 30 % mehr Heroin, 40 % mehr Cannabis, aber 300 % mehr Kokain als im Vorjahr beschlagnahmt. Das ist leider nicht nur ein Zeichen für erfolgreiche Arbeit von Polizei und Zoll, sondern zeigt eine steigende Tendenz. Wir müssen für die Zukunft mit einer Kokain-Großoffensive auf Westeuropa rechnen. Deshalb beabsichtige ich, hier in Kürze zusammen mit den Ländern eine neue Abwehrinitiative zu ergreifen.Der Deutsche Bundestag hat sich vor kurzem erneut mit der Einführung fälschungssicherer und maschinell lesbarer Personalausweise befaßt. Die Bundesregierung hält wie ihre Vorgängerin diesen neuen Ausweis aus Sicherheitsgründen für erforderlich. Nicht nur Terroristen verwenden gefälschte Identitätspapiere. Auch im Bereich der mittleren Kriminalität — Scheckbetrug, Darlehensbetrug, bei der Kraftfahrzeuganmietung, bei der Unterschlagung von Kraftfahrzeugen — spielen gefälschte Personalausweise eine große Rolle. Fast 500 000 Personalausweise werden gesucht. Davon sind 12 000 Blankoausweise.Die Erleichterungen im grenzüberschreitenden Personenverkehr sind kein Argument gegen den neuen Personalausweis.
Auch künftig werden Grenzkontrollen notwendig sein, und wir werden auf Stichproben und gelegentliche Schwerpunktkontrollen nicht verzichten können. Auch Flughafenkontrollen muß es selbstverständlich weiterhin geben. Bei allen Erleichterungen gilt: Freie Fahrt für die grenzüberschreitende Kriminalität wird es nicht geben.
Die datenschutzrechtlichen Forderungen aus dem Verfassungsgerichtsurteil zum Volkszählungsgesetz werden bei den beiden Gesetzgebungsprojekten in vollem Umfang berücksichtigt. Darüber hinaus bin ich mit den Innenministern der Länder darin einig, daß sich aus dem Volkszählungsurteil auch weitere Folgerungen für den Umgang mit persönlichen Daten bei Polizei- und Verfassungsschutzbehörden ergeben.Wir haben die Erarbeitung fachspezifischer Regelungen für die Informationsgewinnung und -verarbeitung in Angriff genommen. Wir beabsichtigen, noch in dieser Legislaturperiode das Verfassungsschutzgesetz zu bearbeiten sowie ein Gesetz über die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden untereinander vorzulegen.
Der Datenschutz muß in einem vernünftigen, ausgewogenen Verhältnis zu anderen berechtigten Interessen des Bürgers stehen.
Dazu gehört auch das Sicherheitsinteresse. Wir wollen den Datenschutz des einzelnen unter Berücksichtigung wichtiger anderer Interessen weiterentwickeln und präzisieren.Das Volkszählungsgesetz ist inzwischen vom Kabinett verabschiedet worden. Der Entwurf eines Mikrozensusgesetzes ist erarbeitet. Beide Gesetzentwürfe entsprechen voll dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das haben auch die Datenschutzbeauftragten bestätigt.Daß eine neue Datenbasis erforderlich ist, dürfte unbestreitbar sein. Bund und Länder, aber vor allem Städte und Gemeinden brauchen für sachgerechte Entscheidungen zuverlässige statistische Informationen. Ich meine, den vorliegenden Entwürfen sollten alle Fraktionen zustimmen können. Sollte es in dem einen oder anderen Punkt noch Anregungen aus dem Deutschen Bundestag geben, so ist die Bundesregierung durchaus bereit, darauf einzugehen. Ich halte es für zweckdienlich, bei dieser Angelegenheit, die alle Länder, alle Gemeinden und damit auch alle Parteien gleichermaßen betrifft, im Bundestag zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Einen wichtigen Beitrag zur inneren Sicherheit leistet auch der Zivilschutz. Er hat drei wesentliche Aufgaben. Er soll Vorsorge treffen gegen Katastrophen. Er soll die Bevölkerung rechtzeitig vor drohenden Gefahren warnen. Er soll durch ärztliche Versorgung und Schutzmaßnahmen Menschenleben retten.Im Frieden erfüllt der Zivilschutz wichtige Dienste für die Allgemeinheit. Aber der Zivilschutz hat selbstverständlich auch für den Verteidigungsfall Vorsorge zu treffen. Dazu gehört auch der Schutzraumbau, über dessen Notwendigkeit es gerade in neutralen Ländern überhaupt keine Diskussion gibt.
Ein verstärkter Schutzraumbau erhöht zweifellos die Glaubwürdigkeit unserer Verteidigungsbereitschaft und ist wohl die eindeutigste Defensivmaßnahme, die es überhaupt gibt. Ohne ideologische Scheuklappen betrachtet ist die Frage des Schutzraumbaus eine Frage der finanziellen Mittel des Staates und des finanziell Zumutbaren für einen Bauträger.Zur Ausländerpolitik: Die Bundesregierung wird in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, der zur Zeit in meinem Hause vorbereitet wird. Wir werden dann Gelegenheit haben, darüber ausführlich zuDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7647Bundesminister Dr. Zimmermanndiskutieren. Die Zielsetzung dabei ist eine Regelung, die den weiteren Zuzug von Ausländern begrenzt und gleichzeitig den bei uns lebenden ausländischen Bürgern eine vernünftige Zukunftsplanung gestattet.Dieser Tage hat sich die Katholische Bischofskonferenz zur Ausländerpolitik geäußert. Ich begrüße die sehr eindeutigen Aussagen zu den Verpflichtungen des Staates, den Ausländerzuzug — so wörtlich — „sozial verantwortlich zu steuern", und — so wörtlich — „Mißbräuchen zu wehren". Das gilt auch für die Mißbräuche bei Asylsuchenden.
Es ist wichtig, daß auch von kirchlicher Seite diese Aufgabe der Bundesregierung anerkannt wird. Wenn gleichzeitig auf Grund der konkreten Zahlen derzeit kein Begrenzungsbedarf beim Familiennachzug gesehen wird,
so ist das eine Bewertung, wie auch die Bundesregierung sie in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD kürzlich vorgenommen hat.
Im übrigen meine ich, daß die sehr differenzierte Stellungnahme der katholischen Bischöfe ein gutes Beispiel für eine hoffentlich ebenso sachliche Diskussion ist, die wir dann im Deutschen Bundestag führen werden.Die deutsche Kulturpolitik haben wir vor wenigen Wochen im Bundestag ausführlich erörtert. Ich freue mich, daß der Haushalt 1985 eine Steigerung für die Kulturförderung um rund 6,4 % vorgesehen hat. Auch in Zeiten knapper Kassen sind die Bundesregierung und die Bundesrepublik Deutschland ihrem kulturellen Anspruch durch eine beträchtliche Steigerung der Kulturförderung gerecht geworden.
Wir werden auch in Zukunft für ein kulturfreundliches Klima in der Bundesrepublik Deutschland sorgen.
Auch im Sport können wir einen erfreulichen Mittelzuwachs verzeichnen. Nach den Olympischen Spielen in Sarajevo und Los Angeles können wir insgesamt eine positive Bilanz ziehen. Aber wir werden unser grundsätzlich bewährtes Sportförderungssystem erneut auf seine Wirksamkeit hin überprüfen müssen. Wir werden uns auch Gedanken machen über eine weitere Verbesserung der Trainersituation. Dabei suchen wir das Gespräch mit Sportlern und Verbänden. Die Fachverbände des Spitzensports sind bereits noch für dieses Jahr zu mir zu einer Gesamtbewertung nach den Olympischen Spielen und zur Besprechung der Planung für die Zukunft eingeladen.
Der öffentliche Dienst hat in den vergangenen Jahren einen maßgeblichen Beitrag zum Erfolg der Konsolidierungspolitik geleistet. Zurückhaltende Tarifabschlüsse und noch zurückhaltendere Besoldungsanpassungen waren notwendig, um diesen Erfolg zu gewährleisten. Hinzu traten strukturelle Eingriffe und Stelleneinsparungen. Die Bundesregierung würdigt diesen Beitrag des öffentlichen Dienstes und das Verständnis, das die Beschäftigten, die ja in der Masse den unteren und mittleren Einkommensgruppen angehören, für diese Notwendigkeiten gezeigt haben.Die Spielräume sind weiterhin eng. Für das vor uns liegende Jahr konnte dennoch mit dem Tarifabschluß und der Besoldungsanpassung wieder ein stärkerer Anschluß an die allgemeine Einkommensentwicklung erreicht werden, der zudem spürbar über der derzeitigen Preissteigerungsrate liegt und daher eine Verbesserung der realen Einkommenssituation ermöglicht.
Die Bundesregierung hat vorgeschlagen, den Tarifabschluß auf die Beamten, Richter und Soldaten zu übertragen, und hat dementsprechend am 20. November 1984 den entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Der Gesetzentwurf übernimmt für den Besoldungsbereich die Ergebnisse der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst.Ich glaube, die diesjährige Tarif- und Besoldungsrunden haben ein für alle Seiten vertretbares Ergebnis gebracht. Die Abschlüsse sind auch gesamtwirtschaftlich voll zu verantworten. Sie führen bei den Angehörigen des öffentlichen Dienstes erstmals wieder zu einem realen Einkommensgewinn.Meine Damen und Herren, in der Innenpolitik ist für jeden sichtbar Entscheidendes auf den Weg gebracht worden. Es gibt vorzeigbare Ergebnisse, aber viel bleibt zu tun. Das gilt gerade für die Umweltpolitik, deren Kurs und deren Tempo in Europa beispielhaft sind.
Deshalb bin ich auch zuversichtlich, daß wir dazu in der Lage sind, die Umweltprobleme zu lösen. Ich appelliere an Sie, meine verehrten Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung in diesen ihren zentralen Anliegen auch weiterhin zu unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nöbel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, das war nicht viel, was Sie hier geboten haben.
Metadaten/Kopzeile:
7648 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. NöbelSie haben wieder kaum etwas Konkretes vorgestellt.
— Sie haben noch genügend Zeit, sich aufzuregen.— Dagegen sind die Ausführungen des Kollegen Schäfer ja wohl nicht ohne Wirkung geblieben. Ich möchte Ihnen sagen: Niemand hier hat Anlaß zu Selbstgerechtigkeit. Aber wahr ist, daß Umweltschutz seit 1969 Gemeinschaftsaufgabe ist, wahr ist, daß mit dem Sofortprogramm von 1970 erfolgreiche Umweltpolitik begonnen worden ist.
Ich erinnere nur an das Benzinbleigesetz von 1971: Es führte nachgewiesenermaßen in den Städten zu einer Reduzierung des Bleigehalts der Luft um durchschnittlich 65%.Das innenpolitische Klima hat sich seit der Ernennung dieses Bundesinnenministers im Oktober 1982 immer mehr verschlechtert.
Die öffentliche Kritik verschärft sich weiter. Die noch nicht gewendeten Worte der Kollegen Hirsch und Baum sind in dieser Koalition ungültig.
Zimmermann fällt den Baum und jagt den Hirsch. So sieht es leider aus.
Es gibt Ankündigung und Einschüchterung, Fehlanzeige dort, wo es echt um Bürgerrechte geht, statt dessen starke Worte: Ordnungsmaßnahmen müssen her.
Das, was man mit Toleranz umschreibt, ist Ihnen, Herr Zimmermann, fremd.
Der Widerspruch zwischen Ihrem Anspruch, Verfassungsminister zu sein,
und Ihrer politisch-moralischen Einseitigkeit wird immer deutlicher.
Sie bleiben unbeeindruckt gegenüber jedweder allzu berechtigten Kritik an der Filmförderungspolitik.
Sie bleiben unbeeindruckt, wenn Ihr Kollege vonder Post über Ihre Kompetenzen als Medienminister verfügt. Sie schweigen als Verfassungsminister, wenn der gleiche Kollege ohne Rücksicht auf die Kulturhoheit der Länder in deren ureigene Zuständigkeit eingreift. Ihre eigene Zuständigkeit in der Medienpolitik haben Sie offenbar niemals wahrgenommen. Der letzte Bericht der Bundesregierung zur Lage von Presse und Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland stammt — man höre und staune — aus dem Jahre 1978. So sieht es aus.
Es stört Sie nicht, daß da einiges aus dem Ruder läuft. Ihre Devise „Wenn man nicht weiß, wohin man will, kommt man am weitesten" können wir uns verständlicherweise nicht zu eigen machen.
Sie sind Verunsicherungsminister. Statt der Polizei klare Vorgaben zu geben, verlangen Sie Amtshilfe und schaden damit der Polizei und den Bürgern zugleich.
Anstatt einmal daran zu denken, die Polizeibeamten von polizeifremden Polizeiaufgaben entlasten zu helfen, damit sie ihrer vorrangigen Aufgabe, den Bürger zu schützen, leichter nachkommen können — denn Polizei und Bürger sind im freiheitlichen Rechtsstaat Partner —, plädieren Sie für rechtsstaatlich fragwürdige Methoden.
Ihr Ziel ist die Einschränkung des Demonstrationsrechts. Die FDP hat mittlerweile vor Ihnen kapituliert. Es stört Sie, Herr Zimmermann, offensichtlich überhaupt nicht, wenn der Deutsche Anwaltverein Ihre Pläne zur Verschärfung des Landfriedensbruchtatbestandes eine politische Mißgeburt nennt,
weil das Ganze zu einer unpraktikablen Rechtssituation führen würde.Die Debatte über den sogenannten fälschungssicheren, maschinenlesbaren Personalausweis haben wir erst kürzlich hier geführt. Heinrich Boge, der Präsident des Bundeskriminalamtes, sagt: „Die Maschinenlesbarkeit ist für mich heute kein zentrales Thema mehr."
Für den Bundesinnenminister bleibt die Maschinenlesbarkeit weiter ein zentrales Thema. Er hat es eben hier noch einmal bekundet.
Das geschieht auch noch in einem europäischen Alleingang, den er bei der Einführung der umweltfreundlichen Katalysatoren nicht riskiert. Kein anderer Staat in der Europäischen Gemeinschaft hält einen solchen Ausweis für notwendig. Obwohl die Personenkontrollen an den Grenzübergängen abge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7649
Dr. Nöbelbaut werden sollen — er hat sich da ja wieder gedreht; früher ist das sein Argument gewesen —,
was von dieser sprechfreudigen Regierung lauthals propagiert wird, zeigt sich Herr Innenminister Zimmermann stur. Ich vermute, meine Damen und Herren, daß der Bundesinnenminister die durch die neuen Grenzübertrittsregelungen geschaffenen Sicherheitsverluste durch Inlandskontrollen wettmachen will.
Dafür braucht er offensichtlich den neuen, maschinenlesbaren Personalausweis.Auch die Bedenken des Bundesbeauftragten für den Datenschutz Baumann, der doch von ihm berufen worden ist, interessieren ihn überhaupt nicht,
daß nämlich angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit auf eine überzeugende Begründung — so hat er gesagt — für die Zulassung des automatischen Lesens nicht verzichtet werden kann. Schließlich werden mit der speziellen Lesezone und dem entsprechend entwickelten Lesegerät ganz andere Nutzungen ermöglicht, und das auch ohne besonderen Aufwand. Das muß man wissen.
So kommt der Datenschutzbeauftragte — hören Sie gut zu! — zu dem Schluß, neue Gefährdungen der Privatsphäre seien nicht auszuschließen. Und, so sagt er wörtlich:Derartige Entwicklungen — einmal in Gang gesetzt — sind kaum aufzuhalten.Statt Sicherheit, meine Damen und Herren, macht sich Verunsicherung breit.
Wer gedacht hatte, diese Bundesregierung würde aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz die erforderlichen Konsequenzen ziehen, sah sich getäuscht. Der Bundesinnenminister legte einige datenschutzrelevante Vorlagen ungerührt in alter Fassung vor. Offenbar wird mit ganz kleiner politischer Münze ausgezahlt, was das grundlegende und richtungweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Politik abverlangt. Mehr als Kosmetik ist kaum zu erwarten. Der kürzlich vorgelegte Entwurf eines Volkszählungsgesetzes 1986 ist insoweit — so sage ich mal — ein neues Stück aus der Serie „Die Unverbesserlichen".
Man muß wissen, daß sich diese Bundesregierung die neuesten Erkenntnisse nicht zu eigen macht, daß die Hälfte der Bundesbürger von der Volkszählung nichts hält, wenn sie eine totale Erhebung sein soll. Man muß wissen, daß die Kosten für diese Volkszählung auf 550 Millionen DM veranschlagtsind. Wenn sich nur 5% nicht beteiligen oder falsche Antworten geben, ist das Ganze für die Katz.
Diese Innenpolitik nach Gutsherrenart unter Androhung der im Gesetz vorgesehenen Ordnungsstrafen wird die innere Liberalität unseres Gemeinwesens weiter beeinträchtigen und gefährden.
Sollte nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ein Verzicht auf eine Totalerhebung unter Auskunftszwang gegenwärtig nicht möglich sein, so sollte — und da sind wir alle gefordert — der Gesetzgeber die statistischen Ämter jedenfalls verpflichten, alternative Erhebungsmethoden für die Zukunft zu erproben, die die Bürger weniger belasten. Genau das ist die Forderung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder.Die Koalitionsfraktionen sind in den Fragen des Datenschutzes erkennbar zerstritten. Sie sind nicht in der Lage, die vom Verfassungsgericht aufgestellten Forderungen in die Wirklichkeit umzusetzen. Das nimmt angesichts einer reaktionären CSU und einer bis zur politischen Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen FDP, in der liberale Gesichtspunkte, wie gesagt, nur noch als Spurenelemente nachzuweisen sind, auch nicht wunder.Weitere schlimme politische Tauschgeschäfte stehen zu Lasten des Bürgers ins Haus. Bei dieser Situation ist es natürlich nicht verwunderlich, daß die in der Koalitionsvereinbarung beschlossene und dringlich gebotene grundlegende Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes nicht vorankommt. Nach nunmehr über zwei Jahren liegt ein Gesetzentwurf noch immer nicht vor. Ein vom Hause Zimmermann im Jahre 1983 erarbeiteter Gesetzentwurf mußte schleunigst zurückgezogen werden, weil er die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts in gröblicher Weise verletzt hätte.Mit der Nullrunde und den Einkommenskürzungen im öffentlichen Dienst haben wir uns nie abgefunden. Um so mehr freuen wir uns über den jüngsten Erfolg der Gewerkschaften und begrüßen es, daß das Tarifergebnis jetzt auf den Beamtenbereich übertragen wird.In der Sportförderung — Fehlanzeige! Der Sport ist in schlechte Hände geraten.
Ihnen fehlt — wenn Sie hier schon von der Trainerfrage sprechen — der Bundestrainer. Die bombastischen Ankündigungen der damaligen CDU/CSU-Opposition zum Thema „Sport und Steuern" schlagen sich nirgendwo nieder. Kein Wort des Ministers heute zu den Vereinen und den Problemen der Übungsleiter!
Unsere Forderung, die derzeitige Übungsleiterpauschale von 2 400 DM auf 3 600 DM anzuheben — das wäre eine wirksame Hilfe für die rund 60 000 Amateursportvereine —, wird trotz unserer energischen
Metadaten/Kopzeile:
7650 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. NöbelInitiativen, die wir mit dem Hinweis auf die damaligen Versprechungen der CDU/CSU-Opposition verbunden haben, einfach ignoriert.
Auch die sogenannte Einnahmeüberschußgrenze im Bereich der Körperschaftsteuer bedarf der Anpassung. Dazu meint — hören Sie jetzt gut zu! — der Präsident des Deutschen Sportbundes Willi Weyer wörtlich:Da auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sich in der damaligen Zeit
— das war die Oppositionszeit —den Gedanken des Deutschen Sportbundes gegenüber aufgeschlossen gezeigt hat, müßte es bei dieser Übereinstimmung möglich sein, wenigstens einige wichtige Punkte des DSB-Steuermemorandums im Deutschen Bundestag jetzt durchzusetzen.Ich stelle fest: nichts ist jetzt möglich!
Im Gegenteil, sogar die Förderung des Behindertensports wird Jahr für Jahr in hohem Umfang reduziert.Letzte Woche — Sie haben soeben hier ein Schaustück geboten, Herr Minister — mußten Sie die klare Absage der katholischen Bischöfe an den Zuzugsstopp zur Kenntnis nehmen. Ich zitiere dazu die „Badische Zeitung", die am letzten Samstag vom Bischofsmut sprach.
— Ja, das können Sie nicht hören. Die „Badische Zeitung" schrieb:Die Ausländerpolitik ist eine der seltenen Fragen, in denen die katholischen Bischöfe der Bundesrepublik seit einiger Zeit auf Distanz zu jener Partei, der sie nahestehen, und zur Regierungsmehrheit gegangen sind; in der sie sich, bei Berufung auf Menschenrecht und Menschenwürde, gegen deren hilflosen Pragmatismus und Opportunismus und die Vorurteile des Publikums gegenüber ausländischen Mitbürgern gewendet haben. Vor allem der ,Ausländerbischof Wittler, Kardinal Höffner, auch Erzbischof Seier haben dabei eine eindeutige und tapfere Position vertreten, anders als das Zentralkomitee des Verbandskatholizismus, das mit vielen Unionspolitikern besetzt ist.
— Dann weist die Zeitung auf den Kernpunkt in derErklärung der Bischöfe hin: daß dem Schutz derFamilienrechte des Ausländers der gleiche Ranggebührt wie dem Schutz derjenigen des Deutschen,
daß also aus Gründen der Menschlichkeit Manipulationen mit dem Zuzugsalter von Kindern ausländischer Arbeitnehmer als Steuerungsmaßnahme abzulehnen sind.
Ich füge hinzu: Es ist sehr dankenswert, daß sich die Deutsche Bischofskonferenz nicht nur um die rund 2 Millionen ausländischen Katholiken kümmert, sondern um alle, wobei sie auch auf die kulturelle Bereicherung aufmerksam macht.Auch ist erwiesen, meine Damen und Herren, daß die verstärkte Ausländerrückführung der Bundesregierung eine verfehlte Politik auf der Grundlage falscher Prognosen ist. Eine neue Studie kommt sogar zu dem Ergebnis, Ziel dieser Politik sei es, die inländischen Arbeitnehmer von den Ursachen der Arbeitslosigkeit abzulenken und „sie zu ködern, damit sie von weiterreichenden Forderungen nach aktiver Beschäftigungspolitik Abstand nehmen".
Sie gaukeln, Herr Minister,
Sicherheit vor, wo es keine gibt.
Über Sinn und Unsinn von Schutzraumbauten werden wir uns bei der Novellierung des Zivilschutzgesetzes zu unterhalten haben. Aber daß Sie mit einer Schutzraumbaupflicht aufwarten und dazu gelieferten Preiskalkulationen, über die Sie jeder seriöse Architekt auslacht, ist schon ein starkes Stück.
Daß Sie bei Kostenneutralität die Einrichtungsträger zwingen wollen, Krankenhausbettenkapazitäten für die erhöhten Anforderungen eines Verteidigungsfalles bereitzuhalten, während gleichzeitig im Krankenhausfinanzierungsgesetz alles getan wird, um den Abbau von Betten zu erzwingen, spricht für das heillose Durcheinander in diesem Regierungsladen.
Sie wollen Zivilschutzdienstpflicht und lassen sich von Ihrem Kollegen Wörner, Herr Zimmermann, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes — vom Bundesrat eingebracht — kaputtmachen, bei dem es um nichts anderes geht als um die uneingeschränkte Freistellung des hauptamtlichen Einsatzpersonals der öffentlichen Feuerwehren vom Wehr- und Zivildienst — und dabei um Minimalzahlen, nämlich um 2 645 Leute, die der Wehrüberwachung unterliegen, von denen 236 mobilma-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7651Dr. Nöbelchungsbeordert sind. So sieht es aus im Hause Zimmermann.
Zur Einführung einer Zivilschutzdienstpflicht haben Sie wohl zur genüge Reaktionen ins Haus bekommen, so das geharnischte Schreiben des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, des früheren Kollegen aus Ihren Reihen, Botho Prinz zu SaynWittgenstein, der „existentielle Grundsätze des Roten Kreuzes, insbesondere den Grundsatz der Freiwilligkeit sowie wichtige Bestimmungen des humanitären Völkerrechts" berührt sieht. Er spricht weiter von „nachhaltiger Rechtsunsicherheit". Zum Entwurf insgesamt schrieb er Ihnen: „Wir haben grundsätzliche Bedenken gegen wesentliche Zielvorstellungen und Inhalte, die Ihr Haus mit diesem Gesetzentwurf verwirklichen möchte, geltend zu machen." Er werde „dem Auftrag nicht gerecht" — der Gesetzentwurf —, „die Gesamtsituation des Zivilschutzes in der Bundesrepublik Deutschland entscheidend zu verbessern. Der Entwurf läßt darüber hinaus", so sagt er, „wichtige humanitäre völkerrechtliche Regelungen der Genfer Rotkreuz-Abkommen unberücksichtigt". Und es heißt dann:Bei wirklichkeitsnaher Betrachtung einer möglichen Konfliktsituation wird davon auszugehen sein, daß breit gefächerte, zentral gelenkte Zivilschutzmaßnahmen in aller Regel nicht wirksam werden können, sondern daß jede Stadt und jedes Dorf auf sich selbst angewiesen sein wird.Die Johanniter-Unfallhilfe hat sich geharnischt gemeldet, man habe den „Eindruck, daß das Ziel, die Zivilschutzgesetzgebung zu vereinfachen, nicht erreicht worden" sei, sondern das Gegenteil.Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände beschwert sich darüber, „daß der Bund, obwohl dies mit Art. 104a Grundgesetz nicht vereinbar wäre, weiter bestrebt ist, den kommunalen Gebietskörperschaften zusätzlich Kosten über eine Beteiligung an den Zweckkosten aufzubürden".Herr Zimmermann, Sie haben schwerste Kritik von den Feuerwehren erfahren, vom MalteserHilfsdienst,
dem Arbeiter-Samariter-Bund, der Arbeiter-Wohlfahrt, dem Hartmann-Bund und großen ärztlichen Vereinigungen.
— Alle! Im Grunde wird Ihnen übereinstimmend von den Rettungsorganisationen bescheinigt, daß Sie nicht mehr zu retten sind. Der Kollege Riedl, der heute j a noch sprechen wird, hat bei Haushaltsberatungen den beiden Vorgängern dieses Ministers gegenüber stets die Standardbewertung gebraucht — ich nehme sie Ihnen, Herr Riedl, vorweg —: „... einer so miserablen Führung durch einen so miserablen Bundesinnenminister". Ichsage: Diese Behauptungen von damals sind seit Oktober 1982 tatsächlich wahr geworden.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Riedl .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesinnenministers ist ein sehr umfassender Haushalt mit sehr vielen Teilbereichen. Das hat die heutige Diskussion schon gezeigt. Die Fülle der Themen, die der Bundesinnenminister zu vertreten hat, kann in einer relativ kurzen Haushaltsdebatte natürlich auch nicht so umfassend beantwortet werden, wie es wünschenswert wäre.Herr Kollege Nöbel, unser Fraktionskollege Dr. Laufs wird zu den von Ihnen angeschnittenen Themen Stellung nehmen. Ich möchte als Berichterstatter im Haushaltsausschuß, der für die innere Sicherheit zuständig ist, heute nach den sehr ausführlichen Diskussionen zum Umweltschutz jetzt versuchen, der inneren Sicherheit in dieser Debatte einen gewissen Rang einzuräumen.
Die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland gebietet es nämlich, daß wir leistungsstarke Sicherheitsbehörden haben, und zwar sowohl bei den Ländern als auch beim Bund. Für den Bund bedeutet dies insbesondere ein leistungsstarkes Bundeskriminalamt
und einen leistungsstarken Bundesgrenzschutz mit intakten Verbänden und einem wirkungsvollen Grenzschutzeinzeldienst.Ich möchte auch einmal die Gelegenheit nutzen, um den Staatsbürgern draußen im Lande, die diese Debatte hier verfolgen können, mitzuteilen, was das kostet. Die innere Sicherheit kostet den Staatsbürger natürlich eine Menge Geld. So wird der Bund im Jahre 1985 1,65 Milliarden DM in eigener Zuständigkeit für die innere Sicherheit ausgeben, wobei auf den Bundesgrenzschutz mit 1,12 Milliarden DM der größte Brocken entfällt. Das Bundeskriminalamt kostet den deutschen Steuerzahler im kommenden Jahr rund 291 Millionen DM, und das Bundesamt für Verfassungsschutz kostet ihn 210 Millionen DM.Herr Kollege Kleinert, die Zuwachsrate, die Sie bezüglich des Verfassungsschutzes genannt haben, ist 1985 deshalb so erheblich höher als 1984, weil wir im Jahre 1985 mit dem längst fälligen Neubau des Bundesamts für Verfassungsschutz in Köln beginnen. Dadurch werden die Etatansätze naturgemäß etwas höher. Ohne diesen Neubau betrüge die Zuwachsrate beim Verfassungsschutz 2,0 % und läge
Metadaten/Kopzeile:
7652 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Riedl
damit unter dem Durchschnitt des Bundeshaushalts.
Die Bereitschaftspolizeien der Länder — auch hier gibt es eine finanzielle Dotation des Bundes — werden durch den Bund mit immerhin 31 Millionen DM finanziert. Insgesamt möchte ich feststellen, daß die Steigerungsrate für die Ausgaben für die innere Sicherheit im Jahre 1985 gegenüber dem Jahre 1984 bei 3,2 % liegen.Ich weise mit Genugtuung darauf hin — das muß angesichts der heftigen Debatten, die wir gerade auch wieder in dieser Woche hier zu führen haben, auch einmal gesagt werden —, daß diese Etatansätze im Haushaltsausschuß von allen politischen Parteien mit Ausnahme der GRÜNEN in großer Verantwortung geprüft und anerkannt worden sind.
CDU/CSU und FDP — für die SPD-Kollegen erwähne ich hier stellvertretend den Braunschweiger Abgeordneten Kühbacher — haben sich in stundenlangen Beratungen zu leistungsfähigen Organen des Bundes für die innere Sicherheit bekannt sowie die Voraussetzungen für einen planmäßigen technischen und personellen Ausbau auf Grund der Bundesaufgaben in einem föderalistischen Staat geschaffen. Es ist, glaube ich, doch gut, meine Damen und Herren, daß solche Gemeinsamkeiten demokratischer Parteien dann, wenn sie vorhanden sind, auch einmal festgestellt werden. Ich meine — ich sage dies als kämpferischer Abgeordneter, der draußen und auch hier oft sehr gern eine scharfe Klinge führt —, daß wir es dem Bürger auch sagen sollten, wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen.
Demgegenüber — das sage ich mit ebenso großer Offenheit — haben die GRÜNEN sowohl in den Berichterstattergesprächen als auch bei den Haushaltsberatungen im Ausschuß klar zu erkennen gegeben, daß der Abbau der Organe der inneren Sicherheit — bis hin zur totalen Untätigkeit unserer Sicherheitsbehörden — innerhalb ihrer Gesamtstrategie zur Veränderung unserer Gesellschaft absolute Priorität hat.Die von Ihnen insgesamt gestellten Kürzungsanträge betreffend die innere Sicherheit von mehr als 102 Millionen DM betrafen überwiegend Maßnahmen zur Beschaffung dringend notwendiger technischer Ausstattungen für Bundesgrenzschutz und BKA. Im Klartext, meine Damen und Herren von den GRÜNEN: Sie wollen unsere Sicherheitsbehörden auf Null abbauen, um nicht zu sagen: abschaffen.
Die GRÜNEN haben durch ihr Verhalten im Haushaltsausschuß deutlich dokumentiert — genierenSie sich doch nicht; Sie haben das doch gesagt, das ist doch auch Ihre Politik, Herr Kollege Kleinert
— ist j a gut, wenn Sie sagen, daß Sie sich nicht genieren; ganz prima —, daß sie ein zutiefst gestörtes Verhältnis zur Sicherheit unseres freiheitlichdemokratischen Rechtsstaates haben.
Der Bürger muß wissen, daß die GRÜNEN im Falle einer Regierungsübernahme durch sie — was Gott verhüten möge —
die innere Sicherheit genausowenig gewährleisten könnten, wie sie imstande sind, die äußere Sicherheit zu garantiern.
Meine Damen und Herren, der Bundesgrenzschutz hat bei seinen vielfältigen Einsätzen immer bewiesen, daß er ein unentbehrlicher Bestandteil im System der inneren Ordnung ist. Der Herr Bundesinnenminister hat heute schon einige wenige Zahlen genannt. Ich möchte einige gleichartige Zahlen hinzufügen.Im ersten Halbjahr 1984 sind durch den Bundesgrenzschutz an den Grenzen 45 479 Aufgriffe und Festnahmen gesuchter Straftäter erfolgt. Herr Bundesinnenminister, ich möchte es hier ganz deutlich sagen: Auch der maschinenlesbare Personalausweis muß ein echtes Hilfsmittel für die Kontrollfunktion und zur Kontrolle an unseren Grenzen sein. Sonst brauchen wir ihn nämlich nicht.
Denn wenn wir nur einen Ausweis schaffen würden, der zur Folge hat, daß die Schlupflöcher für Straftäter immer größer werden, dann wäre das Geld in der Tat zum Fenster hinausgeworfen.
— Also, Sie müssen schon in der Tat ein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie hören, daß ich von der Stärkung der Polizei so deutlich rede. Ich kann mir das gut vorstellen.
Der Bundesgrenzschutz hat 72 803 Fälle von Unterbindung illegaler Einreisen und von Bekämpfung des Menschenschmuggels aktenkundig gemacht. Ferner hat er — man sollte es nicht glauben, meine Damen und Herren — im ersten Halbjahr 1984 103 169 Fälle von Verhinderungen der Weiterfahrt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7653
Dr. Riedl nicht verkehrssicherer ausländischer Kraftfahrzeuge sowie die Einziehung ganz erheblicher Mengen von Haschisch, Kokain, Marihuana und Opium aufzuweisen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte ein weiteres Thema anschneiden, das die Bürger draußen im Lande sicherlich interessieren wird: Zum Schutze von Verfassungs- und anderen Bundesorganen gelang es dem Bundesgrenzschutz — in Zusammenarbeit mit den Länderpolizeien —, und zwar durch vorbeugende Maßnahmen sowohl in Bonn als auch in Karlsruhe — daran, daß wir uns hier vor Ihren Sympathisanten schützen müssen, die die Grundpfeiler unserer Demokratie permanent angreifen, meine Damen und Herren, sind Sie doch mitbeteiligt —,
einen Grad an Sicherheit zu gewährleisten, der weltweit vorbildlich ist.
Meine Damen und Herren, wir wenden pro Jahr 28,5 Millionen DM zum Schutze der Verfassungsorgane des Bundes und zum Schutze gefährdeter Objekte gegen terroristische Anschläge auf. Und allein für Gorleben — das können Sie doch wirklich nicht bestreiten; Sie waren doch schon selber oben — geben wir jährlich fast 1,5 Millionen DM aus, um diese Einrichtungen vor Anschlägen jedweder Art zu schützen.
Herr Abgeordneter Dr. Riedl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert?
Herr Präsident, ich würde das j a gern tun. Aber da mir dies nicht auf die Redezeit angerechnet wird, bin ich in einer sehr schwierigen Lage.
Sie haben zu entscheiden.
Herr Präsident, wenn Sie mir ermöglichen — —
Ich habe eine solche Möglichkeit nicht. Aber Sie haben zu entscheiden, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Da ich die Möglichkeit nicht habe, Herr Kleinert, bitte ich um Verständnis. Ich habe nur 15 Minuten zur Verfügung.
Ein Wort noch zu der GSG 9, dieser Spezialtruppe des Bundesgrenzschutzes, für die wir im Jahr rund 18 Millionen DM ausgeben. Ich glaube auf Grund der hervorragenden Arbeit, die diese Truppe leistet, daß dieses Geld im Interesse der Bürger und des Lebens vieler, vieler Bürger eine gute Anlage ist. Ich möchte gerade dieser hervorragenden jungen Truppe hier an dieser Stelle unser aller höchste Anerkennung aussprechen.
Ein Wort zum Bundeskriminalamt. Der Haushalt 1985 schafft für das Bundeskriminalamt eine solide Planungsgrundlage. Wie erforderlich es ist, beim Bundeskriminalamt 3 500 Mitarbeiter zu beschäftigen, zeigt schon die Zahl der Straftaten. Im Jahr 1983 passierten in Deutschland 4,3 Millionen Straftaten, und die Statistik für 1984 wird aller Voraussicht nach leider Gottes keine geringere Zahl ausweisen.Die Erfolge des Bundeskriminalamts in der Terrorismusbekämpfung können sich sehen lassen. Allein 1984 konnten sechs Terroristen festgenommen werden, darunter vier Personen, die in der Vorrangfahndung waren. Der RAF gelingt es offenbar immer wieder — hierüber liegen gesicherte Erkenntnisse vor —, neue Mitglieder zu rekrutieren.
Gleichwohl können wir sagen, daß Gott sei Dank die von dieser Gruppe ausgehenden Gefahren dank der guten Arbeit unserer Polizei geringer werden.Anders ist — der Herr Bundesinnenminister ist schon darauf zu sprechen gekommen — leider Gottes die Gefahr im Rauschgiftbereich. Die Lage wird in der Tat von Jahr zu Jahr dramatischer, und es ist zu befürchten, daß über kurz oder lang die jährliche Zahl der Rauschgifttoten in Deutschland die 500erGrenze überschreiten wird. 260 kg Heroin sind 1983 in die Republik gekommen. 1984 wird es nicht viel weniger sein.
Wir müssen als Parlament, als Haushaltsausschuß und insgesamt als in diesem Land politisch verantwortlich Handelnde dem Bundeskriminalamt jedwede Hilfe sowohl im Inland als auch im Ausland zur Verfügung stellen. Und da bin ich einmal neugierig, wie sich die GRÜNEN verhalten, wenn wir demnächst wieder in den Ausschüssen das Rauschgift, das eine Geißel für unser Volk und vor allen Dingen für unsere Jugend ist, wirksam bekämpfen wollen. Hoffentlich sind Sie dann wenigstens anwesend, wenn wir dies behandeln.
Meine Damen und Herren, neue Formen der Kriminalität beunruhigen uns ganz erheblich, und zwar die Zunahme des sogenannten organisierten Verbrechens.
Metadaten/Kopzeile:
7654 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Riedl Ob 1983 14 000 — —(Kriszan [GRÜNE]: Neue Formen!)— Ich will j a — — Herr Kollege, wenn ich Sie so anschaue, kann ich mir gut vorstellen, daß 'Sie vom organisierten Verbrechen sehr viel verstehen.
Herr Abgeordneter Riedl, ich möchte Sie unterbrechen. Herr Abgeordneter Riedl, es gibt überhaupt keinen Grund, irgendeinen von uns in die Nähe von Verbrechen zu rücken. Das gilt nach allen Seiten. Ich wäre dankbar, wenn wir das gemeinsam in allen Richtungen berücksichtigen.
Also, meine Damen und Herren, es wird doch noch gestattet sein, daß ich jemandem eine hohe Sachkompetenz im Bereich des organisierten Verbrechens zuspreche. Das muß doch wohl noch gestattet sein.
Ob 1983 14 000 hochwertige Pkws mit einem Schaden von über 400 Millionen DM entwendet oder vorwiegend ins Ausland gebracht worden sind, ob internationale Schleuserbanden durch illegale Arbeitnehmerüberlassung einen volkswirtschaftlichen Schaden von mindestens 4 Milliarden DM verursacht haben, all dies ist organisierte Kriminalität, die uns zunehmend zu schaffen macht.
Das gleiche gilt für die Wirtschaftskriminalität. Ich nenne hier nur eine Zahl. 1983 betrug der Schaden, der durch Wirtschaftskriminalität in Deutschland entstanden ist, 6,9 Milliarden DM. In diesem Jahr haben wir Schäden zu befürchten, die weit in die 7 Milliarden DM hineingehen.
Zum Schluß möchte ich noch meine große Sorge zur Ausspionierung wirtschaftlicher Geheimnisse zum Ausdruck bringen. Der Fall Rotsch hat deutlich gezeigt, daß in unserer Wirtschaft und in der Industrie der Umgang mit Sicherheitsvorschriften — ich will es einmal vorsichtig sagen — offensichtlich mehr als fahrlässig ist. Die Glaubwürdigkeit von Sicherheitsüberprüfungen im öffentlichen Dienst einschließlich der Prüfungen nach dem Radikalenerlaß kann natürlich in Gefahr kommen, wenn einerseits Lokomotivführer oder Briefträger im Hinblick auf deren Einstellung zur demokratischen Grundordnung dieses Staates zu Recht ordentlich geprüft werden, aber andererseits jahre-, um nicht zu sagen: jahrzehntelang Geheimnisträger höchsten Grades in unseren Industrieunternehmen praktisch ohne jede Sicherheitskontrolle ihrer Spionagetätigkeit nachgehen können. Ich möchte Bundesinnenminister, Bundeswirtschaftsminister und den Verfassungsschutz auffordern, hier alsbald zusammen mit dem Parlament für dem öffentlichen Dienst adäquate Regelungen zu sorgen.
Ich möchte — sicherlich im Namen meiner Fraktion, wahrscheinlich aber auch im Namen aller Abgeordneten, die es mit der inneren Sicherheit in unserem Lande ernst meinen — den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bei Polizei, Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt, Bundesverfassungsschutz, Länderpolizeien, aber auch beim Militärischen Abschirmdienst — wo die Mehrzahl der Mitarbeiter zu Unrecht in negativer Weise ins Gerede gekommen ist und wo eine hervorragende Arbeit von der breiten Masse der Mitarbeiter geleistet wird — ein herzliches Dankeschön sagen, ein herzliches Dankeschön im Namen aller Bürger in diesem Land, die großen Wert darauf legen, daß der Staat ihre Sicherheit gewährleistet.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem Kollegen Nöbel hat es gefallen, eine Bemerkung über die politische Bedeutung der Freien Demokraten zu machen. Ich möchte es Ihnen und Ihrer Fraktion ersparen, daß wir einen Vergleich über die politische Wirksamkeit unserer beiden Fraktionen in diesem Hause vornehmen, weil Sie wissen, daß wir die geringere Zahl durch den größeren Nutzen wettmachen, den wir stiften können. Das ist der wesentliche Unterschied.
Den Kollegen von den GRÜNEN hat es bei der vorher geführten Debatte über den Umweltschutz gefallen, wieder einmal den Umweltschutz zu erfinden. Ich frage mich eigentlich, warum in jeder dieser Debatten so getan wird, als ob der Umweltschutz erst im Jahre 1982 oder wann auch immer begonnen hätte. Man muß einmal darstellen — das sollten die anderen drei Fraktionen doch gemeinsam machen —, welchen Anteil wir daran haben, das Umweltbewußtsein in diesem Lande überhaupt erst geweckt und geschaffen zu haben, das die Voraussetzung für jede gesetzgeberische Lösung dieser Probleme ist. Ich erinnere daran: Als Reinhold Maier in Süddeutschland über klares Wasser sprach, sagte man: Er ist ein Schwabe. Als Willy Brandt vom blauen Himmel über der Ruhr sprach, hat sich ein Teil seiner eigenen Fraktion unter Anführung des Kollegen Reuschenbach lachend auf die Schenkel geschlagen,
weil man der Überzeugung war, daß die Schornsteine rauchen müßten; das sei der große Sinn der Sache.
— Tut mir leid, ich habe elf Minuten. Ich bitte um Nachsicht. Ich bin bereit, Ihnen jede Frage im Anschluß an meine Rede zu beantworten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7655
Dr. HirschDann hat Innenminister Genscher als erster ein Umweltprogramm von 30 Milliarden DM auf den Tisch gelegt — wir waren der erste Industriestaat, der so etwas gemacht hat —, ein Umweltprogramm mit Verursacherprinzip, mit Vorbeugeprinzip, mit der Einführung ökonomischer Faktoren.Es wäre hochinteressant, einmal nachzuhalten, wie das Abstimmungsverhalten der Fraktionen hier und der Länder im Bundesrat bei allen wesentlichen Umweltschutzgesetzen der letzten 15 Jahre war, in denen die Strukturen des modernen Umweltschutzes festgelegt worden sind: beim Immissionsschutzgesetz, beim Wasserhaushaltsgesetz, wo es darum ging, dem Bund gegen den entschlossenen Widerstand der süddeutschen Länder überhaupt erst eine Gesetzgebungskompetenz zu verschaffen, beim Benzinbleigesetz, beim Abwasserabgabengesetz, wo zum erstenmal ökonomische Faktoren eingeführt worden sind, beim Chemikaliengesetz, bei der Gründung des Umweltbundesamtes, beim Abfallbeseitigungsprogramm, bei der Internationalisierung des Umweltschutzes, bei den Grundzügen des Bodenschutzprogramms, von dem wir begrüßen, daß es nun auf den Weg gebracht wird.Ich finde, wir sollten gemeinsam unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wir sollten verdeutlichen, was wir gemacht haben,
gemacht haben unter den Innenministern Genscher, Maihofer und nicht zuletzt Gerhart Baum.Ich wundere mich immer, mit welcher Großzügigkeit hier neue Milliardenprogramme gefordert werden. Es gilt dieser schöne Satz: „Wer Menschheit sagt, meint Betrug." Auch beim Umweltschutz geht es und kann es nur mit kleinen Schritten vorangehen, ein Schritt nach dem anderen, so mühsam das auch ist.Es gibt eine Reihe von Gesetzgebungsvorhaben, die hier genannt worden sind und die wir unterstützen: Novelle zum Abfallbeseitigungsgesetz, Novelle zum Bundesimmissionsschutzgesetz mit einer neuen TA Luft, Schwerpunktprogramm Abfallverwertung, Bodenschutzprogramm, Großversuch zur Messung der Kraftfahrzeugemissionen.Ich glaube, einer der entscheidenden Punkte im Bereich des Umweltschutzes — von allen Details abgesehen — ist, auch der beteiligten Industrie klarzumachen, daß Umweltschutz nicht etwas ist, was man allein oder vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Investitionshemmnisses betrachten könnte. Die Industrie muß begreifen, daß es ein Wachstum an Produktivität und wesentliche Produktionssteigerungen ohne sorgfältige Beachtung der Bedingungen des Umweltschutzes nicht mehr geben kann — das kann man in allen industriellen Ballungsgebieten sehen — und daß der Umweltschutz ein Motor für die Entwicklung moderner Technologie sein kann und dafür genutzt werden muß.
Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zum Bereich des Innenministers machen. Die erste Bemerkung muß den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst gelten, denen wir — wie in jedem Jahr — für Loyalität und persönlichen Einsatz bei der Wahrnehmung der Aufgaben, die wir ihnen anvertraut haben, danken müssen.
Das gilt für die ganz überwiegende Mehrheit des öffentlichen Dienstes, was keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit der knappen Kassen und der Sparmaßnahmen ist, in der eben nicht mehr das gilt, was man früher ironisch sagen konnte, nämlich daß sich der Stellenkegel allmählich der Idealform der Walze nähert; vielmehr wird er immer spitzer, und damit werden die Beförderungsmöglichkeiten geringer.Wir haben uns schon vor dem Tarifabschluß dafür ausgesprochen, diesen nahtlos für die Beamten zu übernehmen. Wir begrüßen die Entscheidung der Bundesregierung, das zu tun. Es wird eine Reihe struktureller Veränderungen und Entscheidungen geben müssen. Die Beschränkung der Nebentätigkeit ist entscheidungsreif. Wir werden das Gesetz in diesem Hause noch vor der Weihnachtspause abschließend in zweiter und dritter Lesung beraten können, einschließlich einer Karenzregelung für die ersten Jahre nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst.Aber es gibt noch andere Positionen, so die Milderung der Auswirkungen des § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes. Wir müssen den Verstoß gegen eine gesetzgeberische Grundregel ausgleichen, nämlich den Eingriff in Vertrauenstatbestände, die wir geschaffen haben und denen sich die Betroffenen nicht mehr entziehen können, auf die sie vertraut haben.
Dazu gehören weiter Strukturmaßnahmen für den einfachen Dienst. Gerade kinderreiche Beamte dieser Gruppierung geraten in die bedenkliche Nähe der Sozialhilfesätze. Schließlich sind wir der Überzeugung, daß der Bund die Antragsaltersgrenze ebenso wie den Landesbeamten einheitlich auf 62 Jahre herabsetzen sollte. Auch dazu werden wir eine Entscheidung treffen müssen.Der zweite wesentliche Bereich im Ressort steht unter der Überschrift: Schutz der persönlichen Freiheit und Toleranz gegenüber Minderheiten. Schutz der persönlichen Freiheit: Hier ist über die Bekämpfung der Kriminalität — auch das gehört dazu — ausdrücklich vorgetragen worden. Wir stimmen dem Innenminister zu, was er dazu gesagt hat. Wir unterstreichen auch, daß die Bekämpfung der Kriminalität eine vordringliche Aufgabe der Polizeien der Länder ist, der sie sich mit großer Intensität widmen. Zum Schutz der Persönlichen Freiheit gehören aber auch die Ausfüllung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsurteil und die Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes. Wir werden dazu zu Anfang des kommenden Jahres eine Novelle vorlegen können,
Metadaten/Kopzeile:
7656 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Hirschwie ich hoffe, Herr Kollege Laufs. Ich denke, das müssen wir erreichen.Ich danke dem Justizminister für seinen Hinweis im Anschluß an eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, daß die Personalinformationssysteme gesetzlich geregelt werden müssen. Es ist auf die Novelle des Volkszählungsgesetzes hingewiesen worden. Es wird eine Vorlage eines Mikrozensusgesetzes geben. Lassen Sie mich dazu, losgelöst von allen gesetzgeberischen Einzelheiten, sagen: Es kommt bei der Durchführung dieser Gesetze nicht darauf an, auf die gesetzliche Auskunftspflicht und auf die Möglichkeiten zu vertrauen, sie im Einzelfall durchzusetzen, sondern es kommt für die Durchführung dieser statistischen Grundprojekte, die wir brauchen, darauf an, in der Bevölkerung einen Sinn für die Notwendigkeit dieser Entscheidungen zu wecken, alles dafür zu tun, um zu einer möglichst freiwilligen Beteiligung zu kommen und Sicherheit zu schaffen, daß wir gesetzlich nicht nur die Anonymität der Angaben zusichern, sondern daß wir sie auch in der Wirklichkeit wahren. Nur dann werden auch die statistischen Ziele dieser beiden Erhebungen erreicht werden können.Notwendig sind bereichsspezifische Lösungen im Sicherheitsbereich. Man muß daran erinnern, daß das Verfassungsgericht das Recht, über die eigenen Daten zu bestimmen, gerade hinsichtlich des Sicherheitsbereichs im Hinblick darauf formuliert hat, daß der einzelne, wenn er unbefangen staatsbürgerliche Rechte wahrnehmen will, wenn er sich von dem Zwang zum Konformismus freimachen will, wissen muß, wer was wann über ihn erhebt, weiß oder speichert. Wir müssen also, auch unabhängig von der Verständigung zum Personalausweisgesetz, bereichsspezifische Lösungen im Sicherheitsbereich treffen und wollen das: im Bereich der Polizei, Zusammenarbeit von BGS und anderen Diensten, im Bereich der Dienste, des Verfassungsschutz, des MAD und anderer.Toleranz gegenüber Minderheiten, Ausländerrecht, das ist nicht nur eine Aufgabe des Bundesgrenzschutzes. Wir begrüßen den Beschluß des Ständigen Rates der katholischen Bischöfe. Wir stimmen mit ihm völlig überein und haben allen Anlaß, beiden christlichen Kirchen für ihre entschlossene und konsequente Haltung in ihrer Mahnung zur Toleranz zu danken.
Das gilt für das Recht der Familie, das in seiner sozialen Bedeutung ja wohl nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden kann,
für den Anspruch auf Rechtssicherheit, den diese Jahre bei uns lebenden Mitbürger haben, das gilt für die Betonung der Verantwortung eines jeden einzelnen dafür, daß die Integration nicht nur eine Aufgabe des Gesetzgebers sein kann, sondern aus der Bereitschaft und der Mithilfe eines jeden einzelnen in der Zusammenarbeit des täglichen Lebens wächst. Wir hoffen, daß die Bundesregierung den angekündigten Gesetzentwurf sobald wie möglich vorlegt, damit für alle Beteiligten abschließende Klarheit geschaffen wird und der Neigung einzelner Länder wirksam entgegengetreten werden kann, sich aus politischen Gründen mit Alleingängen hervorzutun, die in Wirklichkeit niemandem nützen können und mehr zu geben scheinen, als sie tatsächlich bewirken.Eine letzte Bemerkung möchte ich zur Notwendigkeit der Entbürokratisierung machen. Wenn man diese Debatte verfolgt, dann merkt man, daß es leichter ist, darüber zu sprechen, als sie durchzuführen; denn es ist sehr viel leichter, neue Gesetze, Novellierungen, Reglementierungen zu fordern — auch aus wohlverstandenen, guten Gründen —, als auf sie zu verzichten. Diese Forderung gibt es immer wieder, nicht aus Lust an der gesetzgeberischen Arbeit, sondern aus der Sache heraus. Darum sind wir sehr daran interessiert, daß die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission im Laufe des kommenden Jahres mindestens ein Zwischenergebnis ihrer segensreichen Tätigkeit vorlegt.Wir sind als Fraktion bereit, in dem Zusammenhang auch unbequeme Entscheidungen zu treffen, wenn sie dazu dienen, einem Grundziel unserer Politik näher zu kommen, nämlich die Freiheitsräume des einzelnen zu vergrößern sowohl im Interesse des einzelnen selbst als auch im Interesse der Gemeinschaft, in der wir alle leben.
Das Wort hat der Abgeordnete Kühbacher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hirsch, wenn wir als die im Parlament länger befindlichen Parteien ganz aufgeregt reagieren — was wir denn alles für den Umweltschutz getan hätten, welch gute Dinge wir vollbracht hätten —, dann muß man doch nur auf die Anzahl der grünen Abgeordneten schauen, um zu wissen, warum das so ist. Daß sie hier sitzen, ist auch ein Ausdruck dafür, daß uns ein Teil der Bevölkerung nicht abnimmt, ausreichend tätig geworden zu sein.
Wenn ich nun schon über die Existenz der GRÜNEN rede: Herr Kollege Riedl, — —
— Seien Sie doch nicht so aufgeregt. Es ist nun einmal so, daß ein Teil der Kritik an den „etablierten" Parteien darin zum Ausdruck kommt, daß die GRÜNEN — auch wegen Umweltschutzpolitik — hier sitzen. Ich wünschte mir ja, es wäre nicht so.
Nun, Kollege Riedl, zu Ihren beiden Auslassungen. Ich muß schon sagen: Sie müssen sich schämen — eigentlich müßten wir uns alle schämen —, daß Sie von diesem Pult aus so etwas sagen können:
Die GRÜNEN seien Sympathisanten von Terroristen.
Wir beide arbeiten in einem Gremium, Herr Kollege
Riedl, und auf Grund dieser Arbeit wissen Sie ge-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7657
Kühbacher
nau, daß niemand dieser Kollegen in die Nähe von Terroristen gerückt werden kann.
Das geht nicht. Dieser Stil sollte nicht einreißen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert?
Da ich offensichtlich benutzt werde, um hier bestimmte Dinge über Dreieck auszutragen, muß ich diese Zwischenfrage auch zulassen. Herr Kollege Kleinert.
Herr Abgeordneter Kühbacher, ist Ihnen bekannt, daß zahlreiche ehemalige Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen nach dem Kriege namentlich als Mitglieder der Unions-Fraktion tätig gewesen sind?
Herr Kollege Kleinert, es erbittert mich zunehmend, daß sowohl Sie als auch ein anderer Kollege in diesem Stil reden und Schuldzuweisungen machen. Was Sie treiben, ist nicht parlamentarisch. Das ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Gegenseitige Ehrabschneidung nenne ich das. Wir sollten zurückkommen zum friedlichen Zusammenleben. Das, was Sie machen, ist Ehrabschneidung.
Herr Abgeordneter, ich möchte Sie einen Moment unterbrechen.
Ich unterstreiche das voll, was Sie eben gesagt haben. Es ist das Bemühen der Präsidenten, die hier im Stuhl sind, solche gegenseitigen Beschuldigungen endlich aus unseren Debatten herauszubekommen. Das gilt nach allen Seiten.
Ich wäre Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie sich mit uns darum bemühten. Es geht dabei auch um alle Geschichtsperioden unseres Volkes.
Nun darf ich mich mit dem Kollegen Zimmermann, dem Innenminister, beschäftigen. Herr Kollege Zimmermann, einige Vorredner haben Sie hier als „Ankündigungsminister" bezeichnet. Ich bin eigentlich viel mehr enttäuscht, daß Sie bestimmte Dinge in Ihrem Ministerium treiben lassen. Sie, der Sie sich natürlich gern als Minister der Tat verkaufen lassen, kümmern sich um bestimmte Dinge, die es notwendig hätten, nicht in ausreichendem Maße.Herr Minister, haben Sie eigentlich einmal in Ihrem eigenen Hause nachgefragt, was passiert wäre, wenn der Tanker „Mont Louis", der vor der belgischen Küste gekentert ist, in der Deutschen Bucht gekentert wäre, welche Sicherheitsbehörden zuständig gewesen wären?
— Ja, Herr Kollege Zimmermann, Sie haben die Ausweitung erreicht, nachdem der Unfall passiert ist. Was war denn vorher an Koordination vorhanden? Herr Kollege Zimmermann, in diesem Bereich besteht ein Vollzugsdefizit ersten Ranges.
Ich bitte Sie herzlich, sich darum zu kümmern.Ich will einige Bemerkungen zum Bundesgrenzschutz machen. Ich fange bei dem Lob an, man habe die Personalsituation im Griff. Tatsache ist, daß die Präsenzstärke des Bundesgrenzschutzes herabgefahren werden muß, weil der Abfluß zu den Länderpolizeien nicht gelingt.
Dies, Herr Kollege Zimmermann, wird in Ihrem Haus kontinuierlich von demselben Staatssekretär über Jahre hin verantwortet.
Die Misere, daß junge Grenzschutzbeamte sechs, acht oder zwölf Jahre in der Besoldungsgruppe A 6 künftig verbleiben müssen, hat etwas damit zu tun, daß die Personalprobleme des Bundesgrenzschutzes, die wir jetzt akut haben — auch durch die Nichtabnahme der Länder —, auf dem Rücken der kleinsten und jüngsten Beamten ausgetragen werden. Dies finde ich keine gute Lösung. Daran kann man nicht vorbei.
Da kann man nicht sagen, beim BGS sei alles inOrdnung. Ich bleibe einmal bei der Lebenssituationdieses jüngsten Beamten in der Besoldungsgrup-
Metadaten/Kopzeile:
7658 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Kühbacherpe A 6. Herr Minister, Sie sind ja der Beamtenminister. Wie ernst nehmen Sie eigentlich Ihre Fürsorgepflicht? Glauben Sie, daß ein junger Grenzschutzbeamter in der Besoldungsgruppe A 6 heiraten, eine Familie gründen und Kinder mit seiner Frau haben kann? Kann er sie eigentlich noch ernähren?
— Ich weiß, daß Sie da sehr empfindlich sind. Die Finanzsituation beim einfachen und mittleren Dienst muß verbessert und korrigiert werden.Anstatt sich um diese Dinge zu kümmern, um die Finanz- und Lebenssituation vieler Beamter im einfachen und mittleren Dienst im gesamten öffentlichen Bereich, kümmern Sie sich, Herr Minister, um die Beförderungssituation in Ihrem eigenen Hause. Herr Minister Zimmermann, vielleicht könnten Sie mir einen Augenblick Aufmerksamkeit schenken. Herr Kollege, Sie haben in Ihrem Hause einen Ihnen politisch nahestehenden Beamten von der Besoldungsgruppe A 16 in die Besoldungsgruppe B 9 befördert. Anstatt sich also um die Lebenssituation Ihrer Schutzbefohlenen im einfachen Dienst zu kümmern, verschaffen Sie einem Ihrer Parteispezis 3 000 DM mehr Besoldung monatlich.Da dies auf dem normalen Weg nicht ging, haben Sie im Innenministerium rasch eine neue Abteilung gegründet, in der man diesen Beschäftigten in die entsprechende Stelle einweisen konnte.
Das ist Fürsorgepflicht à la Zimmermann: den kleinen Beamten nichts zukommen lassen, sich um die kleinen Beamten nicht kümmern, aber einem parteipolitischen Freund eine Extraabteilung im Ministerium einrichten. Herr Zimmermann, dies ist auch ein Punkt, der Sie kennzeichnet. Ich bin in dieser Sache sehr bitter.Es gibt einen weiteren Punkt, den ich Ihnen vorhalten muß. Ich glaube, Herr Minister, daß Sie bezüglich des Bundesgrenzschutzes mit dem Geld, für das Sie verantwortlich sind, um sich schmeißen. Ich hebe ab auf die Beschaffung von sondergeschützten Fahrzeugen. Ihr Vorgänger Baum hatte diese zusammen mit Finanzminister Matthöfer bestellt — ich sage das gleich, damit Sie damit nicht kommen— zu einem Preis von 495 000 DM pro Stück. Sie haben es geschafft, zunächst einmal eine Großbestellung daraus zu machen. Im letzten Haushaltsjahr lag der Stückpreis bei 550000 DM. Für dieses Haushaltsjahr haben Sie sich durch die Koalitionsfraktionen einen Stückpreis von 675 000 DM absegnen lassen.Herr Zimmermann, das alles kam dadurch, daß Sie mit „Hurra" die Panzer für den BGS beschaffen wollen, ohne auf die Vertragsklauseln zu achten. Diese Eskapade, nämlich die Bestellung von sondergeschützten Fahrzeugen im Eiltempo durch Herrn Zimmermann, kostet den Steuerzahler und wahrscheinlich den BGS-Etat 25 Millionen DM zusätzlich. Herr Minister Zimmermann, Sie sollten bei solchen Dingen etwas vorsichtiger sein.
— Nein, Herr Kollege Clemens, das ist keine Erblast. Herr Baum hat das Stück zu 495 000 DM bestellt. Jetzt sind wir bei 675 000 DM. Diese Steigerung kam innerhalb von zwei Jahren zustande.
— Nein. Dies ist Zimmermannsche Fehlpolitik. Das ist nicht zu bestreiten.
Da wir gerade über die großen Versäumnisse —25 Millionen DM — geredet haben, komme ich nun zu einem ganz kleinen Problem. Herr Zimmermann, anstatt Ihren Pressereferenten zum Abteilungsleiter zu machen, hätten Sie doch Frau NoelleNeumann auch gleich direkt einstellen können.
Ich meine das ganz ernsthaft.
— Kollege Riedl, seien Sie doch nicht so aufgeregt.— Sie wissen doch, wie viele Gutachtenaufträge Frau Noelle-Neumann aus verschiedenen Etatpositionen des Innenministeriums bekommt und von welcher wissenschaftlichen Qualität die Gutachten, die sie liefert, sind. Ich sehe ja ein, daß nun der Flick-Konzern die Firma Noelle-Neumann oder Allensbach nicht mehr so finanzieren kann. Nun macht es der Innenminister über seinen Etat.
Herr Minister, wir werden sehr aufmerksam sein, wo Sie Ihre Prognosen bestellen lassen.Nun will einen weiteren Satz, den ich mir aufgeschrieben habe, in Richtung GRÜNE sagen. Ich habe Sie j a vorhin in Schutz genommen. Nur, eines ist mit der Sozialdemokratischen Partei auch nicht zu machen: das Bundeskriminalamt und den Bundesgrenzschutz dem Grunde nach abschaffen zu wollen.
Ich sage Ihnen das ganz deutlich. Mit uns werden Sie, auch für die Zukunft, eine Reduzierung der Polizei nicht erreichen.
— Herr Kollege Clemens, in Hessen haben sich die GRÜNEN leider auf einen falschen Weg begeben, wie ich sehe. Aber Ihr Parteifreund Hasselmann hat ja schon den richtigen Weg erkannt, und inzwischen soll sich in Hessen die CDU um die SPD kümmern, um eine Regierungsmitarbeit zu bekommen.
Die Debatte über den Etat des Innenministers bietet aber auch Gelegenheit, ein wenig nachdenklich zu werden. Mir ist ein Vers von einem Heimatdichter untergekommen, von dem ich meine, daßDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7659Kühbacherwir ihn, nachdem wir vorhin das Vorspiel hatten, uns alle wirklich einmal anhören sollten, weil dies ein Teil meiner Wünsche für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum neuen Jahr ist. Ich trage das einmal vor, weil ja viele zuhören und hier nicht nur der Eindruck vermittelt werden soll, als würde in solchen Debatten nur geholzt und als würde man sich gegenseitig nur die Ehre abschneiden. Rosegger schreibt hier:Wünsche zum Neuen JahrEin bißchen mehr Friede und weniger Streit, Ein bißchen mehr Güte und weniger Neid, Ein bißchen mehr Liebe und weniger Haß, Ein bißchen mehr Wahrheit — Das wäre was.Statt soviel Unrast ein bißchen mehr Ruh, Statt immer nur ich ein wenig mehr Du,Statt Angst und Hemmung ein bißchen mehr MutUnd Kraft zum Handeln —— Herr Minister —Das wäre gut.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der letztjährigen Haushaltsdebatte haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sich nach Kräften als Schwarzmaler betätigt. Auch in dieser Haushaltsdebatte — abgesehen von einigen hübschen Gedichten — prophezeien Sie auf dem Gebiet der Innenpolitik Unheil über Unheil. Sie haben sich bisher getäuscht, und Sie werden auch in Zukunft von der Wirklichkeit eingeholt und widerlegt werden.
Es wird keine Militarisierung des Bundesgrenzschutzes geben, keine repressive und unmenschliche Ausländerpolitik, keine Untätigkeit im Umweltschutz, keine Benachteiligung der Beamtenschaft, keine Plutoniumgesellschaft, Herr Kollege Schäfer, was auch immer das sein mag.
Was soll z. B. das markige Wort des Kollegen Schäfer hier in dieser Debatte: Wir Sozialdemokraten hüten diesen freiheitlichen Rechtsstaat wie einen Augapfel.
Sie haben sich doch, meine Damen und Herren von der SPD, in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von den GRÜNEN begeben.
Wenn ich sehe, welche Positionen Sie inzwischen etwa zum neuen fälschungssicheren Personalausweis, zur Terrorismusbekämpfung, zur Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung oder auch auf anderen für unseren freiheitlichen Rechtsstaat wesentlichen Gebieten einnehmen, so muß man leider feststellen, daß Sie im Begriff sind,
den GRÜNEN auf dem Weg in eine andere Republik hinterherzustolpern.
Nichts anderes ist es doch, wenn Sie gleichzeitig mit den GRÜNEN Gesetzentwürfe verfolgen, welche die strafrechtlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung terroristischer Vereinigungen beschneiden und beiläufig — ich weiß nicht, ob Ihnen das bewußt ist — zwei grünen Europaparlamentariern Straffreiheit verschaffen würden.
Was soll Ihr plötzlicher Gesinnungsumschwung beim neuen Personalausweis, den Sie noch bis Anfang dieses Jahres für einen Sicherheitsgewinn hielten und den Sie inzwischen als Instrument des Überwachungsstaates ablehnen?
Woher kommt es denn, daß Teile der SPD die Manöverblockaden in diesem Herbst unterstützt haben und die hessischen Sicherheitsbehörden tatenlos zusahen, als im September in Frankfurt Sprengkammern an einer Brücke über den Main zubetoniert wurden?
Und weshalb muß in Ihren eigenen Reihen vor einer politdemagogischen Kampagne gegen die von der Bundesregierung jetzt für 1986 geplante Volkszählung gewarnt werden, nachdem der neue Gesetzentwurf doch auch nach Auffassung der Datenschutzbeauftragten sämtliche Auflagen des Bundesverfassungsgerichts voll erfüllt?
Den jüngsten Beleg für die Flucht aus einer verantwortungsvollen Politik bieten Sie, meine Damen und Herren von der SPD, im Bereich der zivilen Verteidigung. Am 3. Juli 1980 forderte der Deutsche Bundestag nach ausführlichen Beratungen im Innenausschuß die Bundesregierung einstimmig auf, die Zivilschutzgesetzgebung zu novellieren und, damit einhergehend, vorhandene Defizite im Zivilschutz zu beseitigen. Diese waren so erheblich, daß das Wort umging: Der Katastrophenschutz ist eine Katastrophe.
Die Regierung Helmut Schmidt hat sich dem Auftrag des Bundestages entzogen. Die Regierung Helmut Kohl schickt sich an, diesen Auftrag zu erfüllen.
Und wir unterstützen sie dabei.
Herr Abgeordneter Dr. Laufs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer ?
Bitte schön.
Herr Kollege Laufs, würden Sie zur Klarstellung auch für die Öffentlichkeit bitte bestätigen, daß in der von Ihnen eben zitierten Erklärung ausdrücklich nicht die Forderung nach Schutzbaupflicht und nicht die Forde-
7660 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Schäfer
rung nach Zivildienstpflicht, die Sie jetzt vorhaben, enthalten sind?
Herr Kollege Schäfer, in einem Teil gebe ich Ihnen Recht, im anderen nicht. Es war ein umfangreicher Auftrag an die damalige Bundesregierung, dem sie nicht gefolgt ist. Wir setzen ihn um, und wir werden auch die Frage einer Schutzbaupflicht zu diskutieren haben. Wir stellen uns eine Grundschutzbaupflicht vor. Darüber werden wir diskutieren. Aber ich sage Ihnen: Zivilschutz ohne Schutzräume ist nichts wert.
Zivilschutz ist eine zutiefst humanitäre Aufgabe. (Dr. Miltner [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Er dient dem menschlichen Leben, wenn Katastrophen hereinbrechen trotz aller Anstrengungen, sie zu verhindern.
Er ist kein Zeichen für Pessimismus oder Defätismus. Wir maßen uns kein gottähnliches Wissen an wie die Propheten des totalen GAU, die meinen, wir könnten nur noch in einem allesverschlingenden atomaren Inferno untergehen. Das ist doch Unsinn. Wir wollen Vorsorge treffen für denkbar mögliche Gefährdungsfälle. Schützen, Bergen, Retten sind keine kriegerischen Handlungen. Ich habe kein Verständnis, wenn die Kollegen der SPD, die, wie seinerzeit Herr Kollege Schäfer, im Innenausschuß maßgeblich am Zustandekommen des einvernehmlichen Auftrags an die Bundesregierung beteiligt waren, jetzt so tun, als sei die Erfüllung dieses Auftrags Kriegstreiberei.Ihre öffentlichen Einlassungen, Herr Kollege Nöbel, insbesondere nach der SPD-Anhörung zum Zivilschutz, haben mich menschlich sehr enttäuscht. Der jetzt neu vorliegende Referentenentwurf eines Zivilschutzgesetzes
findet übrigens die volle Zustimmung nicht nur der CDU/CSU-geführten Bundesländer, sondern auch der Verbände.
— Sie haben doch hier vom ersten Referentenentwurf gesprochen, Sie haben doch gar nicht zur Kenntnis genommen, daß inzwischen daran weitergearbeitet worden ist.
Meine Damen und Herren, unsere Verteidigungsanstrengungen werden nur in dem Maße ernst genommen, wie sie glaubhaft sind und deutlich machen, welcher Überlebenswille hinter ihnen steht. Wir wollen dazu die Grundvoraussetzungen schaffen.Ich habe mich vor einem Jahr für die Einführung des neuen, fälschungssicheren und maschinenlesbaren Personalausweises ausgesprochen. Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts hat uns veranlaßt, uns nochmals eingehend mit den datenschutzrechtlichen Aspekten eines automatisch lesbaren Personalausweises auseinanderzusetzen. Die Ausgabe des neuen fälschungssicheren Personalausweises wurde deshalb aufgeschoben, bis die vor wenigen Wochen eingebrachten datenschutzrechtlichen Verbesserungen im Personalausweisgesetz in Kraft treten werden. Mit dieser Verfahrensweise macht die Koalition ihre gemeinsame Linie auf diesem Gebiet deutlich. Die Polizei soll die modernste Daten- und Informationstechnik nutzen können. Zugleich werden wir die erforderlichen Vorkehrungen treffen, um dem Schutz der Personendaten der Bürger voll zu entsprechen.Diese Politik werden wir bei der Fortschreibung des Datenschutzes auch in anderen Bereichen fortsetzen. Wir werden in der Koalition an einem wirksamen Datenschutz für die Bürger arbeiten, es aber nicht zulassen, daß der Datenschutz gleichsam zum Vehikel der Technikfeindlichkeit wird und daß unter dem Vorwand des Datenschutzes der private Bereich mit immer mehr staatlichen Regelungen, Überwachungsorganen und Bürokratie überzogen und erstickt wird.
In diesem Jahr 1984 — auch heute, in dieser Debatte — haben wir das Gerede der Opposition von der Ankündigungs-Umweltpolitik eindrucksvoll widerlegt. Stichworte sind: TA Luft, Großfeuerungsanlagen-Verordnung,
Einführung von bleifreiem Benzin und abgasarmen Autos,
Abfallnovelle, Bodenschutzkonzeption, auch Buschhaus. Denn nach unseren Vorschlägen in der Sache wird die Luft im Helmstedter Raum umgehend und deutlich entlastet, nach den Vorstellungen der Opposition eben nicht
— das ist der Unterschied —, es sei denn, es werden Hunderte oder Tausende von Arbeitnehmern dort arbeitslos.Das Umweltbundesamt hat nun Daten zur Umwelt 1984 vorgelegt, die zeigen, daß der Ausstoß vieler Luftschadstoffe — SO2, CO, Staub — inzwischen erheblich zurückgegangen ist. Das sind Fakten. Herr Kollege Schäfer, Sie haben dagegen nur Ihre Polemik anzubieten.
Das ist der Unterschied.
Vor einem Jahr haben wir die Industrie aufgefordert, 1984 umweltfreundliche Kraftfahrzeuge auf den Markt zu bringen. Das ist nun der Fall. Die Entscheidungen zur Einführung der schadstoffarmen Kraftfahrzeuge sind getroffen. Die Tabellen über die Steuervergünstigungen beim Erwerb eines entgifteten Pkw liegen vor. Bis zum Jahresende wer-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7661
Dr. Laufsden wir nach Schätzung der Firma Esso im Bundesgebiet bereits 500 Tankstellen mit bleifreiem Benzin haben. Zusammen mit der möglichst weitgehenden Umrüstung der vorhandenen Kraftfahrzeuge, für die in der nächsten Zeit ein Parallelkonzept erarbeitet wird, sind damit die Voraussetzungen geschaffen, die vom Straßenverkehr ausgehende Luftbelastung bis Ende dieses Jahrzehnts drastisch zu reduzieren.Meine Damen und Herren, es wäre schön, wenn wir wieder zu einer umweltpolitischen Gemeinsamkeit zurückkehren könnten. Herr Kollege Schäfer, Sie erinnern sich, daß wir in den 70er Jahren alle wichtigen Umweltschutzgesetze — das anerkennen wir ganz offen und frei — gemeinsam verabschiedet haben. Leider ist es j a so, daß die SPD diese Gemeinsamkeit nach dem Regierungswechsel, gerade als wir der Umweltpolitik neue kräftige Impulse gaben, brüsk aufgekündigt hat. Allerdings ist die Voraussetzung für Gemeinsamkeit eine gewisse Verläßlichkeit und Stetigkeit in der Politik. Diese finden wir bei der SPD nicht mehr. Die SPD ist doch tief gespalten. Für wen spricht eigentlich der Kollege Vogel oder der Kollege Hauff hier?
Ist es der Flügel, der eine moderne Industriegesellschaft gerade noch toleriert, oder ist es der Flügel, der den grün-ökologischen Verheißungen von einer utopischen, von sogenannten postmateriellen Werten geprägten Welt nachträumt? Die Spannweite zwischen Adolf Schmidt und Oskar Lafontaine ist einfach zu groß geworden.
Umweltpolitik nach rot-grünem Muster würde sich zwar möglicherweise mit hochtrabendem Titel und Milliardenausgaben im Bundeshaushalt niederschlagen, wäre aber mit einer Reglementierungsflut sondergleichen für Staat, Unternehmen und Bürger verbunden und würden schließlich zum großen Teil in Reibungsverlusten und in den Personalkosten neuer Überwachungs-, Steuerungs- und Umverteilungsbürokratien versanden. Das werden wir verhindern. Unsere Umweltpolitik wird marktwirtschaftlich orientiert sein und in Kooperation von Staat und Wirtschaft vollzogen werden. Unsere Umweltpolitik ist auf Effizienz angelegt.
Meine Damen und Herren, im Bereich des öffentlichen Dienstrechtes haben wir eine Wende vollzogen, die in der Öffentlichkeit leider kaum registriert und gewürdigt worden ist. Seit dem Jahr 1975, nämlich mit dem ersten Haushaltsstrukturgesetz, sind den Angehörigen des öffentlichen Dienstes Jahr für Jahr erhebliche Sparopfer auferlegt worden. Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes haben die Opfer durchweg mit Verständnis und Verantwortungsbewußtsein auf sich genommen, obwohl einige ungerecht und unsozial waren. Inzwischen kommt Bremens Bürgermeister Koschnik und will das 13.Monatsgehalt für die Beamten abschaffen, Kollegin Anke Fuchs fordert einen Beitrag der Beamten zu den Pensionen,
der nordrhein-westfälische Kultusminister Schwier macht einen Vorschlag nach dem anderen, um die Besoldung der Beamten zu kürzen. Die CDU/CSU lehnt diese Vorschläge ab. Sie sind unausgegoren und schüren nur Antipathien und Neidkomplexe gegenüber den Angehörigen des öffentlichen Dienstes.Für die CDU/CSU kann ich hier feststellen, erstmals seit vielen Jahren enthält der Bundeshaushalt 1985 deutliche Verbesserungen für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Das ausgehandelte Tarifergebnis für den öffentlichen Dienst kann sich sehen lassen. Hierfür haben wir an erster Stelle dem Bundesinnenminister zu danken, der mit großem Geschick und mit dem Blick für das Mögliche die Verhandlungen zu einem schnellen und guten Ende geführt und uns vor einem weiteren Streik, der nur Schaden für die Volkswirtschaft angerichtet hätte, bewahrt hat.
Wir danken auch für die unbedingte volle Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst, die den Beamten zugute kommt.
Das Jahr 1985 wird das Jahr der Konsolidierung im öffentlichen Dienst sein.
Wir haben schon gewisse Korrekturen vorgenommen. Weitere wichtige Aufgaben stehen noch vor uns. Die CDU/CSU setzt sich nachdrücklich dafür ein, in der nächsten Zeit die Struktur des Bezahlungssystems zu verbessern. Vier Punkte sind nach meiner Auffassung vordringlich. Trotz aller finanziellen Schwierigkeiten müssen wir einen neuen Anlauf nehmen, um eine Härteregelung bei § 55 Beamtenversorgungsgesetz zu treffen.
Wichtig ist auch eine gezielte strukturelle Verbesserung im einfachen Dienst. Allein auf diesem Wege können wir diese Menschen, denen gegenüber wir eine besondere Verantwortung haben, aus der Nähe der Sozialhilfe herausführen.
In diesem Zusammenhang ist auch eine Verbesserung der Situation der Familien mit mehreren Kindern zu nennen. Schließlich sollte sich der Bund endlich dazu aufraffen, die Altersgrenze für die Beamten vom 63. wieder auf das 62. Lebensjahr herabzusetzen. Auch dieses Problem, Herr Schäfer, ha-7662 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Dr. Laufsben wir von der früheren Bundesregierung übernehmen müssen.Meine Damen und Herren, wir werden uns gemeinsam mit dem Koalitionspartner bemühen, den eingeschlagenen Weg der Konsolidierung und der gleichzeitigen behutsamen Fortentwicklung des Dienstrechts weiterzugehen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Kühbacher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anfangsdiskussion hat mich über einen Antrag hinweggeführt, der hier begründet werden soll. Ihnen liegt auf Drucksache 10/2474 ein Antrag vor, der sich mit den Bewilligungen für den Umweltschutz beschäftigt. Ich freue mich, daß der Minister für Umweltschutz des Landes Nordrhein-Westfalen, Günther Einert, hier ist, der der Debatte über den Umweltschutz hier heute morgen gelauscht hat.
— Warum der nicht in seinem Wahlkreis ist? Ich finde es schon richtig, daß ein Umweltschutzminister der Länder dieser Innendebatte hier heute morgen folgt.Meine Damen und Herren, die SPD beantragt, bei den Investitionen zur Verminderung von Umweltbelastungen bei Altanlagen den Titel um 511 Millionen DM zu erhöhen mit dem Ziel,
eine schnellere Umstellung der Kohlekraftwerke in der Bundesrepublik entsprechend der Großfeuerungsanlagen-Verordnung voranzutreiben. Das, meine Damen und Herren, was wir hier im Bundestag im vergangenen Jahr für Buschhaus beschlossen haben, was den großen Aufwuchs bei diesem Titel in Wahrheit ausmacht, von dem der Innenminister sagt, es sei sein Werk, soll mit dem Ziel fortgesetzt werden, einen erheblichen Anteil der von diesen Kohlekraftwerken immittierten Umweltbelastungen zu verhindern.Zur Zeit — so lese ich — werden etwa 950 000 t SO2 aus diesen Kohlekraftwerken ausgestoßen. Ziel unseres Antrages ist es, bis 1989 zwei Drittel dieser Umweltbelastungen zu beseitigen; bis 1993 sollen sogar drei Viertel Umweltgift abgeschöpft werden. Damit soll ein ganz erheblicher Beitrag zum Umweltschutz durchgesetzt werden. Ziel unseres Antrages sind nicht Ankündigungen oder die Forderung, prüfen zu lassen, sondern wir wollen durch diese Maßnahme die Investitionstätigkeit vorantreiben.
— Herr Kollege Gerstein, Sie regen sich so auf. Lesen Sie einmal im Sachverständigengutachten zur Beurteilung der wirtschaftlichen Situation der Bundesrepublik nach. Dort wird gerade diese Umweltschutzinvestition ausdrücklich als eine wirksame Belebung des Arbeitsmarktes empfohlen. Die Wissenschaftler empfehlen zwar nicht viel staatliches Handeln, aber sie sagen, dies sei ein Feld für weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ich glaube, es ist eine gute Kombination von Arbeit und Umweltschutz, die wir hier vortragen.
Der Ausstoß von NOx würde durch den Einbau von Rauchgasentschwefelungsanlagen in jedem Jahr um ein Drittel gemindert. Ich bin ja gespannt, wie sich die FDP unserem Antrag gegenüber verhält. Wenn sie diesem Antrag zustimmen würde, dann würde sie tatsächlich einen Beitrag zu aktivem Umweltschutz leisten. Ich befürchte, Sie werden diesen Antrag zusammen mit den Kollegen der CDU ablehnen.Herr Kollege Baum, das müssen Sie natürlich auch; denn wenn Sie auf der einen Seite sagen: Jawohl, wir wollen keine „Neidsteuer", wir wollen keine Ergänzungsabgabe, dann müssen Sie auf der anderen Seite auch sagen: Wir wollen auch nichts für den aktiven Umweltschutz tun. — Hier verläuft ein ganz normaler blau-gelber Faden: Weil Sie die Großverdiener in der Bundesrepublik nicht ernsthaft belasten wollen, lassen Sie auch zu, daß der Umweltschutz tatsächlich verkümmert.
Dieser Innenminister wird außer der Förderung von Forschungsvorhaben nichts aktiv tun.Ich will noch etwas zu den Stromkosten sagen. Wenn die Elektrizitätsbetriebe in Nordrhein-Westfalen für die ganze Bundesrepublik diese Last alleine tragen müßten, also wenn sich der Bund hieran nicht durch Steuerumverteilung beteiligt, dann werden in den nächsten Jahren Preissteigerungsraten von fünf Prozent bis acht Prozent jährlich auf die Stromkunden zukommen. Dies ist im Saarland — das 90 Prozent des Kohlestroms aus NRW bezieht — überproportional. In den anderen Bundesländern ist es ähnlich.Ich meine, der Bund ist hier gefordert, und ich beantrage für meine Partei, für die sozialdemokratische Fraktion, tatsächlich etwas für den Umweltschutz zu tun, so wie wir es im vergangenen Jahr bei Buschhaus gemeinsam beschlossen haben. Ich bitte Sie herzlich, diesen Antrag anzunehmen und sich nicht mit der Finanzklemme herauszureden. Denn sie haben überhaupt keine Probleme. Was die Frage der Ergänzungsabgabe angeht: Es sind Mittel genug vorhanden; Sie brauchen sie nur abzuschöpfen. Sie hatten sie ja schon einmal in der Hand. Bitte verschließen Sie sich nicht dem Umweltschutzgedanken, dem unser Antrag, der eine Kombination von Arbeit und Umweltschutz darstellt, Rechnung trägt. Tun Sie etwas für den Umweltschutz. Ich gehe selbstverständlich davon aus, daß die GRÜNEN unserem Antrag zustimmen werden,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7663
Kühbacherdenn sie haben j a einen ähnlichen Antrag vorgelegt.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Redezeit ist sehr kurz. Deshalb entgegne ich Ihnen ganz knapp: Herr Kühbacher, ich halte diesen Antrag für nicht richtig. Er führt weg vom Verursacherprinzip. Ich habe nicht die Absicht, Preise zu subventionieren. Es müssen echte Preise gezahlt werden.
Strompreise sind zu niedrig. Bei ihnen ist nicht einkalkuliert, daß Umweltschutzmaßnahmen teuer sind, aber geleistet werden müssen.
— Der Staat tut etwas; bei Altanlagen tut er etwas. Ich denke überhaupt nicht daran, irgendeine zusätzliche Steuer zweckzuentfremden. Das müssen wir alle, die Verbraucher, zahlen.
Ich bin sehr dafür, daß wir uns über marktkonforme Anreize unterhalten. Wir überlegen zur Zeit, ob wir die steuerlichen Anreize, Abschreibungen und Kreditprogramme noch stärker auf diese Situation einrichten sollen. Einen solch pauschalen Gießkanneneffekt, wie Sie ihn vorhaben, lehnen wir demgegenüber ab.
Zweite Bemerkung. Ich möchte zum Seerecht und seinen umweltpolitischen Auswirkungen — ich bin für die Konvention — hier nichts sagen. Lassen Sie mich nur eine Bemerkung machen: Das Bundeskabinett hat beschlossen, die Umweltzone in der Nordsee auszudehnen, also die Kontrollmöglichkeiten zu verbessern. Ich höre jetzt, daß das erst im März geschehen soll. Das ist meines Erachtens zu spät. Ich möchte die Bundesregierung bitten, dies zu beschleunigen.
Dritte Bemerkung. Meine Fraktion hält es für ganz wichtig — das ist auch meine Meinung —, daß wir uns jetzt auf die Umrüstung von Altfahrzeugen konzentrieren und diese auch steuerlich begünstigen. Das ist ein Schritt, der schnell realisiert werden kann.
Vierter Punkt: Ich unterstütze alles, was der Innenminister zur Abfallbeseitigung gesagt hat. Wir müssen weg von der Wegwerfgesellschaft. Alle Verhandlungen sind gescheitert; der Gesetzgeber muß jetzt ran. Es geht einfach nicht, daß immer mehr Einwegflaschen in den Verkehr gebracht werden, daß die Behältnisse, die Wegwerfbehältnisse den Müllberg vergrößern. Wir müssen von der Gesinnung weg, immer mehr zu verbrauchen, immer mehr an Rohstoffen zu vergeuden. Ich meine, daß wir hier in Sachen Abfallverwertung und -vermeidung ein Schlüsselproblem haben.
Umweltschutz ist nicht nur eine Sache von Einzelmaßnahmen, sondern bedeutet auch eine grundlegende Umorientierung unserer Verhaltensweisen. Nicht nur der Gesetzgeber ist gefragt, sondern das ist eine Jedermann-Aufgabe. Es kommt darauf an, wie wir uns als Autofahrer, als Verbraucher täglich verhalten. Hier ist meines Erachtens noch sehr vieles zu tun.
Ein Schlüsselproblem, auf das ich leider nicht mehr eingehen kann, ist das Problem der Energie. Das energiewirtschaftliche, energierechtliche Instrumentarium muß verbessert werden.
Also, finden wir zu dieser gemeinsamen Anstrengung! Es wird sehr, sehr schwierig sein, unsere vielfältig abhängige Industriegesellschaft auf ein konsequent umweltschonendes Verhalten hin umzuorientieren. Wir müssen es in der Marktwirtschaft tun, und dazu bitte ich um Ihre Unterstützung.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Debattenteil nicht mehr vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Änderungsanträge zum Einzelplan 06.Wer dem Änderungsantrag des Abgeordneten Kleinert und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2418 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe!— Stimmenthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2474 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe!— Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag des Abgeordneten Kleinert und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2494 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern, ab. Wer dem Einzelplan 06 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist mit Mehrheit angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 36, Zivile Verteidigung. Wer dem Einzelplan 36 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist mit Mehrheit angenommen.Wir kommen nunmehr zum Einzelplan 33, Versorgung. Wer dem Einzelplan 33 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Einzelplan angenommen.
Metadaten/Kopzeile:
7664 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Vizepräsident WestphalMeine Damen und Herren, ich rufe nun auf:Einzelplan 07Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz— Drucksachen 10/2307, 10/2330 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Zutt AustermannKleinert
Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht— Drucksachen 10/2316, 10/2330 —Berichterstatter:Abgeordnete Austermann PurpsKleinert
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für die Einzelpläne 07 und 19 eine verbundene Aussprache mit einer Runde vereinbart worden. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Sie wissen, daß das in die Mittagspause führt.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Als erster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Emmerlich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion wird den Haushalt des Bundesministers der Justiz ablehnen,
weil diese Politik keine Zustimmung verdient.
Der Bundesjustizminister hat die beabsichtigte Selbstbegünstigungsamnestie für Straftaten im Zusammenhang mit Parteispenden befürwortet. Er wollte somit, daß für Politiker und ihre Financiers die Gleichheit vor dem Gesetz außer Kraft gesetzt und daß Recht und Gesetz zugunsten politischer Parteien gebeugt werden sollten,
daß die CDU/CSU und FDP sich zum Richter in eigener Sache machten und die Unabhängigkeit der Justiz ausgehebelt werden sollte.
Auch den mannigfachen Versuchen, nach Scheitern der direkten Amnestie eine solche durch die Hintertür zustande zu bringen, tritt der Bundesjustizminister nicht entgegen. Das gilt auch für den jüngsten Versuch, zu einer Amnestie auf kaltem Weg zu kommen, nämlich durch Änderung der Abgabenordnung eine Aussetzung der Strafverfolgung zu erreichen bis zur rechtskräftigen Feststellung der Steuerschuld durch die Steuerbehörden und die Finanzgerichte, also eine Aussetzung der Strafverfolgung für mehrere Jahre bis zum gewünschten Sankt-Nimmerleins-Tag.
Die SPD wird sich diesem jüngsten Versuch einer Amnestierung mit der gleichen Intensität wie früheren Versuchen entgegenstellen. Sie wird dabei, wie ich zuversichtlich hoffe, wiederum erfolgreich sein.
Dieser Bundesminister der Justiz — ich sage das durchaus nicht mit Schadenfreude — ist nicht der Bewahrer und der Verteidiger des Rechtsstaats. Im Gegenteil. Er selbst hat dazu beigetragen, daß unser Rechtsstaat in Gefahr geraten ist und Schaden genommen hat.
Der Bundesminister der Justiz hat ferner einen Gesetzentwurf eingebracht, durch den friedliche Demonstranten wie Gewalttäter behandelt und bestraft werden sollen. Falls dieser Gesetzentwurf verabschiedet wird, wird er bewirken, daß Bürger eingeschüchtert werden und daß sie ihr Grundrecht, ihre Meinung auch durch Demonstrieren öffentlich zur Geltung zu bringen, nicht mehr so umfassend wahrnehmen, wie es im Interesse einer lebendigen Demokratie notwendig ist.
Der Bundesjustizminister müßte die politische Freiheit schützen und stärken.
Statt dessen macht er sich zum Werkzeug derjenigen, die die politischen Freiheitsrechte einschränken wollen.
Im nachehelichen Unterhaltsrecht ist der Justizminister ausgezogen, für mehr Einzelfallgerechtigkeit zu sorgen. Was er in Gang bringt, ist aber, daß Unterhaltsansprüche von geschiedenen Frauen, vor allem Unterhaltsansprüche von Hausfrauen und Müttern, und der Unterhalt von Kindern aus geschiedenen Ehen zusammengestrichen werden.
— Ein Kollege von der CDU ruft das Argument „Quatsch" dazwischen. Ich habe bisher vergessen, mich mit diesem Argument auseinanderzusetzen. Ich bitte dafür um Entschuldigung.
Diese drastische Reduzierung von Unterhaltsansprüchen von Frauen aus geschiedenen Ehen und von Kindern aus geschiedenen Ehen hat überdies zur Folge, daß mehr und mehr öffentliche Kassen,Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7665Dr. Emmerlichbesonders die Sozialhilfe, von den Betroffenen in Anspruch genommen werden müssen. Das bedeutet, daß Engelhards Rollback im Eherecht erstens auf Kosten der Allgemeinheit geht und zweitens dazu führt, daß von den Sozialhilfebehörden nahe Angehörige der betroffenen Frauen und Kinder zur Rückerstattung der Sozialhilfeleistungen herangezogen werden.Schließlich will der Bundesjustizminister unter Mißachtung aller Erfahrungen der Vergangenheit das unselige Verschuldensprinzip nicht nur wieder einführen, sondern seinen Anwendungsbereich erheblich ausdehnen. Auch das wird nicht zu mehr, sondern zu weniger Einzelfallgerechtigkeit führen, außerdem dazu, daß erneut Rechtsnormen geschaffen werden, die zu einer Benachteiligung von Frauen führen. Unsere Aufgabe besteht aber nicht darin, Frauen erneut zu benachteiligen, sondern die vorhandenen Benachteiligungen von Frauen endlich zu beseitigen und die Gleichstellung der Frauen herbeizuführen.Erstmalig in der neueren Rechtsgeschichte soll eine Änderung des Unterhaltsrechts auch auf bereits rechtskräftig entschiedene oder durch Vereinbarung endgültig geregelte Fälle erstreckt werden. Mit der Aushöhlung der Rechtskraft wird die Rechtssicherheit, ein tragendes rechtsstaatliches Prinzip, in unerträglicher Weise untergraben.
Mit dem Rollback im Eherecht wird der Sozialabbau fortgesetzt. Das ist ein weiterer schwerwiegender Verstoß gegen den Sozialstaat und gegen die soziale Gerechtigkeit.Die Rechtspolitik dieser Regierung wird nicht nur von einer bedenklichen Geringschätzung des Rechtsstaates, der politischen Freiheitsrechte und des Gerechtigkeitsgebots bestimmt, sie wird in beklagenswerter Weise auch durch das geringe politische Durchsetzungsvermögen des Justizministers beeinflußt.
So hat der derzeitige Justizminister z. B. das vom früheren Bundesjustizminister Schmude vorgelegte Gesetz zur Bekämpfung neonazistischer Propaganda zwar wieder eingebracht, er hat aber nicht die Kraft, es gegen Widerstände aus den eigenen Reihen durchzubringen.
Das hat zur Folge, daß unserem Land der Vorwurf gemacht wird, es werde noch immer nicht dem Vermächtnis der Opfer des Nazismus gerecht, es lasse insbesondere den gebotenen Respekt vor den Opfern und den Angehörigen der Opfer vermissen. Der Bundesjustizminister und die Regierungskoalition haben durch ihr Versäumnis bei der Bekämpfung des Neonazismus dem deutschen Ansehen in der Welt unübersehbaren Schaden zugefügt.
Nach seinem Versagen im Fall Altun hat sich der Bundesjustizminister zwar mehrfach für ein gesetzliches Auslieferungsverbot für anerkannte Asylberechtigte ausgesprochen. Dabei ist es aber geblieben. Der Bundesjustizminister hat diese seine Forderung nicht in die Tat umgesetzt. Er verhindert zudem nicht, daß unser Gesetzentwurf zur Regelung dieses Problems von CDU/CSU und FDP im Rechtsausschuß blockiert wird.Auch bei der Reform der Juristenausbildung ist der Bundesjustizminister schwächlich vor den Konservativen zurückgewichen. Er hat die Reform der Juristenausbildung beerdigt. Aus kurzsichtiger politischer Opportunität wird ignoriert, daß gerade in der Juristenausbildung die theoretische und die praktische Ausbildung miteinander verzahnt werden müssen und daß dem angehenden Juristen überdies nicht nur juristische Technik vermittelt werden darf, sondern daß er auch lernen muß, mit Menschen umzugehen, Sachverhalte aufzuklären, die Hintergründe gesetzlicher Regelungen zu erfassen und insbesondere die Folgen juristischer Verfahren und juristischer Entscheidungen für die Betroffenen und für andere zutreffend und vollständig zu erkennen und zu berücksichtigen.Verbal tritt der Bundesjustizminister dafür ein, den Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Die SPD hat einen Antrag auf Grundgesetzänderung gestellt. Warum hat der Bundesjustizminister bisher keinen Gesetzentwurf vorgelegt?Was tut der Bundesjustizminister, um die offensichtlichen Vollzugsdefizite im Umweltstrafrecht zu schließen? Welche Anstöße gibt er zur Auffüllung des Vollzugsdefizits im Umweltverwaltungsrecht? Was tut der Bundesjustizminister zur wirksameren Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere der neuen Kriminalitätsformen? Welches Konzept verfolgt er überhaupt in der Kriminalpolitik?
Welchen Beitrag leistet er z. B. gegen die Überbelegung der Strafvollzugsanstalten? Welche Konsequenzen zieht der Bundesjustizminister daraus, daß die Gefangenenzahlen in der Bundesrepublik dreimal so hoch sind wie in den Niederlanden, fast doppelt so hoch wie in Schweden und weitaus höher als in Frankreich und in England,
und daraus, daß die Rückfallquote in unserem Lande bei 40 % liegt?Was will der Bundesjustizminister unternehmen, damit wenigstens im Jugendstrafrecht die bestehenden Resozialisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden und es zu einem quantitativen und qualitativen Ausbau der Straffälligenhilfe kommt?
Der Bundesjustizminister schweigt. Wo er redet, kommt er über Allgemeinplätze nicht hinaus. Wenn er ausnahmsweise mehr als Allgemeinplätze von sich gibt, bringt er es nicht fertig, zu handeln.
Metadaten/Kopzeile:
7666 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. EmmerlichWas für eine Umweltpolitik und für die Kriminalpolitik dieser Bundesregierung gilt, trifft auch für die Verbraucherpolitik und für die Auswertung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Datenschutz insbesondere im Strafverfahren und bei der Amtshilfe zu, und es gilt auch für die Rechtsfragen der neuen Medien und der neuen Technologien einschließlich der Gen- und Biotechnik und der In-vitro-Fertilisation.Die Rechtspolitik dieser Bundesregierung orientiert sich an Tagesaktualitäten. Ihnen versucht sie opportunistisch und ohne Gesamtkonzept Rechnung zu tragen. Sie lebt von der Hand in den Mund und ist deshalb in Gefahr, sich temporären, z. B. aus konjunkturellen und finanziellen Entwicklungen hergeleiteten vermeintlichen Zwängen zu unterwerfen.Meine Damen und Herren, die staatliche Rechtsgewährung, der Rechtsschutz für den Bürger, die Chancengleichheit beim Zugang zu den Gerichten, fair trial, insgesamt die Verfahrens- und die Prozeßordnungen dürfen aber nicht unter tagespolitischen Opportunismus und Utilitarismus gestellt und kurzatmigen Manipulationen unterworfen werden.
— Die CDU-Kollegen protestieren;
das kennzeichnet ihre Position zur Rechtspolitik.Im übrigen müssen wir alle lernen und begreifen, daß in einer demokratischen, Aggressionen verabscheuenden und den friedlichen Interessenausgleich anstrebenden Gesellschaft und bei einer demokratischen Staatsauffassung von außen aufgezwungene autoritäre Streitentscheidungen zwar als Ultima ratio auch möglich sein und infolgedessen vorgehalten werden müssen, aber nicht als an sich angemessene, zunächst und regelmäßig in Betracht kommende Wege der Konfliktbewältigung anzusehen sind. Besser als staatliche Streitentscheidung ist allemal, daß die Streitbeteiligten selbst die Kraft finden, ihren Streit beizulegen. Dazu muß der Staat zukünftig viel stärker als bisher Hilfen anbieten. „Schlichten statt richten" ist das Gebot der Zukunft.Wenn dem entsprochen werden kann, wird auch das Problem der Belastung der Justiz in einem anderen Licht erscheinen und anders als durch Verkürzung des Rechtsschutzes gelöst werden können.
Meine Damen und Herren, seit der Wende kann von einer reformerischen Rechtspolitik nicht mehr die Rede sein.
Es muß daher befürchtet werden, daß CDU/CSUund FDP außerstande sind, die rechtspolitischenAufgaben unserer Zeit zu lösen. Das gilt um somehr, als der Bundesjustizminister selbst mindestens mit einem Bein im Lager der Konservativen und der Gegenreform steht. Bundesjustizminister Engelhard wird nicht als Erbe von Thomas Dehler in die Geschichte eingehen,
sondern als Exponent der FDP, der Beteiligung an der Regierungsmacht wichtiger ist als innere Liberalität.
Im Zusammenhang mit dem Fall Altun haben wir den Rücktritt des Bundesjustizministers gefordert. Seine Politik seitdem beweist, wie berechtigt unsere Rücktrittsforderung war — zur Bewahrung unseres Rechtsstaates, der inneren Liberalität unseres Landes und der sozialen Gerechtigkeit.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Fuchs hat sich gestern Gedanken über die Physiognomie der Kollegen in der ersten Reihe bei der CDU gemacht. Ich möchte heute sagen: Herr Emmerlich, man hat Ihrem Gesicht angesehen, wie peinlich Ihnen das war, was Sie hier vorgetragen haben. Sie haben zum Teil alte Argumente aus dem Jahre 1983 wiederholt, zum Teil versucht, die Amnestiedebatte nachzuempfinden,
und als Vorschlag für die Rechtspolitik empfohlen, daß wir viele Gesetze in der Gruselküche der ideologischen Reformeiferer weiter kochen mögen, wie das in der Vergangenheit der Fall war.Ich glaube, wir haben heute ganz andere Aufgaben, wenn wir uns den Bundeshaushalt 1985 ansehen. Er ist für mich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung, zum einen von der finanziellen Seite, zu der Sie bemerkenswerterweise überhaupt nichts gesagt haben,
zum anderen auch von der rechtspolitischen Seite, nämlich von der Frage, ob es uns gelingt, den Bürger wieder mit seinem Rechtsstaat zu versöhnen.Gemessen am Gesamtvolumen des Bundeshaushaltes nimmt der Einzelplan Justiz einen Anteil von 0,15 % ein, davon 90 % für Personalkosten der obersten Justizbehörden. Damit sind wir gewissermaßen bei dem ersten zentralen Thema, nämlich der Frage, wie die personelle Situation der Gerichte aussieht, welcher Zeitraum heute für Gerichtsverfahren erforderlich ist.Die Reformlawine der 70er Jahre hat eine Fülle neuer Vorschriften in der Verantwortung sozialde-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7667
Austermannmokratischer Justizminister gebracht, die zu einem weiteren Steigen der Arbeitsbelastung der Gerichte geführt hat, ohne daß damit im Bewußtsein der Bevölkerung der Rechtsstaat qualitativ gewonnen hätte.
Im Jahre 1980 mußte deshalb beim BGH ein zusätzlicher Familiensenat als Folge der Familienrechtsreform 1977 eingerichtet werden, um die Belastung des Gerichts aufzufangen. Die Arbeitsbelastung besteht weiter fort. Die zusätzlichen Richterstellen müssen eine Weile weiter bestehen.Beim Bundesfinanzhof sieht die Geschäftslage weit schlimmer aus. Zur Zeit besteht ein Rückstand von etwa 5 000 Verfahren. Das heißt, daß dem Staat etwa 125 Millionen DM nicht zufließen können. Der Steuerbürger muß neun Jahre auf sein Recht in der letzten Instanz warten. Bedenkt man, welche Bedeutung dies hat, nimmt sich die zusätzliche Zahl von zwei Richterstellen relativ bescheiden aus. Bedenkt man vor allen Dingen, daß dahinter auch Musterprozesse mit einem Gesamtvolumen von 5 Milliarden DM stehen, dann zeigt das, wie notwendig es war, daß wir hier gehandelt haben. Vor allen Dingen müssen wir von der Politik der vergangenen Jahre weg, Steuergesetze ständig zu ändern. Wir müssen das Steuerrecht vereinfachen. Dies wird unsere Aufgabe sein.
Maßnahmen zur Begrenzung der Revision müssen erfolgen. Wir erwarten, daß die Regierung entsprechende Vorschläge vorlegt.Ähnlich wie beim Bundesfinanzhof und beim Bundesgerichtshof sieht es auch beim Bundesverfassungsgericht aus. Da ist die Bilanz, Herr Emmerlich, durchaus für Sie negativ. 1956 hatten wir die gleiche Zahl von Personal wie heute beim Bundesverfassungsgericht. Dagegen hat sich die Zahl der Verfahren von 1 500 im Jahre 1970 auf 4 000 im Jahre 1983 erhöht. Der wesentliche Sprung, die wesentliche Steigerung trat Mitte der 70er Jahre ein, sicher kein Beweis für eine besondere Qualität und für das Vertrauen in die damals, Mitte der 70er Jahre, gemachten Gesetze.Ich bedaure, daß Sie auf der einen Seite die Überlastung der Gerichte, die Dauer der Verfahren beklagen und dann hier große Anfragen einreichen, gleich vier Stück im letzten halben Jahr, zur Geschäftsbelastung der Gerichte. Darin fragen Sie dann bis ins einzelne, wie das mit den Verfahren 1965 in der ersten, zweiten und dritten Instanz mit der Abwicklung aussah. Da sitzen jetzt Legionen von Inspektoren in den Gerichten, um nachzurechnen, um Ihre Frage zu beantworten. Das bedeutet doch nur: Entweder kennen Sie die Arbeitsbelastung der Gerichte nicht,
was bedenklich wäre, oder die Arbeitsbelastung der Gerichte ist Ihnen gleichgültig. Das halte ich für viel schlimmer.
Eine weit bedeutsamere Position im Justizhaushalt ist das Projekt JURIS. Darüber haben Sie nicht gesprochen, nachdem es interessanterweise unterschiedliche Positionen auch in der SPD zu diesem Vorgang gibt. Der Bund hat für die Erstellung eines EDV-gestützten juristischen Informationssystems, das allen am Rechtsleben beteiligten Anwälten, Prozeßbeteiligten, Gerichten dienen soll, bisher knapp 100 Millionen DM aufgewendet. 450 000 Urteile, Leitsätze, Vorschriften, Literaturbeiträge wurden gesammelt. Wir wollen, daß aus JURIS ein marktorientiertes und privatorganisiertes Dienstleistungsunternehmen wird, das sich in absehbarer Zeit selbst trägt und das zu schnellen und guten Entscheidungen hilft.
Wir begrüßen es, daß zum 1. Januar 1985 eine Verselbständigung dieser Institution eintreten soll und daß eine Verlagerung an einen Ort außerhalb Bonns erfolgen soll, obwohl ich es begrüßt hätte, wenn ein anderer Ort als die jetzt gewählte Stadt ausgesucht worden wäre. Ich muß allerdings anerkennen, daß die Stadt Saarbrücken, wo JURIS künftig seinen Sitz haben soll, vom Bund bisher stiefmütterlich behandelt worden ist.Arbeitsmöglichkeiten der Gerichte, Gesetze und Änderungen von Gesetzen müssen nach dem bisher Gesagten das Ziel haben, den Bürger schneller zu seinem Recht kommen zu lassen — ohne einen kurzen Prozeß zu machen — und die Rechtsnormen wieder mit der Grundüberzeugung der Bevölkerung in Einklang zu bringen. Dabei ist es wohl wichtig, Minderheitenrechte zu schützen. Aber die Rechtsauffassung der Mehrheit darf nicht — wie das in Berlin zu Zeiten des Vogel-Senats bei Hausbesetzungen galt — zum Maßstab für die gesamte Rechtsordnung werden.Dazu gehört auch, daß man sich — wie der letzte Juristentag vorgeschlagen hat — wieder mehr Gedanken über die Opfer und weniger über die Täter in einem Strafverfahren macht, auch nicht nur über die Ausländer, wie Sie das in Ihrem Antrag vorsehen.
Nach der Neuregelung der Juristenausbildung — die Sie offensichtlich verschlafen haben, Herr Emmerlich —, nach der Reform des Mietrechts,
nach der Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung — das zu zurückgehenden Verweigerer-Zahlen geführt hat —, nach der Verlängerung des Asylverfahrensrechts stehen weitere Reformen an, die die rechtspolitische Diskussion im Jahr 1985 prägen können.
Metadaten/Kopzeile:
7668 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
AustermannWir haben im Haushalt des Justizministers den Titel verstärkt, der der Gesetzesforschung dient. Nicht, um Reformeuphorie wie in der Vergangenheit zu ermöglichen oder gar eine Versuchsküche für den Justizminister zu schaffen, wie eine Zeitung schrieb, auch nicht — um das eindeutig zu sagen —, um linke Institute mit sozialkritischen Aufträgen zu versorgen, wie manch ein Ministerialrat noch meint. Das Ziel dieser Maßnahme lautet: im Recht wieder mehr die Tatsachen zu berücksichtigen.Was sich diese Koalition vorgenommen hat, ist eine Rechtspolitik der Seriosität, der Stetigkeit und der Akzeptanz in der Bevölkerung, nachdem das Bundesverfassungsgericht reihenweise Vorschriften aus dem neuen Familienrecht des Dr. Vogel aufgehoben hat. Herr Emmerlich, wenn Sie sich Gedanken über die Reform des Ehescheidungsrechts machen, empfehle ich Ihnen: Lesen Sie doch einmal die Leserbriefspalten der Frauenzeitschriften. Dann werden Sie wissen, was Frauen zu dem Problem denken, und daß sich das wesentlich von dem unterscheidet, was Sie hier vortragen, gestützt auf alte Überzeugungen.
Die Koalition hat sich auf den Regierungsentwurf zur Neuregelung des Scheidungsfolgenrechts geeinigt, die im Unterhaltsbereich im Einzelfall und beim Versorgungsausgleich mehr Gerechtigkeit bewirken soll.Mit der vorgesehenen Änderung des § 125 des Demonstrationsstrafrechts soll eine Fehlentwicklung der Vergangenheit korrigiert werden.
Das Demonstrationsrecht der friedlichen Bürger erfährt damit eine Stärkung und keine Schwächung.Ein Schwergewicht unserer Rechtspolitik liegt darin, die Gerichte aller Zweige so weit wie möglich zu entlasten, die Verfahren zu straffen und effektiver zu gestalten. Bei diesem Vorhaben hat der Justizminister unser volles Vertrauen. Wir unterstützen ihn dabei. Dem dient der Regierungsentwurf eines Strafverfahrensgesetzes, einer Novelle zur Zivilprozeßordnung.Durch Gesetzesvereinfachung soll nach unserer Meinung Bürokratie abgebaut werden. Dazu zählen die Bereinigung des Verwaltungsverfahrensrechts, das Statistikbereinigungsgesetz und die Vereinfachung des Baurechts, die 1985 abgeschlossen werden soll. Alsbald in Kraft treten kann die Neuregelung des Jugendschutzrechts, mit dem Videoschund und -schmutz eingegrenzt, Alkoholmißbrauch Jugendlicher eingedämmt und der Jugendschutz insgesamt ausgebaut werden soll.Ich glaube, allein der Hinweis auf diese notwendigen Gesetzesänderungen zeigt, welchen Scherbenhaufen, welche Erblast Sie gerade im Bereich der Rechtspolitik hinterlassen haben.
Im Bereich des Wirtschaftsrechts sind das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, die Urheberrechtsnovelle, das Gesetz für Maklerverträge und die Reform des Insolvenzrechts in Arbeit.Wichtig scheint mir persönlich auch zu sein — das ist der einzige Punkt, bei dem ich Ihnen zustimmen kann —, daß wir bald gesetzliche, ethisch legitimierte Grenzen für Manipulationen an Erbanlagen, für künstliche Befruchtung und für Leihmütter aufrichten. Der Staat muß gerade in diesem Bereich rechtsfreie Räume verhindern.Die große Zahl rechtspolitischer Korrekturvorhaben zeigt den Handlungsbedarf für das Jahr 1985, zeigt, welche wichtige Aufgabe wir noch in dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben. Dennoch glaube ich, daß neben diesen Themen andere Entwicklungen wesentlichen Einfluß auf die rechtspolitische Diskussion haben werden. Dazu gehört sicherlich der Prozeß, der am 10. Januar 1985 vor dem Landgericht in Bonn öder das Zustandekommen von Steuerbefreiungen zu Zeiten der Regierung Schmidt beginnt.Die SPD wird im Verlauf des Prozesses, der sich ja mindestens über ein halbes Jahr hinziehen wird, glauben machen wollen, selbst von Brauchitsch sei Mitglied des Kabinetts Kohl gewesen und sie habe mit der damaligen Regierung nichts zu tun.
Ich bin überzeugt davon, daß die Verfahren mit Freisprüchen mindestens mangels Beweisen enden werden.
Wenn das so ist, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie die Diskussion, die neben den Verfahren läuft, so fair geführt wird, daß vorher nicht unübersehbarer Schaden für den freiheitlichen Rechtsstaat entsteht.Ferner werden wir uns 1985 mit der Fortsetzung der Rotationsdiskussion bei den GRÜNEN befassen müssen. Es stellt sich ja nun im März die Frage: Wer geht freiwillig? Wer muß gehen? Wer will gehen? Vor dem geplanten kollektiven Verfassungsbruch kann nur gewarnt werden, wenn nur einer von Ihnen das Wort „Rechtsstaat" noch überzeugend in den Mund nehmen will.
Eine erhebliche Rolle im Verlauf der rechtspolitischen Diskussion im ländlichen Raum — ich freue mich, daß der Landwirtschaftsminister hier ist — wird die voraussichtliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7669
Austermannder Milchgarantiemengenverordnung spielen. Zum erstenmal muß unser höchstes Gericht darüber entscheiden, inwieweit die EG-Verordnungsgeber unmittelbaren Einfluß auf Grundrechte unserer Bürger nehmen können.Dann folgt ein neuer Aufguß der Diskussion über die Volkszählung, es folgt die weitere Diskussion über Parteispendenverfahren. Ich bin der Meinung — das hat überhaupt nichts mit Amnestie oder anderen Dingen zu tun, deretwegen Sie die Regierung hier verdächtigt haben, Herr Emmerlich —, wenn man die Gesetze genau liest — Sie kennen mit Sicherheit § 396 der Abgabenordnung —, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß geradezu ein Zwang der Strafgerichte besteht, die Angelegenheit an die Steuerverwaltung weiterzugeben und von einer Verweisung an das zuständige Gericht Gebrauch zu machen. Wenn Sie das Gesetz lesen, werden Sie mir zustimmen,
so ehrenwert das Gerechtigkeitsstreben eines manchen erstinstanzlichen Amtsrichters aus der APOZeit auch sein mag.Diese Auffassung teilt interessanterweise auch Ihr moralischer Vorkämpfer, der Herausgeber eines großen Magazins. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was Herr Augstein antwortete, als er nach einer Spende gefragt wurde, die er an eine Organisation geleistet hat. Augstein sagte:Da muß ich sagen: Die Spender können nicht kontrollieren, was Vereine mit Geldern tun, wenn die Finanzämter diesen Vereinen alljährlich bescheinigen, sie seien gemeinnützige Vereinigungen. Das ist nicht unsere Sache.Frage des Fernsehinterviewers:Aber Zweifel sind schon aufgetaucht, auch bei den Finanzämtern.Darauf Augstein:Das geht mich nichts an. Die Finanzämter haben nicht Zweifel zu haben; sie haben Bescheide auszustellen, und wir haben uns an diese Bescheide zu halten.Das war Herr Augstein im Jahre 1982, als er selbst betroffen war.
— Der moralische und rechtspolitische Vordenker für Herrn Emmerlich.Meine Damen und Herren, bemerkenswerterweise hat in diesem Zusammenhang die Frage, wie es zum Vertrauensbruch durch die Weitergabe von etwa 9,60 m Akten aus der nordrhein-westfälischen Justiz gekommen ist, noch keinen Journalisten nachdrücklich interessiert.
Dabei wäre es doch schon wert, zu wissen, ob ein Hamburger Magazin — jetzt bitte ich zuzuhören — tatsächlich versucht hat, namhafte Beträge für Bestechung in diesem Zusammenhang als Betriebsausgaben gemäß § 160 der Abgabenordnung von derSteuer abzusetzen. Immerhin standen ja schon 1962 bestimmte Leute auf der Pay-roll eines bestimmten Magazins.Meine Damen und Herren, die Diskussion um den Justizhaushalt ist eine Diskussion um die richtige Rechtspolitik. Über die Haltung der SPD habe ich gesprochen. In reinen Finanzfragen bestand in den Beratungen, Frau Kollegin Zutt, weitgehend Übereinstimmung.Die GRÜNEN haben sich an den Beratungen in diesem sensiblen Bereich überhaupt nicht beteiligt.
Herr Kleinert ist auch wieder nicht hier. Ich möchte aufgreifen, was der Kollege Riedl gesagt hat. Wie Ihr Verhältnis zum Rechtsstaat ist, zeigt, glaube ich, die Tatsache, daß fast alle Ihre Abgeordneten in dieser Legislaturperiode mindestens ein Immunitätsverfahren hinter sich haben; fast alle haben mindestens ein Strafverfahren hinter sich. Von den 37 Verfahren in dieser Legislaturperiode entfallen 25 auf die GRÜNEN. Sie haben 26 Kollegen hier in diesem Hause.
So bleibt es die Aufgabe dieser Regierung und unserer Koalition, weiter auf dem Weg fortzuschreiten, die Rechtsordnung so zu konsolidieren, daß das Vertrauen des einzelnen in den sozialen Rechtsstaat gestärkt und wieder gefestigt wird, daß der Bürger mit dem Rechtsstaat wieder versöhnt wird.Der Haushaltsentwurf der Einzelpläne 7 und 19 ist unseres Erachtens dazu ein guter Beitrag. Wir bitten für die CDU/CSU, diesen Vorlagen zuzustimmen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Reetz.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz — Einzelplan 07 — ist von allen Bundesministerien der kleinste Haushalt. Mein Vorredner hat es gerade gesagt. Er macht 0,15 % des Gesamthaushalts des Bundes aus; in absoluten Zahlen sind dies 377 302 000 DM.
— Das steht ja in dem Plan drin.Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe z. B. weist Ausgaben in Höhe von 12 842 000 DM aus. Dies nenne ich deshalb, weil Rundfunkkommentatoren in den letzten Tagen darüber informiert haben, daß klagende Bürger beim Bundesverfassungsgericht in Zukunft mit sogenannten Unterliegensgebühren rechnen müssen. Auf derart drastische Weise soll die Flut der anstehenden Verfahren eingedämmt und den total überlasteten Richtern Luft gemacht werden.7670 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Frau ReetzDer Bundesjustizminister hat diese Maßnahme übrigens schon im vergangenen Juni angekündigt.
Rechtspolitik eigne sich nicht für Experimente und kurzatmige Tagespolitik, hat er einmal postuliert; eine breite Mehrheit aller politischen Kräfte solle Gesetzesvorhaben tragen. Daß dem nicht so ist, wird unter anderem durch die Prozeßlawine in Karlsruhe dokumentiert. Diese Lawine durch hohe — vielleicht sogar sehr hohe — Gebühren aufhalten zu wollen ist wahrhaftig keine gute Rechtspolitik. Vielmehr müßten sich doch wohl alle die, die mit Recht zu tun haben, fragen, woher es denn kommt, daß die Leute klagen, ob sie nicht in ihrem tagtäglichen Leben gar keinen Bezug mehr zu den Gesetzen finden, die ihnen Halt und Orientierung geben sollten.Es gab in diesem Parlament auch keine breite Mehrheit aller politischen Kräfte für die angebliche Reform der Juristenausbildung. Obwohl die parallel zur traditionellen Ausbildung an einigen Universitäten über ein Jahrzehnt hinweg laufenden einstufigen Ausbildungsgänge weitgehend positiv beurteilt wurden, haben die Regierungsparteien alle wesentlichen Reformziele wieder über Bord geworfen. Dabei wäre es doch notwendig gewesen, der Juristenausbildung durch die Einbeziehung von Nachbarwissenschaften und durch stärkere Vermittlung der sozialen Hintergründe rechtlicher Regelungen eine neue Qualität zu geben. Statt dessen wurde ein fragwürdiger Ausbildungsgang festgeschrieben. Er ist in der Tat fragwürdig, wie auch Mitglieder des Rechtsausschusses in einer Diskussion mit Kollegen von der französischen Nationalversammlung kürzlich gewahr wurden. Es ist ein Ausbildungsgang vorbei am einhellig wiederholt und mit Nachdruck artikuliertem Votum der Berufs- und Standesorganisationen der Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, wie es der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Ihnen, Herr Minister Engelhard, bereits am 2. September vorigen Jahres mitteilte.Rechtspolitik erschöpft sich nicht im Neuschaffen und Ändern von Gesetzen, auch die Pflege des Rechts- und Unrechtsempfindens gehören dazu, sagte der Kollege Helmrich im letzten Jahr in der Haushaltsdebatte. Die Bundesregierung hat aber das Rechtsempfinden der Bürgerinnen und Bürger gerade in diesem Jahr mit Füßen getreten.
Denken Sie z. B. an den 4. Mai dieses Jahres, als die Regierung auf dem ungewöhnlichen Weg über den Finanzausschuß ihren dreisten Selbstbegünstigungsversuch unternahm und den Begriff der Amnestie in Verruf brachte.
Nur die tiefgehende, bis weit in die Reihen der konservativen Wählerschaft hineinreichende Empörung hinderte die Regierung daran, in beispielloser Weise Unrecht in Recht zu verkehren.
Haben Sie es sich denn wirklich nicht klargemacht, in welchem Maß Sie durch eine derartige Politik das von Ihnen doch für so wichtig erachtete Rechtsbewußtsein der Bevölkerung in Frage stellen? Wohl kaum. Die Parteispenden- und Flickdebatte macht es noch mehr offenbar. Selbsterkenntnis kommt bei Ihnen nicht vor und schon gar nicht beim Bundeskanzler, der nach wie vor nicht die geringste Einsicht gegenüber dem Tatbestand zeigt, das Rechtsempfinden seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger empfindlich verletzt zu haben.
Die jüngste Entscheidung, die Internationale Seerechtskonvention nicht zu unterzeichnen, sehen die Leute denn auch ganz nüchtern als ein Mitbringsel Helmut Kohls nach Washington für Ronald Reagan an.
In dieses Bild passen auch die Nachrichten über ein mögliches neues Bubenstück, eine Amnestie durch die kalte Küche eines zwingenden Vorrangs von Besteuerungsverfahren vor Strafverfahren durch Änderung von § 396 der Abgabenordnung. Wie treffend zitierten Sie doch, Herr Minister Engelhard am 16. November in diesem Haus aus Erich Kästners Gedicht „Moral":Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.Wenn Sie Ihren Amtseid ernst nehmen, sollten Sie Ihren Verbleib im Kabinett Kohl davon abhängig machen, daß derartige Anschläge auf den Rechtsstaat ein für allemal unterbleiben. Was diese Pläne für eine verdeckte Amnestie angeht, so möchte ich den Kollegen Dr. Haussmann daran erinnern, daß er hier ebenfalls am 16. November sagte: Mit den Freien Demokraten wird es in diesem Zusammenhang keine Ansätze zu Amnestieplänen geben. — Ich hoffe nur, daß die Zeitungsmeldungen von heute zutreffen und wir diesen neuerlichen Amnestieversuch endgültig vom Tisch haben.
Ich sage Ihnen gewiß nichts Neues, wenn ich behaupte, daß Gesetze, in der Vergangenheit als sozial fortschrittlich und emanzipatorisch begrüßt, nun systematisch, eines nach dem anderen, der Wende zum Opfer fallen.
„Roll back", nennt es Herr Kollege Dr. Emmerlich und meint damit Ihre Vorstellungen, Herr Bundesjustizminister zur Neuregelung des nachehelichen Unterhaltsrechts, des Scheidungsfolgenrechts, z. B. Statt sich hier auf die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Nachbesserungen, insbesondere die Novellierung der Härteklausel hinsichtlich des
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7671
Frau Reetz§ 1579 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, zu beschränken, setzt die Bundesregierung, wiederum gegen den Rat aller Fachverbände, an, einen familien- und rechtspolitisch unerträglichen Zustand der Rechtsunsicherheit herbeizuführen. Sie untergräbt die Unterhaltsansprüche vor allem von Frauen mit Kindern durch die geplante Beschränkung der Unterhaltsansprüche nach Billigkeit, insbesondere unter Berücksichtigung der Dauer der Ehe. Eine Frau, die für ihre Kinder da ist und den Haushalt führt, geht bei solchen Gesetzen ein unkalkulierbares Lebensrisiko ein.
Die Bundesregierung öffnet auch ein Einfallstor für die Rückkehr zum Schuldprinzip
durch die, noch dazu verfälschte Übernahme der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum offensichtlich schwerwiegenden, eindeutig beim Unterhaltsberechtigten liegenden Fehlverhalten. Wird diese Gesetzesänderung beschlossen, dürfte es mit der Funktionsfähigkeit der Gerichte nicht mehr weit her sein,
ganz gleich, ob die Prozesse durch höhere Kosten, Unterliegensgebühren oder andere Regelungen erschwert würden. Hunderttausend Prozesse erwarten Mitglieder des Deutschen Richterbundes.Ein demokratischer Rechtsstaat braucht ein liberales Demonstrationsrecht. Werden wir da die breite Mehrheit aller politischen Kräfte finden?
Am 12. Dezember wird dazu die große Anhörung des Rechtsausschusses stattfinden. Dieses Datum liegt genau fünf Jahre nach dem des unseligen NATO-Doppelbeschlusses.
Von seiten der Bundesregierung, nicht von der Friedensbewegung, wurde der Herbst des vergangenen Jahres als der „heiße Herbst" bezeichnet.
— Nicht von uns, von der Bundesregierung, in entsprechenden Informationen der Bundesregierung in vielen, vielen Glanz- und sonstigen Blättern, die da verbreitet wurden.In diesem Herbst nun geht es um die juristische Aufarbeitung. Gegenwärtig werden Tausende von Mitgliedern der Friedensbewegung, darunter viele Grüne und auch fast alle Mitglieder unserer Fraktion mit Strafverfahren
vor allem wegen Nötigung überzogen. Sie haben den Verlust der Immunität vorhin angesprochen.
Auch ich gehöre dazu.
Und ich muß Ihnen sagen: Ich frage mich, ob unsere jetzige Justiz noch so unabhängig ist, die Konfliktlage der Angeklagten, die ihr Demonstrationsrecht ausgeübt haben, zu erkennen.
— Ich nehme mein Demonstrationsrecht in Anspruch wenn ich mich auf die Straße setze und verhindern will — —
— Vielleicht lassen Sie mich doch ausreden.Ich sehe es so, daß ich dann, wenn ich mich um meines Lebens willen auf die Straße setze, wenn ich verhindern will, daß lebenszerstörende Maßnahmen durch Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles ergriffen werden, mein Demonstrationsrecht wahrnehme, das im Grundgesetz verbürgt ist.
Ich möchte Ihnen sagen, daß ich es angesichts der vielen offenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Nachrüstung — ich verweise auf die Vielzahl der Verfassungsbeschwerden und auch die Organklage unserer Fraktion — für notwendig halte, politisch über die Kriminalisierung von Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik zu diskutieren, für die Gewaltfreiheit eine Handlungsmaxime ist.
Hier brauchen wir eine Amnestie.
Hier brauchen wir eine Rechtsprechung, von der z. B. Thomas Dehler, den Sie vorhin zitiert haben, sagte: Die Aufgabe des wahren Rechts ist durch die Jahrtausende bis in unsere industrialisierte und technisierte Zeit hinein die gleiche geblieben: Dem Menschen die Freiheit zu geben, er selbst sein zu können,
seine eigene Sphäre, seine Würde, seine Persönlichkeit zu wahren.
— Das wollen wir nicht annehmen.
Metadaten/Kopzeile:
7672 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Frau ReetzDem Recht in seiner Schutzfunktion für das Individuum, für Minderheiten kommt angesichts einer fortschreitenden Anonymisierung der Gesellschaft, angesichts von Computererfassung und Datenspeicherung eine immer größere Bedeutung zu. Das Kabinett berät aber Pläne, wonach die vor wenigen Jahren eingeführte Prozeßkostenhilfe z. B. zu Lasten sozial schwacher Bürger eingeschränkt wird.
Recht ist das Recht des Stärkeren. Das sagen jetzt schon viele Menschen, und sie richten sich darauf ein.Stärker sind die Zwänge, die Sachzwänge, denen sowohl einzelne wie Gruppen und Parteien gehorchen zu müssen glauben. Wenn sich Gesetzgebung und Rechtsprechung aber Sachzwängen unterwerfen, ist es um die Demokratie geschehen. Das ist meine Meinung.
Argumente aus Sachzwängen heraus werden in immer größerer Eilfertigkeit aufgetürmt
— ich bin gerade dabei —, sei es, man brauche einen Personalausweis als fälschungssichere, maschinenlesbare Kontrolle — aber für wen denn eigentlich?; für das Bundeskriminalamt, für die Sicherheitsdienste; für wen sonst noch? —,
oder sei es, man brauche ein Asylrecht, das dem Asylanten nach einem verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen Verfahrensgesetz die Inanspruchnahme des Rechtsweges insofern verwehrt, als er bereits vor einem rechtskräftigen Verfahrensbeschluß über seinen Asylantrag mit öffentlicher Gewalt außer Landes gebracht werden kann.Die Geringfügigkeit des Haushaltes des Justizministeriums im Vergleich zu dem Mammuthaushalt der Republik ist, wie ich hoffen möchte, kein Ausdruck dafür, daß die Bedeutung des Justizbereiches ebenso gering eingeschätzt wird. Wir schätzen sie nicht so ein. Wir lehnen aber die Rechtspolitik dieser Bundesregierung ab, weil sie weder den von der Regierung selbst gesetzten Maßstäben noch den Vorstellungen eines liberalen Rechtsstaates entspricht.
Wir stimmen deshalb dem Haushalt des Justizministeriums nicht zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Frau Reetz, wenn man Sie so sieht, sieht man Sie irgendwie nicht mit Pflastersteinen in der Hand. Das ist ein gewisser Trick, Sie hierher zu schicken.
Ein weiterer Trick ist, daß der einzige Jurist, den Sie haben, aus der Rolle des Verteidigers nahtlos übergeschlüpft ist in die Rolle des Staatsanwalts, des schrecklichen Staatsanwalts, und deshalb hier nicht zur Verfügung steht für einigermaßen sachgerechte Auseinandersetzungen,
weil er sich darin gefällt, all das, was er — übrigens zu einem großen Teil mit meinem persönlichen Respekt — als Strafverteidiger getan hat, jetzt ad absurdum zu führen in der Art, wie er völlig unerbittlich und ohne die Verpflichtung eines Staatsanwalts, wie sie in unseren Gesetzen festgeschrieben ist, nämlich auch das, was zugunsten des Angeschuldigten spricht, des Angeklagten spricht, zu berücksichtigen, hier einen Feldzug führt und deshalb I hier nicht anwesend ist. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu den hehren Anforderungen, die Sie hier an den Umgang mit dem Recht, an den Respekt vor dem Recht und an Ihre Rolle in diesem Zusammenhang gestellt haben.
Herr Emmerlich hat hier den Katalog dessen vorgelegt, was die Justizminister der SPD offenbar versäumt haben. Anders kann ich mir das überhaupt nicht erklären. Denn all die Dinge, von denen Sie gesprochen haben und die Sie dem jetzigen Bundesjustizminister als Versäumnisse vorwerfen, hätten von den drei Justizministern, die Ihre Partei und Ihre Fraktion gestellt haben, geregelt werden können, beizeiten geregelt werden können, sind nicht geregelt worden und werden jetzt in ganz wesentlichen Punkten einer Regelung zugeführt, dies aber mit Recht keineswegs in Hektik — das verträgt die Rechtspolitik tatsächlich weniger als jeder andere Bereich —, sondern nach ruhigen und gründlichen Beratungen. Sie werden erleben, daß Sie im nächsten Jahr in größte Schwierigkeiten kommen, noch einmal einen solchen Katalog aufzustellen, weil es in der Natur gründlicher Beratungen liegt, daß sie schließlich zu einem Ende führen, übrigens auch zu einem guten Ende.
Wir werden im nächsten Jahr feststellen können, daß vollkommen in dem ordnungsgemäßen zeitlichen Rahmen, erst einmal der notwendige Findungsprozeß in einer neuen Koalition, dann gründliche Gespräche, dann Vorbereitung von Entscheidungen und dann Entscheidungen, dieser Punkt jetzt erreicht ist und wir deshalb Ihre Verdächtigungen nur belächeln können. Es wird sich ad absurdum führen.Es wird sich auch ad absurdum führen, was Sie im Rahmen eines Fortsetzungspamphlets auf den Weg gebracht haben. Es ist geradezu erstaunlich, wie man nach der dritten und vierten Folge der von Ihnen herausgegebenen „Ohrfeigen-Serie" immer noch weitere Folgen, Herr Emmerlich, mühsam verfaßt, obwohl man doch im Laufe der Produktion eines solchen Pamphlets merken muß, daß es kein Mensch nachdruckt. Ich habe mir überlegt, ob ich überhaupt auf die Sache eingehen soll, aber auch wenn ich es hier erwähne, wird es kaum jemand
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7673
Kleinert
lesen, geschweige denn nachdrucken, was Sie da zusammengetragen haben. Bloß wenn Sie sich an so etwas machen, Herr Emmerlich, und wenn Sie sich hier mit alternativen Ratschlägen für den Bundesjustizminister bereithalten, so etwa als Justizminister in Reserve, dann müßten Sie doch auch darauf achten, daß Sie nicht völlig widersprüchliche Zeugnisse nahtlos aneinanderreihen, nur um etwas mehr scheinbares Futter für Beschimpfungen zu gewinnen. Es kann doch nicht so sein, wenn Sie nun mal in die peinliche Situation kämen, für viele peinlich, Justizminister zu werden,
daß Sie aus den unterschiedlichsten Quellen alles zusammenschreiben und dann denken, dabei käme ein Gesetz heraus.
Sie wissen, daß das nicht geht, und deshalb sollten Sie, wenn Sie wieder einmal so eine Serie unter Ausschluß der Öffentlichkeit anfangen, sich überlegen, woran Sie selbst das alles gemessen haben wollen.Weil wir dabei sind: In Wirklichkeit haben wir ja in vielen Dingen sehr vernünftig zusammengearbeitet und werden das auch in Zukunft tun. Ich lasse mich durch den polemischen Ton, den Sie hier anzuschlagen belieben, überhaupt nicht darin irritieren, weil mir die gemeinsame Arbeit gerade in Rechtsfragen viel wichtiger ist als das, was Sie an einem solchen Tag hier an Beschimpfung meinen abliefern zu müssen.
Aber weil das so ist, bin ich auch der Meinung: Trauern Sie da, wo Sie noch Einfluß haben, doch nicht dem Einfluß nach, den Sie hier in der Rechtspolitik verloren haben, sondern interessieren Sie sich doch da für die Rechtspolitik, wo Sie noch Einfluß haben und die Justizminister stellen. Das, was in Nordrhein-Westfalen für eine gute und solide Rechtspolitik getan werden könnte, wird die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen vielleicht auch positiv beeinflussen können, und zwar nicht nur im Sinne von Bewußtseinsveränderung bei Richtern.Man wird doch noch einmal fragen dürfen, wie es möglich ist, daß einer der beachtlichsten Skandale des neueren Gebarens der Justiz ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen, und zwar hier in Bonn, stattgefunden hat. Wenn ein Staatsanwalt mit sechs seiner Kollegen hier antritt und eine große Pressekonferenz macht, bevor den Beschuldigten die Anklageschriften zugestellt worden sind,
dann ist das etwas, was mit dem Verfahren, über das wir das Urteil abwarten wollen — selbstverständlich müssen wir das Urteil abwarten —, gar nichts zu tun hat. Das ist vielmehr ein Stilbruch. Das ist aber nicht nur ein Stilbruch, sondern dasgeht auch an das Fundament dessen, was von Richtern und Staatsanwälten und damit vom Vertrauen in die Rechtspflege zu erwarten ist.
Da besteht doch eine sehr gute Möglichkeit, sozialdemokratische Rechtskultur zu beweisen.Ich bin sehr überrascht gewesen, von Herrn Austermann eine Andeutung zu hören, die wohl nicht von ungefähr gekommen ist — sie war mir neu —, nämlich daß jetzt auch noch verbucht werden soll, was da gezahlt worden ist. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß man dafür zahlen muß, um jemanden dazu zu bringen, unter gröbster Pflichtverletzung Akten aus dem Hause zu geben, in die Öffentlichkeit zu bringen, um kampagnenmäßig Vorverurteilungen vorzunehmen. Aber gut, wenn dafür bezahlt worden sein sollte, sage ich einmal ganz vorsichtig, dann wird die Sache nur um so deutlicher.Um so etwas sollte sich ein Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen kümmern, und um so etwas sollten sich die Juristen aus der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen in ihren Sitzungen kümmern, statt hier Vorwürfe zu erheben, wenn jemand hergeht wie der Bundesjustizminister und endlich einmal dafür sorgt, daß Justizpolitik nicht hektisch gemacht wird, daß Fortschritt nicht etwa als eine Geschwindigkeit, sondern als eine Richtung verstanden wird und daß in Ruhe die Dinge vorgelegt werden, die wirklich dem vernünftigen Fortgang der Rechtspolitik dienen.Dabei kommt im übrigen breite Unterstützung vom Deutschen Richterbund und vom Deutschen Anwaltverein, für die ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. Beide Organisationen sind hier schon zitiert worden. Sie arbeiten wirklich ohne persönliche, standespolitische Rücksichten an der Weiterentwicklung des Rechts mit. Der Bundesjustizminister — da bin ich ganz sicher — wird, wie er das in der Vergangenheit getan hat, auch in Zukunft auf diese Stimmen hören. Damit wird sich einiges an Ihrer Kritik erledigen, die viel, viel nützlicher gewesen wäre, wenn sie ruhiger und nicht so undifferenziert vorgetragen worden wäre.Mit Blick auf den Deutschen Anwaltverein möchte ich doch noch einmal auf einen Punkt hinweisen, der mir aufgefallen ist: Wenn der Deutsche Anwaltverein sagt, die Rechtskraft der nach dem geltenden Ehegesetz verkündeten Urteile solle nicht — und wenn überhaupt, dann nur in engsten Grenzen — angetastet werden, dann verstößt er damit aufs deutlichste gegen die wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder, die in Wiederaufnahmeverfahren selbstverständlich Betätigung und Einnahmen finden würden. Das ist, so meine ich, einer der besten Beweise dafür, wie sich Menschen in diesem Lande um das Recht wirklich so sorgen, wie es alle in dieser Koalition, wie der Bundesjustizminister und seine Mitarbeiter es tun — und dies bei ungewöhnlich sparsamem Einsatz von Finanzmitteln, wofür ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich danken möchte.
7674 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Mitgliedern des Haushaltsausschusses zunächst danken, insbesondere den Berichterstattern Frau Kollegin Zutt und Herrn Kollegen Austermann. Mit unserem zwar kleinen, aber dennoch so wichtigen Haushalt fühlen wir uns vom Haushaltsausschuß, vom Parlament gut bedient. Es ist unseren Wünschen Rechnung getragen worden.Ich möchte auf die einzelnen Fragen hier an dieser Stelle nicht eingehen, will aber eine Frage herausheben, weil sie mir doch von größter Bedeutung erscheint: Wir sind beim Deutschen Patentamt — auch in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit — mittlerweile in der Schwierigkeit, offene Stellen deswegen nicht mehr besetzen zu können, weil sich nicht genügend Bewerber finden. Seit die Eingangsbesoldung abgesenkt worden ist, haben wir in diesem Bereich — wer als Prüfer beim Deutschen Patentamt eingestellt wird, ist eben kein Berufsanfänger, sondern muß eine mindestens fünfjährige Tätigkeit in der Praxis, in der Wirtschaft nachweisen, um überhaupt eingestellt werden zu können — in der Tat erhebliche Schwierigkeiten. Hier hat nun der Rechtsausschuß, der Innenausschuß, der Haushaltsausschuß, das Parlament Abhilfe geschaffen, für die ich wegen der zentralen Bedeutung dieser Frage ausdrücklich danken möchte.Herr Kollege Emmerlich, Sie sind sich treu geblieben und haben versucht, den Stil der Haushaltsdebatte, wie er von den Sozialdemokraten bisher weithin angelegt war, weiter zu verfolgen und in den Spuren Ihres Fraktionsvorsitzenden zu wandeln. Nur, in der Maßlosigkeit Ihrer Attacken liegt gleichzeitig auch ihre völlige Wirkungslosigkeit.
Mich persönlich berührt der Rundumschlag nicht — ich werde dazu gleich noch eine kleine Anmerkung machen —, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Art, wie dieses vorgetragen wird, in der Öffentlichkeit eine positive Resonanz haben könnte.Ich bin etwas betroffen, weil natürlich — das liegt auf der Hand — jeder dadurch, daß eine gewisse persönliche Schärfe in die Auseinandersetzung hineinkommt — und das angesichts des Umstandes, daß man über viele Jahre so eng zusammengearbeitet hat —, darauf aufmerksam werden muß, daß dies psychologisch auszudeuten ist und merkwürdig berühren muß. Ich werde diesen Weg, der von Ihnen bevorzugt wird, Herr Kollege Dr. Emmerlich, nicht mitgehen. Dies ist mein Stil nicht. Ich halte davon nichts und glaube, daß man sich in der Sache Punkt für Punkt mit aller Deutlichkeit und Härte, aber auch mit aller Fairneß auseinandersetzen muß.
Nun ist im Detail für alle einzelnen Punkte die Zeit heute nicht vorhanden. Sie haben gesagt: Das,was geschehen ist, taugt nichts; und das, was hätte geschehen müssen, hat nicht stattgefunden.
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Dr. Emmerlich, und Ihren Fraktionskollegen, daß unsere Zeit in der Rechtspolitik darauf angelegt ist, „den Bestand zu bewahren,
und behutsam weiterzuentwickeln
und zu konsolidieren und abzurunden und zu überarbeiten und zu ergänzen und ... einige ... neue Vorhaben, die wichtig sind, in Angriff zu nehmen".
— Nein. Ich habe ja vermutet, daß Sie so reagieren. Dies sind eben meine Worte gewesen, aber ich habe diese Worte übernommen aus der Haushaltsrede vom 4. Juni 1981 meines Vorgängers im Amt Dr. Schmude. Der hat damals so gesprochen.
Es ist bezeichnend für Ihre veränderte Geisteshaltung, daß Sie das heute von vornherein hochbringen und in Wallung bringen muß, was damals, von Ihrem Fraktionskollegen und Minister gesprochen, Ihren herzlichen Beifall gefunden hat.
So ist die Entwicklung. Sie zeigt überdies, wie leicht man Sie aufs Glatteis führen kann. Sie müssen hier schon noch etwas trainieren,
wenn Sie den Auseinandersetzungen, die wir künftig miteinander haben werden, gewachsen sein wollen.Weil Sie so zentral die Frage der Amnestie angesprochen haben: ich glaube, daß in zurückliegenden Auseinandersetzungen, in der Debatte des Bundestags alles, was dazu zu sagen war, gesagt worden ist.
Wenn Sie nun meinen, mit der Behauptung von einem Versuch, auf Umwegen hinterher eine solche Amnestie zu erreichen,
den Rest der Legislaturperiode politisch bestreiten zu können, so irren Sie sich.
Denn es ist mit aller Deutlichkeit herausgestellt worden, daß diese Amnestie vom Tisch ist. Sie haben neulich die Beantwortung Ihrer Anfragen bekommen. Die Stellungnahme des Justizministeriums ist völlig klar.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7675
Bundesminister EngelhardNachdem eine Äußerung aus den Kreisen des Bundesfinanzhofs gestern ausdrücklich dementiert worden war, haben Sie heute erneut den Versuch unternommen, die Bundesregierung, die Koalition in den Ruf zu bringen, hier etwas zu tun, von dem sie ganz klar gesagt hat, daß sie es nicht tun wird.
Machen Sie es sich nicht so einfach. Sie werden damit politisch ganz sicher nicht überleben können. Sie können doch nicht glauben, Sie könnten damit die weiteren politischen Auseinandersetzungen über die Zeiten bestreiten.
Ich kann auf die Fülle der Auseinandersetzungen und das, was Sie an Vorwürfen erhoben haben, nicht im einzelnen eingehen. Auch ich möchte mich an die Zeit halten, die jedem von uns zur Verfügung steht. Nur, Herr Kollege: Wir haben eine Reihe von Vorlagen da gemacht, wo sie notwendig sind. Wir bemühen uns z. B., rechtzeitig zum 1. Januar 1985 die Regelung des Sozialplans im Konkurs unter Dach und Fach zu bringen. Sie wissen genau so gut wie ich, daß das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität
zur Beratung im Rechtsausschuß ansteht, ebenso das Urheberrecht, die Neuregelung des Internationalen Privatrechts, Überlegungen zum Versorgungsausgleich, eine ganze Fülle von Vorhaben, bis hin zu jenem Einundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetz, bei dem Sie die Behauptung aufstellten, daß für die Bundesrepublik international Schaden eingetreten sei. Sie haben diese Behauptungen wider besseres Wissen aufgestellt. Sie sehen, daß überall dort, wo Handlungsbedarf ist, dieser Handlungsbedarf abgedeckt wurde. Wenn Sie darüber hinaus der Meinung sind, das alles andere, was nicht getan wurde, ein Fehler oder eine Unterlassung war, so ist dies in der politischen Auseinandersetzung zu behaupten Ihr gutes Recht.Ich sage aber zum Schluß, daß eine Auseinandersetzung auf der Ebene, daß der Rechtsstaat angekränkelt ist und die Gerechtigkeit mißachtet wurde und dies der Bundesregierung, der Koalition und mir zudiktiert wird, von mir mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen wird.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung.
Wer dem Einzelplan 07, Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 07 ist angenommen.
Wer dem Einzelplan 19, Bundesverfassungsgericht, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 19 ist angenommen.
Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Nikkels zur Abgabe einer Erklärung nach § 32 unserer Geschäftsordnung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Riedl hat die Fraktion der GRÜNEN in der Debatte um den Haushalt des Inneren in die Nähe von Terrorismus und organisiertem Verbrechen gerückt. In einer Zwischenfrage hat wenig später der Abgeordnete Pfeffermann die Unterstellungen von Herrn Riedl zu untermauern versucht, indem er die Nominierung von Gerald Klöpper zum Berliner Abgeordnetenhaus erwähnte. Dazu erkläre ich für meine Fraktion:Erstens. Für meine Fraktion weise ich diese ungeheuren Unterstellungen in aller Deutlichkeit zurück. Die GRÜNEN kämpfen leidenschaftlich für die Erneuerung der Gesellschaft. Dabei scheiden gewalttätige Mittel für unsere Politik aus.
Anwürfe wie solche, die wir heute wieder erlebten, im Verein mit Versuchen, die GRÜNEN und Abgeordnete der GRÜNEN in die Nähe des Faschismus zu rücken, tragen zur Demontage und Verunglimpfung der parlamentarischen Demokratie und der von Ihnen immer wieder beschworenen guten parlamentarischen Sitten in diesem Hause bei.
— Dazu komme ich jetzt, mein Herr.Zweitens. Der von der Alternativen Liste Berlin zum Abgeordnetenhaus nominierte Gerald Klöpper hat wegen der Beschuldigung der Teilnahme an einer Entführung eine jahrelange Haftstrafe verbüßt. Die Art, wie er sich jetzt für die Erhaltung demokratischer Rechte und für die Belange von Strafgefangenen einsetzt
— nun hören Sie mir doch zu —, zeigt, daß er terroristische Aktionen als politische Mittel heute eindeutig ablehnt. Wir halten Klöppers Nominierung für eine gute Entscheidung, weil sich in seiner persönlichen Geschichte die Überzeugungskraft gewaltfreier und demokratischer Prinzipien darstellt.
Drittens. Meine Fraktion ist nicht mehr bereit, diese Verunglimpfungen im Parlament hinzunehmen. Wir werden die heutigen schweren Entgleisungen im Ältestenrat und im Präsidium zur Sprache bringen und erwarten von diesen parlamentarischen Gremien, daß sie alles tun, solche Vorgänge für die Zukunft zu verhindern.
Metadaten/Kopzeile:
7676 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der verbundenen Debatte über die Einzelpläne 11, 15 und den Zusatzpunkt 1 fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe auf:
Einzelplan 11
Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 10/2311, 10/2330 —
Berichterstatter: Abgeordnete Sieler Dr. Friedmann
Frau Seiler-Albring Burgmann
Zusatzpunkt 1:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten
— Drucksache 10/2103 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/2401 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Steinhauer
b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/2492 — Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler
Dr. Friedmann
Frau Seiler-Albring
Einzelplan 15
Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit
— Drucksachen 10/2315, 10/2330 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Rossmanith Deres
Dr. Diederich Verheyen (Bielefeld)
Zu den Einzelplänen 11 und 15 liegen Ihnen auf den Drucksachen 10/2477, 10/2428, 10/2429, 10/2430, 10/2481 und 10/2516 Änderungsanträge, zum Zusatzpunkt 1 auf Drucksache 10/2509 ein Entschließungsantrag vor.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Einzelpläne 11
und 15 sowie für den Zusatzpunkt 1 eine verbundene Aussprache von vier Stunden vorgesehen. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?
— Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
— Ja, ich würde sehr gerne mit ganz leiser Stimme sprechen, wenn die Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der CSU mir das heute gestatten.
— Ja, ich schaue Ihnen auch in die Augen, um zu sehen, ob Sie von gestern gelernt haben.
Es ist doch immer ganz interessant, wenn man sich freundschaftlich miteinander rauft.Wir haben heute den dritten Haushalt dieser Bundesregierung, hier insbesondere den des Ministers für Arbeit und Sozialordnung und den des Ministers für Jugend, Familie und Gesundheit, vor uns. Wir alle erinnern uns: Als Herr Blüm antrat, sagte er: Ich bin der Arbeitsminister all derer, die arbeiten, der Arbeitsminister der Behinderten und der Arbeitslosen. — Er versprach, eine Politik für die Schwachen und für die Rentner zu machen.
Meine Damen und Herren, von diesen hohen Ansprüchen ist nichts als Schall und Rauch geblieben, diesen Absichtserklärungen sind schlechte Taten gefolgt.
Die Sozialpolitik ist in dieser Regierung in schlechten Händen. Herr Bundesarbeitsminister, Sie sind am Ende Ihres Lateins.
— Ich werde das gleich nachweisen, Herr Kolb. — Herr Arbeitsminister, Sie sind kein Ritter wider die Arbeitslosigkeit, auch kein Ritter wider den Sozialabbau. Es langt eben doch nur zum Orden wider den tierischen Ernst.
Sehen wir uns an, wie die Bilanz aussieht! Die Arbeitslosigkeit ist weiter gestiegen. Die Armut in diesem Lande hat zugenommen. In der Rentenversicherung wurden neue Löcher aufgerissen. Eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7677
Frau Fuchs
neue Kostenexplosion ist im Gesundheitswesen entstanden.
Leider fällt auch das Urteil über den anderen Ressortminister schlecht aus, der ja für die Sozialhilfe, für die Ausstattung der Kommunen und für das Thema „Pflegebedürftigkeit" zuständig ist.
Aber der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit ist nach wie vor ein Minister im Nebenamt. Als Generalsekretär der CDU ist er weitgehend mit der Diffamierung des politischen Gegners beschäftigt und hat keine Zeit, sich um sein Ressort zu kümmern.
So sieht die Politik dann auch aus.
Meine Damen und Herren, beide Minister versuchen immer wieder, die „Erblast" zur Entschuldigung ihres eigenen Versagens heranzuziehen.
Ich bin gespannt, wie lange sie dieses Argument noch herholen.
Ich sage Ihnen: Beim Regierungswechsel 1982 waren 1,82 Millionen Menschen arbeitslos, in diesem Jahr werden es rund 2,2 Millionen sein.
Im Jahre 1982 waren 22,4 Millionen Menschen beschäftigt, im Jahre 1983 waren es schon 430 000 weniger, und in diesem Jahr wird die Beschäftigtenzahl noch einmal um voraussichtlich 0,6 % zurückgehen. Im September 1982 bezogen 44 % der registrierten Arbeitslosen Arbeitslosengeld, jetzt bekommen kaum mehr als ein Drittel aller registrierten Arbeitslosen Arbeitslosengeld. Ende 1982 betrug die Schwankungsreserve der Rentenversicherung rund 20,6 Milliarden DM, Ende 1983 war das Vermögen schon auf 15 Milliarden DM gesunken, und Ende 1984 werden es noch 11,5 Milliarden DM sein. Das ist die Bilanz dieser neuen Regierung.
1982 gaben die Kommunen für Sozialhilfe insgesamt 16,3 Milliarden DM aus, 1983 waren es schon 17,6 Milliarden DM, und für 1984 wird geschätzt, daß die Sozialhilfe auf ca. 20 Milliarden DM ansteigen wird. Das ist das Ergebnis dieser zweijährigen Regierungsarbeit.
Nimmt man die soziale Sicherung, so haben wir mit sinkenden Zahlen zu rechnen, obwohl die Arbeitslosigkeit insgesamt steigt.Richtig ist — nun freuen Sie sich —, daß auch die sozialliberale Koalition in den letzten zwei Jahren ihrer Regierungszeit mit der Massenarbeitslosigkeit nicht fertiggeworden ist.
Aber dieses lag daran, daß der liberale Regierungspartner seit 1980 jede wirksame Beschäftigungspolitik verhindert hat.
Für mich hat Herr Genscher gestern auf unerträgliche Weise demonstriert, was er von aktiver Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hält.
Leistung müsse sich wieder lohnen, so sagt er. Welcher Hohn gegen jene, die Arbeit suchen und keine finden!
Ihnen wird gesagt, die Ergänzungsabgabe sei eine Neidsteuer. Herr Genscher, Sie, Herr FDP-Vorsitzender, haben aus meiner Sicht ein eigentümliches Verhältnis zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes, wenn Sie es ablehnen, die Folgen der Arbeitslosigkeit solidarisch tragen zu lassen.
Als Sie, Herr Arbeitsminister, Ihr Amt antraten, war die Rentenversicherung von der Arbeitsmarktentwicklung unabhängiger. Das Risiko Arbeitslosigkeit hatten wir dort angesiedelt, wo es hingehört, nämlich in der Arbeitslosenversicherung. Für uns stand außer Zweifel, daß die Finanzierung der Arbeitslosigkeit nicht allein den Arbeitnehmern aufgebürdet werden darf.
Es ist Ihr zweifelhaftes Verdienst, Herr Bundesarbeitsminister und Herr Geißler, daß Sie die Rückentwicklung des Sozialstaates eingeleitet haben. Wir wissen und haben immer wieder nachgewiesen, daß die Rückentwicklung des Sozialstaates auch ökonomisch falsch ist. Und wenn Sie mir das nicht glauben, meine Damen und Herren von der CDU, lesen Sie doch mal, Herr Kolb, mit großem Interesse die Beilage zum „Parlament" der letzten Woche nach, in der Jochen Struwe einen eindrucksvollen Aufsatz
zu dem Thema schreibt: „Sozialpolitik als Wachstumsquelle."
Vielleicht können wir in der nächsten Debatte daraus gemeinsam die richtigen Konsequenzen ziehen.
Metadaten/Kopzeile:
7678 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Frau Fuchs
Sie wissen, Herr Bundesarbeitsminister, daß Sie die Kürzung der Rentenversicherungsbeiträge von der Bundesanstalt an die Rentenversicherung zu verantworten haben und daß dieses Ihr schwerwiegender politischer Fehler war.
Das müßte Ihnen eigentlich inzwischen klargeworden sein; denn die Löcher, die Sie mit der Halbierung der Rentenversicherungsbeiträge aufgerissen haben, können Sie in der Rentenversicherung selbst nicht wieder schließen. Lesen Sie doch nach, was heute in der „Süddeutschen Zeitung" steht! Da steht etwas von der Rente auf Pump, und sie wird nicht nur in diesem Monat auf Pump gezahlt, sondern wir haben damit zu rechnen, daß sich dieses Spiel im nächsten Jahr wiederholt, weil Sie bei Ihrem Fehler bleiben
und weiterhin die Kürzung der Beiträge von der Bundesanstalt an die Rentenversicherung nicht rückgängig machen.
Es ist Ihr Verdienst, Herr Arbeitsminister Blüm, daß die Renten erstmals in der deutschen Sozialgeschichte auf Pump ausgezahlt werden,
und Ihre jetzige Beitragsverschiebung wird dieses nicht wieder rückgängig machen. Es ist der falsche Weg, meine Damen und Herren.
Frau Abgeordnete Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolb?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, ist Ihnen bekannt, daß dann die Bundesanstalt für Arbeit einen Bedarf von 2,2 Milliarden DM gehabt hätte? Möchten Sie das über Beitragserhöhungen bezahlen, oder muß das dann der Finanzminister bezahlen?
Herr Kolb, wir haben Massenarbeitslosigkeit. Diese kostet uns 55 Milliarden DM. Man muß das Risiko der Arbeitslosigkeit dort ansiedeln, wo es entsteht, nämlich in der Bundesanstalt für Arbeit. Es ist richtig und wichtig, daß sich der Staat an der Finanzierung von Massenarbeitslosigkeit beteiligt. Deswegen ist es richtig und wichtig, daß diese Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt werden.
Aber die Folgen dieser Rentenpolitik haben Sie, Herr Bundesarbeitsminister, zu vertreten. Sie haben die Rentenversicherung in Unordnung gebracht.Nun wollen Sie den Rentnern sagen, sie mögen sich doch mit einer Rentenerhöhung von 1 % im nächsten Jahr zufriedengeben.
In Ihren Informationen des Bundesarbeitsministeriums sagen Sie, die finanzielle Sicherung der Renten sei wichtiger als die Rentenerhöhung. Das mag ja sein. Aber wer kann denn für die Rentenfinanzen sorgen? Das können doch nicht die Rentner, Herr Bundesarbeitsminister. Es ist Ihre Aufgabe, zunächst einmal für die Stabilisierung der Rentenfinanzen zu sorgen, um dann auch eine angemessene Rentenanpassung im nächsten Jahr hinzubekommen.
So dumm werden die Rentner nicht sein, daß sie Ihnen diese Verdummungsstrategie abnehmen werden.
Nun sagen Sie, Herr Bundesarbeitsminister, doch Herrn Biedenkopf, die Rentenversicherung sei keine staatliche Veranstaltung, sondern eine Solidargemeinschaft, aus Beiträgen finanziert! Wenn der Staat dazu beiträgt, seine Verpflichtung zu erfüllen, dann können auch die jungen Menschen in die Solidargemeinschaft Rentenversicherung Vertrauen haben. Reden Sie doch bitte einmal mit Herrn Biedenkopf, bevor er in dieser Frage ganz auf FDP-Kurs geht und eine völlig überflüssige Debatte über die Rentenversicherung in dieser Dimension beginnt.
Ich komme zurück und sage noch einmal: Das Hauptproblem ist die Arbeitslosigkeit. Nach dem heutigen Stand werden immer mehr Arbeitslose aus der Arbeitslosenversicherung ausgegrenzt und der Sozialhilfe überlassen. Das ist auch Ihr Verdienst, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Die Arbeitslosenversicherung hat doch die Aufgabe, arbeitslosen Menschen Arbeitslosengeld zu zahlen. Es ist falsch, wenn man die Arbeitslosenversicherung gesundschrumpfen läßt. Die Erinnerung an Weimar sollte uns eine Warnung sein. Ein Gesundschrumpfen der Arbeitslosenversicherung löst keine Beschäftigungsprobleme, erhöht aber die Armut und gefährdet den sozialen Frieden.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7679Frau Fuchs
Ich will Ihnen gern zugeben, daß der eine Punkt in Ordnung ist, daß die älteren Arbeitslosen länger Arbeitslosengeld bekommen.
Aber das wird vorwiegend von jenen Arbeitslosen bezahlt, die aus persönlichen Gründen ihren Arbeitsplatz aufgeben und über die Sie eine Sperrfrist von drei Monaten verhängt haben;
eine eigenartige Einstellung zum Solidar- und Versicherungssystem.
Sie belegen diese Menschen mit einer Sperrfrist von drei Monaten.Deswegen sage ich zusammengefaßt: Für Sie bleibt Massenarbeitslosigkeit in den 80er Jahren festgeschrieben. Sie nehmen sie in Kauf.
Für Sie ist Arbeitslosigkeit die Restgröße wirtschaftlichen Handelns. Deswegen tun Sie auch nichts, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Deswegen sind Sie auch nicht in der Lage, die sozialen Sicherungssysteme vernünftig in Ordnung zu bringen.Was Sie darüber hinaus tun, ist, Arbeitnehmerrechte einzuschränken, mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz, das wir ein Entlassungsförderungsgesetz nennen,
Schutzrechte der Arbeitnehmer abzubauen. Das halten wir für ungehörig; denn Arbeitnehmerrechte sind dazu da, daß man in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Schutz hat vor der Willkür der Unternehmer und nicht ohne Rechte dasteht.
— Ja, ja, Sie wollen das. Ich habe das gestern bei der sogenannten Elefantendebatte genau gemerkt. Auch Sozialpolitiker aus der Regierungskoalition müssen das zugeben.Sie sind froh über die wirtschaftliche Entwicklung. Nur leider — wie Sie hinnehmend sagen — ist die Arbeitslosigkeit noch so hoch. Aber Sie tun nichts zu ihrer Bekämpfung. Sie machen sich nicht die Konsequenzen ihrer Finanzierung klar, sondern Sie lassen alles laufen und tun obendrein noch so, als ob das ein positives Ergebnis Ihrer Politik wäre. Sie wollen die Zweidrittelgesellschaft wie in England und in den Vereinigten Staaten.
Lassen Sie sich die Warnung der Bischöfe in Amerika gesagt sein, Herr Bundesarbeitsminister.
Nun kommt ein interessanter Punkt. Ich habe dem Herrn Bundeskanzler gestern aufmerksam zugehört. Er möchte gern, daß die Welt heil sei, und er möchte gern, daß die Menschen in diesem unserem Lande mit dieser seiner Wende glücklich nach Hause gehen. Aber wie ist es denn? All die Sorgen, die gestern von uns vorgetragen wurden, die Veränderungen in den Familien, die schlechtere Situation durch Kürzung der Sozialleistungen, die Sie vorgenommen haben, hat er so abgetan, als ob das nur eine sozialistische Verelendungspropaganda sei.
Meine Damen und Herren, ich habe gar nicht gewußt, daß es so viele Sozialisten in diesem Lande gibt. Die Familienverbände, die Frauenräte, die Gewerkschaften, die Kommunen, sie alle unterliegen einer „sozialistischen Verelendungspropaganda", wenn sie anprangern, was Sie in unserem Sozialstaat in zwei Jahren kaputtgemacht haben.
Ich rate dem Bundeskanzler, er soll aufhören, wie Hans-guck-in-die-Luft in der Gegend herumzulaufen und auf diese Weise die Probleme zu verdrängen.
Es wird zu Weihnachten interessant. Die Arbeitnehmer, die bis zu 5 200 DM verdienen, bekommen weniger Weihnachtsgeld, weil ihr Weihnachtsgeld in die Sozialversicherungspflicht einbezogen wurde. Aber diejenigen, die mehr als 5 200 DM verdienen, bekommen ihre Zwangsanleihe zurück. Christdemokratische Weihnacht, meine Damen und Herren!
Nun hätte man meinen sollen, der Bundesarbeitsminister hätte wenigstens auf irgendeinem anderen Feld Erfolg. Man sollte meinen, er sei wenigstens mit der Gesundheitspolitik ein bißchen vorangekommen. Ganz mutig und ganz tapfer hat er gesagt: Ich mache ein Krankenhausfinanzierungsgesetz, und dieses Krankenhausfinanzierungsgesetz wird einen Beitrag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen leisten. — Weit gefehlt. Erst hat Herr Blüm zugestimmt, daß die Mischfinanzierung aufgegeben wird. Damit hat er den Trumpf in diesem Kartenspiel aus der Hand gegeben.
7680 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Frau Fuchs
Dann wundert er sich, daß ein Konzept zustande kommt, das mit den Konzepten, die wir eigentlich gemeinsam haben, überhaupt nichts mehr zu tun hat.
Dies ist das Waterloo des Bundesarbeitsministers. Ich würde sagen, Waterloo liegt in Bonn, und Napoleon heißt mit Vornamen Norbert.
Abbau der Mischfinanzierung, keine Beteiligung der Krankenkassen, ein angeblich weisungsunabhängiger Landesbeamter soll die Pflegesatzentscheidung treffen. — Nein, meine Damen und Herren, auch die Kostendämpfungspolitik dieses Ministers ist am Ende. Denn wie will er eigentlich die anderen Beteiligten am Gesundheitswesen zusammenholen, um Kostendämpfungspolitik zu machen, wenn er nicht in der Lage ist, den Krankenhausbereich in Ordnung zu halten?
Nun können Sie sagen: Ihr habt es auch nicht geschafft. — Wir hatten keine Mehrheit im Bundesrat.
— Ja, richtig. Im übrigen hat der Bundesarbeitsminister ganz stolz und kühn verkündet, er werde ein Krankenhausfinanzierungsgesetz machen, das den Krankenkassen mehr Einfluß gibt.
Alles, was dabei herausgekommen ist, ist, daß die private Krankenversicherung mit am Verhandlungstisch sitzt. Das hat Herr Blüm der FDP zuliebe auch noch tun müssen. Es ist wirklich ein Debakel, das der Herr Bundesarbeitsminister in Kauf nehmen muß.
Wer nun glaubt, daß der für Sozialhilfe zuständige Kollege Perspektive brächte, der hat sich getäuscht. Ich glaube, der Herr Bundesminister-Generalsekretär merkt gar nicht, wie die Kommunen unter der Last der Sozialhilfe stöhnen.
Es ist an der Tagesordnung, daß die arbeitslosen Menschen wegen der Kürzungen des Arbeitslosengeldes immer mehr in die Sozialhilfe hineinrutschen. Die Kommunen sind nicht in der Lage, arbeitsplatzschaffende Investitionen zu tätigen. Aber der Familienminister hat eine Zauberformel erfunden. Er senkt die Leistungen der Sozialhilfe undmeint, wenn weniger Menschen anspruchsberechtigt seien, dann gebe es auch weniger Armut. So hat er die von ihm entfachte „neue soziale Frage" für sich gelöst.Es wird Zeit, Herr Geißler, daß Sie sich um die Sozialhilfe, um die Ausstattung der Sozialhilfe,
um die Ausstattung des Warenkorbes kümmern, denn sonst werden Sie nicht fertig mit den berechtigten Protesten derjenigen, die mit Menschen arbeiten müssen, die sich in sozialer Not an die Sozialhilfe wenden.Wir erwarten von Ihnen, Frau Kollegin, daß Sie es Ihrem Minister sagen, daß Sie sich endlich zu dem Thema Pflegebedürftigkeit äußern.
Ich weiß, es ist ein schweres Thema; auch wir Sozialdemokraten tun uns schwer damit. Deswegen gebe ich den Kolleginnen und Kollegen der CDU und der anderen Fraktion mit zu bedenken: Es kann doch nicht weiter so bleiben, daß die Kommunen unter der finanziellen Last stöhnen und die alten Menschen am Ende eines langen Erwerbslebens zu Sozialhilfefällen werden. Deswegen ermuntere ich Sie: Lassen Sie uns gemeinsam ein Konzept erarbeiten! Wir fordern den Ausbau ambulanter sozialer Dienste, damit pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können.
Wir fordern die Erleichterung der Pflege durch Angehörige, indem man ihnen ein Pflegegeld zahlt und z. B. die Pflegezeiten in der Alterssicherung anerkennt.
Wir fordern die Verbesserung der Hilfe für kranke und behinderte alte Menschen, damit sie sich selbst besser helfen können. Wir fordern eine finanzielle Struktur für die Heime, so daß die Kommunen diese Dauerlast nicht allein zu tragen haben.
Dies heißt: Wir sind für eine Pflegeversicherung für alle Bürger, damit sich alle Bürger an der Finanzierung dieses Risikos beteiligen.
Wer nun glaubt, nach zwei Jahren sei der Haushalt konsolidiert, die Systeme der sozialen Sicherung in Ordnung gebracht, Perspektiven aufgezeigt, der hat sich getäuscht. Der Haushalt ist nicht konsolidiert, Herr Kolb. Sie haben nur der Rentenversicherung 9 Milliarden DM weggenommen. Das ist der ganze Konsolidierungserfolg. Die Massenarbeitslosigkeit nimmt zu. Wenn Sie so mit Ihren Instrumenten weiterarbeiten, dann werden Sie mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7681
Frau Fuchs
den Folgen der Arbeitslosigkeit bei den Systemen der sozialen Sicherung nicht fertig werden.
Die wirtschaftlichen Daten deuten daraufhin, daß dies alles fortgeschrieben wird.Wer sich in dieser Debatte Perspektiven erwartet hätte, Perspektiven zur Gestaltung unserer Gesellschaft bis ins Jahr 2000 hinein, der sieht sich bitter enttäuscht.
Perspektiven hieße doch, daß man sagt: Vorrang hat Abbau von Arbeitslosigkeit. Dazu müßten Sie wohl ein Konzept vorlegen. Aber Sie tun auf diesem Sektor überhaupt nichts.
Vorrang hätte der Abbau von Arbeitslosigkeit für Männer und Frauen und nicht eine falsche Ideologie der Mütterlichkeit, die die Frauen aus dem Erwerbsleben zurückdrängt.
Perspektive hieße, die Systeme der sozialen Sicherung wetterfest zu machen, Ungerechtigkeit abzubauen, und hieße auch, ein Babyjahr für alle Frauengenerationen, und zwar auch die, die unter schwierigen Bedingungen ihre Kinder großgezogen haben.
— Das tun Sie nicht. Sie verdummen doch die alten Frauen, indem Sie das Babyjahr nur zukünftigen Rentnerinnen anrechnen und die Trümmerfrauen leer ausgehen. Sie können uns nicht vorwerfen, daß wir es nicht gemacht haben. 1972 haben Sie doch verhindert, daß wir den Einstieg in ein Babyjahr gefunden haben.
Angesichts der älteren Bevölkerung wäre eine Perspektive, zum Thema Pflegebedürftigkeit zu kommen.Jetzt erfreue ich Sie, meine Damen und Herren von der CDU, denn ich komme zum Schluß.
Herr Bundesarbeitsminister, mich bedrückt es, daß der notwendige soziale Konsens zur Lösung all dieser drängenden Probleme offensichtlich schwindet. Die Bundesregierung hat aus meiner Sicht schwer gesündigt. Ich habe das eben erläutert. Aber Sie haben auch Ihre Politik ohne die Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgebern gemacht. Sie haben das eherne Gesetz unseres Sozialstaates aufgegeben. Als erster hat dieses der Bundeskanzler aufgegeben, als er sich in der Tarifauseinandersetzungdumm und töricht zu der Arbeitszeitverkürzung äußerte. Leider ist es bei diesem Ausrutscher nicht geblieben. Die jüngsten Vorhaben, meine Damen und Herren, die Sie zum Abbau von Arbeitnehmerschutzrechten vorlegen, werden den sozialen Konsens erschüttern.Herr Bundesarbeitsminister, sind Sie eigentlich noch Vorsitzender der Sozialausschüsse?
Wollen Sie eigentlich zulassen, daß nunmehr mit den Sprecherausschüssen der leitenden Angestellten die Kriegserklärung an die Gewerkschaften ausgegeben wird?
Ich habe heute gehört, daß Sie sich nicht in der Lage sehen, innerhalb Ihrer eigenen Partei solche Ansinnen vom Tisch zu fegen. Sie hätten dabei unsere Unterstützung. Aber ich habe den Eindruck, Sie müssen hier wieder einmal für eine Gruppe kämpfen, die keiner besonderen Vertretung in der Betriebsverfassung bedarf.
Ich weiß nicht, warum Sie sich auch noch diesen Kampf mit den Gewerkschaften zuziehen wollen.
— Ja, ja, jetzt merke ich es. Sie wollen es also.
Es ist für mich interessant, anhand von Zurufen von Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion festzustellen: Sie sind dafür, daß Sprecherausschüsse von leitenden Angestellten in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen werden. — Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das ist ein Datum, mit dem wir nun auch nach draußen politisch argumentieren können.
Herr Bundesarbeitsminister, stellen Sie sich vor Ihre Leute in den Sozialausschüssen, und passen Sie auf, daß Sie nicht noch mehr Konfrontation mit den Gewerkschaften aufnehmen!Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! An politischem Temperament fehlt es Ihnen j a nicht, Frau Fuchs.
Metadaten/Kopzeile:
7682 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. FriedmannSchade, daß Ihr Charme, über den Sie ja auch verfügen, dabei manches Mal ein bißchen zu kurz kommt.
— Ich beanspruche für mich keinen Charme.Ihre Sachargumente, Frau Fuchs, biegen Sie manches Mal ein bißchen hin, und wenn es um den Wahrheitsgehalt Ihrer Argumente geht, dann sehen Sie oft nur die eine Seite der Medaille und nicht die andere.
Sie müßten eigentlich wissen, wovon Sie sprechen, Frau Fuchs.
Sie waren ja längere Zeit Parlamentarische Staatssekretärin bei Herrn Ehrenberg im Bundesministerium für Arbeit,
und Sie waren in der Auslaufphase der alten Regierung auch noch Familienministerin.
Ich darf Sie erinnern, wie das damals war.
Ich erinnere noch: Ende der 60er Jahre hatten wir in der Großen Koalition gemeinsam einen Krankenversicherungsbeitrag der Rentner beschlossen. Sie wußten damals, als Willy Brandt Kanzler wurde, nichts Gescheiteres zu tun, als diesen Beitrag zu streichen.
Hätten Sie es gelassen, wäre die Rentenversicherung nie in diese schwierige Lage gekommen.
Ich erinnere z. B. daran, daß seit 1975 die Hinterbliebenenversorgung neu zu regeln ist. Nichts, aber auch gar nichts haben Sie in dieser Richtung gemacht, und wir können es jetzt ausbaden.
Sie standen gerade gestern hier an diesem Rednerpult, Frau Fuchs,
und haben kritisiert, daß die Rentenerhöhung netto nur 1 % ausmachen würde.
— „Unglaublich", rufen Sie wieder. Ich erinnere Sie an 1978: Da haben Sie null Prozent gewährt, keinen einzigen Pfennig.
Ich erinnere Sie an 1979: Unter Verlassen des Bruttolohnprinzips haben Sie 1979 4,5%
— nach Kassenlage — gewährt, obwohl die Inflationsrate höher war. In den beiden folgenden Jahren haben Sie jeweils 4% gewährt, wieder unter Verlassen des Bruttolohnprinzips, bei wesentlich höheren Preissteigerungsraten.
Nein, Frau Fuchs, das muß dann auch berücksichtigt werden.Ihre Koalition hat nicht nur die Kasse des Staates geplündert, sie hat auch das soziale System an den Baum gefahren.
Herr Kollege Friedmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Egert?
Ich habe nur noch ein paar Minuten, ich habe keine Zeit.
Nein.
Wenn Sie heute hier Norbert Blüm vorhalten wollen, daß er bereit sei, die Auszeichnung des Ordens wider den tierischen Ernst anzunehmen: Es gehört schon einiges dazu angesichts der schwierigen Lage, die er von Ihnen übernommen hat, noch so viel Humor zu behalten, daß man dieser Auszeichnung würdig ist. Ich kann den Minister dazu nur beglückwünschen.
Nun wollen wir einmal kühl und nüchtern über die Zahlen reden. Im Haushaltsausschuß haben Ihre Kollegen behauptet: Ach wie schlimm, der Umfang des Haushalts für Arbeit und Soziales nimmt ab. Er nimmt, gemessen an den Soll-Zahlen, um 4,5 %, gemessen an den Ist-Zahlen, um 1,5 % ab. Das ist natürlich deshalb so, weil ein Zuschuß für Nürnberg, der vorgesehen war, nicht benötigt wurde. Meine Damen und Herren, dieser Haushalt ist doch nur das Kernstück der Sozialpolitik. Da gibt es z. B. noch die Rentenversicherung, die im nächsten Jahr über 160 Milliarden DM an Renten zahlen wird. Da gibt es die Krankenkassen, die über 110 Milliarden DM zahlen müssen. Da gibt es die Nürnberger Anstalt, die über 30 Milliarden DM zahlen wird. Allein diese drei Versicherungssysteme zahlen im nächsten Jahr über 300 Milliarden DM. Das muß man unter dem Gesichtspunkt der Sozialpolitik sehen. Das ist ein Betrag, der höher ist als das Volumen des ganzen Bundeshaushalts. Es liegt doch auf der Hand, daß bei den notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen an solchen Ausgabeblöcken nicht vorbeigegangen werden kann. Dort muß eben angesetzt werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7683
Dr. FriedmannIch erinnere an Ihren Bundeskanzler Helmut Schmidt, der damals in Ihrer Fraktion sagte: Wer die Finanzen konsolidieren will, der muß ins Fleisch hineinschneiden, der darf nicht nur an Symptomen herumkurieren.
— Viel tiefer, Frau Fuchs, hat er gesagt.
Zu deutsch: Helmut Schmidt, den Sie dann verlassen haben, wußte sehr genau, was nötig ist, wenn man die Finanzen wieder in Ordnung bringen will.Sehen wir nun einmal nach Nürnberg. Nürnberg macht in diesem Jahr einen Überschuß von 3,1 Milliarden DM.
— Auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet: Warum denn? Sie werden sagen wollen: weil gekürzt wurde.
Wo haben wir denn das Arbeitslosengeld gekürzt, Herr Egert? Bei den Ledigen! Sie werden doch nicht bestreiten wollen, daß ein Lediger mit weniger Geld auskommen kann als ein verheirateter Familienvater. Sie sind doch sonst immer für soziale Gerechtigkeit. Jetzt schütteln Sie den Kopf, wenn wir nach Familienstand unterscheiden.
Wie war es denn mit dem Kindergeld? Sie wollten doch das Kindergeld querbeet um 20 DM kürzen.
Wir haben es den Beziehern kleiner Einkommen in voller Höhe gelassen. Wir haben bei den Besserverdienenden gekürzt. Jetzt lachen Sie wieder, weil Sie mit Zahlen und Fakten nicht ehrlich umgehen können.
Nürnberg wird also einen Überschuß machen. Wenn Sie über Nürnberg noch mehr wissen wollen: Es sind eben weniger Arbeitslose zu verzeichnen, als wir am Anfang des Jahres unterstellt haben. Die Zahl der Kurzarbeiter ist viel stärker gesunken, als wir geglaubt haben. Herr Egert, lesen Sie einmal die Zahlen.
Sozialpolitik ist nur dann vernünftig, wenn man auch mit Zahlen umgehen kann. Man darf nicht nur fromme Sprüche machen, sondern muß auch mit Zahlen umgehen können.
Angesichts dieser Finanzlage können wir in Nürnberg die Beiträge um 0,2 % senken. Wir könnendas Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer länger bezahlen, nämlich anderthalb Jahre lang.
Auch das ist ein sozialer Gesichtspunkt, Frau Fuchs. Wenn jener, der ein Leben lang Beiträge gezahlt hat, nicht schon nach einem Jahr ausgesteuert wird, wenn er sein Arbeitslosengeld anderthalb Jahre lang bekommt, so ist dies eben sozial. Das können Sie nicht wegdiskutieren.
Mit anderen Worten: Trotz der längeren Zahlung des Arbeitslosengeldes, trotz der Senkung der Beiträge wird Nürnberg im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt fahren können. Es wird kein Zuschuß von seiten des Bundes notwendig sein.Nun kommen Sie mit dem Argument: Nürnberg zahlt weniger Beiträge für die Arbeitslosen an die Rentenversicherung. — Die Überlegung ist einfach die: Der Versicherungsbeitrag bemißt sich nach dem tatsächlichen Einkommen. Das ist eine ganz natürliche Lage. Wer da meint, die Arbeitslosigkeit dürfe sich in der Rentenversicherung nicht niederschlagen — das wollen Sie —, der möchte einfach nur eine illusionäre Welt vortäuschen, die nicht den Tatsachen entspricht. Die bruttolohnbezogene Rente war ganz bewußt so angelegt, daß der Rentner an dem Fortschritt der Wirtschaft und an den Lohnerhöhungen teilnehmen kann.
Die Kehrseite der Medaille ist dann, daß sich eine schlechte Arbeitsmarktlage in der Rente ebenfalls niederschlagen wird.Nürnberg hat im Haushalt z. B. auch Zahlungen, eine dreiviertel Milliarde Mark, für den Vorruhestand. 80 000 sind immerhin darin berücksichtigt — eine Entlastung des Arbeitsmarktes auf freiwilliger Basis.Man kann mit gutem Grund sagen: Auf Grund der Finanzlage ist Nürnberg im nächsten und im übernächsten Jahr nach meiner persönlichen Einschätzung kein Sorgenkind.
Kommen wir zur Rentenversicherung. Es ist richtig, die Renten werden im nächsten Jahr unter dem Strich, d. h. nach Abzug des Krankenkassenbeitrages von weiteren zwei Prozentpunkten, nur um 1 steigen. Das bedauern auch wir. Auch wir würden gern mehr zahlen, aber mehr ist nicht in dieser Kasse. Warum kommt es in der Rentenversicherung denn zu dieser Lage? Da war einmal der Streik, in dessen Folge mehr arbeitsfreie Zeit gewährt wurde
um den Preis niedrigerer Lohnerhöhungen. Niedrigere Löhne bewirken niedrigere Beiträge in denRentenversicherungen. Wir haben die Lage, daß die
Metadaten/Kopzeile:
7684 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. FriedmannArbeitnehmer, die ihre Sicht durchgesetzt haben, eben nicht an die Rentner gedacht haben.
— Das ist wirtschaftlich nicht machbar, aber das war von vornherein klar. Wer dieses Konzept durchsetzt, schadet dem Rentner,
denkt nicht an jenen, der draußen vor der Tür steht. Das ist nicht sozial und rücksichtsvoll.In Nürnberg schlägt sich nieder, daß wir Ausländern, die heimkehren wollen — ich betone: wollen —, ihre Beiträge an die Rentenversicherung zurückzahlen. Niemand soll sagen, dies sei unsozial, wie Sie manches Mal glauben machen wollen. Jener Türke, der mit einer Rückkehrbeihilfe, mit zurückgezahlten Beiträgen heimkommt, ist zu Hause ein reicher Mann.
Der hat oft Sorgen, wie er sich ob seines Wohlstandes vor seinen Mitbürgern schützen kann. Diese Abfindung reicht in aller Regel für eine eigene Existenz und für den Einkauf in die Sozialversicherung in seiner Heimat.
Dies alles schlägt sich in der Rentenversicherung nieder.Ich bezweifle und bestreite auch gar nicht, daß es im nächsten Jahr ganz knapp hergehen wird. Wir müssen den Zuschuß des Bundes vorziehen, der sonst in Monatsraten gezahlt wurde, und wir müssen auch ein Betriebsmitteldarlehen von 5 Milliarden DM vorsehen, das zum Ende des Jahres zurückgezahlt wird. Ich möchte aber hiermit allen Rentnern im Lande erklären, daß ihre Rente nicht gefährdet ist.
Der Bund steht gerade für die Zahlbarkeit der Renten. Die schwierige Lage des nächsten Jahres ist überbrückbar. Sie wird im übernächsten Jahr etwas besser, noch nicht endgültig gut. Es muß hier gesagt werden, daß eine generelle Strukturreform der Rentenversicherung ansteht. Wir werden sie bald in Angriff nehmen müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Nur muß auch dann der Leitgedanke sein: Selbst wenn künftig weniger Arbeitnehmer im Arbeitsleben stehen, so produzieren sie nicht weniger als heute. Dies ist dank der modernen Technik so. Auf dieser Grundlage muß es möglich sein, auch in Zukunft eine auskömmliche gesicherte Rente zu zahlen.
Nun zur Arbeitslosigkeit. Herr Dr. Vogel, der Oppositionsführer, der jetzt nicht da ist, hat gestern behauptet, wir hätten kein Herz für die Arbeitslosen.
Er hat behauptet, wir meinten, sie hätten ihr Schicksal selbst verschuldet.
Wer so argumentiert, Frau Fuchs, argumentiert wie ein Pharisäer.
Die Arbeitslosen stehen uns genauso nahe wie Ihnen. Das dürfen Sie glauben. Arbeitslosigkeit kennt keine parteipolitischen Grenzen. Wer etwas anderes behauptet, verkennt die Lage.
Wollen wir uns doch nichts vormachen, in dieser Arbeitslosigkeit verbirgt sich doch ein Stück Strukturproblematik. Sie haben doch ein Jahrzehnt lang den jungen Leuten weisgemacht, sie sollten studieren, sie sollten auf die Hochschulen gehen. Sie haben sie von praktischen Berufen abgehalten. Heute sind Fachhandwerker nach wie vor gesucht.
Wir haben zu viele Lehrer, wenn Sie wollen: auch Professoren, Herr Professor Soell. Auch zu viele Professoren!
Leute der Praxis fehlen uns. Die Jugendlichen werden jetzt einsichtig. Viele, die auf der Schule ihre Arbeitslosigkeit überbrückt haben, gehen jetzt in einen praktischen Beruf.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Das führt mit zu der im Augenblick starken Nachfrage nach Ausbildungsplätzen. Aber wir wollen auch einmal festhalten: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gab es so viele Ausbildungsplätze wie heute.
Sie suggerieren eine Situation der Verelendung, die so nicht da ist. Sie können offenbar nur gedeihen, wenn Sie im Sumpf rühren, aber Sie können nicht die wirkliche Situation schildern!
Meine Damen und Herren, wir sehen dies nicht so. Wir erbringen auch unsere Beiträge.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7685
Dr. FriedmannIch möchte hier einmal daran erinnern: Unsere Minister und Staatssekretäre sind wiederum bereit, freiwillig die fünfprozentige Kürzung ihres gesamten Einkommens fortzusetzen.
Sie können jetzt wieder lachen, aber es ist eine Geste des guten Willens, für die ich hier „Danke schön" sage.
Dieser Einzelplan 11 ist das Kernstück der Sozialpolitik. Wir sind stolz darauf, daß wir trotz des übernommenen Trümmerhaufens eine solch gute Sozialpolitik machen.
Der beste Weg ist eine gute Wirtschafts- und Finanzpolitik. Da sind wir tatsächlich fachkundig und auf dem richtigen Weg.Schönen Dank, auch soweit Sie mich widerwillig angehört haben.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Haushälter wollte ich zu Beginn natürlich gern etwas zur Struktur des Einzelplanes 11 sagen, der auch in diesem Jahr wieder Spitzenreiter unter den Haushalten ist, aber wegen der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit und angesichts der Tatsache, daß auch noch andere Kollegen meiner Fraktion sprechen wollen, möchte ich gleich zu meinem Thema Arbeitsmarktsituation kommen.
Meine Damen und Herren, nur eine Bemerkung zuvor: Soziale Sicherheit fordert ihren Preis. So sind für die Bundeszuschüsse an die Rentenversicherungsträger im Finanzplan 1984 bis 1988 etwa 175 Milliarden DM vorgesehen.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen von „sozialer Demontage", „sozialem Kahlschlag" zu sprechen, das Bild einer „neuen Armut" an die Wand zu malen, wie die Opposition es tut,
ist als traditionelles haushaltspolitisches Ritual abzubuchen.
— Herr Präsident, ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Frau Abgeordnete läßt keine Zwischenfrage zu. Ich bitte um Nachsicht.
Vor einem Jahr prophezeiten Sie uns eine Zahl von drei Millionen Arbeitslosen.
Bitte fahren Sie fort, Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Diese düstere Prognose ist Gott sei Dank nicht eingetreten, und ich bin sicher, Sie werden darüber nicht traurig sein. Frau Fuchs, Sie hätten hier Gelegenheit gehabt, Ihre Alternativen vorzutragen. Beschäftigungsprogramme, wie wir sie in rauhen Mengen gehabt haben, haben doch nicht das erreicht, was wir alle uns davon versprochen haben.
Sie hatten Strohfeuereffekte, brachten keine Dauerarbeitsplätze, sondern hinterließen Schulden.Es ist gar keine Frage — darum darf man gar nicht herumreden —, daß uns die Situation am Arbeitsmarkt nach wie vor große Sorgen bereitet, aber ein Herr, der Ihrer Fraktion sehr nahesteht, Herr Professor Schiller, erklärte, gefragt, warum er sich um die Rentabilität der Unternehmen sorge:Weil mir als Sozialdemokrat besonders viel an einem hohen Beschäftigungsstand in unserem Lande liegt. Und es ist nun einmal so: Ein Aufschwung, ohne daß in der ersten Phase die Gewinne kräftig steigen, ist undenkbar. Anschließend ziehen dann immer die Löhne und Gehälter nach.Mit diesen Äußerungen wird doch schon deutlich, wer in erster Linie die Verantwortung für die Beschäftigung trägt. Das sind die Tarifparteien. Der Staat kann und wird, wenn er den Grundsatz der Tarifautonomie ernst nimmt — dies tun wir —, nur flankierend eingreifen; er muß allerdings bestimmte benachteiligte Bevölkerungsgruppen bei ihrer Suche nach Arbeitsplätzen unterstützen.Frau Kollegin Fuchs, anläßlich der ersten Lesung des Haushalts 1985 haben Sie mit Recht darauf hingewiesen, es reiche nicht aus, schöne Reden zur Tarifautonomie zu halten und ansonsten ständig Partei für eine Seite zu ergreifen. Wie wahr, kann ich da nur sagen. Hat sich denn die SPD an diesen Grundsatz gehalten? Hat sie sich bei den sogenannten „hardlinern" um Mäßigung bemüht? Wo sind denn die Äußerungen führender Sozialdemokraten geblieben, daß der Leber-Kompromiß auch in seinem Teil Flexibilisierung ohne Wenn und Aber umgesetzt werden soll?
Wer von Ihnen ermahnt denn die IG-Metall, von der Schematisierung der Arbeitszeitverkürzung abzugehen und den tarifpolitischen Kompromiß einzuhalten? Mit der notwendigen Flexibilisierung der Arbeit und des Arbeitslebens muß Ernst gemacht werden. Sonst werden diese Tarifverträge nicht die Zahl der Arbeitsplätze erhöhen, sondern nur neue7686 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Frau Seiler-AlbringImpulse für Rationalisierungsinvestitionen bewirken.Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, an der Wahrheit der alten Bauernregel zweifeln, daß man der Kuh, die man melken will, das Futter nicht entziehen sollte, bleiben wir dabei: Weniger Belastung für die Wirtschaft bedeutet zumindest langfristig eine Chance für die Beschäftigung. Dennoch, meine Damen und Herren, sind die Schwierigkeiten, vor allen Dingen die der geburtenstarken Jahrgänge und die für die Erwerbstätigen, in diesem Lande nicht vorüber. Aber Beschäftigungsprogramme alter Art, Ausbildungsplatzabgabe, zusätzliche Kontrollpflichten und gegebenenfalls eine Übernahmegarantie ausgebildeter Jugendlicher erweisen sich als sozialistische Donnerschläge,
die ausbildungswillige Betriebe nur abschrecken können.Mit über 700 000 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen in diesem Jahr haben Wirtschaft, Handel, Handwerk und freie Berufe einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Jugendlicher geleistet.
Meine Damen und Herren, als der Finanzminister diesen Punkt in seiner Haushaltsrede im September behandelte, kam aus der Fraktion DIE GRÜNEN der Zuruf: „Dummes Zeug!". Dies zeigt eine bemerkenswert unterentwickelte Sensibilität für die Leistungen, die hinter dieser Zahl auf seiten der ausbildenden Betriebe steht.
Zugleich — und das ist natürlich unsere große Sorge — haben wir in diesem Jahr noch eine hohe, viel zu hohe Zahl unversorgter Jugendlicher. Wir haben deshalb auf Drängen meiner Fraktion das Benachteiligtenprogramm aufgestockt und das Bildungsbeihilfenprogramm verbessert und verlängert. Letzteres ist durch seine Kombination des Lernens und Arbeitens — d. h. Teilzeitbeschäftigung und die Möglichkeit, z. B. den Hauptschulabschluß nachzuholen — besonders geeignet, Jugendliche anzusprechen, die für die graue schulische Theorie allein nicht mehr empfänglich sind.Die Schaffung von Ausbildungsplätzen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", die Förderung der Errichtung und des Ausbaus von Ausbildungs-, Fortbildungs- und Umschulungsstätten der gewerblichen Wirtschaft — ebenfalls im Rahmen dieses Programms — sowie Zuschüsse zu den Lehrgangs-und Internatskosten, überbetriebliche Ausbildungsmaßnahmen und die vermehrte Bereitstellung von Ausbildungsplätzen beim Bund — plus 7,5% für dieses Ausbildungsjahr — belegen, daß sich die Bun-desregierung ihrer Verantwortung gegenüber den Jugendlichen sehr wohl bewußt ist.
Meine Damen und Herren, wenngleich die Arbeitslosigkeit von Schulabgängern in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen europäischen Staaten auf Grund des gut funktionierenden dualen Systems weniger ausgeprägt ist, so beunruhigt jedoch die wachsende Zahl arbeitsloser 20- bis 25jähriger. Ist es bisher gelungen, mehr als 80 % der Ausgebildeten zu übernehmen, so stellt sich gerade bei einer Ausbildung über den Bedarf hinaus — und dafür sprechen nach wie vor sehr gute Gründe — die Frage, wie es weitergehen soll. Die Antwort darf unseres Erachtens nicht in der Forderung nach einer Übernahmegarantie ausgebildeter Jugendlicher bestehen. Dies lehnen wir aus guten Gründen ab, weil dies mit Sicherheit der Weg ist, die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft nachhaltig zu torpedieren.
Das von uns beschlossene und von der SPD heftig befehdete Vorruhestandsgesetz bietet hier einen Ausweg. Meine Damen und Herren, ich habe noch im Ohr, wie Frau Fuchs damals gesagt hat, dieses Gesetz locke keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Mittlerweile haben 250 000 potentielle Hunde die Möglichkeit, hinter dem Ofen hervorzukommen — dank der abgeschlossenen Tarifverträge.
Weitere Möglichkeiten, meine Damen und Herren, bestehen im Rahmen des Beschäftigungsförderungsgesetzes. Auch hier ist die Möglichkeit befristeter Arbeitsverträge für jugendliche Arbeitnehmer vorgesehen, die im Anschluß an ihre Berufsausbildung nur vorübergehend weiterbeschäftigt werden können, weil kein unbefristeter Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Ich weiß, daß diese befristeten Verträge der Opposition und den Gewerkschaften ein Dorn im Auge sind. Aber abgesehen davon, daß es immer noch besser ist, einen — wenn auch zunächst befristeten — Arbeitsvertrag zu besitzen, als arbeitslos zu sein, so sind doch Erfahrungen, z. B. in Italien, mit befristeten Ausbildungs- und Arbeitsverträgen positiv. Rund 80 % aller jugendlichen Arbeitnehmer wurden in eine Dauerbeschäftigung übernommen, und dies streben wir auch an.Es würde zu weit führen, im einzelnen auf das umfangreiche Instrumentarium des Arbeitsförderungsgesetzes und die durch die Bundesanstalt für Arbeit durchgeführten Maßnahmen einzugehen. Aber mit den eingesetzten Mitteln für Fortbildung und Umschulung werden wesentliche Voraussetzungen geschaffen, um Arbeitslosigkeit abzubauen. In diesem Zusammenhang spielen auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine sehr wesentliche Rolle. Allerdings wünschen wir da, wo die regionalen und branchenspezifischen Bedingungen es zulassen, daß sich die Träger einer verstärkten Selbstbeteiligung nicht entziehen. Auf keinen Fall sollten — dies ist- leider vorgekommen — im öffentlichen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7687
Frau Seiler-AlbringDienst bestehende Planstellen abgebaut und durch ABM-Kräfte ersetzt werden.Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition sind sich ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitslosen sehr wohl bewußt. Sie hat — dies liegt zur Zeit in den Ausschüssen des Bundestages —ebenfalls eine Differenzierung, d. h. Verlängerung, der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für ältere Arbeitnehmer, die jahrelang in die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, vorgesehen. Dieser Schritt, der auf eine Anregung meines Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick zurückgeht, ist ebenso zu begrüßen wie die von uns langfristig geforderte Überprüfung der Bedürftigkeitskriterien in der Arbeitslosenhilfe. Verbesserungen in diesen Bereichen werden besonders älteren Arbeitslosen, die unverschuldet arbeitslos geworden sind, zugute kommen.Nach unserer Aufassung ist es zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für eine Stärkung der Innovations- und Investitionstätigkeit der Wirtschaft unumgänglich, arbeits- und sozialrechtliche Vorschriften dort flexibler zu gestalten, wo dies zu zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten führen kann. Die Novellierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes war ein erster Schritt. Sie wird dazu beitragen, Schwierigkeiten im Betriebsablauf, die sich aus unterschiedlichen Regelungen für jugendliche Arbeitnehmer und Erwachsene ergeben, zu beseitigen und so leichter betriebliche Ausbildung und Beschäftigung miteinander in Einklang zu bringen.In die gleiche Richtung zielt das Beschäftigungsförderungsgesetz. Mit dem erleichterten Abschluß von befristeten Arbeitsverträgen und auch der Verlängerung der Arbeitnehmerüberlassung sind wir auf dem richtigen Weg.Mit Ihren Feststellungen zum Beschäftigungsförderungsgesetz haben Sie, Herr Dr. Emmerlich — ich sehe Sie leider gerade nicht —, nicht begreifen wollen, daß man nicht nur Politik für Arbeitsbesitzende machen darf, sondern im Interesse der Arbeitsuchenden auch neue Wege beschreiten muß.
Der Arbeitsminister hat Anfang Oktober in 32 Punkten eine respektable Bilanz der Sozial- und Gesellschaftspolitik dieser Regierung vorgelegt. Nichts ist so vollkommen, daß es nicht verbessert werden kann. Wir werden den Minister und die Beamten seines Hauses, denen wir für ihren Einsatz besonders danken wollen, dabei unterstützen, das Notwendige, das nicht immer populär ist, zu tun und unser insgesamt bewährtes soziales Sicherungssystem so zu stabilisieren und zu kurieren, daß es auch langfristig tragfähig ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Dr. Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will ohne alle Umschweife direkt zur Sache kommen. Wenn wir den Pulverdampf verziehen lassen und als Rabatt auch in Rechnung stellen, daß die Opposition in der Versuchung ist, die Lage schlechter darzustellen, als sie ist, und die Regierung in der Versuchung ist, die Lage besser darzustellen, als sie ist, kann man, meine ich, doch sagen: Den Rentnern geht es im allgemeinen gut.
— Doch! Meine Damen und Herren, ich will das j a gar nicht als besondere Leistung herausstellen. Denn die Rentner haben sich ihre Rente selber verdient. Sie müssen niemandem „Danke schön" sagen,
weder der Opposition noch der Regierung. Das ist ihre Leistung. Es ist ja — das wollen wir nicht vergessen — eine Generation, die das meiste von dem mitgemacht hat, was es in diesem Jahrhundert zu erleben gab: zwei Weltkriege, zwei Inflationen, Vertreibung, Flüchtlingselend, Bombennächte. Ich denke, sie haben es in mehrfachem Sinne verdient, daß sie eine ausreichende Rente haben. Sie haben unser Land — wie man in meiner Heimat sagt — für'n Appel und 'n Ei aufgebaut. Sie haben das vollbracht, was andere später das Wirtschaftswunder genannt haben. Das war kein Wunder, das war deren Arbeit.
Damals waren die Untergangspropheten noch nicht Mode. Die Leute haben sich an die Arbeit gemacht. Untergangsprophetie ist ein neuer Spitzensport bei der SPD, wie ich höre. Sie wollen ihn offenbar zum Breitensport machen.
Meine Damen und Herren, ich will ohne parteipolitischen Egoismus erwähnen: An diesem Rentensystem hat eine Generation großer Sozialpolitiker aus allen Parteien mitgewirkt. Ich erinnere an Männer wie Ernst Schellenberg, Ludwig Preller, Anton Storch, Theo Blank, Hans Katzer.Es bleibt dabei: Wir haben das höchste Rentenniveau der Nachkriegszeit, ausgenommen 1977 — damals lag das Niveau für kurze Zeit einige Zehntel Prozentpunkte höher. Wir haben diesen Rentenrekord — das ist ein Rekord — gleichzeitig mit einem Preisstabilitätsrekord. Was kann den Rentnern Besseres blühen? Im nächsten Jahr werden wir trotz niedriger Rentensteigerung nach 45 Versicherungsjahren immer noch ein Rentenniveau von 72,2 % haben. Das ist immer noch über 1 Prozentpunkt mehr als im Jahre 1980, mit dem Sie, die Sozialdemokraten, sich im Wahlkampf mit einem Rentenniveau von 71 % gebrüstet haben.Ich will nicht verschweigen, daß es nicht allen Rentnern gut geht. Aber für die Darstellung eines Katastrophengemäldes gibt es in der Tat keinen7688 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Bundesminister Dr. BlümGrund. Ich habe es nicht so gerne, wenn Katastrophenpolitiker zuerst den Untergang ausmalen, um anschließend als Lebensretter aufzutreten. Das ist eine Politik in Form von Selbsthilfe.Es ist ein Trugschluß, von jeder kleinen Rente auf Armut zu schließen. Kleine Rente heißt noch nicht Armutsrente. Ich nenne Zahlen, damit Sie mich nicht verdächtigen, ich würde schlimme Verhältnisse mit schönen Worten zudecken: 50,7 % der Rentner mit weniger als 600 DM Rente im Monat haben ein Gesamthaushaltsnettoeinkommen von monatlich über 2 000 DM. Mancher Familienvater mit vielen Kindern wäre froh, er könnte mit einem solchen Haushaltseinkommen leben. Ich sage nicht, die Rentner hätten sich das nicht verdient. Ich will nur die Proportionen darstellen. 78,4 %, über drei Viertel, der Kleinrentner mit einer monatlichen Rente unter 600 DM haben ein Gesamthaushaltsnettoeinkommen von über 1 000 DM. Frauen mit einer Rente bis 400 DM monatlich — das sind Kleinrentner — leben überwiegend in Haushalten mit einem Einkommen von 1 600 DM monatlich, Männer mit einem solchen von über 2 000 DM. Das ist der alte Unterschied zwischen Männern und Frauen, der seinen Grund nicht in der Rentenversicherung, sondern in der Lohndiskriminierung der Frauen hat. Dort ist die Wurzel gelegt.Meine Damen und Herren, ich habe heute schlimme Nachrichten von „Rente auf Pump" gehört. Ich will feststellen: Die heutigen Nachrichten aus dem Verband der deutschen Rentenversicherungsträger betrachte ich nicht als sachdienlich. Ich habe mich vor wenigen Stunden mit dem Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Klaus Hoffmann, unterhalten und mich vergewissert, daß es sich am heutigen Tag nicht um eine Kontenüberziehung von 500 Millionen DM handelt, sondern um eine solche von 275 Millionen DM, die am Freitag völlig ausgeglichen sein wird. Das ist sozusagen nur ein Tagesproblem. Ich denke, wir sollten hier gemeinsam für eine Beruhigung sorgen. Wer es anders macht, nimmt keine Rücksicht auf die Gefühle der Rentner. Wer keine Rücksicht auf die Gefühle der Rentner nimmt, sollte nicht soziale Politik für sich beanspruchen.
Ich will darauf aufmerksam machen, daß allein in einer Woche im November 500 Millionen DM an Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen für unsere türkischen Arbeitnehmer geleistet wurden, was ja für die türkischen Arbeitnehmer, die in die Heimat gehen, günstig und für die Rentenversicherung langfristig auch kein Verlust ist.Meine Damen und Herren, unsere soziale Politik heißt Preisstabilität. Die hat ihren Preis. Sie können nicht Sozialleistungen mit Staatsschulden finanzieren und anschließend Preisstabilität erwarten. Das können Sie nicht!
Wer allerdings Preisstabilität — und die ist dergrößte Gewinn für die Rentner — haben will, dermuß Schulden abbauen. Das ist auch ein Beitrag zur Stärkung der Rentensicherheit.Verehrte Frau Kollegin Fuchs, ich war immer ganz gespannt auf Ihr Konzept, darauf, wie Sie es anders machen wollen. Sie haben gesagt, wir hätten sozusagen die Rentenkassen heruntergewirtschaftet. Damit wir es nicht ganz vergessen: Sie selbst haben die Schwankungsreserve von 9 Monaten auf zwei Monate heruntergewirtschaftet. Sie werfen uns vor, wir hätten zuviel gespart. Woher hätten Sie, wenn Sie weniger gespart hätten, eigentlich das Geld genommen? Wir haben der Rentenversicherung durch Einnahmeverbesserungen und Leistungseinschränkungen 87 Milliarden mehr verschafft. Selbst wenn ich das abziehe, was Sie, Frau Kollegin Fuchs, kritisieren, sind es immer noch 60 Milliarden DM. Wie können Sie sich eigentlich über eine „unsolide Rentenpolitik" beschweren, wenn bei Ihnen 60 Milliarden DM weniger in der Kasse wären? Wären Sie am Ruder geblieben, wäre die Rentenversicherung im Keller; sie wäre heute im 13. Stockwerk einer Tiefgarage.
Das ist das Ergebnis einer Politik, die weder Beiträge verbessern noch Ausgaben einschränken wollte. Wissen Sie, das ist wie ein Gesundheitsrezept, das jemand so formuliert: Abnehmen darfst du nicht, aber essen darfst du auch nicht. Ja, was denn nun? Weder Beitragsverbesserungen noch Ausgabenbeschränkungen, das geht nicht.Frau Kollegin Fuchs, Sie nennen mich „Napoleon Norbert". Da bin ich j a ganz stolz, denn wer hätte das nicht gern?
Das hilft meinem Selbstbewußtsein. Und Waterloo? Da kann ich nur sagen, verehrte Frau Kollegin Fuchs, mir ist bei Ihrem Vortrag eingefallen: Kassandra wohnt in Bonn, ihr Vornahme ist Anke.
Meine Damen und Herren, wenn über Lohnerhöhungen und Rentenerhöhungen im nächsten Jahr gesprochen wird, müssen wir, denke ich, darauf aufmerksam machen, daß Lohn- und Rentenerhöhungen nie identisch sind, denn die Renten werden doch nicht entsprechend den Löhnen des gleichen Jahres, sondern entsprechend denen der vorausgehenden Jahre angepaßt. Den Rückstand von drei Jahren haben wir ja schon verkürzt. So einen Abstand wie 1970 wird es bei uns nicht geben. Um darauf noch einmal hinzuweisen: 1970 gab es — und meines Wissens haben Sie damals regiert — 6,35% Rentenerhöhung und 15,3% Lohnerhöhung, 1971 5,5 % Rentenerhöhung und 11,3 % Lohnerhöhung. Identisch ist das nie, weil die Renten j a an die Löhne der vorhergehenden Zeit angepaßt werden. Da kann das nicht völlig deckungsgleich sein.Lassen Sie mich auch etwas zum Krankenversicherungsbeitrag der Rentner sagen. Wir erheben ihn jetzt mit 5%; die Rentner tragen mit 5 % ihrer Rente zu ihrer Krankenversicherung bei. WissenDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7689Bundesminister Dr. BlümSie, was die Krankenversicherung der Rentner kostet? Das sage ich nicht als Vorwurf, sondern nur, um es darzustellen: 42,9 Milliarden DM. Und wissen Sie, wieviel diese 5 % ausmachen? 6 Milliarden DM, das sind genau 13,9 %. Den Rest zahlen die Jungen. Den sollen sie auch zahlen, den müssen sie auch zahlen. Aber ich bleibe dabei: Man kann auch von den älteren Mitbürgern ein Stück Solidarität mit den jungen erwarten, denn auch deren Beitragsbelastung muß unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten geprüft werden.
Auch hier will ich noch einmal auf die Proportionen aufmerksam machen. Von 537 Milliarden DM unseres Sozialbudgets — bezogen auf 1983 — werden 208 Milliarden DM für Alters- und Hinterbliebenenversorgung in Anspruch genommen. Wissen Sie, wieviel für Familien und Kinder? Über 200 Milliarden DM für Alterssicherung und Hinterbliebene, für Ehe und Familie 66,8 Milliarden DM. 38% für die Alten — das sei ihnen gegönnt —, aber nur 12 % für die kinderreichen Familien. Das gehört zur Wahrheit, und das muß man öffentlich sagen. Unser Sozialsystem ist aus dem Gleichgewicht, es braucht eine neue Balance. Die Lastträger der Nation können nicht die kinderreichen Familien sein, die im übrigen auch dafür sorgen, daß es übermorgen noch Beitragszahler gibt.
Beides geht nicht — auch das zur Ehrlichkeit —: Wir können nicht Rekordrentensteigerung und einen großen Aufbruch in der Familienpolitik gleichzeitig bezahlen. Das geht nicht. Ich will keinen Besitzstand für Rentner kürzen, aber der Zuwachs wird geringer sein, als er in der Vergangenheit gewesen ist. Ich denke, daß gerade unsere älteren Mitbürger Ehrlichkeit zu schätzen wissen. Zu lange ist Rentenpolitik mit Illusionen gemacht worden. Ich glaube, Ehrlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung auch für Vertrauen in die Rentenpolitik. Wenn ich mehr Geld hätte und wir nicht Schulden abzuzahlen hätten, würde ich mir auch mehr Geld für die Alterssicherung wünschen. Aber wenn ich es übrig hätte, würde ich es nicht mit der Gießkanne über Steigerungssätze ausgeben.Frau Fuchs, micht schmerzt — das will ich ehrlich hier zu Protokoll geben —, daß wir zwar Erziehungszeiten im Rentenrecht einführen, aber daß wir es nicht für alle machen können, daß wir nicht hundert Jahre Unrecht wettmachen können, daß wir eine Grenze ziehen müssen. Wenn ich Geld zuviel hätte, würde ich das für jene Generation ausgeben. Wenn schon mehr Geld ausgegeben wird, dann für jene Mütter, an denen die Einführung der Erziehungszeiten vorübergeht.
Da appelliere ich wiederum an die älteren Mitbürgerinnen: 100 Jahre hat es Unrecht gegeben. Irgendwann müssen wir einmal anfangen, neues Recht, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, und wenn wir es nicht für die ganze Vergangenheit schaffen, dannlaßt uns heute anfangen, damit das Unrecht in der Zukunft beseitigt ist!
Im übrigen: Kommen Sie bitte mal von Ihrem hohen Roß runter: Ihr Babyjahr, 1971/72 diskutiert, vorgeschlagen, war auch nur für die Zukunft, und es war nur für jenen Teil der Frauen, die 15 Jahre Versicherungsbeitrag geleistet hatten. Also erstens Ausschluß der Vergangenheit, zweitens wurde für die Zukunft nochmal jemand ausgeschlossen, und drittens haben Sie es nicht wie wir organisiert, für jedes Kind dasselbe Geld, sondern von der Rentenhöhe abhängig gemacht: kleine Rentnerinnen — kleines Baby, große Rentnerinnen, großes Baby, von 2,50 DM bis 50 DM. Das war Ihr Babyjahr.
Das sollte von der Rentenversicherung bezahlt werden, und das hätte uns jetzt 18 Milliarden DM gekostet. Den Hauptnachteil Ihres Babyjahres habe ich ganz vergessen. Das ist ein Nachteil, den viele Ihrer Vorschläge tragen: Sie haben immer nur darüber gesprochen, gemacht haben Sie es nicht. Wir tun es.
Meine Damen und Herren, ich will auch den zweiten Punkt von Frau Fuchs hier aufgreifen: Arbeitslosigkeit. Das muß uns alle bedrängen. Als Lehrmeister, Rezeptgeber ist mein Vertrauen zu Ihnen relativ gering. Eine Regierung, die in 13 Jahren die Arbeitslosigkeit um 1700% gesteigert hat, scheidet eigentlich aus, uns Vorschläge zu machen. Sie haben doch in der Abbruchfirma gearbeitet und tun heute so, als hätten Sie den Kölner Dom erbaut.
Wir haben das Arbeitslosengeld für die älteren Arbeitslosen verlängert. Ich freue mich, daß Sie dem zustimmen.
Nur habe ich Ihr Rechenkunststück nicht kapiert. Sie haben gesagt, die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für die älteren Arbeitnehmer würden wir durch Einführung verlängerter Sperrzeit bezahlen. Die Rechnung verstehe ich nicht. Sie brauchen nicht zu gähnen, es ist ganz spannend. Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes kostet 1 Milliarde DM, die Sperrzeiten bringen 250 Millionen DM.
Das ist eine Treffsicherheit von minus 400 %, kann ich nur sagen. So sind Ihre Rechnungen!Meine Damen und Herren, ganz kurz: Ich will hier keine Erfolgsmeldungen verkünden.
— Nein, ich will keine Erfolgsmeldungen verkünden. Bei 2 Millionen Arbeitslosen kann man hiernicht so tun, als seien alle Probleme gelöst. Aber
Metadaten/Kopzeile:
7690 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. Blümandererseits wehre ich mich dagegen, daß so getan wird, als gebe es nicht einen Lichtschimmer am Ende des Tunnels. Verbreiten Sie doch nicht diesen Pessimismus! Wir können es schaffen, wenn wir zusammenstehen, wenn wir eine Politik des wirtschaftlichen Aufschwungs betreiben. Sie haben sich doch mit einem Minuswachstum — so haben Sie das damals genannt — von 1,1 % verabschiedet. Wir haben wieder ein Plus beim Wirtschaftswachstum. Wir schätzen 21/2 bis 3%. Mit Ihrem neuen Bündnispartner werden Sie die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß, wenn Sie die Ford-Werke, wie im Kommunalwahlkampf in Köln vorgeschlagen, auf Fahrradproduktion umstellen und dann Vollbeschäftigung herstellen wollen.
Die saisonbereinigte Zahl der Arbeitslosen hat im Oktober um 20 000 abgenommen. Offene Stellen seit Jahresbeginn 1,2 Millionen mehr; Vermittlung 12,8 %; Kurzarbeit um 45,2 % zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote der Jugendlichen liegt unter der Arbeitslosenquote der Erwachsenen, zum erstenmal seit langer Zeit. Nie gab es bei der Bundesanstalt mehr Arbeitsmarktmaßnahmen als in diesem Jahr. Da reden Sie dauernd von Kürzen, Sparen, davon, was wir alle für Unmenschen seien. Nie gab es mehr Arbeitsmarktmaßnahmen. 27 % mehr als in Ihrem Regierungsjahr 1982.
Vorruhestand: Das ist der große tarifpolitische Renner der Saison. Nur kein Neid. Den haben wir verwirklicht. Wissen Sie, ich will die Gelegenheit doch nutzen, einiges klarzustellen; denn ich mußte meine Augen dreimal reiben, um zu sehen, was die IG Metall, meine Gewerkschaft, wieder einmal verbreitet hat. Ich habe keine andere Möglichkeit, als meinen Kollegen zu sagen: Glaubt dieser Zeitung nicht mehr; sie betreibt Arbeiterverdummung. Das sage ich hier von dem Rednerpult des Deutschen Bundestages aus.
Da werden Fälle dargestellt, in denen die Arbeitgeber den Vorruhestandsantrag der Arbeitnehmer ablehnen. Daran bin ich doch nicht schuld. Die IG Metall hat keinen Tarifvertrag mit einem ordentlichen Vorruhestand zustande gebracht. Ich bin doch nicht für das tarifpolitische Versagen der IG Metall zuständig. Die können das doch nicht mir in die Schuhe schieben. Die sollen sich einmal bei den Kollegen Döding, Keller, Rappe und Schmidt erkundigen, wie man das macht.
Die sollten in Ihrer Schule in Sprockhövel abends vielleicht auch nicht um das ideologische Lagerfeuer herum sitzen, sondern sollten lernen, wie man handfeste Tarifverträge macht. Das wird den Arbeitnehmern vielleicht besser helfen.
Erst giften sie gegen den Vorruhestand, nennen es Gesinnungslumperei, und anschließend beschweren sie sich, daß der Bundesarbeitsminister nicht nachts dem Vorstand den Vorruhestand auf dem Tablett aufs Bett legt.
Was ist das eigentlich für eine Art?Dritter Punkt — in aller Kürze —: Krankenversicherung. Es ist richtig: Wir müssen verhindern, daß die Krankenversicherung zum Selbstbedienungsladen aller Beteiligten wird. Unsere Politik ist es, den Krankenkassen den Rücken zu stärken. 200 Milliarden DM im Gesundheitssystem sind genug. Auch der medizinische Fortschritt muß aus diesem Faß bezahlt werden. Ärzte, Pharmaindustrie, Krankenhaus, Versicherte, alle müssen sich umstellen. Und wenn es mehr Ärzte gibt, muß man wissen, daß eine nachdrängende Arztgeneration nicht mehr die gleichen Einkommen haben kann. Das ist nun einmal in der Marktwirtschaft so. Knappheit bestimmt den Preis. Das muß man auch sagen, damit nicht Erwartungen erzeugt werden, die die Krankenversicherung mit Sicherheit nicht erfüllen kann.Ich bin auch sicher: Die Krankenversicherung ist nicht für jedes Wehwehchen und für jeden Sonderwunsch zuständig. Was mit Pflichtbeiträgen bezahlt wird, muß im Zaum gehalten werden, damit wir das Geld haben. Das einzige Tabu nämlich, das für mich gilt, heißt: dem Kranken muß geholfen werden. Das ist das einzige Tabu, das es gibt.Nun zur Krankenhausfinanzierung. Wir halten den Fahrplan ein. Wir haben uns geeinigt. Ich stehe auch hier nicht vor Ihnen und sage, da ist ein Wunderkind von Krankenhausgesetz geboren worden. Mit den Wundern muß man in der Politik sowieso ein bißchen vorsichtig sein. Sie haben ja bei jeder Maßnahme gleich eine große Reform verkündet. Bei Ihnen ist eine Blinddarmoperation schon eine große innere Reform gewesen.
Ich bleibe dabei: Das ist ein brauchbarer Fortschritt für das Krankenhaus mit Instrumenten der Kostendämpfung. Ich sehe große Chancen, daß in der Schiedsstelle, die wir geschaffen haben, auch eine Gleichheit der Verhandlungspartner besteht, daß Gewinn und Verlust gemacht werden kann. Das ist doch auch eine alte Erfahrung: Wer nicht Gewinn und Verlust machen kann, steht auch nicht unter Spardruck. Ein automatischer Ausgleich entspricht einer Erstattungsmentalität: Da kannst du dich auf der Chaiselongue niederlassen und warten, bis dir die Rechnungen vorgelegt werden. Vorauskalkulierte Selbstkosten machen die Selbstkosten gestaltbar und damit auch verhandelbar.Dieses Krankenhausgesetz bietet neue Instrumente. Ich warne davor, die Instrumente, bevor sie überhaupt ausgepackt sind, schon als untauglich zu bezeichnen. Ich hoffe, daß alle Beteiligten nicht nur auf Gesetze, Paragraphen, Bürokratie und Überwachung warten, sondern daß wir aus Einsicht und freiwilliger Solidarität die Kosten in Schach und Proportionen halten.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7691Bundesminister Dr. BlümAuch das gehört zur Gerechtigkeit, nicht nur die Ausgaben für die Patienten, sondern auch die Lasten der Beitragzahler im Blick zu haben. Denn Beitragzahler und Patienten, das sind dieselben Menschen.Ein paar Bemerkungen zu dem Opferentschädigungsgesetz, das heute, wie ich hoffe, hier einvernehmlich beschlossen wird. Es ist gut, daß wir in der Sozialpolitik nicht nur kontroverse Themen behandeln, sondern auch zur Übereinstimmung bereit und fähig sind. Ich glaube, daß es ein Fortschritt ist. Für die Betroffenen ist es relativ belanglos, ob sie ihr Schicksal mit einer Million oder nur mit 500 teilen. Den notleidenden Betroffenen muß geholfen werden.Ich sehe schon eine Schlagseite unseres Rechtsstaates: Er kümmert sich mehr um die Resozialisierung der Täter als um die Hilfe für die Opfer. Ich bin nicht gegen die Resozialisierung der Täter, aber zu dem Rechtsstaat, wie ich ihn mir vorstelle, gehört auch die Aufmerksamkeit für die Opfer von Gewalttaten. Wenn ich manchen spektakulär aufgemachten Bericht über ein Verbrechen lese, dann steht der Verbrecher im Mittelpunkt, aber um den angeschossenen Polizisten kümmert sich niemand mehr. Ich hoffe, daß unser Opferentschädigungsgesetz einen Beitrag dazu leisten kann, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen.Ich will meinen Beitrag schließen. Wenn wir die Preissteigerung auf weniger als 3 % gedrückt haben, dann ist das für die Arbeitnehmer 20 Milliarden DM mehr Kaufkraft, für die Rentner 7 Milliarden DM, und die Sparer sind von einem Verlust von 16 Milliarden DM verschont geblieben.Ein erfolgreicher Stabilitätskurs — das ist auch eine Erfahrung aus der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik —, ein Kurs, der die Kaufkraft der D-Mark stärkt, kommt letztlich gerade auch den Arbeitnehmerhaushalten mehr zugute als eine Politik, die mehr verteilen will, als produziert wird.Jetzt sollten Sie klatschen, meine Damen und Herren von der SPD. Sie haben nämlich vor drei Jahren, am 16. September 1981, zu dieser Aussage des geschätzten Kollegen Matthöfer stürmischen Beifall geklatscht, ausweislich des Protokolls.
Meine Damen und Herren, wir haben im Sozialhaushalt 1983 10,2 Milliarden DM gespart, 1984 4,8 Milliarden DM. Das ist uns nicht leichtgefallen. Trotzdem sind diese Sparmaßnahmen nur ein Viertel des Geldes, das wir ausgeben müssen, um die Zinsen für die Schulden zu bezahlen, die Sie uns hinterlassen haben. Es mag Sie langweilen: ich rede so lange von der Erblast, bis diese Hinterlassenschaft abgebaut ist.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm will so lange von der Erblast reden, bis allen klargeworden ist, um welche Erblast es sich handelt.
Ich habe den Eindruck, daß wir immer mehr von seiner Erblast sprechen müssen; sie setzt nämlich jetzt schon ein.
„Dumm" ist ja unparlamentarisch, aber allmählich wird es stumpfsinnig, sich diese Argumente anzuhören.
— Das kann ich mit vorstellen. Ich meine, dies ist stumpfsinnig und nur der Ausdruck eines schlechten Gewissens.
Meine Damen und Herren, wenn ich Bundeskanzler dieser Regierung wäre, dann würde ich den Kollegen Blüm als Arbeitsminister abberufen, und ich würde ihn zum Pressesprecher der Bundesregierung machen,
zu einem Mann, der die Propaganda dieser Regierung vorantreibt und sie in die Köpfe der Menschen einhämmert, die Propaganda, die die Köpfe der Menschen vernebelt.
— Wissen Sie, ich habe etwas dagegen, wenn jemand sagt, er trage hier ständig die Wahrheit vor, und das, was er sagt, just das Gegenteil von Wahrheit ist.
Diese Art der Auseinandersetzung hat sich Herr Blüm selbst zuzuschreiben.
Ich wiederhole, daß das, was Herr Blüm seit Jahr und Tag seit der Wende hier vorträgt, der Versuch ist, aus Exkrementen der Sozialpolitik Gold zu machen.
Ich habe versucht, dies zu umschreiben. Man könnte dies auch anders bezeichnen, aber wir bleiben ja vornehm im Umgang miteinander.Meine Damen und Herren, trotz allem ist das, was wir heute von Herrn Blüm gehört haben, j a nicht mehr ganz so selbstbewußt im Gegensatz zu früheren Auftritten. Er selbst merkt nämlich, daß seine Art von Sozialpolitik inzwischen von den Menschen draußen bemerkt wird. Das heißt, man fällt darauf nicht mehr ohne weiteres herein.
7692 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984GlombigDie Presse ist nicht mehr bereit, ihm zuzujubeln, sondern begleitet ihn mit entsprechender Kritik; ich finde, dies ist in Ordnung.Nun haben wir heute allerdings ein Erlebnis gehabt — dies hat mich sehr erstaunt —, nämlich den Auftritt von Herrn Friedmann. Bei Herrn Friedmann hat eigentlich das schlechte Gewissen heute zum ersten Mal geschlagen. Wenn bei Herrn Friedmann das schlechte Gewissen schlägt, dann wird er aufgeregt, dann wird er nervös. Ich habe ihn hier immer als souverän in der Darstellung seiner Beiträge erlebt, fast wie ausgelernt. Mir hat das außerordentlich imponiert, muß ich sagen. Heute hat ihn das, was die Kollegin Fuchs gesagt hat, schwer getroffen.
— Ich kann ihm das überhaupt nicht verdenken. Wenn man nicht mehr so glatt reden kann, wird man nervös.Nun will ich nur auf ein Argument von Herrn Friedmann eingehen — es ist das letzte Mal auch von Herrn Arbeitsminister Blüm gebracht worden —, nämlich darauf, daß die Renten sicher seien, d. h. daß sie garantiert seien, daß niemand Angst zu haben braucht, daß er seine Rente nicht bekommt. Da kann ich nur sagen: Dies wäre ja wohl auch noch schöner!
Darauf stolz zu sein, finde ich schon sehr merkwürdig.
Lassen Sie mich aus der „Süddeutschen Zeitung" von heute zitieren. Wenn ich dies hier sagen wollte, könnte das von jemand anderem vielleicht als lauter Propaganda ausgelegt werden. Da stehen einige nette Sachen drin, Sie sollten sich das einmal durchlesen. Da heißt es:Die große Liquiditätslücke dieser Tage ist ein Alarmsignal für die Rentenpolitik, nicht für die Rentner; für sie wird das Kassenproblem keine Folgen haben. Auf dem Spiel steht aber das Vertrauen in ein Alterssicherungssystem, dessen Handlungsspielraum so sehr von politischen Interessen beschnitten wird. Wie peinlich der Koalition die Kreditgeschäfte der Rentenversicherung sind, zeigt sich daran, daß bereits abgesprochen ist, derartiges im nächsten Jahr nicht mehr passieren zu lassen. An die Stelle der Banken wird dann der Bund selber als Darlehensgeber treten. Renten auf Pump wird es noch für einige Zeit geben, von 1985 an allerdings heimlich, still und leise.
Meine Damen und Herren, diese 5 Milliarden, die der Rentenversicherung im nächsten Jahr als Kredit gegeben werden können, wenn es kneift, sind just die 5 Milliarden, die dieser Arbeitsminister und diese Koalition der Rentenversicherung durch dieVerkürzung der Beiträge der Arbeitslosen an die Rentenversicherung genommen hat.
Das ist die Wahrheit. Sie haben, ich sage, in schamloser Art und Weise nicht nur die Arbeitslosen
durch die Verkürzung der Leistungen, sondern auch die Rentner durch die Verkürzung der Mittel in diese Notlage hineingetrieben und damit die Rentenversicherungsträger und ihre Kassen.
Ich finde, dies kann Ihnen nicht deutlich genug ins Stammbuch geschrieben werden.
— Nein, just dies hat der Kollege Ehrenberg überhaupt — —
— Herr Pohlmann, Sie reden ständig über Dinge, von denen Sie nichts verstehen.
Ich will Ihnen hier noch einmal sagen, wie die Sache tatsächlich gelaufen ist: Ehrenberg hat die Beitragspflichtigkeit der Arbeitslosen zur Rentenversicherung eingeführt, und zwar auf der Basis einer 100%igen Bemessungsgrundlage, d. h. 100% des letzten Lohnes.
Und in der letzten Phase der Koalition, als Ehrenberg nicht mehr Arbeitsminister war, hat auf Druck der FDP
— nun lassen Sie mich das hier mal sagen, und halten Sie sich mal ein bißchen zurück, damit Sie von der Geschichte noch etwas mitbekommen, bevor sie an Ihnen vorbeigeht, meine Damen und Herren — die Regierung der sozialliberalen Koalition beschlossen, dies auf 70% herunterzusetzen, nicht auf 45%, auf 70 %.
Dies war bitter genug. Ich habe dann am 10. September 1982 hier an diesem Pult erklärt, daß die Regierung der sozialliberalen Koalition nicht die vorgesetzte Behörde der SPD-Bundestagsfraktion ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7693
GlombigIch habe das im Namen meiner Fraktion hier erklärt und gesagt: Dies machen wir nicht mit.
Und wir haben es nicht mitgemacht; denn dieser Gesetzentwurf ist überhaupt nicht verabschiedet worden, hat nie Gesetzeskraft erlangt.
Und ich habe gesagt: Einen zweiten Punkt machen wir nicht mit: die Einführung der unsozialen Kostenbeteiligung, die nichts anderes darstellt als die Belastung der Kranken über eine Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrages, dann allerdings ohne Arbeitgeberzuschuß. So ist es gewesen.
An diesen beiden Beispielen mögen Sie erkennen, wie unterschiedlich, auch konzeptionell, die Sozialpolitik der Koalitionsfraktionen, einschließlich unseres damaligen Koalitionspartners war; nicht zuletzt dies hat ja auch zum Bruch der sozialliberalen Koalition geführt.
— Nun will ich Ihnen auch dazu einmal etwas sagen: In unserer Fraktion hat jeder das Recht, frei zu reden, seine Meinung zu sagen. Aber nun kann ich Ihnen auch sagen, daß diese Meinung von Helmut Schmidt in dieser Fraktion nicht ungeteilten Beifall gefunden hat.
Dies dürfen wir doch auch einmal sagen. Wir haben uns durchaus andere Wege vorstellen können, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Daß es auch hierüber Meinungsverschiedenheiten in der SPD gibt und auch immer wieder geben wird
und um den richtigen Weg gerungen wird, das allerdings finde ich völlig in Ordnung und demokratisch einwandfrei. Wenn ich das hier sage, ist das auch nichts gegen Helmut Schmidt, sondern ich finde, es ehrt ihn, daß er immer wieder, bei jeder Gelegenheit, seine Meinung gesagt hat und wir, wenn es sein mußte, darüber gestritten haben.
— Ach, wissen Sie, wenn wir auf Sie gehört hätten, Herr Kolb, wäre es schrecklich geworden,
nicht für Sie und Ihren Mittelstand, aber für die Arbeitnehmer. Ich erlebe ja, mit welch rückschrittlichen Meinungen Sie in Sachen Sozialpolitik versuchen, sich immer wieder im Interesse Ihrer Klientel, die Ihnen besonders anvertraut ist, einzuschalten.
Meine Damen und Herren, Herr Blüm hat nun gesagt: Den Rentnern geht es doch im allgemeinen gut. — Da kann ich nur sagen: nicht zuletzt durch die Sozialpolitik der sozialliberalen Koalition.
Wir — und hier schließe ich dann auch die FDP ein— haben in der Zeit von 1969 bis 1982
höhere Rentensteigerungen als die Lohnsteigerungen der Arbeitnehmer gehabt. Dies ist doch nachweisbar.
Wenn es heute Menschen — dies hat doch Herr Blüm zugegeben — im Verhältnis zu anderen, der Mehrzahl, gut geht, dann sind es Mehrfachbezieher von Leistungen. Dies ist natürlich keine große Kunst. Ich will Ihnen das auch nicht beschneiden. Aber so kommt das zustande. Es ist auch ein Ausdruck dafür, daß bei uns strukturell etwas nicht in Ordnung ist, daß wir Mehrfachbezieher haben, daß wir eine Überversorgung haben, daß wir eine Unterversorgung haben — diese Unterversorgung ist noch schlimmer als die Überversorgung — und diese Regierung weder in der Lage noch willens ist, an dieses Problem heranzugehen.
Darüber kann man doch nicht nur schwätzen.
— Herr Kolb, seit gut einem Jahr haben wir den Bericht der Harmonisierungskommission vorliegen. Er ist dem Bundesarbeitsminister im Dezember vorigen Jahres übergeben worden. Daran haben alle Parteien mitgewirkt, und zwar in, wie ich meine, fabelhafter Übereinstimmung. Warum wird das Ding aber nur entgegengenommen und wie eine heiße Kartoffel in die Schublade gelegt — gemeinhin legt man dort keine heißen Kartoffeln hin —,
besser gesagt: Warum wird es wie eine Kartoffel, die zu heiß ist, weggeworfen? Ich will Ihnen sagen, warum: Weil Herr Blüm nicht in der Lage ist, diese Vorstellungen gegen die Interessen Ihrer Fraktion und nicht zuletzt gegen die Interessen der Fraktion der FDP durchzusetzen. Dies ist doch die Wahrheit.
Man muß die Wahrheit dann auch sagen.Dies ist eine merkwürdige Art und Weise: Auf der einen Seite werden die Rentner gelobt. Es ist von großartigen Aufbauleistungen die Rede, die die Rentner und nicht zuletzt die Rentnerinnen, die Witwen, erbracht haben. Da gibt es Leute, die überlegen, ob man den Frauen, die aufgeräumt haben, die Steine geschleppt haben, im nächsten Jahr, 40 Jahre nach Kriegsende, nicht einen besonderen Or-
Metadaten/Kopzeile:
7694 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Glombigden für diese großartige Tat des Wiederaufbaus geben sollte. Auf den Gedanken, diese Frauen, die unter wesentlich ungünstigeren wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ihre Kinder großgezogen haben, beim sogenannten Babyjahr mit einzubeziehen, kommt diese Koalition aber nicht.
Das ist doch alles nicht wahr.
Es sollen die Mütter ab Jahrgang 1921 in die Regelung einbezogen werden. Die Finanzierung des Babyjahres ist aber völlig unzureichend. Kein Mensch weiß, was nach 1989 passiert. Kein Mensch weiß, wie das finanziert werden soll. Es war auch eine Unart der sozialliberalen Koalition, die Kosten für solche sozialen Maßnahmen, wie die Einführung der flexiblen Altersgrenze für Schwerbehinderte und den Mutterschaftsurlaub wieder auf die Versichertengemeinschaft, auf die Beitragszahler zurückzuverlagern. Für solche Geschenke auf Kosten anderer Leute bedanken wir uns.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Kolb, bitte sehr.
Herr Kollege Glombig, ist es richtig, daß Sie 1972 das Babyjahr nur für die Berufstätigen bzw. die freiwillig Versicherten einführen wollten, aber gerade für die Gruppe, die nicht im Berufsleben stand und die heute eben nur die Hinterbliebenenrente hat, nichts tun wollten?
Herr Kolb, dadurch, daß Sie all diesen Unsinn nachbeten, wird er nicht besser.
Ich komme auf Ihre Frage, die das Jahr 1972 betrifft, zurück.Herr Friedmann hat hier in totaler Unkenntnis der wirklichen Vorgänge und des tatsächlichen Ablaufes der Dinge behauptet, die Streichung des Krankenversicherungsbeitrages von 2 %, der im Jahre 1969 von der Großen Koalition eingeführt worden ist, sei in Wahrheit der Grund für die Finanzmisere der gesetzlichen Rentenversicherung. Einen größeren Blödsinn — ich sage es ganz offen— habe ich überhaupt noch nicht gehört.
— Reden Sie doch nicht. — Wir haben diesen Krankenversicherungsbeitrag sofort abgeschafft. Warum haben wir ihn abgeschafft? Weil im Jahre 1969 das Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherung so niedrig war, daß dieser Krankenversicherungsbeitrag von 2 % — übrigens nur ein Instrument zur Selbstfinanzierung der Renten — den Rentnern nicht weiter zugemutet werden konnte. Es wurde doch erst durch die Rentenanpassungen aus der Zeit der sozialliberalen Koalition ein Niveau erreicht, das es heute und auch schon zur Zeit der sozialliberalen Koalition berechtigt erscheinen ließ, einen solchen Krankenversicherungsbeitrag der Rentner einzuführen — aber doch nicht mit dieser Rigorosität, doch nicht bereits im nächsten Jahr mit einem Satz von 5 % was zur Folge hat, daß es quasi zu einer Minusanpassung kommt. Dies war doch auch von der sozialliberalen Koalition nicht beabsichtigt.Nun zum Babyjahr. Im August des Jahres 1972 hatten Sie in der Opposition mit einer Stimme die Mehrheit gegenüber der damaligen Koalition. Sie haben dies schamlos ausgenützt.
— Aber sicher! Ich sage Ihnen, warum. Sie haben im darauffolgenden Jahr zwei Rentenanpassungen beschlossen, eine zum 1. Januar und eine weitere zum 1. Juli. Nun rechnen Sie das mal hoch für die verhängnisvolle Entwicklung der Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung. Dies haben die meisten inzwischen vergessen. Sie haben bei der Rentenreform 1972 immer noch einen draufgepackt. Sie hatten zuletzt Forderungen, die mit 8 Milliarden DM über das hinausgingen, was wir zu finanzieren in der Lage waren. Da sind Sie aufgestanden und haben gesagt: „Wenn wir erst an der Regierung sind, werden wir durch die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft dieses Defizit ausgleichen."
— Natürlich stimmt das. Ich kann Ihnen das im Protokoll nachweisen.
Herr Franke hat sich hierher gestellt und dies erklärt: Was uns fehlt, werden wir dann, wenn wir in der Regierung sind, durch eine bessere wirtschaftliche Entwicklung ausgleichen. Dies war Ihr Finanzierungsvorschlag.Nun zum Babyjahr. Übrigens ist mir auch nicht ganz klar, wie einhellig und eindeutig die Forderung der CDU/CSU auf Einführung eines Babyjahres im Jahre 1972 war. So eindeutig ist das damals ja gar nicht gewesen.
— Eben, Sie waren dagegen. So war es doch. Sie wollten nicht einmal das, was wir vorgeschlagen haben. Unsere Überlegungen im Jahre 1972 waren, — —
— Nein, wir hatten sie eben nicht.
— Wissen Sie nicht, was 1972 passiert ist? 1972 gab es eine vorübergehende Mehrheit der Opposition, und Sie haben dann kraft dieser Mehrheit von einer Stimme die Dinge hier durchgesetzt. So ist das gewesen. Alles andere ist Geschichtsklitterei.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7695
GlombigIm übrigen haben Sie all dem zugestimmt, was wir gemacht haben.
Sie haben in keinem Falle eine andere Entscheidung getroffen.
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Adam-Schwaetzer?
Ich muß erst einmal eine Frage beantworten, bevor ich zur nächsten komme.
Ich bin noch gar nicht fertig. Bei mir dauern die Antworten auf eine Frage immer sehr lange.Also es war, wenn überhaupt bei Ihnen, bei uns damals die Überzeugung, daß es notwendig sei, die Lücken der Versicherungsbiographie für Frauen durch eine solche versicherungsrechtliche Regelung zu schließen. Dies war damals die Überlegung. Dies ist eine ganz andere Konzeption gewesen. 1980, Herr Kolb, haben wir ein Rentenreformprogramm vorgelegt, in dem all dies steht, was ich seit Wochen und Monaten Ihnen speziell klarzumachen versuche. Da muß man die geschichtlichen Fakten kennen und die politischen, Herr Kolb. Da haben wir ein Babyjahr für alle Frauen gefordert. Das ist doch nicht neu, das fordern wir doch nicht erst seit heute. Die CDU/CSU hat dies aber eigentlich eindeutig nie gefordert, sondern die CDU/CSU hat fünf Babyjahre für die Frauen gefordert, deren Versicherungsfall nach Inkrafttreten des Gesetzes eintritt. Dies ist doch wohl ein grundlegender Unterschied.
— Wissen Sie, trotz der Schulden, die Sie j a auch gemacht haben, — Sie wälzen die ja in der Rentenversicherung ab auf den freien Kreditmarkt; dahin wälzen Sie die Schulden ab;
dann kann ich mich natürlich hinstellen und sagen, ich mache weniger Staatsverschuldung; so geht es natürlich auch —, dann sind Sie auch in der Lage, der Landwirtschaft Milliarden
— jawohl —
und den Unternehmern Milliarden zuzuschustern. Da fragen Sie nicht, woher Sie das Geld kriegen.
Sie fangen immer dann an zu problematisieren, wenn es um die Alten, die Behinderten, die Kranken und die Schwachen geht. Das ist die Tatsache Ihrer Politik. Das können Sie doch nicht verschweigen. Das kann man Ihnen doch an jedem Gesetz, das Sie verabschieden, entgegenhalten. Das Schlimme ist aber — das ist das, was mich auch persönlich aufregt, und Sie können mir das abnehmen —, daß dieser Arbeitsminister, dieser Bundeskanzler, diese Regierungskoalition versuchen, den Leuten weiszumachen, daß dies ein sozialer oder sozialpolitischer Fortschritt sei,
obwohl alle, die betroffen sind, inzwischen gemerkt haben, daß dies nun wirklich kalter Kaffee im wahrsten Sinne des Wortes ist. Ich finde, es kann nicht scharf genug mit einer solchen — „verlogenen" wäre wieder unparlamentarisch —
unwahren — dies fiel mir eben nicht ein —
Argumentation abgerechnet werden. Ich meine, das müssen wir herunterreißen. Wir müssen den Menschen sagen, um was es sich wirklich handelt. Ich finde, sie haben einen Anspruch darauf, daß sie das hören.Das bedeutet: Statt Orden für die Trümmerbeseitigung lieber Babyjahr auch für die älteren Frauen.
Ich bekomme ein Zeichen. Lassen Sie mich daher abschließen, da ich anschließend zu meinem Manuskript kommen wollte.
Aber dazu habe ich nun keine Möglichkeit mehr. Ich werde es veröffentlichen, damit es dann auch jeder liest.Was macht Herr Blüm? Er sagt: Mit der Verschuldung, das ist doch nicht sachdienlich. — Ich meine, wer hat denn die Rentner in der Zeit der sozialliberalen Koalition mit der Behauptung des „Rentenbetruges" verunsichert?
Wer hat die Rentner systematisch verunsichert? Waren wir das oder waren Sie das?
Jetzt ist man auch in den Medien einhellig der Meinung, daß dies nicht zweckdienlich ist.Ich komme zum Schluß. Ich habe mich beim Präsidenten der BfA erkundigt. Der meint, es seien nur 250 Millionen DM. Aber er hat sich nicht beim VdR erkundigt, denn der VdR hat behauptet, es müßten 500 Millionen DM aufgenommen werden. Das heißt: Jede 20. Rente muß im Dezember dieses Jahres auf Pump bezahlt werden. Ich erkundige mich also bei einer anderen Stelle, ob das, was die zuständige Stelle gesagt hat, auch wirklich richtig ist.
Metadaten/Kopzeile:
7696 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
GlombigMeine Damen und Herren, entschuldigen Sie, daß ich Ihnen das zugemutet habe; aber ich glaube, es mußte hier manches gesagt werden.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum ersten Mal seit 1976 wird ein Haushalt im Bund vorgelegt, bei dem kein Einschnitt in das soziale Netz vorgenommen wird.
Dieser Haushalt bringt sogar Verbesserungen.
Nun lassen Sie mich gleich zum Haushalt 1983 auf einen Punkt kommen, auf den der verehrte Herr Kollege Glombig hier ja Bezug genommen hat. Der Haushalt 1983 ist — so weist es die Drucksache 9/1920 aus — mit der Unterschrift eines Herrn Schmidt, dem damaligen Bundeskanzler, versehen.
Das ist nun sicherlich Ihr Parteifreund gewesen. Deswegen müssen Sie es sich anrechnen lassen, daß die Einschnitte für 1983 noch auf Ihre Kappe gehen. Wir haben auf Grund der schwierigen Finanzsituation einige Giftzähne gezogen. Sie wollten damals beispielsweise die Kinder, die in ein Krankenhaus gehen, mit einem Tagessatz belasten. Dies haben wir aus familienpolitischen Gründen unterlassen. Das nur als kleines Beispiel dazu.
Wir bekennen uns dazu, daß wir den Haushalt 1984 verantwortlich getragen und daß wir von den Bürgern auch Opfer verlangt haben. Das bestreiten wir gar nicht. Wir wissen, daß die Opfer vielen Bürgern auch wehgetan haben.
Herr Abgeordneter Jagoda, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich habe zuwenig Zeit, Herr Präsident.
Ich wiederhole: Diese Opfer haben wehgetan — das wissen wir —,
aber das Ergebnis ist: Wir sind über den Berg. Lassen Sie mich zwei Anmerkungen machen.
Zunächst zu Ihrem Gerede von der „neuen Armut". Sie definieren den Begriff niemals. Meinen Sie damit die Sozialhilfeempfänger? Wollen Sie diese Menschen in unserem Staat diskreditieren?
Wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß das
Bundessozialhilfegesetz die dritte Säule in unserem
sozialen System ist? Hinsichtlich der „Hilfe zum Lebensunterhalt" werden Zahlen von 300 DM genannt. Diejenigen, die das sagen, kennen nicht das Bundessozialhilfegesetz. Aber Sie stellen sich hierhin und tragen so etwas mit dem Brustton der Überzeugung vor.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Heute morgen habe ich den DGB in meinem Wahlkreis angerufen, um mich nach der Höhe des durchschnittlichen Grundlohnes zu erkundigen. In meinem Wahlkreis waren es 1983 monatlich 2087,12 DM. Dem Arbeitnehmer mit vier Kindern blieben einschließlich Kindergeld und einem Wohngeld von 295 DM insgesamt 2454,03 DM übrig. Wenn er nicht gearbeitet hätte und Leistungen nach dem Sozialhilfegesetz bezogen hätte, beliefe sich sein Anspruch auf 2368 DM. Er hätte in diesem Fall also 86,03 DM weniger als derjenige, der gearbeitet hat. Dann können Sie doch nicht sagen, die Empfänger von Sozialhilfe seien als Arme zu qualifizieren. Das Problem liegt ganz woanders.
— Schreien Sie nicht so. Erinnern Sie sich einmal an Ihren Fraktionsvorsitzenden, der sich gestern hier vorne pfauenhaft über Zurufe aus unserer Fraktion beschwert hat.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Als Sie die Regierung 1969 übernahmen, empfingen in der Bundesrepublik Deutschland 1,4 Millionen Menschen Sozialhilfe. Im Jahre 1983 waren es 2,4 Millionen. Ich werde mich hüten, zu sagen, daß hier neue Armut „produziert" worden ist. Ich will lediglich dafür kämpfen und dafür werben, daß die Sozialhilfeempfänger nicht diskreditiert werden.
Nächster Punkt: Umverteilung von unten nach oben; das Kindergeld ist schon genannt worden, meine Damen und Herren. Sie haben damals dem Millionär wie der Witwe die 20 DM weggenommen. Wir sind hergegangen und haben gesagt: Der Millionär kriegt das als Opfer aufgebürdet, die Witwe kriegt es nicht aufgebürdet.
Nächstes Beispiel: Da flattert durch deutsche Lande ein etwas schmieriges Blatt — entschuldigen Sie, wenn ich das so sage — mit dem Bundesadler und „Ihre Bundesregierung". Ganz unten, links in der Ecke, geben Sie zu, daß es von der SPD ist. Meine Damen und Herren, das, was Sie da schreiben, ist falsch, absolut falsch und bösartig dazu. Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mißstände sind in Ihrer Regierungszeit entstanden. Herr Vogel hat hier gestern nicht die ganze Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, das Weihnachtsgeld sei bei uns versicherungspflichtig geworden. Der Familienvater mit 2 600 DM hat für
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7697
Jagoda
sein Weihnachtsgeld 1983 voll Rentenversicherungsbeiträge bezahlt.
Sie haben den Vorschlag gemacht, daß auf dem Gebiet das alte System beibehalten wird, daß aber die Rentenversicherungsbeiträge um 0,5% steigen und die Arbeitslosenversicherungsbeiträge auf 5,4 % angehoben werden. Sie hätten den Kleinen zur Kasse gebeten und abkassiert,
den Großen, der 5 000 DM bekommen hat, hätten Sie laufen lassen.
— Nein, nein, jetzt lassen Sie mich einmal ausreden. — Nach Ihrem Blatt geben Sie selber zu, daß jemand, der 5 000 DM Einkommen hat und 5 000 DM Weihnachtsgeld bekommt, von den insgesamt 10 000 DM nach dem alten Recht ganze 23,10 DM zahlt.
— Entschuldigung, ich muß mich korrigieren: Er zahlt von den zweiten 5 000 DM ganze 0,5%. Demjenigen, der lediglich 2 000 DM kriegt, nehmen Sie vom Weihnachtsgeld 17 % ab.
Ich frage mich, wo da die soziale Gerechtigkeit ist.
Das ist, meine Damen und Herren, Ihr früheres System!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Blatt hat j a noch etwas Besonderes. Da lese ich unten, das Geld werde benötigt, weil wir u. a. die Vermögensteuer der Reichen gesenkt hätten.
— Jawohl, meine Damen und Herren, Frau Fuchs, das haben wir gemacht. Nur, meine Damen und Herren von der SPD, darf ich Sie einmal daran erinnern: Was war denn 1977? Was haben Sie denn da gemacht? Damals haben Sie die Vermögensteuer nicht nur für die Betriebsvermögen, sondern auch für die Privatvermögen, die Geldvermögen gesenkt. Dem von Ihnen so kritisierten Kuponschneider, der ein Einkommen von 10 Millionen DM hat, haben Sie 20 000 DM hinterhergeschmissen, wir nicht. Sie waren das, und dann reden Sie von Umverteilung von unten nach oben. Hören Sie doch auf mit diesem Stuß! Kommen Sie einmal zur Wahrheit zurück und verdummen Sie die Leute draußen im Lande nicht!
Das ist ja nicht mehr mit anzuhören!
Wir haben 0,1 Prozentpunkte für Betriebsvermögen zurückgegeben. Da kann der Handwerksmeister einen kleinen Zuschuß kriegen, weil er einen zusätzlichen Ausbildungsplatz zur Verfügung gestellt hat; das ist das Ziel. Daß zusätzlich investiert worden ist, können Sie mit Sicherheit nicht bestreiten.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Wir haben auch Verbesserungen in diesem Haushalt. Lassen Sie mich dankenswerterweise zur Kenntnis geben, daß im Haushaltsausschuß einvernehmlich, also mit den Stimmen aller Fraktionen, erreicht werden konnte, daß die Maßnahmen zur besseren Versorgung der Krebspatienten verlängert werden sollen; diese Maßnahmen sollten Ende 1985 auslaufen.
Krebs steht in der Todesursachen-Statistik an zweiter Stelle. Jedes Jahr erkranken bei uns 200 000 Menschen an Krebs. Die Bekämpfung der Krebskrankheiten, meine Damen und Herren — ich danke hier deswegen für den gemeinsamen Beschluß, weil damit deutlich wird, daß es unser aller Anliegen ist, hier zu helfen —, ist nach wie vor dringend erforderlich. Ich freue mich deshalb, daß der Haushaltsausschuß die Verpflichtungsermächtigungen für 1986 und 1987 verlängert hat.
Ich meine, wir alle sollten — ich bin sicher, daß wir da einer Meinung sind — die Länder bitten, daß sie Vorsorge treffen, um ab 1988 die Fortführung dieser Maßnahmen garantieren zu können. Ich darf das, zum Bundesrat gerichtet, einmal sagen.
Aber nicht nur das haben wir gemacht. Auf Grund der wiedergewonnenen Stabilität und des Handlungsspielraums ist es möglich, den arbeitslosen Jugendlichen bis zum 21. Lebensjahr das Kindergeld wieder zu geben. Das ist der zweite Punkt, den wir unserer Leistung anfügen, nachdem wir ihnen schon den Krankenversicherungsschutz bis zum 23. Lebensjahr kostenlos gegeben haben. Sie haben in der damaligen Situation Familien mit jugendlichen Arbeitslosen herzlos aus dem Kindergeld und dem Krankenversicherungsschutz rausgeschmissen. Wir reparieren Ihre Unerträglichkeiten. Das muß man mal sagen.
Es ist uns gelungen — im Rahmen des Finanzrahmens — den älteren Arbeitnehmern bis zu sechs Monate länger Arbeitslosengeld zu zahlen. Das hilft vielen Mitbürgern, die, wenn sie 50 Jahre alt sind und arbeitslos werden, kaum noch eine Chance haben, vermittelt zu werden. Das ist eine echte soziale Tat, die wir im Haushalt 1985 vorsehen können.
Die Kurzarbeit sinkt. Sie werfen uns vor, wir hätten nichts für den Arbeitsmarkt getan.
Nun, die ABM-Maßnahmen haben wir verdreifacht, und jeder, der heute eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hat, ist glücklich, weil er eine Beschäftigung und ein Einkommen hat und weil aus einem Arbeitslosen ein Beitragzahler geworden ist. Das ist die richtige Politik, wie wir sie eingeleitet haben.
Zum Ausbildungsstellenrekord: Auch das muß man einmal sagen. Seien Sie doch einmal fair. Gehen Sie doch bitte einmal in die Zeit zurück, als der Ausbildungsbetrieb hinter den Auszubildenden hergelaufen ist. Auch in dieser Zeit haben Sie einen Versorgungsgrad von nur 93% gehabt. 7 % haben
7698 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Jagoda
damals keine Ausbildung bekommen. Das ist die Wahrheit. Dafür, daß wir heute bei den geburtenstarken Jahrgängen auf 97 % kommen, einen herzlichen Dank allen Menschen, egal wo sie stehen und wo sie sich eingesetzt haben, daß sie die Herausforderung ohne gesetzlichen Zwang bewältigt haben. Das ist das Spiegelbild einer freien Gesellschaft, freier Bürger in diesem Land.
Lassen Sie mich noch zur Rentenproblematik kommen. Herr Kollege Glombig, Sie wissen, daß ich Sie sehr schätze. Sie haben schon beim vorigen Mal hier den Versuch der Mattenflucht unternommen, indem Sie den Koalitionspartner von damals beschimpft und auf die Regierung gewiesen haben. Darf ich Sie herzlich bitten, daß Sie vielleicht einmal in Ihrem Archiv nachsehen — sollten Sie die Unterlage nicht haben, stelle ich sie Ihnen gerne zur Verfügung —: Die damalige Koalition hat am Ende ihrer Zeit ein sogenanntes Doppelbandenspiel gemacht. Die Regierung hat die Anträge im Bundesrat eingebracht, und die Koalitionsfraktionen haben sie in diesem Haus eingebracht. Das ist kein Vorwurf. Nur, der Redlichkeit halber muß man sagen, daß in der Bundestags-Drucksache 9/1957 —der Entwurf des Sechsten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes — auf dem Vorblatt unter Lösung steht, dieser Entwurf enthalte vor allem die folgenden Maßnahmen:
I. Stufenweise Einführung eines Krankenversicherungs-Beitrags der Rentner.
II. Entsprechende Absenkung des Rentenanstiegs in der Kriegsopferversorgung und im Lastenausgleich.
III. Bemessung der Beiträge für die Arbeitslosen ... nach 70 v. H. des Bruttoarbeitsentgelts ...
IV. Entsprechende Bewertung der Zeiten der Arbeitslosigkeit, Krankheit, ...
V. Erhöhung des Beitrags zur Bundesanstalt für Arbeit ...
VI. Kürzung des Bundeszuschusses ... um 1,3 Milliarden DM ...
Das war das eine Gesetz. Ich nehme an, daß Sie — wie wir — Initiativen nur dann einbringen, wenn sie in der Fraktion abgestimmt worden sind. Etwas anderes könnte ich mit meinem Demokratieverständnis nicht vereinbaren.
Herr Abgeordneter Jagoda, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Aber ja. Gern.
Herr Jagoda, würden Sie bereit sein, nun endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß dieser Gesetzentwurf so nicht verabschiedet worden ist,
sondern daß Sie einen eigenen Gesetzentwurf verabschiedet haben und ich erklärt habe, diese Dinge mache die SPD-Fraktion nicht mit? Sind Sie nun endlich bereit, dies zu akzeptieren?
Herr Kollege Glombig, ich stelle fest, daß diese Drucksache eingebracht worden ist. Daß sie nicht verabschiedet worden ist, lag daran, daß Sie nicht mehr die Mehrheit hatten. Das ist die Wahrheit. Sie können uns hier doch kein Kasperltheater vorspielen, daß Sie Gesetzentwürfe aus lauter Jux und Tollerei einbringen.
Ein weiterer Punkt. Herr Glombig, Sie haben gesagt: Den Rentnern geht es so gut dank SPD. Darf ich mal fragen: Wo waren Sie denn 1957, als die bruttolohnbezogene Rente vom Bundestag eingeführt worden ist?
Herr Abgeordneter Jagoda, gestatten Sie — —
Nein. Ich habe nur noch wenige Minuten. Entschuldigen Sie. Aus Respekt vor meinem Vorsitzenden habe ich Herrn Glombig eine Frage gestattet. Aus Zeitgründen kann ich nicht weiter darauf eingehen.
Ich will auf folgendes in der Rentenpolitik aufmerksam machen.
Erstens. Diese Koalition und wir im Ausschuß haben Anfang des Jahres gesagt, daß wir bei den Rentenfinanzen Schwierigkeiten haben werden. Es zeichnet uns aus, daß wir damals festgelegt haben, den Bundeszuschuß vorzuziehen. Das ist eine seriöse Haushaltspolitik: nicht die Augen verschließen vor Schwierigkeiten, sondern die Schwierigkeiten meistern. Was wir nicht wissen konnten, ist, daß in der Tarifrunde 1984 Freizeit statt Lohn weitergegeben worden ist. Da die Rentner genug Freizeit haben, können wir ihnen den Ausgleich nicht in Freizeit entgelten. Das war der Grund, warum wir weniger in der Rentenkasse eingenommen haben.
Zweitens, Rückzahlung an ausländische Arbeitnehmer. Das gab es früher bei Ihnen auch schon, meine Damen und Herren. Nur mußte damals der ausländische Arbeitnehmer zwei Jahre warten. Wie war die Praxis? Die Betroffenen gingen zu den sogenannten Kredithaien,
haben ca. 40 % ihres Anspruchs abgetreten. Die Kredithaie haben sich goldene Finger verdient, und der ausländische Arbeitnehmer ging mit 60 % seiner eigenen Leistung nach Hause. Das haben wir geändert. Wir geben ihm das, was er verdient hat, mit nach Hause. Das ist sozial, nicht das, was Sie früher gemacht haben,
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7699
Jagoda
selbst wenn wir deswegen für ein paar Tage das Konto bei der Rentenversicherung einmal überziehen müssen.
Außerdem haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer in schöner Einmütigkeit — nicht die Handwerksbetriebe, sondern die Großbetriebe, die mitbestimmten — Weihnachten in den Februar verlegt, um etwas zu sparen.
Das ist Solidarität. Ich halte das für nicht sehr gut.
Drittens. Ich darf sagen, daß sich die Rentner in Deutschland darauf verlassen können, daß wir die Rente sicher machen.
Wenn Entscheidungen erforderlich sind, fällen wir sie. 1984 haben wir den Bundeszuschuß vorgezogen. Wir haben die Zugangsregelungen zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente verändert.
— Daß diese Maßnahmen alle erforderlich sind, liegt daran, daß Sie damals Bundeszuschüsse gekürzt haben und die Rentenfinanzen verkommen ließen.
Wir haben den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner auf 2 % festgesetzt. Wir haben das den Leuten vor der Wahl gesagt — so ehrlich sind wir — und sind nicht wie andere in den Wahlkampf hineingegangen.
Auch 1985 werden wir einige Maßnahmen treffen, um in dieser Frage weiterzukommen. Ich möchte einige wenige Bemerkungen zum Opferentschädigungsgesetz machen. Ich bin dankbar, daß wir dieses Gesetz im Ausschuß einvernehmlich verabschieden konnten. Das Gesetz tritt zum 1. Januar 1985 in Kraft. Es gibt eine wesentliche Änderung: Diejenigen, die vor 1976 geschädigt worden sind, seit Beginn der Bundesrepublik, werden mit aufgenommen. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Dem Antrag der SPD haben wir nicht zustimmen können. Ich will das kurz begründen. Wir haben die Regierung gebeten, diese Sache bei einer nächsten Gesetzesänderung zu prüfen. Zur Zeit sind wir der Auffassung, daß die Gegenseitigkeit im Gesetz bleiben muß, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens hat die Bundesregierung am 24. November 1983 beim Europarat eine Konvention unterschrieben, die die Gegenseitigkeit zur Grundlage hat.
Zweitens. Wir wollen, daß unsere Mitbürger, wenn sie im Ausland zu Schaden kommen, ebenfalls eine Absicherung bekommen. Da z. B. Italien, Spanien und Frankreich, drei Haupturlaubsländer, die Gegenseitigkeit mit uns nicht vereinbart haben,
sind wir der Auffassung, daß wir über den Europarat und die Konvention eine Möglichkeit schaffen sollten, auch für unsere Bürger etwas zu tun.
Herr Minister Blüm, Sie werden in uns in der Zukunft eine kritische und gute Unterstützung haben. Sie wissen, mit der CDU/CSU-Fraktion muß man manchmal hart ringen. Aber das hilft auch manchmal, daß Entscheidungen noch besser werden. Wir sind zur kooperativen Mitarbeit bereit.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihnen möchte ich noch sagen, es gibt ein deutsches Sprichwort, das heißt: Zu spitz sticht nicht, zu scharf schneidet nicht. Kommen Sie wieder zurück.
Geben Sie die Nörgelei auf. Kommen Sie zur alternativen Politik. Dann werden wir für die Bürger in diesem Lande eine gute Sozialpolitik machen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben im Verlaufe der gestrigen und auch der heutigen Haushaltsdebatte viele große Reden gehört, viele große Worte und auch viele Schuldzuweisungen. Wenn ich das mit der Debatte verbinde, die wir vor einigen Wochen über die Rolle des Parlaments geführt haben, komme ich zu dem Ergebnis, daß hier in der sozialpolitischen Debatte eigentlich nicht mehr viel zu bewegen ist, weil die Fronten festgeklopft sind, weil die Mehrheiten stehen und weil es hier nur noch darum geht, zu zeigen, wer nun doch der bessere Sozialpolitiker ist, der oder der auf dieser oder jener Seite.
Ich möchte den Versuch machen, aus dieser Debatte herauszugehen und drei konkrete Punkte in der Hoffnung zu beschreiben, daß es möglich ist, da noch etwas zu bewegen, wobei ich weiß, daß auf der Seite der SPD Bereitschaft besteht und daß in einem Punkt auf der Seite der FDP Bereitschaft besteht, so daß es an Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, liegt, mit einzustimmen, damit wir eine Veränderung erreichen.Ich meine erstens die Situation krebskranker Kinder und ihrer Behandlung in den Kliniken. Im Haushalt ist dafür ein Betrag von 26 Millionen enthalten. Die Nachrichten, die wir — und nicht nur wir, sondern auch die anderen Fraktionen — bekommen, laufen darauf hinaus, daß der Ärzte- und Personalmangel bei der Behandlung an Krebs erkrankter Kinder auf den Kinderstationen so eklatant ist, daß einige Elterninitiativen mittlerweile dazu übergegangen sind, Planstellen für Ärzte und Therapeuten selbst zu finanzieren.
Metadaten/Kopzeile:
7700 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
HossJetzt frage ich Sie, da wir über Sozialpolitik reden: Was ist das für eine Situation?
— Ich werde das jetzt zu Ende ausführen. Es tut mir leid. Ich muß das zu Ende bringen.
Herr Abgeordneter, ich darf nur fragen: Gilt das generell?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Dann können wir das Verfahren vereinfachen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich frage: Was ist das für eine Sozialpolitik, die nicht fähig ist, die Situation in Krankheit geratener Kinder und ihrer Eltern und Angehörigen angemessen zu berücksichtigen?
Wir — meine Kollegin Petra Kelly und die Fraktion der GRÜNEN — haben zu dieser Debatte den Antrag eingebracht, diesen Betrag um 6 Millionen DM aufzustocken, um die größte Not an den Kliniken und bei der Behandlung dieser Kinder zu beseitigen.Ich möchte darauf verweisen — und damit diesen Punkt abschließen —, daß in dieser Haushaltsdebatte auch über den Verteidigungshaushalt befunden worden ist.
Ein Betrag von 6 Millionen DM — —
— Sie müssen mir erst einmal zuhören, damit Sie wissen, wohin ich will.
Ich will Ihnen sagen, daß im Verteidigungshaushalt für einen „Leopard 2" ca. 6 Millionen DM eingesetzt sind, und ich möchte Ihnen sagen, daß es wahrscheinlich niemand merkt, wenn die Bundeswehr einen „Leopard" weniger anschafft und wenn dieses Geld den krebskranken Kindern, ihren Eltern und ihrer Versorgung zugute kommt.
Das wäre dieser Punkt.
— Ich möchte jetzt keine Fragen zulassen.
— Das stimmt ganz genau! Ich möchte Sie, da Sie noch über genügend Zeit verfügen, auffordern, in diesem Parlament in eine konkrete Debatte über diesen konkreten Fall einzutreten,
in Ihren nachfolgenden Beiträgen dazu Stellung zu nehmen und mich zu korrigieren, wenn das notwendig ist. Sie haben Zeit genug dazu.
— Es tut mir leid; ich möchte mit meinen Punkten zu Ende kommen.Der zweite konkrete Punkt ist der, daß im vergangenen Jahr die Fahrgeldhilfe für Behinderte gekürzt und zusammengestrichen worden ist. Dazu gehört auch das Problem der Gehörlosen. Wir haben heute einen Antrag eingebracht, der finanziell nicht sehr hoch zu Buche schlägt. Es geht darum, zu sehen, daß im Zeitalter der technischen Kommunikationen die Gehörlosen auf besondere Weise benachteiligt sind. Während ein Mensch mit Gehör in der Regel einen erheblichen Teil seiner privaten und geschäftlichen Kommunikation über technische Mittel, z. B. Telefon, abwickeln kann, ist der Gehörlose auf persönliche Kommunikation und damit räumliche Mobilität angewiesen. In der letzten Haushaltsdebatte 1983 sind die Mittel gestrichen worden. Wir stellen hier den Antrag, für diesen Kreis ganz konkret die Mittel, die gestrichen worden sind, wieder bereitzustellen. Das ist ein Punkt, zu dem ich Sie nachher zu einer ganz konkreten Diskussion über Sozialpolitik auffordere; denn hier geht es um Leute, die sich nicht selber wehren können.
Drittens. Heute morgen hatte ich den Besuch einer Gruppe von Gewerkschaftlern, Personalräten der ÖTV aus dem Bereich der Arbeitsämter. Sie haben sich bei uns beschwert — sie waren bei allen Fraktionen, auch bei Ihnen, bei der FDP, der CDU/CSU und bei der SPD —, daß sich die Arbeitssituation in den Arbeitsämtern durch die angestiegene Arbeitslosigkeit und Dauerarbeitslosigkeit dermaßen verschlechtert hat, daß dort unbedingt neue Planstellen zu schaffen sind,
wenn man gewährleisten will, daß die Versorgung der Arbeitslosen einigermaßen sichergestellt ist und die Arbeit der in den Arbeitsämtern Beschäftigten nicht in Streß ausartet. Es ist vorgeschlagen worden, die Planstellen um 1 200 zu erhöhen. Im Haushaltsausschuß wurden die 1 200 Stellen um 700 Stellen gekürzt; übriggeblieben sind 500. Das ist die Arbeit der Mehrheit der Regierungskoalition. Es geht darum, nachher konkret in der Debatte — —
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7701Hoss— Meine Damen und Herren, das sind die Zahlen, die ich heute morgen bekommen habe. Sollte ich da einem Irrtum unterliegen
oder eine falsche Information bekommen haben, so kann man das nachher berücksichtigen. Sie können davon ausgehen, daß es nicht meine Absicht ist, hier falsche Zahlen zu servieren.
— Regen Sie sich doch nicht so auf! In der Frage der krebskranken Kinder ist die Situation so, daß die Eltern Geld sammeln müssen, damit sie die Ärzte und Schwestern bezahlen können.
Das können Sie mit noch so vielen Zahlen nicht bestreiten. Daß Sie den Gehörlosen die Fahrgelder gestrichen haben, können Sie auch nicht bestreiten, auch wenn noch so viele Zahlen kommen.Mittlerweile habe ich gemerkt, daß hier in den Haushaltsdebatten mit Zahlen jongliert wird, daß jede Partei und jeder, der hier spricht, recht hat, daß dabei aber die Betroffenen zu kurz kommen, und als deren Vertreter stehe ich jetzt hier und bringe das vor.
Sie müssen mir jetzt mal sachlich vortragen, was an dem nicht richtig ist, was ich hier sage.
Das waren die drei Dinge. Sie haben nachher genügend Zeit.
— Ich bin ein besserer Demokrat, als Sie denken. Das lassen Sie sich nur gesagt sein.
Wir hatten jetzt eineinhalb Jahre Gelegenheit, die Politik des Arbeitsministers und auch des Gesundheitsministers — sie sind ja beide anwesend — zu beobachten, und ich glaube, daß es Zeit ist, sich gründlicher mit dieser Politik auseinanderzusetzen, weil es keine grundsätzliche Veränderung der Arbeits- und Sozialpolitik gibt, verglichen mit der Zeit der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP.Früher wie heute wird in der Sozialpolitik mit Geldmassen jongliert: Hier wird ein Loch gestopft, an anderer Stelle wird eines geöffnet. Die Veränderungen, die die Wende gebracht hat, sind, wenn man gutwillig ist, nur quantitativer Art. Es gibt viel Schaumschlägerei, viel Schuldzuweisungen in dieser Richtung. Die Frage bleibt übrig: Auf wessen Kosten wird das Ganze ausgetragen?Ich habe einen 33-Punkte-Katalog des Arbeitsministers Blüm gesehen, in dem er die Erfolge der Regierungskoalition darstellt.
Da heißt es z. B.: „Wir haben die Zahlungsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung gesichert;
hätten wir nicht gehandelt, würde das Defizit 14,2 Milliarden DM betragen."
Sie rufen „genau". Natürlich ist es so, daß jetzt die Arbeitslosenversicherung sogar einen Überschuß erwirtschaftet hat. Die Frage ist nur, auf wessen Kosten. Sie haben Beschlüsse gefaßt auf Kosten der Armen, auf Kosten der Arbeitslosen, denen Sie das Geld weggenommen haben,
die es am nötigsten brauchen, und damit Ihre Kassen gefüllt haben, so daß Sie jetzt Gelder sogar in die Rentenversichungskassen überweisen können.
Das ist die Art Sozialpolitik, die Sie machen.Sie haben darüber hinaus dadurch, daß Sie die Dauerarbeitslosigkeit nicht beseitigen können, erreicht, daß mehr und mehr Dauerarbeitslose Arbeitslosenhilfe bekommen und damit nicht mehr der Arbeitslosenversicherung zur Last fallen, wodurch in den Kassen ein Plus entstanden ist. Das stellen Sie als Ihren Erfolg dar.Dann sagen Sie in bezug auf die Rentenversicherung, Sie hätten sie vor der Zahlungsunfähigkeit gerettet. Das erscheint doch fragwürdig, wenn man heute in den Zeitungen lesen kann, daß die Rentenversicherungen Kredite aufnehmen müssen. Herr Blüm, Sie haben das zwar korrigiert — es seien keine 500 Millionen DM, die die Rentenversicherungen auf dem Kreditmarkt aufnehmen müßten; ich kann das im Moment nicht kontrollieren und will das einmal so hinnehmen —, aber immerhin bleibt doch die Tatsache, daß die Rentenversicherungen sich in einer Situation befinden, in der sie gezwungen sind, auf den Kapitalmarkt zu gehen und Kredite zu hohen Zinssätzen aufzunehmen. Wenn man es genau nimmt, wären sie also praktisch nicht zahlungsfähig, wenn sie nicht Kredite aufnähmen.Das Problem ist doch, daß Sie außer Gelder hin und her zu schieben nicht imstande sind, eine grundsätzliche Kritik der Sozialpolitik vorzunehmen. Das rührt an einen Punkt, der unsere Aufgabe in diesem Parlament betrifft, nämlich die Verbindung zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik herzustellen.
Das wird hier immer so abgehandelt als etwas, dasnebeneinander steht, als zwei Bereiche, die jeder
Metadaten/Kopzeile:
7702 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Hossfür sich da sind. Aber zwischen beiden gibt es einen engen Zusammenhang.Die Kostenexplosion in weiten Teilen des Sozialbereichs, die Kostenschwierigkeiten der Rentenversicherung wie auch der Arbeitslosenversicherung, besonders aber die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hängen eng mit der Art und Weise zusammen, wie unsere Wirtschaft betrieben wird, wie dort Dinge gemacht werden, die sich auf die gesamte Sozialpolitik belastend auswirken. Es hat überhaupt keinen Sinn, an der Sozialpolitik herumzukurieren, wenn man nicht an die Ursachen herankommt, nämlich dort, wo die sozialen Schäden angerichtet werden.
Es ist ja wirklich so, daß wir in einer Situation sind, die nur den Schluß zuläßt: Unser Wirtschaftsgefüge ist krank, es bedarf der Korrekturen, es bedarf dringend der Therapie. Genauso wie jemand, der wegen schlechter Lebensweise krank ist und kurz vor einem Kreislaufkollaps steht,
gezwungen ist, seine Lebenshaltung zu ändern, muß auch unser Wirtschaftsgefüge geändert werden.
Sie freuen sich z. B. darüber — ich habe das gestern in der Regierungserklärung von Herrn Kohl und auch von anderen gehört —, daß die Sachverständigen in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis kommen, daß wir im nächsten Jahr etwa 2 bis 3% Wirtschaftswachstum haben werden. Dabei hinterfragen Sie überhaupt nicht, was das denn für ein Wachstum ist, was damit denn produziert wird, welche sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeerscheinungen dadurch hervorgerufen werden. Sie sind noch nicht einmal imstande, eine grundsätzliche Kritik dieser wachstumsorientierten Wirtschaft zu leisten.
Das ist unsere Aufgabe. Deswegen sind wir auch hierher gekommen, um das mit Ihnen gemeinsam zu diskutieren, um mit Ihnen gemeinsam Lektionen durchzumachen, um Ihnen das immer wieder zu sagen.Wenn Sie das nicht begreifen, werden Sie auf beiden Seiten des Hauses von Mal zu Mal, von Wahl zu Wahl mitgeteilt kriegen, daß die Bürger mit Ihnen, mit Ihrer Art, Politik zu machen, nicht einverstanden sind und daß Sie mit uns gefälligst in eine Diskussion einzutreten haben, damit wir gemeinsam zu Änderungen kommen.
— Schreien Sie doch nicht so. Ich will doch jetzt mit Ihnen in eine Diskussion eintreten.Es geht z. B. darum, in der Sozial- und Gesundheitspolitik den Zusammenhang zu erkennen zwischen dem Wachstum, das stattfindet, und der Kostenexplosion. Dazu gehört etwa die Situation der pharmazeutischen Industrie — auch auf diesem Gebiet wollen Sie ja Wachstum —, die immer mehr Pillen, Medikamente, großtechnische Geräte herstellt. Dann beklagen Sie die Kostenexplosion. 1970 waren es 70 Milliarden DM, die im Gesundheitsbereich ausgegeben wurden. Heute sind es mittlerweile 230 Milliarden DM.
Wir lesen, wie die Allgemeine Ortskrankenkasse davon spricht, daß die Kostenersparnisse, die sie mühselig erwirken kann, innerhalb des nächsten Quartals von der pharmazeutischen Industrie sogleich aufgefressen werden. Da müssen Sie ansetzen, wenn Sie Sozialpolitik und Gesundheitspolitik machen wollen. Sie müssen da ansetzen, wo die Krankheiten entstehen, wo Leute mit der Krankheit Geschäfte machen. Wir sind bereit, mit Ihnen in diesen Punkten Veränderungen zu bewirken. Da werden Sie die Mehrheit im ganzen Haus finden, da bin ich ganz sicher. Aber die Mehrheit scheitert jetzt noch, von mir aus gesehen, an der rechten Seite.
Was sagen Sie z. B. zur Situation der Landwirtschaft? Durch ihr Wachstum wollen Sie erreichen, daß immer mehr und immer billigere Agrarprodukte auf eine übermechanisierte, chemisierte, Großproduktion bevorzugende Weise hergestellt werden.
Zur gleichen Zeit beklagt der Ihrer Regierung angehörende Staatssekretär Gallus, daß jährlich 20 Milliarden DM Folgekosten durch ernährungsbedingte Krankheiten wegen Produkten entstehen, die in dieser Landwirtschaft erzeugt wurden.Oder was sagen Sie zu den Folgekosten, die durch unsere verkommene Verkehrspolitik entstanden sind?
Das Wachstum ist natürlich mit immer noch mehr Autos verbunden. Die Autoindustriellen wollen von jetzt 24 Millionen zugelassenen Fahrzeugen in zehn Jahren auf 30 Millionen zugelassene Fahrzeuge kommen. Wir haben heute schon jährlich 40 bis 50 Milliarden DM Folgekosten im Gesundheitsbereich durch Verletzte, Unfälle usw.
Wenn Sie diese Dinge nicht angehen, dann können Sie noch so große moralische Appelle an die pharmazeutische Industrie, an die Ärzte, an die Organisationen im Krankenhaus starten, Sie kommenDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7703Hossnicht weiter. Sie müssen an diesen Punkt heran, genau wie man an andere Punkte heran muß.Auch Herr Geißler ist ja keiner, der sich in diesem Punkt mit der Industrie anlegt. Wir haben das Problem der Einstufung von Formaldehyd als krebserregend; die Diskussion ist noch im vollem Gange. Wir haben dazu Auskünfte vom Umweltbundesamt, wir haben einen Bericht, der ausgearbeitet und vorgelegt worden ist, allerdings noch intern, und Auskünfte vom Bundesgesundheitsamt, daß Formaldehyd im Anhang II Nr. 1 der Arbeitsstoffverordnung als krebserregend eingestuft werden soll. Dann erscheint am 16. Januar 1984 ein Brief des Hauptproduzenten von Formaldehyd, BASF, an den Gesundheitsminister, Herrn Geißler. In diesem Brief heißt es: „... daß Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun, um eine solche Einstufung zu verhindern". Ich will den Prozeß abkürzen und nur zu dem Ergebnis kommen, daß Formaldehyd, obwohl das Bundesgesundheitsamt zu diesem Schluß gekommen ist, nicht als krebserregend eingestuft worden ist. Ich kann Ihnen nur überlassen, sich Ihr eigenes Urteil daraus zu bilden.
Wichtig ist, daß wir daran gehen, die Probleme der Folgekosten, die durch eine falsche Wirtschaftspolitik entstanden sind, zu sehen, sie in den Mittelpunkt unserer Betrachtung zu stellen und an Änderungen zu arbeiten. An den Punkten, wo wir gemeinsam erkennen — so verstehe ich Parlamentsarbeit, und so verstehe ich das Arbeiten über Fraktionen hinweg —, daß eine Wirtschafspolitik, die bis jetzt nur oder im wesentlichen an Kostengünstigkeit und Gewinnmaximierung orientiert ist, die Umwelt zerstört, gesellschaftlich negativ zu Buche schlägt und die Verhältnisse kaputtmacht, müssen wir gemeinsam Bremsen anlegen, und den Produzenten von Massenprodukten auch die Folgekosten auferlegen, z. B. in Form eines neuen Steuersystems. Die Arbeitskosigkeit muß auch dadurch bekämpft werden, daß wir den Drang zur Rationalisierung und Vernichtung von Arbeitsplätzen bekämpfen, indem wir zu einer Maschinensteuer, zu einer Wertschöpfungsteuer kommen. Wir müssen da Änderungen finden, und zwar so dosiert, daß man regulierend eingreift, aber nicht Arbeitsplätze freigesetzt werden und dafür Maschinen in die Betriebe kommen.
Sie kennen sicher die Studie des IFO-Instituts. Dort hat man 100 Großbetriebe der verarbeitenden Industrie befragt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sie auch für das nächste Jahr mit 100 000 Arbeitsplätzen weniger rechnen, und das trotz des kleinen Aufschwungs, der ja vorhanden ist, den man sehen muß. Trotzdem ist die Zahl der Arbeitslosen nicht reduziert worden, und die Zahl der Arbeitsplätze hat sich in diesem Jahr sogar verringert. Sie müssen doch sehen und erkennen, daß Ihre Politik, Herr Blüm, die Sie auf dem Gebiet der Arbeitspolitik machen, nicht dazu dient, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, sondern dazu dient, die Leute für einen Wachstumsprozeß noch verfügbarer zu machen, der im Grunde arbeitsplatzvernichtend wirkt.
Bei Ihrem Beschäftigungsförderungsgesetz sagen Sie, wir wollen den befristeten Arbeitsvertrag, wir wollen den Kündigungsschutz für Arbeitnehmer verschlechtern, wir wollen die Leiharbeit ausweiten. Das sind alles Punkte, mit denen Sie die Arbeitnehmer für diesen Wachstumsprozeß verfügbarer machen, der im Grunde Folgen zeitigt, die nicht mehr zu verantworten sind.Unsere Aufgabe sehen wir darin — ich muß damit zum Schluß kommen —, auf diese Punkte hinzuweisen und Sie aufzufordern, darüber nachzudenken. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie die Quittung von unseren Bürgern bekommen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muß in aller Offenheit gestehen, daß ich einen Teil der Auseinandersetzung Diepgen/Apel gestern und auch heute, was Ton und Methode anbelangt hat, sehr bedauert habe. Ich möchte auf einige Punkte der Rede von Eugen Glombig eingehen.Erstens zum Thema Babyjahr. Man kann sicher in dieser Frage unterschiedlicher Auffassung sein, aber man sollte sich das in Erinnerung rufen, was Marie Schlei zu diesem Thema in diesem Hause einmal gesagt hat. Sie hat gesagt: Mein persönlicher Wunsch wäre, daß die versicherungsrechtlichen Auswirkungen des Babyjahres auch Frauen zugute kommen, die schon im Rentenalter sind. Aber ich weiß, daß dies nicht eine Frage des guten Willens, sondern eine Frage der schwierigen finanziellen Größenordnung ist.
— Das war Anfang der 70er Jahre. Wenn ich mich richtig erinnere, war es 1971 oder 1972.
Wenn das schon damals richtig war, wieviel mehr muß es das bei der angespannten Situation unserer Finanzen heute sein. Unterstellen Sie niemandem schlechten Willen!Zum Thema Renten auf Pump. Hochverehrte Kolleginnen und Kollegen. Hier im Hause ist niemand, der darüber glücklich ist, daß die Rentenversicherungsträger Kredite aufnehmen müssen. Aber wir müssen die Dinge doch einmal in den richtigen Rahmen rücken. Was geschieht denn? Wegen der unterschiedlichen Eingänge der Beiträge, die zu kurzfristigen Liquiditätsproblemen führen, können bis zu 5 Milliarden DM Kredit aufgenommen wer-
Metadaten/Kopzeile:
7704 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Cronenberg
den. Dadurch muß das vorhandene Vermögen nicht aufgelöst werden.
Dies führt nicht, Herr Kollege Hoss, zu Zinsverlusten, sondern zu Zinsgewinnen, weil der Bund insgesamt eher zahlt. Ich kann Sie da also beruhigen: Die kurzfristigen Liquiditätsprobleme sind gelöst worden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Egert?
Nein, Entschuldigung. Bei der kurzen Zeit nicht. Wenn hinterher etwas übrigbleibt, Jürgen Egert, ganz sicher. — Damit auch die Relationen klar sind, möchte ich es einmal vergleichen: Wenn einer für 16 000 DM zu finanzieren hat — z. B. für einen Autokauf —, dann würde er jetzt 27,50 DM durch Kredit finanzieren, und dies für einige Tage.
Bei allem Bedauern, daß wir nicht volle, sondern leere Kassen haben, muß man die Dinge doch wirklich in die richtigen Relationen setzen.Zur Rechtfertigung des Bundesarbeitsministers, der sicher nicht alles so macht, daß ich hier begeisterte Zustimmung äußern kann, muß ich sagen, daß Sie sich, Eugen Glombig in einem Punkt geirrt haben. Wenn sich der Bundesarbeitsminister über die Situation bei der Bundesversicherungsanstalt in Berlin und nicht beim VdR erkundigt hat, dann ist das deswegen richtig, weil wir beschlossen haben, daß die Abwicklung dieses ganzen Verfahrens bei der BfA und nicht beim VdR liegt. Er hat also nicht nur zufällig, sondern richtigerweise das richtige Telefon benutzt.Zum Thema Beiträge für die Arbeitslosen von der Arbeitslosenversicherung an die Rentenversicherung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Punkt hat Eugen Glombig den Sachverhalt historisch richtig geschildert. Das war völlig richtig. Es war die Absicht der FDP, es war die Absicht der Regierung, diesen Weg zu gehen. 70 % des fiktiven Lohns sollten Berechnungsgrundlage sein. Wir haben immer gesagt: Lohn oder Lohnersatz sind die richtige Berechnungsgrundlage. — Und es ist ebenso richtig, daß Eugen Glombig für die SPDFraktion dies abgelehnt hat. Ich möchte mich ausdrücklich bei Eugen Glombig für diese sachlich richtige Darstellung bedanken, aber was beweist sie? Sie beweist, daß nicht Verrat zum Wechsel geführt hat, sondern sachlicher Dissens. Und das haben wir immer behauptet.
Es gibt eben unterschiedliche Betrachtungsweisensozialer Gerechtigkeit. Zu diesen unterschiedlichenBetrachtungsweisen der sozialen Gerechtigkeitmöchte ich mir erlauben, den schon einmal erwähnten Ludwig Preller zu zitieren. Er hat gesagt:Soziale Gerechtigkeit ist ein verworrener und verwirrender Begriff.Und er hat das all denjenigen ins Stammbuch geschrieben, die glauben, „sozial" meine gerechte Sachverhalte.
Gestern hat in diesem Hause eine typische, eine gefährliche Diskussion um die Renten zwischen dem Kollegen Apel und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin stattgefunden. Nicht die ernsthafte Sorge um unsere Renten, um unsere soziale Sicherung, um soziale Gerechtigkeit — was immer der einzelne darunter verstehen mag —
war Ursache dieser Diskussion, sondern wieder einmal sollen die Rentner, diesmal die Berliner Rentner, wahlkampfmißbraucht werden.
Manchmal geht es, mit Verlaub, wie Kraut und Rüben durcheinander. Frau Kollegin Fuchs, ich erinnere in diesem Zusammenhang an Ihre Bemerkung über den Verlust an Massenkaufkraft.
Gewinnen kann bei einer solchen Diskussion niemand. Sie dient der Verunsicherung der Rentner, aber nicht der Sachlichkeit und Objektivität, die dieses Thema verdient.Deswegen einige grundsätzliche Feststellungen zu diesem Gesamtbereich: Sozialpolitische Leistungen, verehrte Kollegin, können nur aus gemeinsam Erwirtschaftetem gewährt werden. Das gilt nicht nur für direkte Transferleistungen, das gilt ebenso für die beitragsfinanzierten Gegenseitigkeitssysteme. Die Solidargemeinschaften der Kranken- und Rentenversicherungen unterliegen unausweichlich den ökonomischen Gesetzen der gegenwärtigen und zukünftigen Leistungsfähigkeit. Selbstverständlich hat jeder Beitragszahler Anspruch, auch rechtlichen Anspruch, gegenüber dem Sicherungssystem erworben.In der Rentenversicherung erwirbt er einen Anspruch gegenüber der nächsten Beitragszahlergeneration. Und genau deswegen reden wir vom Generationenvertrag. Nell-Beuning hat richtigerweise immer wieder betont, daß es drei Generationen sind: der nicht mehr arbeitende Teil der Bevölkerung, der auf Grund seiner Beitragszahlungen wohlerworbene Ansprüche hat, die Erwerbstätigen-generation, die im Umlageverfahren die Renten für die jetzige Rentnergeneration erwirtschaftet, und schließlich diejenigen, die noch nicht erwerbstätig sind, die also als zukünftige Beitragszahler ausgebildet werden. Dieses System bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß jeder Beitragszahler einen prozentualen Anspruch gegenüber dem Beitragsaufkommen der nächsten Generation erwirbt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7705
Cronenberg
Anders ausgedrückt: Die Stabilität unseres Rentenversicherungssystems hängt ausschließlich vom Beitragsaufkommen ab. Und deswegen ist es so unerläßlich, für ein möglichst hohes Beitragsaufkommen Sorge zu tragen. Ein hohes Beitragsaufkommen erreichen wir durch möglichst viele Beitragszahler, weil, Frau Kollegin Fuchs, die Gesamtlohnsumme Grundlage der Abführung an die Rentenversicherung ist. Das heißt, der Schlüssel für ein hohes Beitragsaufkommen ist nicht der Beitragssatz, sondern sind möglichst viele beschäftigte Beitragszahler. Die Gesamtlohnsumme und nicht der einzelne Lohn bestimmt eben das Gesamtbeitragsaufkommen. Und deswegen ist es unsere Pflicht, dafür Sorge zu tragen, daß möglichst viele Menschen im Lande Arbeit, versicherungspflichtige Arbeit, haben.
Und dies wird erreicht, Frau Kollegin Fuchs, indem die Unternehmen zusätzliche Arbeitskräfte einstellen. Das erreicht man aber nicht, indem den Unternehmen die materielle Basis für neue Arbeitsplätze, die Basis für Investitionen entzogen wird. Das erreicht man nicht, indem man Arbeit verteuert, zu teuer macht, unbezahlbar macht. Tut man beides, so wird man nicht mehr, sondern weniger Beiträge haben. Das System ist dann nicht mehr finanzierbar.Wer diese Grundsätze berücksichtigt, wird auch die vorgesehene Rentenanpassung anders bewerten, als dies durch die Kampfhähne aus Berlin gestern geschehen ist. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Apel, Sie haben gestern das klassische Beispiel erlebt, wie sich zwei Volksparteien im Wettlauf um Wählerstimmen beim Verteilen von Leistungen, die noch nicht erwirtschaftet worden sind, übertreffen wollen. Beide verlangen mehr, als verantwortlich geleistet werden kann. Dies ist der gleiche Wettlauf, der zwischen CDU/CSU und SPD 1972 in diesem Hause stattgefunden hat. Die Schäden der Beschlüsse von damals müssen wir alle gemeinsam ausbügeln. Deswegen bitte ich sehr ernsthaft und nachdrücklich, das System nicht mit solchen generellen Rentenerhöhungsforderungen zu überfordern. Hohe Rentensteigerungen nützen überhaupt nichts, wenn Preisstabilität nicht den Wert der Rente sichert, wenn die Solidität unseres Rentensystems nicht gewährleistet ist. Es kann nur noch einmal wiederholt werden, daß eine Preissteigerungsrate von 6 % und eine Rentenerhöhung von 4 % letztendlich ein dickes Minus bedeuten und daß eine Rentenerhöhung um 2,8 % bei Preisstabilität für den Rentner real viel wert ist. Wir haben eben, wie der Bundesarbeitsminister schon ausgeführt hat, ein Rentenniveau, von dem ich in aller Offenheit sagen möchte: Ich halte dieses Niveau dauerhaft nicht für finanzierbar, genauso wie ich das Beitragsniveau dauerhaft nicht für haltbar ansehe. Wir werden uns deshalb in diesem Bereich äußerste Mäßigung aufzuerlegen haben, wenn wir nicht dauerhaften Schaden für die Zukunft fabrizieren wollen.Der Bundesarbeitsminister hat darauf hingewiesen, daß viele der Kleinrenten Zusatzrenten sind und bei der Gesamtbeurteilung keine so große Rollespielen, wie es oft gesagt wird. Ich verkenne dabei nicht, daß sich bei den Witwen mit niedrigen Renten durchaus Probleme stellen, um deren Lösung wir uns bemühen müssen. Im Zusammenhang mit der Hinterbliebenenversorgung hat uns auch dieses Thema zu beschäftigen. Ich wiederhole aber noch einmal: Eine generelle Erhöhung, wie Diepgen und Apel sie gestern hier gefordert haben, halte ich für unerträglich. Sie schadet dem Rentenversicherungssystem insgesamt und wiederholt die Fehler der Vergangenheit.
Meine Damen und Herren, ich möchte es noch einmal ganz klarmachen: Für die berechtigten Ansprüche der Rentner — auch der zukünftigen Rentner — haftet nur einer. Das ist der Beitragszahler. Gibt es keine oder nicht genügend Beitragszahler, weil zu wenig Menschen Arbeit haben oder weil die nächste Generation zahlenmäßig zu klein ist, dann geht jeder Anspruch ins Leere. Sie werden dann keine zahlungskräftigen Schuldner für den Generationenvertrag haben. Herr Kollege Apel, wer der Überbelastung das Wort redet, zerstört das System.
Deshalb bitte ich in dem Zusammenhang das ganze Haus, der These des früheren Finanzministers Alex Möller zuzustimmen, der da gesagt hat: Nur mit viel Zivilcourage werden der Leistungswille des Bürgers und die Investitionsbereitschaft gegenüber den vorhandenen Anspruchsmentalitäten die Oberhand gewinnen. Herr Apel, dies, in Ihrem Wahlkampf benutzt, würde der Sache sicher mehr dienen als die allgemeine Forderung, Renten zu erhöhen, wenn die Leistungen nicht erbracht worden sind.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Peter .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Cronenberg, Ihre Ausführungen waren Beispiel in mehrfacher Hinsicht. Sie waren zunächst einmal Beispiel dafür, wie man selektiv bestimmte Sachverhalte wahrnehmen kann. Wenn man gestern hier im Saal gewesen ist, dann muß man doch feststellen, daß es der Herr Regierende Bürgermeister Diepgen war, der die Rentendebatte hier angefangen hat, um sie in den Wahlkampf einzuführen, und daß dann der Kollege Apel in der Antwort auf diese Frage deutlich gemacht hat, daß man nicht nur den Mund spitzen soll, wenn an da etwas anspricht, sondern anschließend auch pfeifen muß, wenn es darum geht, die finanzielle Basis für die Forderungen sicherzustellen.
Das ist die eine Seite.
Metadaten/Kopzeile:
7706 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Peter
Dann hätten Sie auch erwähnen müssen, daß der von uns allen so geschätzte Bundesarbeitsminister die Gelegenheit ergriff, um, wie es seine Art ist, Nebel zu verschießen, und sich dann an schließend beschwerte, als ihm von der SPD-Fraktion vorgehalten wurde, daß — was j a ehrlich nicht bestritten werden kann — im Augenblick die Finanzsituation der Rentenversicherung so ist, daß Renten teilweise nicht aus Eigenmitteln der Bundesversicherungsanstalt gezahlt werden können. Das kann man natürlich volkstümlich auch als Renten auf Pump bezeichnen. Das ist aber die Replik auf das, was Sie seit Jahren hier an Witzchen, Späßchen und griffigen Formulierungen vorführen. Das hätte man dann auch ehrlicherweise bei der gestrigen Darstellung der Situation mit anführen müssen.Was Sie dann gesagt haben über die Abhängigkeit der Rentenfinanzen von wirtschaftlicher Entwicklung und von Arbeitsmarktentwicklung, ist richtig. Aber es ist natürlich auch richtig, daß durch die Abkopplung der Beiträge für die Arbeitslosen das Loch in der Rentenversicherung entstanden ist. 200 000 Arbeitslose kosten nun einmal 1,2 Milliarden mehr oder weniger für die Rentenversicherung. Wenn Sie sich beschweren, daß Arbeitslosigkeit nicht mit Verteuerung des Faktors Arbeit bekämpft werden kann, dann müssen Sie doch endlich auch einmal die Diskussion aufgreifen, ob es nicht sinnvoller ist, die Finanzen der Rentenversicherung für die Arbeitgeberbeiträge auf einen anderen Faktor als den Faktor Arbeit, möglicherweise auf den Faktor Gewinn und Kapital umzustellen.
Die Diskussion muß geführt werden und nicht immer nur mit Totschlagargumenten.Was mich allerdings an der Debatte heute mal wieder stört, ist, daß mit Witzchen und Erblastgerede vom Kern der Sozialpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung abgelenkt wird. Der Kern der Sozialpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung ist nämlich, daß Abbau des Sozialstaates Bestandteil Ihres Krisenlösungskonzeptes ist.
Das stört natürlich alle, die von diesem Konzept betroffen sind. Da liegt dann auch bei dem Zugeständnis, daß auch unter sozialliberaler Politik Einschnitte in die Leistungen erfolgt sind — das bestreitet j a niemand — genau der Unterschied. Sie wollen den Sozialstaat abbauen, wir haben versucht, unter dem Druck der FDP den Sozialstaat in den Eckpunkten zu retten. Da dann von Erblast zu reden, ist einfach Falschmünzerei.
In den vergangenen Haushalten Ihres Sozialstaatabbaukonzeptes ging es um den ersten Teil. Es ging darum, in den vergangenen Haushalten die materielle und soziale Sicherheit der Betroffenen anzutasten. Es ging um die Leistungskürzungen. In dem diesjährigen Haushalt, von dem der Kollege Jagoda sagt, er zeichne sich vor anderen Haushalten dadurch aus, daß weniger Einschnitte gemacht würden,
geht es eben um die zweite Stufe Ihres Konzeptes. Die zweite Stufe Ihres Eingriffs in den Sozialstaat ist nämlich die absolute Verfügung der Arbeitgeber über die Arbeitskraft. Deshalb geht es jetzt um das Infragestellen des Arbeitsschutzes, des Kündigungsschutzes, der Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer, der Schutzrechte von Jugendlichen, Frauen und Schwerbehinderten. Das Ziel ist dabei die Schwächung derjenigen, die den Sozialstaat verteidigen können, der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer. Das wird draußen zur Kenntnis genommen.Es wird jetzt deutlich, Herr Arbeitsminister und Gewerkschaftsmitglied Norbert Blüm, daß Sie Partei ergreifen, aber eben nicht für diejenigen, die einen Sozialstaat, wie er in Jahrzehnten entstanden ist, benötigen, sondern für die Forderungen des Bundesverbandes der Deutschen Arbeitgeberverbände.
Sie, Herr Blüm, schienen für viele Arbeitnehmer der einzige Hoffnungsträger im Gruselkabinett Kohl zu sein. Sie machen sich jetzt zum Erfüllungspolitiker gegenüber den Interessen der Arbeitgeber. Sie machen Sozialpolitik zur Arbeitgebererfüllungspolitik. Das ist bedauerlich.Das kann man an Beispielen belegen. Der Jugendarbeitsschutz: Gesundheits- und Gefahrenschutz werden als Ausbildungshemmnis diffamiert. Das Schwerbehindertengesetz: Zusatzurlaub, Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte, Beschäftigungspflicht werden als Beschäftigungshemmnisse diffamiert. Das Betriebsverfassungsgesetz und solidarische Interessenvertretung durch die Vertreter der Einheitsgewerkschaften werden als Ausbeutungshemmnis verstanden. Deshalb gibt es Nebenbetriebsräte für Bessergestellte, und es wird ein Minderheitenschutz für den Christlichen Gewerkschaftsbund entdeckt — auch um die Arbeitnehmer zu spalten. Wenn Sie, Herr Arbeitsminister, den Minderheitenschutz auch bei anderen Minderheiten als den leitenden Angestellten und den Rückzahlungsempfängern Ihrer verfassungswidrigen Zwangsanleihe ernst nehmen würden, dann hätte es Ihren Sozialabbau nie geben dürfen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Trotz der knappen Zeit. — Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege, wären Sie vielleicht auch bereit, die Hinterbliebenenreform in Ihre Aufzählung aufzunehmen und dem Hohen Haus zu erklären, wieso Ihre Partei mit den Arbeit-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7707
Dr. Blümgebern übereinstimmt und meine Partei mit den Gewerkschaften?
Herr Kollege Blüm, ein Schwerpunkt der von uns angestrebten Hinterbliebenenreform ist, den Frauen und den Witwen, die in der Vergangenheit niedrige Renten bezogen haben, etwas mehr zu geben. Von daher betont unser Entwurf das Prinzip Solidarität stärker als der Ihre, der nur bei bestimmten Einkommensschichten ansetzt. Genau in diesem Punkt ist unser Entwurf der solidarischere.
Daß die Arbeitgeber hier zustimmen, hängt, wie Sie ja sehr genau wissen, mit der Frage der Unklarheiten im Bereich des Anrechnungsmodells zusammen. Der Fehler Ihres Entwurfs ist also — —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Egert?
Es tut mir — — Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Peter, würden Sie, nachdem verschiedene Sprecher der Koalition keine Chance zuließen, eine Zwischenfrage zu stellen, weil sie offensichtlich Sorge hatten, sie könnten nicht antworten, so gütig sein, dem Bundesarbeitsminister Auskunft darüber zu geben, daß die Gewerkschaften an seinem Konzept Vorschläge für eine Strukturreform in der Rentenversicherung vermissen, daß Frauen Zeiten der Kindererziehung erst ab 1. Januar 1986 angerechnet werden sollen und daß sein Konzept keine Mindestsicherung in der Rentenversicherung enthält?
Danke schön, Herr Kollege Egert. Wir sehen hier, daß man auch die Redezeit solidarisch miteinander teilen kann. — Daran sollten Sie sich einmal ein Beispiel nehmen.
Das letzte Beispiel, das ich noch ansprechen will, ist das Beschäftigungsförderungsgesetz. Hier werden der Kündigungsschutz sowie solidarische Arbeitszeitvereinbarungen als Beschäftigungshemmnisse ausgegeben. Die Kernabsicht ist deutlich: totale Verfügung der Arbeitgeber über die Arbeitskraft, Heuern und Feuern als Methode, Zulassung befristeter Arbeitsverhältnisse entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, Ausdünnung der Stammbelegschaften und Aufspaltung in Kernbelegschaften und Randbelegschaften.
Übrigens wird das von der Kollegin Wilms für den Hochschulbereich vorexerziert. Ich finde es zynisch, die Berufsnot und Lebensnot der Arbeitslosen, die von Ihnen verursacht worden sind, als Hebel dazu zu benutzen, die solidarische Interessenvertretung der Gewerkschaften zu unterlaufen.
Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anmerkung zu zwei konkreten Abstimmungen: Beim Opferentschädigungsgesetz, Herr Kollege Jagoda, geht es uns darum, die in der Bundesrepublik wohnenden ausländischen Arbeitnehmer nach Prinzipien der Solidarität mit einzubeziehen. Die Gegenseitigkeitsklausel bleibt für die Ausländer, die nicht in der Bundesrepublik wohnen, bestehen und hemmt so die Absicht des Gesetzes nicht. Vielleicht kommt man dort weiter.
Wir werden nach dem Prinzip der Solidarität auch dem Antrag der GRÜNEN in bezug auf die Verbesserung der Versorgung und Behandlung krebskranker Kinder zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich wieder auf den eigentlichen Sinn und Zweck unserer heutigen Debatte zurückkomme, auf den Haushalt, und zwar auf den Bereich Jugend, Familie und Gesundheit. Wir alle wissen, daß vor allem dieser Bereich seit 1982 ein wesentlicher Schwerpunkt der bundesdeutschen Politik geworden ist.
Es ist deshalb mit großer Freude festzustellen, daß der entsprechende Haushaltstitel in diesem Einzelplan, wenn man das Volumen des Kindergeldes einmal außer acht läßt, das ja deswegen gesunken ist, weil wir weniger Kinder haben, insgesamt um 8,6% angewachsen ist. Es freut mich auch, daß wir die Mittel für den Bundesjugendplan in diesem Jahr noch deutlich erhöhen konnten. 135,5 Millionen DM sind dafür im Haushalt 1985 vorgesehen. Es sind da sehr vernünftige Projekte enthalten. Ich will hier u. a. einmal ganz kurz das Projekt „Arbeitsweltbezogene Jugend — Sozialarbeit im Rahmen wachsender Arbeitslosigkeit" erwähnen. Hier soll arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten jungen Menschen geholfen werden, die benötigten sozialen und beruflichen Kenntnisse und Befähigungen vermittelt zu bekommen und zu erhalten.In diesem Plan sind noch eine ganze Reihe von weiteren Projekten enthalten. — Ich könnte jetzt sehr viele aufzählen; aber ich will nur exemplarisch auf die Arbeit des Deutschen Musikrats eingehen. Ich bin überzeugt davon, daß wir uns alle einig sind, daß dort hervorragende Arbeit geleistet wird, eine Arbeit, die unserer Jugend, unserer Gesellschaft
Metadaten/Kopzeile:
7708 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Rossmanithdient und die letztendlich auch, was die Vermittlung dieser Jugendgruppen ins Ausland angeht, für unsere internationalen Beziehungen von großem Nutzen ist.
Auch haben wir wiederum — gerade weil wir uns der jungen Menschen und der Familien annehmen — ein Unrecht getilgt, das leider Gottes in Ihrer Regierungszeit entstanden ist. Wir wollen nun Kindergeldleistungen für junge Menschen, die ohne Ausbildung und Arbeitsplatz sind, bis zum 21. Lebensjahr wieder gewähren. Wenn die Finanzmittel dafür vorhanden wären, würden wir — warum nicht? — gerne auch auf 23 Jahre gehen. Aber es ist nun einmal so — das muß hier sicher auch mit zur Sprache gebracht werden —, daß Sie uns eine Schuldenlast hinterlassen haben. Allein für die Zinstilgung mußten wir in diesem Jahr annähernd 30 Milliarden DM einsetzen, so daß wir da leider Gottes nicht sehr viel tun können.Wir haben auch andere Versprechungen wahr gemacht, die wir für die Familie abgegeben haben, Versprechungen, die darauf hinausliefen, daß der Stellenwert der Familie nach der Konsolidierung des Haushalts und der Wiederbelebung der Wirtschaft von uns materiell entsprechend gewürdigt werden würde. Die Haushaltskonsolidierung, die wir bisher betrieben haben und betreiben mußten — es ist ja nicht zu beschönigen, daß wir hier in diesem und jenem Fall Abstriche machen mußten —, dient letztendlich auch den Familien, dient unseren Bürgerinnen und Bürgern und dient vor allem der jungen Generation. Denn die Staatsschulden, die wir heute machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind j a die Steuern, die wir morgen erheben müssen, um diese Staatsschulden wieder abzubauen.
Ich möchte deshalb auf die getroffenen Maßnahmen kurz eingehen: Erhöhung des Kinderfreibetrags ab 1986 auf 2 484 DM,
Kindergeldzuschlag von 45 DM je Kind für Familien, die von diesem Kinderfreibetrag nicht in voller Höhe begünstigt werden. Das sind Zahlen, die eine deutliche Sprache sprechen. Ab 1986 gewähren wir vom Erziehungsgeld 600 DM für zehn Monate, dann für 12 Monate, und zwar — das wird vor allem die Damenwelt besonders freuen — unabhängig davon, ob der Vater oder die Mutter dieses Kindergeld beanspruchen wollen.Lasssen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch mal auf die Bundesstiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" eingehen. Wie nicht anders zu erwarten, war es wieder einmal den GRÜNEN vorbehalten, uns hier heute — ich weiß nicht, zum wievielten Male — den Antrag vorzulegen, diesen Titel zu streichen und die Stiftung aufzulösen.
Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Fraktion DIE GRÜNEN, Sie haben bis heute nicht begriffen oder wollen nicht begreifen, wie sich diese Problematik eigentlich stellt und daß Abtreibung keine Problemlösung und kein Mittel ist, um die Not der Frauen zu lindern. Sie sollten sich einmal die Mühe machen, mit Frauen zu sprechen, die abgetrieben haben. Sie können sich gar keine Vorstellung davon machen, in welche seelische Notlage diese Frauen geraten, nachdem sie abgetrieben haben.
Die Zahlen zeigen, daß die Mittel dieser Stiftung, obwohl sie erst am 1. Juli eingerichtet werden konnte und obwohl es in jeder neuen Einrichtung Anlaufschwierigkeiten gibt, bereits zu 80 % ausgeschöpft sind.Ich will ganz kurz noch auf das Bundesamt für Zivildienst eingehen. Die Ausgabensteigerung beträgt hier 20 %. Das ist trotz der schmalen Haushaltslage eine sehr beachtliche Leistung. Wir haben den Stellenplan um 50 Dienstposten angehoben. Ich bedanke mich sehr herzlich bei dem Mitberichterstatter von der SPD-Fraktion, der diese Anhebung mitgetragen hat. Wir haben uns bei diesem Titel sehr kollegial vertragen. Hier wurde der Neuregelung der Wehrdienstverweigerung und des Zivildienstes wirklich Rechnung getragen. Wir können also davon ausgehen, daß 1985 etwa 49 000 anerkannte Wehrdienstverweigerer ihren Zivildienst leisten können. 1983 betrug die entsprechende Zahl noch 36 000. Wir haben junge Menschen, die ihren Wehrdienst leisten. Wer nicht bereit ist, diesen Dienst zu leisten, ist ein Verweigerer des Wehrdienstes.
Die Notwendigkeit dieser gesetzlichen Regelung zeigt sich auch in der Zahl der gestellten Anträge auf Wehrdienstverweigerung. Sie betrug 1984 in den ersten zehn Monaten, also bis 31. 10. 36725. Im Vergleichszeitraum 1982 waren es 50 540 Anträge. 1983 sogar 60 163. Die für 1984 vorgesehene Planzahl von 60 000 konnte bereits am 15. November erreicht und sogar überschritten werden. Ich bin sicher, daß wir bis Ende 1985 die vorgesehene Zahl von 70 000 Plätzen erreichen werden.
Das sind sehr deutliche Zahlen. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Beitrag zu mehr Wehrgerechtigkeit in unserem Land.Lassen Sie mich zum Schluß noch auf den uns vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion eingehen, der darauf hinausläuft, die Vertriebenenverbände
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7709
Rossmanithvon der Arbeit der Betreuung für Aussiedler und Flüchtlinge auszuschließen.
Wenn die SPD in ihrem Antrag davon spricht, die Betreuung von Aussiedlern, Zuwanderern und Besuchsreisenden sei eine typische Aufgabe der Wohlfahrtsverbände, dann läßt das für mich nur zwei Schlüsse zu. Erste Schlußfolgerung: Sie von der Opposition haben sich mit dem Problem entweder überhaupt noch nicht oder nur sehr mangelhaft befaßt. Hier wären etwas mehr Hausaufgabe, etwas mehr Interesse an diesem Aufgabenbereich und etwas mehr Besuch in den Übergangsheimen sicher nötig.
Die zweite Schlußfolgerung, die ich daraus ziehen kann, wäre, daß Sie den Vertriebenenverbänden die Existenzberechtigung schlechthin absprechen wollen.
Wie ist es denn anders zu verstehen? 1981, in Ihrer Regierungszeit, hatten wir mit 69 455 Aussiedlern und Flüchtlingen, also annähernd 70 000, die bisher höchste Zahl. Damals haben Sie die Mittel auf 6,7 Millionen DM zusammengestrichen.
Wir haben für 1983, als wir fast nur noch die Hälfte der Aussiedler hatten, nämlich 37 125, 9,1 Millionen DM für die Betreuungsarbeit eingesetzt und 1984 auf 9,4 Millionen DM gesteigert. Für 1985 ist ein Erhöhungsbetrag von 250 000 DM eingeplant.
Ich will, damit keine Mißverständnisse entstehen, für die Koalitionsfraktionen sehr klar und deutlich zum Ausdruck bringen, daß wir die Aufgabe und die verdienstvolle Arbeit der Verbände der freien Wohlfahrtspflege nicht nur voll anerkennen, sondern diese Arbeit auch in aller Form würdigen.
Es ist aber auch unbestritten, daß sich die Vertriebenenverbände, hier insbesondere die Landsmannschaften, aus deren Heimatgebieten die überwiegende Zahl der Aussiedler stammt,
mit großem Engagement und mit viel Eigenleistung dieser Aufgabe annehmen.
Nur durch das Zusammenwirken der verschiedenen Verbände konnte diese Arbeit für die Menschen geleistet werden, die ihre Heimat verlassen müssen.
Diese Menschen erleben jetzt das, was die anderen 1945 und 1946 bei der Vertreibung unter Zwang über sich ergehen lassen mußten. Sie suchen jetzt ihr Heimatland. Die Heimat ist ihnen zur Fremde geworden. Es ist ein Problem, daß sie hier wieder eingegliedert werden, daß sie hier ein neues Zuhause finden.
Das ist doch nur möglich, indem die Verbände der freien Wohlfahrtspflege und die Vertriebenenverbände zusammenarbeiten.
Es ergibt sich überhaupt keine Konkurrenzsituation. Die Tätigkeit der haupt- und nebenberuflichen Betreuungskräfte der caritativen Verbände ist schwerpunktmäßig darauf gerichtet, die Aussiedler und Zuwanderer in den Grenzdurchgangslagern Friedland und Nürnberg bzw. im Notaufnahmelager Gießen sowie in den Überbrückungswohnheimen und Durchgangsunterkünften zu betreuen. Ferner unterhalten sie eigene Einrichtungen zur schulischen und beruflichen Förderung spätausgesiedelter Kinder und Jugendlicher. Die Vertriebenenverbände hingegen bieten den Aussiedlern an ihrem endgültigen Wohnort über einen längeren Zeitraum hinweg begleitende Hilfen im Eingliederungsprozeß an, insbesondere — darauf lege ich besonderen Wert — durch umfassende Betreuung und Beratung in allen Lebensbereichen, individuelle Hilfe zur Erleichterung der sozialen, beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederung und natürlich auch Hilfe bei der Lösung von Problemen in Einzelfällen. Ich sehe auf Grund dieser gewachsenen Aufgabenverteilung gar keine Schwierigkeiten bei einer weiteren Koordinierung der Betreuungsarbeit zwischen den einzelnen Organisationen.
Im übrigen haben mir die für diesen Bereich zuständigen Vertreter der Deutschen Caritas und des Deutschen Roten Kreuzes in persönlichen Gesprächen dargelegt, daß die Einzelfallhilfe — die sogenannte nachgehende Betreuung nach dem Verlassen der Übergangswohnheime, also die Betreuung in der eigentlichen Intensivphase des Eingliederungsprozesses — zunehmend an Bedeutung gewinnt und verstärkte Anstrengungen erfordert. Ich bin deshalb sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß hier in diesem Hause Einigkeit darüber besteht. Ich bitte auch Sie von der Opposition, noch einmal die Intention Ihres Antrags zu überdenken. Vielleicht könnten Sie mit uns gemeinsam den beschrittenen Weg weitergehen,
einen Weg, den wir bisher gemeinsam gegangen sind zum Wohle auch dieser neuen Mitbürger, zum Wohle unserer Gesellschaft und unseres Landes.Wir werden deshalb Ihren Änderungsantrag ablehnen müssen. — Leider, lieber Kollege Zander, leuchtet bereits die gelbe Lampe auf. Eine Zusatzfrage würde ich gern noch zulassen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zander?
Metadaten/Kopzeile:
7710 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Selbstverständlich, wenn die Zeit es noch erlaubt, gern.
Herr Kollege Rossmanith, sind Sie bereit, zu konzedieren, daß es hier nicht darum geht, die Vertriebenenverbände zu fördern oder nicht, sondern daß es darum geht, aus welchem Titel des Bundeshaushalts und nicht zu Lasten der Wohlfahrtsverbände?
Lieber Kollege Zander, es geht in der Tat um den Titel, und dieser Titel im Einzelplan 15 befaßt sich eben mit der Betreuung der Aussiedler und der Flüchtlinge. Deshalb kann nur in diesen Titel gegriffen werden. Wenn wir jetzt noch darüber diskutieren sollten, wer wo was erhält, dann würden wir, glaube ich, den Wohlfahrtsverbänden insgesamt keinen allzu großen Dienst erweisen.
Ich darf mich sehr herzlich bedanken.
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit wenigen Sätzen auf den Vorredner eingehen. Herr Rossmanith, Schularbeiten müßten Sie möglicherweise machen. Schauen Sie sich mal den Haushalt des Bundesministeriums des Innern an. Dort sind die Förderungsbeträge für die Flüchtlings- und Vertriebenenverbände ausgewiesen.
In der Zwischenfrage von Herrn Zander wurde deutlich, worum es eigentlich geht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rossmanith?
Ich bitte doch sehr, mir erst mal ein paar Minuten Gelegenheit zu geben, meine Ausführungen zu machen.
Das liegt in Ihrer Entscheidung.
Sie müssen sich nicht so erregen, meine Herren. Sie müssen hier etwas zu verbergen haben.
— Also, lieber Herr Czaja, von Ihnen hätte ich eine solche Zwischenfrage so unqualifizierter Art nicht erwartet, weil Sie es am besten wissen müssen, welche Förderungsbeträge aus dem BMI dem BdV zufließen.
Zurück zu der Kernfrage. Wenn Sie hier zu Recht aus der Sicht der Wohlfahrtsorganisationen be-schrieben haben, daß die Eingliederungsarbeit immer aufwendiger, immer schwieriger wird, dann hätten Sie doch nicht die Konsequenz daraus ziehen dürfen, das jetzt auf mehrere zu verteilen, sondern hätten Sie doch die Konsequenz ziehen können, wenn Sie weitere einbeziehen, eine Mittelaufstockung vorzunehmen. Das hätte dann zum Schluß einen Sinn gemacht. Aber damit Schluß mit dem Thema; denn dazu wird unsererseits noch Stellung genommen werden.Der Herr Bundesarbeitsminister hat am heutigen Nachmittag — jetzt scheint er nicht mehr hier zu sein — sehr viel von Stabilität gesprochen. Ich wollte ihm sagen, das einzige, was für dieses Haus stabil ist, das sind die immerwährenden Auftritte dieses Bundesarbeitsministers, der sich dadurch auszeichnet, daß seine Beiträge
eine Mischung von Polemik, Demagogie und einem Schuß rheinischer Karneval sind. Das hängt mit seiner rheinischen Abkommenschaft zusammen. Aber auf der anderen Seite zeigt er auch die Sensibilität einer Dampfwalze, wenn es um soziale Probleme geht. Darin ist er sehr ähnlich dem Kollegen von ihm, dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, der ja für soziale Fragen im weitesten Sinne ebenfalls zuständig ist.
Damit komme ich zu dem Haushalt des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit.
— Ach, das überlassen Sie doch bitte mir, Herr Kollege, wie ich meine Redezeit verwende. Da mache ich Ihnen doch auch keine Vorschriften. Sie sind überhaupt sehr nervös und sehr aufgeregt. Sie sind nach so kurzer Regierungszeit schon sehr verbraucht, stelle ich fest.
Also, Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, dann wollen wir doch mal mit dem jugendpolitischen Feld beginnen, was Sie da an Leistungen vorzuweisen haben und was sich auch in dem Etat als solchem niederschlägt.Es war doch schon sehr eigenartig, daß das Parlament Sie zwingen mußte, als Bundesregierung, als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit eine Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Bericht der Enquetekommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" abzugeben. Es wäre doch Ihre selbstverständlichste Pflicht gewesen, dies aufzunehmen und dem Parlament mitzuteilen, wie Sie sich denn Lösungsansätze vorstellen, was Sie aus diesen Vorschlägen übernehmen wollen, was nicht.Der Bericht, der uns vorliegt — ich will der Debatte nicht vorgreifen; wir werden j a in absehbarer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7711
JaunichZeit Gelegenheit haben, darüber zu debattieren —, ist aus meiner Sicht sehr dünn ausgefallen. Die Beschwichtigungsversuche, die in diesen Aussagen der Regierung angelegt sind, finden unsere Zustimmung nicht.Dann sind Sie gegen den Widerstand eigentlich der ganzen Fachwelt wild entschlossen, eine Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz auf den Weg zu bringen.
— Gut, ich nehme das Wort Novelle sofort zurück, Herr Kollege Egert, da haben Sie völlig recht.
Da muß ich Sie fragen, Herr Kollege Geißler: Sind Sie wirklich gut beraten, wenn Sie gegen den Widerstand der gesamten Fachöffentlichkeit etwas auf den Weg bringen wollen, was den Problemlagen nicht gerecht wird?
Ich kann Ihnen für meine Fraktion anbieten, daß wir Sie voll unterstützen werden, wenn Sie den Mut aufbringen sollten, etwas zu konzipieren und dem Parlament vorzulegen, was der heutigen Problemlage junger Menschen und junger Erwachsener Rechnung trägt.
An Stelle vieler im Tenor einheitlichen Stellungnahmen will ich ein paar Sätze aus der Stellungnahme des Deutschen Roten Kreuzes vom 14. November 1984 verlesen:
— Sie müssen sich laut und vernehmlich am Mikrophon zu Wort melden. Dann kriegen Sie auf Ihre unverschämten Fragen auch die passende Antwort, Herr Kollege.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit erwartet durch die Novellierung keine grundsätzlichen Mehrkosten für den Bereich der Jugendhilfe. Eine gewisse Mehrbelastung auf Grund der Ausdehnung der Hilfen zur Erziehung von jungen Erwachsenen hofft er durch Minderausgaben im Bereich des § 72 BSHG zu kompensieren.Angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung— so die Stellungnahme — —
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, einen Augenblick bitte.
Meine Damen und Herren, ich darf doch um etwas mehr Ruhe bitten. Es ist unerträglich.
Bitte fahren Sie fort.
Ich bedanke mich, Herr Präsident. Aber vielleicht ist die rechte Seite dieses Hauses zu einem Dialog nicht mehr fähig. Das mag sein.
Ich rufe in Ihre Erinnerung die Stellungnahme des Deutschen Roten Kreuzes vom 14. November dieses Jahres zu dem Entwurf aus dem Bundesministerium zur Novellierung des Jugendwohlfahrtsgesetzes. Dort heißt es:Angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in besonders dramatischer Weise negativ auf Kinder, Jugendliche und junge Menschen auswirkt und unter anderem sichtbar wird in Ausbildungsplatznot und Jugendarbeitslosigkeit, steigender Suizidgefährdung, wachsender Drogen- und Alkoholabhängigkeit, zunehmender Jugendkriminalität, wachsender Verweigerung bisher üblicher Gesellungsformen und Abwanderung in Bereiche am Rand oder außerhalb der Gesellschaft, steht eine solche Erwartung, nämlich eine kostenneutrale Novellierung vorzunehmen, j a Forderung nach Kostenneutralität im Widerspruch zu eben jener Entwicklung wie auch zu Äußerungen der Bundesregierung, sich mit erhöhtem Engagement für die Belange der Jugend einzusetzen.Ich kann nur sagen: Dieser Stellungnahme ist unsererseits nichts hinzuzufügen.
— Nein, es gibt keine positive dazu. Herr Kollege Schlottmann, Sie müßten es doch auch wissen, weil Sie von der Sache etwas verstehen. Eine kostenneutrale JWG-Novellierung versperrt allenfalls den Weg für eine grundlegende Reform dieses Rechtes im Sinne eines Jugendhilferechtes in diesem und im nächsten Jahrzehnt. Dieses Haus war j a im Jahre 1980 schon einmal auf dem Wege, einen Konsens zu finden. Wer will denn bestreiten, daß mit Eingriffsgesetzen, mit Repressionsgesetzen heute Jugendförderung nicht mehr betrieben werden kann, daß die Problemlagen, mit denen wir es heute zu tun haben, nicht auf eine solche Art und Weise bewältigt werden können? Herr Kollege Schlottmann, Sie sollten sich zu schade sein, das, was das Ministerium derzeit betreibt, in irgendeiner Form noch zu unterstützen.
Ich will allerdings die Gelegenheit nutzen, dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit auch ein Lob auszusprechen, weil er offensichtlich gelernt hat; dies möglicherweise im Gegensatz zu manchen Angehörigen der CDU/CSU-Fraktion. So soll Herr Geißler kürzlich bei einem Gespräch mit dem deutschen Bundesjugendring gesagt haben: „Ich finde es gut, wenn unsere Leute dabei sind". Er meinte die Teilnahme an den 12. Weltjugendfestspielen. Er hat dann hinzugefügt, er würde es begrüßen, wenn sie dort offensiv und attraktiv unser freiheitliches System verträten.
Metadaten/Kopzeile:
7712 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
JaunichZunächst einmal finde ich es in Ordnung, daß Sie die Haltung einnehmen, daß es gut ist, wenn deutsche junge Menschen sich an dieser Art Veranstaltung beteiligen. Es ist ja von Ihnen — wenn ich „von Ihnen" sage, meine ich Sie mehr als Generalsekretär — in den früheren Jahren häufig kritisiert worden, daß junge deutsche Menschen an diesen Veranstaltungen teilgenommen haben. Aber der Halbsatz, den Sie nachgeschoben haben, war entbehrlich; denn jene, die die Bundesrepublik Deutschland auf diesem Treffen vertreten haben, haben immer in diesem Sinne agiert. Ich bin fest davon überzeugt, sie werden das auch dieses Mal tun.
Kommen wir zum Thema Familie. Da hat Herr Rossmanith eben auch wieder die Arie gesungen, daß die Familienpolitik bei dieser Regierung und in diesem Jahr einen so großen Stellenwert einnehme. Ich muß Sie fragen: Woraus schöpfen Sie eigentlich die Berechtigung, uns Vorhaltungen über die Familienpolitik zu machen, die wir zu verantworten hatten, angesichts der Tatsache, daß Sie nicht die erste beste Gelegenheit genutzt haben, alles das zu korrigieren, was wir in Ihren Augen falsch gemacht haben? Außer Ankündigungen haben die deutschen Familien in diesen zwei Jahren nur Rückschritte zu verzeichnen gehabt.
Der Herr Rossmanith tat eben so, als wenn es schon verabschiedete Gesetze gäbe. Es gibt noch nicht einmal Gesetzentwürfe, die diesem Haus vorliegen, für all das, was für 1986 und die folgenden Jahre von Ihnen geplant ist.
— Ich bitte Sie, auf diesen Gesetzentwurf komme ich noch. Aber Herr Kollege, Sie werden schon bedient. Lassen Sie es doch einmal. Nun mal sachte.
Woher nehmen Sie die Berechtigung, uns ob unserer Haltung im Januar 1982 zu kritisieren? Alles, was zwischenzeitlich korrigiert worden ist, ist von Ihnen halbherzig und zögerlich korrigiert worden. Diese Korrekturen beim Kindergeldrecht, über die wir in der letzten Sitzungswoche hier befunden haben, hätten Sie im Jahr davor haben können, und zwar eine komplette Rücknahme dessen, was wir zu verantworten hatten. Das haben Sie dieses mal doch auch nicht getan. Sie bleiben bei 21 Jahren. Ich bitte Sie, bei diesem Hintergrund verlieren Sie doch jede moralische Berechtigung, uns auf Grund unserer Haltung zu kritisieren.
Wenn Sie Finanzgründe für sich ins Feld führen, konnten wir es mit gutem Grunde 1981 auch. Dies ist eine doppelte Art von Moral. 795 Millionen DM weniger Kindergeldansatz zeigt diese Haltung.In den früheren Jahren haben Sie uns immer Vorwürfe gemacht und gesagt, dieses Geld müsse benutzt werden, es müsse eingestellt werden fürVerbesserung der Kindergeldleistungen. Wo sind denn Ihre diesbezüglichen Initiativen? Sie benutzen die 795 Millionen DM zur Sanierung des Haushalts an den Familien vorbei. Ich sage dies hier nur, um die Doppelbödigkeit Ihrer familienpolitischen Diskussion deutlich zu machen.
Die CDU in Nordrhein-Westfalen fordert ab 1985 ein Landesfamiliengeld. Die CDU des Bundes kündigt an, ab 1986 solle es eine solche Leistung geben. Auch hier wieder: Im Lande Nordrhein-Westfalen, wo man nicht in der Regierungsverantwortung steht, wird eine Forderung aufgestellt, hier im Bundestag, beim Bundeshaushalt, wo man selber die Verantwortung dafür zu tragen in der Lage ist, ist man nicht bereit, das, was man anderswo fordert, in die Tat umzusetzen. Hier erfolgt die Verzögerung, die Vertröstung auf die nächsten Jahre.
Meine Damen und Herren, mit Vertröstungen werden Sie die Sorgen, die die deutschen Familien haben, nicht lösen können.
— Wenn das Ihre Einlassung ist, haben wir hier eine kinderfeindliche Bundesregierung. Herr Kollege Schlottmann, Sie sollten sich sehr gut überlegen, was Sie hier sagen.
Ich komme jetzt zum Thema Sozialhilfe. Ich habe beim besten Willen nicht begriffen, was der Kollege Jagoda hier vorhin ausgeführt hat.
— Ja? Dann wollen wir doch einmal über die Wahrheit reden. Was ist denn die Wahrheit? Lassen Sie sich bitte nicht auf solche exotischen Rechnereien ein, wonach der Sozialhilfeempfänger mehr hat als der, der treu und brav seiner Arbeit nachgeht! An dieser Legende haben schon viele gestrickt. Gehen Sie den Einzelfällen bitte einmal nach! Machen Sie sich erst einmal ein Bild von der Empfängerschaft von Sozialhilfe! Das sind doch nicht die Penner und sonstigen Personen, die Sie dabei im Sinn haben.
— Dann müssen Sie sehen, welche Zwischenrufe jetzt kommen. Dann müssen Sie nicht solche Zwischenrufe machen. Ich habe das nicht auf Sie gemünzt gesagt, Herr Kollege Jagoda. Ich habe gesagt, die Rechnung, die Sie aufgemacht haben, sollten Sie gefälligst unterlassen; denn solche Exotenbeispiele gibt es immer. Wenn man daraus Ableitungen zieht, beginnt es gefährlich zu werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7713
JaunichWir werden unverbrüchlich am Bedarfsdekkungsprinzip in der Sozialhilfe festhalten. Hieran lassen wir nicht rütteln.
— Da machen Sie sich bitte erst einmal sachkundig, Herr Kollege! Die Zwischenrufe, die Sie jetzt bringen, sind so abgeschmackt und gehen so an der Wahrheit vorbei, daß Sie damit wirklich niemanden beeindrucken können, der von den Dingen etwas versteht. Fragen Sie einmal Ihre Kollegen!
Herr Bundesminister Geißler, bleiben Sie standhaft und gehen Sie auch auf die Länder zu. Am Bedarfsdeckungsprinzip in der Sozialhilfe darf nicht gerüttelt werden; sonst bricht dies zusammen.
Sie haben eine Verpflichtung, nicht nur als der zuständige Bundesminister, sondern auch als der Erfinder der „neuen sozialen Frage". Herr Jagoda, daran anknüpfend muß ich feststellen: Es war Herr Geißler, der seinerzeit die sogenannte neue soziale Frage aufgebracht hat. Aber er löst weder die alte noch die neue soziale Frage, das ist der Fakt.
Ich kann nicht die Finanznot der Gemeinden dazu benutzen, jetzt am Instrumentarium des Bundessozialhilfegesetzes herumzuschnippeln. Das haben Sie mehrfach versucht. Der Bundesfinanzminister ist ganz stolz darauf, daß er jene Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe durchgesetzt hat. Das läßt er gelegentlich über seine Hauspostille verbreiten; Sie müssen das nur einmal nachlesen. Dies sei all jenen ins Stammbuch geschrieben, die uns unterstellen wollten, wir hätten die Kürzungen in der Sozialhilfe betrieben. Da muß der Bundesfinanzminister entweder auf unsere Vorschläge eingehen oder eigene originäre gebären, um der Finanznot der Gemeinden abzuhelfen. Über eine Verringerung der Bedürfnisse der sozial am schwächsten Dastehenden läßt sich die Finanznot der Kommunen nicht nachhaltig beeinflussen. Die vorgelagerten Sozialversicherungssysteme müssen instand gesetzt werden, die Belastungen dieser Wirtschaftskrise aufzufangen. Wir können nicht den Weg gehen, am untersten Level herumzumanipulieren und die Armut dadurch neu zu definieren, daß wir die Schwelle senken. Dies kann nicht im Interesse einer wohlverstandenen Sozialpolitik sein.Wenige Sätze noch zum Thema Gesundheitspolitik. Herr Bundesminister Geißler, Sie und Ihre Freunde in Ihrer Fraktion haben uns früher, als wir noch Regierungsverantwortung zu tragen hatten, den Vorwurf gemacht, es finde keine Gesundheitspolitik statt, es finde allenfalls Kostendämpfungspolitik statt. Nun gut, sie hat wenigstens stattgefunden; das haben Sie selbst zugegeben. Aber auch das ist heute nicht mehr der Fall. Die Kosten laufen davon. Wir haben kürzlich in einer AktuellenStunde darüber gestritten, ob das eine Explosion ist. Zwischenzeitlich hat der Minister selber gesagt, es ist eine Lawine. Ich will nicht darüber streiten, ob das eine Lawine oder eine Explosion ist. Auf jeden Fall ist es eine bedrohliche Entwicklung.
— So ist es. Die Beitragssteigerungen auf breiter Front, die sich anbahnen und die in der Beschlußfassung sind, sind keine Kassandrarufe, Herr Blüm, sondern das ist die Realität dieser Tage.
Zurück zum Thema Gesundheitspolitik. Wo sind die Vorstellungen dieser Bundesregierung zu einer umfassenden Gesundheitspolitik? Noch nicht einmal in Einzelbereichen gibt es hierzu Konzeptionen. Wo werden Lösungen vorgeschlagen? Die Berufsregelungen und das, was Sie mit dem Arzt im Praktikum in den nächsten Tagen beschließen wollen, werden der Lösung des Problems nicht gerecht. Das stürzt junge Menschen nach einer langen Ausbildung in eine Phase der Unsicherheit und Resignation, wenn ihnen diese Praktikantenplätze nicht gewährleistet werden können; und Sie können sie nicht gewährleisten.
Kurzum, ich muß hier fragen, wo Ihre Lösungsvorstellungen sind, wo denn ein geschlossenes Konzept der Gesundheitspolitik wenigstens in Ansätzen erkennbar ist.Da hören wir schlimme Dinge. Der Vorgang mit Formaldehyd ist in der Debatte eben schon von einem Kollegen angesprochen worden.
Da erwarte ich von Ihnen, Herr Bundesminister, daß Sie jeden Verdacht zerstören, daß an dem Beschluß des Deutschen Bundestags vorbeigegangen wird, der im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Chemikaliengesetzes gefaßt worden ist, wonach die Rechtsverordnungen vor Erlaß dem Bundestagsausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zuzustellen sind. Dies hat das Haus seinerzeit in seiner Gesamtheit beschlossen. Nun hört man, daß Sie sich daran nicht mehr orientieren wollen. Weiterhin müssen Sie den Verdacht zerstreuen, daß Sie auf kritische Wissenschaftler Einfluß nehmen wollen. Ich bin gegen jede Dramatisierung; die wird keinem Problem gerecht. Eine Hysterie in Umweltfragen liegt in niemandes Interesse. Aber wenn erkennbar wird, daß Stimmen kritischer Wissenschaftler von vornherein heruntergebügelt werden, dann werden Sie auch mit Maß und Mitte keine Entscheidungen mehr fällen können. Dann wird man bei jeder Entscheidung etwas Schlimmes unterstellen und dann wohl auch unterstellen müssen.
Sorgen Sie hier für Ordnung, Herr Bundesminister, hier sind Sie gefragt.
Metadaten/Kopzeile:
7714 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Probst?
Bitte.
Herr Kollege, würden Sie mir bitte einmal erklären, was ein kritischer Wissenschaftler ist?
Ich gehe davon aus, daß Wissenschaftler in aller Regel kritisch sind.
Aber Wissenschaft hat sich auch — da müssen wir in unserer Geschichte so weit nicht zurückgehen —, Herr Kollege Probst, gelegentlich angepaßt. — Haben Sie das akustisch mitbekommen, Herr Kollege, da Sie sich gerade unterhielten? — Im übrigen sagt unsere Geschäftsordnung, daß, wenn jemand eine Frage gestellt hat, er so lange am Mikrophon stehenzubleiben hat, bis die Frage beantwortet ist.
— Ich wollte Ihnen dazu sagen, daß ich davon ausgehe, daß Wissenschaft in aller Regel kritisch angelegt ist, daß wir aber in unserer jüngsten Geschichte Beispiele haben, wie Wissenschaft diszipliniert wurde und dann zu einer angepaßten Wissenschaft geführt hat.
Dies möchten wir im Ansatz verhindern.
Ich habe dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit konkret diese Frage hier vorgelegt, und er möge für Klarheit sorgen. Dies ist mein Appell in diesem Zusammenhang. Ich glaube, daß das ein gutes Recht und insbesondere das gute Recht einer parlamentarischen Opposition ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere, daß diese Diskussion jetzt eigentlich etwas quer durch den Gemüsegarten geht und sich nicht mehr an dem festbeißt, um das es hier eigentlich geht, um den Haushalt.Die Familienpolitik, der Familienlastenausgleich ist einer der Schwerpunkte dieser Koalition. Mein Vorredner, Herr Rossmanith, hat die einzelnen Schwerpunkte dieser Familienpolitik, dieses Familienlastenausgleichs angesprochen. Im finanziellen Bereich hat sich die Koalition auf deutliche Verbesserungen im Familienlastenausgleich geeinigt.8 Milliarden DM für die Familien und zusätzlich die Finanzmasse für das vorgesehene Babyjahr in der Rentenversicherung, das hat es bei vorherigen Regierungen in dieser Höhe nicht gegeben.
Wir sind sehr froh, daß dies jetzt möglich wird. Im Grundsatz haben wir uns auf die Vorschläge geeinigt. Im Detail sind da allerdings noch einige Fragen offen, die ich an den Minister stellen möchte. Ich frage mich wirklich, ob die Lösungen, die vorgesehen sind, zweckmäßig sind — ich denke z. B. an Einkommensgrenzen — und ob es nicht bessere gibt, die weniger bürokratisch sind, ob es nicht einfachere, klarere Lösungen gibt als die bisher vorliegenden. Wir Freien Demokraten können uns auch sozial gerechtere Lösungen vorstellen und sind bereit, an neuen, an anderen Lösungen, an Verbesserungen der bisherigen Vorschläge mitzuarbeiten.Das gleiche gilt für uns auch bei der Einführung der Anrechnung der Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, dem sogenannten Babyjahr. Auch hier sind im Detail Verbesserungen denkbar. So sollte die Anrechnung nicht nur für das Jahr nach der Geburt möglich sein, sondern es sollte ein Jahr in jeder anderen beitragsfreien Zeit angerechnet werden; also auch mehr Freiheit in der Lebensgestaltung und weniger Gängelung. In der Praxis heißt das folgendes: Es muß uns, also dem Gesetzgeber, gleich bleiben, ob die Frau oder der Mann es für wichtiger halten, im Jahr nach der Geburt zu Hause zu bleiben, wie es das Gesetz jetzt praktisch vorschreibt, oder z. B. dann, wenn das Kind in die Schule kommt. Ich glaube, wir sollten hier durch die Formulierung des Gesetzes so viel Freiheit geben, daß die Lebensgestaltung der Familien nicht beeinträchtigt wird.Ich möchte nochmals betonen: Auch wenn wir im Detail noch einige Fragen haben, Herr Minister, und wir uns einige Verbesserungen vorstellen können, sind wir der Meinung, daß die Grundrichtung stimmt. Der Wille zur Einigung ist da, und wir haben es bisher immer geschafft.Lassen Sie mich auf einige Punkte zurückkommen, die meine Vorredner angesprochen haben, so der Kollege Hoss. Herr Kollege, Sie haben eine Maschinensteuer gefordert. Es gibt eine sehr einfache Argumentation dagegen. Das Verhältnis von Rentnern und Beitragszahlern bestimmt die Beitragshöhe und die Höhe der Rente — und nichts anderes. Durch die Einführung einer Maschinensteuer verändern Sie das demographische Gefüge überhaupt nicht. Infolgedessen kann eine derartige Lösung auch keine Verbesserung der Finanzlage bringen. Sie brächte nur eine Verschleierung der tatsächlich entstehenden Kosten.Lassen Sie mich auf ein Zweites eingehen, Ihren Antrag, 6 Millionen DM für krebskranke Kinder einzusetzen. Ich darf Sie daran erinnern, daß Frau Seiler-Albring erfolgreich einen Antrag gestellt hat, 25 Millionen DM als Anschlußermächtigung für
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7715
Eimer
eben diese krebskranken Kinder in den Haushalt einzustellen.
Ich weiß, daß Sie mehr Stellen haben wollen. Das wäre auch möglich gewesen, wenn Sie diesen Antrag nicht hier in der zweiten Lesung gestellt, sondern bereits im Ausschuß eingebracht hätten. Ich bin überzeugt, daß eine Umschichtung da noch möglich gewesen wäre. Ich möchte also noch einmal betonen: Von Frau Seiler-Albring ist ein Antrag mit einem Volumen von 25 Millionen DM gestellt worden, Sie hängen hier etwas hinten nach.
Herr Hoss, Sie haben eine Reihe von Punkten angesprochen, die zunächst recht eingängig sind, die aber, wenn man sie genau hinterfragt, problematisch werden. Ich will das an einem Beispiel aufzeigen. Sie haben von den Folgekosten von Autos gesprochen. Es ist natürlich sehr leicht, wenn man aus einzelnen Bereichen einen Punkt herauszieht und von Folgekosten spricht, aber vergißt, z. B. nachzufragen: Welche Kosten würden entstehen, wenn wir kein Kraftfahrzeug hätten? Ich habe diese Zahlen einmal für den Bereich der Landwirtschaft gehört. Wenn wir dort keine Traktoren einsetzen könnten, müßte ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche für die Fütterung der Zugtiere eingesetzt werden. Welche Folgen hätte das für unsere Umwelt, welche Folgen hätte das für unsere Ernährung?Ich glaube, Sie machen es sich auch etwas zu leicht in der Frage der Gesundheitspolitik und in der Frage der Chemikalien. Sie haben eine dieser Chemikalien angesprochen: Formaldehyd. Ich möchte da einige grundsätzliche Bemerkungen anhängen.Wir haben mehrere zehntausend Chemikalien, von denen wir die meisten mit Vorsicht genießen müssen
und auch mit Vorsicht behandeln müssen. Das Prinzip aber, das Sie hier praktizieren, jeden Monat eine „Chemikalie des Monats" vorzustellen,
wird das Problem nicht lösen. Selbst wenn Sie bei jeder Debatte eine neue Chemikalie ansprächen, würden wir in 40 Jahren allenfalls tausend Chemikalien behandeln können. Es sind aber wesentlich mehr.
Meine Damen und Herren, es kann nicht die Aufgabe der Politik sein, sich um jede einzelne Chemikalie zu kümmern, sondern wir müssen dafür sorgen, daß das System funktoniert, daß die Verwaltung funktioniert,
daß Strukturen geschaffen werden, um diese Probleme zu bewältigen. Mit Einzelaktionen können Sie das nicht packen. Wenn hier also Verbesserungen notwendig sind, dann, meine ich, sollten Sie im Detail Vorschläge machen, wie man das System, die Sicherungsmechanismen verbessern kann. Das haben Sie nicht gemacht.Ein zweiter Punkt bei dieser Umweltdiskussion und der Frage der Chemikalien: Ich glaube, daß wir die Einwirkungen und die Problematik deshalb teilweise sehr schwer beurteilen können, weil die Meßmethoden so extrem scharf geworden sind, daß wir mit den Ergebnissen oft nicht mehr sehr viel anfangen können. Mir wurde gesagt, daß man mittlerweile schon einen Zuckerwürfel nachweisen könne, der in den Chiemsee gefallen sei. Ich glaube, daß es nicht damit getan ist, aufzuzeigen, welche Chemikalien wir mit den extremen Analysemethoden feststellen können, sondern wir müssen auch untersuchen, ob solche Chemikalien nicht schon immer dagewesen sind, so wie das Stoffwechselprodukt Formaldehyd. Ich glaube, es ist nicht richtig, daß wir uns hier in einigen Punkten im Detail über die Gefahren von Formaldehyd aufregen. Es ist sicher Vorsicht am Platze. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr der Verharmlosung. Ich denke z. B. daran, daß die Konzentration dieser Chemikalie vielfach höher ist, wenn man raucht.Wie problematisch Schnellschüsse im Chemikalienbereich sind, will ich am Beispiel einer anderen Chemikalie deutlich machen. Wir haben in unseren Fleisch- und Wurstwaren Zusätze von Nitrit. Jeder weiß, daß Nitrit die Gefahr beinhaltet, in bestimmten Zusammensetzungen krebserregend zu wirken. So wurde Nitrit in den USA z. B. verboten. Die Folge dieses Verbotes war, daß Fleisch- und Wurstwaren jetzt nicht mehr so lange halten, schneller verderben und die dabei auftretenden Schadstoffe in einem viel größeren Umfang krebserregend sind, d. h. mehr Schaden anrichten, als es der Fall wäre, wenn wir sehr vorsichtig mit Nitrit umgehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Diederich?
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Eimer, würden Sie mir zugestehen, daß Ihre Argumentation etwas schief ist? Denn wir haben in der Bundesrepublik vor mehreren Jahrzehnten das Problem der Fischkonservierung gehabt, aber heute weiß jedermann, daß wir in diesem Bereich ohne Konservierungsmittel sehr gut auskommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich weiß, daß wir in vielen Bereichen ohne Konservierungsmethoden auskommen. Wir können aber nicht hergehen — es war mein Bestreben, Ihnen das klarzumachen — und eine Chemikalie sozusagen zur Chemikalie des Monats hochstilisieren, ohne zu bedenken, welche Folgewirkungen es hat, wenn wir sie ohne weiteres verschwinden lassen.
Metadaten/Kopzeile:
7716 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Eimer
Diese umweltpolitischen Schnellschüsse bringen vielleicht kurzfristig Beifall, aber ein langfristiger Erfolg ist keinesfalls sicher.Ich will ein weiteres Beispiel anführen. Wir haben in unsere Kraftwerke Staubfilter eingebaut. Heute müssen wir feststellen, daß diese Staubfilter den basischen Staub zurückzuhalten. Der saure Regen rührt auch daher, daß der saure Anteil nicht mehr an den Staub angebunden wird.
Wir sehen also, wie gefährlich es ist, wenn wir allzu leichtfertig mit Schnellschüssen arbeiten. Wir müssen in all den Dingen, die die Umwelt betreffen, sehr vorsichtig vorgehen.Herr Kollege, ich will überhaupt nichts gegen Katalysatoren sagen. Im Gegenteil! Ich bin der Meinung, daß es eine sehr notwendige Maßnahme war, die die Bundesregierung jetzt getroffen hat. Wir haben sie leider in der alten Koalition in dieser Form nicht treffen können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Ehmke?
Herr Präsident, ein Blick auf die Uhr und die Lampe zeigt mir, daß ich am Ende meiner Redezeit bin. Sonst habe ich mich nie gegen Zwischenfragen gesperrt.
Ich fasse zusammen. Meine Kollegen, die Vorschläge und Argumente der Opposition waren keinesfalls überzeugend und seriös. Die einzelnen Rezepte geben keine Hoffnung auf eine bessere Politik. Gerade als Sozialpolitiker muß man wissen, daß Wohltaten nicht auf Pump finanziert werden können, daß wir nicht von der Hand in den Mund leben können. Soziale Sicherheit muß wirtschaftlich begründet und zuerst erarbeitet sein. Gebratene Tauben fliegen uns nicht in den Mund. Wir bauen auf solide Finanzen. Dieser Haushalt ist solide finanziert. Wir stimmen ihm zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Deres.
Herr Präsident! Mein sehr verehrten Damen und Herren! Zuerst ein Wort zur Aussiedlerbetreuung. Wir haben beschlossen, daß nun auch die Heimatvertriebenenverbände in die Aussiedlerbetreuung einbezogen werden. Das ist so gewollt, und das wird auch so bleiben.
Wir werden jedoch dafür sorgen, daß dieser Beschluß nicht die Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände tangiert. Auch dies ist so gewollt und wird so bleiben.
— Sie wissen doch gar nicht, was ich glaube; geben Sie acht auf das, was Sie glauben.Meine Damen und Herren, Frau Anke Fuchs hat heute morgen hier den „Minister im Nebenamt" kreiert. Ich hätte mir dieses Schlag- oder Knüppelwort etwas besser überlegt, denn in den letzten 13 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung haben Sie vier Minister verzehrt.
Wir haben einen Minister, von dem es jetzt im Hause heißt: Gott sei Dank, wir haben einen Minister, der politisch stark ist. — Der ist also im Nebenamt stärker als Ihre vier im Vollzeitamt. Ich meine, das ist schon eine Leistung.
Meine Damen und Herren, ich habe mich mit dem Thema Gesundheit und dem Einzelplan 15 zu befassen. Dieser Plan umfaßt das Bundesgesundheitsamt in Berlin, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln-Merheim, das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information in Köln und das Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt. Im Regierungsentwurf sind für die vier Institute Ausgaben in Höhe von insgesamt 395 Millionen DM vorgesehen. Die in den Haushaltsberatungen des Haushaltsausschusses vorgenommenen Erhöhungen konzentrieren sich in erster Linie auf das Bundesgesundheitsamt, und zwar auf zwei Problembereiche, erstens auf Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Erkennung und Bekämpfung des erworbenen Immundefektsyndroms, also AIDS, und zweitens auf die Aufbereitung wissenschaftlichen Erkenntnismaterials nach § 25 Abs. 7 des Arzneimittelgesetzes.Für AIDS wurde der Ansatz im Regierungsentwurf von 1 770 000 auf 2 070 000, also um 300 000 DM erhöht. Für die Haushaltsjahre 1986 und 1987 stehen 1,61 Millionen DM Verpflichtungsermächtigungen zur Verfügung. Derzeit sind 96 Fälle bekannt, bei denen das Krankheitsbild voll ausgeprägt ist. Man muß davon ausgehen, daß eine mindestens doppelt so große Zahl von Fällen unerkannt vorhanden ist, die Gesamtzahl also bei 300 liegt. Die Erkrankung hat eine außerordentlich lange Inkubationszeit von mindestens sechs Monaten bis zu zwei, eventuell sogar vier Jahren.Wie hoch die Anzahl der Infizierten derzeit ist, läßt sich nur grob schätzen. Experten rechnen mit einer Verdopplung der Infektionsfälle im Zeitraum von acht Monaten. Legt man Untersuchungen des Auslands zugrunde, dann muß man bereits derzeit von einer Durchseuchung von mehreren tausend Personen ausgehen. Mit hinlänglicher Sicherheit ist seit einigen Monaten der Erreger bekannt.Aus dieser Situation ergibt sich, daß alternative Testansätze entwickelt werden müssen und auch auch die klinische Diagnostik zu verfeinern ist. Zu klären ist weiterhin, ab welchem Zeitpunkt nach Infektion die Übertragungsgefahr einsetzt, ob sie bei Antikörperbildung weiterhin bestehen bleibt oder nach welcher Zeit sie erlischt. Die klinische Forschung bleibt hier unberücksichtigt. Sie muß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7717
DeresVerlaufsbeobachtungen durchführen, prognostische Aussagen ermöglichen und die Therapie abklären.Ob spezielle seuchenhygienische Maßnahmen auf gesetzlicher Grundlage zu ergreifen sind und gegebenenfalls welche, läßt sich derzeit noch nicht definitiv sagen. Ein Sachverständigengespräch vom 28. August 1984 hat dazu keine konkreten Handlungsanleitungen erbracht. Für die Sachverständigen ist es jedoch keine Frage, daß das seuchenhygienische Instrumentarium bereits jetzt auf geeignete Maßnahmen, die in einer Art Stufenplan eingeführt werden könnten, durchzusetzen sind.Nach diesem Sachstand reichen die jetzt erhöhten Mittel für die notwendigen Maßnahmen aus. Eine weitere Erhöhung der Mittel, wie ein Antrag der GRÜNEN fordert, bringt keine Einschränkung der Erkrankungen und auch keine weitere Hilfe. Wir lehnen daher diesen Antrag ab.Zu Punkt 2: Arzneimittelsicherheit und -transparenz erfordern eine Intensivierung der Aufbereitung des bestehenden Marktes der Altpräparate, die nach den Übergangsvorschriften des Arzneimittelgesetzes als zugelassen gelten. Der Gesetzgeber hat diesen Präparaten eine Übergangsfrist bis 1990 gewährt.Man kann aber nicht hinnehmen, daß auf Dauer der Zahl von rund 4 000 Arzneimitteln, die ein Zulassungsverfahren durchlaufen haben, etwa 70 000 Arzneimittel aus industrieller Fertigung sowie weitere 70 000 Arzneimittel aus Apotheken, Drogerien und Reformhausfertigung gegenüberstehen, die ohne Zulassungsverfahren verkauft werden.Die Bundesregierung hat zu Recht als Schwerpunktprogramm im Gesundheitsbereich beschlossen, die Nachzulassung energischer zu betreiben, als dies in den vergangenen Jahren seit Verabschiedung des Gesetzes geschehen ist. Aus diesem Grunde wurde auch der Personalansatz noch einmal verstärkt. Nachdem im Jahre 1984 zwölf weitere Planstellen bewilligt wurden, sind es in diesem Haushalt noch einmal fünf weitere Stellen für Wissenschaftler.Meine Damen und Herren, die Arzneimittelsicherheit erfordert dringend die baldige Aufbereitung des bestehenden Marktes. Die in den vergangenen Jahren durchgeführten Stufenplanverfahren haben gezeigt, daß mit einem der Größe nach unbekanntem Gefährdungspotential im Bereich der Altpräparate gerechnet werden muß.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Je früher die Altpräparate einer Nachzulassung unterzogen werden, desto besser ist das für die Arzneimittelsicherheit. Wir wollen dafür Sorge tragen, auch durch unsere personalpolitischen Entscheidungen, daß das zu Ende geht.
Ich darf hier nur noch darauf hinweisen, daß inzwischen ein Bericht des Bundesrechnungshofs vorliegt, der uns allerhand Begründungen für die Tatsache gibt, daß es nicht zeitiger durchgezogen worden ist. Wir werden diesen Ursachen nachgehen. Deswegen haben wir auch keine weiteren Mittel für die AIDS-Forschung bereitgestellt.
Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe.
— Dann hat der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem Haushaltsausschuß, insbesondere aber auch den Berichterstattern recht herzlich für die Beratung des Einzelplans 15 danken.Ich glaube, daß dieser Einzelplan eine gute Gelegenheit gibt, einmal auf die Angriffe der Opposition zu antworten und darüber hinaus in kurzen Zügen noch einmal die Sozial- und Gesellschaftspolitik der Bundesregierung darzulegen sowie auf einige Fragen einzugehen, z. B. auf die Frage, die Herr Jaunich bezüglich Formaldehyd angesprochen hat.Ich kann natürlich Frau Fuchs überhaupt nicht danken. — Ich weiß nicht, wo sie ist. — Dahinten ist sie. — Verehrte Frau Fuchs, ich habe das Ministerium sozusagen aus Ihren Händen übernommen. Ich will der Öffentlichkeit und dem Parlament einmal darstellen, was damals war und was sich in den vergangenen zwei Jahren geändert hat.
Zur Familienpolitik. Wir haben jetzt 10 Milliarden DM zusätzlich für die Familien beschlossen; bei Ihnen war es null bzw. minus. Sie hatten das Kindergeld gekürzt und arbeitslosen Jugendlichen das Kindergeld gestrichen.
Neuordnung des Kriegsdienstverweigerungsrechts: Die wurde von uns innerhalb von acht Wochen beschlossen und durchgesetzt. Bei Ihnen war null. Sie haben es acht Jahre liegengelassen.
Wir haben ein neues Jugendschutzgesetz auf den Weg gebracht.
Dieses Gesetz verbietet endlich menschenverachtende Videofilme. Bei Ihnen war vor zwei Jahren Null Komma Null.
Wir haben die Neuordnung der ärztlichen Ausbildung, die überfällig war, auf den Weg gebracht.
Bei Ihnen, Frau Fuchs, war Null Komma Null.
Metadaten/Kopzeile:
7718 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. GeißlerWir haben die Krankenpflege- und Hebammenausbildung verabschiedet. Bei Ihnen war Null Komma Null.Die Gefahrstoffverordnung befindet sich in der Beratung. Bei Ihnen: Null Komma Null.Bei Ihnen gab es eine Sozialhilfedeckelung. Seit 1. Juli 1984 werden die Sozialhilfesätze in der Bundesrepublik Deutschland auf meinen Antrag hin und auf Beschluß des Parlaments wieder an den Preissteigerungen orientiert; die Sozialhilferegelsätze sind um 3,2 % erhöht worden; die Preissteigerungsrate liegt bei 2 %; die Sozialhilfeempfänger haben seit Jahren wieder einen realen Kaufkraftzuwachs.
Das bloß als Antwort auf das, was Sie gerade gesagt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem Thema Verelendung wollen Sie den Wahlkampf führen; jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was wir gemacht haben: Kindergeld für Einkommenschwache, Kinderfreibeträge — alles beschlossen von der Bundesregierung; ich nehme an, daß Sie all diesen sozialen Maßnahmen in den kommenden Monaten Ihre Zustimmung geben werden —, Kindergeld für arbeitslose Jugendliche, Erziehungsgeld, Anerkennung der Erziehungsjahre, Verkürzung der Wartezeit in der Rentenversicherung von 15 Jahren auf fünf Jahre — Millionen von jungen Frauen können mit einem eigenen Rentenanspruch in die Ehe, in die Familie gehen ...
Verzeihung, Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Nein, vielen Dank —,
Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Verbesserung der Regelungen für Kurzarbeit, Verdreifachung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Steigerung der Mittel für berufliche Bildung, Fortbildung und Umschulung um 20%,
Vorruhestandsregelung, Beseitigung von Beschäftigungshindernissen für Frauen, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand,
Rentenniveau auf dem Höchststand. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, nennen Sie Abbau des Sozialstaates. Meine Damen und Herren, Sie wissen doch: Lügen haben kurze Beine,
und die SPD geht bereits auf dem Zahnfleisch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt will ich Ihnen dazu noch folgendes sagen: Dies ist eine Auseinandersetzung, die Sie eigentlich gar nicht führen sollten. Denn Ihre Partei und Ihr Bundeskanzler hatten in den letzten Monaten Ihrer Regierungsverantwortung noch selber eingesehen, daß sie zu Sparmaßnahmen greifen müssen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sozialdemokraten haben die Sozialleistungen bereits von 1975 bis 1981 mit insgesamt zwölf Gesetzen um insgesamt 94 Milliarden DM beschnitten und die Beiträge der Arbeitnehmer zusätzlich um 38 Milliarden DM erhöht.
Das, was Sie hier machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat doch keinen Sinn! Sie betreiben hier eine Politik der Sozialdemagogie.
Das wird auf Sie zurückfallen. Es geht hier ausschließlich und allein darum, daß wir den Haushalt wieder in Ordnung bringen, um qualitative Sozialpolitik machen zu können.
Das haben wir hier klar gesagt; in der Familienpolitik war der Schwerpunkt.
Diese leicht durchschaubare Strategie der SPD — davon bin ich überzeugt — wird zusammenbrechen. Diese Strategie hat ja ihre Entsprechung in dem Bemühen, die Christlich Demokratische Union — ich habe es in der letzten Debatte schon gesagt — als die Partei des Kapitals hinzustellen.
Aber ich sage das eine: Die Beendigung der Schuldenwirtschaft und der Inflation ist gerade für Rentner und Arbeitnehmer wichtiger, als gepumptes Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauszuwerfen, wie Sie das getan haben.
In diese Kampagne paßt auch das, was die GRÜNEN betreiben, aber auch — das muß ich jetzt hinzufügen — z. B. die vom WDR am 13. November 1984 ausgestrahlte Monitor-Sendung. In dieser Stellungnahme, in dieser Sendung von Monitor — ich möchte hier jetzt auf die Anfrage des Kollegen Jaunich antworten — wurde behauptet, der Bundeskanzler und ich hätten — beeinflußt von der BASF — amtlich darauf hingewirkt, in dem Bericht der drei Bundesoberbehörden, also in dem Bericht des Bundesgesundheitsamtes, des Umweltbundesamtes und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Formaldehyd nicht als krebserzeugend einzustufen. Es habe eine entsprechende Einflußnahme durch mich
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7719
Bundesminister Dr. Geißler
und eine entsprechende Weisung von Staatssekretär Chory gegeben. Dazu wird ein Satz aus einem Vermerk des schon seit vielen Jahren amtierenden Vizepräsidenten des Bundesgesundheitsamtes über ein Gespräch im Bundesgesundheitsamt zitiert. Erwähnt wurde außerdem ein — verkürztes — Zitat aus einem Schreiben des für diesen Bereich ebenfalls seit einer Reihe von Jahren zuständigen Referatsleiters im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit an das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und an das Bundesministerium des Innern.
Ich möchte dem Hohen Haus mitteilen, daß dieser Vermerk des Vizepräsidenten des Bundesgesundheitsamts über eine gemeinsame Besprechung mehrere Punkte umfaßte.
Im ersten Punkt heißt es — ich verlese, um darzutun, wie gearbeitet worden ist —:
Es soll einen gemeinsamen Formaldehyd-Bericht geben von BGA, UBA und, wenn irgend möglich, BAU. Das Bundesgesundheitsamt wird dieses Amt noch einmal einladen. Eine intransigente Haltung des Bundesamts für Arbeitsschutz sollte aber eine gemeinsame Berichterstattung im Sinne von BGA und UBA nicht hindern.
Danach endet die Monitor-Sendung des WDR, weil der Eindruck erweckt werden soll, es habe eine Weisung gegeben, daß nur ein einheitlicher Bericht abgegeben werden sollte. Aber der Vermerk geht weiter. Der Satz, der dann kommt, lautet:
Eine abweichende Meinung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz soll in dem Bericht aufgenommen werden.
Daß Monitor diesen letzten Satz verschweigt, kann ich nur als eine manipulative Fälschung bezeichnen.
Weder der vollständige Wortlaut des genannten Vermerks noch der des genannten Schreibens enthalten auch nur die Spur eines Anhaltspunkts dafür, daß eine Weisung über eine bestimmte Einstufung von Formaldehyd gegeben worden sei.
Ich erkläre hier vor dem Deutschen Bundestag: Dies ist nicht geschehen, weder vom Minister noch vom Staatssekretär, noch vom zuständigen Abteilungsleiter, noch von einem Beamten unseres Ministeriums. Ich verwahre mich — auch für die hier von Monitor und anderer Seite hineingezogenen Mitarbeiter — entschieden gegen die wahrheitswidrige Behauptung, es sei politischer Druck vom Bundeskanzler, von mir oder von irgend jemandem sonst ausgeübt worden. Heute ist deshalb beim Landgericht in Köln von mir der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen den WDR eingereicht worden.
Es wundert mich nicht — —
Herr Minister, gestatten Sie einen Augenblick. Meine Damen und Herren, ich darf doch bitten, Platz zu nehmen.
Es wundert mich überhaupt nicht, daß hier in einer gemeinsamen Kampagne von einigen Journalisten, aber auch den GRÜNEN und, ich muß sagen, auch von Teilen der SPD eine üble Diffamierungskampagne gegen die Bundesregierung nach bewährtem Muster gestartet worden ist — alles nach dem Motto, einen Zusammenhang zwischen der Industrie, der Bundesregierung und der Christlich Demokratischen Union herzustellen.
An dem Formaldehyd-Bericht haben 35 Wissenschaftler und drei Bundesoberbehörden mitgewirkt. An seiner Ausarbeitung sind ferner die Bundesanstalt für Materialprüfung, die biologische Bundesanstalt und der Vorsitzende der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe — der Mak-Kommission — der Deutschen Forschungsgemeinschaft beteiligt gewesen.Nur in Gehirnen von Leuten, die offenbar den Beamten nichts anderes als Kadavergehorsam unterstellen und zur Wissenschaft ein gestörtes Verhältnis haben, kann der Gedanke entstehen, alle diese Persönlichkeiten und Institutionen könnten in einer solchen Weise beeinflußt und gleichgeschaltet werden.
Die Bundesregierung wird sich solche Manipulationen und Verleumdungen nicht mehr gefallen lassen. Ich halte das, was bei Monitor passiert ist, für eine Verletzung des Staatsvertrags und der Rundfunkgesetze.
Diese Leute von Monitor bringen den ganzen WDR ins Gerede.
Ich möchte die an einer objektiven Berichterstattung und Information interessierten Journalisten beim WDR gegen diese Manipulateure, die hier aufgetreten sind, in Schutz nehmen.
— Ja, daß Sie von den Sozialdemokraten hier offenbar nicht Beifall geben, sondern daß Sie das, was hier von Monitor gemacht worden ist, offenbar billigen und zustimmend zur Kenntnis nehmen, finde ich ein ganz starkes Stück.
Wir werden — darauf können Sie sich verlassen — die Arbeiter bei der BASF darüber unterrichten, in welcher Weise mit dieser wichtigen Materie von politisch interessierter Seite Schindluder getrieben worden ist.
Metadaten/Kopzeile:
7720 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Diederich?
Nein, ich habe keine Zeit. Vielen Dank.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das paßt zu allem. Sie machen hier offenbar mit den GRÜNEN zusammen bei der Formaldehydgeschichte mit. Willy Brandt spricht wegen Nicaragua auf dem Bonner Marktplatz.
Sie demonstrieren zusammen mit den GRÜNEN gegen die NATO.
Willy Brandt macht Duzbrüderschaft mit Fidel Castro.
Das paßt alles in dieselbe Schiene hinein: Von Fidel Castro bis Formaldehyd — die SPD macht alles mit. Das ist der Punkt.
Nun ist hier die neue soziale Frage angesprochen worden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die Bundesregierung hat in der Sozialhilfe das Bedarfsdeckungsprinzip wieder eingeführt. Ich habe die neue soziale Frage in der Tat beschrieben und gesagt, daß Alter und Kinderreichtum Kennzeichen einer neuen Armut seien. Aber die Politik der Bundesregierung hat genau hier angesetzt.
Konsolidierung in der Rentenpolitik, Reform der Hinterbliebenenrente, Anerkennung von Erziehungsjahren,
Einführung des Erziehungsgeldes, Verkürzung der Wartezeit, mehr Teilzeitarbeitsplätze, arbeitsrechtliche Verbesserungen für die Arbeitsplatzteilung,
das sind wesentliche Kennzeichen dieser neuen Politik, die den Menschen wirksam hilft.
Ich möchte, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch noch darauf hinweisen:
Zur neuen sozialen Frage gehört auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Die Bundesregierung weiß genau, daß mit der Geburt eines Menschen schwere Konflikte verbunden sein können. Der Staat kann nicht alle Konflikte lösen. Ehemänner,Partner, Eltern, die Gemeinde und die Nachbarschaft tragen hier eine große Verantwortung. Aber etwas kann der Staat erreichen — es ist bezeichnend, daß die Sozialdemokraten hier lachen —: daß keine Frau deswegen, weil sie ein Kind bekommt, in eine soziale Notlage gerät. Durch unsere Politik und durch die Einführung des Erziehungsgeldes wird z. B. eine alleinerziehende Mutter, wenn sie vorher keinen Beruf gehabt hat, monatlich 600 DM Erziehungsgeld bekommen, das nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird. Sie bekommt noch einmal 600 DM Sozialhilfe. Das macht 1 200 DM netto. Zusätzlich wird ihr die Miete bezahlt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit haben wir ein wichtiges soziales Problem für Mütter lösen können, ein Problem, das bisher nicht lösbar gewesen ist.
Ich wiederhole das, was Frau Professor Männle in diesem Zusammenhang hier gesagt hat: Wir, die Union, wollen nicht strafen, sondern wir wollen helfen.Mir wäre es eigentlich lieb, wenn alle, die gegen die Anwendung von Gewalt zwischen Staaten demonstrieren, mit derselben Intensität mit uns zusammen dagegen demonstrieren würden, daß in der Bundesrepublik Deutschland gegen die schwächste Form des menschlichen Lebens, nämlich gegen das ungeborene Leben, Gewalt angewendet wird, in vielen Fällen ohne gerechtfertigten Grund.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Jahre 1969, als wir die Regierung an die Sozialdemokraten abgegeben hatten, gab es in der Bundesrepublik Deutschland 180 000 Arbeitslose, 1982 fast 2 Millionen. Die Staatsverschuldung lag bei 320 Milliarden DM. Der Staat stand kurz vor dem Bankrott.
Wenn in Schwaben oder in der Pfalz, meiner Heimat, jemand unverschuldet in Konkurs gerät, dann ist er zunächst einmal still, geht in sich und ist ein paar Jahre ruhig, bevor er wieder anderen Leuten Ratschläge erteilt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die Sozialdemokraten haben aus ihrer Konkurspolitik überhaupt nichts gelernt!Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sagen, die beste Politik für unsere Jugend, für die Zukunftschancen der Jugend, besteht darin, daß wir ihr durch eine gute Sozial- und Wirtschaftspolitik
wieder Hoffnung geben können.
Wir haben, wie der Sachverständigenrat ja gesagt hat, die konjunkturpolitischen Ziele erreicht. Beschäftigungsprogramme, wie sie von den Sozialdemokraten empfohlen werden, bewirken nichts. Was
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7721
Bundesminister Dr. Geißlerbei diesen Beschäftigungsprogrammen bleibt, das sind Schulden, nicht Arbeitsplätze.
Ob wir neue Arbeitsplätze haben, hängt aber auch von einer ganz anderen Frage ab, nämlich davon, ob es uns gelingt, die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland als einer modernen Industrienation zu sichern, ob wir also in den kommenden Jahrzehnten angesichts der Herausforderung durch die Vereinigten Staaten und Japan in der Lage sein werden, spitzentechnologische Produkte auf dem Weltmarkt abzusetzen. Deswegen gehört zur Jugendpolitik auch, daß wir jungen Menschen die Angst vor der Technik nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Technik muß im Dienst des Menschen bleiben, aber ohne technischen Fortschritt gibt es keine Arbeitsplätze.Die GRÜNEN schlagen jetzt vor, daß die Ford-Werke statt Autos Fahrräder produzieren. Die Energieversorgung in Hessen wird sabotiert. Es wird die autofreie Stadt Berlin propagiert. In Hessen werden fünf Müllverbrennungsanlagen verboten. Die Stadt Frankfurt bleibt auf einer Million Tonnen Hausmüll sitzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das mag Ihre Politik sein; GRÜNE und Sozialdemokraten bleiben zusammen als gesellschaftspolitische Dinosaurier in der Gegend stehen.
Jedenfalls ist dies keine Politik, die unseren jungen Menschen Hoffnung gibt.
Ein romantischer Rückfall und ein Ausstieg aus der Industriegesellschaft hätten für unsere Bevölkerung genauso katastrophale Folgen wie ein blinder Fortschrittsglaube. Soziale Sicherheit, Leben-standard, Umweltschutz, Hilfe für die Menschen in anderen Kontinenten, Zukunftschancen für die Jugend gibt es nur in der Sozialen Marktwirtschaft.
Angesichts des Hungers in der Welt, der Bedrohung der Umwelt und der Gefahren für den Frieden können wir es uns nicht leisten, auch nur eine Stunde auf wirtschaftliches Wachstum, technischen Fortschritt und eine humane Sozialpolitik zu verzichten.
Das ist unsere Alternative zu dem, was Sie hier vorgetragen haben.Ich darf mich herzlich bedanken.
Meine Damen und Herren, ich darf darum bitten, daß die Abgeordneten, die zur Abstimmung gekommen sind, auch Platz nehmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich ärgere Sie diesmal nicht.
Veranlaßt durch den Redebeitrag des Kollegen Hoss von der Fraktion DIE GRÜNEN, habe ich noch einmal kurz ums Wort gebeten.
Herr Hoss hat vorhin — auch als Begründung eines Entschließungsantrages — vorgeschlagen, die Mittel für die Krebshilfe um 6 Millionen DM zu erhöhen. Ich möchte dazu feststellen: Die Berichterstatter zum Einzelplan 11 — Arbeit und Soziales — haben sich bei der Vorberatung im Arbeitsministerium einvernehmlich darauf geeinigt, die Mittel für die Krebshilfe um 25 Millionen DM zu erhöhen
und das Programm um ein Jahr zu verlängern. Wir haben dies einvernehmlich dem Haushaltsausschuß vorgeschlagen, der dies auch einvernehmlich beschlossen hat. Haushaltstechnisch läuft dies so, daß die vorgesehene Verpflichtungsermächtigung von 10 Millionen DM im Jahr 1987 um 10 Millionen DM aufgestockt wird und für das Jahr darauf weitere 15 Millionen DM veranschlagt werden.
Ein Zweites, was die Streichung der Befreiung vom Beförderungsentgelt für Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Gehörlose betrifft: Wir sind uns darüber im klaren, daß dies für die Gehörlosen ein Opfer ist. Wir wissen, daß sie in besonderem Maße auf Verkehrsmittel angewiesen sind, zumal sie auch die Kommunikation mit anderen in besonderem Maße brauchen. Wir haben den Arbeitsminister einvernehmlich um einen Bericht gebeten. Er hat uns zugesagt, diesen Bericht im Februar vorzulegen. Wir werden alsdann, falls notwendig, entscheiden.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Diederich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Ihre Rede fordert eigentlich zur Auseinandersetzung heraus. Ich möchte mich aber auf Ihre vorformulierte Demagogie nicht einlassen.
Sie sind ein politischer Alchimist; das möchte icheinmal sagen. Was Sie produzieren, liegt weit unter
Metadaten/Kopzeile:
7722 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Diederich
der Gürtellinie, aber es wird auch Ihnen nicht gelingen, Gold daraus zu machen.
Meine Damen und Herren, ich befasse mich mit dem Antrag auf Drucksache 10/2481. Wir möchten die ursprüngliche Fassung der Zweckbestimmung des Haushaltstitels, der der Betreuung der Aussiedler, Zuwanderer, der Besuchsreisenden aus der DDR sowie von ausländischen Flüchtlingen gewidmet ist, wiederherstellen. Durch den Beschluß der Ausschußmehrheit auf Antrag der Unionsfraktion im Haushaltsausschuß soll den Vertriebenenverbänden erstmals auch der Zugriff auf ein Aufgabenfeld eröffnet werden, das aus der Natur der Sache, aus sozialen und auch aus politischen Gründen bislang als typische Aufgabe der Wohlfahrtsverbände angesehen worden ist.Meine Damen und Herren, die Wohlfahrtsverbände haben Aussiedler, Zuwanderer, auch Besuchsreisende aus der DDR und ausländische Flüchtlinge bisher ohne Beanstandungen umfassend betreut, und wir sind ihnen dafür dankbar.
Sie haben diese Aufgabe im Rahmen ihrer vielfältigen Betreuungsaufgaben erfüllen können, die in unserer Gesellschaft typischerweise von den Freien Wohlfahrtsverbänden wahrgenommen werden, weil diese über ein flächendeckendes, engmaschiges Netz von Beratungs- und Betreuungsstellen, auch zur Eingliederung von Ausländern und Zuwanderern, verfügen, das in den gesamten Dienstleistungsbereich der Wohlfahrtsverbände eingebunden ist. Wir sind den Wohlfahrtsverbänden dankbar, daß sie im Laufe der Entwicklung der Bundesrepublik ein stabiles System der Beratung erarbeitet haben, das nach anerkannten Methoden und Prinzipien der Sozialarbeit und der Sozialpolitik arbeitet und gerade dadurch seine große Wirksamkeit entfaltet.Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände, Herr Georg Hüssler, schreibt hierzu an die Mitglieder des Haushaltsausschusses:Im Falle einer Entnahme von Mitteln durch die Vertriebenenverbände aus dem seit Jahren eingefrorenen Zuwendungsbetrag an die Wohlfahrtsverbände wären diese gezwungen, viele wichtige, von den Aussiedlern und Zuwanderern gern angenommene Eingliederungshilfen aufzugeben. Erfahrene Fachkräfte müßten entlassen werden.Weiter sagt Herr Hüssler:Eine solch tiefgreifende Veränderung der Strukturen und Methoden im Bereich der Eingliederungsarbeit ist ein schwerer Schlag gegen die gesamte Aussiedlerintegration. Eine politische Entscheidung über eine Förderung der Vertriebenenverbände darf keinesfalls zu einer Verringerung des Angebots an Eingliederungsmaßnahmen der Freien Wohlfahrtspflege führen. Dieser Sachverhalt schließt deshalb eine Beteiligung anderer Verbände und Institutionen an den oben genannten, für die Freie Wohlfahrtspflege vorgesehenen Mitteln zwingend aus.
Es gibt keinen Grund, den Betreuerkreis zu Lasten der Wohlfahrtsverbände auf die Vertriebenenverbände zu erweitern. Ich sage dies ganz bewußt auch angesichts der Tatsache, daß inzwischen versucht worden ist, die Wohlfahrtsverbände durch Druck und Einschüchterung zu einem Wohlverhalten zu diesem unmöglichen Beschluß zu veranlassen.
— Herr Rossmanith, ich habe sehr wenig Zeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Rossmanith zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Diederich, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, daß erstens die Betreuungsarbeit auch eine Aufgabe der Vertriebenenverbände ist und daß zweitens durch diese Neufassung, d. h. die Einbeziehung der Vertriebenenverbände in diesen Haushaltstitel die Arbeit der Wohlfahrtsverbände nicht tangiert wird, mithin keine Personen entlassen werden müssen?
Herr Rossmanith, wir anerkennen die Rolle der Vertriebenenverbände nach dem Krieg bei der Eingliederung und bei der Betreuung der Vertriebenen. Wir erkennen auch die Pflege des Heimatgedankens, wir erkennen auch ihre sonstige Arbeit an. Meines Erachtens können sich die Vertriebenenverbände auch an jene wenden, die in unser Land zuwandern.
Wir wissen auch, daß die Mehrheit dieses Hauses das Füllhorn staatlicher Finanzierung nunmehr über die Vertriebenenverbände zu ihrer Wiederbelebung ausschüttet.
Wir verstehen und billigen jedoch nicht, daß in diesem Zusammenhang auch der Zugriff auf eine neue Klientel eröffnet werden soll.
Herr Rossmanith, wir glauben, daß gerade die Erstbetreuung der hier Angekommenen, die j a unsere Gesellschaft noch gar nicht kennen, die erst auf die soziale, wirtschaftliche und menschliche Eingliederung vorbereitet werden sollen, eine Aufgabe der Wohlfahrtsverbände ist und nicht der Vertriebenenverbände sein darf.
Die Wohlfahrtsverbände können ihre Aufgabe erfüllen, weil sie erstens, wie gesagt, über ausgebildetes, geschultes und erfahrenes Personal verfügen und sich zweitens ohne politische, ohne parteiliche oder andere Interessenlagen zunächst aus humanitärer und christlicher Verpflichtung der sozialen Aufgabe zuwenden. Das wird für jedermann spürbar ohne Hintergedanken getan.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7723
Dr. Diederich
Wir fürchten, daß selbst bei bestem Willen eine Aufgabenvermengung unvermeidlich bleibt; denn die Vertriebenenverbände haben bei allen kulturellen, gesellschaftlichen und wohltätigen Aktivitäten doch auch, und zwar vorrangig, eine gesellschaftspolitische, eine politisch wirksame Aufgabenstellung. Wir wollen nicht, daß humanitäre und soziale Leistungen in den Verdacht geraten, sie dienten politisch-agitatorischen Zwecken.
Wir wollen, daß die Aussiedler unbeanstandet und möglichst unkompliziert in unser Land einreisen können, wenn sie es wünschen. Wenn in einem Haushaltstitel des Bundes, der sich mit diesem Personenkreis befaßt, die Vertriebenenverbände offiziell beteiligt werden, bleibt zu befürchten, daß vor allem die Arbeit des Roten Kreuzes in den Herkunftsländern der Aussiedler unnötig erschwert wird. Zu allen Hemmnissen, die bereits bestehen, würden weitere politisch motivierte Hemmnisse aufgebaut. Wir wollen keine Mitverantwortung für eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zu unseren osteuropäischen Nachbarn tragen.
Wir appellieren daher an Sie alle, den gut gemeinten, aber eilfertigen Beschluß der Mehrheit des Haushaltsausschusses zu revidieren und die Regierungsfassung der Zweckbestimmung des Titels wiederherzustellen.
Ich beantrage für meine Fraktion namentliche Abstimmung.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegen Briefe von Frauen vor, die aus der Stiftung Mutter und Kind 300 DM bekommen haben. Des weiteren liegen uns Briefe von Frauen vor, die von der Stiftung abgewiesen worden sind, da die Beratungsstellen die Anträge der Frauen nicht bearbeiten konnten, weil sie nicht genügend Personal haben.
Das haben wir vorausgesehen. Sie wissen, wir haben dieses Almosenprojekt der Regierung immer abgelehnt; wir lehnen es auch heute ab. Wir haben einen Antrag eingebracht, der vorsieht, daß die Stiftungsgelder zur Erforschung von Verhütungsmitteln für Männer und Frauen verwendet werden, weil wir wollen, daß Kinder erwünscht zur Welt kommen und weil wir für ein lustvolles Leben sind.
Noch kurz zur Sozialpolitik: Ich habe mir eine intensive Auseinandersetzung über Sozialpolitik gewünscht. Statt dessen hat sich Minister Geißler hier hingestellt und eine Aufzählung gemacht. Da ging es um Kindergeld für Einkommensschwache,
um Kinderfreibeträge, um Erziehungsgeld, um Kindergeld für Arbeitslose. So treibt der Herr Minister Geißler jede Woche aufs neue eine Sau durchs Dorf. Dennoch haben wir 21/2 Millionen Arbeitslose, dennoch haben wir 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger, dennoch haben wir 200 000 Jugendliche, die keine Arbeit haben. Wir haben eine strukturelle Krise, und ich hätte mir gewünscht, daß der Minister sich damit auseinandersetzt, daß wir eine neue Armut haben, die sich galoppierend auswirkt.
Zur Abgabe einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung hat Frau Abgeordnete Kelly das Wort.
Ich möchte zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN, Drucksache 10/2516, folgende Erklärung abgeben. Ich stimme für den Antrag, weil ich mich seit vielen Jahren, seit dem Tod meiner Schwester für eine grundlegende Verbesserung der Notlage krebskranker Kinder in der Bundesrepublik engagiere. Ich stimme auch deshalb dafür, weil es mich zutiefst schockiert, wenn ich aus zahlreichen Briefen betroffener Eltern und von Elterninitiativen, zum Beispiel aus Freiburg, aus Bonn, aus Nürnberg, erfahren muß, daß der Ärzte- und Personalmangel an den onkologischen Kinderstationen in der Bundesrepublik so eklatant ist, daß einzelne Eltern dazu übergegangen sind, Planstellen für Ärzte und psychosoziales Personal selbst zu finanzieren.
Für meine Zustimmung zu diesem Antrag ist auch maßgebend — und dies bedrückt mich außerordentlich —, daß es auf fast keiner Kinderkrebsstation bei uns eine ausreichende seelsorgerische und psychosoziale Betreuung dieser Art gibt. Es gibt meistens überhaupt keine solche Betreuung, weil das vorhandene Personal auf den Kinderkrebsstationen zusätzlich zu den ohnehin gegebenen psychischen Belastungen total überfordert ist und das Betriebsminimum nur durch ein übermäßiges persönliches Engagement aufrechterhalten werden kann.
Ich stimme für diesen Antrag, weil gerade die Eltern krebskranker Kinder, so wie ich es selbst erlebt habe, während des stationären Aufenthalts in vielfach nicht mehr zu vertretender Weise in die Pflege und Überwachung der Kinder eingebunden sind. Eine Mutter schrieb mir aus Essen:
Würden die meisten Eltern nicht aktiv mitarbeiten und Infusionen überwachen, Erbrochenes wegbringen, Kinder waschen und topfen, die Station könnte die Arbeit nicht bewältigen. Von den Elterngruppen aus sind wir bemüht, Aushilfeschwesternstellen einzurichten. Zu mehr reichen leider unsere finanziellen Mittel nicht.
Ich gebe diesem Antrag meine Zustimmung, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie äußerst personalaufwendig die stationäre und ambulante Behandlung dieser krebskranken Kinder ist. Die Onkologie für Kinder hat sich erst Mitte der 70er Jahre zu einem Spezialgebiet entwickelt. Dies ist so,
7724 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Frau Kelly
und dieses Gebiet ist in den von den Krankenhausträgern heute noch zugrunde gelegten, völlig überholten Personalschlüsseln von 1969 nicht ausreichend berücksichtigt.
Ich stimme für diesen Antrag, weil die Modellmaßnahmen zur Förderung der Tumorzentren befristet sind und bis jetzt nur elf Universitätskliniken mit onkologischen Schwerpunkten zugute kommen, mit jeweils einer Arztstelle und zwei Schwesternstellen.
— Könnte ich bitte um mehr Ruhe bitten, Herr Präsident. — Diese begrenzten Maßnahmen haben sich in einer spürbaren Entlastung und Verbesserung der Betreuung ausgewirkt. Doch decken diese Maßnahmen, 1,3 Millionen DM in einem 260-MilliardenHaushalt dieses Jahr, nur einen kleinen Teil des erheblichen Personaldefizits.
Ich stimme dem vorliegenden Antrag zu, weil es mindestens 15 weitere Kinderkrebsabteilungen in diesem Lande gibt, die jetzt, 1985, dringend Unterstützung und Hilfe vom Bund brauchen, weil es auf Länderebene keine Lösungen gibt und das Kompetenzgerangel anhält. Ferner unterstütze ich den Antrag, weil der Bund hier auf konkretem politischem Wege über uns alle hier veranlassen kann, daß es zu einer angemessenen Erleichterung in den Kinderkrebsabteilungen kommt.
Und in begrüße den Antrag deshalb, weil er über die Berechnungen und Fallzahlen der jährlich 1 700 Neuerkrankungen an Krebs im Kindesalter hinaus auch ein Stück konkrete Humanität bedeutet. Er hat für mich begründete Hoffnung zum Inhalt. Das macht es mir leichter, am kommenden Wochenende nach Mainz in die Universitätskinderklinik zu fahren, in der besonders unhaltbare Zustände herrschen.
Frau Abgeordnete Kelly, zur Abstimmung, nicht eine Ergänzung der Aussprache.
Das gehört zu meinem Abstimmungsverhalten. Ich zitiere jetzt zu meinem Abstimmungsverhalten, daß ich mit Ja stimme, einen Satz, der dem Leiter einer Kinderklinik soeben erteilt worden war, eine Belehrung:
Ich habe Gelder aus dem Steuertopf zu verwalten. Humanität ist etwas, was vielleicht Sie sich noch leisten können.
Ich stimme deswegen für den Antrag, weil es wohl möglich sein muß, auch heute, an diesem Tag, eine so bescheidene Forderung für 1985 in Höhe von 6 Millionen DM angesichts der 260 Milliarden DM zu berücksichtigen.
Ich würde mich unheimlich freuen, wenn Sie zustimmen und mit Ja stimmen würden.
Danke.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11. Hierzu liegen auf Drucksache 10/2477 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und auf Drucksache 10/2516 ein Änderungsantrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2477 zuzustimmen wünscht, den bitte ich — —
— Ich bitte, Platz zu nehmen. Sonst ist nicht zu übersehen, wie die Abstimmung läuft, wenn sie kontrovers sein sollte.Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Das letztere war die Mehrheit. Der Antrag ist abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2516 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Das letztere ist die Mehrheit. Dieser Antrag ist ebenfalls abgelehnt.Wer dem Einzelplan 11 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Das erste war die Mehrheit. Der Einzelplan 11 ist damit angenommen.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Zusatztagesordnungspunkt 1 — Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten —, Drucksache 10/2103. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Dieses Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich lasse jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Zusatztagesordnungspunkt 1 auf Drucksache 10/2509 abstimmen. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite ist die Mehrheit. Dieser Entschließungsantrag ist also abgelehnt.Ich rufe jetzt den Einzelplan 15 zur Abstimmung auf, und zwar zunächst die Änderungsanträge der Abgeordneten Frau Schoppe, Verheyen und der Fraktion DIE GRÜNEN. Wer dem Ände-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7725
Vizepräsident Stücklenrungsantrag auf Drucksache 10/2428 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2429 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen mit großer Mehrheit abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2430 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer großen Zahl von Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.Ich rufe jetzt den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2481 auf. Die Fraktion der SPD verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, der möge mit Ja, wer ihn ablehnt, mit Nein, und wer sich der Stimme zu enthalten wünscht, mit Enthaltung stimmen.Ich eröffne die Abstimmung.Meine Damen und Herren, sind noch Mitglieder im Saal, die ihre Stimme abgeben wollen? Haben die Parlamentarischen Geschäftsführer ihre Schäflein nun abgezählt? Kein Bedürfnis zur Abstimmung mehr? — Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte, die Stimmen auszuzählen.Meine Damen und Herren, ich darf bitten, Platz zu nehmen. — Je rascher Sie Platz nehmen, desto schneller kann ich das Ergebnis bekanntgeben und desto eher können wir in den Beratungen fortfahren. — Dies gilt für alle Seiten des Hauses.Das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung: Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 447 ihre Stimme abgegeben. Davon ungültig: keine. Mit Ja haben gestimmt 194, mit Nein haben gestimmt 252, eine Enthaltung. 20 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt 10, mit Nein haben gestimmt 10, keine Enthaltung.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 447 und 20 Berliner Abgeordnete; davonja: 194 und 10 Berliner Abgeordnetenein: 252 und 10 Berliner Abgeordneteenthalten: 1NeinCDU/CSUDr. AbeleinDr. AlthammerFrau Augustin AustermannBayhaDr. Becker BergerBiehleDr. BlankDr. Blens Dr. Blüm Böhm
Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BraunBreuerBrollBrunnerBühler
Carstens
Carstensen ClemensConrad Dr. CzajaDr. Daniels DawekeFrau DempwolfDeresDörflinger Dr. Dollinger DossDr. Dregger Echternach EhrbarEigenEngelsberger EylmannFellnerFrau Fischer Francke
Dr. FriedmannGanz
Frau Geiger Dr. Geißler Dr. GeorgeGerlach GersteinGerster
GlosDr. Göhner GötzerGüntherDr. Häfelevon HammersteinHanz
HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichFreiherr Heeremanvon ZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. Hennig Herkenrath HinrichsHinskenHöffkesHöpfingerDr. Hoffacker Dr. HornhuesHornungFrau HürlandDr. Hüsch Dr. Hupka Graf Huyn Jäger
JagodaDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
Dr.-Ing. KansyFrau KarwatzkiKellerKiechleKlein
Dr. Köhler Dr. Köhler (Wolfsburg) Dr. KohlKolbKrausDr. Kreile KreyKroll-SchlüterFrau Krone-AppuhnDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. Lammert LandréDr. LangnerLattmann Dr. Laufs LenzerLink
Link
Linsmeier LintnerDr. Lippold LöherLohmann LouvenLowackMaaßFrau MännleMaginMarschewskiDr. MarxDr. Mertes
MetzDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. Mikat Dr. Miltner MilzDr. MöllerMüller
Müller
Müller
NelleFrau Dr. NeumeisterNiegelDr. Olderog PeschPetersen Pfeffermann PfeiferPohlmann Dr. Probst RaweReddemann RegenspurgerRepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberRode
Frau RönschFrau Roitzsch
Dr. Rose Rossmanith Roth
RüheRufSauer
Sauer
SaurinSauter
Sauter Schartz (Trier)ScheuSchlottmannSchmidbauerSchmitz
von SchmudeSchneider
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-SchillingDr. SchwörerSeehofer SeesingSeitersDr. FreiherrSpies von Büllesheim Spilker
Metadaten/Kopzeile:
7726 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Vizepräsident StücklenSprangerDr. Stavenhagen Dr. Stercken StockhausenDr. Stoltenberg StrubeStücklenStutzerSussetTillmannDr. Todenhöfer UldallDr. UnlandFrau Verhülsdonk Vogel Vogt (Düren)Dr. Voigt
Dr. VossDr. Waffenschmidt Dr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeißWernerFrau Dr. Wex Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms WilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann Wittmann Dr. WörnerWürzbachDr. WulffZiererDr. Zimmermann ZinkBerliner AbgeordneteFrau Berger BoroffkaBuschbom DolataKalischKittelmannDr. h. c. LorenzSchulze StraßmeirFDPFrau Dr. AdamSchwaetzerBaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth) EngelhardDr. FeldmannGallusGattermann Genscher Grünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannDr. HirschKleinert KohnMischnick Neuhausen PaintnerRonneburgerDr. Rumpf Schäfer
Frau Seiler-AlbringDr. SolmsDr. WengWolfgramm WurbsBerliner Abgeordneter HoppeJaSPDAmling Antretter Dr. Apel BachmaierBahrBambergBecker BernrathBerschkeitFrau BlunckBrandtBrückBuckpeschBüchler
Büchner
Dr. von BülowBuschfort CatenhusenColletConradiDr. CorterierCurdtDaubertshäuserDelorme Dreßler DuveDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichDr. EndersEstersEwenFiebigFischer Fischer (Osthofen)Frau Fuchs
Frau Fuchs GanselGerstl
GilgesGlombig GrunenbergHaarHaase
HaehserHansen
Frau Dr. HartensteinDr. HauchlerHauckDr. Hauff HeistermannHerterich Hettling HeyennHiller Hoffmann (Saarbrücken) Dr. HoltzHornHuonker IbrüggerImmer Jahn (Marburg)Jansen Jaunich Dr. Jens JunghansJungmann Kastning KiehmKirschner Kisslinger Dr. KlejdzinskiKloseKolbow Kretkowski Dr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lennartz LeonhartFrau Dr. Lepsius LiedtkeLutzFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MatthöferMeininghausMenzelDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelNehmNeumann Dr. NöbelFrau Odendahl OostergeteloPaterna PauliDr. Penner Peter
PfuhlPorzner PoßPurpsRapp Rappe (Hildesheim) ReimannReschke ReuterRohde
RothSanderSchäfer
Dr. Scheer Schlaga Schlatter SchluckebierDr. Schmidt Schmidt (Hamburg) Schmidt (München) Schmitt (Wiesbaden) Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchreinerSchröder Schröer (Mülheim) Schulte (Unna)Dr. Schwenk SielaffSielerFrau SimonisDr. Soell Dr. SperlingStahl
SteinerFrau Steinhauer StocklebenDr. Struck Frau TerborgTietjenFrau Dr. Timm ToetemeyerFrau Traupe UrbaniakVerheugen VogelsangVoigt Waltemathe WaltherWeinhoferWeisskirchen Dr. WernitzDr. Wieczorek Wieczorek Wiefelvon der Wiesche Wimmer WischnewskiWitekDr. de With Wolfram
Würtz
ZanderZeitlerFrau ZuttBerliner AbgeordneteDr. Diederich EgertHeimann LöfflerFrau LuukDr. Mitzscherling StobbeDr. Vogel Wartenberg
FDPDr. Graf Lambsdorff DIE GRÜNENFrau Dr. BardFrau Beck-Oberdorf Burgmann DrabiniokDr. Ehmke Fischer (Frankfurt) Frau GottwaldFrau Dr. HickelHossDr. Jannsen Frau KellyKleinert KrizsanFrau Nickels Frau Potthast ReentsFrau Reetz Sauermilch SchilyFrau Schoppe Schwenninger Verheyen Vogt (Kaiserslautern) Frau Dr. VollmerBerliner Abgeordneter Schneider fraktionslosBastianEnthaltenSPDFrau WeyelDamit ist dieser Antrag abgelehnt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7727
Vizepräsident StücklenWir stimmen nunmehr über den Einzelplan 15, Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, ab. Wer dem Einzelplan 15 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit. Der Einzelplan 15 ist damit angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 30Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie— Drucksachen 10/2321, 10/2330 —Berichterstatter:Abgeordnete Verheyen
Dr. Stavenhagen ZanderHierzu liegen Ihnen Änderungsanträge des Abgeordneten Verheyen und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 10/2438 bis 10/2441 und von der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2485 vor.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für die Aussprache eine Runde vereinbart. — Ich sehe, das Haus ist damit einverstanden.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zander.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 30 umfaßt etwas mehr als 7,2 Milliarden DM. Demgegenüber beträgt meine Redezeit hier 15 Minuten. Wenn ich den verdienten Beifall abziehe, kommen also auf jede Milliarde zwei Minuten. Wie angemessen das ist, mag jeder selbst beurteilen.Meine Damen und Herren, nach den Beschlüssen der Mehrheit im Haushaltsausschuß soll der Forschungsetat um 2,4 % steigen und dabei noch eine globale Minderausgabe von 55 Millionen DM erwirtschaften. Angesichts der zu erwartenden Preissteigerungen im nächsten Jahr ist das praktisch ein Null-Wachstum. Ich finde, das ist kein positives Signal für die Forschungspolitik. Auch der Hinweis des Ministers, der Einzelplan 30 steige j a schneller als der Bundeshaushalt 1985 insgesamt, kann diese Tatsache nicht beschönigen. Der Einzelplan 30 steigt zwar etwas überdurchschnittlich, aber was besagt denn ein solcher Vergleich in einer Zeit der Haushaltskonsolidierung? Er besagt in Wahrheit, daß die Zukunftsaufgaben für diese Regierung keine Priorität haben.Maßstab für die Beurteilung, ob der Einzelplan 30 angemessen steigt oder nicht, kann doch wohl nursein, ob er — gemessen an den forschungspolitischen Aufgaben — angemessen dotiert ist. Meiner Meinung nach wird ein im Jahre 1985 praktisch eingefrorener Forschungsetat den Aufgaben der Zukunftssicherung, der Umweltvorsorge und der Schaffung von Arbeitsplätzen nicht gerecht. Dies sind nun einmal die wichtigsten Aufgaben, vor denen die Bundesregierung steht.Besonders angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, auf die die Bundesregierung j a allgemein nur mit Untätigkeit reagiert, ist es unvertretbar, wenn die Investitionen im Bereich des Einzelplans 30 gegenüber 1984 um mehr als 150 Millionen DM gekürzt werden sollen, so problematisch der Investitionsbegriff beim Einzelplan 30 auch sein mag. Ich finde, eine Regierung, die zugleich neue Subventionen in Milliardenhöhe eingeführt hat, muß sich sagen lassen, daß sie hier die Prioritäten falsch setzt.
Bei den Haushaltsberatungen 1982, Herr Kollege Stavenhagen, haben Sie uns hier gesagt: „Gerade in dieser Situation, wo wir uns der Zwei-MillionenMarke bei den Arbeitslosen nähern, ist es unsinnig, in der Forschungspolitik mit Blick auf die Zukunft nicht genügend zu tun." — So weit Ihre Ausführungen aus dem Jahre 1982. Damals gab es Beifall aus den Reihen Ihrer Fraktion. Abgesehen davon, daß die Arbeitslosen-Marke heute deutlich höher liegt und in diesem Winter möglicherweise leider näher bei der Drei- als bei der Zwei-Millionen-Marke sein wird,
kann man Ihre Äußerungen, Herr Stavenhagen, von 1982 auch auf den Haushalt 1985 anwenden. Aber leider gilt auch hier: Die Regierungskoalition tut in der Praxis das Gegenteil von dem, was sie in der Opposition versprach.Meine Damen und Herren, mehr Investitionen, um Arbeit zu schaffen und Umweltprobleme zu lösen, und nicht eine Senkung zukunftsbezogener Ausgaben: Das hätte man eigentlich vom Forschungsetat erwarten sollen. Zu wenig für die Arbeitsplätze von morgen, zu wenig angesichts der konjunkturellen Situation, zu wenig für den Schutz einer lebenswerten Umwelt: Das ist leider der Gesamteindruck, den uns der Forschungsetat vermittelt.
Wir Sozialdemokraten meinen, daß es in der Forschungs- und Technologiepolitik nach wie vor eine Reihe von Gemeinsamkeiten gibt. Wir glauben auch, daß der Forschungsminister mit uns die Überzeugung teilt, daß die Modernisierung der Volkswirtschaft, und zwar auf breiter Grundlage, ein wesentliches Ziel staatlicher Forschungspolitik darstellt. Forschungspolitik braucht, weil sie fast immer langfristig angelegt ist, Kontinuität. Darum möchte ich sagen: Die Mitarbeiter in den For-
Metadaten/Kopzeile:
7728 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Zanderschungseinrichtungen, die forschungs- und technologiepolitisch Interessierten in der Wirtschaft können sich darauf verlassen, daß die Sozialdemokraten, auch in der Opposition, die Bundesregierung da unterstützen werden, wo diese der gemeinsamen Grundüberzeugung entsprechend handelt.Dementsprechend ist es nicht meine Absicht, den Einzelplan 30 hier nun gewissermaßen in Bausch und Bogen zu verdammen. Ich möchte vielmehr ausdrücklich hervorheben, daß ich es als positiv empfinde, wenn die Mittelansätze in wichtigen Bereichen doch deutlich erhöht worden sind. Als Beispiele nenne ich die ökologische Forschung, die Klimaforschung, die Gesundheitsforschung und auch die erhöhten Ansätze für die Humanisierung der Arbeitswelt, die wir über die eigenen Anstrengungen der Regierungskoalition hinaus gerne noch weiter aufstocken möchten. Über einen diesbezüglichen Antrag werden wir j a anschließend abstimmen.Auf der anderen Seite kann ich natürlich auch sagen, daß ich die gegenüber 1984 vorgenommenen Kürzungen in den Bereichen öffentlicher Personennahverkehr, Geo-Wissenschaften, Rohstoffsicherung, Metallurgie und nichtnukleare Energieforschung für falsch und schädlich halte.
Während der Einzelberatungen, meine Damen und Herren, haben wir die vorgesehenen Mittel für den Hochtemperaturreaktor und den Schnellen Brüter gründlich unter die Lupe genommen. Wir haben hier eine Kürzung in Höhe von 50 Millionen DM für richtig gehalten, weil die Fertigstellung des Prototyps des Schnellen Brüters von der beteiligten Industrie durch eigene und höhere Mittel finanziert werden sollte. Dieser Antrag ist von Ihnen im Ausschuß leider abgelehnt worden.Ich möchte noch einmal an das erinnern, was der Finanzminister hier in der ersten Lesung gesagt hat. Er hat vorgetragen, und zwar nachdrücklich, sehr eindrucksvoll, daß die Elektrizitätsunternehmen — ich zitiere — „gutgehende Monopolbetriebe mit glänzenden Bilanzen und Spitzendividenden" seien, die der öffentlichen Zuschüsse nun wirklich nicht mehr bedürften. Ich sage, das ist richtig. Wer sonst, wenn nicht sie, soll aus seinen Einnahmen und Gewinnen den technischen Fortschritt bei dem hochrentablen Produkt Elektrizität finanzieren?Ich glaube, es spricht eine Menge dafür, diesen Antrag anzunehmen. Er entlastet nicht nur den Bundeshaushalt, sondern er führt auch zu einem zuverlässigeren volkswirtschaftlichen Energiepreis und führt den ökonomischen Zwang herbei, Kostenrisiken und auch Chancen der Kernenergie realistischer einzuschätzen. Bei der Begründung dieses Kürzungsantrags möchte ich jedenfalls Bundesminister Stoltenberg ausdrücklich heranziehen.Meine Damen und Herren, in der Grundlagenforschung, aber auch in der anwendungsbezogenen Forschung wird eine Reihe von Großprojekten vorgeschlagen oder sogar schon vorbereitet. Allen diesen Großprojekten ist gemeinsam, daß sie den Bundeshaushalt in den nächsten Jahren in Milliardenhöhe belasten werden und die gültige mittelfristige Finanzplanung ab 1986 meiner Meinung nach zu sprengen drohen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das unkontrollierte Hineinschlittern in kostenaufwendige Großprojekte, wie wir es im Verteidigungshaushalt erlebt haben, sollte im Forschungshaushalt vermieden werden.Wir haben jedenfalls erhebliche Sorge, daß dies im Bereich der Weltraumforschung und Weltraumnutzung unter dem Druck unserer Partner schon geschehen sein könnte. Ich begrüße es hier aus diesem Grunde ausdrücklich, daß es im Haushaltsausschuß möglich war, die für die Vorbereitung der Weltraumprojekte Ariane V und Columbus vorgesehenen 55 Millionen DM für 1985 qualifiziert zu sperren. Die Bundesregierung, die offenbar seit Monaten unfähig ist, ihre Position in dieser Sache zu bestimmen und einen Kabinettsbeschluß herbeizuführen, wird dem Haushaltsausschuß dann darlegen müssen, ob und wie diese Projekte im einzelnen begründet sind. Wir möchten vor allem auch wissen, ob denn die mit den USA zu treffenden Vereinbarungen im Falle einer Beteiligung an der bemannten Weltraumstation den Europäern auch tatsächlich den technologischen Nutzen bringen werden, den man sich von diesem Projekt verspricht. Angesichts der zunehmenden Restriktion der USA beim Technologietransfer, die ja inzwischen weit über den militärischen Bereich hinausgeht, haben wir hier erhebliche Sorgen.Meine Damen und Herren, Großforschungseinrichtungen und Wissenschaftsgesellschaften erhalten aus dem Einzelplan 30 jeweils mehrere 100 Millionen DM an Bundeszuschüssen. Wir Abgeordneten beschließen darüber an Hand von Planungen, ohne auch nur bescheidene Informationen über die Praxis der Förderung und über die Schwerpunktsetzung zu haben. Eine Teilhabe an diesen Beratungen in den Gesellschaften selbst ist für Parlamentarier nicht vorgesehen. Vertrauen, meine Damen und Herren, daß alles den richtigen Gang geht, ist eine gute Sache, wir aber sind gewählt, um Kontrolle auszuüben. Ich finde den jetzigen Zustand jedenfalls unbefriedigend und möchte alle Fraktionen einladen, über dieses Problem einmal nachzudenken und vielleicht gemeinsam Lösungen zu finden, wie das Parlament hier besser eingeschaltet werden kann. Wenn die Bundesregierung dazu — vielleicht nach Abstimmung mit den Wissenschaftsgesellschaften — Vorschläge machen könnte, wären diese sicher hochwillkommen.Im Bundeshaushalt für 1985, meine Damen und Herren, sind die Mittel für Informations- und Fertigungstechniken erheblich angehoben worden. Diese Techniken bringen in ihrer Anwendung enorme Rationalisierungseffekte. Die Folgen für
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7729
Zanderdie Zahl und Qualität der Arbeitsplätze sind unübersehbar. Die gesellschaftliche und soziale Konsequenz reicht bis zu Problemen für die Finanzierung unseres sozialen Sicherungssystems.Ich frage: Wer kümmert sich eigentlich innerhalb der Bundesregierung um die Konsequenzen des technischen Fortschritts und der Forschungspolitik?Meine Fraktion beantragt ferner, 60 Millionen DM sowie eine Reihe von Verpflichtungsermächtigungen zur Förderung neuer Technologien für die umweltfreundliche Nutzung der Kohle und für emissionsarme Feuerungstechniken bereitzustellen. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.Darüber hinaus möchte ich den Herrn Bundesminister auffordern, der Entwicklung neuer Verbrennungstechnologien in den kommenden Jahren wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Mittel zu widmen, als es bisher der Fall war. Denn für die Reinigung, z. B. die Entschwefelung, von Emissionen aus Verbrennungsprozessen wird viel getan; die Verbrennungsprozesse selbst aber sind kaum und nicht selten überhaupt nicht Gegenstand der Forschung und der Förderung. Diese Verbrennungsprozesse jedoch, egal, ob sie in Kraftwerken, in Haushalten oder in Verbrennungsmotoren stattfinden, haben an der Energieerzeugung einen Anteil von rund 90 %. Im Vergleich damit liegt der Anteil der Kernenergie bei 4 % bis 5 %. Aber bei den Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen ist es umgekehrt. Etwa das Zwanzigfache wird für die Kernenergie und nur ein Zwanzigstel im Vergleich damit für die Verbrennungstechnologie aufgewendet. Das Verhältnis des Anteils der beiden Techniken an der Energieerzeugung ist etwa umgekehrt. Ich glaube, es gibt erhebliche Reserven für Energieeinsparung und Schadstoffverminderung, die sich durch Optimierung der Verbrennungsprozesse erreichen ließen.
Ich bitte den Bundesminister, diesem Thema in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Denn es scheint mir wesentlich vernünftiger zu sein, auf einen emissionsarmen Verbrennungsprozeß hinzuwirken, als die Abgase zu reinigen und zu entgiften.
Ich habe eingangs von den Gemeinsamkeiten in der Forschungspolitik gesprochen. Ich hatte angesichts dieser Tatsache auf seiten der Koalitionsfraktionen etwas mehr Entgegenkommen gegenüber den Anträgen meiner Fraktion erwartet. Sie waren bescheiden genug. Aber leider konnte sich die Koalition im Haushaltsausschuß noch nicht einmal bereitfinden, eine so bescheidene Forderung wie die Erhöhung der Mittel für die Friedensforschung um 500 000 DM zu unterstützen.Übrigens ist auch hier die politische Grundhaltung dieser Regierung wieder deutlich. Der Kanzler verkündet nach außen vollmundig, die Regierung sei für Frieden mit immer weniger Waffen. Aberder Friedensforschung wird bei uns die finanzielle Grundlage entzogen.
— Auch hier, Herr Kollege Lenzer, gibt es den Widerspruch zwischen Phrasen in Sonntagsreden und dem Regierungsalltag.
Meiner Fraktion ist durch die Ablehnung ihrer Korrekturwünsche im Haushaltsausschuß jede Möglichkeit genommen worden, bescheidene eigene Akzente in den Einzelplan 30 einzubringen. Wir machen diesen Versuch im Plenum noch einmal. Aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse kann ich wohl kaum damit rechnen, daß Sie heute den Anträgen zustimmen werden, die Sie im Haushaltsausschuß abgelehnt haben.
Aus diesen Gründen wird uns nichts anderes übrig bleiben, als den Einzelplan 30 abzulehnen. Sie können im übrigen von der SPD-Fraktion keine Zustimmung zu einem Etat erwarten, den Sie im Pressedienst des Bundesministeriums für Forschung und Technologie als „Zeichen der Wende" charakterisiert haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stavenhagen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zander, Sie beklagen, der Forschungsetat sei nicht reichlich genug dotiert. Ich frage Sie, ob Sie ihn mit mehr Schulden finanzieren wollen. Und ich muß Ihnen sagen: In der Abwägung,
ob wir mehr Schulden machen sollen, müssen wir auch beim Forschungsetat die Kriterien äußerster Sparsamkeit anlegen.
Und ich sage Ihnen: Erhöhung von Effizienz und Kreativität ersetzt globale Zuwachsraten.
Man darf ja nicht vergessen, daß bei einem äußerst sparsam gefahrenen Bundeshaushalt 1985 ein Zuwachs von 2 % weit über dem Durchschnitt liegt und damit die Priorität der Forschungspolitik unterstrichen wird.Das zweite, was Sie übersehen haben, ist, daß natürlich eine Reihe von Bereichen rückläufig ist, aus gutem Grunde. Ich nenne z. B. die Forschung im Bereich der nuklearen Energie, im Bereich bodengebundener Transporte und Verkehr, im Bereich rationeller Energieverwendung, bei dem wir in Marktnähe gekommen sind. Es kann doch nicht so sein, daß man stur an etablierten Technologien fest-7730 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Dr. Stavenhagenhält, sie weiter fördert, obwohl man in neue Bereiche aufbrechen kann und dies auch muß.
Deshalb ist — drittens — die Dynamik innerhalb des Forschungsetats wichtiger als die globale Zuwachsrate.Ein Viertes will ich Ihnen sagen. Der Forschungsminister bemüht sich erfolgreich, die Eigenbeteiligung der Industrie zu erhöhen. Dies dient der Effizienz und beugt der früheren Praxis vor, daß eine Reihe von Firmen die guten Risiken selbst gemacht hat und sich die miesen Risiken vom Staat hat bezuschussen lassen. Wer eigenes Geld mitbringt, sorgt dafür, daß die Projekte nach Möglichkeit Erfolg haben.
— Aber in wesentlich geringerem Umfang. Ich habe doch die einzelnen Listen durchgeguckt, Herr Kollege. Bis 80 % und mehr wurde öffentlich gefördert. Nun versuchen wir generell — mit wenigen Ausnahmen — auf 50 % herunterzugehen.
Herr Kollege, Sie beklagten, daß wir für die Friedensforschung nicht einmal 500 000 DM zusätzlich übrig hätten. Sie hatten für die Friedensforschung nicht einmal einen hauptamtlichen Mitarbeiter übrig. Herr Bahr macht in Hamburg jetzt im Nebenamt, was Graf Baudissin bisher im Hauptamt erfolgreich und verdienstvoll versehen hat.
— Sie mögen das billige Polemik nennen. Ich glaube nicht, daß der Friedensforschung mit dieser Personalentscheidung ein besonderer Dienst erwiesen worden ist.
Im Haushalt 1985 und in der Fortschreibung der Finanzplanung sind Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Forschungs- und Technologiepolitik verwirklicht. Das Ausgabenprofil des Haushalts zeigt, daß die vor zwei Jahren eingeleitete Neuorientierung konsequent weitergeführt wird. Bei Wahrung der in der Forschungsförderung wichtigen Kontinuität — wir haben es vermieden, irgendwelche Projekte abzubrechen — sind wesentliche neue Akzente gesetzt worden. Ich nenne die Stärkung der Grundlagenforschung, die Forschung in zentralen Bereichen staatlicher Daseins- und Zukunftsvorsorge, die Verbesserung der Infrastruktur und der Kooperation in der Forschung, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Innovation in der Wirtschaft und die Erschließung von Schlüsseltechnologien.Weil das Geld knapp ist, mußten die neuen forschungspolitischen Akzente in erster Linie durchUmschichtung innerhalb des Forschungshaushalts gesetzt werden. Hierzu — ich sagte es bereits — wurden Spielräume, etwa im Kernenergiebereich, durch auslaufende Förderungen geschaffen. Die Mittel für die Nuklearenergieforschung sinken um 61/2 %. Dieser Titel macht jetzt nur noch 22 % des gesamten Forschungsetats aus.Wir wollen die Bundesregierung ausdrücklich ermutigen, in der Forschungsförderung auf Kreativität und Dynamik zu setzen. Das heißt, daß aus neuen Schwerpunkten eines Tages etablierte Technologien werden müssen, die sich am Markt selbst zu behaupten haben. Dann sind die Fördermittel entsprechend zurückzufahren und auf neue Zukunftstechnologien zu lenken.Ausdrücklich unterstützen wir die Bemühungen, durch konsequentes Hinarbeiten auf wenigstens 50 % Eigenbeteiligung der Industrie an Forschungsvorhaben zusätzlichen finanziellen Spielraum zu schaffen. Auch die Verbesserung der Effizienz der eingesetzten Fördermark ist ein Weg, zusätzliche finanzielle Spielräume zu bekommen. Ich nenne zwei Beispiele. Der Personalaufwand bei den Projektträgern konnte verringert und die Anzahl von Beratern des Forschungsministers deutlich verringert werden. Bei den institutionell geförderten Forschungseinrichtungen bringen die eingeleiteten Maßnahmen Erleichterungen für die Stellen- und Mittelbewirtschaftung und damit mehr Flexibilität bei der Aufgabenwahrnehmung.Als Instrument zur Effizienzsteigerung der direkten Projektförderung wird die Verbundforschung eingesetzt. Dabei geht es um die arbeitsteilige Bearbeitung übergreifender, thematisch zusammenhängender Problemstellungen durch mehrere Unternehmen und Forschungsinstitute.
Die Verbundforschung trägt dazu bei, größere Umsetzungsnähe und Umsetzungsgeschwindigkeit der geförderten Aktivitäten zu erreichen. Wir wollen die Verbundforschung künftig verstärken. Beispiele sind die Programme Fertigungstechnik, Informationstechnik, Umweltforschung und Umwelttechnologie.Ein Blick auf das Profil des Forschungshaushalts 1985 zeigt, wie sich die Neuorientierung der Forschungs- und Technologiepolitik auswirkt. Die Ausgaben für die Grundlagenforschung sowie für die langfristigen grundlagenorientierten Forschungsprogramme steigen um knapp 7% auf etwa 2,4 Milliarden DM.
Ihr Anteil am Forschungshaushalt erhöht sich damit auf rund ein Drittel des gesamten Etats. Das unterstreicht die Bedeutung, die wir der Grundlagenforschung als der Basis für die künftigen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen beimessen.Enthalten sind hierin die Ausgaben für den Bau der Hadron-Elektronen-Ringanlage Herra bei DESY in Hamburg, für den Aufbau des Forschungs-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7731Dr. Stavenhagenreaktors beim Hahn-Meitner-Institut in Berlin, für den Bau eines neuen Forschungsschiffs, für die Entwicklung des Röntgensatelliten ROSAT und für den Bau des großen Elektronen-Positronen-Speicherringes bei CERN in Genf.Die Bundesregierung hat sich auf Empfehlung des Gutachterausschusses „Großprojekte in der Grundlagenforschung" für diese Projekte entschieden. Wir unterstützen diese Entscheidung, weil die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung heute in bestimmten Arbeitsbereichen auf Großgeräte angewiesen ist, um den hohen Leistungsstand zu halten.Zur Gewinnung von Orientierungswissen und zur Verstärkung der Handlungsmöglichkeiten im Bereich staatlicher Zukunftsvorsorge werden schwerpunktmäßig die Umwelt- und Klimaforschung, die Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit sowie die Humanisierung des Arbeitslebens gefördert. Zusätzliche Anträge sind hier nicht erforderlich. Im Bereich der Umweltforschung, der Umwelttechnologien und der ökologischen Wirkungsforschung ist noch nie mehr Geld ausgegeben worden als im Jahre 1985.Die indirekte Forschungsförderung soll zur weiteren Verbesserung der Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Innovation dienen und steigt um fast 30 % auf rund 350 Millionen DM.Wichtig sind die Fördermöglichkeiten für technologieorientierte Unternehmensgründungen. Sie werden ausgeweitet. Dies begrüßen wir. Wir begrüßen auch die Entscheidung der Bundesregierung, die Zuschüsse zu den Kosten des in Forschung und Entwicklung beschäftigten Personals fortzusetzen und durch eine Forschungspersonalzuwachsförderung zu erweitern. Mit der Forschungspersonalzuwachsförderung sollen insbesondere die personalintensiv forschenden mittleren und kleineren Unternehmen angesprochen werden, die ihr Forschungspersonal durch Neueinstellungen erweitern wollen.Die indirekt-spezifische Förderung wird bei der Anwendung von computer-aided design, computeraided manufacturing und der Roboterentwicklung im Rahmen des Programms Fertigungstechnik sowie bei dem neuen Sonderprogramm Mikroperipherik im Rahmen des Förderkonzepts Informationstechnik eingesetzt.
— Ja, es ist ein schwieriges Wort, Herr Kollege, aber ich habe es hingekriegt.Das seit Januar dieses Jahres laufende Programm Fertigungstechnik hat eine starke Resonanz gefunden. Bislang liegen mehr als 1700 Anträge vor, von denen drei Viertel aus Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern kommen. Deshalb ist das Programm um 100 Millionen DM auf 450 Millionen DM aufgestockt worden.Wichtig ist auch die Einführung eines neuen Titels „Förderung ausgewählter Wissenschaftler und Forschungsgruppen". Hiermit wollen wir besondere Leistungen der Spitzenforschung beispielhaft herausstellen, die Arbeitsmöglichkeiten und den Forschungsfreiraum verbessern, administrativen Arbeitsaufwand abbauen und Möglichkeiten für die Mitarbeit zusätzlicher junger Wissenschaftler schaffen. Ausgewählten Forschern und Forschergruppen insbesondere der Natur-, der Bio- und der Ingenieurwissenschaften sollen jeweils für einen Zeitraum von 5 Jahren für zusätzliche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten frei verfügbare Zuschüsse gewährt werden. Die Förderung erfolgt ausschließlich unter Qualitätsgesichtspunkten und ist unabhängig von der Art der Forschungsstätte, in der der Forscher oder die Gruppe tätig ist.Die Förderung von Forschung und Entwicklung zur Erschließung von Schlüsseltechnologien hat wegen der internationalen Wettbewerbsposition unserer Wirtschaft auf den Hochtechnologiemärkten große Bedeutung. Eine besondere Rolle spielt hier die Informationstechnik. Mit dem von der Bundesregierung verabschiedeten umfassenden Konzept zur Förderung der Entwicklung der Mikroelektronik und der Informations- und Kommunikationstechniken wird ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der Zukunft geleistet.Weitere Schwerpunkte sind Biotechnologie und Materialforschung, deren Entwicklungsmöglichkeiten und Bedeutung für den Wettbewerb weltweit hoch eingeschätzt werden. Zwar behalten die Ausgaben für die Energieforschung und Energietechnik einen hohen Anteil am Forschungshaushalt, die Förderung ist jedoch rückläufig. In der Kernenergie werden insbesondere die Fortschritte bei den Prototypen Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor, aber auch die allmähliche Übernahme weiterer Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, wie Urananreicherung, in die Verantwortung der Industrie, finanzielle Entlastung schaffen.Im nicht-nuklearen Bereich kann die Förderung in Zukunft verringert werden, weil auf vielen Gebieten ein Stadium erreicht ist, in dem jetzt der Markt gefragt ist. Staatliche Hilfe muß sich auf die Bereiche konzentrieren, die noch ein hohes technisches Entwicklungspotential aufweisen. Rückläufig ist ebenfalls die Förderung auf dem Gebiet der Rohstoffe und in Teilbereichen der Verkehrstechnologien.
Mit dem Bericht „Status und Perspektiven der Großforschungseinrichtungen" hat die Bundesregierung ein Konzept für die Zukunft der Zentren vorgelegt. Sie werden vom Bund mit 1,9 Milliarden DM zu 90 % institutionell gefördert. Sie erfüllen mit ihren durch Langfristigkeit, Komplexität sowie hohem Planungs- und Managementaufwand gekennzeichneten Aufgaben einen besonderen öffentlichen Auftrag und sind damit ein wichtiger Bestandteil unserer Forschungs- und Entwicklungslandschaft. Wir wollen ihnen flexiblere Rahmenbedingungen für ihre Arbeit geben. Deswegen hat der Haushaltsausschuß nicht nur positiv Kenntnis genommen von dem Bericht der Bundesregierung zur Verbesserung der Flexibilität der Einrichtungen, vielmehr haben wir durch weitergehende Beschlüsse in die-
Metadaten/Kopzeile:
7732 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Stavenhagensem Bereich eigene Akzente gesetzt. Wir haben beschlossen, in einem dreijährigen Modellversuch eine Reihe von Einrichtungen aus der haushaltsrechtlichen Verbindlichkeit der Stellenpläne herauszunehmen. Auf deutsch: Die Einrichtungen sollen innerhalb des vorgegebenen Finanzrahmens, aber unabhängig von starren Stellenkegeln beweglicher bei Personalentscheidungen werden. Nach einem Jahr dieses Modellversuchs stellen wir fest, daß eine praktikable Handhabung dieser neuen Freiheit noch nicht gefunden worden ist. Wir haben deshalb mit dem Haushalt 1985 beschlossen, insgesamt sieben Einrichtungen im Rahmen eines fünfjährigen Modellversuchs zu gestatten, bis zu 10% ihres Stellensolls innerhalb des gegebenen Finanzrahmens zwischen den einzelnen Vergütungsgruppen austauschen zu können.Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern, daß der Haushaltsausschuß ausdrücklich die Absicht der Bundesregierung begrüßt hat, grundsätzliche Fragen des Stiftungsrechts in dieser Legislaturperiode zu prüfen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Überprüfung der Nachteile, die den gemeinnützigen Stiftungen durch die Körperschaftsteuerreform 1977 entstanden sind.
Ich möchte die Bundesregierung ausdrücklich daran erinnern.Mit den aufgezeigten Schwerpunkten ist der Weg für die Forschungs- und Technologiepolitik der kommenden Jahre vorgezeichnet. Hierbei ist selbstverständlich, daß man auf Änderungen und neue Herausforderungen schnell und zielstrebig reagieren muß. So stehen wichtige Entscheidungen im Bereich der Weltraumforschung an. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat uns eingeladen, an der Entwicklung einer ständig bemannten Raumstation teilzunehmen. Dieses Angebot kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem wesentliche Teile des laufenden Programms der ESA auslaufen. Es ist zu entscheiden über die europäische Beteiligung an der von den Vereinigten Staaten vorgeschlagenen Raumstation, genannt Columbus, und über die Entwicklung von Ariane V, einer leistungsgesteigerten Rakete. Beide Vorschläge stehen in enger Wechselbeziehung und können nicht entweder/oder verwirklicht werden.Es soll nicht verschwiegen werden, daß in den Kostenschätzungen noch erhebliche Risiken stekken.
Dennoch halte ich beide Vorhaben für technologisch geboten. Raumfahrt spielt sich an der Spitze des technischen Fortschritts ab und hat eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit und das Innovationspotential der deutschen Wirtschaft.
Ich bitte deshalb die Bundesregierung, über beide Vorhaben bald positiv zu entscheiden.Wir stimmen dem Einzelplan 30 zu.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Bard.
Zu diesen Reden und zu dieser Art, mit der Zukunft umzugehen, fällt mir fast nichts mehr ein.
— Wenn ich Positives in diesem Haushalt suchenmüßte, dann müßte ich hier 15 Minuten schweigen.
Ich will es trotzdem mal versuchen. Vielleicht kapiert der eine oder andere doch mal eine neue Idee.Wenn hier noch jemand den schönen Worten der Bundesregierung über den Umweltschutz glauben würde, würde er, nachdem er heute in dem Haushalt des Innenministeriums nichts gefunden hat, sicher in der Hoffnung in den Forschungshaushalt schauen, daß es hier um eine Forschung und Entwicklung umweltfreundlicher Technologien, Entgiftungstechnologien, umweltfreundliche Produkte gehe. Er fände kaum etwas.
— Ich weiß schon, was Sie als alternativ bezeichnen. Darauf komme ich noch zurück.Die hohen Ausgaben für die Atomenergie, die vielen Verpflichtungen gerade für Großprojekte binden den Großteil der Mittel. Damit schafft sich das Forschungsministerium selbst die Sachzwänge, aus denen es dann nicht mehr heraus kann. Die Spallationsneutronenquelle steht z. B. als ein solches Beispiel an; und heute — aktuell — ist es die Weltraumforschung.Da gab es ja schon ein längeres Hin und Her. Da gab es ein rein politisches Versprechen des Bundeskanzlers Kohl gegenüber den USA, das uns 400 Millionen DM im Jahr kosten wird; Kosten, mit denen, soweit ich sehe, Herr Minister Riesenhuber auch nicht ganz einverstanden wäre, weil sie den Forschungsetat bei weitem sprengen würden.
Die Diskussion ging dann weiter. Woher dieses Geld kommen soll, ist noch gar nicht geklärt. Jetzt wird der Umweg gegangen, über die ESA Beiträge bereitzustellen. Dadurch soll diese Zusammenarbeit mit den USA gewährleistet werden. Zu dem Problem der immensen Beträge kommt noch hinzu,Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7733Frau Dr. Barddaß Frankreich seine Zustimmung davon abhängig macht — das hat Herr Stavenhagen j a auch betont —, daß es eine Kopplung gibt mit der Weiterentwicklung der Ariane, ebenfalls zur bemannten Raumfahrt. Was das kostet, ist überhaupt nicht klar.Kurz und gut: Diese Gelder werden uns überall dort fehlen, wo wir sie eigentlich zur Lösung unserer Probleme brauchen.Hinzu kommt auch noch eine inhaltliche Problematik der Weltraumforschung selber. Warum wird sie eigentlich so forciert? Sicher ist die Weltraumforschung prestigeträchtig. Sie ist teuer. Ihre kommerziellen Anwendungsmöglichkeiten sind gering. Aber sie ist zu einem großen unbekannten Teil auch Teil der Kriegsforschung. Bei dem letzten Aspekt verdient vor allem die Tatsache große Aufmerksamkeit, daß alle zivilen Raumfahrtkomponenten leicht in Kriegsgerät umgewandelt werden können. Mit Höhenforschungsraketen fängt es an, und mit der bemannten Raumfahrt geht es weiter.Prinzipielle Nichtabgrenzbarkeit von ziviler Nutzung und kriegerischem Gebrauch einerseits und unverhüllter Wettlauf der Supermächte nach Weltraumwaffen andererseits sind ein gefährliches Spiel. Und wenn Sie sagen, das sei ein Gespinst der GRÜNEN, dann möchte ich Ihnen ein Zitat vorlesen. Auf der 30. Sitzung der WEU am 21. Juni 1984 wurde empfohlen:Die Versammlung vertritt die Ansicht, daß das Raumfahrtpotential in der künftigen Kriegsführung eine Schlüsselrolle spielen wird, daß militärisch gesehen der Unterschied zwischen den Potentialen der weltraumfähigen Nationen und denjenigen der übrigen Nationen beinahe ebenso groß sein wird wie der derzeitige Machtunterschied zwischen den Kernwaffenstaaten und den Nichtkernwaffenstaaten und daß Europa diese Tatsache nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch dementsprechend handeln sollte.Angesichts solcher Empfehlungen wird es für uns schwierig, nicht an eine kriegerische Möglichkeit zu glauben.
Wenn dieser, wie ich vorhin am Anfang der Rede sagte, vertrauensvoll an den Lippen der Regierung hängende Jemand den Haushalt weiter durchgeht, wird er mir vielleicht entgegnen, daß doch Gelder für regenerierbare, umweltfreundliche Energiequellen vorgesehen sind, z. B. für die Windenergie. Auf das Beispiel wollten Sie vorhin mit Ihren Einwendungen j a vielleicht auch hinaus. Mehr als 160 Millionen DM wurden bisher vom Ministerium für Forschung und Technologie auf dem Windenergiesektor ausgegeben. Das sieht ganz toll aus. Damit steht die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, was den Input angeht, auch gut da.
Hinter den USA bedeutet das den zweiten Platz.Wenn man jetzt aber schaut, was dabei herauskommt, kann man nur ein Kuriosum feststellen. Im Gegensatz zu den USA, im Gegensatz zu den kleinen Ländern wie Dänemark und die Niederlande gibt es keinen sichtbaren Erfolg. Durch die Fördermittel wurde weder ein exportfähiges Produkt entwickelt, noch eine funktionierende Großanlage erstellt.
Ein entscheidender Grund für dieses Manko besteht in der Forschungspolitik des BMFT.80 % der Fördermittel wurden in die Entwicklung eines einzigen technischen Anlagentyps vergeben, nämlich den mit horizontaler Achse und aktiv betätigter Blattwinkelverstellung, z. B. System Hütter. Von diesem Geld wiederum flossen allein 80 % in die Entwicklung in zwei Großanlagen, nämlich den Growian und den Monopterus.
Da bei der Großwindanlage Growian immer mehr Probleme nicht zufriedenstellend gelöst sind und die andere Anlage überhaupt nicht läuft, konnte durch diese Forschungspolitik kein Durchbruch in der Anwendung der Windenergie in der Bundesrepublik erzielt werden. Trotzdem wurden die Mittel von noch 30 Millionen DM auf 10,5 Millionen DM für 1985 gekürzt.Ein wesentliches Argument von Minister Riesenhuber für die Mittelkürzungen bei der regenerier-baren Energie lautete, diese Techniken seien entwickelt und ausgereift und jetzt müßten sich diese Techniken auf dem Markt durchsetzen. Ich frage, wie das geht, wenn die Demonstrationsanlagen nicht funktionieren. Der Begriff „technische Reife" ist in diesem Zusammenhang ein Totschlagargument, das von der politischen Wertung ablenkt. Wenn die staatliche Förderung eingestellt wird, dann deshalb, weil das Zielprodukt nicht erwünscht ist. Im Falle der Energiesparmaßnahmen und der regenerativen Energiequellen heißt dies unter den Randbedingungen von Überkapazitäten der Energieversorgungsunternehmen, daß entsprechende Weiterentwicklungen auf dem Markt nicht greifen können.
Dagegen stellen die GRÜNEN die These auf, daß unsere heutige Generation überhaupt kein Recht hat, die Umwelt so zu gestalten, daß für künftige Generationen keine Möglichkeit mehr besteht, ihre Vorstellungen zu verwirklichen, weil alles ausgereift, totentwickelt, festgeschrieben, zubetoniert ist.
— Es ist nicht Pessimismus. Wir haben Vorstellungen über technische Entwicklung; hören Sie einmal zu.
Metadaten/Kopzeile:
7734 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Frau Dr. BardTechnische Entwicklung muß ein kontinuierlicher Prozeß des Strebens nach technischer Verbesserung und besserer Anpassung an die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt sein. Gerade an dem Beispiel Growian zeigt sich sehr genau, daß eine Vorstellung von technischer Entwicklung, die auf Maximierung anstatt auf Optimierung ausgeht, sich wie die Dinosaurier verhält, und das ist der Growian heute.Das passiert der Forschungspolitik selbst dann noch, wenn sie versucht, von den „harten" Technologien wie der Atomenergie auf „sanfte" Technologien überzugehen. Mit dem Growian fehlt es offensichtlich an Denkprozessen.
Wir GRÜNEN fordern, daß ein Umdenkungsprozeß weg von den herkömmlichen Techniken und Naturwissenschaftsbegriffen kommen muß. Das kostet nichts, sondern erspart uns solche Ausgaben wie die für den Growian. Ein anderer, partnerschaftlicher Umgang mit der Natur und der daraus entwickelten Technologie ist im herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb offensichtlich schwer möglich, mit Eliteforschung, wie sie der Regierung vorschwebt, schon überhaupt nicht. Neue Denkansätze kommen heute vielmehr von den sogenannten Dissidenten und engagierten Laien. Wir schlagen deshalb in einem Änderungsantrag die Einrichtung eines Dissidentenfonds mit 5 Millionen DM vor.
der solche Forschungsansätze, die von den herrschenden Meinungen der herrschenden Wissenschaft abweichen, dieser sogenannten Science Community — —
— Zum Teil werden sie als Sektierer verschrien. Aber genau diese Sachen sich entwickeln zu lassen,
bedeutet einen Fortschritt in Richtung neuer, guter Technologien.
Wie wichtig solche neuen Denkanstöße von außen sind, zeigt auch ein anderes Beispiel: die Tierversuche. Millionen werden in die Tierversuchsforschungen gesteckt, neue Zentren werden errichtet; das Primatenzentrum in Göttingen ist ein Beispiel. Die Wissenschaftler, die daran arbeiten, können sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, daß die Erkenntnis des Lebendigen anders als über den Tierversuch laufen kann. Die Politiker werden angesichts des Protests dazu gezwungen werden,
sie zum Umdenken zu zwingen. Es gibt andere Methoden, und Sie müssen nicht polemisch mit demMenschenversuch kommen. Die Erkenntnis des Lebendigen beruht nicht darauf, es im Labor zu zerschneiden, einzuengen und zu mathematisieren.
Was sollte eigentlich unserer Meinung nach im Haushalt stehen, wenn wir davon ausgehen, daß unsere gesellschaftlichen Probleme immer weniger durch einen technischen Innovationsschub gelöst werden können?
Wir fordern die notwendige kritische Bestandsaufnahme, die Technologien an den sozialen und Umweltverträglichkeiten mißt und die auch Schäden, die aufgetreten sind, versucht zu beseitigen unter dem Stichwort Entgiftung.
— Ich mache es an zwei Punkten konkret. Mehr kann ich nicht, da die Zeit zu kurz ist.Zwei Beispiele. Die heutige Energieforschung akzeptiert den Zustand der Energieverschwendung und mißachtet deren Folgen. Ihr Ziel liegt daher in der Bereitstellung von immer mehr Energie. Wir sind dafür, daß die wichtigste energiepolitische Maßnahme die Einsparung ist
und folglich die Technologie zur Optimierung der Energie dienen soll.Bei der Entwicklung der Windenergienutzung ist noch eine Menge Luft respektive Wind drin.
Wenn ich mir ansehe, wie die vertrauensbildenden Maßnahmen — wie es so heißt — bei den Anlagen der Windenergie aussehen, z. B. beim Aeroman, so sehen wir, daß es die falschen Modelle sind, die gefördert werden, und daß die kleinen Anlagen, die angepaßt sind, überhaupt nicht in das Kalkül gezogen werden. Statt dessen gibt es so eigenartige Geschichten wie den Darrieus-Rotor von Dornier. Der steht auf dem Flughafen in Argentinien, und bei Besuchen von Generalen wird er dann einmal angeschaltet.Ein anderer wichtiger Punkt ist der Bereich der Entgiftung. Es ist heute mehrmals gesagt worden, man sollte nicht dramatisieren, was mit Dioxin, was mit Formaldehyd geschieht. Ich möchte Sie eindrücklich warnen. So haben Sie auch geredet, als damals von Waldschäden die Rede war, als die ersten Warnungen kamen, jetzt ist es zu spät.
Eine der größten Zeitbomben werden die Mülldeponien in den nächsten Jahren werden. Die chemische Industrie hinterläßt uns gefährliche Produkte, deren Beseitigung schier unlösbar ist und die durch die Verseuchung von Luft, Wasser und Boden uns alle bedrohen. Die jetzige Technologie der Müllver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7735
Frau Dr. Bardbrennung hat sich allein durch die Dioxinbildung als nicht vertretbar herausgestellt.
Wo bleiben die Forschungen nach anderen Technologien der Abfallbeseitigung? Wo bleibt die Forschung nach besseren Abdichtungen von Deponien? Wo bleiben die Technologien zur Müllvermeidung? Oder wollen Sie Ihre Weltraumforschung für die Müllbeseitigung verwenden und das Zeug dann in den Weltraum schicken?Wenn selbst der Forschungsminister, Herr Lenzer, hier einen Forschungsbedarf zugibt, dann sollte man doch auch einmal darüber reden können und nicht gleich alles abtun.
— Daß auch die SPD nichts gemacht hat, kritisieren wir auch.Dioxin und die allgegenwärtige Chemikalie Formaldehyd sind nur Spitzen des Eisberges. Sie werden sich noch wundern, was da auf uns zukommt. Es liegt nicht an unserer Bösartigkeit, wenn wir jeden Monat eine neue Chemikalie auf die Tagesordnung setzen, sondern das liegt daran, daß diese Sachen so gefährlich sind, daß sie allmählich durch die Schäden, sie sie anrichten, ans Tageslicht kommen.
Fangen Sie an, nicht immer darauf zu warten, daß etwas passiert, sondern entwickeln Sie ein Programm, um systematisch die Folgewirkungen von Chemikalien — vom Arbeitsplatz bis zur Verteilung in der Umwelt — zu erforschen.
Da reichen uns die Gelder, die in diesem Forschungshaushalt angesetzt sind, nicht. Gehen Sie davon aus, daß es auch darauf ankommen wird, neue Materialien für unsere Produkte zu finden, die unschädlich sind. Auch zu diesem Ansatz sehen wir gar nichts. Wirkliche Umweltvorsorge würde aber genau dies bedeuten.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über Forschung und Technologie zu sprechen ist j a in. Das ist eine bemerkenswerte Veränderung gegenüber früheren Zeiten, in denen Fragen der Forschung und Entwicklung, der Technologie und der Innovation nur für kleine Zirkel von Experten Gesprächsgegenstand waren.
Diese Veränderung ist positiv, weil sie auf ein geschärftes Bewußtsein der Öffentlichkeit für diesen Politikbereich hinweist vor allem jedoch aus zwei Gründen: Auch Forschungs- und Technologiepolitik bedarf in einem demokratischen Gemeinwesen der kritischen Kontrolle durch Transparenz und Öffentlichkeit. Und dann: Es ist ein Klima entstanden, das der Arbeit von Wissenschaftlern, Forschern und Technikern günstig ist, sie ermutigt und unterstützt.Die Bildung der bürgerlich-liberalen Koalition im Jahre 1982 hat sich für diesen Prozeß der Veränderung — Sie können auch sagen: Wende — segensreich ausgewirkt.
Allerdings stelle ich in der öffentlichen Diskussion eine zu starke Akzentuierung einzelner Technologiefelder fest,
auch einen manchmal unreflektierten Gebrauch des Zauberwortes Japan. Insbesondere vermisse ich eine intensive öffentliche Diskussion über die eigentlich zentrale Frage der gesamten Forschungs- und Technologiepolitik. Das ist die Frage nach dem Ziel, die Frage nach dem Zukunftsbild, das wir von unserer Gesellschaft entwerfen wollen. In dem oft bloß modischen Gerede über High-Tech droht dieser Gedanke in den Hintergrund zu geraten. Aber nur, wenn es eine klare Vorstellung davon gibt, wie unsere Gesellschaft, wie unser Staat im Jahre 2000 aussehen sollen, kann man auch einen gesellschaftlichen Konsens über die anzuwendende Strategie erzielen, für die die Politik besondere Verantwortung trägt.
Angesichts meiner knappen Redezeit kann ich die von uns Liberalen vertretene Zielvorstellung hier nur andeuten. Uns geht es darum, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Bundesrepublik im europäischen Verbund als hochentwickelter Industriestaat überleben kann. Nur so wird es möglich sein, die sozialstaatlichen Errungenschaften unserer Gesellschaft zu erhalten, nur so auch wird es möglich sein, die Stabilität unserer demokratischen Ordnung zu bewahren. Die Behauptung unserer wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten und Japan, mit den anderen Industriestaaten, aber auch mit der wachsenden Zahl der Schwellenländer, ist daher Voraussetzung, unaufgebbare Voraussetzung, für die Verwirklichung liberaler Wertvorstellungen der Humanität und Toleranz, wie sie unser Grundgesetz formuliert hat.Die Freien Demokraten verschließen die Augen aber auch nicht vor den gesellschaftlichen Anpassungsproblemen, die der ständige Innovations- und Anpassungsprozeß hervorrufen muß. Die unmittelbaren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen sind natürlich ernste Probleme.
Metadaten/Kopzeile:
7736 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
KohnAn dieser Stelle setzen dann ja gerne jene ein, die nach dem alternativen Ausstieg aus dem internationalen Wettbewerb rufen und irrational-romantische Ideen von der Rückkehr zur Kerzenlichtgesellschaft propagieren. Die Vertreter der Grünen Partei reden in diesem Zusammenhang gern von Sackgassen-Technologien. Wenn aber der Begriff von der Sackgasse seine Berechtigung hat, dann in der Anwendung auf sie selbst. Die grünangestrichene Partei ist eine Sackgassen-Partei.
Sie haben die Absicht, unser Volk in die Sackgasse einer heimeligen Idylle der Reagrarisierung, der Deindustrialisierung hineinzuführen, eine Sackgasse, in der das Gespenst von Herrn Morgenthau umgeht.
Ich will Ihnen hier ein Beispiel anführen. Die Vertreter der grünangestrichenen Partei haben in den Beratungen des Forschungsausschusses zum Einzelplan 30 den folgenden Antrag eingebracht, den ich Ihnen hier zitieren möchte:Die Fraktion der GRÜNEN im Bundestag beantragt für die im folgenden aufgeführten Titel des Einzelplans 30 die Streichung der Mittel jeweils um den Anteil, der für Arbeiten auf dem Gebiet der Gentechnik und Reproduktionstechnik vorgesehen ist. Wir beantragen die Streichung der Mittel für den Betrieb und für die Weiterentwicklung der diesbezüglichen Laboratorien und Institute.
Von einem solchen Streichungsantrag wären das Deutsche Primatenzentrum in Göttingen, das Europäische Labor für Molekularbiologie und das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg, die Kernforschungsanlage Jülich und die Gesellschaft für Biotechnologische Forschung in BraunschweigStöckheim betroffen. Ich frage Sie: Haben Sie eigentlich je darüber nachgedacht, was es für die Zukunftschancen der jungen Generation in unserem Lande bedeutet, wenn wir uns einseitig von der Entwicklung einer Schlüsseltechnologie abkoppelten?
Haben Sie je darüber nachgedacht, was es für die Forscher, die Wissenschaftler und ihre Familien bedeutet, wenn man ihnen den Laden einfach dichtmacht?
Haben Sie je darüber nachgedacht, was es für die Weltbevölkerung bedeutet, wenn nicht durch gentechnologische Methoden zum Beispiel neue Impfstoffe entwickelt werden, deren Wirksamkeit nicht abgenutzt ist? Nein, darüber denken Sie nicht nach. Und deshalb sage ich, Sie mit Ihrem verschrobenen Wissenschaftsbegriff sind in Wirklichkeit saurerRegen für Forschung und Entwicklung in unserem Land.
Weil wir Liberale verstehen, daß die ethischen Probleme einiger Bereiche der Gentechnologie allerhöchste Aufmerksamkeit verdienen, werden wir uns in der Enquete-Kommission mit unverminderter Energie darum bemühen, Lösungen zu finden, die auf eine breite Zustimmung in unserer Bevölkerung stoßen werden. Die besondere Bedeutung, die wir den Fragen der Technologiefolgenabschätzung und der Technikbewertung, also dem sozialen Akzeptanzproblem beimessen, mögen Sie daraus ersehen, daß wir die Konzeption einer Bundestagskommission maßgeblich mitgestaltet haben, die dem Gesetzgeber konkrete Vorschläge hierfür unterbreiten soll. Um so befremdlicher wirkt die Tatsache, daß die SPD aus dieser gemeinsam von allen Fraktionen erarbeiteten Konzeption aus sehr durchsichtigen parteitaktischen Motiven aussteigen will.Meine Damen und Herren, der Etat des Bundesforschungsministeriums bildet in überzeugender Weise die Forschungspolitik ab, für die wir Freien Demokraten seit über einem Jahrzehnt stehen. Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesforschungsminister und auch den Kollegen von der CDU/CSU des Forschungsausschusses für die sachlich-konstruktive Zusammenarbeit danken. Wenn man den Blick über die gesamte Breite der Bundespolitik schweifen läßt, dann drängt sich mir das Urteil auf, die Kooperation im Forschungsbereich sollte zum Modell für die Arbeit in der bürgerlich-liberalen Koalition insgesamt werden. Dann wäre der Erfolg gesichert.
Ich möchte aus dem Forschungshaushalt 1985 die Zuwachsraten in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, der ökologischen Wirkungsforschung, bei den Umweltschutztechnologien, der Fertigungstechnik und der Materialforschung sowie bei technologie-orientierten Unternehmensgründungen erwähnen, die das Profil des Haushalts bestimmen. Besonders erfreulich ist dabei die Ausrichtung zahlreicher Maßnahmen an der Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen. Inzwischen gehen ja rund 27 % der Forschungsausgaben des Bundes an Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft für die zivile Forschung und Entwicklung an kleine und mittlere Unternehmen. Auf diese Weise, nämlich durch Maßnahmen indirekter oder indirekt-spezifischer Forschungsförderung, geben wir diesen Unternehmen Impulse für Innovationen im Produkt- und Produktionsbereich sowie zur Erhöhung des Innovationstempos überhaupt. Wir Freien Demokraten unterstützen mit aller Kraft solche Anstrengungen. Denn wir wissen, es kann mit unserem Land nur dann aufwärtsgehen, wenn die Politik dafür sorgt, daß der Mittelstand seine Eigenschaft als Kraftpaket der deutschen Wirtschaft behält.
In diesem Zusammenhang will ich als Positivumauf das Personalkostenzuwachsprogramm des For-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7737Kohnschungsministers hinweisen, das in vortrefflicher und unbürokratischer Weise — das möchte ich besonders betonen — das FuE-Personalkostenzuschußprogramm ergänzt, das unser liberaler Wirtschaftminister Bangemann forciert hat.Lassen Sie mich schließlich noch einige Bemerkungen zu einem Thema machen, das noch nicht Gegenstand dieses Haushalts ist, nämlich zu der Beteiligung Europas und damit auch der Bundesrepublik an dem amerikanischen Projekt einer bemannten Raumstation. Eine europäische Beteiligung kann wichtige Impulse in vielen Bereichen der Spitzentechnologie auslösen. Aus liberaler Sicht muß aber eine sorgfältige Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen werden. Voraussetzungen für eine solche deutsche Beteiligung sind die folgenden: Die Raumstation darf kein Beitrag zur Militarisierung des Weltraums sein. Die europäische Option einer bemannten Raumfahrt muß offenbleiben. Der Technologietransfer nach Europa muß sichergestellt sein. Die Kosten des europäischen Beitrags müssen in der Hand der beteiligten europäischen Staaten bleiben. Und schließlich: der deutsche Finanzbeitrag darf nicht zu Lasten der Struktur des jetzigen Forschungshaushalts gehen. In diesem Sinne halten wir Gespräche über eine Beteiligung für sinnvoll.Vor einem Jahr bei den Haushaltsberatungen hat an dieser Stelle mein Kollege Professor Laermann auf die Gefahr hingewiesen, daß sich die Diskussion um Forschung auf Naturwissenschaften und Technik oder Technologie allein verkürzt. Für die Entwicklung einer Gesellschaft haben die Sozial- und Geisteswissenschaften aber eine gleich große Bedeutung.
Ich möchte deshalb uns alle auffordern, auch in diesem Bereich noch initiativer zu werden. Die Fähigkeit einer Gesellschaft zu Innovationen hängt ja wesentlich von einem intellektuellen Klima der Offenheit und der Rationalität ab. Die Wissenschaftler, Forscher und Techniker bilden ein unschätzbares Potential, das unsere Zukunft prägen wird und mit dessen Hilfe allein wir in der Lage sein werden, unsere Zukunft politisch zu gestalten.Wir Liberalen verstehen uns dabei als Partner jener Bürger, deren Leistungsbereitschaft wir fördern und ermutigen wollen.
Wir tun das im Bewußtsein unserer Verantwortung gegenüber der jungen Generation, der wir das Leitbild einer Welt anbieten wollen, die durch kritische Vernunft und eine rationale Praxis geprägt ist.Es liegt zwar noch ein weiter und mühevoller Weg vor uns, bis die deutsche Forschungs- und Technologiepolitik unseren eigenen anspruchsvollen Vorstellungen genügt. Aber wir befinden uns auf dem richtigen Wege. Aus diesem Grunde stimmt die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei dem Haushalt des Bundesministers für Forschung und Technologie aus Überzeugung zu.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich sehr für diese Debatte bedanken. Ich möchte mich für den klaren und knappen Überblick, der insbesondere vom Kollegen Stavenhagen und vom Kollegen Kohn über meinen Haushalt gegeben worden ist, dadurch bedanken, daß ich die Linien des Haushalts im einzelnen nicht nachzeichne.Ich möchte einige Schwerpunkte aufgreifen, die mir in der Debatte besonders wichtig erschienen sind und wo vielleicht ergänzende Bemerkungen nützen.Ich greife gern die Eingangsfrage des Kollegen Kohn auf. Er fragte: „Was ist das Ziel unserer Forschungspolitik?" — Ich glaube, wir können hier drei Bereiche ausgrenzen. Das eine ist, unser Wissen zu mehren; denn die Mehrung des Wissens durch Forschung ist die große kulturelle Leistung dieser Jahrzehnte in unseren Ländern. Das zweite ist, tüchtige Techniken zu erstellen, denn davon werden wir in den nächsten Jahrzehnten leben. Wir haben nichts anderes als das, worauf wir unseren Wohlstand und unsere Zukunft begründen können. Das dritte ist: Wir müssen Risiken rechtzeitig erkennen, um sie zu beherrschen, damit wir nicht nur als eine erfolgreiche Industrienation überleben, sondern als eine Industrienation, die in einer geschützten Umwelt mit einem vernünftigen Umgang mit Risiken arbeiten kann.Nun weist Herr Zander darauf hin, daß diese Ziele wohl schön und gut seien, nur hätte der Forschungsminister bedauerlicherweise zuwenig Geld. Lieber Herr Zander, es fällt mir nicht ganz leicht zu widersprechen. Ich glaube, das gilt auch für meine Vorgänger im Amt, die Wachstumsraten von 14 oder 16 % hatten. Aber wenn wir weniger Geld haben, dann liegt unsere Aufgabe wesentlich darin, ein bißchen gezielter Intelligenz einzusetzen. Der Ersatz von knappem Geld durch mehr Intelligenz ist aussichtsreich; der Ersatz von knapper Intelligenz durch mehr Geld ist nicht aussichtsreich — auch solche Versuche haben wir gehabt.
Ich darf mich besonders dafür bedanken — um auf den Bereich der Grundlagenforschung und der Mehrung des Wissens abzuheben —, daß wir eigentlich in einer großen gemeinsamen Freundschaftlichkeit diese Probleme angegangen sind.Lutz Stavenhagen hat in seiner Rede darauf hingewiesen, wie wir die Arbeit in den Großforschungseinrichtungen in Max-Planck-Instituten entbürokratisieren wollen. Wenn wir den Instituten größere Verfügungsmöglichkeiten über Stellenpläne, größere Verfügungsmöglichkeiten über Be-
Metadaten/Kopzeile:
7738 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. Riesenhubertriebs- und Investitionsmittel geben, dann erweitern wir damit die Freiheit der Institute selbst, dann kriegen wir Raum für die Leistungsfähigkeit und die Freude an der Arbeit, und wir erweitern den Raum für Initiative. Dies scheint mir wichtiger noch als alles, was wir finanziell tun können.Dabei ist — darauf ist hingewiesen worden — in meinem Haushalt der Anteil der Grundlagenforschung ständig gestiegen. Sie ist ständig überproportional angewachsen. Die Diskussion, Herr Zander, die Sie über die Großgeräte angesprochen haben, werden wir sehr gerne führen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Grundsatzentscheidungen zu diesen Großgeräten — die endgültigen Entscheidungen sind ja zum wesentlichen Teil noch nicht vollzogen — unter der alten Regierung auf Grund eines Votums der Pinkau-Kommission erfolgt sind. Hier wird es immer am Platze sein, noch einmal zu überprüfen, was jetzt richtig ist. Konkret ist es aber so, daß diese Überprüfung bis jetzt ergeben hat, daß keines der Projekte sich als überflüssig oder als überholt herausgestellt hat. Im Gegenteil: Die ISRF wurde als durchaus zukunftsfähig angesehen, obwohl sie damals verworfen worden war.Das heißt, wir haben im Bereich der Grundlagenforschung Rahmenbedingungen schrittweise erweitert und Möglichkeiten konkretisiert, Bürokratien abgebaut und Initiative erweitert.Es ist von Herrn Zander gesagt worden, wir machten zu wenig in der Umweltforschung. Frau Bard hat etwas schärfer formuliert. Sie sagte, da sei nichts. Herr Zander, ich werde es an einigen Bereichen darstellen. In der Frage der Erforschung der Waldschäden habe ich 1982 im Haushalt des Forschungsministers 0,2 Millionen DM vorgefunden. Dies ist ein Betrag, der eineinhalb Mannjahren pro Jahr entspricht. Das hat keinen Sinn. Ich habe im Jahre 1983 für 12,2 Millionen DM Forschungsprojekte vergeben, 1984 noch einmal für über 22 Millionen. Der Kern der Sache ist hier nicht das Geld; es ist nur ein Indikator. Der Kern der Sache ist, daß wir nach den großen Tagungen in Jülich und Neuherberg zusammengefaßt haben, was an besten Wissenschaftlern da ist, die weißen Flecke auf der Landkarte unseres Wissens festgelegt und in einer gemeinsamen interdisziplinären Anstrengung diese Bereiche so aufgearbeitet haben, daß wir jetzt erste Ansätze haben.Frau Bard, Sie haben gesagt, bei Umwelttechniken würden Sie nichts finden. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß diese Ansätze in dem nächsten Haushalt wiederum weit überproportional wachsen, und zwar mit 12,7 % auf 136,8 Millionen DM. In den Bereichen von Umweltforschung und Umwelttechnik, von ökologischer Wirkungsforschung und Klimaforschung, von Gesundheitsforschung, in allen diesen Bereichen, wo der Staat eine ursprüngliche Verpflichtung hat, Vorsorge gegen die Risiken einer verletzlichen Welt zu treffen, haben wir Wachstumsraten, wie wir sie an keiner Stelle des Haushalts sonst haben: Bei der ökologischen Wirkungsforschung 39 %, bei der Klimaforschung 35 %, bei derTechnikfolgenabschätzung 120 %, um nur einige zu nennen.
Ich halte dies einfach für notwendig. Dort, wo der Staat seine hoheitlichen Aufgaben hat, soll er sie rechtzeitig und mit Intelligenz vollführen. Er soll aber nicht dort, wo andere, z. B. die Industrie, es besser tun können, kraft seiner Hoheit so eingreifen, daß durch staatliche Maßnahmen Initiative gelähmt wird. Dies war in den vergangenen Jahren sehr oft eine Schwierigkeit gewesen.Auf die einzelnen Projekte will nicht nicht eingehen. Nur ein einziges Beispiel. Frau Bard, Sie sagen zu Deponien: Was tun wir da? Es laufen — dies ist eine Sache, die nicht neu ist — bei den Deponien von Maisch, Georgswerder und Gerolsheim Untersuchungen zur Abdeckung, zum Schutz des Grundwassers und zur Aufarbeitung dessen, was hier eingetreten ist. Dies alles ist längst in dem Haushalt drin. Daß ich hier nicht sehr viel vorgefunden habe, kann man so oder so interpretieren. Wir haben dieses Thema aufgegriffen, und zwar mit großer Intensität, als eine ursprüngliche Aufgabe des Staates, rechtzeitig Vorsorge zu treffen. So haben wir es angelegt. Dies gilt auch für völlig andere Bereiche.Kollege Kohn hat auf die Fragen des Umgangs mit den Risiken der Gentechnologie hingewiesen. Ich ergänze. Es geht auch um die Frage des Umgangs mit dem, was wir an gentechnologischen oder medizinischen Techniken beim menschlichen Erbgut jetzt tun können. Wir haben die Diskussion in einem sehr mühsamen Prozeß so ins Laufen gebracht, daß wir jetzt innerhalb der Kirchen, innerhalb der Gewerkschaften und innerhalb der unterschiedlichen Organisationen artikulierte Aufarbeitungen von Problemen kriegen. Zusammen mit dem Herrn Justizminister haben wir eine Kommission unter Herrn Benda, dem ehemaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten, eingesetzt, die uns zum Umgang mit menschlichem Erbgut rechtzeitig Vorschläge vorlegen soll, damit wir hier die Normen so errichten, daß wir in einer Welt, wo durch neue Techniken die Würde des Menschen berührt und verletzt werden kann, tatsächlich verantwortlich handeln, weil wir rechtzeitig erkennen, was wir können und was wir tun.
Herr Kollege Zander, Sie haben gefragt, wer sich um Mikroelektronik und Arbeitsplätze kümmere. Auch dies ist eine Frage der Technikfolgenabschätzung. Ich habe heute früh in Berlin die Eröffnungsrede für ein Seminar gehalten, das wir für einen internationalen Kongreß der OECD angesetzt haben, der sich im Rahmen eines großangelegten und breitgefächerten interdisziplinären technology assessment mit der Frage befaßt: Was bedeuten die neuen Technologien für unsere Gesellschaft, für unser Zusammenleben, für die Durchschaubarkeit des Menschen, aber auch für die Chancen der Demokratie, für die Chancen hinsichtlich der Arbeitsplätze, für die Änderung der Arbeitsstrukturen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7739
Bundesminister Dr. RiesenhuberDies ist nur ein Teil eines ungemein komplexen Prozesses, in dem wir mit 19 Instituten in Deutschland zusammenarbeiten, mit dem DGB diskutieren und dabei auch mit den verschiedenen Gewerkschaften Einzelgespräche — bis hin zu Gesprächen mit der IG-Chemie und der Gewerkschaft HBV über Einzelbereiche — führen.Wir legen das so an, daß wir die Fragen rechtzeitig erfassen.
Denn wir wissen, daß sich die Technik nur dann vernünftig und vertretbar durchsetzt, wenn wir ihre Risiken verstehen und beherrschen. Wir wissen, daß sie nur dann verantwortlich durchgesetzt, nur dann nach ihren eigenen Gesetzen nützlich werden kann, wenn die Menschen das begründete Vertrauen gewinnen, daß das, was wir tun, vernünftig, nützlich und hilfreich ist. Daran arbeiten wir genauso wie an der Ermöglichung der Technik selbst.Ich kann hier im einzelnen nicht auf die Fragen der Kürzungen in verschiedenen Einzelbereichen eingehen, bei der Kernenergie ebenso — es wurde gesagt, die Kosten dafür müßten mehr von der Industrie getragen werden — wie bei anderen Energietechniken. Ich sage hier nur eines: Wenn wir im Forschungshaushalt nicht imstande sind, neue Akzente zu setzen, das Neue zu beginnen, wenn die Förderung von alten Bereichen zu Besitzständen von einzelnen Industrien entartet, dann verfestigen wir Strukturen und beginnen nichts Neues mehr, dann kann die Zukunft nicht gestaltet werden. Und dies ist eine falsche Politik.
Es ist hier darauf hingewiesen worden, daß beim Bau des Schnellen Brüters von der Industrie zusätzlich 50 Millionen DM übernommen werden sollen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß ich den Schnellen Brüter mit einem ungedeckten Kostenrahmen von 2,7 Milliarden DM „geerbt" habe. Bis dahin hatte die Industrie von diesen ganzen Kosten 8 % bezahlt. Wir haben neu verhandelt, und die Industrie zahlt 56 %. Jetzt haben wir Verträge, und Verträge sind von allen Beteiligten einzuhalten. Insofern wäre es hier von der Sache her nicht richtig, wenn wir wegen eines Betrages von 50 Millionen DM nachverhandeln würden, eines Betrages, der klein ist gegenüber dem, was die Industrie neu bezahlt hat: 1,6 Milliarden DM.
— Herr Kollege Stahl, die Zwischenrufe, die Sie bringen, sind nicht sehr hilfreich. Unter Ihrer Verantwortung ist der Schnelle Brüter von Jahr zu Jahr teurer geworden, die Bauzeit hat von Jahr zu Jahr länger gedauert.
Seitdem die Industrie die Verantwortung übernommen hat und um ihr eigenes Geld kämpft, haben wir eine neue Lage: Der Betrag ist seit dem 3. Oktober 1982 gleichgeblieben, und auch die Zeitplänesind gleichgeblieben, sie haben sich sogar verkürzt,
und zwar nicht auf Grund der genialen Administration einer Bundesregierung — die habe ich auch Ihnen nicht unterstellt —, sondern dadurch, daß die Industrie um ihr eigenes Geld kämpft, und dies ist neu.
Von den vielen Spezialbereichen möchte ich nur noch einen herausgreifen, die Frage der umweltfreundlichen Feuerungstechniken, der neuen Feuerungstechniken. Ich möchte nur stichwortartig darauf hinweisen, daß das Vordringen der Kohle im Wärmemarkt, die Erziehung der Feuerungstechnik in kleinen, standortnahen Einheiten zur Umweltfreundlichkeit, eines der prioritären Themen ist, an denen wir arbeiten. Wir hoffen, daß wir hier Wachstumsraten und einen echten, schrittweise zu verwirklichenden Bereich haben, in dem die Kohle ihre geringeren Kosten, ihren geringeren Preis pro Kilokalorie ausspielen kann. Hieran arbeiten wir. Die einzelnen Projekte können wir Ihnen gerne nachreichen.
Auch dies habe ich so vorgefunden. Dies haben wir in den Haushalt so eingegliedert, wie dieser Haushalt ohnehin ein vorzüglicher und wohlgeordneter Haushalt ist, in dem alles seinen Platz so findet, daß wir etwas Gutes machen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch bei der Industrieforschung gilt: Dort, wo das Geld uns nicht unbeschränkt zuwächst, müssen wir schauen, daß wir mit ein bißchen mehr Intelligenz an die Sache rangehen. Wenn wir von der Mikroelektronik sprechen, sind die Beträge, die wir aufwenden können, winzig gegenüber dem, was die Konkurrenten aufwenden. Allein das Pentagon bringt das Dreißigfache des Volumens des ganzen Forschungshaushaltes auf. Aber dann kommt es eben darauf an, daß wir alles zusammenbinden: die Fähigkeit der Post, Normen zu setzen und Netze aufzubauen, die öffentliche Nachfrage nach der Veränderung der Verdingungsordnung für Leistungen, die Frage der Computer in Schulen, die Abstimmung der Normen international, die gemeinsame Zusammenarbeit im Programm ESPRIT in Europa, so daß wir offene Märkte und eine kritische Masse technischer Intelligenz aus der Kooperation kriegen, daß gleichzeitig einheitliche Normen schon bei der Geburt der Technik entstehen und so aus Zusammenarbeit etwas entstehen kann, was weit über die absoluten Beträge hinaus wirksam ist. Wenn aber der Staat seine hoheitliche Aufgabe, die Voraussetzungen zu schaffen, verweigert, wenn er
Metadaten/Kopzeile:
7740 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. Riesenhubernicht verkabelt und keine Netze errichtet, ist alles, was wir an Geld in die Forschungsprogramme hineinschütten, für die Katz.Ich halte mich hier mit Mühe an meine Zeit. Wir werden zur Raumstation im Kabinett entscheiden. Wir werden dann in der besprochenen Weise dem Haushaltsausschuß vortragen, was wir haben. Ich möchte aber eines sagen. Unter der Frage des Technologietransfers ist die Raumstation die großartige Möglichkeit, weit über alle administrativen Verhandlungen hinaus aus der gemeinsamen Arbeit an einer Hochtechnologie, die in ganz unterschiedliche Bereiche hineinstrahlt, Technologietransfer selbstverständlich zu machen, die Gemeinschaft der westlichen Welt in der Arbeit an gemeinschaftlichen Techniken genauso grundlegend zu machen wie eine gemeinsame Arbeit in den Märkten. Dies scheint mir ein hohes Ziel zu sein.
Ich bedanke mich für die konstruktive und freundschaftliche Zusammenarbeit. Ich würde mich freuen, wenn wir auch in der nächsten Runde die Diskussion, die wir nur an wenigen Punkten führen konnten, in den Ausschüssen fortsetzten und wenn wir gemeinsam etwas dazu beitrügen, daß es in unserem Land nicht nur als Industrienation Erfolg gibt, nicht nur im Umweltschutz echte Fortschritte gibt, sondern daß es uns gemeinsam Freude macht, an der Lösung unserer Probleme zu arbeiten und eine Zukunft für unser Land zu begründen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung.
Ich rufe zuerst den Änderungsantrag des Abgeordneten Verheyen und der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/2438 auf. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Gegenstimmen waren die Mehrheit. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2439 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2440 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2441 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2485 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wer dem Einzelplan 30 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 31
Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft
— Drucksachen 10/2322, 10/2330 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Dr. Diederich Verheyen (Bielefeld)
Auf Drucksache 10/2486 liegt Ihnen hierzu ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rose.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen hier im Plenum und drüben an den Lautsprechern in den Büros!
Meine diesjährige Haushaltsrede zum Einzelplan 31, zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, möchte ich aus gutem Grund mit einem Glückwunsch und einem aufrichtigen Lob für Frau Dr. Wilms beginnen.
Während nämlich der Haushalt 1984 wegen verschiedener Einsparmaßnahmen einen gewaltigen Abwärtstrend zu verzeichnen hatte und sich diese Talfahrt auch im Regierungsentwurf für 1985 noch fortgesetzt hätte, ist es jetzt durch gemeinsame Anstrengungen gelungen, nicht nur nicht abzunehmen, sondern auch einen Zuwachs zu verzeichnen.
Damit widerlegt sich das Gerede von einem Gesamtabbau des Ministeriums von selbst.
Es zeigt sich, meine Damen und Herren, daß die Frau Minister zu kämpfen versteht und zu siegen vermag.
Das ist ein dickes Lob wert.Meine Damen und Herren, damit keine Mißverständnisse aufkommen, sei zu Beginn gesagt, daß bei nicht so wichtigen Ausgaben und vor allem im
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7741
Dr. RoseSach- und Personalbereich des Ministeriums selbst durchaus gespart wurde. Das Gegenteil wäre für uns Haushaltspolitiker auch nicht annehmbar gewesen. Doch während man uns gerne Streichmentalität unterstellt, haben wir wegen dringender Sachprobleme den Ansatz des Regierungsentwurfs von 3 974 Millionen DM um 35 Millionen DM und damit über die Schallmauer von 4 Milliarden DM erhöht.
Das geschah nicht in Geberlaune, sondern aus Verantwortung gegenüber vielen jungen Menschen, die unsere Unterstützung brauchten.
Ich darf deshalb zu den wichtigsten Änderungen, die sich zwischen der ersten und zweiten Lesung des Bundeshaushalts 1985 ergaben, Stellung nehmen. Festgestellt sei dabei, daß die Opposition zwar manche weitergehenden Anträge und auch Abänderungswünsche hatte, daß aber bei den wichtigsten Positionen Einvernehmen herrschte. Deshalb richte ich an dieser Stelle auch einen Dank an alle Kollegen im Haushaltsausschuß.
— Zumindest bei uns im Haushaltsausschuß war es so.Wie jeder Sachkundige weiß, hatte sich im Zusammenhang mit der Umstellung des Schüler-BAföG — ich greife nur einen Punkt heraus — eine Unebenheit eingeschlichen, die mit dem Stichwort „August-BAföG" umschrieben wurde.
Die Schüler des Zweiten Bildungsweges und die nicht bei ihren Eltern untergebrachten Schüler hatten danach im Ferienmonat August keine Förderung bekommen.
Das stellte sich als echte soziale Härte heraus. So wurden Berechnungen angestellt, diesem zu Recht als besonders leistungswillig geltenden Personenkreis wieder zum ganzjährigen BAföG zu verhelfen. In der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses ist dies möglich geworden.Wir haben darüber hinaus weitere Maßnahmen beschlossen, nämlich die generelle Einbeziehung solcher in die Förderung von Auszubildenden, die eigene Kinder zu versorgen haben und deshalb nicht bei ihren Eltern wohnen können, außerdem die Erstreckung der Übergangsregelung für die Grundwehrdienst- und Ersatzdienstleistenden auf die Soldaten auf Zeit und schließlich die Leistung der auslandsbedingten Mehrkosten für Studenten als Zuschuß und nicht mehr als Darlehen.
Der Anreiz zu einem Auslandsstudium sollte uns diese Ausgabe wert sein.
Meine Damen und Herren, mit diesen strukturellen Verbesserungen des Schüler-BAföGs ist die Diskussion wohl abgeschlossen. Deshalb kann auch der vorgelegte Entschließungsantrag der GRÜNEN zur totalen Wiedereinführung der allgemeinen Ausbildungsförderung für Schüler keine Zustimmung finden. Vor allem die Argumentation, dies solle im Rahmen eines „Sonderprogramms zur Eindämmung der Armut" erfolgen, ist für uns unakzeptabel. Hier liegt offensichtlich ein Mißverständnis vor. Das BAföG ist keine Transferleistung zur allgemeinen Aufbesserung des Familieneinkommens. Das BAföG ist die notwendige Unterstützung von einkommenschwachen Familien bei — das wollen wir immer wieder festhalten — leistungsfähigen und leistungswilligen Kindern. Den Weg zurück zur proppenvollen Oberstufe unserer Schulen, nur weil sich das Schülerdasein vielleicht finanziell lohnte, wollen wir auf keinen Fall.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen zweiten Punkt unserer Haushaltsberatung anschneiden. Das sind die Bemerkungen, die das ganze Jahr über zur angeblichen Katastrophe auf dem Ausbildungsstellenmarkt gesagt wurden. Ganze Wirtschaftszweige haben bekanntermaßen davon gelebt. Ich brauche nur an die auflagengesteigerten Druckerzeugnisse zu denken. Einige politische Parteien und Gewerkschaften haben ebenfalls davon gelebt, weil sie sich Stimmungsgewinne durch die Verteufelung der Bundesregierung erwarteten.Es kam aber wieder einmal ganz anders, als die roten und grünen Schwarzmaler meinten oder gar wollten. Wie uns die Bundesregierung gerade wieder bestätigen konnte, bringt auch das Jahr 1984 in der Berufsbildung ein neues imponierendes Rekordergebnis. Von rund 760 000 Lehrstellenbewerbern — und da wollen wir festhalten: das sind allein 100 000 mehr als vor zwei Jahren — werden nämlich bis zum Jahresende etwa 97 % untergebracht sein. Damit liegt die Quote der nicht vermittelten oder nicht vermittelbaren Jugendlichen mit 3 % sogar noch unter dem Durchschnitt der 70er Jahre.
Zu einer Zeit also, als Konjunktur und Arbeitsmarkt noch weitgehend intakt waren, lagen die Lehrlingszahlen insgesamt beträchtlich unter dem heutigen Niveau.
Auch das ist sicherlich eine große Leistung. (Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, die SPD und die GRÜNEN sollten deshalb endlich damit aufhören, die Entwicklung auf unserem Lehrstellenmarkt Jahr für Jahr mit penetranter Panikmache und Besserwisserei zu begleiten.
Man lebt natürlich monatelang davon, aber am Schluß stellt es sich wirklich nur als Kassandra-Ruf heraus.
Metadaten/Kopzeile:
7742 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. RoseAngesichts der imponierenden Erfolge, die auf unser duales Berufsbildungssystem zurückzuführen sind, täten Sie, meine Damen und Herren, sicher besser daran, sich bei den zahllosen Ausbildern und Helfern vor Ort umzusehen. Sie sollten sich beim Handwerk und bei der Industrie, beim Handel oder im Dienstleistungsbereich, aber auch in den Berufsschulen dafür bedanken, daß in diesem Jahr weit über 700 000 Jugendlichen eine Lehrstelle vermittelt werden konnte und daß die Jugendarbeitslosigkeit bei uns geringer ist als in allen vergleichbaren Industrieländern.
Gerade erst heute wieder haben Pressekommentare unserer Politik recht gegeben. — Gnädige Frau, ich glaube, Sie haben eine schwäbische Aussprache. — So äußern die „Stuttgarter Nachrichten" — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —:Entgegen düsteren Prophezeiungen künden alle Daten von Besserung, besonders in der Lehrstellenentwicklung und bei der Jugendarbeitslosigkeit.Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Nicht selbstgerecht, sondern dankbar nehme ich diesen Kommentar zur Kenntnis, hilft er doch, weiteres Vertrauen zu stiften und damit den jungen Menschen mehr Zukunftshoffnung zu geben, als es durch alle Oppositionsaussagen zusammen geschieht.
Doch nicht nur die eben erwähnten Stellen haben etwas getan, auch die Bundesregierung selbst und der Haushaltsausschuß bemühten sich mehr als je zuvor, jungen Menschen das Los des sinnlosen Herumlungerns zu ersparen. Aus diesem Grunde wurde der Regierungsentwurf beim Titel „Berufsbildung benachteiligter Jugendlicher" nochmals um weitere 86 Millionen DM aufgestockt, obwohl er im Vergleich zum Vorjahr sowieso schon erhöht worden war. Es stehen jetzt 256 Millionen DM zur Verfügung, und mit der Aufstockung können weitere 5 000 Vollmaßnahmen bezahlt werden.Wer den Anstieg dieses Programms von 117 Millionen DM im Jahre 1983 auf 256 Millionen DM im Jahre 1985 sieht, der muß zwar zur Kenntnis nehmen, daß die SPD-Fraktion mit ihrem vorliegenden Änderungsantrag noch mehr möchte, wird aber zugeben, daß die jetzige Steigerungsrate ein großer Erfolg ist, der erst erkämpft werden mußte. Das Bewußtsein der Verantwortung für die jungen Menschen wird auf jeden Fall offenkundig; auf dem Felde der beruflichen Bildung, für die der Bund ja zuständig ist, wird nichts unversucht gelassen, um zu immer besseren Ergebnissen zu kommen.In diesem Zusammenhang sei auch nochmals an die Bundesbezuschussung von überbetrieblichen Berufsbildungsstätten erinnert. Weil diese eine besondere Bedeutung für die Aus- und Fortbildung,für die Vorbereitung auf die Meisterprüfung, aber auch für Umschulungsmaßnahmen sowie für die Durchführung von Sonderprogrammen haben, sind sie in den vergangenen Jahren mit rund 1,5 Milliarden DM Bundesmitteln gefördert worden. In der mittelfristigen Finanzplanung ist das Ende der Neuinvestitionen ab 1987 vorgesehen, da das Ausbauziel von rund 77 000 Plätzen dann erreicht sein wird.Dann aber, meine Damen und Herren, wird es Überlegungen geben müssen, inwieweit Nachfolgeinvestitionen, sei es zur Umrüstung, sei es nur zum Substanzerhalt, erforderlich sind. Meine Fraktion hat sich zu diesem Thema immer positiv gestellt, und wir stehen daher auch einer vernünftigen Fortführung aufgeschlossen gegenüber und hoffen auf Zustimmung aller zuständigen Kreise.
Meine Damen und Herren, noch ein Thema, das bei uns im Haushaltsausschuß eine gewisse Rolle spielte, nämlich das Bundesinstitut für Berufsbildung. Daß wir dazu einen durchaus kooperativen Ansatz haben, beweist die Zahl neuer Planstellen, wenn es auch nicht allzu viele sind. Was wir uns allerdings wünschen, ist eine — ich nenne es einmal so — Evaluierung, eine Kosten-Nutzen-Analyse des Instituts, und zwar durch eine fachlich kompetente Stelle.
Ein Gutachten über die gewandelten Aufgaben in der beruflichen Bildung, vornehmlich bei der Forschung und in der Medienentwicklung, kann uns, aber auch dem Institut nur von Nutzen sein. Ich ersuche deshalb die Bundesregierung nochmals, diesen Vorschlag des Haushaltsausschusses aufzugreifen
und zu gegebener Zeit eine Grundsatzdiskussion bei uns zu führen.
Wir wollen natürlich nicht bloß in der beruflichen Bildung zügig vorankommen. Unser Augenmerk gilt auch den Hochschulen und der Wissenschaft. Durch Investitionsmittel in Höhe von 1,15 Milliarden DM kann der Hochschulbau fortgesetzt werden, wofür wir auch von einigen Ländern Beifall bekommen haben. Mit Hilfe der Neufassung des Hochschulrahmengesetzes, die mehr Autonomie für die Hochschulen, aber auch eine Studienreform und die Verbesserung der Forschungsbedingungen bringen soll, hoffen wir weitere Weichen stellen zu können. Neben Kritik, z. B. heute durch die „Süddeutsche Zeitung", gab es auch viel Beifall durch die größeren Studentenverbände,
so daß Optimismus für die weiteren Beratungen am Platze ist.Der wissenschaftliche Nachwuchs, meine Damen und Herren, schließlich wird durch die Studien-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7743
Dr. Roseund Promotionsförderung unterstützt, wofür 75,5 Millionen DM vorgesehen sind. Für den hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es ebenfalls Programme, damit — hoffentlich — das Ereignis des Jahrzehnts, nämlich die Nobelpreisverleihung an einen deutschen Wissenschaftler, wieder häufiger vorkommt. Diesem Ziel dient auch ein neuer Titel, der der Förderung ausgewählter Forscher und Forschungsgruppen an den Hochschulen dienen soll. Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Forschung und Technologie soll es 1985 losgehen und die deutsche Forschung und Wissenschaft damit zu neuen Ufern bringen.Weil wir insgesamt positive Aspekte beim Haushalt 1985 des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft gesehen haben, bitte ich Sie, diesem Einzelplan 31 auch zuzustimmen.Weil Sie am Anfang gesagt haben, manche würden jetzt beim Fußball sein, bei einem deutsch-italienischen Vergleichskampf, habe ich mir bewußt das Reizthema aus diesem Einzelplan 31 ausgespart, nämlich die Villa Vigoni. Wenn die einmal ausgebaut oder zumindest mit Leben ausgefüllt wird, wie es gemeint ist, mit einem deutsch-italienischen Kulturzentrum für Begegnungen, dann kann bestimmt das, was heute abend eventuell an Porzellan beim Fußballspiel kaputtgeschlagen wird, dort wieder geheilt werden. Vielleicht schaffen wir es noch, daß die Villa Vigoni auch in diesen Einzelplan Eingang findet.Ich danke Ihnen herzlich.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Diederich.
Meine Damen und Herren! Auch ich muß Sie noch mit einem Beitrag zu so später Stunde hier belästigen, trotz Fußball. Aber ich tue es gern.Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ist eines der Ministerien, die sich mit der Zukunft junger Menschen und das sich vornehmlich mit der Erhaltung unserer geistigen und wissenschaftlichen Kultur befassen soll. Betrachten wir den Haushalt, lieber Kollege Rose — da habe ich eine andere Einschätzung als Sie —, so vermittelt sich der starke Eindruck, daß diese Bundesregierung die bildungspolitischen Probleme durch Nichtstun lösen will,
nach dem Spruch: Zeit heilt alle Wunden.
Da erklärt der Herr Parlamentarische Staatssekretär, der verehrte Kollege Pfeifer, daß man angesichts der Ausbildungsplatznot zur Entlastung des Lehrstellenmarkts nichts anderes tun könne, als auf den Durchmarsch des Pillenknicks zu warten. Diese Bemerkung kennzeichnet die Hilflosigkeit angesichts der Handlungsunfähigkeit eines Kanzlers, der die geistige Erneuerung auf einem Schild,um nicht zu sagen: auf einem Brett vor sich herträgt.
Der Haushalt zeigt drei Grundtendenzen.Erstens. Der Bundeshaushalt wird zu Lasten der Schwachen saniert; der Bildungsetat mußte ganz besonders dafür herhalten.Zweitens. Der schrittweise Abbau der Bildungsplanung kennzeichnet den Rückzug des Staates aus einer zentralen Zukunftsaufgabe; und hier haben wir dieselbe Tendenz wie bei dem Einzelplan 30, was Kollege Zander vorhin dargestellt hat.
Drittens. Wo überhaupt die Koalition eigene Akzente zu setzen versucht — Stichwort: Förderung der sogenannten Eliten —, dort wird eine Umverteilung nach oben zu Lasten der Schwachen aus dem Bildungshaushalt vorgenommen.
— Ich komme gleich noch darauf, lieber Herr Kollege.Was sind denn die brennenden Probleme im Verantwortungsbereich dieses Ministeriums? Es sind die Probleme junger Menschen heute, es ist die Frage, wie die Jugend den Einstieg in unsere Gesellschaft findet, wie sie durch Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit die Voraussetzungen dafür erhält, sich in einer Leistungsgesellschaft, sich in einer druckvollen Leistungsgesellschaft zu behaupten. Es sind die Probleme, die sich als ein Teilproblem der herrschenden Arbeitslosigkeit darstellen. Es sind Teilprobleme einer grundsätzlich falsch gewordenen Verteilung von Arbeit und Einkommen in dieser Gesellschaft. Da müßte geklotzt und nicht gekleckert werden.Ich stelle fest: Der Kanzler hat seine bei Regierungsantritt gegebene Lehrstellengarantie zum zweiten Male nicht eingelöst, nicht einlösen können.
1983 fanden fast 47 000 Bewerber keinen Ausbildungsplatz, und Ende September 1984 waren es über 58 000 Ausbildungsplatzbewerber, die unversorgt waren,
mehr als je zu diesem Zeitpunkt eines Jahres.
Ich stelle ferner fest: Diese Regierung, diese Koalition ist auch in Bereichen, in denen über die Fraktionen hinweg Einigkeit über Handlungsbedarf besteht, nicht fähig, schnell und konsequenz sachgerechte Lösungen herbeizuführen.
Wir Sozialdemokraten haben angesichts der Misereder Kollegiaten, der Abendschüler, der elternunab-
Metadaten/Kopzeile:
7744 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Diederich
hängig geförderten Schüler beantragt, für diese das sogenannte August-BAföG wieder einzuführen. Der Haushaltsausschuß hat am 8. November 1984 beschlossen, für diese dringend notwendige Korrektur des BAföG-Kahlschlags die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn auch innerhalb des Haushaltsansatzes. Soweit ich weiß, befindet er sich damit auf gleicher Linie wie der Fachausschuß.Was da notwendig ist, hat der Kollege Rose sehr richtig dargestellt. Wir müssen uns allerdings fragen, ob alle diese Bemühungen nur Augenwischerei waren. Wir hören jetzt, daß der Finanzminister auch bei der diskutierten Sachlage die Regelung nicht oder noch nicht will. Meine Frage ist: Wer setzt sich nun durch? Hat die Bundesministerin den Mund zu voll genommen, und wird sie abermals vom Bundeskanzler im Stich gelassen? Wird sie eventuell persönliche Konsequenzen ziehen?
Wir möchten die Kollegen der Unions-Fraktion, die ja die Mehrheit haben, auffordern, nun bald zu einem Entschluß zu kommen, was sie wirklich wollen. Es liegt ein sozialdemokratischer Entwurf vor. Er könnte schnell und zügig verabschiedet werden. Oder bringen Sie einen eigenen ein, in dem Sie unseren abschreiben und mit einem anderen Kopf versehen. Wenn die Regierung handlungsunfähig ist, muß das Parlament aus eigener Initiative tätig werden. Wir reichen unsere Hand dazu.
Ich muß Ihnen nicht sagen, daß die Zeit drängt. Ich will mir ersparen, angesichts der fortgeschrittenen Stunde auf Einzelheiten einzugehen. Jedermann weiß, daß hier korrigiert werden muß.Herr Dregger hat in dieser Debatte gestern von dieser Stelle aus gesagt: Wir sind immer noch dabei, den Schutt wegzuräumen, den Sie — damit meint er uns Sozialdemokraten — hinterlassen haben.
Gemeint hat er etwas ganz anderes. Gemeint hat er nämlich: Die Konservativen sind immer noch dabei, die Reformen rückgängig zu machen, mit denen Sozialdemokraten in ihrer Regierungszeit begonnen haben.
Heute werden mehr und mehr jene junge Menschen aus den Schichten, denen wir den Weg auch in die höhere Bildung, auf die Universitäten und damit in die Führungspositionen der Gesellschaft öffnen wollten — etwa aus der Arbeiterschaft —, zurückverwiesen hinter die alten Klassenschranken.
Die jungen Menschen suchen sich einen Platz auf dem Ausbildungsmarkt und verdrängen damit noch Schwächere aus der Chance auf Berufsausbildung. Der Kahlschlag bei den Stipendien für Studentenund Schüler, die Umstellung auf Volldarlehen müssen rückgängig gemacht werden, weil vor allem schwache Familien, Jugendliche und Kinder aus sozial schwachen Familien betroffen werden.
— Und Mädchen ganz besonders. — Das bildungspolitische Chaos der Regierung, die mangelnde Koordinierung der Bildungspolitik des Bundes mit den Ländern, das Auseinanderlaufen der Bundesländer in der Hochschulpolitik — das alles zeigt, daß sich der Bund aus der Bildungspolitik zu verabschieden beginnt.
Was mich erstaunt, ist, daß eine Ministerin, die von ihrem Kanzler in allen wichtigen Fragen alleingelassen wird,
dennoch so bereitwillig die Wende rückwärts einleitet, so bereitwillig junge Menschen allein auf das Vermögen ihrer Eltern verweist, so bereitwillig antiquierte Begriffe wie den der Bildungselite pflegt und die Chancengleichheit, in der auch eine Entwicklungschance unserer Gesellschaft für die Zukunft liegt, zurückdrängt. Es ist sehr bezeichnend, daß die Frau Bildungsminister es klaglos hingenommen hat, daß ausgerechnet ihr Geschäftsbereich, schon bisher ein Mini-Ministerium, nach dem Regierungsentwurf schrumpfen sollte. Der Ausschuß — Herr Kollege Rose, es war nicht die Regierung — hat bereits nachgebessert. Wir haben da gern mitgeholfen. Aber immer noch bleibt die Steigerungsrate des Ministeriums deutlich unter dem Durchschnitt. Es ist überhaupt die Gesamttendenz des Bundeshaushalts, daß die Bereiche Arbeit und Berufsausbildung eher zurückgehen. Insgesamt ist die Bildungspolitik, um es haushälterisch auszudrücken, kw gestellt, oder, wenn ich mir einen Kalauer erlauben darf, Frau Wilms ist Bundesminister mit schrumpfendem Geschäftsbereich.Ich muß allerdings zugeben, daß in diesem Haushaltsbereich auch wachsende Titel vorgesehen sind. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man, daß es sich im wesentlichen um eine Umverteilung zugunsten der sogenannten Eliteförderung handelt, also Förderung der Spitzenforschung. Selbstverständlich ist auch Förderung der Spitzenforschung erforderlich, und wir sind dafür. Aber wir sollten genau hinschauen, woher die Mittel dafür kommen.Nun, Kollege Rossmanith, komme ich auf das zurück, was Sie angesprochen haben: die Mittel werden nicht etwa aus dem Verteidigungshaushalt gewonnen, und sie werden nicht aus der Beschneidung von Privilegien genommen. Die Koalition hat vielmehr beschlossen, die notwendigen Mittel durch Kürzung der Maßnahmen auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung um 400 000 DM und durch Kürzung der Förderung des Fernstudiums um 400 000 DM usw. aufzubringen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7745
Dr. Diederich
Das haben Sie auch mit beschlossen, Kollege Rossmanith: Umverteilung von unten nach oben.
Wir Sozialdemokraten haben einen Antrag vorgelegt, mit dem wir insbesondere benachteiligten Jugendlichen helfen wollen, durch Qualifikation und Ausbildung besser für den Wettbewerb in dieser Gesellschaft gewappnet zu sein. Wir wissen aus Erfahrungen der Arbeitsämter, daß bereits in diesem Jahr schätzungsweise fast 10 000 benachteiligte Jugendliche ohne vermittelten Ausbildungsplatz geblieben sind. Es sind die Schwächsten in unserer Gesellschaft, und wir wollen durch weitere Aufstokkung des Benachteiligtenprogramms diesen Jugendlichen ein Angebot machen. Herr Kollege Rose, ich stimme voll mit Ihnen überein,
wenn Sie sich bei denen bedanken, die Lehrstellen bereitgestellt haben und es auch weiterhin tun. Aber wir dürften uns auch einig sein, daß das eben nicht ausreicht, um alle Jugendlichen unterzubringen.
Jede Mark, die zusätzlich für das Benachteiligtenprogramm mobilisiert werden kann, ist gut angelegt. Was der Bund zusätzlich zu leisten bereit ist, ist uns allzu spärlich, auch vor dem Hintergrund des selbst formulierten Anspruchs, nach dem diese Regierung dem Schicksal der Jugend in Ausbildung und Beruf ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden wollte.Nach dem Haushaltsentwurf 1985 sind 256 Millionen DM vorgesehen. Darin ist eine Steigerung enthalten, Herr Kollege; dafür danken wir. Aber damit können eben nicht zusätzliche Maßnahmen bezahlt werden, sondern nach den bestehenden Kriterien gerade die laufenden Maßnahmen im bisherigen Umfang aufrechterhalten werden. Wir wollen mit einer Aufstockung um 184 Millionen auf 440 Millionen DM die Möglichkeit geben, den erkannten Bedarf zu decken.Wir bedauern sehr, daß im Haushalt des Ministeriums keine Mittel für Anschlußprojekte der sehr erfolgreichen Modellversuchsprogramme „Mädchen in gewerblich-technischen Berufen" zur Verfügung gestellt werden,
ja, daß sogar Haushaltsmittel für die Umsetzung der Ergebnisse der auslaufenden Modellversuche gestrichen worden sind. Die Ergebnisse des Modellversuchs „Mädchen in gewerblich-technischen Ausbildungsberufen" haben gezeigt, daß diese Angebote von jungen Frauen und auch von der Wirtschaft angenommen werden, soweit diese konkret damit konfrontiert wird. Das mußte auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion bestätigen. Die Versuche haben deutlich gemacht, daß sich junge Frauen in der Ausbildung zu Nachrichtenmechanikerinnen oder zu Informationselektronikerinnen bewährt haben und daß die zunächst vorhandenen technischen Defizite aufgeholt werden können. Eine Unterstützung der jungen Frauen, die Öffnung gerade der technischen Berufsfelder mit qualifizierter Ausbildung, ist entscheidend für eine Ausweitung der Beschäftigungsmöglichkeiten und damit für die Verbesserung der Zukunftschancen der jungen Frauen.
Die bisher erzielten Anstöße sind ohne weitere staatliche Förderung nicht ausreichend. Weitere Anschlußprojekte sind dringend erforderlich, um Mädchen Chancen für eine bessere berufliche Zukunft zu bieten.
Wir wollen die Förderung von Versuchs- und Modelleinrichtungen und Programmen im Bereich der beruflichen Bildung verstärken. Wir wollen mit bescheidenen 2,5 Millionen DM 10% auf den Gesamtansatz für diese Aufgaben drauflegen, so daß in Zukunft 27,3 Millionen DM da sind. Die zusätzlichen Mittel sollen dafür verwandt werden, ein Programm „Anschlußprojekte für neue Berufsfelder für Frauen" aufzulegen; denn alle Bekenntnisse zur Gleichberechtigung der Frau bleiben leeres Gewäsch, wenn wir nicht gleichberechtigte Chancen für den Berufszugang eröffnen.
Wir wollen ferner einen neuen Titel einrichten, mit dem außerbetriebliche Ausbildung durch freie Träger, d. h. Gewerkschaften, Kammern, Innungen, Berufsausbildungswerke, andere freie Träger und Trägervereine, Selbsthilfegruppen usw. gefördert werden sollen. Wir schlagen vor, 88 Millionen DM dafür vorzusehen. Damit können nach unserer Berechnung eine große Zahl von Ausbildungsplätzen geschaffen werden, die gemeinsam helfen, die Misere zu beseitigen.Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten machen hier ein Angebot zur Kooperation. Wir wissen, daß das drängenste Problem unserer Tage — wahrscheinlich sind wir uns da mit Ihnen einig — die berufliche Einbeziehung junger Menschen in die Gesellschaft darstellt; denn wir wollen alle gemeinsam eine stabile Gesellschaft. Dies erfordert eingegliederte Menschen in stabilen Positionen. Wir fordern Sie auf, wir bitten Sie, dieses Angebot anzunehmen und mit uns gemeinsam durch Ihre Zustimmung zu unserem Antrag die Möglichkeit zu geben, dies in die Tat umzusetzen.Ich möchte noch ganz wenige Bemerkungen zu den Ausführungen des Kollegen Rose machen. Ich möchte zunächst einmal mich einer angenehmen Pflicht entledigen und mich bei dem Mitberichterstatter, dem Kollegen Rose, bedanken; denn über politische Unterschiede hinweg haben wir hervorragend zusammengearbeitet.
Ich möchte auch einen Dank an die Beamten des Ministeriums abstatten, aber auch an die Leitung des Hauses, auch an die Ministerin — die ich politisch kritisieren muß — für die Bereitschaft, auch bei kritischen Fragen von meiner Seite Auskunft zu geben, Rede und Antwort zu stehen und uns Ein-
Metadaten/Kopzeile:
7746 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Diederich
blick zu geben; denn nur so konnten wir überhaupt die Wurzeln für unsere Kritik finden.
Herr Kollege Rose, zum Berufsbildungsinstitut möchte ich nur einige Bemerkungen machen. Wir haben da neue Stellen eingerichtet, um das Ausbilderförderungszentrum Essen dorthin zu geben, aber leider haben Sie die Stellen gleich kw-gestellt, d. h. das Zentrum hat neue Aufgaben, aber es fallen Stellen sehr bald weg. Zweitens möchte ich ganz dezent daran erinnern, daß Sie auch in diesem Institut eine hochdotierte Stelle angesiedelt haben, eine andere zugleich mit einem kw-Vermerk versehen haben, um dort wie in anderen Ministerien und Ämtern auch, Ihre Leute unterzubringen. Ich finde das gar nicht so negativ, weil Sie dann in diesem Institut möglicherweise auch einen Ansprechpartner finden, der klarmachen kann, was an positiven Dingen in diesem Institut geleistet wird.
Wenn das dazu führt, dann können wir der gemeinsamen Überprüfung, die Sie wollen, beruhigten Herzens entgegensehen.Meine Damen und Herren, wir lehnen den Haushalt ab — es sei denn, sie nehmen unseren Änderungsantrag an —, weil wir der Schrumpfung nicht zustimmen können und weil wir auch die Gesamtrichtung der Wende nicht akzeptieren wollen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebhaber von Zahlen werden jetzt nicht auf ihre Kosten kommen, denn zum Glück — ich sage das, verehrte Kollegen, mit allem Respekt vor der großen Arbeitsleistung von Haushältern — bin ich keiner derselben. Deswegen will ich mich in meinen Betrachtungen etwas allgemeiner fassen. Angesichts der späten Stunde und des Gegenstands unserer Diskussion zögere ich nicht, in meinen Betrachtungen auch auf eine etwas länger zurückliegende Zeit zurückzugreifen. Es gibt Einsichten, die schon sehr alt sind und doch ihre Aktualität immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen.Der griechische Philosoph Demokrit, der etwa im Jahre 400 vor Christus lebte, sagte einmal zur Bildungspolitik folgendes: Stärker sind die Aussichten der Gebildeten als der Reichtum derer, die nichts lernten. — Meine Damen und Herren, das kann man nun eindeutig oder zweideutig, politisch, pädagogisch oder allgemein nehmen. Wir diskutieren hier den Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, also den finanziellen Aspekt, der haushälterisch eben pro und kontra gewürdigt worden ist, und wir sehen das, was von Staats wegen für Bildung getan werden kann, soll und muß. Dann ist es natürlich erfreulich, vor dem Hintergrund eines solchen überlieferten Ausspruches in dem kürzlich vorgelegten Bericht der Bundesregierung zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf das in moderne Sprache gefaßte Echo dieses Grundsatzes lesen zu können, was vielleicht auch wieder eine Brücke schlägt über alle diese Verdächte hinweg, die immer wieder geäußert werden. Ich zitiere:Finanzielle Aufwendungen für die Verbesserung von Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Forschung sind wichtige Investitionen für den einzelnen wie auch für die wirtschaftliche Zukunft unserer Gesellschaft.Nun sage ich das nicht ganz allgemein. Ich bedaure, daß die Finanz- und Wirtschaftspolitiker meiner Fraktion nicht anwesend sind — doch, einer ist da, Herr Dr. Solms —; denn denen muß man das j a hin und wieder erklären. Aber, meine Damen und Herren, Bildung ist nicht nur das, sie hat natürlich auch einen Selbstwert. Um bei dem bereits zitierten Demokrit zu bleiben:Die Bildung— meine Damen und Herren, wir genießen das heute —ist des Glücklichen Schmuck, des Unglücklichen Zuflucht.Sie sehen also — und jetzt im Ernst gesprochen —: Der Spannungsbogen zwischen dem einen Aspekt von Bildung und Ausbildung in ihrem Selbstzweck als Existenzerhellung und dem anderen ihrer Auswirkungen auf die Lebensaussichten des einzelnen und der Gesellschaft ist so alt wie das abendländische Denken. Da kann man wohl von Kontinuität sprechen.Und kein Wunder, meine Damen und Herren, daß ich diese Kontinuität auch über einen kürzeren Zeitraum, sogar über eine Wende hinweg, darstellen muß. Das wird vielleicht Herrn Professor Diederich enttäuschen. Die Bundesregierung bejahe, sagte im Jahre 1980 der damalige Staatssekretär Granzow nach einem Bericht der „FAZ" vom 23. Juli des damaligen Jahres, in ihrer Politik zur Förderung besonders begabter Jugendlicher eine Form der Elitebildung, die von der einfachen Erkenntnis ausgehe, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik sich besonders anstrengen müsse, um — wörtlich — „alle Schätze, die in den Köpfen der Jugend sind", zu heben.
In dem zitierten Bericht der jetzigen Bundesregierung lesen wir:Die Bundesrepublik Deutschland ist als rohstoffarmes Industrieland in besonderem Maße auf einen hohen Leistungsstand in Wirtschaft, Technologie und Kultur angewiesen.
Und wenn die damalige Bundesregierung davon sprach, es gehe einerseits um gute Bildung und Ausbildung für alle, andererseits müsse es keinen Widerspruch zwischen der Gewährung gleicher Chancen für alle und der Förderung besonderer Begabungen geben, so zeigt sich doch auch hier Übereinstimmung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7747
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Diederich?
Bitte schön.
Lieber Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß wir in der damaligen Bundesregierung, obwohl die FDP unser Partner war, niemals auf die Idee gekommen wären, diese Spitzenförderung zu Lasten Schwächerer durchzuführen?
Verehrter Herr Kollege, ich stimme Ihnen nicht zu. Ich werde auf das Thema noch einmal zukommen.
Ich wollte nämlich gerade weitere Übereinstimmungen feststellen.
Denn um die beschriebenen Herausforderungen bestehen zu können,
— sagt der Bericht über die Zukunftschancen der Jugend —
ist erste Voraussetzung ein hohes allgemeines Leistungs- und Bildungsniveau aller Bürger. Darüber hinaus ist das Gemeinwesen auf herausragende Leistungen angewiesen,
also darauf, daß es Menschen gibt, die bereit und fähig sind, in Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft, Handwerk und Industrie Außerordentliches zu leisten.
Weil sich die Bundesregierung offenbar einer weiteren Einsicht des Philosophen Demokrit bewußt ist, nämlich der, daß mehr Leute durch Übung tüchtig werden als aus Anlage, sagt sie folgerichtig, daß Herkunft und soziale Stellung der Eltern, Wohnort und Erziehungswille der Umwelt für den Lebensweg des einzelnen nicht ausschlaggebend sein dürften und daß ihre Anstrengungen zur Förderung von Leistung und Qualität im Bildungswesen daher auch das besondere Bemühen um leistungsschwächere Gruppen in unserer Gesellschaft umfassen müßten.
Meine Damen und Herren, bei soviel Übereinstimmung, nicht nur über Jahrtausende, sondern über ein paar Jahre hinweg, nimmt sich doch manches, was, auch unter Einschluß der Frage von Ihnen, Herr Kollege Diederich, in der bildungspoltischen Diskussion dargebracht wird, wie ein Schattenboxen aus;
denn Akzentverschiebungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Ich möchte besonders — —
— Herr Kuhlwein, bitte nicht. Ich habe so eine schöne Rede vorbereitet.
Sie gestatten keine Zwischenfrage?
Nein. — Will er mir die denn stören?Also, lieber Herr Kuhlwein — jetzt spreche ich Sie direkt an —: Ich sprach vom Schattenboxen. Ich möchte vor allen Dingen Sie, Herr Kuhlwein, auf eine Erkenntnis des von mir als Begleiter durch diese Diskussion gewählten Philosophen aufmerksam machen. Ich meine die Erkenntnis, daß jede Streitlust unvernünftig sei. Weil sie das für den Feind — sagen wir besser: für den Gegner, den Konkurrenten — Schädliche im Auge habe, sehe sie den eigenen Vorteil nicht. — In diesem Zusammenhang meine ich mit Vorteil natürlich die Sache, unsere gemeinsame Sache, die Bildungspolitik, das Interesse der jungen Menschen. Was uns hier verbinden könnte — davon habe ich schon einmal gesprochen —, ganz besonders in bezug auf Haushaltsfragen, muß j a auch immer wieder in das Bewußtsein der Vertreter anderer Politikbereiche gebracht werden, und zwar unabhängig von Koalitionen und Parteien; denn diesbezüglich habe ich meine Erfahrungen, die wir gemeinsam teilen.
— Lieber Herr Kuhlwein, „Kahlschlag" ist natürlich ein schönes Wort. Davon kann man lange leben.Vor diesem Hintergrund können wir mit dem Haushaltsansatz, ich sage jetzt nicht: zufrieden — wie könnte ich gerade bei diesen Attacken „zufrieden" sagen?; das ist ja ganz unmöglich; zufrieden sind wir nie —, aber doch einverstanden sein.Dieser Haushalt setzt — ich sagte es — neue Akzente in der Förderung von besonderer Begabung und Leistung, aber er erhält den Ausgleich z. B. im Bereich der beruflichen Bildung, etwa durch die Aufstockung des Benachteiligtenprogramms. Das kann man hier doch nicht nur als eine Randerscheinung betrachten. Besonders dieser Punkt ist vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Sorge um genügend Ausbildungsplätze deutlich zu würdigen.Es ist erfreulich, daß sich — das ist keine Verharmlosung der bleibenden Probleme — die Situation seit dem 30. September entspannt hat. Im Oktober ging die Zahl der unversorgten Bewerber zurück. Die Aufstockung des Benachteiligtenprogramms wird als begleitende Maßnahme zu den Anstrengungen der Wirtschaft ein weiteres tun.Verehrter Kollege Dr. Jannsen, hier muß ich nun einen Blick zurück auf die vorjährige Haushaltsdebatte werfen. Man muß in Geschichte einmal ein bißchen gründlicher sein.
Sie werden sehen, ich tue das nur, weil ich Ihre Ausführungen so ernst nehme. Sie haben nämlich damals gesagt, daß die Fixierung auf das duale System im Jahre 1984 zu ungeheuren Problemen führen werde. Nun kann man über den Begriff „ungeheuer" natürlich diskutieren. Ich bestreite auch gar nicht — wir haben das nie getan —, daß es Probleme, ernste Probleme gibt und daß es sie weiter geben wird. Eines aber — das meine ich jetzt in allem Ernst — hat sich mit Deutlichkeit gezeigt,
Metadaten/Kopzeile:
7748 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Neuhausennämlich daß es gerade das duale System, also die Mit- oder Hauptverantwortung der Wirtschaft gewesen ist, die dazu geführt hat, daß trotz aller Probleme ein Rekordangebot an Ausbildungsstellen unterbreitet wurde und wird, für das wir den Verantwortlichen sehr dankbar sein müssen.
Lieber Kollege Dr. Jannsen, als ich das vor einiger Zeit schon einmal gesagt habe, haben Sie gerufen: Olympisches Jahr! Noch ein Rekord! — Man muß das alles genau verfolgen. Das ist der Unterschied zwischen uns. Ein Düsternisrekord, Begriffe wie „ungeheuer", man muß mit dem Schlimmsten rechnen — all das ist selbstverständlich. Einen tatsächlichen Rekord an vorweisbaren Leistungen darf man aber nicht erwähnen; sonst wird es ironisiert.Meine Damen und Herren, ich bitte es nicht als ironisch oder als unangebrachte Scherzhaftigkeit bei diesem ernsten Thema aufzufassen, wenn ich jetzt wieder auf Demokrit zurückkomme. Er hat nämlich — gerade wenn man an die Erfahrungen der letzten Monate und die immer wieder vorgebrachten Überlegungen zur Einführung einer gesetzlichen Lehrstellenabgabe denkt — etwas sehr Vernünftiges gesagt. Er sagte nämlich: Als stärkerer Mahner zur Tugend wird sich erweisen, wer Aufmunterung und überzeugendes Wort, als der welcher Gesetz und Zwang anwendet.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt des Haushalts ist die Förderung des Hochschulbereichs, vor allem die Hochschulbauförderung. Auch darin spiegelt sich der Wille der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen zur Offenhaltung aller Bildungswege. Sie ist schon gesamtgesellschaftlich geboten. Ich begrüße aber ausdrücklich die Feststellung in dem von mir mehrfach zitierten Bericht, daß das Offenhalten aller Bildungswege nicht nur der qualifizierten Ausbildung aller Jugendlichen dient, sondern gleichzeitig der Wahrung der Freiheit der Bildungswegentscheidungen des einzelnen.In diesem Zusammenhang möchte ich an die BAföG-Problematik und an den Hinweis der Bundesregierung auf ihre erneute Prüfung im Rahmen der Diskussion über den Familienlastenausgleich erinnern. Ich freue mich aber vor allem — warum rufen Sie nicht „Traumtänzer", Herr Kuhlwein? —, daß durch einen Grundsatzbeschluß des Haushaltsausschusses die Möglichkeit besteht, vorab die Bereinigung der sogenannten Ferienmonatsregelung beim BAföG in Angriff zu nehmen. Herr Rose hat bereits darauf hingewiesen, und ich begrüße die Übereinstimmung von Bildungs- und Haushaltspolitikern der Fraktionen. Es kommt meines Erachtens in diesem Fall nun wirklich nicht auf Hektik an, denn eine Neuregelung würde erst zum Schuljahreswechsel in Kraft treten.
— Der ist mir zuwenig.
Meine Damen und Herren, es mag ja — es ist schon angesprochen worden — nur als symbolisch zu werten sein, aber ich begrüße sehr, daß der Einzelplan 31 die Viermilliardengrenze nicht unterschritten hat, sondern eine leichte Steigerung aufweist. Symbolisch und konkret in den Einzelposten spiegelt sich für meine Begriffe vor dem Hintergrund vieler Diskussionen darin doch die gesamtstaatliche Verantwortung für das Bildungswesen, für die Glaubwürdigkeit auch gegenüber den Ländern und für die Solidarität mit der jungen Generation.Ich begrüße ganz ausdrücklich den von mir schon zu Anfang erwähnten neuen Akzent zur Förderung von Begabung, Qualifikation und Leistung. Wie recht hatte doch die frühere Bundesregierung, als sie sich — ich zitierte es schon wörtlich — zur Elitebildung in dem genannten Sinne bekannte und hinzufügte, daß zur Elitebildung Weltoffenheit und Verständnis für den anders Befähigten oder Gebildeten gehöre. Selbstverständlich! Nun folgen den Worten Taten, denn „die Herausbildung offener Leistungseliten ist eine Aufgabe des gesamten Bildungswesens", heißt es im Bericht der jetzigen Bundesregierung. In der Tat, Förderung und Herausforderung sind vielleicht die Begriffe, die auch zu neuen Gemeinsamkeiten führen können. Und wenn man sich nicht in das Erbauen künstlicher Gegensätze verliebt hat, dann könnte daraus durchaus ein neuer Konsens in der Bildungspolitik entstehen, der nicht im Spiel gegenseitiger Unterstellungen untergeht, sondern angesichts der Aufgaben der Zukunft auch den Mut hat, ältere Ideen wie etwa Formen des Bildungsrats erneut in die Diskussion einzuführen, der aber auch bildungspolitische Fragen nicht zum bloßen Bestandteil ideologischer Kampagnen verkümmern läßt.Meine Damen und Herren, Bildungspolitik — wir wissen es alle — ist keine Sache einfacher Lösungen. Bei aller Kontinuität in bestimmten Aufgaben kommt es auch immer wieder auf Flexibilität und Sorgfalt in der Beantwortung der Fragen an, die aus sich wandelnden Situationen entstehen. Um es noch einmal mit Demokrit zu sagen:Genau von denselben Dingen, von denen uns das Gute kommt, können wir auch das Üble gewinnen, aber auch wieder außerhalb des Üblen gelangen. Zum Beispiel— sagt unser Philosoph —ist tiefes Wasser zu viel nütze und auch wieder übel, denn man läuft Gefahr zu ertrinken. Dagegen hat man nun ein Mittel erfunden, den Schwimmunterricht.
Meine Damen und Herren, dieses tiefe Wort läßt sich auf viele Problemlagen anwenden. Wenn ich manchen den Kopf schütteln sehe, möchte ich ihn bitten, eine kurze Minute der Meditation eines Tages diesem Thema zu widmen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7749
NeuhausenIch möchte, weil ich Sie mit diesem Philosophen malträtiert habe, als letztes dazu sagen — wieder Zitat —:Weder verdunkelt edle Rede schlechte Tat noch wird gute Tat durch der Rede Lästerung zuschanden.Meine Damen und Herren, wir werden uns darum bemühen, wie bisher Rede und Tat in möglichst gute Übereinstimmung zu bringen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
— Ich weiß, Herr Daweke, Sie erwarten ja auch immer etwas Besonderes von mir.Wenn ich daran denke, daß Herr Neuhausen hier vorhin von Glück gesprochen hat, dann kommt mir der Bildungsminister der deutschen Bundesregierung wie Hans im Glück vor, der bei jedem Wechsel, bei jedem neuen Ansatz etwas von dem Gut, das er einmal hatte, verliert. Ich werde versuchen, es an diesem Haushalt — —
— Sie kennen das deutsche Märchen nicht, das sollten Sie vielleicht einmal nachlesen: „Hans im Glück".Dieser Haushalt ist kein Haushalt der Zukunft, sondern ein Haushalt der Zerstörung. Herr Rose, Sie müßten es ausgerechnet haben, daß dieser Haushalt weniger hat als der vorige. Im Ansatz der Regierung hatte er bereits 29 Millionen DM weniger als der vorige. Das können Sie aus den Drucksachen herauslesen. Nach der Entscheidung des Haushaltsausschusses — auch das geht aus den Drucksachen hervor — sind es 16 Millionen DM mehr. Dazu muß man allerdings — daß könnte ja Hoffnung machen — wissen, daß der Haushaltsausschuß gleich wieder 40 Millionen DM als globale Minderausgabe festgelegt hat. Das macht gegenüber dem Ansatz im Haushalt von 1984 insgesamt 24 Millionen DM weniger. Damit ist, wie Herr Rose sagt, die Talfahrt beendet. Frau Wilms hat gekämpft und gesiegt. Sie ist eben — wie die ganze Regierung — eine Siegertype.
Ich komme zu Einzelpunkten.Ich möchte zunächst auf das Programm für benachteiligte Jugendliche zu sprechen kommen. Hierfür sind 86 Millionen DM vorgesehen. Davon sind nach Auskünften, die ich erhalten habe, 40 Millionen DM im Einzelplan 31 auszuweisen. Es stehen 5 000 Plätze für benachteiligte Jugendliche zur Verfügung. Die 40 Millionen DM im Bildungshaushalt, die, wie ich soeben erwähnte, auszuweisen sind, entsprechen genau der globalen Ausgabenbeschränkung. Das heißt: Es gibt keinen Pfennig mehr. Wenn man dieses Programm durchführen will, muß man das an anderer Stelle einsparen.Herr Neuhausen, ich habe von ungeheuren Problemen gesprochen, und ich glaube, ich habe recht gehabt. Nur: Es scheint nicht einfach zu sein, zwischen uns Einigkeit darüber herzustellen, was ungeheuer ist. Sie sagen, die zahlenmäßigen Probleme seien gelöst. Aber das ist nicht richtig. Der Ansatz ist gegenüber dem des Jahres 1983 besser ausgestaltet worden, aber er ist letzten Endes bezogen auf die Zahl der Übriggebliebenen schlechter als im Jahre davor. Ich will noch einmal ausdrücklich betonen: Wir haben nicht nur mit den Jugendlichen zu tun, die vom Arbeitsamt ermittelt worden sind, sondern auch mit denjenigen, die das Arbeitsamt in seiner Statistik vom 30. September nicht ermittelt. Dazu müssen Sie einmal den Berufsbildungsbericht nachlesen.Aber auch das neue Benachteiligtenprogramm weist auf weitere Probleme hin. Einmal erweitert es den Kreis der Betroffenen. Bislang wurden vorwiegend die sogenannten Leistungsschwächeren, wie Herr Neuhausen soeben sagte, von dem Benachteiligtenprogramm erfaßt. Die Ausweitung dieses Programms in sozialer und regionaler Hinsicht bedeutet aber etwas ganz anderes. Niemand kann sagen, daß Mädchen und auch Jungen, die etwa einen Realschulabschluß mit „gut", „befriedigend" oder sogar „sehr gut" haben, zu den Leistungsschwächeren in dieser Gesellschaft gehören. Sie finden aber keinen Ausbildungsplatz, wenn sie in Regionen mit einer wirtschaftlichen Strukturschwäche wohnen. Nun frage ich Sie: An welcher Stelle im Haushaltsentwurf der Bundesregierung gibt es irgendeinen Ansatz zur Beseitigung strukturschwacher Wirtschaftsregionen in der Bundesrepublik? Die Stelle möchte ich gerne nachgewiesen haben. Ich habe bis jetzt nichts davon gehört, ich habe sie nicht gefunden. Ich habe auch in den Aussagen der Redner in den letzten zwei Tagen darüber nichts vernommen.Nächster Punkt: Die geschlechtsspezifische Notlage, d. h. mit anderen Worten die Vernachlässigung von Frauen und Mädchen in der Bildungspolitik, drückt sich genau in der Notwendigkeit dieses Benachteiligtenprogramms aus; denn mindestens 60 Prozent der Übriggebliebenen sind Frauen und Mädchen.Dieses Programm zeigt sehr deutlich, daß wir es hier mit einer langfristigen Problematik und nicht mit einer kurzfristigen Angelegenheit zu tun haben. Darauf möchte ich besonders hinweisen.
Nur ökonomische Veränderungen in diesem Land vermögen diese Probleme zu lösen, nicht aber Benachteiligtenprogramme mit Finanzierungsmitteln. Das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein, der an der Stelle kühlt, wo er gerade hinfällt; aber an den
Metadaten/Kopzeile:
7750 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Dr. Jannsenanderen Stellen, auf die er nicht fällt, wird er nicht kühlen.Im Zusammenhang mit dem Benachteiligtenprogramm verweise ich noch auf einen weiteren Gesichtspunkt. So wie die Bundesregierung diesbezüglich verfahren ist, bedeutet das — das habe ich auf einer Tagung des Jugendaufbauwerks in Bonn am 7. November erfahren —, daß bei der Durchführung dieser Maßnahmen eine Verzögerung nicht mehr zu vermeiden ist und daß die Gelder, die für den Abbau von Ausbildungsplatzmängeln noch in diesem Jahr vorgesehen sind, frühestens im zweiten Viertel des nächsten Jahres abgerufen werden können, weil die entsprechenden Einrichtungen gar nicht in der Lage sind, das vorher zu bearbeiten.Weiterer Punkt: Ausbildungsförderung. Die Zahlungen des BAföG im August, die j a von der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen des Deutschen Bundestages 1982 gestrichen wurden, sollen wieder aufgenommen werden. Ich verweise darauf, daß der Haushaltsausschuß mitgeteilt hat, daß im Rahmen der Mittel, die zur Verfügung stehen, bei der Gesetzgebung darauf geachtet werden soll, dieses Problem zu lösen. Das heißt, es gibt überhaupt keine neuen Gelder. Um etwa 20 Millionen DM dreht es sich.
— Dann kommen Sie vielleicht nachher zu mir; ich habe den Brief des Haushaltsausschusses vorliegen. Das kann man nachprüfen; ich habe es überprüft.
Dieses BAföG für den August ist auch wiederum nur eine kleine Reparaturmaßnahme. Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, über den wir am Freitag hier abstimmen werden, die bundeseinheitliche Wiedereinführung des Schüler-BAföG. Das ist j a schon etliche Male abgelehnt worden. Aber da Herr Neuhausen vorhin sagte, er will mehr als die Anträge der SPD, könnte es ja sein, daß er für die Fraktion der FDP diesem Vorschlag zustimmt. Das wäre immerhin ein Erfolg. Ich halte es aber für unwahrscheinlich, Herr Neuhausen.Ich möchte allerdings im Zusammenhang mit dieser Schülerausbildungsförderung darauf hinweisen, daß wir uns hier, von der Bundesregierung angepackt, auf eine abwärtsführende Spirale zubewegen, wie sie in den Schulbüchern als der „Teufelskreis der Armut" in der Dritten Welt beschrieben wird. Wir haben die Entwicklung einer neuen Armut. Sie kennen die Studie. Die Not der Familien, besonders der mit mehreren Kindern, führt zu einer Verschlechterung von deren Bildungsmöglichkeiten, weil sie sich Bildung materiell nicht mehr leisten können. Die Verschlechterung der Bildungsmöglichkeiten führt zur Verschlechterung der Arbeitsmöglichkeiten. Das führt zu weiterer Verstärkung der sozialen Not.Das einzige, was Sie da anzubieten haben, auch in fünf Jahren, wenn Sie so weitermachen, werdenBenachteiligtenprogramme sein. Das ist keine Lösung des Problems.
Es wird die Herstellung einer neuen Armut sein. Aber zugleich machen Sie Spitzenförderung, die natürlich einfacher und billiger ist als Breitenförderung, als die Förderung all derjenigen, die drohen, aus dem sozialen System herauszufallen, weil einfach die Anzahl derjenigen, die an der Spitze stehen sollen, kleiner ist als die Anzahl derjenigen, die die Breite ausmachen.Da kann man natürlich etwas hineintun. Da werden in dem Hochschulbereich in diesem Jahr 12,5 Millionen DM hineingetan, zusätzlich zu den Geldern, die schon drin waren. Sonderprogramme für Hochqualifizierte, was immer das auch sein mag, Sonderförderung für Forscher und Forschergruppen als neuer Titel in dem Haushalt für Bildung und Wissenschaft, das allerdings scheint mir eine Form der Förderung zu sein, durch die — ich habe das vor einiger Zeit hier schon einmal gesagt — eine kooperative Entwicklung von Wissenschaft, eine Öffnung von Wissenschaft für möglichst viele, auch für diejenigen, die von Wissenschaft etwas haben wollen, die aber Wissenschaft nicht studieren können, mit Sicherheit nicht erreicht wird.
Das, was damit erreicht werden soll, zeigt die Novelle zum Hochschulrahmengesetz, der Referentenentwurf, der vorliegt. Es soll erreicht werden und wird wahrscheinlich sogar erreicht, daß diejenigen, die in der Forschungsspitze sind, ihre Spitzen an die Industrie, an die Wirtschaft abgeben, damit diese bessere, schnellere Rationalisierungs- und Kontrollinvestitionen durchführen kann. Das wird der Effekt einer Elitebildung, einer Eliteförderung sein. Eine Breitenförderung ist das nicht.Im Jahre 1983 bekamen diejenigen, die überhaupt BAföG erhielten, bei gestiegenen Kosten im Durchschnitt etwa die gleichen Sätze wie 1972, und der Anteil der Geförderten sank unter 30%.Ein letzter Punkt, den ich etwas kürzer behandeln will, der aber in der Diskussion eigentlich noch mehr Aufmerksamkeit erfordern würde als die anderen Punkte, ist der Punkt der Weiterbildung, der Weiterbildung für Jugendliche, die eine Berufsausbildung hinter sich gebracht haben, arbeitslos sind — Sie wissen, daß es Hunderttausende sind, die derzeit in einer solchen Lage sind —, und der Weiterbildung von Erwachsenen, damit sie wieder die Möglichkeit haben, in einen Beruf hineinzugehen. Das betrifft wiederum viele, viele Frauen in der Bundesrepublik. Besonders die Frauen, die in einer bestimmten Zeit ihres Lebens — wie sie es ja auch wollen — ihre Kinder betreut haben, werden nach zehn, zwölf, 15 Jahren ohne Weiterbildungsmöglichkeiten nicht wieder den beruflichen Anschluß finden. Was dazu im Haushalt und in den Überlegungen des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft gesagt worden ist, ist meines Erachtens sehr dünn. Im Haushalt werden ModellversucheDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7751Dr. Jannsenund deren Ansätze gekürzt. Zur Einführung neuer Technologien werden die Ansätze erweitert.Insgesamt komme ich dazu, festzustellen, daß dies ein Haushalt mit beschränkten Notmaßnahmen ist, ein Haushalt der verstärkten Auslese und ein Haushalt der Zerstörung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Das drückt sich darin aus, daß dieser Haushalt, dieses Bildungsministerium die Ansätze im Bereich der Bildungsplanung kürzt, daß es die Ansätze für Modellversuche kürzt, und zwar insbesondere im allgemeinen Bildungsbereich, die auf einen Zusammenhang mit sozialer Problematik hinweisen.Dagegen werden Investitionen in dem Bereich gemacht, den schon Herr Riesenhuber vorhin vertreten hat, in dem Bereich der neuen Technologien, deren Akzeptanzentwicklung usw.Das Bildungsministerium ist dabei, die ihm originären Aufgaben zu verlieren, und das nicht, weil wir eine Dezentralisierung und eine weitere Ausbreitung der Bildung vor uns haben. Vielmehr handelt es sich schlicht um eine Reduzierung der Bildungsanforderungen und Bildungsansprüche in der Bundesrepublik insgesamt. Dem ist meines Erachtens in den nächsten Jahren entgegenzusteuern.
Das Wort hat Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 31 sieht eine Steigerung des Gesamtplafonds auf über 4 Milliarden DM vor. Dies ist eine sehr positive Gesamtentwicklung, weil sie die Bundesregierung in die Lage versetzt, bildungspolitische Prioritäten ausgabewirksam deutlich zu akzentuieren.
Der starke Rückgang der Höhe des Einzelplanes im letzten Jahr war, wie ich immer betont habe, durch die erforderlichen Veränderungen bei der BAföG-Umstellung bedingt.
Er bedeutete nicht, wie Sie, meine Damen und Herren von der Opposition auch heute behauptet haben, einen Rückzug des Bundes aus der Bildungspolitik.
Im Gegenteil: Wir setzen deutliche Akzente.
Herr Kollege Diederich, bei dem Bild, das Sie soeben von einer Ministerin gezeichnet haben, habe ich mich immer umgeguckt, wen Sie wohl gemeint haben.
Ich glaube, Sie sollten sich da doch ein bißchen besser informieren.
Ich glaube, daß wir mit diesem Haushalt im kommenden Jahr auf einer soliden Grundlage die bildungspolitischen Zukunftsaufgaben erfolgreich angehen werden.
Wichtigstes Ziel — da besteht sicher Übereinstimmung — ist die Sicherung der Ausbildungschancen der jungen Menschen in allen Ausbildungsbereichen, in der beruflichen Bildung wie in der Hochschule. Nur mit einer möglichst qualifizierten Bildung erhält die Jugend das notwendige Rüstzeug für den Beruf, erhält die Wirtschaft die qualifizierten Fachkräfte, die sie braucht, und erhält die Wissenschaft kreative Nachwuchskräfte. Gerade angesichts des großen Strukturwandels in der Arbeitswelt und der tiefgreifenden Veränderungen durch neue Technologien ist es eine vordringliche Aufgabe, Qualifikationen bedarfsgerecht zu vermitteln.
Der Einzelplan für 1985 spiegelt diese Aufgaben wider. Hinsichtlich der Ausbildung junger Menschen ist es die primäre Aufgabe der Wirtschaft, ausreichend Plätze zur Verfügung zu stellen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, diese Politik hat sich bewährt, und sie wird sich weiter bewähren.
Herr Kollege Diederich, vielleicht nehmen Sie diese Zahlen zur Kenntnis: Im Oktober dieses Jahres sind weitere 8 000 Jugendliche in Lehrstellen vermittelt worden. Der Prozeß der Vermittlung von Jugendlichen in Lehrstellen geht in diesem Jahr schneller voran als im Vorjahr. Ich denke, daß wir auf eine Vermittlungsquote von 97 % kommen; denn — meine Damen und Herren, dies muß immer wieder gesagt werden — der 30. September ist ein statistischer Stichtag und nicht das Ende der Ausbildungsbemühungen.
Ihre Verelendungstheorie, die Sie in diesen Tagen anscheind wie einen roten Faden durch Ihre Debattenbeiträge führen zu müssen glauben, trifft auch in dieser Frage nicht zu.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, Herr Kollege.
Frau Minister Wilms, nachdem Sie die Zahl der Nachvermittelten im Oktober mit 8 000 beziffert haben: Können Sie auch sagen, wieviel Ausbildungsverhältnisse im Oktober abgebrochen worden sind?
Nein, die Zahlen liegen jetzt noch nicht vor. Wir werden diese Zahlen von der Bundesanstalt für Arbeit, wie ich denke, gegen Ende dieses
Metadaten/Kopzeile:
7752 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Frau Dr. WilmsJahres abrufen. Wir stehen im Gespräch mit der Bundesanstalt, damit wir hier ein sehr sauberes Zahlenbild bekommen. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich gehe — wenn die Maßnahmen des Bundes und der Länder greifen — davon aus, daß wir zu einer sehr hohen Vermittlungsquote derjenigen kommen, die am 30. September noch nicht vermittelt waren.Meine Damen und Herren, die Hilfen für die Jugendlichen, die ganz besonders schwierige Startchancen haben, haben für die Bundesregierung Vorrang. Die Mittel für das Benachteiligtenprogramm — ich muß es immer wieder sagen — in Höhe von 49 Millionen DM in 1982, im letzten Etatansatz der alten Bundesregierung, sind jetzt um das Fünffache auf 256 Millionen DM in 1985 gesteigert worden. Damit können in diesem Jahr rund 12 000 benachteiligte Jugendliche, die sonst keine Ausbildungschancen hätten, doch noch eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf beginnen. Zusammen mit den Jugendlichen, die sich bereits im Programm befinden, werden insgesamt 18 500 Jugendliche durch die Mittel des Bundes eine Ausbildung bekommen.Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Koalitionsfraktionen sehr herzlich bedanken, daß wir im Rahmen der Haushaltsberatungen noch eine weitere Titelerhöhung vornehmen konnten.
Ich möchte hier auf einige Debatteneinwände der Kollegen ausdrücklich sagen: Wir werden auch 1985 auf vielfache Weise die Berufsausbildung der Mädchen vom Strukturellen her angehen und werden diesen strukturellen Problemen der Mädchen unsere ganz besondere Aufmerksamkeit widmen. Ich werde in Kürze — noch vor Weihnachten — Gelegenheit nehmen, das Gesamtpaket der Maßnahmen und Überlegungen dem Parlament und der Öffentlichkeit vorzustellen.Der Sicherung der Qualität der beruflichen Ausbildung dient auch die Fortführung des Programms zum Ausbau der überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Das Ziel dieses Programms, rund 77 000 überbetriebliche Ausbildungsplätze als Ergänzung der betrieblichen Ausbildung zu schaffen, wird noch in dieser Legislaturperiode erreicht. Dann wird zu prüfen sein, wie technologische Entwicklungen in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten zu fördern sind. Die Beratungen werden im kommenden Jahr beginnen.Der Sicherung der Ausbildungschancen der Jugend dient auch die Politik des Offenhaltens der Hochschulen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund — das sage ich mit allem Ernst —, daß für die Zukunft mit einem Hochschulstudium im Gegensatz zu früher auch berufliche Risiken verbunden sind. Mit einem Hochschulstudium können heute nicht mehr per se Berechtigungen auf bestimmte Beschäftigungschancen verbunden sein.Die Politik des Offenhaltens der Hochschulen ist nur möglich, wenn der Hochschulbau planmäßig fortgeführt wird. Dies ist der entscheidende — und verfassungsrechtlich mögliche — Beitrag des Bundes zur Bewältigung der aktuellen Überlast an denHochschulen, die ansonsten in der Hauptsache von den Ländern geleistet werden muß. Die Bundesregierung hält daher auch für 1985 an dem hohen Volumen der Bundesmittel für den Hochschulbau von 1,15 Milliarden DM fest.Meine Damen und Herren von der Opposition, von der SPD, ich glaube, ich brauche nicht mehr in Erinnerung zu rufen, auf welche Summen Ihr Etatansatz im Jahre 1982 geschrumpft war.
— Eben! Deswegen wiederhole ich das auch, weil die Kollegen es gerne vergessen.Damit können den Bundesländern jetzt die Vorfinanzierungen erstattet werden, die aufgrund nicht eingelöster Verpflichtungen früherer Bundesregierungen noch ausstehen und hoffentlich in Kürze voll beglichen werden können.
Entsprechend dem 14. Rahmenplan für den Hochschulbau werden diese Hochschulbaumittel vor allem dazu dienen, die neugegründeten Hochschulen zu konsolidieren, die Fachhochschulen verstärkt auszubauen und außerdem die Forschungskapazitäten der Hochschulen zu stärken.Die Leistungsfähigkeit der Hochschulen in Forschung und Lehre wird des weiteren durch die Verstärkung der Mittel und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses gesteigert.Neben der Verbesserung der Bildungschancen für die jungen Menschen ist die Sicherung der Qualität der Forschung auf vielen Gebieten für die Bildungspolitik von zentraler Bedeutung. Unser wichtigstes Forschungspotential, nämlich die Hochschulen, muß trotz Belastung durch die Ausbildungs- und Lehraufgaben gesichert und ausgebaut werden. Ohne Spitzenforschung wird auf Dauer eine qualifizierte Lehre nicht möglich sein,
und ohne Spitzenforschung wird auch unsere wirtschaftliche Entwicklung in Frage gestellt.
Deshalb haben wir die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft um 16 Millionen DM oder 3 % ausgeweitet.Der Förderung der Forschung dient auch ein neuer Haushaltstitel für promovierte junge hochqualifizierte Wissenschaftler in Höhe von 5 Millionen DM im Jahre 1985 und in Höhe von 15 Millionen DM 1986 und in den Folgejahren. Damit wird jungen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu einer befristeten Arbeit in der Forschung geboten, um diese jungen Leute weiter für universitäre und außeruniversitäre wissenschaftliche Arbeit zu qualifizieren.Meine Damen und Herren, die Sicherung der Ausbildungschancen und die Stärkung der Forschung sind nur im Rahmen einer Bildungspolitik zu erreichen, die die Breitenausbildung absichert, die Leistung ermöglicht, die nach Begabungen dif-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7753
Bundesminister Frau Dr. Wilmsferenziert und die eine Vielfalt von Ausbildungsmöglichkeiten bereithält.
In Antwort auf einige Ausführungen in Debattenbeiträgen sage ich hier: Die Sorge um die benachteiligten Jugendlichen, die uns alle bewegt, muß ergänzt werden um unsere Verantwortung für die besonders begabten Jugendlichen, und zwar in allen Bereichen unseres Bildungswesens. Auch besonders begabte junge Menschen brauchen eine besondere Förderung. So sind erstmals Forschungsmaßnahmen zur Findung, Beratung und Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher in allen Bildungsbereichen vorgesehen. Dieser Forschungsbereich hat in Deutschland allzu lange brachgelegen und bedarf neuer Impulse,
die wir zu geben hoffen.
Einer Politik der Differenzierung dient auch die Ausweitung der Mittel für die Begabtenförderungswerke sowie für Leistungswettbewerb auch im handwerklichen Bereich. Hier sieht die Bundesregierung mit Blick auf die Zukunft einen Schwerpunkt ihrer Arbeit.Meine Damen und Herren, ich denke, daß der Einzelplan 31 eine solide Grundlage für eine Bildungspolitik mit den Zielen der Sicherung der Ausbildungschancen für alle — auch für die Benachteiligten —, der Leistungsorientierung und Begabtenförderung bietet.Lassen Sie mich zum Abschluß sagen, meine verehrten Kollegen: Wer eine derartige Politik der individuellen Leistungsförderung als Hinwendung zur Ellbogengesellschaft diffamiert, verkennt die Bedeutung der Leistung als einen anthropologischen Grundtatbestand für den Menschen.
Wer eine Politik der Begabungsdifferenzierung als Ausdruck eines Zwei-Klassen-Systems mißdeutet, lebt in historisch überlebten Vorstellungen und hat die Zeichen der Zeit nicht begriffen.
Wer gegen die Herausforderung persönlicher Verantwortung polemisiert, verkennt, daß der Motor unserer humanen, unserer wirtschaftlichen und damit auch unserer gesellschaftlichen Entwicklung letztlich vom Engagement und von der Verantwortung des einzelnen abhängig ist.
Wir werden daher unbeirrt an den Zielrichtungen der Bildungspolitik festhalten und diese Politik im nächsten Jahr Schritt für Schritt umsetzen.Erlauben Sie mir zum Schluß, mit einem Dank an die Kollegen der Koalitionsfraktionen für eine gutekollegiale Zusammenarbeit zu schließen. Insbesondere möchte ich meinen Dank den Berichterstattern abstatten, Kollege Rose, Kollege Diederich und Kollege Verheyen. Es war auch für uns eine kritische, aber gute Zusammenarbeit.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über einen Änderungsantrag. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2486 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer dem Einzelplan 31, Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 25
Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksachen 10/2319, 10/2330 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Echternach Purps
Verheyen
Hierzu liegen Änderungsanträge der Abgeordneten Sauermilch, Verheyen und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 10/2432 und 10/2434 und der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2484 vor.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. Sind Sie mit der Regelung einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?
— Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Purps.
— Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter, einen Moment. Meine Damen und Herren, ich darf bitten, Platz zu nehmen oder die Gespräche draußen fortzusetzen.
Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Tatsache, daß die Bauwirtschaft immer weiter in schweres Wasser gerät, kann man dem Haushalt des Bundesministers für Raumordnung, Wohnungswesen und Städtebau allerdings nur wenig Attraktivität zubilligen.
Metadaten/Kopzeile:
7754 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Purps— Wir werden es ja noch hören, Herr Kollege.Statt der Gegensteuerungselemente enthält er bis auf den Bereich der Städtebauförderung — das gestehen wir zu, und dies tragen wir auch mit, da wir konstruktive Oppositionspolitik betreiben — nur sehr wenig, was hier positiv vermerkt werden könnte. Statt dessen glänzt er eigentlich durch Unterlassungen, durch nicht eingehaltene Versprechungen, durch Kürzung und Streichung von Programmen, was in dieser Situation kontraproduktiv ist.
Und von dem viel zitierten Aufschwung, Herr Kollege, den Sie immer noch im Munde führen, ist in diesem Bereich wirklich nichts mehr zu sehen.
Es ging Anfang 1983 wohl kaum ein Tag vorbei, wo nicht eine Sondermeldung aus dem Hause Schneider kam, wobei man sich dann recht gerne mit fremden Federn schmückte. Das tat man gern, denn im Bereich der gewerblichen Bauaufträge war die Zunahme sicherlich kein Produkt der Wende, sondern ein Ergebnis der Investitionszulage der Regierung Schmidt.
Auch der begrenzte Strohfeuereffekt, der mit dem Schuldzinsenabzug erreicht wurde, wurde von uns ja rechtzeitig — das stellt sich nun angesichts der Tatsachen heraus — als ein solcher gekennzeichnet. Nur stießen unsere Warnungen damals auf taube Ohren. Mehr Zweitwohnungen durchaus Betuchter wurden gefördert. Der Mitnahmeeffekt war groß. Der Normalverdiener konnte beglückt feststellen, daß er entweder gar nicht in den Genuß dieses Schuldzinsenabzugs kam oder nur zum Teil, und wenn überhaupt, dann mit einer recht geringen Förderungssumme gegenüber anderen.
Nun wurden die Meldungen, Herr Jahn, immer dünner. Man sprach nicht mehr von steigenden Zahlen bei den Genehmigungen, sondern viel stärker von steigenden Zahlen bei den Fertigstellungen. Vollkommen klar: Die Zahl der Genehmigungen ging ja zurück. Insofern war das natürlich geschickt gemacht. Jetzt war die Zeit, zu handeln. Aber es geschah eigentlich nichts außer schönen und beschwichtigenden Worten aus dem Hause Schneider.Ich habe manchmal das Gefühl, daß Sie nicht wissen, wie draußen in der Bauwirtschaft in den kleinen und mittleren Unternehmen die Sorgen zunehmen und wie die Sorgen der Arbeitnehmer und ihrer Familien um die Arbeitsplätze und die Zukunft dieser Arbeitsplätze aussehen. Sie können nämlich vor folgenden Zahlen die Augen nicht verschließen — jeweils zum 30. September des Vorjahres und zum 30. September dieses Jahres will ich Ihnen einmal einen Zahlenspiegel darlegen —:Der Rückgang bei der Anzahl der Beschäftigten beträgt 62 000; eine Differenz von 5,2 %. Arbeitslosenstand am 30. September des Vorjahres 106 000, am 30. September dieses Jahres 128 000; das ist ein Anstieg von 20 %. Insolvenzen im Berichtszeitraum des Vorjahres — man höre — 1315, in diesem Jahr 1498; ein Anstieg von 13,2 %. Damit liegt das Bauhauptgewerbe ganz erheblich über dem Durchschnitt.
Auch die Auftragslage sieht böse aus. Von Januar bis September 1984 liegt sie um 6,3 % niedriger im Vergleich zum Vorjahr. Im Hochbaubereich sind es bereits 15,3 %, und im reinen Wohnungsbau haben wir schon ein Minus von 20 %.
Auftragsbestände auf dem Tiefpunkt: 1,8 Monatsproduktionen, Herr Kollege. Und der Wohnungsbau mit 1,6 Monatsproduktionen Vorrat hat die Schmerzschwelle schon längst überschritten.
Das ist ein Rekord dieser rekordverdächtigen Regierung, aber im negativen Sinne.Was Herr Herion zu der Lage der Bauindustrie sagt, brauche ich Ihnen sicherlich nicht mehr vorzulesen. Das ist Ihnen ja alles coram publico mitgeteilt worden.Angesichts dieser dramatischen Situation geschieht eigentlich nichts. Als am 18. Juli 1984 diese Situation längst absehbar war, kam laut einer Pressemeldung aus dem Bereich des Bundeswohnungsbauministeriums folgendes, Herr Schneider — ich zitiere wörtlich —:Die Bauwirtschaft steht nicht vor einem Sturz ins Nichts. Es wird sowohl im Wohnungsbau wie im Wirtschaftsbau wie im öffentlichen Bau auch in Zukunft große Bauaufgaben geben. Übertriebene Schwarzmalerei und unbegründeter Pessimismus— na ja—führen lediglich zu zunehmender Verunsicherung und zur Beschleunigung von Abwärtsbewegungen.
Angesichts der vorgenannten Zahlen, Herr Kollege, muß das j a wohl als Gesundbeterei betrachtet werden und nicht etwa als ein Rezept, um zu helfen.
Welche „Leistungen", Herr Kollege, sind denn nun zu verzeichnen? Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus aus Mitteln des Bundes wird um weitere 60 Millionen DM reduziert. Die mittelfristige Finanzplanung tendiert nach unten. Darüber hinaus sollen die Mittel bekanntlich nur noch für die Eigentumsförderung und nicht mehr für den sozialen Mietwohnungsbau verwendet werden.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7755PurpsAllerdings war das j a noch einige Zeit umstritten; denn noch am 20. August 1984 haben Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Jahn, in einer Pressemitteilung geschrieben: „Die Bundesregierung hat nicht die Absicht," — man höre und staune —„sich aus der Förderung des Baus von Mietwohnungen im Rahmen des sozialen Mietwohnungsbaus zurückzuziehen." Das stimmt. Tatsächlich haben nämlich auch nicht Sie diesen Schritt vollzogen, sondern Sie haben ihn vollziehen lassen durch die Mehrheit der Koalition im Haushaltsausschuß gegen unsere Stimmen.Ich kann die Koalition nur auffordern, diesen Beschluß rückgängig zu machen, da gerade in Ballungszentren — das bestreiten Sie j a auch nicht — der soziale Mietwohnungsbau unverzichtbar bleibt und die Mitfinanzierung durch den Bund dringend nötig ist.
— Ich habe nur wenig Zeit, Herr Kollege. Ich bitte um Verständnis.Es sollte Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, auch zu denken geben, daß nicht nur der Deutsche Mieterbund, sondern auch die Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden und der Verband der Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen die Versorgung sozial schwächerer Bürger mit preiswertem Wohnraum durch diesen Beschluß gefährdet sehen und gegen diese Maßnahme protestieren. Die sozialdemokratische Fraktion fordert Sie auf: Nehmen Sie diesen Beschluß zurück!
Mit dem Wegfall der Zwangsanleihe durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts — dies ist ja der finanz- und steuerpolitische Flop des Jahres — wurde das Sonderprogramm zur Belebung des sozialen Wohnungsbaus und der Baunachfrage getroffen. Aber anstatt nun vor den Finanzminister hinzutreten, der diesen Flop zu verantworten hat, und eine andere Finanzierungsgrundlage für diese einmal für notwendig gehaltenen Programme, die sonst doch nicht aufgestellt worden wären, zu verlangen, wurde der Herr Bundesbauminister knieweich und ließ anstandslos zu, daß der dritte Teil des Sonderprogramms in Höhe von 250 Millionen DM Verpflichtungsermächtigungen vom Finanzminister kassiert wurde.
Ich will gar nicht davon reden, daß es noch einen weiteren Teil gab, der in Vorbereitung war.Von Ihnen, Herr Bundeswohnungsbauminister, hätte ich etwas anderes erwartet. Es ist nun wirklich keine seriöse Politik,
wenn die Grundlage fortgefallen ist, sich hinzustellen und zu sagen: Das ist futsch, ich habe hier einen Konkurs, ich kann nichts daran ändern.
Ich hätte geglaubt, daß ein gestandenes bayerisches respektive fränkisches Mannsbild Männermut vor Herrscherthronen gezeigt hätte, vor den Bundesfinanzminister hingetreten wäre und gesagt hätte: Nun gib mir meine Finanzierung wieder! — Dies haben Sie nicht getan. Aber Sie können es korrigieren: Sie brauchen eigentlich nur dem Antrag der SPD auf Erhebung der Ergänzungsabgabe zuzustimmen.
Aus diesen Mitteln könnten Sie die verlorenen Programme zum Wohle der Bauwirtschaft wieder auffüllen.
Um das Wohngeld gab und gibt es ein trauriges Verwirrspiel. Die Erhöhung wurde erst einmal zum 1. Januar 1985 zugesagt. Dann verschob man dies — April, April! — auf den 1. Juli 1986, und jetzt, nach dem Druck unserer Fraktion
und der Öffentlichkeit und — man höre — auch der eigenen Parteifreunde aus Bayern — das steht doch alles fest, meine Herren — wird der 1. Januar 1986 ins Auge gefaßt. Für mich wird es immer das Geheimnis des Bundeswohnungsbauministers bleiben, wie man dieses Verwirrspiel in einer Zeitung auch noch als soziale Tat verkaufen kann.Wir fordern Sie auf: Machen Sie ein Ende mit dem Theater, legen Sie endlich die Wohngeldnovelle vor, und zwar so schnell wie möglich. Es ist ein schlimmer Vorgang, wenn der Streit zwischen dem Wohnungsbau- und dem Finanzminister, obwohl das Geld an anderer Stelle mit leichter Hand ausgegeben wird, dazu führen sollte, daß wir im nächsten Jahr weitere Kürzungen für die Mieter erleben werden.
— Im Wohngeld, weil sie herausfallen. Herr Kollege, Sie werden das sehen. — Aus diesem Grunde hat die SPD-Bundestagsfraktion ein Wohngeldsicherungsgesetz vorgelegt, das die Wohngeldbescheide sichern soll. In Konsequenz dessen beantragen wir eine Erhöhung des Ansatzes für Wohngeld um 50 Millionen DM.
Um die gröbsten Schnitzer im Einzelplan 25 überhaupt ausbessern zu können, stellen wir weitere Anträge. Bei der Förderung des sozialen Wohnungsbaus sollen die Verpflichtungsermächtigungen um 60 Millionen DM erhöht werden. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus — zur Selbstnutzung und in den Bedarfsschwerpunkten auch weiterhin als Mietwohnungsbau — bleibt unverzichtbar und muß auf dem Stand des laufenden Jahres gehalten werden.Wir beantragen weiterhin einen Titel „Behutsame Stadterneuerung, Modernisierung und Energieeinsparung" mit einem Ansatz von 100 Millionen DM. Diesen Ansatz halten wir deswegen für not-
Metadaten/Kopzeile:
7756 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Purpswendig, weil es zwischen Neubau- und förmlich festgelegten Sanierungsgebieten zahlreiche Wohnviertel, Blocks und Einzelobjekte gibt, die dringend behutsam erneuert werden müssen, um nicht in die Sanierungsbedürftigkeit abzusinken.
Im übrigen kann hier, da kein förmlich festgelegter Sanierungsplan aufgestellt werden muß, im nächsten Jahr der Bauwirtschaft relativ unbürokratisch und schnell geholfen werden.Bei der Abstimmung in der zweiten Lesung haben Sie gleich die Chance, zu zeigen, wie ernst es Ihnen wirklich mit der oft geäußerten Sorge um Arbeitsplätze und Konjunktur ist. Sie können unseren Anträgen zustimmen. Betreiben Sie einmal konstruktive Politik, und hören Sie auf die Opposition.
Selbst wenn Sie unsere Anträge im Haushaltsausschuß abgelehnt haben, können Sie mit der Begründung, daß Sie niemand daran hindern kann, klüger zu werden, hier im Plenum zustimmen.In einem Punkt, der mir für die gesamte Entwicklung des Wohnungsbaus und die Sicherung der Arbeitsplätze sehr wichtig ist, möchte ich Herrn Schneider recht geben: Die Eigentumsquote in der Bundesrepublik ist im Vergleich zu anderen Ländern und gemessen an unserem Bruttosozialprodukt niedrig und bedarf der Erhöhung. Dies kann durch eine Neuordnung der steuerlichen Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums geschehen, und dies muß im Interesse aller Beteiligten — der Bürger, der Bauindustrie und der Arbeitnehmer — geschehen. Aber es wird, wenn ich Ihre Planung sehe, wohl keinem Arbeitnehmer, der jetzt möglicherweise von Entlassung bedroht ist, einleuchten, daß dieser Schritt erst 1987 geschehen soll, wenn er schon längst ausgeschieden ist. Hier ist dringend notwendig, daß schnell gehandelt wird.Ausgehend von der Tatsache, meine Damen und Herren, daß die meisten Besserverdienenden bereits Wohneigentum — zum Teil mehrfach — haben, wird es der Baukonjunktur langfristig nur nutzen können, wenn der normal verdienende Durchschnittsbürger durch die steuerliche Förderung in den Stand versetzt wird, selbst zu bauen. Dies kann allerdings, Herr Bundesbauminister, nicht dadurch geschehen, daß Sie nun weiter am § 7 b herumdoktern und an Symptomen herumkurieren. Dies kann nur dadurch geschehen, daß Sie einmal den großen Wurf wagen und eine andere, in jedem Fall auch sozial gerechte Förderung des Wohneigentums vorlegen.
Es ist meine Überzeugung, daß unabhängig von der beruflichen, finanziellen und gesellschaftlichen Position der Erwerb von Wohneigentum für jeden Menschen ein hohes soziales Gut ist, und zwar für alle gleich. Deswegen ist es in der Konsequenz eigentlich auch logisch, die Förderung für alle gleich zu gestalten. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und das Land NRW schlagen in getrennten Entwürfen, aber mit gleicher inhaltlicher Zielsetzung einen einkommensunabhängigen Eigenheimabzugsbetrag für Selbstnutzer vor.Durch folgende Maßnahmen werden unter anderem auch die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen, auf die es bei der Steigerung der Eigentumsquote ja ankommt, stärker in die Förderung einbezogen, als dies beim § 7 b, alt oder neu, je möglich gewesen wäre. Unser Entwurf sieht unter anderem den Abzug von der Steuerschuld statt vom Einkommen vor, die Barauszahlung des Restbetrages durch das Finanzamt, wenn der Abzugsbetrag die Steuerschuld übersteigt und einen zusätzlichen Abzugsbetrag von 1 200 DM pro Kind pro Jahr für die Dauer von zehn Jahren. Nur so kann nach unserer Meinung für den Normalverdiener die Finanzierung von Wohneigentum erreicht werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion wird den Haushalt des Bundesbauministers ablehnen. Er ist nicht konjunkturgerecht und in weiten Bereichen kontraproduktiv. Mit dem, was hier vorgelegt wird, und ebenso mit dem, was sich in der Planung befindet, wird wenig bewegt. Im Wohnungsbau — das ist nun einmal eine Tatsache —, Herr Minister, regiert der Finanzminister. Die Verhandlungen im Haushaltsausschuß und das Theater um das Sonderprogramm verstärken doch diesen Eindruck nur. Aktive Wohnungsbaupolitik findet nicht statt. Wenn nur noch das Bundesbaugesetzbuch zum Aufgabenbereich des Bundesbauministers gehören soll, dann darf man sich nicht wundern, wenn der Ruf nach Abschaffung des Ministeriums lauter wird.Lassen Sie mich ein kurzes Fazit ziehen. Herr Bundesbauminister, mit diesem Etat kommt die Bauindustrie nicht aus dem Schneider.
Das Wort hat der Abgeordnete Echternach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind zwar im Augenblick nicht sehr viele Kollegen im Saal, aber ich freue mich natürlich, daß der HSV auch in diesem Hause so viele Anhänger hat. Ich wünsche den vor dem Fernseher sitzenden Kollegen, daß sie dabei viele schöne Tore von Felix Magath und Thomas van Heesen sehen werden.
Was nun Ihre Rede, Herr Kollege Purps, angeht. so muß ich, wenn ich von der obligatorischen Polemik einmal absehe und die verbleibende sachliche Substanz werte, feststellen, daß die Opposition zu der erfolgreichen Politik des Bauministers offenbar keine ernst zu nehmende Alternative hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7757
EchternachSie wollen den Bausparern einen Teil der Wohnungsbauprämie wegnehmen und verschweigen dabei natürlich, wie Sie auf diese Weise den Baumarkt beleben wollen.
— Das ist Ihr Änderungsantrag, Herr Waltemathe. Unter Ziffer 1 wollen Sie die Wohnungsbauprämie kürzen.
Im übrigen greifen Sie zu den alten Rezepten, die sich schon zu ihrer eigenen Regierungszeit als offensichtlich unzulänglich erwiesen haben, die schon dort versagt haben.
Die SPD fordert ein Energieeinsparungsprogramm und hat nach zwei Jahren offenbar schon wieder vergessen, daß es ihre eigene Regierung gewesen ist, die wegen der mangelhaften Wirkung dieses Fensterprogramms schon damals dieses Programm wieder eingestellt hat.
Die SPD fordert Modernisierungsprogramme und weiß offenbar nicht mehr, daß sie selbst, ihre eigene Regierung, schon damals zu dem Ergebnis gekommen ist, daß man diese Aufgabe tunlichst den Ländern überlassen solle. Sie fordern immer neue, zusätzliche Beschäftigungsprogramme — Beschäftigungsprogramme auf Pump —, und Sie vergessen offenbar, daß diese Beschäftigungsprogramme schon damals niemandem genützt haben und uns noch weiter in die maßlose Verschuldung verstrickt haben, an deren Ende dann die Wirtschaftskrise stand.
Unsere Stabilitätspolitik hat in den letzten Jahren dafür gesorgt, daß die Zinsen wieder zurückgehen, daß die Realeinkommen der Arbeitnehmer nicht mehr sinken, sondern wieder steigen. Beides kommt auch dem Wohnungsmarkt zugute. Und weil wir an dieser Stabilitätspolitik festhalten, sie nicht gefährden wollen, werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?
Nein, ich halte es mit dem Kollegen Purps. Ich habe genauso wenig Zeit wie er.
Die Beschlüsse der Koalition im Haushaltsausschuß zu diesem Einzelplan markieren zwei wichtige neue Weichenstellungen im Bereich der Wohnungs- und Städtebaupolitik. Erstens wird der Bund ab 1986 im sozialen Wohnungsbau alle Mittel für das Ziel einsetzen, mehr Mitbürgern, gerade Mitbürgern mit mittlerem und kleinerem Einkommen, zu Wohnungseigentum zu verhelfen, und zweitens machen wir mit der kräftigen Erhöhung der Städtebauförderungsmittel deutlich, wo wir einen entscheidenden Schwerpunkt unserer künftigen Politik im Baubereich sehen.
nämlich in der Erneuerung unserer Städte durch eine humanere, durch eine umweltfreundliche Städtebaupolitik.
Zunächst zum Beschluß des Haushaltsausschusses zur künftigen Wohnungsbauförderung, die vom Kollegen Purps angesprochen worden ist: Der Verband des SPD-Kollegen Jahn hat ja noch vielmehr auf die. Pauke gehauen, hat wieder wie vor zwei Jahren versucht, Nebelkerzen zu werfen und bei den Mietern Angst zu erzeugen, aber ganz offensichtlich ohne Erfolg. Nicht nur, weil das Sprichwort zutrifft „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht", sondern auch deswegen, weil selbst sozialdemokratische Verantwortliche in der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und in den Ländern der Auffassung gewesen sind, daß diese Kurskorrektur überfällig und nötig war.
Zunächst zu den Tatsachen: Der Beschluß des Haushaltsausschusses über die Umstellung der Wohnungsbauförderung bedeutet weder eine Streichung des Sozialwohnungsbaus noch auch nur eine Kürzung des sozialen Wohnungsbaues um eine einzige Mark.
— Nein, das ist richtig.
Beschlossen wurde nur, daß die Mittel für den sozialen Wohnungsbau des Bundes von gut 1 Milliarde DM in Zukunft nicht für Mietwohnungen und Eigentumsmaßnahmen, sondern nur für Eigentumsmaßnahmen eingesetzt werden, der Bund also sich dabei — —
— Der Haushaltsausschuß hat sich im Rahmen des Voranschlages der Regierung bewegt. Er hat nur die Verwendung verändert.
Das bedeutet also, daß wir gerade für die Einkommensschwächeren, die unter die Einkommensgrenzen des sozialen Wohnungsbaues fallen, die bisher kein Eigentum im Wohnungsbereich erwerben konnten, eine zusätzliche Chance eröffnen. Für diesen Korrekturbeschluß war die veränderte Situation des Wohnungsmarktes entscheidend, der wir Rechnung tragen mußten.
Das Zweite Wohnungsbaugesetz, das seit mehr als 25 Jahren die Ziele der Wohnungsbaupolitik festlegt, sagt im § 1, daß es Ziel der staatlichen Wohnungsbauförderung ist, erstens, den Wohnungsmangel zu beseitigen, und, zweitens, für weite
7758 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Echternach
Kreise der Bevölkerung breitgestreutes Eigentum zu schaffen.
Das erste Ziel ist erreicht. Heute stehen mindestens 200 000 Mietwohnungen über längere Zeit leer. Im Durchschnitt stehen jeder Person über 34 qm Wohnfläche zur Verfügung. Bundesweit ist der Wohnungsmarkt ausgeglichen. Dazu hat sicher auch das Sonderprogramm der neuen Bundesregierung beigetragen.
Und wenn Sie sagen, Sie sähen im Wohnungsbereich keine Aufschwungtendenzen, muß ich darauf hinweisen, daß allein in der ersten Hälfte diesen Jahres
die Zahl der fertiggestellten Wohnungen von rund 64 000 auf rund 74 000 gestiegen ist, um mehr als 14 %, und dies auch in der zweiten Hälfte des Jahres anhalten wird.
Allerdings zeigen die rückläufigen Zahlen der Baugenehmigungen deutlich die wirkliche Marktsituation.
Es wäre schon finanziell nicht zu verantworten, den Mietwohnungsbau unbegrenzt weiter wie bisher zu fördern und dabei die Frage nach dem Bedarf auszuklammern.
Natürlich übersehen wir nicht, daß es trotz der bundesweiten Beseitigung des Wohnungsmangels erhebliche regionale Unterschiede gibt. Auch in Zukunft wird es in bestimmten Gebieten nötig sein, Mietwohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus zu fördern. Aber der Ausgleich dieser regionalen Unterschiede, Herr Kollege Waltemathe, kann nur regional erfolgen. Das ist Sache der Länder, die dafür nach dem Grundgesetz auch zuständig sind, und muß dort erfolgen, was auch sachgerecht ist, weil die Länder den regionalen Bedarf viel eher beurteilen und auch ortsnäher entscheiden können. Die Länder können dies auch finanziell um so leichter tun — im Blick auf die Bedenken des Kollegen Purps muß ich das feststellen —, weil der Bund sie durch die verstärkte Eigentumsförderung im sozialen Wohnungsbau insoweit auch entlastet.
Wenn Herr Purps dennoch meint, die Länder brauchten dafür weiterhin die Unterstützung des Bundes, so muß ich darauf verweisen, daß die Länder selbst die Mittel für den sozialen Mietwohnungsbau kräftig gedrosselt haben, daß die Länder selbst im letzten Monat einstimmig beschlossen haben, den gesamten sozialen Wohnungsbau in Zukunft in eigener Regie zu übernehmen, weil sie offenbar überhaupt keine Hilfe des Bundes mehr dafür nötig zu haben glauben; so der Beschluß der Ministerpräsidenten vom letzten Monat.
Wenn auch das erste Ziel des Wohnungsbaugesetzes, nämlich die Beseitigung des Wohnungsmangels, erreicht ist, so bleibt die zweite Aufgabe doch unverändert aktuell, nämlich die Schaffung weitgestreuten Wohneigentums für breite Kreise der Bevölkerung. Sie wird zur zentralen Aufgabe der Wohnungsbauförderung der Zukunft. Über 70% der Bevölkerung möchten in eigenen vier Wänden wohnen. Weniger als 40% haben dieses Ziel bisher erreicht. Das ist auch im internationalen Vergleich eine viel zu niedrige Zahl. Dieses Auseinanderklaffen von Wohnwünschen auf der einen Seite und der Realität auf der anderen Seite ist noch auf lange Zeit die wichtigste Stütze für den Wohnungsbau. Es ist unser erklärtes Ziel, mindestens 50% unserer Mitbürger zu Wohneigentum zu verhelfen.
Mit der verbesserten steuerlichen Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums werden wir dafür eine wichtige Voraussetzung schaffen: Die abzugsfähigen Höchstbeträge werden erhöht. Familien mit Kindern werden besser als bisher gestellt. Die Besteuerung des selbstgenutzten Wohneigentums wird abgeschafft.
Die steuerlichen Verbesserungen wirken sich aber, wie Sie wissen, nicht für alle gleich aus. Daher müssen sie durch direkte Förderungsmaßnahmen zugunsten der Bezieher von kleinen Einkommen ergänzt werden. Mit diesem Haushaltsplan stocken wir deshalb die Mittel für die Eigentumsförderung gerade von Beziehern kleiner Einkommen durch unsere Umschichtungsmaßnahme kräftig auf. Es gehört zu den Ungereimtheiten sozialdemokratischer Politik, daß Sie diese verstärkte Einkommensförderung zugunsten Einkommensschwacher ablehnen und draußen in den Reden den gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchen.
Meine Damen und Herren, dabei kommt die verstärkte Förderung des Wohneigentums auch und gerade jenen zugute, die eine Mietwohnung suchen, denn regelmäßig macht der Bezieher eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung gleichzeitig eine preiswerte Mietwohnung frei.
Die erhöhten Mittel für die Eigentumsförderung, Herr Bundesbauminister, sollten für die Bundesregierung aber Anlaß sein, über die Ausgestaltung der Eigentumsförderung im sozialen Wohnungsbau neu nachzudenken. Schon bisher klafft ein großer Widerspruch zwischen dem gesetzlichen Auftrag an die Wohnungspolitik, wonach die Wohnungsbauförderung überwiegend der Bildung von Einzeleigentum dienen soll, und der Tatsache, daß Bund und Länder dem Bauherrn einer Mietwohnung eine wesentlich höhere Unterstützung geben als dem Erwerber von Wohneigentum. Der Bauherr einer Mietwohnung erhält im Schnitt eine Unterstützung von 150 000 bis 200 000 DM, der Erwerber von Wohneigentum nur 35 000 bis 40 000 DM.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7759
Echternach
Wir wissen zwar, daß Erwerber von Wohneigentum regelmäßig bereit sind, eine wesentlich größere finanzielle Belastung auf sich zu nehmen; aber diese Bereitschaft stößt seit geraumer Zeit, wie die steigende Zahl von Zwangsversteigerungen zeigt, auf immer größere Schwierigkeiten und auf objektive Grenzen. Dazu haben hohe Baukosten, hohe Zinsen und in den letzten Jahren gleichzeitig zurückgehende Realeinkommen beigetragen.
— In Ihrer Regierungszeit! Seit 1982 ist es besser geworden. Seit 1983 haben wir wieder steigende Realeinkommen. 1980, 1981 und 1982 hatten wir, wie Sie wissen, bei den Arbeitnehmern aber zurückgehende Realeinkommen. All das und vor allem die von Ihnen verschlechterte Bausparförderung wirkt sich in diesem Bereich natürlich aus. Deswegen sollten Bund und Länder gemeinsam die Förderungsbedingungen für den Eigentumserwerb im sozialen Wohnungsbau so verbessern, daß der weit verbreitete Wunsch nach eigenen vier Wänden in Zukunft auch wieder stärker in die Tat umgesetzt werden kann. Mit der Konzentration der Wohnungsbauförderung auf dieses Ziel schaffen wir — offenbar gegen Ihren Widerstand — dafür heute auch die notwendige finanzielle Voraussetzung.
Einen weiteren Beitrag werden wir dadurch leisten, daß wir die zehnjährige Bindungsfrist in der Bausparförderung wieder auf sieben Jahre zurückführen und damit den Fehler der alten Bundesregierung korrigieren und Bausparen wieder attraktiver machen
und so dafür sorgen, daß in Zukunft Bausparer wieder früher ein Bauspardarlehen erhalten können.
Der zweite wichtige Beschluß des Haushaltsausschusses zum Einzelplan ist die kräftige Erhöhung der Städtebauförderungsmittel. Dabei geht es uns auch um die schwierige Lage der Bauwirtschaft, die nicht nur dem Kollegen Purps, sondern auch uns Sorgen macht. Die Beseitigung des allgemeinen Wohnungsmangels schlägt sich natürlich auf die Nachfrage nach Wohnungen ebenso nieder, wie wir das in den letzten Jahren beim Wirtschaftsbau und bei den öffentlichen Investitionen der Gemeinden wegen der hohen Verschuldung erlebt haben. In diesen Bereichen sehen wir aber Besserungssignale. Die Sachverständigen sagen uns ein steigendes Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr voraus, was sich auch in den Auftragsbüchern der Bauwirtschaft niederschlagen wird. Wir erleben gleichzeitig bei den Gemeinden eine rapide zurückgehende Neuverschuldung, die auch den Gemeinden neuen Spielraum für Investitionen gibt.
Im Wohnungsbau ist die Lage sicher schwieriger, weil wir hier vor einer Phase der Normalisierung stehen. Aber kurzfristige Sonderprogramme würden der Bauwirtschaft nicht helfen, sondern nur wie Strohfeuer wirken und anschließend zu neuen Einbrüchen führen. Der Bauwirtschaft ist nur durch eine Verstetigung der Baunachfrage geholfen, also mit Programmen, die sich an der langfristigen Nachfrage orientieren. Dazu gehört an erster
Stelle die Städtebauförderung. Hier setzen wir an. Es gibt keinen anderen öffentlichen Investitionsbereich, der eine so hohe wirtschafts- und beschäftigungspolitische Bedeutung hat und in so starkem Maße direkte und indirekte Investitionen fördert.
Die Stadterneuerung und die Verbesserung des Wohnumfeldes sind die wichtigsten Zukunftsaufgaben unserer Städte. Es geht bei der Städtebauförderung ja nicht nur um die Erhaltung historischer Stadtkerne, es geht nicht nur um die Innenstädte, es geht darum, daß die ganze Infrastruktur der Städte verbessert wird, es geht um bessere Umweltbedingungen, es geht um die Senkung des Lärmpegels, es geht um bessere Bodennutzung, es geht gleichzeitig um Stadtökologie im engeren Sinne.
Es gilt vor allem, die Mammutsiedlungen der Nachkriegszeit nachzubessern, in denen ja nicht von ungefähr so viele Wohnungen leerstehen, sei es nun in Hamburg oder Berlin oder München. Sie gleichen sich alle, sei es Steilshoop in Hamburg oder sei es die Gropiusstadt in Berlin oder Neu-Perlach in München, überall grauer Beton, wo sich die Bewohner nicht mehr mit einem Stadtteil identifizieren können, wo ein Gefühl wie „Heimat" nicht hochkommen kann, wo Jugendkriminalität und Zerstörungswut um sich greifen und die Bewohner vielfach bindungslos nebeneinander leben. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden, diese Mammutsiedlungen der Nachkriegszeit wieder in Ordnung zu bringen, um wieder mehr Menschlichkeit in unsere Städte zu tragen.
Ich komme zum Schluß. Dieser Haushaltsplan schafft den finanziellen Rahmen für die beiden wichtigsten Ziele der Wohnungs- und Städtebaupolitik: mehr Wohneigentum gerade für die Einkommensschwächeren und gesündere Wohnverhältnisse in den Städten. Die Koalition hat diesen Rahmen mit ihren Beschlüssen kräftig verstärkt. Wir werden deshalb dem Einzelplan des Bauministers gerne zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheyen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß hier leider kurzfristig einspringen und kann nicht die gesamte Alternative der GRÜNEN darstellen. Ich möchte aber zu einigen sehr wichtigen Punkten Stellung nehmen.
Das erste Problem ist, daß Sie im sozialen Wohnungsbau die Mittel, die bisher für das Mietwohnungsprogramm ausgegeben worden sind, vollständig in das Eigentumsprogramm hineingeben wollen. Wir stellen hier den Antrag, diese Mittel für7760 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984Verheyen
einen kommunalen Interventionsfonds auszugeben,
um über diesen kommunalen Interventionsfonds gezielt von der kommunalen Ebene her in sozialen Brennpunkten Wohnraum — wichtigen und kostengünstigen Wohnraum — zu erhalten. Es soll aber auch neuer kostengünstiger Wohnraum hergestellt werden, und zwar unter Einbeziehung von Selbsthilfe, liebe Kollegen von der CDU, wovon Sie sehr gerne reden, aber vielleicht in etwas anderer Art und Weise.
Wir meinen mit Ihnen, daß der soziale Wohnungsbau an eine Grenze gestoßen ist und daß es keine längerfristige sinnvolle Perspektive in diesem Rahmen gibt. Wir meinen aber auch, daß die bisherige Eigentumsförderung erst recht keine Perspektive bietet.
— Wir sind gegen ein Eigentum, das von der Regierung um so mehr gefördert wird, je mehr man schon davon hat. Da haben Sie recht. Es ist ja hierbei so, daß die etwa 30 Milliarden DM, die für den Wohnungsbau insgesamt eingesetzt werden — Sie dürfen ja die Steuerersparnis dort nicht vergessen —, daß diese Massen an Geld bevorzugt an solche Leute gegeben werden, die besonders viel verdienen.
Sie müssen sehen, daß die heutigen Eigentumswohnungen und die heutigen Eigenheime im wesentlichen von denen gebaut werden, die eigentlich zu den Bessergestellten gehören, und daß sich bei dieser Eigentumsförderung niemand, der zu den normal oder unterdurchschnittlich Verdienenden gehört, überhaupt Eigentum leisten kann.
Das ist in höchstem Maße sozial ungerecht.Darin liegt unserer Ansicht nach auch ein wesentlicher Grund dafür, daß preisgünstiger Wohnraum auf diesem Wege überhaupt nicht mehr geschaffen werden kann. Sie wissen, daß eine Menge von Luxuswohnungen bei uns Leerstehen.
Das liegt nicht daran, daß irgendwelche Wohnungsbaugesellschaften einfach nur falsch kalkuliert haben, sondern es liegt daran, daß diese wahnsinnige gesellschaftliche Verschwendung von Ihren Förderungssystemen auch noch unterstützt wird. Das ist das Problem.
Hier findet eine ungeheure gesellschaftliche Verschwendung statt. Und Ihre Vorschläge führen auch nicht zu einer neuen Perspektive.
Ich möchte zu einem zweiten, sehr wichtigen Punkt Stellung nehmen. Über diesen Einzelplan wird derzeit auch ein weiteres, sehr wichtiges Verschwendungsprojekt gefördert. Die Bundesregierung will nämlich ein neues Gästehaus bauen. Dazu will sie das Hotel auf dem Petersberg ausbauen. Die Voranschläge ergeben, daß dafür mindestens 126 Millionen DM notwendig sind.
Wenn Sie wissen, wie solche Voranschläge nachher in der Realität aussehen, dann können Sie damit rechnen, daß wahrscheinlich 150 Millionen DM oder 200 Millionen DM dabei herauskommen. Dac ist ein Verschwendungsprojekt im klassischen Sinne. Hier wird das Imponiergehabe eines Staates symbolisiert, das eigentlich in die Königszeit gehört und nicht in die Zeit einer Republik.
Das ist Protzerei, und das ist wirklich Steuerverschwendung, wie sie einer modernen Republik nicht angemessen ist.
— Ja, Sie haben sehr viele Entschuldigungen dafür. Für die „Bürger im Lande" springt nämlich überhaupt nichts dabei heraus. Sie wissen so gut wie ich, daß dort ein Naturschutzgebiet ist. Wenn Sie diesen riesigen Baukomplex in der Weise umbauen, wie Sie das geplant haben, dann werden Sie dieses Naturschutzgebiet zumindest während der ganzen Bauzeit sehr stark belasten. Nachher, wenn der Bau fertig ist, werden Sie das Gebiet weitgehend gegenüber der Öffentlichkeit absperren.
Heute kann man sich noch vor stellen, daß der Petersberg, der ja ein sehr schönes Naherholungsgebiet für die Bonner und Königswinterer ist, von der Bevölkerung genutzt werden kann, daß man in diesem relativ großen Naturschutzgebiet auch sehr viel zur Erhaltung der Natur tun kann.
Wenn Sie durchführen, was Sie vorhaben, dann werden alle diese Möglichkeiten zerstört werden.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7761Verheyen
Wir schlagen vor, daß statt Ihres protzigen Projektes, das für ein paar Staatsdelegationen zur Verfügung stehen soll
und dann irgendwelchen Potentaten aus der Dritten Welt oder sonst jemandem in falscher Weise imponieren soll, ein vernünftiges Projekt geplant wird. Wir schlagen vor, daß ein bundesweiter Ideenwettbewerb ausgeschrieben wird,
damit dieses Projekt für gemeinnützige Zwecke und für Zwecke des Naturschutzes in alternativer Weise genutzt werden kann. Wenn Sie sagen, dieses Projekt würde die Natur genauso zerstören, dann antworte ich Ihnen: Das, was wir vorhaben, ist viel kleiner geplant. Es ist so geplant, daß dort z. B. Jugenderholung, Ferienerholung stattfinden kann. Es ist vorgesehen, daß Naturschutz dort einen Platz bekommt.
Gleichzeitig können Sie in einem kleineren Maßstab dort auch noch Möglichkeiten schaffen, damit in dieser Gegend etwas für die Naherholung getan werden kann.
Ich komme noch zu einem dritten Projekt, das uns ebenfalls sehr wichtig ist. In der Vorplanung befindet sich eine nationale Gedenkstätte für alle Toten des Zweiten Weltkrieges.
Dieses nationale Ehrenmal — man merke sich den Namen — wird hier — —
— Herr Friedmann, ich halte auch etwas von Ehre.
Aber es ist nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem wir wissen, was dort alles geschehen ist, wirklich nicht angemessen, diejenigen, die dazu beigetragen haben, daß diese furchtbaren Kriege nicht nur ausgebrochen sind, sondern auch durchgeführt werden konnten, in einer großen nationalen Gedenkstätte zu „ehren". Das ist einfach nicht zu vertreten.
Ich sage Ihnen das, obwohl mein eigener Vater zu denen gehört, die im Zweiten Weltkrieg gestorben sind.
Ich sage Ihnen das nicht, weil ich etwa meine, daß diese Menschen keine persönliche Ehre haben und daß man ihrer nicht auch in einer würdigen, persönlichen Weise gedenken kann. Es ist nur die Frage, ob hierzu ein nationales Ehrenmal erforderlich ist. Herr Kohl hat es ja sehr deutlich gesagt. Er will so etwas wie einen Friedhof Arlington, er will so etwas wie ein Grabmal des Unbekannten Soldaten, um dort bei Staatsbesuchen entsprechende Zeremonien abzuhalten. Ein solches Ehrenmal ist angesichts unserer Geschichte wirklich nicht zu verantworten.Aber es ist noch auf etwas Schlimmeres aufmerksam zu machen: Dieses nationale Ehrenmal soll auch die Opfer des Naziregimes, d. h. die verfolgten und ermordeten Juden, die verfolgten und ermordeten politischen Gegner des Naziregimes, einschließen. Wenn man diese Opfer des Naziregimes gleichzeitig, zusammen mit allen, die gestorben sind, ehrt und die Nazis, die aktiven Nazis und die Beförderer dieses Krieges von dieser Ehrung nicht ausgeschlossen sind,
dann ist das, so meine ich, angesichts unserer Geschichte eine Schande und eine Verhöhnung undBeleidigung der wirklichen Opfer des Naziregimes.
Es ist so, daß in Bonn eine Initiative besteht
— das wird alles über den Wohnungsbauminister gefördert —, die den ehemaligen Synagogenplatz hier in Bonn zu einer nationalen Gedenkstätte für die Ermordeten und Verfolgten des Naziregimes umgestalten will. Diese Initiative geht von örtlichen Gruppen aus, sie geht auch von jüdischen Gemeindemitgliedern aus. Diese Initiative will gezielt an die Geschichte, die vielhundertjährige Geschichte der Bonner Juden sowie an die kulturellen Leistungen der jüdischen Bevölkerung erinnern, die von ihr in Bonn erbracht worden sind. Auch will sie an die neuere Geschichte, an die furchtbare Geschichte während der Nazizeit erinnern.Wir meinen, daß dieses nationale Ehrenmal — hier in unmittelbarer Nähe des Bundestages — gestoppt werden soll, und wir meinen, daß die Bundesregierung — über die Bonn-Förderung — der Stadt Bonn Geld geben soll, damit diese Gedenkstätte für die Verfolgten und Ermordeten des Naziregimes in Bonn entstehen kann. Derzeit plant die Stadt Bonn, aus Finanzgründen, aber auch aus anderen Gründen, auf diesem Gelände ein Luxushotel, eine Garage usw. anzusiedeln. Es ist sehr wichtig,
Metadaten/Kopzeile:
7762 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Verheyen
daß der Bundeshaushalt Mittel gibt, damit die Stadt Bonn in der Lage ist, dieses Gelände in anderer Weise zu nutzen.Die Nazis haben erklärtermaßen die Synagogen verbrannt, auch hier in Bonn, und haben damals erklärt, sie wollten auf den ehemaligen Synagogenplätzen Parkplätze anlegen. Diese Absicht ist ihnen in Bonn bis heute — auch durch die Untätigkeit der Bundesregierungen — gelungen. Bis heute ist dort ein Parkplatz. Ich finde, das ist eine schreckliche Realität.
Es ist auch eine schreckliche Realität, daß die Bonner CDU jetzt nicht einmal bereit ist, dem nachzugeben, was hier auch aus jüdischen Kreisen und aus Kreisen von Bürgerinitiativen kommt, nämlich, eine würdige Gestaltung dieses geschichtsträchtigen Platzes zur Gedenkstätte, sondern daß sie dort irgendwelche Luxushotels bauen will.
— Das ist keine Demagogie. Sondern hier sind in Ihren Kreisen
schon seit längerer Zeit Diskussionen. Und Sie hätten mal lieber mit Ihren eigenen Kollegen reden sollen, damit solche schrecklichen Entwicklungen nicht stattfinden.
Wir meinen, daß das, was dort derzeit als kleine Lösung angestrebt wird, nämlich daß nur innerhalb des Brückenkopfes eine kleine Gedenkstätte entsteht, nicht ausreicht, sondern daß das gesamte Gebiet des jetzigen Parkplatzes und ehemaligen Synagogenplatzes, das Gebiet, in dem die Juden jahrhundertelang gesiedelt haben und das das ehemalige jüdische Viertel hier in Bonn ist, umgestaltet werden sollte.Und wenn Sie von der Bundesregierung schon Bedarf haben, Staatsgäste hier in Bonn zu einem Denkmal zu führen, dann sollten Sie diese Staatsgäste in Würde an die furchtbare Geschichte unserer Republik erinnern, aus der wir hoffentlich gelernt haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Haushalt des Wohnungsbauministers zustimmen mit der ausdrücklichen Bestätigung, daß dieser Haushalt die Strukturveränderungen, die sich in der Wohnungswirtschaft ankündigen, berücksichtigt und die Weichen so stellt, daß man eine zukunftsorientierte Wohnungspolitik betreiben kann.
Wir sind uns alle darüber im klaren, daß die Wohnungswirtschaft der Nachkriegszeit zu Ende ist und daß ein großer Teil unserer Bevölkerung — bis auf wenige Ausnahmen in den Ballungsräumen — versorgt ist. Es wäre eine falsche staatliche Wohnungsbaupolitik, würde die Förderung nicht Rücksicht auf die Marktentwicklungen nehmen. Die Marktentwicklungen haben gezeigt, daß es Schwerpunkte zu setzen gibt, die berücksichtigt werden müssen, um eine Neuorientierung in der Wohnungspolitik zu erreichen.
Ich glaube, es ist richtig, Herr Minister, die Abstimmung mit den Ländern und den Kommunen zu erzielen. Darum sind Sie bemüht, und da begleiten wir Sie aktiv. Dieser Haushalt zeigt dem, der ihn sorgfältig liest, in welche Richtungen die neuen Weichenstellungen gehen müssen.
Ohne Zweifel müssen wir der Eigentumsförderung schon deshalb einen höheren Stellenwert einräumen, weil dafür ein Markt vorhanden ist.
Ich muß Ihnen ehrlich gestehen: Was der Vertreter der GRÜNEN zum Eigenheim in der Bundesrepublik Deutschland hier von sich gegeben hat,
war eine Diskriminierung all derer, die unter Opfern ein Eigenheim gebaut haben, um Nestwärme für ihre Familie zu schaffen.
Und Sie sagen: Das ist etwas Schlimmes. Sie haben Gott sei Dank auch mal gesagt, daß Sie gegen Eigentum sind. Damit werden Sie endlich einmal ehrlich. Ich weiß, daß Sie nichts vom Eigentum halten und daß Sie diejenigen diskriminieren, die auf eigene Kosten leben, und immer die fördern, die auf anderer Leute Kosten leben.
Wir wollen eine andere Politik.
Wir glauben, daß es richtig ist, die Eigenheime und die Eigentumswohnungen zu fördern.
— Was haben Sie von mir gesagt?
— Nein, ich hätte das gerne wiederholt, was Sie zu
mir gesagt haben. Habe ich Sie richtig verstanden,
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7763
Grünbeck
daß Sie mich einen „Schwachkopf" genannt haben? Sie müssen erst einmal lernen, wie man mit Schwachköpfen umgeht.
Sie können mich gar nicht diskriminieren und auch nicht beleidigen, nicht einmal mit solchen Zwischenrufen.
Wir sind für das Wohneigentum. Wir begrüßen Instrumente zur Umwandlung von Mietwohnungen in Wohneigentum. Wir sagen ja zu den verkürzten Bindungsfristen beim Bausparen, Herr Minister. Das ist eine echte Hilfe für den Bau von Wohneigentum. Wir begrüßen die beabsichtigten Erleichterungen beim selbstgenutzten Wohneigentum. Ich freue mich sehr darüber, daß Sie mit meinem Freund Gattermann und mir diese Einigung erzielt haben. Sie hat drei Vorteile für den Bau von Wohneigentum:
Erstens. Das selbstgenutzte Wohneigentum geht den Staat in Sachen Ertragsteuer nichts an.
Zweitens. Es gibt gewaltige Steuervereinfachungen. Allein eine Million Akten können zu den Akten gelegt werden.
Drittens. In unserer Bundesrepublik darf nicht zweierlei Recht gelten. Daß die Privatgutlösung für alle Formen des selbstgenutzten Wohneigentums gilt, ist für uns begrüßenswert.
Wir begrüßen ferner ausdrücklich, daß sich die Bundesregierung aus dem sozialen Mietwohnungsbau zurückzieht. Ich sage das mit aller Deutlichkeit. Nur müssen wir uns dann mit den Ländern darauf verständigen, daß ihnen diese Aufgabe zugewiesen wird und sie einen entsprechenden Finanzausgleich erhalten. Die Grobabstimmung in der regionalen Wirtschaftsförderung und in der regionalen Wohnungsbaupolitik ist erforderlich, um eine ausgewogene Regionalstruktur sowohl beim Angebot von Arbeitsplätzen als auch von Wohnplätzen zu erreichen.
Meine Damen und Herren, ich darf an den Verfassungsauftrag erinnern, den wir alle miteinander tragen, nämlich, daß die Wohn- und Lebensbedingungen in allen Landesteilen der Bundesrepublik gleichrangig sein sollen. Eine solche Zielsetzung entspricht dem Verfassungsauftrag.
Wir sagen auch ja zum Vorziehen des Wohngeldes vom 1. Juli 1986 auf den 1. Januar 1986.
Wir bitten darum, daß die Vereinfachung stattfindet und daß eine strukturelle Verbesserung so gemacht wird, daß sie zielorientiert ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?
Ich bitte um Nachsicht, Herr Kollege. Sie wissen, daß wir alle nur beschränkte Redezeiten haben.
Keine Zwischenfragen, gut.
Ich lade Sie nachher zum Bier ein. Dann können wir die Fragen klären, die Sie noch haben.
Wir teilen mit Ihnen die Sorge um die Bauwirtschaft. Herr Kollege Purps, ich gebe Ihnen gerne recht, daß wir uns um deren Nöte streiten sollten. Aber eines, meine Damen und Herren, kann natürlich nicht sein: Daß Sie in einer Haushaltsdebatte einen — jetzt hätte ich beinahe gesagt: Quelle- — Katalog mit neuen Forderungen in einer Größenordnung von Hunderten von Millionen D-Mark vorlegen. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, das aufzulisten, ich auch nicht, denn ich habe gemeint, das ist sowieso überflüssig, weil wir diesen Anträgen nicht zustimmen werden.
Eines muß ich Ihnen sagen: Wenn wir allen Ihren Anträgen zustimmen würden, die ohne jeden sorgfältigen Deckungsvorschlag eingebracht werden,
dann würden wir gegen jede Grundregel der Stabilität verfahren.
Wir sind stolz darauf, daß diese Bundesregierung — nicht immer zu unserer Freude, aber aus der Verpflichtung heraus —
diese Stabilitätspolitik, die Konsolidierung des Haushalts, durchgeführt hat. Denn wir müssen damit rechnen, daß jede Steigerung des Zinssatzes einen Investor, insbesondere in der Bauwirtschaft, zur Zurückhaltung auffordert und daß damit der Wohnungsbauwirtschaft und der Bauwirtschaft überhaupt nicht gedient wäre.
— Das hat doch nichts mit Stabilität zu tun. Sie verwechseln immer Äpfel mit Birnen, Herr Waltemathe. Aber das stört mich gar nicht. — Ich will Ihnen etwas Ernstes sagen.Meine Damen und Herren, im Vergleich zum Vorjahr haben wir im Baugewerbe einen Auftragsrückgang von 12,6 %. Wir haben gleichzeitig einen Auftragszuwachs im Baustoffhandel von 20 %. Wer diese zwei Zahlen nicht versteht, dem kann ich nicht mehr helfen. Denn das ist der Weg nicht nur ins Do-it-yourself-Programm, sondern das ist der Weg in die Schattenwirtschaft. Meine lieben Kollegen von der SPD — wir sind ja mit der IG Bau, Steine, Erden auf diesem Gebiet beinahe einig —, machen wir doch eine konzertierte Aktion zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft. Sonst werden wir auf die Dauer gesehen dieses Problem — das
Metadaten/Kopzeile:
7764 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Grünbeckmüssen wir miteinander lösen — nicht über die Rampe bringen. Ich fordere Sie auf, diese konzertierte Aktion einmal zu überlegen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Schlußwort zu den Ausführungen der GRÜNEN zu dem Ehrenmal sagen. Ich muß Ihnen eines sagen. Schade, daß der Herr Kollege jetzt gegangen ist.
— Der von den GRÜNEN. Herr Kollege Conradi und ich waren ja bei dem Hearing dabei, das der BDA hier zu diesem Thema durchgeführt hat. Und ich muß Ihnen eines sagen: Dieses Thema Ehrenmal oder Mahnmal, das j a nicht ein Antrag des Bundeskanzlers oder des Parlaments ist, sondern das ein Projekt der Deutschen Kriegsgräberfürsorge und des Heimstättenwerks ist — —
— Das ist ja nicht wahr. Meine Damen und Herren, ich würde ein solches Projekt des Ehrenmals oder des Mahnmals, so wie wir es beim BDA diskutiert haben, mit einer anderen Sensibilität diskutieren, als es hier geschehen ist.
Ich bin Heimatvertriebener und habe meine Angehörigen bei der Flucht verloren. Ich war Soldat, der selbst mehrere Male verwundet war. Ich würde es als eine Diskriminierung empfinden, wenn Leute sich an dieses Rednerpult stellen und die Soldaten als solche diskriminieren, die etwa diesen Krieg mit begünstigt haben. Das waren jene, die in einer treuen Pflichterfüllung zu ihrer Heimat standen. Die sollten nicht diskriminiert werden, sondern es sollte eine Chance gegeben werden, daß ihre Angehörigen ihres Todes gedenken und daß das als ein Mahnmal für den Frieden und als nichts anderes betrachtet wird.
Wir haben überhaupt nichts dagegen, daß dieses Mahnmal auch für die ermordeten jüdischen Bevölkerungsteile mit errichtet wird. Auch das kann eine Mahnung zum Frieden und zur Versöhnung sein. Wir haben gar nichts dagegen.
Es wäre eine bösartige Unterstellung, daß damit nicht der Zivilgeschädigten oder der Soldaten anderer Länder gedacht wird. Ich bin der Auffassung, es würde dieser Bundesregierung gut anstehen, wenn dieses Projekt unterstützt würde. Man sollte es wirklich über alle Parteigrenzen hinweg unterstützen, weil das unserem internationalen Ansehen als friedenssehnsüchtiges Volk eher entspricht als jede Diskriminierung.
Meine Damen und Herren, ich sage das mit allem Ernst und mit aller gebotenen Sensibilität gegen-über solchen empfindlichen Dingen, die im Inland und im Ausland Beachtung finden werden. Hier sollten wir nicht einen falschen Zungenschlag verwenden. Ich jedenfalls bin dafür, Herr Bundesbauminister, daß wir dieses Projekt sorgfältig begleiten, daß wir nicht einen Protz errichten, sondern in aller Bescheidenheit eine Gedenkstätte errichten, die uns Deutschen zur Ehre gereicht.Ich danke Ihnen herzlich.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst bei den Herren Berichterstattern des Haushaltsausschusses für den Einzelplan 25, bei den Herren Kollegen Echternach und Purps, für die sachverständige und konstruktive Beratung des Haushalts 1985 für meinen Ressortbereich bedanken.In gleicher Weise danke ich den Kollegen des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau für die Unterstützung meiner Arbeit durch ihr mitberatendes Votum. In den Dank schließe ich selbstverständlich auch die Mitarbeiter beider Ausschüsse und die meines eigenen Hauses ein.In den wenigen Minuten, die ich zur Verfügung habe, um zum Einzelplan 25 Stellung zu nehmen, möchte ich möglichst aktuell sein. Ich kann nicht auf alles eingehen, was vorgetragen wurde. Ich werde aber am Ende meiner Ausführungen das Thema Mahnmal aufgreifen
und zum zweitenmal von dieser Stelle aus klarstellen, was beabsichtigt ist und was nicht beabsichtigt ist. Ich werde ein zweites Mal den Versuch unternehmen, bei allen Parteien um Verständnis für das zu werben, was angestrebt ist. Ich bin ganz sicher, insbesondere unter dem Eindruck meines Gesprächs, das ich gestern nachmittag mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Herrn Nachmann hatte, daß es möglich sein muß und möglich sein wird, bei allen Fraktionen, bei allen Parteien für ein solches Vorhaben Verständnis zu finden.Ganz aktuell, heute um 14.02 Uhr, verbreitete die Deutsche Presseagentur eine Meldung:
Hypothekenbanken verzeichnen Bewegung am Baumarkt. Die bisher den Baumarkt kennzeichnende Zurückhaltung der Bauherren scheint jetzt aufgegeben zu werden. Diesen Schluß zog am Mittwoch der Verband Deutscher Hypothekenbanken. Allein die Hypothekenzusagen für den Wohnungsneubau fielen im Oktober mit 600 Millionen DM deutlich höher aus als im Vergleichsmonat des Vorjahres.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7765
Bundesminister Dr. SchneiderDa waren es 450 Millionen DM.Wir hatten 1982 — der Parameter, von dem ich ausgehe, ist der 1. Oktober 1982 — 335 000 Baugenehmigungen im Wohnungsbau.
Wir werden im Jahre 1984 — voriges Jahr hatten wir 420 000 Genehmigungen — um 360 000 Baugenehmigungen erreichen.
— Es wird leider in der Öffentlichkeit, Herr Kollege Conradi, nicht davon gesprochen, was tatsächlich fertiggestellt wird, sondern es wird nur davon gesprochen, daß wir im Verhältnis zu 1983 einen beachtlichen Rückgang an Baugenehmigungen haben, was niemanden verwundern kann, der in zutreffender Weise berücksichtigt, daß wir wegen des Sofortprogramms 1983 eine außergewöhnliche Zunahme an Baugenehmigungen hatten.Dies zeigt sich auch_ an den Fertigstellungen. Wir hatten im Jahre 1982 347 000 Fertigstellungen im Wohnungsbau. Wir werden in diesem Jahr eine Fertigstellungszahl von über 400 000 Wohneinheiten erreichen.Was die Wohnungsbaupolitik angeht, kann niemand bezweifeln, daß sie eine neue Richtung und eine neue Qualität erfahren hat. Es ist gelegentlich von einigen Kollegen der Opposition behauptet worden, da sei ja nichts geschehen; der Bauminister könne sich gegenüber dem Finanzminister nicht durchsetzen.
— Herr Kollege Waltemathe, ich kenne Ihre Ausführungen genau. Sie sind alle falsch.
Teilweise sind sie nicht nur falsch, sie sind sogar gefälscht, was schlimmer ist.
Ich werde Ihnen sagen, was geschehen ist.
In den Jahren bis 1982 hat der Bauminister gegenüber dem Finanzminister Strich um Strich
Abstriche machen müssen. Er mußte immer weiter zurückstecken. Die Bauproduktion ging zurück, die Förderung auch.Die neue Wohnungsbaupolitik ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet.Erstens. Sie orientiert sich an dem Bedarf. Wir nehmen zur Kenntnis, daß wir nach dem Zweiten Weltkrieg über 18 Millionen Wohnungen neu gebaut haben. Dies ist eine gewaltige Bauleistung der privaten Haus- und Grundeigentümer, der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und der unternehmerischen Wohnungswirtschaft. Dies ist eine gewaltigeLeistung, an der der Bund, die Länder und die Gemeinden partizipieren. Wir haben mit diesen Neubauleistungen und mit den Modernisierungsleistungen, mit den Leistungen auf dem Gebiet der Stadtsanierung und Dorferneuerung am Baumarkt einen hohen Sättigungsgrad erreicht, der in einigen Verdichtungsräumen, wie meinetwegen München und Hamburg, noch nicht erreicht ist. Dort besteht nach wie vor ein Neubaubedarf, auch ein Neubaubedarf an sozialen Mietwohnungen.
— Das schließt der Kollege Echternach überhaupt nicht aus. Ich werde den Beschluß des Haushaltsausschusses in der zutreffenden Weise interpretieren. Das ist das eine: Wir orientieren uns am Bedarf.Die andere kennzeichnende Qualität der neuen Wohnungspolitik: Wir wollen Eigentum fördern, Eigentum für breite Bevölkerungskreise und wir wollen eine familienorientierte Wohnungsbaupolitik. Wir wollen jedes Kind in der Familie bei unserer Wohnungsbauförderung gezielt einbeziehen und fördern.
Lassen Sie mich bitte einmal vergleichen. Am 1. Oktober 1982 wurde der Häuslebauer nach § 7 b Einkommensteuergesetz gefördert auf die Dauer von acht Jahren mit je 10 000 DM jährlich. Er wird nach unseren Beschlüssen, die wir in aller Kürze verabschieden werden und die zum 1. Januar 1987 als Gesetz in Kraft treten sollen, nicht mehr mit achtmal 10 000 DM, sondern mit achtmal 15 000 DM gefördert.Zweitens. Wir werden im Gegensatz zur derzeit geltenden Rechtslage auch das erste Kind beim Baukindergeld berücksichtigen. Wir werden die Kinder steuerlich gleichbehandeln, denn für jedes Kind sollen im Jahr 600 DM von der Steuerschuld abgezogen werden können.
Dies bedeutet: Ein Ehepaar mit einem Kind wird im Vergleich zum 1. Oktober 1982 ab 1. Januar 1987 nicht mehr 80 000 DM von dem zu versteuernden Einkommen in acht Jahren abziehen können, sondern 140 000 DM. Das ist eine Steigerung um 80 %. Ist das kein Fortschritt?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte, Herr Kollege.
Herr Bundesminister, nachdem Sie eben gesagt haben, welche herrlichen Pläne Sie haben, die ab 1. Januar 1987 in Kraft treten sollen: Können Sie mir sagen, welchen Rat Sie
Metadaten/Kopzeile:
7766 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Waltematheeinem potentiellen Häuslebauer oder -erwerber geben würden, der 1985 oder 1986 vielleicht schon Eigentum erwerben will?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herzlichen Dank für die Frage. Ich empfehle jedem, der heute bauen will: Bauen Sie sofort!
Warum? Weil die Bundesregierung von der ersten Stunde an für diesen Häuslebauer gesorgt hat. Wir haben nämlich im Gegensatz zu Ihnen nicht nur den § 7 b belassen, sondern wir haben im Sofortprogramm den Schuldzinsenabzug eingeführt.
— Er gilt 1983, 84, 85 und 86. Nach dieser Regelung kann der Häuslebauer die ersten drei Jahre nicht wie bei Ihnen dreimal 10 000 DM abziehen, sondern dreimal 20 000 DM, d. h. in drei Jahren 60 000 DM.
Des weiteren hat unsere Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik dazu geführt, daß wir derzeit sehr günstige Hypothekenzinsen haben, daß wir einen Rückgang der Grundstückspreise haben, daß die Immobilienpreise fallen; sogar in der Stadt München fallen sie. Schon seit langem hat man in Deutschland nicht so billig bauen können wie heute.
— Herr Kollege Conradi, das sind doch Tatsachen.
Herr Kollege Conradi, wir wollen die Eigentumsquote, die Sie nicht anheben konnten, von 40 auf 50 % anheben. Das geschieht auf zweierlei Weise: einmal fördern wir den Eigenheimbauer kinderbezogen wesentlich besser, und zum anderen tun wir etwas, was eigentlich die Sozialdemokraten längst hätten tun sollen: Wir stellen den Mieter, der Eigentümer seiner Mietwohnung werden will, steuerrechtlich mit dem Mieter gleich, der selber bauen kann.
Ein solches Ehepaar kann in Zukunft 120 000 DM des zu versteuernden Einkommens im Jahr abziehen. Ist das nicht ein sozialer Fortschritt?
Die Steuerreformkommission hatte Anfang 1970 vorgeschlagen, die pauschale Nutzungswertbesteuerung ersatzlos zu streichen. Die Sozialdemokraten, die damals den Bundesfinanzminister stellten, sahen sich nicht in der Lage zu dieser sozialen, eigentumsfreundlichen Wohltat für den kleinen Hauseigentümer. Wir werden die Nutzungswertbesteuerung streichen; das Finanzamt wird ab 1. Januar 1987 im selbstgenutzten Wohneigentum nichts mehr zu suchen haben.
Herr Kollege Waltemathe, was das Durchsetzen gegenüber dem Finanzminister angeht: Wir werden das Wohngeld zum 1. Januar 1986 erhöhen.
Sie haben sich verhört und getäuscht. Wir werden, Bundes- und Landesanteil zusammengenommen, zum erstenmal eine Wohngeldleistung von über 3 Milliarden DM erhalten.
Sie wären mit Zylinder und Frack spazierengegangen, wenn Sie das fertiggebracht hätten.
Sie haben zehn Jahre lang die Mittel der Städtebauförderung bei 220 Millionen DM eingefroren. Im Jahre 1985 stehen nach den Beschlüssen des Haushaltsausschusses für die Städtebauförderung, Bundesanteil, 110 Millionen DM mehr, nämlich 330 Millionen DM, zur Verfügung. Was ist das für eine Steigerung!
Sie haben jahrelang abgebaut, und wir haben in zwei Jahren wieder aufgebaut, das ist der Unterschied.
— Das sind alles Fakten.
Jetzt komme ich zum Thema Förderung des Sozialmietwohnungsbaus.
Da ich vor einem kundigen Auditorium spreche — —
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kleinert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist mir ein Vergnügen, Herr Kollege Kleinert.
Herr Bundesminister, ist es wirklich das Ziel der Klasse, darauf hinzuweisen, daß in diesem Bereich soundsoviel hundert Millionen DM mehr ausgegeben werden, oder ist es nicht eher das Ziel der Klasse, daß man diesen Bereich in die Marktwirtschaft überführen und damit den öffentlichen Haushalt entlasten sollte?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7767
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kleinert, wir machen beides.
Herr Kollege Kleinert, die Wohnungspolitik dieser Bundesregierung orientiert sich an den Prinzipien einer sozialen Wohnungsmarktwirtschaft.
Die Steigerungsrate für Maßnahmen der Städtebauförderung und der Stadterneuerung ist auch als eine stimulierende Wirkung zur Belebung des Baumarktes gedacht, weil auf keinem Felde die öffentlichen Mittel so sachgerecht, zielgerecht und in ihrer ökonomischen Effizienz hochwertig angelegt sind wie hier.
Was machen dagegen die Sozialdemokraten?
Ich spreche von einem klassischen Beispiel, dem Land Hessen. Das Bundesland Hessen — das muß ich doch einmal darstellen — hat neue Bedingungen für die Wohnungsbauförderung bekanntgegeben; sie sehen folgendes vor. Ich muß es tatsächlich dem Deutschen Bundestag einmal präzise bekanntgeben.
Durch die neue Förderung wird das Gesamtvolumen der Förderung je Wohnung — jetzt werden Sie gleich Beifall geben — um rund 70 % erhöht.
— Ich freue mich, daß mein verehrter Amtsvorgänger Kollege Vogel dies beifällig beklatscht. Aber vielleicht klatschen Sie auch weiter, wenn ich weiterlese.Im Durchschnitt werden künftig für eine Wohnung 117 000 DM Landesmittel, 20 000 DM Bundesmittel
und bis zu 80 000 DM kommunale Mittel, zusammen rund 220 000 DM, eingesetzt. Das bedeutet, daß eine Wohnung auf Dauer mit 1 450 DM im Monat gefördert wird. Mit diesen Förderbedingungen wird das Auseinanderlaufen von Sozialmieten und Marktmieten vorgezeichnet. Außerdem kommt es zu einer Marktspaltung, weil Wohnungen gleicher Qualität eine unterschiedliche Miete haben, je nachdem, von welchem Haushalt sie bewohnt sind. Das Fördervolumen je Wohnung würde ausreichen, um für 14 Haushalte — für 14 Haushalte! — auf Dauer die Wohngeldleistungen zu verdoppeln. An dieser Stelle setzen die Kritiker bei der Bundesbank, bei den Instituten, bei den Fachjournalisten zu Recht an,die von einer gigantischen Verschwendung sprechen.
Meine Damen und Herren, kann man das so gutheißen?Ich habe beim letzten Gespräch mit den Repräsentanten der deutschen Wohnungswirtschaft festgestellt, daß gerade im Bereich der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft — meine Herren, das wissen Sie so gut wie ich — beispielsweise im Ruhrgebiet Wohnungen mit Fertigstellungsjahr ab 1980 wegen der hohen Bewilligungsmieten an den Personenkreis nach § 25 Abs. 2 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes nicht mehr vermietet werden können, weil die Menschen trotz Wohngeld nicht mehr in der Lage sind, die Mieten zu bezahlen.
— Ich spreche vom Jahr 1980. Da haben Sie freilich zwei Jahre zu lang regiert.
Ich darf Ihnen sagen: Es werden also nicht anspruchsberechtigte Sozialmieter in diesen neugebauten Wohnungen untergebracht, sondern solche, die gar nicht anspruchsberechtigt sind. Wir bauen also mit dieser gigantischen Förderung, die wir viel besser mit einem vierfachen Effekt für Eigentumsmaßnahmen einsetzen könnten,
soziale Mietwohnungen. Das ist sozial unvertretbar, und das ist ökonomischer Unsinn.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen also sagen: Unsere Wohnungspolitik trägt alle Zeichen der Neuorientierung, sie stellt die soziale Treffsicherheit des sozialen Wohnungsbaus wieder her. Wenn einer behauptet, diese Bundesregierung würde den sozialen Wohnungsbau einschränken, dann spricht er die Unwahrheit aus.
— Nein, nein, meine Herren, sozialer Wohnungsbau versteht sich nicht allein als Mietwohnungsbau zur Beseitigung der Wohnungsnot. Nach dem Gesetz versteht er sich überwiegend als Maßnahme zur Bildung von Eigentum in breiten Bevölkerungsschichten. Und als Träger des sozialen Wohnungsbaus sind Bund, Länder und Gemeinden gedacht. Die Länder werden den sozialen Mietwohnungsbau wie bisher weiter fördern. Und die Bundesmittel werden sie für Eigentumsmaßnahmen verwenden. Wir geben den Ländern nur eine größere Dispositionsfreiheit. Niemand kann behaupten, daß der soziale Wohnungsbau durch die Entscheidung des Haushaltsausschusses auch nur um eine einzige Mark eingeschränkt würde.
Metadaten/Kopzeile:
7768 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984
Bundesminister Dr. SchneiderLassen Sie mich zum Schluß zum Thema Ehrenmal kommen.
Verzeihung, Herr Bundesminister, ich darf Sie höflich darauf aufmerksam machen: Wenn ein Regierungsmitglied über 20 Minuten spricht, kann die andere Fraktion wieder die gleiche Redezeit verlangen. Ich wollte das angesichts der Zeit hier nur bemerken. —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte, mir nur noch zu gestatten, etwas zum Thema Ehrenmal zu sagen. Ich glaube, daß das Haus einen Anspruch darauf hat, daß nach den Äußerungen des Herrn Verheyen ein Vertreter der Bundesregierung dazu etwas erklärt.
Ich stelle fest: Die Bundesregierung hat noch keinen Beschluß gefaßt. Sie hat sich aber mit dem Thema befaßt. Wie Sie genau wissen, Herr Conradi, war ich beauftragt, den Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates, und die Vertreter des Gemeinsamen Ausschusses über die Vorstellungen der Bundesregierung zu unterrichten. Dies ist inzwischen geschehen. Der Herr Bundeskanzler ist über das Ergebnis unterrichtet.
Es ging zunächst um den Standort. Über den Inhalt, über die geistige Ausrichtung, über den zu ehrenden Personenkreis wurde etwas Verbindliches nicht festgelegt. Aber ich kann hier, nach Rücksprache mit dem Herrn Bundeskanzler, ganz verbindlich erklären: Der Personenkreis, der durch dieses Mahnmal geehrt werden soll, ist mit dem Personenkreis identisch, der alljährlich mit einem Trauerakt in diesem Plenarsaal am Volkstrauertag geehrt wird.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Herr Bundesminister, hat sich der Herr Bundeskanzler das Aide-mémoire der Verbände zu diesem Mahnmal, in dem die Juden nicht vorkommen, zu eigen gemacht, wörtlich gesagt: Ich mache mir das zu eigen, oder hat er es sich nicht zu eigen gemacht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Herr Bundeskanzler hat sich dieses Aide-mémoire nicht zu eigen gemacht. Der Herr Bundeskanzler hat mich gebeten, mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Herrn Nachmann, ein Gespräch zu führen. Dieses Gespräch hat gestern nachmittag im Bauministerium stattgefunden. Ich möchte wegen der Vertraulichkeit dieses Gesprächs daraus keine Einzelheiten wiedergeben. Ich darf aber feststellen, daß Herr Nachmann für die Vorstellungen der Bundesregierung größtes Interesse und hohes Verständnis gezeigt hat. Wir sind bei dem ersten Gespräch zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Es ist für die Bundesregierung aber selbstverständlich, daß an dem Kuratorium, das die Kriterien für einen Ideenwettbewerb festlegen wird, nicht nur der Zentralrat der Juden beteiligt sein wird, sondern auch die Kirchen und die Organisationen, die mit Träger des Traueraktes am Volkstrauertag im Plenarsaal des Deutschen Bundestages sind.
Meine Damen und Herren, der Gegenstand, über den wir uns jetzt unterhalten, ist viel zu ernst, als daß er auch nur in Andeutungen zum Gegenstand parteipolitischer, fraktionspolitischer Überlegungen gemacht werden dürfte.
Ich kann im Namen des Bundeskanzlers erklären: Wenn sein beabsichtigtes Gespräch mit dem Herrn Bundespräsidenten und den Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates stattgefunden haben wird, wird ein Kuratorium gebildet werden, das überparteilichen und überkonfessionellen Charakter haben wird. Erst wenn dies geschehen ist, werden alle ausreichend Gelegenheit haben, in diesem Zusammenhang zu Wort zu kommen. Hier geht es nicht um eine Sache der Bundesregierung. Darüber, daß der Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit dem Ideenwettbewerb über ein deutsches Mahn- und Ehrenmal — oder wie immer wir es nennen — eines Tages diskutieren wird, ausführlich diskutieren wird, und zwar, wie ich hoffe, mit Würde, Sachlichkeit und Niveau, kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Das ist so sicher, wie ich hier spreche.
— Meine Herren, Sie mögen das auf Ihre Weise ironisieren.
Fest steht: dieses Mahnmal wird kein Kriegerdenkmal sein, wie wir es aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kennen. Es soll ein Mahnmal für alle sein, für den Personenkreis, der am Volkstrauertag geehrt wird. Es soll ein Versöhnungsmal und auch ein Mahnmal zum Frieden sein.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 10/2432, 10/2433 und 10/2434.Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2432 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/2433 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7769
Vizepräsident WurbsWer dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/ 2434 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2484 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 25 insgesamt. Wer dem Einzelplan 25 — Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.Meine Damen und Herren, wir stehen damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 29. November 1984, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.