Nein, ich habe zuwenig Zeit, Herr Präsident.
Ich wiederhole: Diese Opfer haben wehgetan — das wissen wir —,
aber das Ergebnis ist: Wir sind über den Berg. Lassen Sie mich zwei Anmerkungen machen.
Zunächst zu Ihrem Gerede von der „neuen Armut". Sie definieren den Begriff niemals. Meinen Sie damit die Sozialhilfeempfänger? Wollen Sie diese Menschen in unserem Staat diskreditieren?
Wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß das
Bundessozialhilfegesetz die dritte Säule in unserem
sozialen System ist? Hinsichtlich der „Hilfe zum Lebensunterhalt" werden Zahlen von 300 DM genannt. Diejenigen, die das sagen, kennen nicht das Bundessozialhilfegesetz. Aber Sie stellen sich hierhin und tragen so etwas mit dem Brustton der Überzeugung vor.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Heute morgen habe ich den DGB in meinem Wahlkreis angerufen, um mich nach der Höhe des durchschnittlichen Grundlohnes zu erkundigen. In meinem Wahlkreis waren es 1983 monatlich 2087,12 DM. Dem Arbeitnehmer mit vier Kindern blieben einschließlich Kindergeld und einem Wohngeld von 295 DM insgesamt 2454,03 DM übrig. Wenn er nicht gearbeitet hätte und Leistungen nach dem Sozialhilfegesetz bezogen hätte, beliefe sich sein Anspruch auf 2368 DM. Er hätte in diesem Fall also 86,03 DM weniger als derjenige, der gearbeitet hat. Dann können Sie doch nicht sagen, die Empfänger von Sozialhilfe seien als Arme zu qualifizieren. Das Problem liegt ganz woanders.
— Schreien Sie nicht so. Erinnern Sie sich einmal an Ihren Fraktionsvorsitzenden, der sich gestern hier vorne pfauenhaft über Zurufe aus unserer Fraktion beschwert hat.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis: Als Sie die Regierung 1969 übernahmen, empfingen in der Bundesrepublik Deutschland 1,4 Millionen Menschen Sozialhilfe. Im Jahre 1983 waren es 2,4 Millionen. Ich werde mich hüten, zu sagen, daß hier neue Armut „produziert" worden ist. Ich will lediglich dafür kämpfen und dafür werben, daß die Sozialhilfeempfänger nicht diskreditiert werden.
Nächster Punkt: Umverteilung von unten nach oben; das Kindergeld ist schon genannt worden, meine Damen und Herren. Sie haben damals dem Millionär wie der Witwe die 20 DM weggenommen. Wir sind hergegangen und haben gesagt: Der Millionär kriegt das als Opfer aufgebürdet, die Witwe kriegt es nicht aufgebürdet.
Nächstes Beispiel: Da flattert durch deutsche Lande ein etwas schmieriges Blatt — entschuldigen Sie, wenn ich das so sage — mit dem Bundesadler und „Ihre Bundesregierung". Ganz unten, links in der Ecke, geben Sie zu, daß es von der SPD ist. Meine Damen und Herren, das, was Sie da schreiben, ist falsch, absolut falsch und bösartig dazu. Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mißstände sind in Ihrer Regierungszeit entstanden. Herr Vogel hat hier gestern nicht die ganze Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, das Weihnachtsgeld sei bei uns versicherungspflichtig geworden. Der Familienvater mit 2 600 DM hat für
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. November 1984 7697
Jagoda
sein Weihnachtsgeld 1983 voll Rentenversicherungsbeiträge bezahlt.
Sie haben den Vorschlag gemacht, daß auf dem Gebiet das alte System beibehalten wird, daß aber die Rentenversicherungsbeiträge um 0,5% steigen und die Arbeitslosenversicherungsbeiträge auf 5,4 % angehoben werden. Sie hätten den Kleinen zur Kasse gebeten und abkassiert,
den Großen, der 5 000 DM bekommen hat, hätten Sie laufen lassen.
— Nein, nein, jetzt lassen Sie mich einmal ausreden. — Nach Ihrem Blatt geben Sie selber zu, daß jemand, der 5 000 DM Einkommen hat und 5 000 DM Weihnachtsgeld bekommt, von den insgesamt 10 000 DM nach dem alten Recht ganze 23,10 DM zahlt.
— Entschuldigung, ich muß mich korrigieren: Er zahlt von den zweiten 5 000 DM ganze 0,5%. Demjenigen, der lediglich 2 000 DM kriegt, nehmen Sie vom Weihnachtsgeld 17 % ab.
Ich frage mich, wo da die soziale Gerechtigkeit ist.
Das ist, meine Damen und Herren, Ihr früheres System!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Blatt hat j a noch etwas Besonderes. Da lese ich unten, das Geld werde benötigt, weil wir u. a. die Vermögensteuer der Reichen gesenkt hätten.
— Jawohl, meine Damen und Herren, Frau Fuchs, das haben wir gemacht. Nur, meine Damen und Herren von der SPD, darf ich Sie einmal daran erinnern: Was war denn 1977? Was haben Sie denn da gemacht? Damals haben Sie die Vermögensteuer nicht nur für die Betriebsvermögen, sondern auch für die Privatvermögen, die Geldvermögen gesenkt. Dem von Ihnen so kritisierten Kuponschneider, der ein Einkommen von 10 Millionen DM hat, haben Sie 20 000 DM hinterhergeschmissen, wir nicht. Sie waren das, und dann reden Sie von Umverteilung von unten nach oben. Hören Sie doch auf mit diesem Stuß! Kommen Sie einmal zur Wahrheit zurück und verdummen Sie die Leute draußen im Lande nicht!
Das ist ja nicht mehr mit anzuhören!
Wir haben 0,1 Prozentpunkte für Betriebsvermögen zurückgegeben. Da kann der Handwerksmeister einen kleinen Zuschuß kriegen, weil er einen zusätzlichen Ausbildungsplatz zur Verfügung gestellt hat; das ist das Ziel. Daß zusätzlich investiert worden ist, können Sie mit Sicherheit nicht bestreiten.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Wir haben auch Verbesserungen in diesem Haushalt. Lassen Sie mich dankenswerterweise zur Kenntnis geben, daß im Haushaltsausschuß einvernehmlich, also mit den Stimmen aller Fraktionen, erreicht werden konnte, daß die Maßnahmen zur besseren Versorgung der Krebspatienten verlängert werden sollen; diese Maßnahmen sollten Ende 1985 auslaufen.
Krebs steht in der Todesursachen-Statistik an zweiter Stelle. Jedes Jahr erkranken bei uns 200 000 Menschen an Krebs. Die Bekämpfung der Krebskrankheiten, meine Damen und Herren — ich danke hier deswegen für den gemeinsamen Beschluß, weil damit deutlich wird, daß es unser aller Anliegen ist, hier zu helfen —, ist nach wie vor dringend erforderlich. Ich freue mich deshalb, daß der Haushaltsausschuß die Verpflichtungsermächtigungen für 1986 und 1987 verlängert hat.
Ich meine, wir alle sollten — ich bin sicher, daß wir da einer Meinung sind — die Länder bitten, daß sie Vorsorge treffen, um ab 1988 die Fortführung dieser Maßnahmen garantieren zu können. Ich darf das, zum Bundesrat gerichtet, einmal sagen.
Aber nicht nur das haben wir gemacht. Auf Grund der wiedergewonnenen Stabilität und des Handlungsspielraums ist es möglich, den arbeitslosen Jugendlichen bis zum 21. Lebensjahr das Kindergeld wieder zu geben. Das ist der zweite Punkt, den wir unserer Leistung anfügen, nachdem wir ihnen schon den Krankenversicherungsschutz bis zum 23. Lebensjahr kostenlos gegeben haben. Sie haben in der damaligen Situation Familien mit jugendlichen Arbeitslosen herzlos aus dem Kindergeld und dem Krankenversicherungsschutz rausgeschmissen. Wir reparieren Ihre Unerträglichkeiten. Das muß man mal sagen.
Es ist uns gelungen — im Rahmen des Finanzrahmens — den älteren Arbeitnehmern bis zu sechs Monate länger Arbeitslosengeld zu zahlen. Das hilft vielen Mitbürgern, die, wenn sie 50 Jahre alt sind und arbeitslos werden, kaum noch eine Chance haben, vermittelt zu werden. Das ist eine echte soziale Tat, die wir im Haushalt 1985 vorsehen können.
Die Kurzarbeit sinkt. Sie werfen uns vor, wir hätten nichts für den Arbeitsmarkt getan.
Nun, die ABM-Maßnahmen haben wir verdreifacht, und jeder, der heute eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hat, ist glücklich, weil er eine Beschäftigung und ein Einkommen hat und weil aus einem Arbeitslosen ein Beitragzahler geworden ist. Das ist die richtige Politik, wie wir sie eingeleitet haben.
Zum Ausbildungsstellenrekord: Auch das muß man einmal sagen. Seien Sie doch einmal fair. Gehen Sie doch bitte einmal in die Zeit zurück, als der Ausbildungsbetrieb hinter den Auszubildenden hergelaufen ist. Auch in dieser Zeit haben Sie einen Versorgungsgrad von nur 93% gehabt. 7 % haben
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damals keine Ausbildung bekommen. Das ist die Wahrheit. Dafür, daß wir heute bei den geburtenstarken Jahrgängen auf 97 % kommen, einen herzlichen Dank allen Menschen, egal wo sie stehen und wo sie sich eingesetzt haben, daß sie die Herausforderung ohne gesetzlichen Zwang bewältigt haben. Das ist das Spiegelbild einer freien Gesellschaft, freier Bürger in diesem Land.
Lassen Sie mich noch zur Rentenproblematik kommen. Herr Kollege Glombig, Sie wissen, daß ich Sie sehr schätze. Sie haben schon beim vorigen Mal hier den Versuch der Mattenflucht unternommen, indem Sie den Koalitionspartner von damals beschimpft und auf die Regierung gewiesen haben. Darf ich Sie herzlich bitten, daß Sie vielleicht einmal in Ihrem Archiv nachsehen — sollten Sie die Unterlage nicht haben, stelle ich sie Ihnen gerne zur Verfügung —: Die damalige Koalition hat am Ende ihrer Zeit ein sogenanntes Doppelbandenspiel gemacht. Die Regierung hat die Anträge im Bundesrat eingebracht, und die Koalitionsfraktionen haben sie in diesem Haus eingebracht. Das ist kein Vorwurf. Nur, der Redlichkeit halber muß man sagen, daß in der Bundestags-Drucksache 9/1957 —der Entwurf des Sechsten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes — auf dem Vorblatt unter Lösung steht, dieser Entwurf enthalte vor allem die folgenden Maßnahmen:
I. Stufenweise Einführung eines Krankenversicherungs-Beitrags der Rentner.
II. Entsprechende Absenkung des Rentenanstiegs in der Kriegsopferversorgung und im Lastenausgleich.
III. Bemessung der Beiträge für die Arbeitslosen ... nach 70 v. H. des Bruttoarbeitsentgelts ...
IV. Entsprechende Bewertung der Zeiten der Arbeitslosigkeit, Krankheit, ...
V. Erhöhung des Beitrags zur Bundesanstalt für Arbeit ...
VI. Kürzung des Bundeszuschusses ... um 1,3 Milliarden DM ...
Das war das eine Gesetz. Ich nehme an, daß Sie — wie wir — Initiativen nur dann einbringen, wenn sie in der Fraktion abgestimmt worden sind. Etwas anderes könnte ich mit meinem Demokratieverständnis nicht vereinbaren.