Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrages „Akute Hilfsmaßnahmen für bedrohte Oppositionelle in Chile" auf Drucksache 10/5987 zu erweitern. Der Antrag liegt auf den Drucksachenwagen in der Eingangshalle vor. Wird hierzu das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beantragen, die Tagesordnung zu ändern — nicht, weil wir das Recht auf Haushaltsberatungen, das sicherlich zu den vornehmsten Rechten und Pflichten des Parlaments gehört, irgendwie beeinträchtigen wollen, sondern weil wir meinen, daß es auf Grund einer ganz besonderen Dringlichkeit geboten ist, heute zu Beginn der Tagesordnung einen anderen Themenkomplex einzuschieben; denn durch die rechtzeitige Behandlung dieses Themas kann eventuell erreicht werden, daß zahlreiche Oppositionspolitiker, Priester und andere Menschen in Chile gerettet werden können.Sie wissen, daß es — nicht nur weil der 9. Jahrestag des Pinochet-Putsches ansteht
— der 13., sorry —, sondern auch weil die Repressionswelle nach dem Attentat ungeahnte Ausmaße angenommen hat — notwendig ist, sich ausführlicher mit diesem Thema zu befassen. Die Repression ist sehr stark geworden; in Chile herrschen Verhältnisse, wie wir sie in den letzten Jahren eigentlich nur aus mittelamerikanischen Ländern kennen. Amnesty International hat darauf hingewiesen, daß es eine völlig neue Qualität von Repression gibt. In Chile agieren mittlerweile Todesschwadronen mit offenem Terror. Dauernd werden grausam verstümmelte Leichen gefunden. Nach dem Attentat wurden systematisch die wichtigsten Oppositionspolitiker Chiles verhaftet; zusätzlich wurden zahlreiche Priester verhaftet, die z. B. Sozialarbeit in Slums und Armensiedlungen leisten.Diese Leute sind ganz akut vom Tode bedroht. Sie sind bedroht von Folter, ihnen droht, daß man sie verschwinden läßt.Wir meinen, es reicht nicht aus, daß die Bundesregierung ihre ganz normale diplomatische Arbeit, die j a in den letzten Wochen auch zu äußerst makaberen Auswirkungen geführt hat, weiterbetreibt. Wir begrüßen es ausdrücklich, daß der Militärattaché der Bundesrepublik nun disziplinarischen Maßnahmen unterzogen wird. Dies reicht aber bei weitem nicht aus, um in die aktuellen Geschehnisse in Chile einzugreifen und darauf hinzuwirken, daß die vom Tode bedrohten Oppositionspolitiker und Priester eventuell sogar freikommen.Wir sind der Auffassung, daß ein demokratisches Land wie die Bundesrepublik ganz andere Maßnahmen ergreifen muß. Wir möchten dem Bundestag mit unserem Antrag die Gelegenheit geben, der Bundesregierung Handlungsvorschläge zu machen, so daß die Bundesregierung mit der Rückendekkung des Parlaments auch drastischere Schritte gegen das Pinochet-Regime in Chile unternehmen kann. Es muß möglich sein, daß die Bundesrepublik ihre Botschaft in Chile in völlig anderer Form nutzt, als dies bisher geschehen ist. Es muß möglich sein, daß die deutsche Botschaft in Chile systematisch und offensiv für die chilenischen Flüchtlinge geöffnet wird, daß die Bundesregierung die chilenischen Flüchtlinge in die Bundesrepublik schafft und auch das grundgesetzlich garantierte Asylrecht offensiv nutzt, um den chilenischen Flüchtlingen hier Unterschlupf zu gewähren und damit ihr Leben zu retten.Ich glaube nicht, daß es reicht, wenn wir uns in der nächsten ordentlichen Sitzungswoche systematisch mit dem Komplex Chile befassen. Dann kann es zu spät sein, dann werden wir möglicherweise eine politische Debatte über die Morde führen, die geschehen sein werden. Wenn wir uns heute mit dieser Thematik befassen, haben wir die Chance, tatsächlich Leben zu retten. Wir haben eine Liste der gefangenen Oppositionspolitiker und Priester. Wir meinen, der Deutsche Bundestag sollte jede Chance nutzen, um rechtzeitig seinen Einfluß geltend zu machen und die Bundesregierung zu veranlassen, zu drastischeren Maßnahmen zu greifen und alle ihr technisch, diplomatisch, grundgesetz-
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Volmerlich und rechtlich möglichen Mittel auszunutzen, um Leben zu retten. Eine Debatte in der übernächsten Woche könnte zu spät sein. Deshalb bitten wir Sie, sich heute mit unserem Antrag zu befassen.Danke.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein ungewöhnliches parlamentarisches Verfahren, was uns heute morgen zugemutet wird. In den interfraktionellen Gesprächen zur Vorbereitung dieser Debatte waren sich alle Fraktionen einig, diese erste Lesung des Bundeshaushalts, wie bisher stets üblich, freizuhalten von weiteren Debattengegenständen und Sachabstimmungen.
Die GRÜNEN haben gestern abend sehr kurzfristig diesen Antrag mit dem Ansinnen vorgelegt, darüber heute in der Sache zu debattieren und abschließend abzustimmen. Schon aus grundsätzlichen Erwägungen, glaube ich, können wir diesem Verfahren nicht zustimmen. Im übrigen ist der Gegenstand Ihres Antrages viel zu ernst, uns jedenfalls, als daß wir jetzt mit einem Schnellschuß reagieren könnten. Wir sollten über Chile bald und angemessen diskutieren; das haben wir auch angeboten.
Doch damit es keine Mißverständnisse und keinen Anlaß zu Polemik über diese Ablehnung geben kann, möchte ich an dieser Stelle zwei Feststellungen treffen.
Erstens. Wir haben überhaupt keinen Nachholbedarf dafür, die schweren Verletzungen der Menschenrechte und der demokratischen Grundsätze durch das chilenische Regime zu verurteilen. Wir haben noch vor einiger Zeit alle Verantwortlichen in Staat, Gesellschaft, die Kirchen, Verbände, Hochschulen und Medien aufgefordert, sich mit uns gegen die Verletzungen der fundamentalen Rechte des chilenischen Volkes zu wenden und für die Wiederherstellung freier, demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse in Chile zum frühestmöglichen Zeitpunkt einzutreten.
Zweitens. Ich erinnere an das persönlich mutige und politisch überzeugende Auftreten meines Parteifreundes Heiner Geißler Ende Juli in Chile.
Das hat den betroffenen Oppositionellen, den Verfolgten und Eingesperrten in Chile Mut gemacht und hat sie glaubwürdig spüren lassen, daß sich hier jemand wirklich für sie einsetzt, nicht nur mit papierenen Beschlüssen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Porzner.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Daß wir uns alle einig sind, die unmenschliche Diktatur in Chile durch Demokratie zu ersetzen und das in unserem Rahmen Mögliche zu tun, das darf ich wohl voraussetzen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat im Deutschen Bundestag einen Antrag eingebracht, in dem verlangt wird, daß die brutale Unterdrückung der Menschen dort beendet wird. Die Zahl der willkürlich Verhafteten, der Ermordeten, der Gefolterten, der aus dem Land Ausgewiesenen ist unendlich groß, geht in die Hunderttausende. Wir verurteilen dieses Regime, diese Militärdiktatur, wo die Verletzung der Menschenrechte zum Prinzip des staatlichen Handelns gehört. Wir fordern alle auf, die in dieser Region Macht ausüben, und wollen das Unsere dazu tun, daß die Demokratie in Chile wieder eingeführt und die Militärdiktatur abgeschafft wird.
Ihr Antrag von den GRÜNEN, gegen den ich gar nichts sagen will, weil er ja für sich richtig ist, zielt aber viel zu kurz. Wenn wir den heute nur beschließen würden, dann würden wir kein grundsätzliches Wort zu dem sagen, was ich soeben habe nur stichwortartig erwähnen können. Das, was Sie verlangen, daß sich die Regierung darum bemüht, ist selbstverständlich. Wenn wir nur den Antrag der GRÜNEN beschließen würden, dann würde sehr viel fehlen, wonach man uns fragen würde: Warum denn nichts zur Diktatur überhaupt?
Warum denn nichts zum Regime überhaupt? Warum denn nichts zu den Menschenrechtsverletzungen? Das gehört auch dazu.
Ein zweites: Das so jetzt schnell im Rahmen der Haushaltsdebatte zu machen, ist nicht die richtige Art und Weise, ein solches Thema zu behandeln.
Meine Fraktion hat einen Antrag eingebracht und hatte die Absicht, das in der nächsten Sitzungswoche im Bundestag zu behandeln. Wir haben es auch abgelehnt, die Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Rahmen der Haushaltsdebatte nebenher zu behandeln — das ist genauso wichtig; es betrifft auch Chile, es betrifft aber auch andere —, weil wir sagten: In der Haushaltsdebatte kann man nicht alles zusammen machen.
Wir werden auch die Behandlung eines anderen Antrags, der noch in dieser Woche eingebracht werden soll, ablehnen. Es gibt dafür gute Gründe. Wir werden das Thema behandeln, allerdings muß dann etwas Tiefergehendes, Weitergehendes, Besseres beschlossen werden als das, was Sie uns hier vorgelegt haben.
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PorznerDeswegen kann meine Fraktion dem Geschäftsordnungsantrag nicht zustimmen.
Zur Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Wolfgramm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Meine Fraktion verurteilt Unrecht, Unmenschlichkeit und Terrorismus überall auf der Welt. Wir verurteilen das besonders jetzt, in Chile. Ich darf feststellen: Die Bundesregierung, der Bundesaußenminister, das Außenministerium und die Botschaft in Chile werden sich hier besonders engagieren. Sie werden alles Menschenmögliche tun, um zu helfen ,und um das zu tun, was nur zu tun möglich ist.
Wir meinen aber, daß es nicht richtig ist, daß wir hier in einer kurzen, sehr kurzen Anmerkung über diese Frage sprechen und reden. Wir wollen das sehr deutlich nach außen tun, aber nicht jetzt und nicht im Rahmen der Haushaltsdebatte, bei der dieses Problem, mit anderen Fragen vermischt, nicht den Stellenwert haben würde, den es haben soll und den es haben muß.
Wir haben das in der Vergangenheit getan; wir tun das jetzt. Das wichtigste ist, daß wir es dauerhaft tun. Dafür werden wir uns auch weiter einsetzen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer der Aufsetzung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Meine Damen und Herren, bevor ich die heutige Tagesordnung aufrufe, darf ich einen Gast begrüßen. In der Ehrenloge hat der Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der Volksrepublik Bulgarien, Herr Petar Tantschev, mit einer Delegation Platz genommen. Ich habe die Ehre, Sie, Herr Vorsitzender, und die Mitglieder Ihrer Delegation im Deutschen Bundestag zu begrüßen. Wie wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und gute Gespräche.
Meine Damen und Herren, einer Bitte des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten folgend wird interfraktionell vorgeschlagen, in Abänderung der Überweisung in der 225. Sitzung des Deutschen Bundestages den Antrag betreffend Einführung von Bestandsobergrenzen zum Schutz der bäuerlichen Landwirtschaft und der Umwelt auf der Drucksache 10/2822 zur federführenden Beratung dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Sind Sie mit der Änderung der Überweisung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Aussprache fort über die:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1987
— Drucksache 10/5900 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1986 bis 1990
— Drucksache 10/5901 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Die Aussprache soll heute um 19 Uhr beendet werden.
Mittagspause ist von 13 Uhr bis 14 Uhr vorgesehen.
Ich erteile das Wort dem Präsidenten des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, Herrn Ersten Bürgermeister Dr. von Dohnanyi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Morgen soll der Sozialpolitik gewidmet sein, und man muß mit Erschrecken feststellen, daß auch der Haushalt 1987 in den Vorschlägen, wie sie dem Hohen Hause hier vorliegen, gegen die hohe Massenarbeitslosigkeit wieder nichts unternehmen wird.
Wenn man die Haushaltsvorlage liest, stellt man fest, daß die bestehende Massenarbeitslosigkeit auch in Zukunft geduldet werden soll, ja, die Bundesregierung geht nicht nur davon aus, daß es weiterhin über 2 Millionen Arbeitslose geben wird, sondern sie rechnet auch damit für eine lange Frist bis hinein in die späten 90er Jahre.
Meine Damen und Herren, die soziale Frage dieser Jahre ist die Arbeitslosigkeit;
denn aus der Arbeitslosigkeit erwächst die Armut und die Not, um die es uns heute hier geht.
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
Es hat — das ist ganz unbestritten — auch in den Jahren sozialliberaler Regierung soziale Not in einzelnen Fällen gegeben,
aber in den 70er Jahren hat es große Fortschritte gegeben in Richtung auf mehr Chancengleichheit,
in Richtung auf mehr Schutz für Schwache und Behinderte in unserer Gesellschaft. Ich glaube, es waren vielleicht die wichtigsten Ergebnisse der sozialliberalen Politik der 70er Jahre, mehr Humanität in der Industriegesellschaft zu ermöglichen.
Es ist unbestritten, daß es seit Ende der 70er Jahre nicht nur bei uns, sondern in allen Industriegesellschaften wieder eine wachsende Tendenz zu härteren sozialen Unterschieden gibt. Da sind die einen: Sie haben Arbeitsplätze, sie haben eine gute Ausbildung, sie leben in Regionen mit Wachstumsindustrien, sie genießen einen wachsenden Wohlstand. Und da sind die anderen: Sie sind genauso fleißig, vielleicht etwas älter, vielleicht Frauen, die in den Beruf zurückkehren wollen; sie leben in Regionen mit älteren Industrien, z. B. im Westen Schleswig-Holsteins, im Bereich der Werftenindustrie oder an der Küste Niedersachsens.
— Ich komme auf Hamburg, wenn Sie möchten, gerne zurück. — Sie hatten ihre Arbeitsplätze in einer wettbewerbsfähigen Industrie, im Schiffbau, sie haben diese Arbeitsplätze jetzt verloren oder sie bangen um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze, sie haben kaum noch eine Chance, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, sie leben immer mehr am Rande der Gesellschaft, und sie leben in einer wachsenden Not.Meine Damen und Herren, seit 1982 ist die soziale Spaltung in der Bundesrepublik Deutschland in dramatischem Umfange gewachsen.
Es ist unverständlich, wie der Herr Bundeskanzler oder auch andere Mitglieder der Bundesregierung diese wachsende Armut bagatellisieren können. Die Not wächst im Schatten eines wachsenden Wohlstandes. Es ist ja nicht so, daß unser Land in den letzten Jahren ärmer geworden wäre. Es ist richtig, daß der Wohlstand insgesamt zunimmt, aber eben nur für den einen Teil der Bevölkerung, und der andere Teil wächst immer tiefer hinein in individuelle, familiäre, persönliche Not. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist dramatisch angestiegen.
Ich sage hier noch einmal: Die wesentliche Wurzel der Probleme liegt in der Arbeitslosigkeit oder in Arbeitsplätzen, die den einzelnen und seine Familie nicht ausreichend ernähren können.Meine Damen und Herren, das wird sicherlich besonders bemerkbar in den großen Städten. Hier kam eben der Einwurf: auch in Hamburg. Ich bestreite das nicht. Allerdings: Wenn heute über die Stadtstaaten und über die Großstädte überhaupt gesprochen wird, sollte man sich drüber im klaren sein, daß diese zunehmend Arbeitsplätze für das Umland und für die Nachbarländer bieten. In Bremen ist heute jeder dritte Arbeitnehmer ein Einpendler aus Niedersachsen. In Hamburg ist jeder fünfte Arbeitnehmer ein Einpendler aus SchleswigHolstein oder Niedersachsen.Die Hamburger Situation mit über 90 000 Arbeitslosen muß man auch vor dem Hintergrund sehen, daß wir 1970 netto 115 000 Einpendler hatten, heute aber 175 000.
Das heißt, daß zwei Drittel der seit 1970 zugewachsenen Arbeitslosigkeit von den Pendlern aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen gewissermaßen kompensiert werden.
Es ist ja verständlich, daß leistungsfähige Arbeitnehmer aus einem immer weiteren Umfeld versuchen, einen Arbeitsplatz in den großen Städten zu finden.
— Meine Herren, werden Sie nicht so ungeduldig.Vielleicht erlaubt die Arbeit des Bürgermeisters in einer Großstadt in besonderer Weise einen Einblick in das, was ich die persönliche Not nenne, bei deren Erwähnung mir eben zugerufen wurde: Das glauben Sie wohl selbst nicht!
Ich will von zwei Fällen berichten. Ich hatte vor etwa einem Dreivierteljahr in meiner monatlichen Sprechstunde einen 50jährigen Mann, der im technischen Büro einer der großen Werften gearbeitet hat. Er hat eine krebskranke Frau und einen spastisch gelähmten Sohn von 21 Jahren. Er hat mir gesagt, er habe sein ganzes Leben lang dafür gesorgt, daß dieser Junge in der Familie bleiben und er ihn selbst ernähren kann. Der Mann hat mit Tränen in den Augen zu mir gesagt: Herr Bürgermeister, gibt es denn für mich, für den Fünfzigjährigen, der immer noch die Kraft hat, seine Familie zu ernähren, keine Möglichkeit, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren?Vor wenigen Tagen war ich bei der Eröffnung einer ungewöhnlichen gemeinnützigen Werkstätte, die die Lebensabend-Bewegung geschaffen hat, in der Alte und Junge für gemeinnützige Tätigkeiten in der Stadt zusammen arbeiten. Als ich zu meinem Wagen zurückkehrte und einsteigen wollte, hielt mich eine Frau fest und sagte zu mir, ihr Mann, 53 Jahre alt, habe als Facharbeiter den Aufstieg in ein technisches Büro einer Werft geschafft. Er sei jetzt seit zwei Jahren arbeitslos. Sie traue sich nicht
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi mehr, die Wohnung zu verlassen. Der Mann habe Tränen in den Augen, wenn sie weggehe und ihrer eigenen Halbtagsbeschäftigung nachgehe. Sie fragte mich, ob nicht igendeine Möglichkeit bestehe, daß der Bürgermeister dieser Stadt diesem Mann wieder zu einem aktiven Lebensgefühl verhelfe.Meine Damen und Herren, wer nicht erkennt, wer bagatellisiert, wie sich unsere Gesellschaft spaltet,
nämlich in die Gruppe der leistungsschwächeren oder auch nur Älteren, der Frauen, die in den Arbeitsmarkt zurückkehren wollen, der Behinderten oder derjenigen, die in Regionen leben, in denen es keine Arbeitsplätze gibt, und die Gruppe derjenigen, die in den Regionen der Republik leben, in denen die Beschäftigungsquote hoch ist, dem wünsche ich nur, er würde einmal — nur einmal — an der Sprechstunde eines Bürgermeisters teilnehmen.
Was findet statt? Es ist ja unbestritten, daß die Unternehmen in einem zunehmend scharfen internationalen Wettbewerb ihre Kosten anpassen müssen. Das weiß jeder von uns. Neue Konkurrenten treten auf — das gilt gerade für den Schiffbau —: Japan, Korea, Volksrepublik China. Das ruft schwere Verwerfungen hervor. Ich wäre der letzte, der sagen würde, irgendeine Bundesregierung könnte das gewissermaßen wegwischen oder über Nacht in Ordnung bringen. Das sind strukturelle Probleme, mit denen und in denen wir leben müssen. Meine Kritik richtet sich aber gegen die Duldung dieser Situation, dagegen, daß man nicht erkennen kann, wie diese Bundesregierung den Regionen und den Menschen dort zu helfen bereit ist.
Es gab ja zu Beginn dieser Legislaturperiode in Ihren Reihen die Hoffnung, man könne die Zahl der Arbeitslosen im Laufe dieser Legislaturperiode um etwa 1 Million senken, also mehr als halbieren. Damals betrug die Arbeitslosigkeit 1,8 Millionen.
— Streiten wir jetzt nicht über die Zahl! Sie war ganz gewiß niedriger als heute. Das wird, glaube ich, von niemandem bestritten.
Man hat damals gesagt, die Arbeitslosigkeit werde um 1 Million reduziert werden. Ich bin nicht bereit, den Kollegen, die das gesagt haben, zu unterstellen, daß sie die Bevölkerung täuschen wollten.
— Z. B. Herr Geißler hat es gesagt, aber auch der Kollege Blüm; der hat allerdings hinzugefügt: wenn alle zusammenwirken. Aber das ist natürlich eine politische Voraussetzung, die man schaffen muß, wenn man Bundesregierung ist.
Meine Damen und Herren, ich unterstelle niemandem, daß er damals die Wähler bewußt getäuscht hat, aber ich werfe der Bundesregierung eine schwerwiegende Fehleinschätzung der Lage und beschäftigungspolitischen Dilettantismus vor.
Was hat denn die Bundesregierung schließlich getan? Sie hat in einer Illusion darauf vertraut, der scheinbare Dreiklang der 50er und 60er Jahre — Gewinne, Investitionen, Beschäftigung — ließe sich in Zeiten strukturellen Wandels wiederholen.Der Abgeordnete Helmut Schmidt hat hier gestern deutlich gemacht, wie er die Politik der Bundesregierung auf diesem Felde — von der Frage der Zinspolitik bis hin zur unsozialen Sparpolitik — einschätzt. Denn eines ist sicher: In völliger Unterschätzung dessen, was Nachfrage bedeutet, hat die Bundesregierung denen Geld genommen, die bereit sind, es auszugeben, und hat denen Geld gegeben, die es in den USA auf die hohe Kante gelegt haben.
— Aber ich bitte Sie, daß ist doch nachweisbar! Man kann doch nicht sagen, etwas sei Klassenkampf,
nur weil wir feststellen, daß, ob gewollt oder ungewollt, die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Das ist Wahrheit, nicht Klassenkampf!
Die Bundesregierung hatte erwartet, der Markt werde die Probleme lösen. Sie hat dann ein Beschäftigungsförderungsgesetz — dessen Name wahrscheinlich wirklich gut gemeint, aber ein Hohn ist, wenn man über dieses Gesetz heute nachdenkt —
vorgelegt, das ein offenkundiger Fehlschlag ist.
Im „Betriebsberater" gibt es vom Juli dieses Jahres einen Bericht, den nachzulesen ich jeden hier Anwesenden einmal bitten würde, damit er feststellen kann, wie das Beschäftigungsförderungsgesetz heute auch in der Wirtschaft beurteilt wird.Was ist erforderlich? Dringend erforderlich ist zunächst einmal die Kurskorrektur, die mit diesem Haushalt nicht möglich gemacht wird. Denn man kann doch nicht auf Dauer 2 Millionen Menschen
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi arbeitslos lassen; das sind insgesamt — mit den Familien, die davon betroffen werden — 6 Millionen Menschen. Man darf auch nicht warten, bis der nächste Abschwung, der doch mit Sicherheit irgendwann kommt, auf den Sockel von 2 Millionen Arbeitslosen noch einmal 1 Million aufstockt.
Man darf die verschärfte Not in den Regionen und in den Gruppen, von denen ich sprach, nicht weiter zulassen.Die Zahl der dauerhaft Arbeitslosen und der jugendlichen Arbeitslosen hat seit 1982 von damals etwa 600 000 auf heute 900 000 zugenommen.
— Wenn Sie sagen, das stimme nicht, nehmen Sie sich bitte einen Rechenstift — ich nehme ihn auch —, und dann stellen wir gemeinsam fest, daß das leider richtig ist. Wir wollen doch von hier aus nicht etwas verbreiten, was nicht stimmt, sondern wir sprechen von der Not, die es auch gibt.
Schließlich gibt es eine volkswirtschaftliche Verschwendung, denn da sind Arbeitskräfte, die wollen etwas tun, und die können etwas tun. Da wird Geld für Arbeitslosigkeit ausgegeben, aber nicht für Beschäftigung. Da sind wichtige Aufgaben in der Gesellschaft zu lösen, z. B. Umweltschutz; und wir bringen es nicht fertig, diese volkswirtschaftliche Verschwendung zu beenden.
Was sollte man tun?
— Sie fragen: Schiffe bauen? Was wollen Sie denn? — Das ist nicht der entscheidende Punkt. Ich versuche, dazu etwas zu sagen. Dieser tiefgreifende Strukturwandel — das ist doch selbstverständlich —
ist nicht durch eine einzige Maßnahme zu beenden. Von mir werden Sie keine Vereinfachungen auf diesem Felde hören. Auch das, was ich Ihnen soeben beschrieben habe, war leider die Wahrheit und nicht die Vereinfachung.Ich sage allerdings: Am Anfang muß eine grundsätzliche geistige Kurskorrektur stehen. Die Duldung von Massenarbeitslosigkeit, die ja in Ihren eigenen Fortschreibungen steckt — zwei Millionen Arbeitslose bis zum Jahr 2000 —, muß ein Ende haben. Der Kurs der Wirtschaftpolitik, und zwar aller Maßnahmen, muß endlich auf mehr Beschäftigung ausgerichtet werden. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir brauchen dazu zum einen eine Einkommenspolitik, die sozial und auf Beschäftigung ausgerichtet ist. Steuersenkungen, die dem kleine Mann das Geld nehmen und es anderen geben, Kindergeld, das die Kinder der Arbeiter und Angestellten schlechterstellt als die Kinder der Präsidenten des Senats oder der Minister oder der gutverdienenden Leute: dies führt nicht in Richtung Beschäftigung — glauben Sie mir das —, sondern das führt zu Spareffekten und nicht zu der Form von Nachfrage, die erforderlich ist.
Eine soziale und gerechte Einkommenspolitik ist ein wichtiger Beitrag für die Entwicklung des Arbeitsmarkts.Zweiter Punkt. Die Bundesregierung muß in Richtung Arbeitszeitverkürzung klarere Akzente setzen. Niemand bestreitet, daß Arbeitszeitverkürzungen betriebswirtschaftliche Faktoren sind. Niemand bestreitet, daß die Kosten gedeckt werden müssen. Niemand bestreitet, daß Arbeitszeitverkürzungen im Rahmen betriebswirtschaftlicher Wettbewerbsbedingungen gesehen werden müssen. Das alles sind betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Selbstverständlichkeiten.
Aber die Bundesregierung muß doch der Teufel geritten haben — um dies in diesem Hohen Hause nicht von dem Herrn Bundeskanzler persönlich zu sagen —, als man die Arbeitszeitverkürzung, die von den Gewerkschaften angestrebt war — natürlich auch im Streit angestrebt war —,
als dumm und töricht bezeichnet hat.
Heute wissen wir doch, daß von den neu geschaffenen Arbeitsplätzen — die es ja gibt — ein erheblicher Teil über die Arbeitszeitverkürzung zustande gekommen ist. Wir verdanken diese Arbeitsplätze der Standfestigkeit der Gewerkschaften und nicht der Einsicht der Bundesregierung. Das muß man klar sagen.
Drittens bedürfen wir einer Stärkung der öffentlichen Investitionen. Umweltschutz z. B. schafft Arbeitsplätze. Es ist ja Gott sei Dank nicht mehr so, daß diese Tatsache bestritten wird. Es gab eine absurde Zeit, da ging man davon aus, daß jedes neue Videoband, das gemacht wurde, Arbeitsplätze schafft, aber wenn es darum ging, für unsere Automobile Katalysatoren zu beschaffen, war das nur eine volkswirtschaftliche Belastung und wurde unter dem Arbeitsplatzaspekt nicht gesehen. Beides
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
— das eine sinnvoller und das andere weniger sinnvoll — schafft Arbeitsplätze. Wir sind dafür — und ich vertrete hier auch im Interesse des Nordens diese These —: Die Bundesregierung muß in größerem Umfange als bisher dafür sorgen, daß bei der Umstrukturierung der Wirtschaft in Norddeutschland Möglichkeiten geschaffen werden, im Umweltschutz zusätzliche Aufgaben zu erfüllen. Das ist möglich, und dafür müssen auch die entsprechenden Investitionsmittel zur Verfügung stehen.
Die Arbeitskräfte — ich sagte es — sind ja da; auch viele Facharbeiter. Es gibt zahlreiche Aufgaben von der Sanierung der Deponien zum Schutz unseres Grundwasser bis zur Grunderneuerung des Wohnungsbaus der 50er und 60er Jahre.
— Wer hier laut sagt: „Unsere Deponien sind in Ordnung", den würde ich in seinem Bundesland, wo immer er herkommt — diese Wette mache ich —, auf eine ganze Reihe von Deponien führen, wo er das in keinem Falle wiederholen kann.
Ich will auch ein Wort sagen über die Grunderneuerung unseres Wohnungsbaues. In den 50er und 60er Jahren — das wissen wir —, insbesondere in den 50er Jahren, haben wir zum Teil in der Bundesrepublik einen Wohnungsbau machen müssen, mit dessen Qualität wir heute nicht mehr übereinstimmen.
— Hier kommt eben der Einwurf: „Jetzt kommt die Neue Heimat." Ich möchte Ihnen gerne folgendes sagen: Wäre es nicht zweckmäßig, anstatt daß Sie darüber nachsinnen, wie Sie über zusätzliche Ausschüsse, die sich mit bereits aufgeklärten Tatbeständen befassen,
den Gewerkschaften und der Neuen Heimat am Zeug flicken können, daß Sie sich einmal mit mehr Phantasie um die Erneuerung des Wohnungsbaues in unserem Lande kümmerten?
Aber auch hier füge ich hinzu, so wie ich das bei der Arbeitszeit gesagt habe: Öffentliche Mittel sind begrenzt; Verschuldung ist ein Problem; die Solidität der öffentlichen Haushalte muß gegeben sein. Ich frage aber auch, ob es wirklich eine richtige Politik war, die ungeheure Ölpreissenkung volkswirtschaftlich allein im Konsum verpuffen zu lassen. Das ist doch auch eine Frage, die man sich stellen muß.
Nein, meine Damen und Herren, wenn man aus dem Norden der Republik kommt, in dem genauso fleißig gearbeitet wird wie im Süden, allerdings unter anderen historischen Voraussetzungen, dann muß man sagen — —
— Unter anderer politischer Führung? Wo? In Niedersachsen und in Schleswig-Holstein? Wie können Sie so etwas Törichtes — wenn ich das sagen darf, Herr Präsident — sagen?
Begleiten Sie mich bitte einmal bei einem Weg an die schleswig-holsteinische Westküste, wo es Arbeitslosenquoten von 20 und 30 % gibt, und reden Sie einmal dort mit den Menschen über politische Führung. Der Herr Bundesfinanzminister würde sich das von Ihnen gar nicht gefallen lassen, denn er hat doch über lange Zeit für Schleswig-Holstein die Verantwortung getragen. Ihm das hier in die Schuhe zu schieben, dem Herrn Bundesfinanzminister Stoltenberg schlechte Politik in Schleswig-Holstein, ihm die Arbeitslosigkeit in die Schuhe zu schieben, das ist doch ungerecht, das wollen Sie hier doch wohl nicht tun.
Es gab eine ungewöhnliche Chance. Der erste Ölpreisschock 1973 bis 1975 wurde von der Regierung Schmidt mit wichtigen öffentlichen Programmen aufgefangen. Ich nenne das Zukunftsinvestitionenprogramm mit der Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze. Diese Bundesregierung hatte eine vergleichbare Chance, denn es ist ja unbestreitbar, daß 1981/ 82 der Aufschwung absehbar war, daß wir in den nächsten Zyklus kamen.
— Es war international absehbar, das wissen Sie doch auch, auch daß wir uns im zweiten weltwirtschaftlichen Zyklus im Auffangen der zweiten Ölpreiskrise, also der Ölpreiskrise von Ende der 70er Jahre befinden. Aber diese Bundesregierung hat diese ungewöhnliche Chance nicht wahrgenommen. Sie hat keine nationale Verantwortung für die Beschäftigung in unserem Lande getragen.
Meine Damen und Herren, es ist allerdings weder allein durch Kaufkraftstärkung noch allein durch Arbeitszeitverkürzung noch allein durch Investitionssteigerung möglich — das will ich auch hinzufügen —, den Regionen, von denen ich sprach, in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, aber auch im Saarland, auch in der bayerischen Oberpfalz, zu helfen. Es ist kein Zweifel, daß weder Kaufkraftstärkung insgesamt noch Arbeitszeitverkürzung insgesamt noch Investitionssteigerung des Bundeshaushaltes insgesamt in diesen Regionen und für die betreffenden Gruppen der älteren Menschen, der Frauen, der Jugendlichen, der Behinderten, aber auch der Ausländer, die arbeitsberechtigt sind und zu den Benachteiligten gehören, ausreichend
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17762 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi helfen könnte. Dazu braucht man neue zusätzliche Instrumente. Ich will nicht bestreiten, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seit 1982 zugenommen haben; schaut man allerdings zurück so gab es in den Jahren davor schon einmal einen noch höheren Pendelausschlag.Nach meiner festen Überzeugung werden wir ohne einen ergänzenden Arbeitsmarkt nicht in der Lage sein, den benachteiligten Regionen und Menschen zu helfen. Meine Damen und Herren, unsere gemeinsame Phantasie und Arbeitskraft ist doch gefordert, wenn es darum geht, zu sehen, daß wir die Facharbeiter und Facharbeiterinnen mit ihrer Arbeitskraft unterbringen. Derzeit wird jedes Jahr Geld in Höhe von zig Milliarden DM für das Arbeitslossein und für Sozialhilfeempfänger ausgegeben. Diese Mittel kommen zum Teil aus Nürnberg, aber auch zu einem erheblichen Teil, was die Sozialhilfe angeht, aus den Städten. Es sind in diesem Haushaltsjahr in Hamburg 1,2 Milliarden DM, das ist fast jede zehnte Mark.Aber wir bringen es derzeit gemeinsam nicht fertig, die Kräfte und Talente, die wir in unserer Republik haben, und die Aufgaben, die es gibt, und die Finanzen, die wir ja doch ausgeben müssen, zusammenzufügen, um daraus Beschäftigung zu machen.
Hamburg hat versucht, Schritte in dieser Richtung zu tun. Wir nennen das den zweiten Arbeitsmarkt. Es muß, wenn es um die Verständigung geht, nicht so heißen. Aber es geht darum, die Aufgaben, die vor uns liegen, durch Mittel, die wir ohnehin für Arbeitslosigkeit ausgeben, erfüllbar zu machen: Tariflöhne bezahlen, soziale Sicherung geben, die Arbeitsvertäge länger abschließen als nur für zwei Jahre, eine wirkliche Perspektive zur Lösung von Projekten zu geben und damit dann auch denen zu helfen und gerade denen, die in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit nämlich nicht hoffen können, daß sie ein Konjunkturaufschwung wirklich berührt.
Meine Damen und Herren, am Ende bleibt das eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern, und ich sage auch, eine Aufgabe, die über die Parteien hinweg erfüllt werden muß. Solange aber die Bundesregierung nicht bereit ist, anzuerkennen, was sich wirklich abspielt, nämlich die soziale Abspaltung eines Teiles der Bevölkerung aus regionalen Gründen, aus Ausbildungsgründen, auch aus Qualifikationsgründen und vielleicht auch aus Leistungs- und Motivationsgründen — es handelt sich um eine zunehmende Abspaltung, die zu Armut führt und die zur Belastung der Großstädte führt —, solange also die Bundesregierung das Problem nicht sieht, kann man von ihr, so scheint mir, auch nicht erwarten, daß sie in der Lage sein wird, das Problem anzupacken und zu lösen.
Der Bundesarbeitsminister weiß, daß wir zu Gesprächen über eine strategische Perspektive bereit sind. Ich hoffe, daß eine solche strategische Perspektive im kommenden Jahr möglich sein wird. Allerdings, Herr Bundesarbeitsminister, ich erwarte sie nicht von dieser Regierung; der Kurswechsel muß grundsätzlich sein, damit wir vorankommen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon eigenartig, daß heute morgen der Regierende Bürgermeister eines sozialdemokratisch regierten Stadtstaates hier spricht und nicht Johannes Rau, der auch Ministerpräsident eines sozialdemokratisch regierten Landes ist.
Das spricht für die Feigheit von Herrn Rau, der die Auseinandersetzung hier scheut.
Jeder unserer Kanzlerkandidaten, der auch Ministerpräsident war, hat sich der Auseinandersetzung hier gestellt. Herr Rau war bis heute zu feige, dies zu tun.
— Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Schönen Dank, Herr Westphal. — Er hat sich bis heute nicht gestellt.Es berührt schon eigenartig, wenn Herr von Dohnanyi der jetzigen Regierung und der jetzigen Koalition die Arbeitslosigkeit vorwirft. Herr von Dohnanyi, Sie haben jahrelang einer Bundesregierung angehört, der SPD-geführten Bundesregierung, während deren Regierungszeit die Arbeitslosigkeit sich verzehnfacht hat.
200 000 haben Sie übernommen, fast 2 Millionen haben Sie übergeben.Wir haben in der Zwischenzeit 1 Million Kurzarbeiter abgebaut.
Und Sie haben den Mut, sich hier hinzustellen und uns deswegen noch zu kritisieren.
In Ihrer Zeit gingen 700 000 Arbeitsplätze verloren— als Sie dabeiwaren, Herr von Dohnanyi. Mit viel
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17763
Dr. FriedmannMühe haben wir jetzt etwa 600 000 wieder entstehen lassen.
— Das weist die Statistik aus, wie überhaupt, Herr von Dohnanyi, Ihr Auftritt hier eine ganze Reihe negativer Zusammenhänge im Gedächtnis entstehen läßt.
Wie war es denn? Herr von Dohnanyi, bei der letzten Bürgerschaftswahl haben Sie an die Hamburger Mieter einen Brief geschrieben, der von Unwahrheiten strotzte.
Sie haben damals den Eindruck erweckt, als würden die Mieterhöhungen, die damals durchgeführt wurden, auf unser Konto gehen.
Und in Wirklichkeit gingen sie auf Gesetze zurück, die von Ihnen verabschiedet worden waren.Herr von Dohnanyi, Sie haben eben hier Hamburger Wahlkampf geführt,
weil man Sie in Hamburg nicht mehr hören will. Warum sind Ihnen denn zwei Senatoren davongelaufen? Weil Sie in Ihrer Stadt eine unmögliche Politik betreiben und das Klima dort unmöglich ist,
weil Sie Ihre absolute Mehrheit verschwinden sehen. Wenn man Sie hier sieht und über Mülldeponien sprechen hört, dann denkt man doch zuerst einmal an Ihre Stadt und daran, was da schon alles passiert ist.
Sie haben doch jede moralische Berechtigung verloren, uns hier an den Pranger zu stellen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Laufe dieser Haushaltsdebatte hat die Opposition mehrfach den Eindruck erweckt, als seien die sozialen Leistungen zu niedrig und als seien sie auch zu stark gekürzt worden.
— Ich bedanke mich für die Bestätigung. Ich bedanke mich, daß Sie dies noch einmal bestätigt haben.Sie werden heute wahrscheinlich noch oft sagen, die nächste Rentenerhöhung mit real 2,2 % — netto —
sei zu niedrig. Sie werden wahrscheinlich sagen, das Kindergeld sei zu niedrig, und anderes mehr.
Ich möchte hier folgendes feststellen:
Der Haushalt des Bundesarbeitsministers mit 60 Milliarden DM ist zwar der größte Einzelhaushalt des Bundes, er ist aber nur Teil des gesamten Sozialbudgets.
— Ja, „aha", Herr Vogel.
Dieses Sozialbudget beläuft sich in diesem Jahr auf 604 Milliarden DM. Es ist damit um 80 Milliarden DM höher
als zu der Zeit, als Sie abgetreten sind. Das heißt zu deutsch: In unserer Zeit sind die Sozialleistungen um 80 Milliarden DM, d. h. um mehr als 15 %, gestiegen.
Oder um es noch präziser zu sagen: Seit wir regieren, sind die sozialen Leistungen pro Kopf der Bevölkerung um 1 400 DM gestiegen, nicht gesunken. Wir reden also über gestiegene Sozialleistungen.
— Freilich, uns sind Grenzen gesetzt. Trotz aller Sparmaßnahmen wird die Schuldenlast des Bundes in dieser Legislaturperiode um 107 Milliarden DM steigen. Das sehen wir ungern. Allerdings: Die Zinsen, die wir zu zahlen haben, Herr Haehser — Sie waren damals Staatssekretär im Finanzministerium —, belaufen sich in dieser Legislaturperiode auf 114 Milliarden DM.
— Mit anderen Worten, Herr Vogel:
Die Zinsen, die wir zu zahlen haben, entsprechen ungefähr dem Betrag, den wir für die Schulden zahlen müssen, die wir von Ihnen übernommen haben.
Das ist der springende Punkt. Hätten Sie keine solche Schuldenwirtschaft betrieben, hätten wir keine
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Dr. FriedmannSchulden machen müssen. Wer heute beklagt, die Sozialleistungen seien zu niedrig, dem möchte ich sagen: Das hat er der Schuldenwirtschaft der SPDgeführten Bundesregierungen zu verdanken.
Nun kommt von Ihnen immer wieder der Einwand, man könnte beim Verteidigungshaushalt sparen. Die GRÜNEN haben im Haushaltsausschuß den Antrag gestellt: 30 Milliarden DM weg beim Verteidigungshaushalt und hin zum Sozialetat und zur Rentenversicherung. Ich möchte hier feststellen: Beides ist nötig, soziale Sicherheit, aber auch die Fähigkeit, unsere Freiheit zu verteidigen. Beides ist nicht gegeneinander aufzuwiegen. Schauen Sie doch einmal in die Natur. Jedes Lebewesen, das gesund ist, will sich verteidigen und verteidigt sich, wenn es um seine Existenz fürchtet. So ist es auch bei einem gesunden Volk.
Ein gesundes Volk — das einem Lebewesen vergleichbar ist — will und muß sich verteidigen können.
Dazu gehören nun einmal die Verteidigungsausgaben.
Sie stehen also nicht zur Verfügung.
— Ich möchte keine Zwischenfragen zulassen, Herr Löffler. Meine Zeit ist begrenzt.
Nun müssen wir bei allen Überlegungen zu höheren Sozialleistungen daran denken: Wer soll denn dies bezahlen? Wer soll dies alles in künftigen Jahren bezahlen?
Es wird viel Augenmaßes bedürfen — und wir machen uns darüber viele Gedanken —, um es auch in Zukunft zu ermöglichen, die ältere Generation am Wirtschaftsfortschritt teilhaben zu lassen
und dennoch die junge Generation mit Steuern und Beiträgen nicht zu überlasten.
Denn bald werden die geburtenschwachen Jahrgänge ins Arbeitsleben eintreten. Wir werden bald der Situation gegenüberstehen, wo weniger Beitragszahler mehr Rentner und Pensionäre zu finanzieren haben werden.Ich meine, als Industrienation werden wir in der Lage sein, auch künftig unser Bruttosozialprodukt steigen zu lassen. Wir haben das Kapital, wir haben das technische Know-how, wir haben die Kenntnis der Weltmärkte, so daß auch künftig weniger Menschen mehr produzieren werden. Infolgedessen werden auch die Steuereinnahmen des Staates steigen, so daß die Voraussetzung dafür vorliegt, höhere steuerliche Zuschüsse an die Rentenversicherung zahlen zu können. Und dennoch wird die Rente beitragsbezogen bleiben müssen.
Beides widerspricht sich nicht. Das heißt, unsere ältere Generation kann die Gewißheit haben, daß wir, wenn wir die Alterssysteme in der nächsten Legislaturperiode neu ordnen müssen
— hätten Sie aufgepaßt, dann hätten Sie es eben verstanden, Herr Vogel —,
den Weg finden werden, die ältere Generation am Wirtschaftsfortschritt teilhaben zu lassen, ohne die jüngere Generation über Gebühr zu belasten.
Nun werfen Sie uns immer wieder vor — Herr von Dohnanyi hat es eben wieder getan —, wir würden durch unsere Politik die Reichen reicher und die Armen ärmer machen.
Ich möchte mich einmal mit diesem Argument auseinandersetzen.Eine übertriebene Schuldenpolitik tut z. B. genau das, was Sie behaupten. Warum? Es sind doch die Besserverdienenden, die dem Staat ihr Geld leihen, und sie bekommen dafür Zinsen.
Zu dem, was sie haben, bekommen sie etwas dazu. Woher zahlt denn der Staat seine Zinsen? Natürlich aus seinen Steuereinnahmen.
Wer bringt die meisten Steuereinnahmen? Die Lohnsteuerzahler. Das heißt, durch eine übertriebene Schuldenpolitik zahlen die Ärmeren über Steuern Zinsen an die Reicheren. Eine übertriebene Schuldenpolitik, Frau Fuchs, wie Sie sie betrieben haben,
macht Reiche reicher und Arme ärmer.
Indem wir die öffentlichen Finanzen konsolidieren, machen wir genau das Gegenteil.Ein Zweites. Auch die Inflation macht Reiche reicher und Arme ärmer. Der einfache Einkommensbezieher muß jede Mark seines Einkommens für
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Dr. Friedmannden täglichen Konsum ausgeben. Damit unterliegt jede Mark der Preissteigerung, der Inflation. Der Besserverdienende kann einen Teil seines Einkommens in Vermögenswerten anlegen, die durch die Inflation sogar an Wert gewinnen. Das heißt, durch Inflation wird der Arme ärmer und der Reiche reicher.
Unsere Politik, die der Inflation den Boden entzogen hat, bewirkt genau das Gegenteil von dem, was Sie behaupten.
Ein Drittes: Die einfachen Einkommensbezieher sind im Alter insbesondere auf unsere Sozialversicherung angewiesen. Wir haben von Ihnen Sozialversicherungssysteme übernommen, die ausgebeutet waren, deren Kassen leer waren. Im Alter benötigt der einfache Einkommensbezieher z. B. die gesetzliche Rentenversicherung. Der Arbeitslose braucht die Arbeitslosenversicherung. Indem wir diese Sozialversicherungssysteme wieder saniert haben,
haben wir eine Politik betrieben, die den einfachen Menschen, die den ärmeren Menschen eher hilft als den reichen, so daß wir genau das Gegenteil von dem tun, was Sie behaupten.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, die Zwischenrufe etwas zu reduzieren.
Nun möchte ich noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie von der SPD behaupten immer wieder, wir würden eine menschenverachtende Politik betreiben.
Ihr Kanzlerkandidat, Johannes Rau, beendet keine Rede, ohne zu sagen, es sei kalt geworden; er meint, es sei politisch kalt geworden.
Ich möchte Ihnen einmal was sagen. Kalt war es, als Helmut Schmidt die Sozialleistungen um 132 Milliarden DM kürzte.
Ich erinnere Sie, meine Damen und Herren von der
SPD, an die denkwürdige Fraktionssitzung, als Hel-
mut Schmidt als Kanzler bei Ihnen auftrat und, Herr Vogel, zu Ihnen sagte,
man müsse die Sozialleistungen noch mehr kürzen, wenn man die Finanzen sanieren wolle.
— Danke für den Hinweis.
Kalt ist es, weil Herr Rau seit 1980 in Nordrhein-Westfalen die Sozialleistungen um 2 Milliarden DM gekürzt hat
und damit Spitzenreiter im Sozialabbau unter allen Bundesländern ist.
Kalt ist es, wenn Herr Rau seinen Arbeitnehmern, und zwar 10,8 % seiner Arbeitnehmer, Arbeitslosigkeit zumutet und damit mehr als 2 % über dem Bundesdurchschnitt liegt. Kalt ist es, wenn man es — wie Herr Rau in seinem Land — zuläßt, daß die Kurzarbeiterzahl um 70 % steigt, während sie gleichzeitig im Bundesdurchschnitt um 20 % gesunken ist.
— Nein.
Herr Abgeordneter Wieczorek, der Redner hat keine Zwischenfrage zugelassen.
Kalt ist es, verehrter Herr Stahl, der Sie vom Einmaleins sprechen, wenn man die Elternbeiträge für Kindergärten von 20 auf 100 DM erhöht, wie es Herr Rau getan hat,
und damit die jungen Familien mit 395 Millionen DM zusätzlich belastet, obwohl das nordrheinwestfälische Kindergeldgesetz vorsah, daß die Beträge zu streichen seien.Kalt ist es, wenn man die Beträge für die Jugendhilfe — wie Herr Rau - um 380 Millionen DM reduziert. Kalt ist es, wenn man — wie Herr Rau — der Stiftung Wohlfahrtspflege in den letzten zwei Jahren 155 Millionen DM weggenommen hat.
Kalt ist es, wenn man — wie Herr Rau — nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von Schwerbehinderten beschäftigt und dafür im letz-
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Dr. Friedmannten Jahr 2 Millionen DM Strafe bezahlt werden mußten.
Wer so handelt, aber ganz anders spricht, und wer sich dabei immer wieder auf das Buch der Bücher beruft — wie Bruder Johannes — der muß für sich eine Bezeichnung gelten lassen, die in diesem Buch der Bücher auch vorkommt: Der ist ein Pharisäer.
Das Schicksal dieser Pharisäer ist dort genau beschrieben; Herr Rau wird ihm nicht entgehen können.
Es ist aber richtig, es ist sozial verträglich, es bekommt den Mitmenschen, wenn man — wie wir — z. B. die Sozialhilfe um 8 % erhöht, wenn man das Wohnungsgeld um ein Drittel erhöht, wenn man einkommensschwachen Familien Kindergeldzuschlag bezahlt, wenn man jungen Familien ein Erziehungsgeld bezahlt und Erziehungsurlaub ermöglicht,
wenn man, meine Damen und Herren, überhaupt eine Politik betreibt — in der Wirtschaftspolitik, in der Finanzpolitik —,
deren Folge stabile Preise, wieder neu entstehende Arbeitsplätze sind, wenn man eine Politik betreibt, die schlicht und einfach dadurch gekennzeichnet ist, daß man nicht mehr ausgibt, als man einnimmt.
— Ich wollte, da ich noch Zeit hatte, dem Publikum vorführen, wie die Sozialdemokraten auf solch einfache Wahrheiten reagieren.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren!
Wir haben gerade wieder gehört — und wir habenes am Dienstag bei der Einbringungsrede vonHerrn Minister Stoltenberg gehört —, daß Sie sehrselbstzufrieden sind und vor vordergründigen Erfolgsmeldungen strotzen. Ich muß Ihnen bescheinigen, daß Sie in der Tat Ihr Ziel erreicht haben: Sie haben nämlich auf Kosten der sozial Schwachen Ihre Klientel, die Besserverdienenden, die Unternehmer, die sogenannten Leistungsträger, gut bedient.
Auch der Entwurf des Arbeits- und Sozialhaushalts macht wieder deutlich: Armut und soziale Aussonderung eines zunehmenden Teils der Bevölkerung nehmen Sie billigend in Kauf, ja, Sie forcieren das sogar, um Ihre Klientel zu bedienen. In diesem Haushaltsentwurf wird wieder deutlich — das sind die Merkmale, die die Sozialpolitik der Neoliberalen und der Neokonservativen bestimmen —: erstens die Privatisierung des sozialen Risikos und die Einkommensumverteilung zugunsten der Leistungsstarken, zweitens die verschärfte Aussonderung der nicht oder nicht mehr Leistungsfähigen, der sogenannten Unproduktiven. Die Opfer für den sogenannten Aufschwung werden extrem ungleich verteilt. Dies verheimlicht die regierungsamtliche Erfolgsbilanz natürlich.Wie sieht denn bei uns die Wirklichkeit aus? Mehr als 2,8 Millionen Menschen sind von der Sozialhilfe abhängig. Davon erhielten im Jahre 1986 allein 2 Millionen Hilfe zum Lebensunterhalt. Das sind rund 40 % mehr als im Jahre 1981.
Trotz der Erhöhung der Sozialhilfesätze im Vorjahr um 8 % — das ist gerade gesagt worden — ist das Niveau der Sozialhilfe immer noch weit davon entfernt, ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren. Anfang 1986 erhielten von den rund 2,3 Millionen registrierten Arbeitslosen nur rund 985 000 Arbeitslosengeld — das sind 36 % —, während es 1981 noch 55 % waren. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen, die überhaupt keine Unterstützung mehr bekommen, hat sich seit 1981 verdoppelt und beläuft sich mittlerweile auf 700 000. Die Zahl der Arbeitslosenhilfeempfänger betrug 1986 630 000 und ist von 13 % auf 27 % der registrierten Arbeitslosen gestiegen. Nach Angaben von Instituten in Nürnberg kann man zu den registrierten Arbeitslosen noch 1,3 Millionen Arbeitslose rechnen, die eben nicht mehr registriert werden. Das sind vor allen Dingen Frauen und Jugendliche, die ausgesteuert werden und in die Arbeitslosenversicherung gar nicht mehr hineinkommen.Aber selbst derjenige, der Arbeitslosengeld oder -hilfe erhält, hat bei uns ein karges Leben. Das durchschnittliche Arbeitslosengeld stagniert seit 1981 bei ca. 950 DM pro Monat; die Arbeitslosenhilfe stagniert bei 800 DM pro Monat. Wir haben ja auch in den letzten Tagen gehört, daß sich die Spirale der Arbeitslosigkeit und der Armut weiter dreht, und diese Regierung dreht mit daran.Während die reale Kaufkraft von Arbeitslosenhaushalten zwischen 1980 und 1984 um ca. 14 % abnahm, stieg die Kaufkraft der Selbständigenhaushalte innerhalb derselben vier Jahre um 10 %.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17767
BuebDie Zuwachsraten der Unternehmensgewinne übertreffen mit 6,9 % im Jahre 1985 die entsprechenden Zuwächse der Arbeitnehmereinkommen um das Vierfache.Wie sieht es bei den Rentnerinnen und Rentnern aus? Auch die neuesten Studien, die im Auftrag des Arbeitsministeriums erstellt worden sind, belegen, wie skandalös und umfassend das Problem der Altersarmut ist. Ca. 19 % der Witwen verfügen über ein effektives Nettoeinkommen von unter 800 DM. Das sind 600 000 Personen in der Bundesrepublik. Nimmt man als unterste Grenze 1200 DM, die beispielsweise in unserem Nachbarland Holland als Grundrente bezahlt werden, so liegt mehr als die Hälfte unserer Rentnerinnen unter diesem Niveau.Die restriktive Politik der Umverteilung von unten nach oben, die diese Regierung hier betrieben hat, wird freilich erleichtert durch Systemmängel in unserem Sozialsystem, Mängel, für die alle etablierten Parteien gemeinsam verantwortlich sind.
Ich vermute, diese Mängel werden bewußt nicht abgestellt, um immer wieder Aussonderungen und Herabstufungen weiterer Bevölkerungsteile vornehmen zu können.Der Lebensstandard wird im deutschen Sozialstaat nur gesichert, wenn die drei Säulen der bürgerlichen Existenz — Lohnarbeit, Familie und Eigentum — dauernd, ohne Unterbrechung und auf einem sogenannten normalen Niveau vom einzelnen erfüllt werden können. Wer infolge von Arbeitslosigkeit, Behinderung oder wegen der Versorgung kleiner Kinder keiner Erwerbsarbeit nachgehen kann oder nur befristete oder ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse aufzuweisen hat, wer also keinen Partner hat, der ihn versorgen kann und zuwenig Eigentum besitzt — das sind also alle diejenigen, die keine sogenannte gutbürgerliche Existenz haben —, wird auch im Sozialstaat nicht recht geschützt; dem droht immer Armut. Das sind Systemmängel.Diese Bundesregierung hat ihr Möglichstes getan, um die Perspektive zu erreichen: daß die Arbeitnehmer noch mehr von der Willkür der Unternehmer abhängig sind. Flankierend erinnere ich an die Diskussion über die Beschneidung des Streikrechts, die Neufassung des § 116 AFG und die geplante Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes. Damit sichern Sie Ihre unsoziale Politik ab.
Sie wollen die Gewerkschaften mundtot machen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Resignation treiben.
Immer mehr Menschen kommen in unser System der sozialen Sicherung gar nicht mehr herein. Dieser Regierung haben es beispielsweise Lehrlinge zu verdanken, daß sie nach ihrem Abschluß mindestens sechs Monate statt zwei Monate weiterbeschäftigt werden müssen, um in die Arbeitslosenversicherung einbezogen zu werden. Studenten werden nach ihrem Studium, wenn sie keinen Arbeitsplatz kriegen, in die Sozialhilfe gejagt.Ich möchte einige unserer Vorschläge vortragen, die wir in den nächsten Wochen noch zu diskutieren haben. Wir haben ein Programm einer bedarfsorientierten Grundsicherung in allen Lebenslagen vorgelegt. Kein Mensch soll im Bedarfsfall weniger als etwa 1 000 DM Einkommen monatlich zur Verfügung haben. Im Alter liegt dieser Satz bei 1200 DM.
Wir schlagen eine Reform des Familienlastenausgleichs vor, je nach Alter und nicht — wie in den Plänen von CDU sowie SPD — nach der Ordnungszahl gestaffelt und damit als Gebärprämie ausgewiesen. Das Kindergeld soll zwischen 210 DM und 450 DM betragen, wobei der Betrag bei der Gruppe der Bezieher höherer Einkommen auf die Hälfte schmelzen kann.Wir werden Finanzierungsanträge und -vorschläge für die Reform des Pflegerechts im Sinne unseres Bundespflegegesetzes einbringen. Im Mittelpunkt stehen hier einkommensunabhängige Leistungen im Pflegefall ohne Alterbegrenzung. Ziel ist die Bewahrung der Selbständigkeit der Pflegebedürftigen. Sie sollen weder von pflegenden Familienangehörigen noch vom Heim abhängig werden.Wir denken, daß wir zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Überwindung von Arbeitslosigkeit nicht herumkommen, eine drastische Arbeitszeitreduzierung zu fordern. Wir müssen die 35-StundenWoche sofort einführen. Das Unwesen der Überstunden, die in der Industrie gang und gäbe sind, muß abgestellt werden. Die Überstunden müssen auf das notwendige Maß reduziert werden. Wir denken, daß wir einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft brauchen. Dieser ökologische Umbau wird nicht nur unserer Umwelt helfen und die ökologischen und sozialen Folgekosten reduzieren, sondern wir werden mit einem ökologischen Umbau auch mehr Arbeitsplätze schaffen können.
Wir haben in unserem Umbauprogramm durchgerechnet, daß wir mit einem solchen Maßnahmenkatalog in der nächsten Legislaturperiode mindestens 2 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen können. Das wäre meiner Meinung nach wirklich eine bessere und zielgerichtetere soziale Politik.
Die Maßnahmen zur Armutsbekämpfung sind natürlich nicht billig, aber das Geld dafür wäre gut angelegt.
— Wir haben dazu, Herr Kolb, hinreichende Dekkungsvorschläge gemacht;
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Buebaber Sie sind natürlich blind, weil Sie Ihre Unternehmerklientel — Sie sind selber Unternehmer — bedienen wollen. Wir sagen nicht, daß das billig ist, und wollen auch deswegen die Bevölkerung nicht belügen.Noch ein Wort zur SPD. Frau Fuchs, wenn Sie sagen, Ihre Grundsicherung, die Sie in Nürnberg beschlossen haben, kostet — so habe ich es jedenfalls in der Zeitung gelesen — rund 3,5 Milliarden DM, dann frage ich Sie, was Sie eigentlich damit machen wollen. 3,5 Milliarden DM reichen gerade aus, die Sozialhilfeempfänger auf ein normales Niveau zu bringen, daß sie ein wirklich menschenwürdiges Leben haben.
Aber Sie können doch die Öffentlichkeit hier nicht belügen, daß Sie mit 3,5 Milliarden DM praktisch die ganzen Sozialstreichungen rückgängig machen können. Ihr Herr Rau -- ich zweifle, ob man dem glauben kann — sagte im letzten Jahr, er werde alle Kürzungen der Sozialleistungen wieder rückgängig machen.
Einen Tag später hat er das praktisch wieder zurückgenommen. Wenn das auch in Ihrem Programm so sein sollte, dann gute Nacht, Sozialdemokratie!
Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Sie haben bereits 1975 mit dem Sozialabbau angefangen, Sie sind also an diesem Sozialabbau auch mit schuldig. Sie können in der Öffentlichkeit also nicht sagen: Wir sind die Garanten der sozialen Sicherheit. Das ist bestimmt nicht so.
Ich sagen Ihnen: Wenn unsere Vorschläge durchgesetzt würden, würde das eine konsensfähige Politik ergeben.
Sie würde den Pflegebedürftigen helfen, sie würde die Armut angehen, und für die Gleichstellung der Frau — dazu haben Sie z. B. in Nürnberg auch überhaupt keine Vorschläge gemacht — würde sie einen wesentlichen Beitrag leisten. Ich meine, das müßte Teil einer konsensfähigen Politik sein, ohne die ein Gemeinwesen langfristig in eine Horde sich bekriegender Einzelinteressen zerfallen wird.Danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Herr Kollege Bueb, möchte ich Ihnen, dem Unternehmerkollegen Bueb, den persönlichen Wunsch übermitteln,
daß Sie nicht auf Grund Ihrer von dieser Stelle gemachten Ausführungen und der Ergebnisse einer solchen Politik in Ihrem Unternehmen mehr Verluste als Gewinne machen. Die Folge dieser Verluste, wären sicher Arbeitsplatzverluste, die sich niemand wünscht.
Insofern kann ich Ihnen nur wünschen, daß Sie die Ergebnisse Ihrer eigenen Vorstellungen nicht erleben müssen.
Meine Damen, meine Herren, wer die Redner der Opposition am Dienstag gehört hat, muß enttäuscht sein. Ein altes Strickmuster ist uns vorgeführt worden: Schwarzmalerei, Schürung von Angsten, apokalyptische Visionen. Wer die Wirklichkeit in unserem Lande kennt und sich das vor Augen hält, was uns hier geschildert worden ist, der muß den Eindruck haben: Man lebt in zwei völlig unterschiedlichen Welten.
— Also, Frau Kollegin Fuchs, auch Ihre Zwischenrufe können mich nicht — wenn es mir auch schwerfällt — veranlassen, dafür einzutreten, daß die Frauen in der Politik mehr zu sagen haben.
Weil so unterschiedliche Bilder gezeichnet werden, möchte ich doch noch einmal darauf hinweisen, daß wir von unserem Bruttosozialprodukt von 1900 Milliarden DM immerhin 600 Milliarden DM für soziale Transferleistungen in welcher Form auch immer ausgeben. Das ist weltweit gesehen und gemessen an den Bruttosozialprodukten anderer Länder Spitze. Wer da mehr will, muß auch sagen, auf wessen Kosten.Wir geben für unsere soziale Sicherheit immerhin ein Drittel unseres Bundeshaushalts aus. Die soziale Landschaft unserer Republik, an der es im Detail sicher manches zu verbessern gibt, ist weitaus besser als ihr Ruf. Es gibt weitaus mehr Licht als Schatten.Wir haben in dieser Legislaturperiode, auch wenn es der Opposition verständlicherweise nicht paßt, erhebliche Erfolge erzielt.
Die Systeme unserer sozialen Sicherheit sind besser finanziert, Egon Lutz. Wir haben Überschüsse in der Arbeitslosenversicherung,
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Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17769
Cronenberg
Von der Liquidität der Rentenversicherung redet niemand mehr.Und nun, Kollege Urbaniak, die Antwort auf Ihre Bemerkungen. Das ist auch Antwort auf den Bürgermeister; ich nehme an, Herr Bürgermeister, Sie sind sozusagen als Kanzlerkandidat-Stellvertreter hier aufgetreten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, lassen Sie mich die Gedanken zur Arbeitslosigkeit zu Ende führen. Dann werde ich gern Gelegenheit zu Zwischenfragen geben.
Herr Bürgermeister - Egon Lutz, vielleicht ist das schon die Vorwegnahme der Antwort auf die Frage —, man mag sich ja jetzt um 5 000 oder 10 000 oder auch 50 000 Arbeitslose streiten. Aber unbestreitbar ist folgendes: Wir haben mehr offene Stellen; wir haben beachtlich mehr Beschäftigte — übrigens eine Ursache, warum in der Rentenversicherung die Liquidität so viel besser geworden ist —; wir haben viel weniger Kurzarbeit und, wenn man die Dinge richtig betrachtet — Egon Lutz ist ja Fachmann genug —, einen beachtlichen Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit.
Dies alles zusammen ist sicher nicht das Endziel, das wir uns wünschen. Aber es ist ein kräftiger Schritt in die richtige Richtung. Die Großzügigkeit der Oppositionsabgeordneten, die ja im Detail manches kritisieren mögen, müßte eigentlich so weit gehen, daß man mindestens diesen Trend anerkennt, und zwar dankenswerterweise anerkennt.
Herr Bürgermeister, Frau Kollegin Fuchs hat uns einmal im alten Haus für das laufende Jahr 3 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Wir haben eine runde Million weniger, und zwar auf Grund der von Ihnen kritisierten Politik.
Dankenswerterweise — ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, Herr Bürgermeister — haben Sie zumindest erkannt, daß es einen Zusammenhang zwischen der Arbeitszeitverkürzung und den betriebswirtschaftlichen Folgen gibt.
Schauen Sie, wenn Sie uns in den lohnintensiven Betrieben die Kosten hochtreiben und wir auch wegen der Dollarveränderungen und anderen weltwirtschaftlichen Faktoren unsere Produkte nicht mehr verkaufen können, dann können Sie die Arbeitszeit so viel verkürzen, wie Sie wollen, dann werden die Leute nach Hause geschickt, weil keine
Aufträge vorhanden sind, und das ist das, was von Ihnen immer wieder verkannt wird.
Sie haben auch keine Rezepte geliefert. Sie haben aber richtigerweise erklärt, die Ursachen seien Strukturprobleme. Richtig, das sind Strukturprobleme. Auch mir paßt es nicht, das subventioniert Kohle aus der Erde geholt, auf eine subventionierte Eisenbahn gepackt und mit einer subventionierten Eisenbahn in ein subventioniertes Stahlwerk befördert wird und das Blech des subventionierten Stahlwerks auf der subventionierten Eisenbahn in eine subventionierte Werft transportiert wird. Und zum Schluß werden dann in Hamburg auf einer subventionierten Werft die Schiffe gebaut. Das ist, zugegeben, sicher kein Musterbeispiel von Marktwirtschaft.
Deswegen versuchen wir ja, nicht Beschäftigung über diesen Weg zu schaffen oder zu erhalten, sondern den Strukturwandel zu fördern.
Darf ich noch einmal fragen, wann Sie die Zwischenfragen zulassen?
Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende führen, Herr Präsident.
— Nein, mich berührt das.
Uns wird vorgeworfen, wir schafften eine Zweiklassengesellschaft. Herr Bürgermeister, ich will Ihnen einmal was sagen, wie die Zweiklassengesellschaft aussieht. Für den Stahlarbeiter in Bochum, für den Werftarbeiter in Hamburg wird etwas gemacht; aber für den Mann aus dem strukturbedrohten Gebiet der Textilindustrie im Münsterland, der aus einer kleinen Bude kommt, interessiert sich kein Mensch, für den wird nichts getan. Das ist die Zweiklassengesellschaft, die hier propagiert wird.
Hier muß sauber unterschieden werden.
So, nun möchte ich eine Zwischenfrage zulassen, wenn sie nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Also gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lutz? — Bitte sehr.
Herr Kollege Cronenberg, Ihre sehr überraschenden Darlegungen im Hause veranlassen mich, Sie zu fragen: Stimmt es, daß die Überschüsse bei der Bundesanstalt für Arbeit dadurch entstanden sind, daß die Leistungen an Arbeitslose gekürzt wurden und ausschließlich daraus entstanden sind? Zweitens, Herr Kollege Cronenberg, wollen Sie leugnen, daß die Bundesanstalt für Arbeit
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17770 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Lutzselbst den Gesamtumfang von Arbeitsnachfragenden auf 3,6 Millionen beziffert?
Herr Abgeordneter, Sie fragen etwas, was Sie wissen.
Aber damit es auch das Haus weiß, antworte ich. Erste Ursache ist: mehr Beschäftigte, höhere Einnahmen durch Beiträge.
— Da sind wir beide einverstanden. Zweite Ursache, die beklagenswert ist, sind Auslaufen des Arbeitslosengeldes, Umschichtung auf den Bundeshaushalt, Arbeitslosenhilfe. Dies ist eine Ursache, die nicht von uns und Ihnen gewünscht ist.
Als dritte, aber geringste, wirklich am Rande zu erwähnende Ursache: eine gewisse Leistungskürzung.
— Nein, nein, damit das mal klar ist: Für den normalen Arbeitslosen sind die Leistungen überhaupt nicht gekürzt worden. Gekürzt worden ist — —
— Das ist ja nicht wahr, Frau Kollegin Fuchs. Ich kann nur auf meine Eingangsbemerkung bezüglich Ihrer Zwischenrufe hinweisen.
Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren, ich möchte hoffen, daß wir alle zusammen mindestens in einem Punkt einer Meinung sind: Es kann in der Sozialpolitik nur Erwirtschaftetes verteilt werden. Wenn ich diesen Grundsatz anerkenne, dann ist es entscheidend, daß möglichst viel erwirtschaftet wird, was, wenn Sie so woilen, nichts anderes heißt als Wachstum. Es ist wohl selbstverständlich, wenn man das will, daß man sich dann auch des effektivsten Wirtschaftssystems, nämlich der sozialen Marktwirtschaft, bedienen muß, weil sie in der Lage ist, die Menschen mit Gütern und Dienstleistungen optimal zu versorgen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Urbaniak?
Ich möchte wissen, ob das auf meine Redezeit geht; sonst ja.
Ich würde eine weitere Zwischenfrage nicht anrechnen.
Dann bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Cronenberg, Sie sprechen von den subventionierten Stahlwerken, von der subventionierten Bundesbahn, von den subventionierten Werften. Ist Ihnen eigentlich nicht klar, daß die deutsche Stahlindustrie nicht eine müde Mark benötigte, wenn diese Bundesregierung das Subventionsunwesen in der EG entscheidend bekämpft hätte? Bei den Milliarden und Abermilliarden der anderen Finanzminister reicht die beste Tüchtigkeit deutscher Stahlarbeiter nicht aus, dagegen anzugehen. Tun Sie etwas dagegen!
Verehrter Koilege Urbaniak, in Ihrer Bemerkung steckt sehr viel Richtiges. Darin steckt zunächst einmal die richtige Theorie, daß es fast aussichtslos ist, gegen die Haushalte anderer Länder im Wettbewerb anzukämpfen. Deswegen ist es nötig, daß sich die Bundesregierung bemüht, daß dieser Subventionswettlauf eingestellt wird. Aber der Grundgedanke, den ich Ihnen eben verdeutlichen wollte, ist, daß das die gleiche Situation auch in anderen Branchen ist. Wir kämpfen in der Konsumgüterindustrie in vielen Bereichen mit ähnlichen Verhältnissen. Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor, es käme jemand dahin und würde von der Bundesregierung verlangen, sie solle eine Textilhalde oder eine Zangenhalde, eine Pflughalde, eine Sensenhalde aufbauen.
Man würde sich der Lächerlichkeit aussetzen. Das ist die Problematik.
— Herr Präsident, ich bitte um Verständnis, daß ich nun meine Gedanken zu Ende bringen möchte.Meine Damen und Herren, wenn — um diesen Gedanken noch einmal aufzugreifen — die Soziale Marktwirtschaft das ideale Instrument ist, um den Kuchen zu vergrößern — nur ein größerer Kuchen versetzt uns j a in die Lage, auch im Bereich der Sozialpolitik mehr zu leisten —, dann möchte ich in diesem Zusammenhang an Mackenroth erinnern, der an die Sozialpolitik die Forderung gestellt hat, daß ihre Maßnahmen nichts enthalten dürften, was mit der Produktivität der Wirtschaft, mit der Steigerung des Bruttosozialprodukts in Konflikt gerate. Das tun aber alle Ihre Vorstellungen. Letzten Endes bleibt dieses Bruttosozialprodukt, bleibt der dafür zur Verfügung stehende Kuchen der einzige tatsächlich verfügbare Freiheitsgrad — so Mackenroth —, der die Steigerung des Sozialaufwands überhaupt zuläßt.Genau wegen dieser Einstellung werden wir häufig von Sozialisten und gelegentlich auch von Möchtegern-Liberalen als sogenannte Wirtschaftsliberale diffamiert. Meine Damen und Herren, richtig ist, daß sich Liberalität nicht nur auf einen Lebensbereich erstrecken darf. Sie muß überall gelten. Das ist die Politik der FDP, wovon Sie sich in diesen Tagen überzeugen konnten.
— Ich denke an das Asylrecht oder anderes. Hochverehrter Herr Kollege Vogel, das darf man von die-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17771
Cronenberg
ser Stelle aus einmal sagen. So ist es ja nicht, wie Sie es hinstellen.
Richtig aber ist, daß wir uns viel, viel Mühe um eine funktionierende Wirtschaft machen, weil wir sie eben als Voraussetzung für eine vernünftige Sozialpolitik betrachten.
Deswegen habe ich es ungeheuer bedauert, daß der Kollege Apel, den ich sonst sehr, sehr schätze, am Dienstag hier erklärt hat, er bedauere es, daß die Unternehmenssteuern gesenkt worden sind. Gleichzeitig hat er richtigerweise festgestellt, daß die Zahl der Pleiten in der Republik steigt.
Meine Damen und Herren, es gibt einen unleugbaren Zusammenhang zwischen Pleiten, Eigenkapital und Steuerbelastung.
Dieser Zusammenhang wird aber von ihnen geleugnet. Deswegen möchte ich noch einmal sagen: Das Senken von Steuern insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen ist nichts anderes als eine Pleitenverhinderungspolitik. Das ist aktive Beschäftigungspolitik. Wenn Sie das wollen, müssen Sie das unterstützen und nicht bekämpfen.
Ich zweifle nicht am guten Willen auch einiger Abgeordneter der SPD-Opposition.
Sie haben aber eines nicht begriffen. Ohne den Streit aus der alten Koalition fortsetzen zu wollen, sage ich: Es gibt im Grunde genommen nur drei Möglichkeiten, wie Sie Sozialleistungen finanzieren können. Die erste Möglichkeit sind höhere Steuern und höhere Abgaben. Das wollen Sie und erklären es auch dankenswerterweise in aller Offenheit. Uns beschimpfen Sie, wir seien eine Steuersenkungspartei. Das muß man ertragen können.Dabei wird völlig übersehen — Herr Dohnanyi, ich muß auch da wieder an Ihre Rede anknüpfen —: Außer diesem Geldverteilen gibt es noch eine ganz gute Möglichkeit, das Geld zu verwenden, nämlich das Geld in den Taschen der Bürger zu lassen. Da ist es doch besser aufgehoben als in den Verteilungsapparaten.
Die zweite Möglichkeit sind höhere Schulden. Die halten wir ebenfalls für falsch; denn dann müssen die Leute für die Zinsen arbeiten und nicht für ihre eigenen Ausgaben.Drittens könnte man natürlich Geld drucken. Das wollen alle nicht. Das wäre Diebstahl am Sparer. Das unterstelle ich nicht einmal der Opposition, jedenfalls nicht Ihnen.
— Nicht allen, Frau Kollegin.
-- Das ist natürlich eine spezielle CSU-Variante, die mit dem Himmel in Zusammenhang steht. Ich leugne das nicht.
Die einzig sinnvolle Methode, die Dinge in Ordnung zu bekommen ist, den Kuchen zu vergrößern. Das wird dann als Wachstum diffamiert. Aber in jedem Fall ist es notwendig, um soziale Gerechtigkeit zu praktizieren.Wo sozialer Ausgleich notwendig ist, wo Transferleistungen erforderlich sind, müssen die Mittel möglichst effektiv eingesetzt werden. Deswegen sind wir gegen jede Art von Gießkannensystem.Meine Damen und Herren, meine Zeit geht jetzt zu Ende. Ich möchte daher, weil ich mir das vorgenommen hatte, stichwortartig noch einige Bemerkungen zur Rentenversicherung machen, weil es dort manche Gemeinsamkeit gibt, die ich von dieser Stelle aus als lobenswert erwähnen möchte. Ich fasse die Positionen der FDP zur Rentenversicherung wie folgt zusammen:Wir wollen die Stärkung des Versicherungsprinzips, auch die Neubewertung beitragsfreier und beitragsgeminderter Zeiten. Wir wollen die Übernahme der versicherungsfremden Leistungen durch den Bund, also durch die Erhöhung des Bundeszuschusses. Wir wollen nettoähnliche Rentenanpassung und Ergänzung der Rentenformel um eine demographische Komponente, um zusätzliche Belastungen der Beitragszahler in Grenzen zu halten, ohne die Rentner von der wirtschaftlichen Entwicklung abzukoppeln. Wir wollen mehr Wahlfreiheit für den einzelnen beim Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand ohne zusätzliche Belastung der Solidargemeinschaft. Wir wollen größere konjunkturelle Unabhängigkeit in der Rentenversicherung.
Wir wollen angemessene Berücksichtigung der Kindererziehung als Beitrag zum Generationenvertrag,
selbstverständlich aus Steuermitteln finanziert, Herr Bundesfinanzminister.
Langfristig wollen wir eine Veränderung der ungünstigen Relation von Rentenlaufzeit zu Beitragszeit, auch durch Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab Mitte der 90er Jahre.
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17772 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Cronenberg
Wir wollen keine Veränderung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge.
Alles dies sind Positionen, die zwischen den Fraktionen — mit Ausnahme der GRÜNEN — nicht so umstritten sind, daß wir nicht darüber reden könnten. Ich freue mich deshalb — das ist keine Taktik —, und ich hoffe, daß wir in dieser Frage zum Konsens kommen können, bei allen Unterschieden, die sich im Detail ergeben mögen.Deswegen habe ich eine ganz ernstgemeinte Bitte; denn es ist leider in den vergangenen Wahlkämpfen, beginnend in den schon länger zurückliegenden Wahlkämpfen, zur Tradition geworden, daß die jeweilige Opposition durch Verunsicherung der Rentner glaubt Stimmen sammeln zu können.
Wenn wir jetzt vor dieser notwendigen Strukturreform stehen — und dieses System ist reformwürdig und reformfähig, das sage ich, und das sagt auch die Mehrheit in den meisten Fraktionen und Parteien —, wenn dieses reformfähige und reformwürdige System mit so vielen gemeinsamen Ansätzen reformiert werden kann, dann wäre es traurig, wenn diese positiven Ansätze mit billigen Methoden im Wahlkampf zerstört würden.Meine ernstgemeinte Bitte an uns alle wäre, diese gemeinsamen Ansätze nicht durch eine Rentnerverunsicherungskampagne
in Gefahr zu bringen. Hierfür bitte ich um Zustimmung, und das, Eugen Glombig, dürfte auch dir nicht schwerfallen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Sieler.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich mich zuvor meinem Kollegen Bernhard Friedmann zuwende.
Ich habe eigentlich den Kollegen Friedmann immer als einen sehr nüchternen und kühlen Rechner kennengelernt.
Nach dem, was Sie, Herr Kollege Friedmann, heute vorgetragen haben, werde ich wohl mein Urteil überprüfen müssen.Lassen Sie mich Ihnen einige Zahlen nennen — ich werde im Laufe meiner Ausführungen darauf noch einmal zurückkommen —: Allein Ihre Behauptung, die nach dem Schwerbehindertengesetz zu leistende Ausgleichsabgabe liege in Nordrhein-Westfalen über 3 Millionen DM
— oder über 21/2 Millionen, wie es der Bundesarbeitsminister sagt, stimmt zunächst einmal nicht. In 1985 beträgt diese Zahl genau 1,5 Millionen.
— Warten Sie einmal! — In Bayern beträgt die Ausgleichsabgabe 5 Millionen,
in Baden-Württemberg, in Ihrer Stammheimat, Herr Kollege Friedmann, 5,4 Millionen,
in Niedersachsen 2,7 Millionen, in Schleswig-Holstein so viel wie in Nordrhein-Westfalen: 1,4 Millionen.
Herr Kollege Friedmann, ich muß also hier feststellen. Das war ein wirklich klassisches Eigentor, das Sie geschossen haben.
Es ist schon makaber, daß Sie, Herr Dr. Friedmann,
den Ersten Bürgermeister der Hansestadt Hamburg hier kritisieren, weil er nichts anderes getan hat, als die Auswirkungen genau Ihrer Politik auf die Städte und Gemeinden aus der Sicht seiner Verantwortung hier einmal deutlich zu machen.
Nun lassen Sie mich zum Thema einiges sagen,
zum Thema der Einbringung dieses Haushalts; darum geht es ja wohl.Meine Einschätzung, daß sich die Redner der Koalition in den vergangenen zwei Tagen vergeblich bemüht haben, die Finanz- und Haushaltspolitik dieser Regierung in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen, bestätigt sich zunehmend. Der Lack ist ab, meine Damen und Herren.
Aufgedeckt ist im Kassenbuch unserer Nation eine Politik der Umverteilung von unten nach oben, eine Politik der sozialen Ungerechtigkeit und Ausgrenzung von Millionen Menschen in unserer Gesellschaft. Sichtbarer Beweis Ihrer Politik ist die anhaltende Arbeitslosigkeit, über die wir j a hier ständig zu reden haben, von über zwei Millionen Menschen, und das trotz einer günstigen konjunkturellen Entwicklung und trotz günstiger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, was gestern der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt noch einmal deutlich
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17773
Sieler
gemacht hat, die — und das ist das, was wir Ihnen zum Vorwurf machen, meine Damen und Herren — die Bundesregierung nicht zu einer aktiven Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit genutzt hat, weder in den vergangenen Haushaltsjahren noch im vorliegenden Haushalt 1987; im Gegenteil, die Bundesregierung macht über zwei Millionen Arbeitslose zur Grundlage ihres Haushalts auch 1987 und schreibt dies in ihrer mittelfristigen Finanzplanung bis 1990 fort.
Bei den klassischen volkswirtschaftlichen Zielen wie Geldwertstabilität, wirtschaftliches Wachstum, außenwirtschaftliches Gleichgewicht hat die Vollbeschäftigung bei dieser Regierung überhaupt keinen Stellenwert mehr.
Wer die Frage nach dem Nutzen einer solchen Politik stellt, kommt sehr schnell zu der Erkenntnis: Der breiten Masse unserer Bevölkerung, den Arbeitnehmern, gilt die Fürsorge dieser Regierung nicht.
Damit das Zahlenwerk der monatlichen Arbeitslosenstatistik etwas günstiger erscheint, mußte ja eine kosmetische Operation herhalten; Herr Kollege Friedmann, Sie werden sich daran erinnern. Mit der siebenten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz haben Sie dafür gesorgt, daß die Zahlen heute etwas — ich sage: etwas — günstiger erscheinen.Trotzdem ist und bleibt die bedauerliche Tatsache der Langzeitarbeitslosigkeit für derzeit über 600 000 Menschen und ihre Familienangehörigen bittere Realität. Hinter der Zahl von 2 120 234 registrierten Arbeitslosen und der rund 1,2 Millionen sogenannter stiller Reserve verbergen sich ebenso viele menschliche Schicksale und sehr oft eine menschliche Tragödie.
Wer sich einmal die Mühe macht, mit den Beratern und Vermittlern der Arbeitsämter zu sprechen und in den Arbeitslosentreffs der Kirchen, der Gewerkschaften und der Wohlfahrtsverbände mit den Betroffenen selber zu reden, der weiß es, und er würde vielleicht die Sorgen, die einem dort zu Ohr kommen, auch hier in der Debatte etwas anders behandeln, als es leider geschieht und wie es auch der zuständige Minister in seiner forschen Art immer wieder getan hat.
Von 1982 bis 1986 hat sich die Zahl der Arbeitslosenhilfeempfänger auf über 600 000 verdreifacht. Die Kosten hierfür stiegen auf fast 10 MilliardenDM im Haushalt des Arbeitsministers, exakt auf 9,3 Milliarden DM.
Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe betrug im August dieses Jahres 812,88 DM. Das ist allerdings eine Durchschnittszahl in der Statistik der Bundesanstalt. Sie besagt, daß viele Arbeitslosenhilfeempfänger für die Sicherung ihres Lebens weniger im Monat zur Verfügung haben und damit leben müssen. Rund ein Drittel der Arbeitslosenhilfeempfänger haben noch zusätzlich Anspruch auf Sozialhilfe. Fast 40 % der registrierten Arbeitslosen haben überhaupt keine Ansprüche auf Leistungen aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit, und ein großer Teil davon ist ebenfalls auf die Sozialhilfe angewiesen. Bei dieser Sachlage muß jeder Sozialhilfeempfänger, muß jeder Arbeitslose die vom Bundeskanzler empfohlene Atempause in der Sozialpolitik wie blanken Hohn empfinden.
Als Folge der Massenarbeitslosigkeit und des Sozialabbaus ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger auf rund 2,6 Millionen gestiegen. Diese Regierung — Herr Kollege Friedmann, Sie haben das vorhin auch noch einmal versucht — ist stolz auf diese Steigerungsrate. Diese Steigerungsrate sollte Sie eigentlich nachdenklich stimmen; denn eine Steigerung von Arbeitslosenhilfe in diesem Ausmaß und der Sozialhilfe in dieser Form ist weiß Gott keine Heldentat dieser Regierung.
Dies ist einer der traurigen Rekorde dieser Regierung und des Kanzlers.Bei den Trägern der Sozialhilfe, den kommunalen Gebietskörperschaften sind die Sozialhilfeausgaben in der gleichen Weise explodiert, wie der Bund zur Haushaltssanierung die Groschen bei den sozial Schwachen eingesammelt hat. Von 1982 bis 1985 sind die Sozialhilfeaufwendungen von 16,3 auf 20,8 Milliarden DM gestiegen. Kein Wunder, daß den Gemeinden und den Städten damit die Mittel für dringende Vorsorgeinvestitionen fehlen. Meistens sind es dann auch noch die Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit und strukturellen Schwierigkeiten, die die Suppe auszulöffeln haben, die Sie ihnen eingebrockt haben.Die Versprechungen der Bundesregierung den Bürgern notwendige Opfer zur Sanierung der öffentlichen Haushalte sozial gerecht aufzuerlegen, sind ins Gegenteil verkehrt worden. Diese Sparpolitik ist in höchstem Maße unsozial. Die kleinen Leute wurden belastet, und die besser Verdienenden kamen ungeschoren davon.
Die Bilanz dieser Regierung, Herr Bundesarbeitsminister, ist katastrophal:
die höchste Zahl der Arbeitslosen, die höchste Zahlder Sozialhilfeausgaben seit 1949, die höchste Zahlder Firmenpleiten, die größte Belastung an Steuern
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17774 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Sieler
und Abgaben seit 1949, die höchsten durchschnittlichen Krankenversicherungsbeiträge, die höchste Steuersubvention seit 1949.
Es wird Zeit, daß diese Regierung abgelöst wird.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Waffen der Haushaltsdebatte — das zeigen auch diese Tage — sind Zahlen, Prozentsätze, Statistiken. Auch ich will mich an diesem Zahlenaustausch beteiligen.Zahlen vermitteln ja Objektivität, doch ich zähle auch zu denen, die sagen wie der Kollege Sieler eben: Seid vorsichtig, daß hinter den Zahlenkolonnen nicht die menschlichen Gesichter verschwinden,
weil in der Objektivierung auch eine Flucht in die Anonymität stehen kann. Anonymität schützt vor Mitleid, und schlimm wäre eine Gesellschaft ohne Mitleid, sie wäre im wahrsten Sinne des Wortes unsympathisch.Deshalb geht es auch in der Haushaltsdebatte um mehr als um ein Zahlengefecht. Es geht ja in der Demokratie um Alternativen, also um die Wahl — Gott sei Dank haben wir die Wahl — zwischen mehreren Möglichkeiten. Wir müssen uns davor hüten, daß wir in dem Gestrüpp von Zahlen, Kommastellen, Prognosen die Alternativen verwischen, so daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Wenn es gilt, einen Hauptnenner für diese Alternativen zu suchen, so schlage ich vor: Der Wettkampf um die Zustimmung der Wähler geht zwischen zwei Mentalitäten: Zuversicht oder Verzagtheit. Ich kann es auch sportlich ausdrücken: „Rot-Grün Zittern und Zagen" gegen „Frischauf Zukunft und Zuversicht". Das ist die Alternative.
Die große Sozialdemokratische Partei — ich sage das mit Respekt — ist in Gefahr, mit einer spätbürgerlichen Bewegung des Kulturpessimismus und der Zivilisationskritik zu „konfusionieren". Das ist der Ausstieg aus der großen Fortschrittstradition der Arbeiterbewegung. Nach 13 Jahren, in denen schon die kleinste Veränderung mit dem Trommelwirbel der „inneren Reform" angekündigt wurde — Horst Ehmke, der ehemalige Kanzleramtschef hatte mal für jeden Tag eine „innere Reform" angekündigt —, nach dem Hoch des Fortschritts sind nun Katzenjammer, Krise, Untergang und Katastrophe die neue Kulisse des sozialdemokratischen Szenariums. Nur wer Untergang, Krise und Katastrophe richtig beschreiben kann, ist ein guter Sozialdemokrat. Katastrophenprofis, Untergangsexperten, Depressionsberater, das ist die Frustrations-schickeria.
Ja, vom relativ gesicherten Platz spielt man mit prickelnder Langeweile Untergang, sozusagen Titanic im Trockendock, Höllenfahrt auf Video.
Ich stelle unsere Welt nicht als eine harmlose Idylle dar, ganz und gar nicht. Wir stehen in großen Herausforderungen, den Frieden zu sichern, Armut und Elend auf der Welt zurückzudrängen,
Arbeitslosigkeit zu beseitigen, Umwelt zu schützen, neue Techniken zu beherrschen. Aber ich bin ganz sicher: Wer uns die Zuversicht nimmt,
nimmt uns auch die Kraft, mit diesen Herausforderungen fertig zu werden.
Zeiten des Umbruchs — und wir leben in einer solchen — sind nicht nur Zeiten der Bedrohung,
sondern auch Chancen, Neues zu beginnen. Zeiten des Umbruchs: Wahrscheinlich kommt eine Epoche an ihr Ende, aber wir werden sie doch nicht durch Nostalgie bewältigen. Diese Postkutschenfahrer werden schon nervös, wenn die Deutsche Bundesbahn drei Minuten Verspätung hat. Das ist doch nicht die Zukunft.
Wir werden doch die Muster für die Bewältigung der Zukunft nicht aus der Vergangenheit entnehmen können.
War die Vergangenheit, so frage ich, wirklich so gut? Vor 100 Jahren war das durchschnittliche Lebensalter 35 Jahre, heute haben wir über 74 Jahre. Zwei Drittel der Arbeitnehmer erlebten noch vor zwei Generationen gar nicht das Rentenalter. Wenn unsere Welt so wäre, daß jeder Lufthauch ein Gifthauch und jede Speise eine Bedrohung wäre, dann frage ich mich, warum die Menschen immer älter werden. War es denn so, daß die Leute früher mit 35 Jahren fröhlich gestorben sind, während sie sich heute bis 80 durchjammern?
Ja, ich gebe zu, damals in der „guten alten Zeit" gab es kein Tschernobyl, Gott sei Dank. Die Menschheit wurde aber durch Volksseuchen be-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17775
Bundesminister Dr. Blümdroht, Pest, Cholera, Blattern, Syphilis und Hungersnöte entvölkerten ganze Landstriche.
Ich bekenne mich nicht zu einer Idylle, aber ich bekenne mich dazu: Fortschritt ist möglich, auch noch in dieser Zeit!
Leszek Kolakowski, einer der großen polnischen Philosophen, hat die politischen Bewegungen eingeteilt in ihrem Verhältnis zur Zeit und die Linken als zukunftsoffen und optimistisch, die Rechten als vergangenheitsbezogen und pessimistisch bezeichnet. Nach diesem Schema ist die SPD längst in Gefahr, bei den Reaktionären eingestuft zu werden.
Offenbar macht ja Miesmachen auch konfus.
— Ja, Herr Vogel, machen Sie weiter, Befehl: Kein Zwischenruf; das macht den Blüm besser.
Wer es in den letzten Reihen noch nicht gehört hat, weiß es jetzt. Das ist Amtshilfe.Die Haushaltsrede liefert dafür Beispiele. Einerseits beklagt sich die SPD über zu hohe Steuern, aber andererseits ist sie gegen Steuersenkungen. Die SPD beklagt sich über zu hohe Sozialbeiträge, wirft uns aber Sparen im Sozialbereich vor. Sie will — und das ist ihr Betriebsgeheimnis — mit weniger Einnahmen mehr Ausgaben finanzieren. Ich suche schon lange eine Bank, wo man durch Entnahme sein Konto erhöht.
Man kann nicht gleichzeitig vorwärts- und rückwärtsfahren.Ich bin wie Sie für Subventionsabbau. Aber wenn Sie durch Subventionsabbau alles Sparen überflüssig machen wollen, dann muß ich fragen: Sollen wir die Kokskohlenbeihilfe abbauen? Die kostet im nächsten Jahr 2,1 Milliarden DM. Sollen wir die Anpassungsgelder und soziale Hilfsmaßnahmen, Herr Kollege Urbaniak, für Kohle und Stahl abbauen? Sie machen im nächsten Jahr 400 Millionen DM aus. Sollen wir die Kolleginnen und Kollegen in der Werftindustrie, Herr Dohnanyi, und in der Handelsschiffahrt im Stich lassen? Sie erhalten im nächsten Jahr 500 Millionen DM. 2,2 Milliarden DM erhält im nächsten Jahr der soziale Wohnungsbau.
Die Arbeitsplätze von über 2 Millionen Arbeitnehmern würden dadurch gefährdet werden.Ich bekenne auch: Natürlich gibt es Armut in unserer Gesellschaft, und natürlich müssen wir sie bekämpfen. Niemand darf im Stich gelassen werden. Das ist nicht nur eine Frage von Massen. Wer in Not ist, dem muß geholfen werden, egal ob er sein Schicksal mit 10 000 teilt oder mit 2 Millionen.
Aber was soll denn die Polemik, die Sozialhilfeempfänger seien die CDU-Armen? Wollen wir auf dieses Niveau herabsteigen? Wir haben 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger von der SPD übernommen. Sind das dann die SPD-Armen? Machen wir hier einen Wettkampf: 2,3 Millionen SPD-Arme gegen den Rest — das sind die CDU-Armen?
Wir haben die Sozialhilfe erhöht, und zwar die Regelsätze für die Sozialhilfe um 8%. Für Alleinerziehende mit einem Kind unter sieben Jahren, für ältere Mitbürger über 60 Jahre gibt es zusätzlich zum höheren Regelsatz einen Zuschlag von 20%, das sind 100 Mark mehr je Person. Das dürfen Sie doch nicht einfach unterschlagen. Diese Steigerung ist höher als die Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger.
Und ich will noch etwas feststellen:Sozialhilfebezug allein ist kein Anzeichen für Armut; denn die Leistungsgewährung nach dem Geist des Gesetzes vermeidet Armut und ermöglicht ein menschenwürdiges, allerdings recht bescheidenes Leben.So weit das Zitat. Es stammt von Anke Fuchs aus dem Jahre 1980.
Das befindet sich in Ihrem lesenswerten Buch; wenn Sie nachsehen wollen, Frau Fuchs: Seite 68.
Erhöhung der Sozialhilfe, Anhebung des Wohngeldes, Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, das sind — nicht mit Worten, sondern mit Taten — Beiträge, um Not zu lindern. Ja, ich gebe zu — das ist ja auch vorhin gesagt worden —: Wir haben das Arbeitslosengeld für jene Arbeitslosen gekürzt, die keine Kinder haben. Wir haben aber auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für die verlängert, die von Dauerarbeitslosigkeit besonders bedroht sind, für die älteren Arbeitslosen. Wir machen keine kopflose Sparpolitik, sondern eine Politik mit Herz und Verstand.
Die Ausdehnung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes hat doppelt soviel gekostet, wie durch die Kürzung des Arbeitslosengeldes gespart wurde.Sie sollten bei dem Thema Arbeitslosenversicherung ganz vorsichtig sein;
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17776 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. Blümdenn die Arbeitslosenversicherung ist kein neues Mittel der Parteifinanzierung, wenn ich Ihnen das noch sagen darf.
— Ich habe ja nur ein paar Fragen. — In der Tat — das will ich noch nebenbei fragen —: Was halten Sie von jemand, der das Geld, das für Arbeitslose vorgesehen ist, nimmt, obwohl er selber Verdienst hat? Den bezeichne ich als Ausbeuter. Und ich bin gegen Ausbeuter, wer immer Ausbeuter ist.
— Bitte schön.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Bundesminister?
Bitte.
Herr Minister, können Sie bestätigen, daß Sie der Auffassung sind, daß sich Arbeitslose nicht politisch betätigen sollten?
Also, ich hoffe, Sie haben mich richtig verstanden: Ich bin gegen jede Diskriminierung der Arbreitslosen, selbst wenn sie von Ihnen vorgenommen wird, indem den Arbeitslosen ihr Geld von solchen „geklaut" wird, die keine Arbeitslosen sind.
Ich habe den SPD-Parteitag — auch das will ich sagen — mit großem Interesse verfolgt.
— Herr Vogel, auch Sie habe ich auf dem SPD-Parteitag bewundert.
— Vor allem das mit der roten Karte habe ich nicht ganz verstanden, daß Sie rot — das ist doch Ihre Parteifarbe — nehmen, um etwas Schlechtes zu bezeichnen.
— Aus dem Fußball? Noch besser. Aber, Herr Vogel, Schiedsrichter sind doch in der Demokratie die Wähler.
Sie sind doch nicht Schiedsrichter.
Das muß doch eine Verwechslung sein.
Ihre Überheblichkeit kennt ja keine Grenzen. Das führt noch so weit, daß, wenn die SPD ein Foul begeht, der Herr Vogel den Elfmeter schießen will.
Was habe ich von diesem Parteitag nicht alles gehört: von Sozialzertrümmerung, Demontage des Sozialstaats. Wenn ich nicht wüßte, daß Nürnberg in Bayern läge, hätte ich nicht gewußt, von welchem Land die Sozialdemokraten sprechen, ich hätte nicht gewußt, wo sie ihren Parteitag abgehalten haben, in einem fernen Land oder irgendwo hinterm Mond.Wir geben heute - das will ich noch einmal sagen — 604 Milliarden DM an Sozialleistungen aus; so hoch ist das Sozialbudget. Zu SPD-Zeiten waren es 80 Milliarden DM weniger, nämlich 524 Milliarden DM. 604 Milliarden, Herr Dohnanyi, sind 80 Milliarden mehr als 524 Milliarden. Ich behaupte j a gar nicht, daß die Höhe der Sozialleistungen etwas über die Qualität des Sozialstaats sagt. Das sage ich überhaupt nicht, zumal der Sozialstaat nicht nur aus Mark und Pfennig besteht. Aber zu sagen, wir würden alles zurücknehmen, wenn wir 80 Milliarden DM mehr ausgeben, das ist schon ein Kunststück, das ich nicht verstehe.
Den Rückgang der Volkswirtschaft haben die Sozialdemokraten einst als Minuswachstum getarnt. In der Logik dieses Begriffs haben wir jetzt einen „Plusabbau" im Sozialstaat.
Wenn Sie allerdings das Land suchen, das der Vorreiter des Sozialabbaus ist: Ich kann es Ihnen nennen; es heißt Nordrhein-Westfalen.
Nur ein paar Beispiele. Die Investitionsmittel für Altenhilfeeinrichtungen wurden seit 1980 mehr als halbiert, die Gelder für Altenerholung um zwei Drittel gekürzt, die Finanzen für Behinderteneinrichtungen um 50 % gekürzt. 310 Millionen DM wurden in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren der Jugendarbeit entzogen. Innerhalb von vier Jahren wurden die Familien mit Kindern mit über 300 Millionen DM an Kindergartenbeiträgen belastet.
— Wir werden das im Wahlkampf noch ein paarmal ganz langsam vorlesen, zum Mitschreiben. — Die Gewinne der nordrhein-westfälischen Spielbanken sind nicht — wie ursprünglich vorgesehen — der Stiftung Wohlfahrtspflege zugute gekommen, son-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17777
Bundesminister Dr. Blümdern zum Großteil vom Landeshaushalt geschluckt worden.
Lassen Sie mich zu dem, was Herr Friedmann zur Ausgleichsabgabe gesagt hat, nur feststellen: Die Bundesregierung erfüllt ihre Beschäftigungspflicht, sie tut mehr als ihre Pflicht.
Ich bleibe dabei, daß jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten in der Pflicht steht, Behinderte zu beschäftigen. Wenn ich vom Recht auf Arbeit spreche, denke ich, daß dieses Recht jeder hat, der Ältere, der Schwächere, auch der Behinderte. Auch eine noch so hohe Unterstützung kann das Recht mitzuarbeiten nicht vergessen machen. Gerade der Behinderte hat dieses Recht. Darauf bestehen wir.
Ich bekenne, daß wir Zuwächse in der Sozialpolitik abgeflacht haben, daß wir das Tempo gedrosselt haben. Aber, meine Damen und Herren, wir hatten gar nicht die Wahl: Sparen — ja oder nein? Wir hatten gar nicht die Wahl: Wende — ja oder nein? Wir hatten nur die Wahl: Wende oder Ende! Ich will das einmal in Zahlen ausdrücken. Zwischen 1970 und 1982 stieg die Bruttolohn- und -gehaltssumme um 139 %. Das ist der Topf, aus dem die Sozialleistungen finanziert werden. In den gleichen zwölf Jahren stiegen die Ausgaben in der Sozialversicherung um 254 %, in der Rentenversicherung um 213 %, in der Krankenversicherung um 281 % und bei der Bundesanstalt für Arbeit um 778 %. Da brauchen Sie gar nicht höhere Mathematik zu studieren; es genügen die ganz einfachen mathematischen Gesetze.
Wenn wir hier nicht gedrosselt hätten, wäre der Zeitpunkt kalkulierbar, wo die Sozialausgaben die ganze Volkswirtschaft aufgefressen hätten, wo Sie die Volkswirtschaft auf Krankenschein hätten umstellen können. Nur funktioniert dies bekanntlich nicht.Wir stehen nach vier Jahren nicht ohne Sparerfolge da. Die Inflation ist tot. Viele gerade aus der älteren Generation wissen, was Inflation bedeutet. Mein Großvater hat mir immer erzählt, daß er in den Zeiten der großen Inflation — er war ein Buchdrucker — Millionär war. Er hat seinen Lohn im Leiterwagen nach Hause gefahren. Nur ging es ihm hundeelend. Er war ein ganz armer Mann. Geld allein sagt noch gar nichts. Es kommt darauf an, was man damit kaufen kann. Deshalb: Inflation ist der Taschendieb der kleinen Leute. Diesem Taschendieb haben wir das Handwerk gelegt.
Ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt hat 1986, verglichen mit der Inflationsrate von 1982, durch die gesunkene Teuerungsrate einen Stabilitätsgewinn von 2 600 DM pro Jahr; das ist soviel wieviereinhalb Monatsmieten, das sind 30 % mehr, als im Schnitt pro Jahr für Urlaub ausgegeben wird.Das Realeinkommen der Arbeitnehmer 1982 sank um 43 DM gegenüber dem Vorjahrsmonat. Das Realeinkommen der Arbeitnehmer 1986 steigt gegenüber dem Vorjahrsmonat um 85 DM. Herr Dohnanyi, was ist besser, sinkendes Realeinkommen, Minus oder Plus?
Das brauche ich Sie nicht zu fragen. Deshalb müssen auch Sie unserer Politik zustimmen.
Was haben die Rentner von 4 % Rentensteigerung gehabt, wenn die Preise um 6 % stiegen? Wir haben die Rentner vom Inflationsklau befreit.Wir haben die Familien entlastet. Ich sage das auch wieder außerhalb der allgemeinen Statistik. Nehmen wir mal eine Facharbeiterfamilie mit 38 000 DM Jahreseinkommen, die ein Kind bekommt. Sie wird im Jahr durch Steuerentlastung, höhere Kinderfreibeträge und Erziehungsgeld um 6 524 DM entlastet. Herr Bueb, es sind nicht die Kapitalisten, die entlastet werden. Es sind die kinderreichen Familien. Und das waren die Kandidaten der Armut, die wir von der Armut befreiten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bueb?
Bitte.
Ich habe vorhin in meinem Statement gesagt, daß die Sozialeinkommen der Arbeitslosen in den letzten vier Jahren um 14% gesunken sind, und zur gleichen Zeit sind die Unternehmergewinne um 10% gestiegen. Meinen Sie nicht, daß man da davon sprechen kann, daß den sozial Schwachen das Geld aus der Tasche gezogen worden ist und den Besserverdienenden zugegangen ist?
Herr Bueb, wir wollen doch nicht die Milchmädchenrechnung machen, als würden alle Gewinne der Unternehmen in Yachten in der Karibik investiert.
Sie werden in Arbeitsplätze investiert. Wir brauchen Gewinne, damit Arbeitsplätze entstehen. Ohne Gewinne entstehen keine Arbeitsplätze.
Und damit das auch noch gleich ausgeräumt ist: Wir wollen die Arbeitnehmer an diesen Gewinnen mitbeteiligen. Wir wollen Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Wir wollen nicht das Bonzeneigentum der Verstaatlichung und der Sozialisierung.
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17778 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. BlümWir haben das Arbeitslosengeld für die älteren Arbeitslosen verlängert. Das bringt für ältere Arbeitslose eine Verbesserung ihrer materiellen Lage. Wer 2 000 DM brutto im Monat verdient hat und längerfristig arbeitslos ist, erhält durch die Neuregelung im zweiten Jahr der Arbeitslosigkeit 1 200 DM mehr, als er bei voller Bedürftigkeit an Arbeitslosenhilfe erhalten hätte.Wir haben — das halten wir mal fest — die geringste Preissteigerungsrate seit 32 Jahren, die höchste Realeinkommenssteigerung seit 13 Jahren, den höchsten Realanstieg der Renten seit sieben Jahren, das geringste Zinsniveau seit acht Jahren. Das ist das Ergebnis mit dem wir vor die Wähler treten, ein Ergebnis, das handfest ist und sich nicht durch Ideologie bestimmt.Ich weiß, jetzt kommt die Ausrede: Früher, zu SPD-Zeiten, war an den schlechten Zuständen das Ausland schuld und daß es jetzt besser ist, verdanken wir auch dem Ausland. Auch dem kann abgeholfen werden: Die EG-Kommission hat eine Vergleichsliste für die zwölf Gemeinschaftsländer. 1982 lagen wir im Kreis der zwölf EG-Länder beim Bruttoinlandsprodukt auf Platz elf, bei der Entwicklung der Beschäftigung auf Platz zehn, bei der Reallohnentwicklung auf Platz zehn, bei der Inlandsnachfrage auf Platz elf. Anders ausgedrückt: Wir gehörten 1982 unter Helmut Schmidt zu den Schlußlichtern in der EG. Diesmal stehen wir in allen diesen Bereichen entweder auf Platz eins oder auf Platz zwei. Wir haben das Schlußlicht mit dem Spitzenreiter gewechselt.
- Die SPD verwechselt den 1. FC Köln mit Bayer Leverkusen.
Arbeit für alle — das war heute morgen auch schon das Thema. Über 2 Millionen Arbeitslose — damit niemand den Eindruck hat, wir könnten mit stolzgeschwellter Brust selbstzufrieden vor Sie treten —,
diese Zahl muß jeden beunruhigen: Arbeitgeber, Gewerkschaften, die Regierung; wir alle stehen in der Pflicht der Solidarität!Ich bleibe dabei: je mehr zusammenwirken, desto besser. Mit Zusammenwirken haben wir Deutschland wieder aufgebaut. Ich will allerdings auch sagen: Auch hier ebnet die Statistik ein. Die Betroffenheit ist höchst unterschiedlich: die Betroffenheit eines Arbeitslosen, der fünf Kinder zu ernähren hat und nur von einer Unterstützung lebt, ist sicher eine andere als diejenige eines Arbeitslosen, der nur für sich zu sorgen hat; die Betroffenheit in den Regionen ist unterschiedlich, die in den Sektoren ist unterschiedlich; Frauen sind mehr betroffen, Ungelernte sind mehr betroffen. Ältere sind länger arbeitslos. Mit Patentrezepten ist überhaupt nicht zu helfen. Nur eine differenzierte Politik, eine Politik des Schritt-für-Schritt hat Aussicht auf Erfolg.Ich weiß, daß die stille Reserve, Sie Frau Fuchs, auch jetzt wieder zu Höchstleistungen der Schwarzmalerei bringen wird. Darauf kann ich nur sagen:Die Bundesregierung wird diese stille Reserve für ihre arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten nicht zugrunde legen können, weil sie davon ausgeht, daß sich jeder, der arbeiten will, beim Arbeitsamt meldet.
So Anke Fuchs am 10. April 1981 als Parlamentarische Staatssekretärin auf die Frage unseres Kollegen Stutzer.
Ich bestätige ausdrücklich: Wir sind in der Kontinuität dieser Meinung geblieben.
Wichtig ist, daß wir Beschäftigungsgewinne haben. Wissen Sie, das verstehe ich j a überhaupt nicht, Herr Dohnanyi. Die SPD-Position ist doch: Erstens. Es gibt keine Beschäftigungsgewinne. Zweitens. Die IG Metall hat sie zustande gebracht.
Sie müssen sich jetzt entscheiden: Gibt es keine, oder gibt es welche? Es gibt welche. Nachdem in den letzten Jahren der Regierung Schmidt eine Million Arbeitsplätze verlorengegangen, durch den Schornstein geraucht sind, haben wir in den letzten zwei Jahren wieder rund eine halbe Million gewonnen. Ja, das weiß ich auch: Aufwärts geht es natürlich langsamer, aus dem Tal heraus ist es schwieriger als in das Tal hinunter. Das weiß jeder Radfahrer, das weiß jedes Kind, das mal gerodelt ist. Runter geht's ganz schnell, hoch geht's langsam.Aber wir bleiben dabei: Die Wege, die ins Tal geführt haben, sind nicht die besten Wege, um aus dem Tal herauszukommen. 17 Beschäftigungsprogramme mit einem Investitionsvolumen von 50 Milliarden DM haben die Sozialdemokraten in den Sand gesetzt. 17 Beschäftigungsprogramme — und die Arbeitslosenzahl stieg millionenfach. Warum sollten wir das achtzehnte Mal probieren, was 17mal falsch war?
Einen Arzt, der den Blinddarm 17mal an der falschen Seite gesucht hat, wird man zum achtzehnten Mal nicht an den Operationstisch lassen, oder?
In dem SPD-Programmentwurf „Die Zukunft gestalten" heißt es:Eine Finanzpolitik, die darauf zielt, die Steuerquote oder die sogenannte Staatsquote zu senken, schließt eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik aus.Ich frage: Liegt in der Logik dieses Satzes: Bei100 % Staatsquote gibt's 100 % Beschäftigung? Soeinfach können doch die Rezepte nicht sein. Wir
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17779
Bundesminister Dr. Blümsuchen eine Balance zwischen wirtschaftlicher Initiative, zwischen Markt und staatlichen Rahmenbedingungen. Arbeit muß für alle da sein; dabei bleibt es.Es gibt doch noch genug Aufgaben auf der Welt. Wir werden doch nicht mit dem Modell Robinson den Meeresboden urbar machen und die Wüsten bewässern. Wir brauchen neue Technik. Es gibt tausend lohnende Aufgaben für unsere Arbeit, weil es tausend Probleme gibt. Auch die Probleme im Zusammenhang mit Umwelt müssen durch Arbeit gelöst werden. Mit der GroßfeuerverordnungsAnlage — —
— Mit der Großfeueranlagen-Verordnung — —
— GroBfeueranlagen-Verordnung — —
— Sie haben durch diese wiederholte Hilfe die Aufmerksamkeit auf eine weitere Leistung der Bundesregierung gelenkt. — Vielen Dank.
Also, mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung haben wir einen Investitionsschub von 5 Milliarden DM ausgelöst. Der DGB räumt immerhin ein, daß das die Arbeitsplätze von 295 000 Arbeitnehmern sichert. Wir haben das ERP-Programm für Umweltschutz um 1,6 Milliarden DM aufgestockt.Das Wirtschaftswachstum wird durch den Trend in die Dienstleistungsgesellschaft beschäftigungsintensiver. Wir sind ein Land, das bei Dienstleistungen noch einen Nachholbedarf hat. Auch in einer Freizeitgesellschaft wird es neue Bedürfnisse und neue Chancen für Arbeit geben. Laßt euch nicht miesmachen! Wir brauchen Unternehmer, die Mut haben. Wir brauchen Arbeitnehmer, die Mut haben. Wer nur auf der Stelle tritt, wird uns nicht aus dem Tal herausbringen.
Wir brauchen neue Formen der Arbeitszeit; neue Muster für Tages-, Wochen- und Lebensarbeit werden gesucht. Es muß nicht alles so stur und starr bleiben,
wie wir es seit 200 Jahren gewohnt sind.
Die starre Trennung der Lebensphasen zwischen Erwerbsarbeit und Ruhestand kann aufgelockert, aufgelöst werden. Zeitweises Ausscheiden aus der Erwerbsgesellschaft zugunsten von Erziehung ist mit Hilfe der modernen Technologie möglich. Kürzere Arbeitszeiten werden andere Arbeitszeiten sein.
Wir brauchen viel mehr Phantasie, um diese neuen Arbeitszeitmöglichkeiten zu nutzen.
Ich glaube, der Name des Fortschritts heißt Vielfalt.
Er heißt nicht mehr Kolonne und Uniformierung.Wir sind auch für eine Individualisierung der Arbeitszeit.
— Herr Bueb, mir ist Arbeitszeit nach dem Maß des Menschen lieber als nach dem Takt von Maschinen.
Wer sich gegen Vielfalt sperrt, über den wird die Entwicklung hinweggehen. Das Leben richtet sich nicht nach Kommuniqués. Da lese ich in einem WDR-Interview vom 19. Juni die merkwürdige Begründung des Kollegen Hans Janßen — er ist Vorstandsmitglied der IG Metall —, warum er gegen Individualisierung ist:Wenn sich — so sagt er —viele Arbeitnehmer damit befreunden und das für richtig halten, dann irren diese Arbeitnehmer, und ich kriege mein Geld j a schließlich dafür, daß ich meinen Mitgliedern an der Basis sage, was für sie gut und richtig ist.
Da kann ich nur sagen: die Gesellschaft als Kindergarten und der Funktionär als Tante. Das ist die Welt, die Ideologen sich offenbar erträumen.
Ich bleibe dabei: Laßt uns doch Maß nehmen an den Sehnsüchten der Menschen, an ihren Wünschen. Das ist Maßstab, nicht aber das, was in den Lehrbüchern steht. Deshalb brauchen wir auch Pfadfinder, die Neues erkunden.
— Ja, Pfadfinder. Das können die Tarifpartner und die Betriebspartner besser als der Gesetzgeber, der immer unter großem Zwang steht, alles zu verallgemeinern.
Dennoch: Wir haben unseren Beitrag zur Arbeitszeitproblematik geleistet. Wir haben den Vorruhestand eingeführt. Das ist ein Beitrag zur Arbeitszeitverkürzung, zur Lebensarbeitszeitverkürzung und zu mehr Selbstbestimmung bei der Altersgrenze.Wir haben Erziehungsurlaub mit Arbeitsplatzgarantie eingeführt, was einen familienpolitischen Sinn hat, was auch eine Arbeitszeitverkürzung ist,
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17780 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. Blümnämlich die Möglichkeit, in der Mitte des Lebens ein Jahr mit staatlicher Unterstützung aus der Erwerbsarbeit auszuscheiden, um sich der Erziehungsarbeit zu widmen. Was ist das anderes als Arbeitszeitverkürzung? Das ist ein Beitrag, freilich nicht aus dem Laden der Kollektivisten, sondern aus dem Programm der Vielfalt, jeder nach seinen Bedürfnissen!
Wir haben Teilzeitarbeit, die von anderen madig gemacht wird, zum erstenmal arbeitsrechtlich geschützt. Auch das ist eine Arbeitszeitverkürzung. Sie ermöglicht neue Arbeitszeitformen. Wir haben das Jobsharing und die Abrufarbeit zum erstenmal gesetzlich gegen Mißtrauen abgesichert. Es hilft niemandem, das nur madig zu machen. Wir haben das gesetzlich gegen Mißbrauch geschützt.Wir haben den befristeten Arbeitsvertrag ermöglicht und damit auch dazu beigetragen, daß mehr Arbeitnehmer frühzeitig eingestellt werden. Hören Sie einmal, das Beschäftigungsförderungsgesetz ist jetzt 14 Monate in Geltung. Es ermöglicht befristete Arbeitsverträge von 18 Monaten. Wieso wissen Sie jetzt schon, daß die alle nach 18 Monaten entlassen werden? Offensichtlich sind Sie vorausschauender oder wie die SPD mit prophetischer Gabe ausgestattet, die schon nach 14 Monaten sagt: Alle werden entlassen. — Meiner Meinung nach wird der größere Teil in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis wechseln. So war es von uns gedacht: als Brücke zurück in die Erwerbsgesellschaft.
Die OECD jedenfalls gibt diesem Beschäftigungsförderungsgesetz — den befristeten Arbeitsvertrag eingeschlossen — gute Noten. In jener Kommission, die die Ausarbeitung dazu geliefert hat, sitzen zwei international angesehene Gewerkschafter. Die Sozialisten in Spanien und die Sozialisten in Frankreich haben befristete Arbeitsverträge angeboten. Seien Sie vorsichtig, sie alle als Ausbeuter und Reaktionäre zu bezeichnen. Ich müßte sonst die spanischen Sozialisten gegen die deutschen in Schutz nehmen.Wir brauchen Modernisierung. Freilich: Mit Modernisierung meine ich keineswegs nur die Erneuerung des Maschinenparks, sondern auch Qualifizierung der Arbeitnehmer. Die schönste und modernste Maschine nutzt nichts, wenn der Arbeitnehmer sie nicht beherrschen kann. Investitionen müssen vorausschauend geplant werden, Qualifizierung muß vorausschauend ermöglicht werden. Wenn heute über Facharbeitermangel geklagt wird, so kann das zu einer Bumerangbeschwerde werden. Facharbeiter fallen nicht vom Himmel, werden nicht durch Jammern hergestellt, die müssen in den Betrieben ausgebildet werden — es sind zu wenig ausgebildet —,
und zwar vorausschauend ausgebildet, auch den Bedürfnissen entsprechend, wobei ich glaube, daß esnicht nur um Lehrlingsausbildung, sondern auch um Weiterbildung geht.
— „Was geschieht"? Beispielsweise haben wir in der Siebten Novelle ein Programm von über 750 Millionen DM aufgelegt, das diese Weiterbildung ermöglichen soll. Aber die Hauptaufgabe bleibt in den Betrieben; wir wollen keine Verstaatlichung der beruflichen Bildung.
Ich wende mich auch dagegen, Weiterbildung nur auf das erste Drittel des Lebens zu reduzieren, ich wende mich gegen die Unmenschlichkeit einer Gesellschaft, die für die Älteren keinen Platz mehr hat; ich wende mich gegen diese Abschreibungsmentalität, als könnten wir auf die Erfahrungen der Älteren verzichten. Jene Stellenanzeigen: Chemiker, berufserfahren, 30 Jahre; qualifizierte Ingenieure, höchstens 35 Jahre alt; dynamische Techniker unter 40 Jahren halte ich für menschenverachtend. Wir brauchen die älteren Arbeitnehmer, und deshalb brauchen wir auch Weiterbildung im fortgeschrittenen Alter.
Der 40jährige von heute ist im Jahre 2000 54 Jahre alt. Den brauchen wir dann noch. In der gleichen Zeit werden wir 300 000 weniger Lehrlinge haben. Wer jetzt nicht die 40-, 50jährigen weiterbildet, wird noch Jahre und Jahrzehnte über Facharbeitermangel klagen.
32 Milliarden DM gibt die deutsche Industrie für Aus- und Weiterbildung aus; das sind 5 % der Lohn- und Gehaltssumme und 10 % der Anlageninvestitionen. Das ist zu wenig, wir brauchen einen Aufbruch in Sachen Qualifizierung, um der Arbeitnehmer willen, um der Arbeitsplätze willen, um unseres Standes in der Weltwirtschaft willen.
Meine Damen und Herren, ich will auch zu einem Lieblingsthema — ich bekenne es — Stellung nehmen. Die Rentenversicherung — ich will es unumwunden sagen — gehört zu meinen Lieblingskindern der Sozialversicherung. Sie verdient auch alle Zuneigung, denn sie steht in der Pflicht, in der die Jungen zu jeder Zeit gegenüber ihren Eltern und den Älteren gestanden haben. Die Rentenversicherung vollzieht nur das, was in früheren Jahren die Großfamilie geleistet hat: Die Alten werden von den Jungen mit versorgt. Auch die Jungen werden einmal alt. Sie haben dann nur so viel Anrecht auf Sorge, wie sie selber aufgebracht haben, als sie jung waren. In der Nähe dieses familiären Zusammenhanges, in dieser Generationensolidarität muß die Rentenversicherung immer bleiben; sie darf nicht in einem Sozialstaatsapparat in der Anonymität versinken. An der Generationensolidarität läßt sich auch die Höhe einer Kultur messen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17781
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bueb?
Bitte schön.
Herr Minister, halten Sie es für eine große Solidarität, wenn die Witwe eines Arbeitnehmers, die selbst nicht gearbeitet hat, deren Mann 42 Jahre lang gearbeitet und immer den Durchschnitt verdient hat, eine Rente bekommt, die unterhalb der Sozialgrenze liegt? Halten Sie das für große Solidarität?
Erstens muß ich Ihre Zahl in Frage stellen, und zweitens muß ich sagen: Wir haben deshalb eine Reform der Hinterbliebenenversorgung durchgeführt, gegen die Sie gestimmt haben, die die kleinen Renten geschont hat, die die kleinen Witwenrenten anders als die großen behandelt hat,
weil es hier in der Tat Probleme gibt. Deshalb haben wir auch Kindererziehungszeiten, auf die ich gleich noch einmal zurückkomme, eingeführt.Die größte Leistung in dieser Legislaturperiode ist, daß wir die Renten sicher gemacht haben, daß sie endlich aus dem Gerede kommen.
Denn, meine Damen und Herren, da können Politiker reden, was sie wollen: Wenn das Geld in der Kasse fehlt, ist die Rente unsicher, und Gott sei Dank nimmt das Geld in der Rentenkasse wieder zu. Deshalb: Wir haben die Rente sicher gemacht.
Ich schließe mich gern dem Appell an, den Herr Cronenberg hier schon geäußert hat: Laßt uns nicht versuchen, Wahlkampf mit den Ängsten der älteren Generation zu machen!
— Wieso mache ich das? Ich habe das Gegenteil gemacht und gesagt: Ihr älteren Mitbürger braucht um eure Rente keine Angst zu haben, nicht nur weil der Norbert Blüm Arbeitsminister ist, sondern weil wieder Geld in der Kasse ist. Das ist schon die wichtigste Mitteilung, die ich nochmals wiederhole.
Ich schließe mich dem Appell an: Laßt uns eine Einigung versuchen, mit Ruhe und Geduld, nicht mit Hektik! Unter Stoppuhrbedingungen gelingt eine Einigung nie. Wir haben doch die Voraussetzungen geschaffen, daß wir jetzt eine solche Diskussion führen können ohne Einsturzgefahr, ohne daß uns die Brocken des Rentenhauses um die Ohren fliegen. Deshalb mein Appell: mit Ruhe und Sachlichkeit für eine Renteneinigung. Wer sich dem entzieht, ist nicht nur ein Spielverderber, er verrät, daß er die schlechteren Karten hat. Wer zum Konsens nein sagt, verrät, daß er die schlechteren Karten hat.Wir haben Erziehungszeiten im Rentenrecht eingeführt. Meine Damen und Herren, wenn ich gefragt werde, was ich für die größte sozialpolitische Neuerung dieser Legislaturperiode halte, wenn mich einer fragt, worauf ich — das will ich bekennen — am meisten stolz bin, werde ich gar nicht lange überlegen. Dann werde ich sagen: über allen Streit hinweg: auf die Einführung von Kindererziehungszeiten in das Rentenrecht. Das schlägt ein neues Kapitel in der Rentenversicherung auf; das ist ein Epochenwerk, das wir zusammen vollbracht haben.
100 Jahre Rentenversicherung heißt 100 Jahre Unrecht gegenüber den Müttern. Mit diesem Unrecht haben wir jetzt Schluß gemacht. Wenn einmal die Geschichte der Rentenversicherung geschrieben wird und wenn dann nach den großen Einschnitten in der Rentenversicherung gefragt wird, wird da das Jahr 1986 mit der Einführung von Kindererziehungszeiten auftauchen. Da wird manches von dem Streit, den wir heute führen, vergessen sein. Auf die Frage, wer denn Kindererziehungszeiten in das Rentenrecht eingeführt hat, wird der Fragesteller die Antwort erhalten: CDU/CSU und FDP. Sie von der Opposition haben darüber nur geredet, geredet, geredet und nie etwas getan.
Das ist überhaupt eines der Erfolgsgeheimnisse der SPD. Sie reden so lange, bis die Leute glauben, Sie hätten es gemacht. Sie halten Lautstärke schon für Produktionsstärke. Das ist wie ein Sägewerk, das dauernd die Maschinen laufen läßt, obwohl nie ein Holz geschnitten wird.
Mit Lautstärke, mit Geräusch, mit Reden wird Handeln vorgewiesen. Sie haben 13 Jahre die Chance gehabt, Kindererziehungszeiten einzuführen. Hätten Sie sie 1970 eingeführt, hätten jetzt schon 16 Jahrgänge Kindererziehungszeiten.Ich bitte Sie eindringlich: Arbeiten Sie nicht mit der Kalkulation des Todes. Das ist unschamhaftig.
— Frau Fuchs, ich würde Ihnen nie vorwerfen — in der Tat, da hört der Spaß auf —, daß die Achtzigjährigen, die 1970 keine Kindererziehungszeiten erhalten haben, 1986 fast alle tot sind. Das würde ich für makaber und unschamhaftig halten.
Sie haben doch Zeit gehabt, sie einzuführen. Was haben Sie denn vorgehabt? Sie wollten doch auch nur Kindererziehungsjahre für die Zukunft.
Sie wollten sie aber nur für die Berufstätigen. Sie wollten sie von der Rentenversicherung bezahlt haben. Sie wollten es von der Rentenhöhe abhängig machen: kleine Rente — kleines Baby, große
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17782 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. BlümRente — großes Baby. Das waren doch Ihre Pläne, voller Ungereimtheiten.
Gott sei Dank sind die Rentner davor bewahrt worden.Meine Damen und Herren, sehen Sie sich doch einmal an, was die SPD jetzt will. Sie schließt wieder einen Teil der Mütter aus, und zwar nicht stufenförmig, sondern endgültig. Sie schließt alle Mütter aus, die mit der Rentenversicherung nichts zu tun hatten: 800 000 Mütter ohne Kindererziehungszeiten! Die Witwe eines Postboten, zwölf Kinder hat sie vielleicht, bekommt nach SPD-Plänen keine Kindererziehungszeiten. Sie hat nämlich nichts mit der Rentenversicherung zu tun. Die Einzelhändlerin mit fünf Kindern hat nichts mit der Rentenversicherung zu tun und bekommt nichts, und zwar nicht stufenplanmäßig, sondern endgültig. Die Ausgrenzung ist endgültig. Die Witwe, die am 1. Januar 1986 Witwe ist, soll Kindererziehungszeiten erhalten. Die Kriegerwitwe, die wieder geheiratet hat, erhält keine Kindererziehungszeiten. Was sind das für Ungereimtheiten! Wiederverheiratung wird rentenrechtlich bestraft.Meine Damen und Herren, ich bekenne mich dazu, daß das, was wir vorlegen, nicht ideal ist. Aber wer auf Ideale wartet: Diese sind selten auf der Erde verwirklicht worden. Die Sozialpolitiker haben es immer anders gehalten. Sie sind immer Schritt für Schritt vorwärts gegangen: jetzt das Mögliche machen und nicht auf das Ideale in fernen Zeiten warten.Wir haben mit denen begonnen, die in Rente gehen. Auch diese jungen Mütter erhalten es nur stufenweise, nämlich Jahrgang für Jahrgang. Nicht alle jungen Mütter erhalten sofort Kindererziehungszeiten, sondern immer mit dem Jahr, mit dem sie in die Altersrente gehen.Ich muß allerdings hinzufügen: Das sind auch jene Mütter, deren Hinterbliebenenrente verändert wurde. Jetzt holen wir in vier Schritten alle Mütter herein. Ich will es noch einmal sagen: Ich habe ihre Beschwerden immer verstanden. Ich habe immer Verständnis dafür gehabt. Aber vor die Wahl gestellt „alles oder nichts", haben wir begonnen, und es hat sich gezeigt: der Spalt, um den wir die Tür aufgemacht haben, hat dazu geführt, daß die Tür jetzt ganz geöffnet, daß ein neues Kapitel in der Rentenversicherung aufgeschlagen wird.
Meine Damen und Herren, ich will zusammenfassen. Es wäre geradezu pedantisch, hartherzig, um nicht zu sagen, einfallslos, wenn wir hier in der Haushaltsdebatte lediglich streiten würden über mehr oder weniger, 5 Millionen hier, 10 Millionen dort, wenn dieser Streit nicht auch geführt würde um die Zukunft unserer Gesellschaft, um die Vorstellung, wie wir uns eine Gesellschaft wünschen, eine Gesellschaft, die wir unseren Kindern hinterlassen.Wir wollen — das bekenne ich — weniger Staat; aber das heißt nicht weniger Barmherzigkeit. Die bürokratisch organisierte Nächstenliebe erfüllt weder alle gesellschaftlichen Bedürfnisse noch das unstillbare Verlangen nach Zuneigung. Die großen Sozialinstitutionen Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Unfallversicherung, Sozialhilfe sind unverzichtbar, um die großen Lebensrisiken abzusichern. Sie dürfen ihre Rückkoppelung an Solidarität und Mitverantwortung nie verlieren. Deshalb sind wir für Selbstverwaltung.Doch das soziale Netz darf sich nicht allein aus Paragraphen zusammensetzen und seien sie noch so fein gewebt. Denn das Leben kennt immer einen Fall mehr, als sich die Gesetzesperfektionisten ausdenken. Wir brauchen Familie, Nachbarschaft und Nächstenliebe. Eine von Schaltern eingerahmte Gesellschaft läßt im Grunde die Menschen zu Objekten von Wohltaten verkommen. Sozialpolitik der kleinen Kreise reglementiert nicht, sie ist der Fundus einer Hilfsbereitschaft ohne Kommando. Wir wollen keine Gesellschaft, die den Menschen rund um die Uhr von der Wiege bis zur Bahre betreut. Wir wollen nicht den veröffentlichten, den außen geleiteten Menschen, auch wenn sich die Fremdbestimmung als staatliche Zuwendung in die Privatsphäre einschmeichelt. Wir wollen eine Gesellschaft, in der es ein Zuhause gibt, den Schutz der eigenen vier Wände. Wer nie Vertrauen und Treue von Eltern erlebt hat, die zu ihm halten, egal, was passiert, der wird ein Leben lang von Angst geplagt, auch wenn er noch so reich wird. Armut muß nicht nur Geldmangel sein. Einsamkeit kann härter sein. Die ältere Generation darf nicht in die Ecke einer Jugendwahnsinnsgesellschaft gedrängt werden. Wir brauchen die Alten, und zwar nicht nur im Ruhestand,
sondern wir sind auf sie angewiesen.Soziale Sicherheit darf nicht allein auf staatlicher Zuwendung basieren. Wir wollen, daß die Arbeitnehmer Eigentum erwerben. Sie sollen Mitbesitzer der Wirtschaft werden. Wer mein und dein sagen kann, schützt sich besser vor den großen Brüdern, die ihm mit der Last der Eigenverantwortung gleich die Entscheidung über sein Glück abnehmen.Wir wollen nicht den Obrigkeitsstaat, auch nicht in seiner raffiniertesten Form, den Staat der allzuständigen Bürokraten.
Wir wollen eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß wir wieder Gäste haben. Auf der Ehrentribüne hat eine Delegation des australischen Parlaments unter Leitung des Abgeordneten Ross Free Platz genommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17783
Vizepräsident WestphalIch habe die Ehre, Sie hier bei uns im Deutschen Bundestag herzlich zu begrüßen.
Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Bundesrepublik und nützliche Gespräche auf Ihrer weiteren Reise durch die Bundesrepublik und freuen uns, daß Sie natürlich auch Berlin besuchen.Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Fuchs .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben gestern große Reden, eindrucksvolle Reden gehört und sind gestern gemahnt worden, über Parteigrenzen hinweg auch Gemeinsames zu betonen und das rechte Maß zu finden zwischen Streit und Konsens zwischen Opposition und Regierung.
— Es war eine Mahnung an mich; ganz richtig. Ich wollte übrigens Herrn Kolb sagen — das ist auch eine Mahnung an mich; man hält sie nicht immer ein —: In diesem kleineren Raum ist die Brüllerei noch unerträglicher als im großen Raum.
Ich will mich durchaus einem Lernprozeß unterziehen. Ich will versuchen, im Kammerton zu sprechen. Aber ich glaube, das halte ich nicht ganz durch; das sage ich schon von vornherein.
Dieser Mahnung will ich heute folgen. Deswegen will ich mit einem konsensfähigen Thema beginnen. Aber ich muß hinzufügen: Es ist sehr schwer, mit dem Bundesarbeitsminister über die wichtigen Reformvorhaben in eine Sachdebatte einzusteigen, weil hinter dem ganzen Qualm wenige Argumente für eine brauchbare politische Debatte hervorscheinen.
Zahlen sind so ein Problem, und die Beispiele von Herrn Blüm sind nie stimmig. Ich will deswegen nur zwei herausgreifen und mich dann dem zuwenden, was ich sagen wollte.
Sie sagen, ein Arbeitnehmer mit 38 000 DM Jahreseinkommen habe jetzt weniger Abgaben. Dies ist eine ganz große Vortäuschung falscher Tatsachen; denn nach einem Jahr bleibt davon nichts mehr übrig. Das ist Rechnung à la Blüm, der vortäuscht, hier soziale Wohltaten vollbracht zu haben. Sie sind aber ein Strohfeuer und sehr kurzfristig.
Ein zweiter Punkt, auf den ich auch hinweisen möchte:
Wer nach wie vor glaubt, daß Gewinne der Unternehmer gleich Arbeitsplätze sind, der möge sich einmal den Kapitalfluß in dieser Gesellschaft anschauen.
70 Milliarden DM wandern auf Konten und nicht in die Betriebe zurück. Deswegen ist unser wichtiges Thema die Andersbehandlung derjenigen Steuern, die wieder investiert werden, nicht die Besserbehandlung von Steuern, die auf das Konto nach Amerika gehen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Bitte sehr, Herr Cronenberg.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, dem Haus klarzumachen, daß das, was auf Konten geht, wie Sie es nennen, da selbstverständlich nicht verschimmelt, sondern als Investitionskapital in die Wirtschaft zurückfließt?
Sind Sie bereit, dem Hause klarzumachen, daß jede Mark, die die Bundesrepublik verläßt, in Form von Aufträgen und damit als Arbeit wieder in die Republik zurückkommt?
Herr Cronenberg, ich würde Ihnen, wie Sie wissen, immer ganz gern zustimmen, weil wir beide uns in der politischen Auseinandersetzung sehr gut vertragen. Aber das stimmt j a nicht. Wie soll denn eigentlich das Geld, das in Amerika zinsbringend angelegt wird, auf umwegen bei uns zur Investition von Arbeitsplätzen benutzt werden?
Damit das aus Ihrer Rede, Herr Bundesarbeitsminister, auch klar ist: Ich weiß, daß sich die Arbeitsmarktpolitik zunächst einmal um die registrierten Arbeitslosen zu kümmern hat. Dieses haben wir immer betont, und das betonen Sie jetzt auch. Aber es war damals wie heute unstreitig, daß es über die registrierte Arbeitslosigkeit hinaus heute mehr als 1 Million Menschen gibt, die arbeiten würden, wenn sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hätten. Deswegen ist es richtig, von mehr als 2 und 3 Millionen Arbeitssuchenden zu sprechen.
Damit bei Ihnen die Diskriminierung der Sozialhilfe nicht als meine Meinung hängenbleibt: Wir haben das Bundessozialhilfegesetz geschaffen. Wir waren stolz darauf, daß Menschen, die in Not geraten, ein menschenwürdiges Leben führen können. Aber die Sozialhilfe ist doch nicht dazu da, die finanziellen Folgen der Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen. Die Sozialhilfe ist nicht dazu da, das Massenphänomen der Armut im Alter zu bekämpfen. Deswegen muß die Sozialpolitik so gestaltet sein, daß die Sozialhilfe auf ihre eigentlichen Aufgaben reduziert wird, nämlich individuelle Hilfe für in Not geratene Menschen zu leisten.
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17784 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Frau Fuchs
Nun zum Gemeinsamen in der Rentenreform. Herr Cronenberg, Sie haben wenigstens ein bißchen was gesagt. Der Herr Minister weiß wieder gar nicht, was er so eigentlich will. Dabei ist die Reform längst fällig. Seit Jahren wissen wir nämlich, daß Wachstumskrise und Massenarbeitslosigkeit, Verschiebungen im Bevölkerungsaufbau und auch neue technische Entwicklungen die Alterssicherung vor neue Herausforderungen stellen.Übrigens, damit das auch klar ist: Sie haben die Rentenfinanzen nicht in Ordnung, sondern in Unordnung gebracht; denn Sie haben doch die Beitragszahlung für Arbeitslose um 5 Milliarden DM jährlich gekürzt. Es war doch der Griff von Herrn Stoltenberg in die Rentenkasse, der diese Misere verursacht hat!
Dann haben Sie Sparoperationen vorgenommen, dann mußte zum erstenmal in der Geschichte der Republik Rente auf Pump gezahlt werden. Ich denke, wir sind uns einig: Jetzt muß Schluß sein mit dieser kurzatmigen Politik.Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion haben schon 1984 als erste Fraktion ein Rentenreformgesetz eingebracht, das in einem ersten Schritt die Renten auf eine finanziell stabile Grundlage stellen soll. Sie haben diesen Gesetzentwurf damals abgelehnt, aber alles, was Sie heute so an Gedanken äußern, ist im Kern das, was damals schon von uns im Deutschen Bundestag eingebracht worden ist.
Wir haben dieses Konzept auf unserem Nürnberger Parteitag ergänzt, und ich schlage Ihnen einen ganz einfachen politischen Weg vor: Wir Sozialdemokraten sind bereit, ab Januar 1987 die Regierungsverantwortung auch für diese Strukturreform zu übernehmen, und wir laden Sie dann zur Gemeinsamkeit ein, damit wir sie gemeinsam ordentlich hinkriegen.
Ich mache es kurz, weil der Minister gar keinen Anlaß gegeben hat, ihm nun noch einmal all das zu erläutern, was wir wollen. Meine Kollegen wissen das; Sie, meine Damen und Herren, können es nachlesen. Deswegen skizziere ich nur kurz, was wir wollen.
— Sie sollten es lesen, Herr Friedmann! Nach Ihrer Ansicht sind wir einmal im Wolkenkuckucksheim, dann sind wir in der grünen Traumfabrik, und dann rufen Sie zur rentenpolitischen Gemeinsamkeit auf. Ich glaube, das geht so nicht weiter. Es wird Zeit, daß in der Sozialpolitik klare Konzepte auf den Tisch kommen, und dann kann man über die Gemeinsamkeit auch weiter reden.
Was wollen wir also? Ich sage: Auch für die Rentenversicherung hat die Schaffung von Arbeitsplätzen absoluten Vorrang.
Denn es gibt vor allen Dingen eine Generationensolidarität zwischen den Arbeitnehmern. Die einen haben einen Arbeitsplatz und zahlen von ihrem Bruttolohn Beiträge in die Rentenversicherung, und daraus wird die Alterssicherung „Rentenversicherung" finanziert. Das heißt, je mehr Beitragszahler wir haben, um so einfacher sind alle Probleme in der Rentenversicherung zu lösen.
Wenn man es nicht schafft, für Arbeitsplätze zu sorgen, muß eben aus Bundesmitteln für die Arbeitslosen ein voller Beitrag in die Rentenkasse gezahlt werden, damit die finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit nicht allein von den Beitragszahlern aufgefangen werden müssen.
Für uns bleibt es bei der lohnbezogenen, beitragsbezogenen Alterssicherung als Lebensstandardsicherung für den Arbeitnehmer. Wer höhere Beiträge zahlt und längere Beitragszeiten hat, bekommt auch eine höhere Rente. Herr Blüm, wir sind bereit, Sie in diesem Punkt gegen Herrn Biedenkopf in Schutz zu nehmen.
Dann müssen wir die Lasten, die sich aus den demographischen Veränderungen ergeben, ausgewogen auf Beitragszahler, Rentner und Staat verteilen. Dafür haben wir eine neue Rentenformel vorgetragen. Aber die Generationensolidarität gebietet eine Lösung, die die Lasten eben gleichmäßig verteilt, und das heißt auch: Wir brauchen spätestens nach 1990 einen erhöhten Bundeszuschuß. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es unverantwortlich, daß der Finanzminister zur Lösung dieser großen Aufgabe in der Altersversorgung schweigt und zugleich 40 Milliarden DM Steuerentlastung verspricht, die er auch noch über eine Mehrwertsteuererhöhung finanzieren will.
Ferner wollen wir die Konsequenzen aus der technischen Entwicklung ziehen. Wir können nicht hinnehmen, daß sich immer mehr Unternehmen durch Einsatz von Techniken mit immer weniger Arbeitnehmern aus der Finanzierung der Sozialversicherung verabschieden. Deshalb wollen wir, daß sich der Arbeitgeberbeitrag — und nur dieser — nicht mehr nur nach Lohn und Gehalt richtet, sondern nach der gesamten Wertschöpfung des Betriebes.
Eine rentenpolitische Zusammenarbeit kann es für uns aber nur geben, wenn allen älteren Frauen das Kindererziehungsjahr in der Rentenversicherung in einer einzigen Stufe anerkannt wird.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17785
Frau Fuchs
Wir haben uns von Anfang an gegen die Ausklammerung der Trümmerfrauen gewandt. Sie, meine Damen und Herren, haben unsere Beschlüsse von Nürnberg nicht richtig gelesen. Keine Frauengruppe ist von unserer Forderung ausgeschlossen: Anerkennung von Kindererziehungszeiten mit einem Zuschlag für die Rente. Ich sage das, damit die gegenteilige Behauptung endlich aufhört. Sie haben 1972 das Babyjahr verhindert. Wir haben danach eine Fülle von Veränderungen gerade für die Frauen durchgesetzt: Öffnung der Rente für die Hausfrauen, Versorgungsausgleich, Befreiung bei Erkrankung eines Kindes. Der eigentliche Einstieg in die Rentenversicherung bei Kindererziehung ist uns doch wohl durch das Mutterschaftsurlaubsgesetz gelungen, das der Arbeiterin die Chance gab, sich ein halbes Jahr mit Lohn um ihr Kind zu kümmern; und diese Zeit war auch rentenversicherungspflichtig vernünftig geregelt.
Ich habe hier ein Papier, in dem alle Anträge stehen, die die CDU-Opposition von 1969 bis 1982 im Bundestag eingebracht hat. Ich habe gedacht: Wenn das so wichtig ist und wenn der Vorwurf gegen uns so dramatisch ist, dann hätten Sie ja eigentlich in der Oppositionszeit einen Antrag stellen können, die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung vorzusehen. Und ich habe geblättert. Fehlanzeige! Also blasen Sie sich nicht immer mit diesem Thema so unerträglich auf!
Nun bahnt sich ja wohl ein neuer Trick an. Der Bundesarbeitsminister macht einen Stufenplan. Was heißt das? Das heißt, daß die volle Anerkennung der Kindererziehungszeiten für die Frauen, die vor 1921 geboren sind, für die letzten erst im Jahr 1990 Wahrheit wird. Wenn sie dann noch leben! Das sind j a nicht die Jüngsten. Von da sind die Begriffe, die Sie uns vorwerfen, Herr Minister Blüm, doch nicht von uns erfunden. Sondern wir beschreiben nur eine Wahrheit. Sie setzen darauf, daß es bis 1990 nicht so teuer werden wird, weil viele von diesen Älteren nicht mehr in den Genuß der Auswirkungen eines solchen Kindererziehungsjahrs kommen werden.
Wir wollen darüber hinaus die soziale Grundsicherung im Alter regeln. Wir haben auf dem Nürnberger Parteitag dazu Beschlüsse gefaßt, nämlich daß im Alter durch eine Verzahnung von Rente und Sozialhilfe der Gang zum Sozialamt erspart bleibt. Wir wollen die Armen nicht ausgrenzen. Deswegen sollen jene, die nach einem Arbeitsleben keine ausreichende Regelung in der Rentenversicherung haben, über eine Rente aus Sozialhilfe und Rente in der Rentenversicherung ihre einkommensabhängige Rente bekommen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bueb?
Bitte sehr. Vizepräsident Westphal: Bitte.
Frau Fuchs, wie hoch soll denn diese Grundsicherung im Alter sein? Ich habe in Ihrem Programm keine Zahl darüber gefunden. Ich habe nur etwas von nebulösen Beteuerungen gehört und gelesen, daß die Grundsicherung ungefähr in Höhe der Sozialhilfe liegen soll.
Herr Bueb, es hat gar keinen Sinn, im Jahr 1986 Zahlen zu präsentieren, wenn es 1987 oder 1988 in Kraft tritt. Deswegen sage ich noch mal: Es kommt erstens darauf an, bei niedriger Alterssicherung durch eine Verzahnung von Sozialhilfe und Rente für ein menschenwürdiges Leben zu sorgen. Zweitens kommt es darauf an — das ist ein wichtiger Punkt —, daß diese Rente ausgezahlt wird und daß mit dem Rückgriff auf die Kinder aufgehört wird; d. h. das wird eine eigene soziale Sicherung für das Alter.
Den vierten Punkt nenne ich, damit er nicht in Vergessenheit gerät: Wir können uns eine Altersversorgungsreform nicht vorstellen, ohne erste Schritte für die Harmonisierung der Alterssicherungssysteme in ein solches Konzept aufzunehmen.
Ich lasse die Feinheiten im Augenblick unerwähnt, weil ich meine: Es wäre schon ganz gut, wenn der Bundesarbeitsminister wenigstens dies zur Kenntnis nähme und vielleicht in einer der nächsten Debatten dazu Stellung nähme. Dann kämen wir in diese gemeinsam geforderte Diskussion mit dem Austausch von Sachargumenten.Nun komme ich zu einem anderen Punkt. In dieser Debatte geht es um die Bewertung der Politik dieser Bundesregierung und um die Frage: Gibt es eigentlich Zukunftsperspektiven in dieser Industriegesellschaft? Sie werden es mir nicht verdenken, ich bewerte diese Politik negativ und werfe ihr Mangel an Zukunftsperspektiven vor.
Denn so ist es doch, der Finanzminister versucht in dieser Woche vergeblich, seine Finanzpolitik als Erfolg darzustellen. Tatsache ist doch aber — das hat der Hamburger Bürgermeister hier sehr deutlich gemacht —, er hat Politik auf dem Rücken der breiten Mehrheit unseres Volkes gemacht. Er hat seine Sparpolitik nicht einmal benutzt, um die Zukunftsaufgaben des Landes zu lösen, nämlich Abbau von Massenarbeitslosigkeit oder ökologische Erneuerung, sondern er hat sie einseitig genutzt, um den besser Verdienenden ökonomisch unsinnige Finanzgeschenke zu machen.
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17786 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Frau Fuchs
Ich will auf die Auswirkungen nicht noch einmal eingehen. Alle Gruppen sind von diesen katastrophalen Auswirkungen betroffen. Die Massenarbeitslosigkeit beharrt auf Rekordniveau. Und die Zukunftsperspektiven, meine Damen und Herren? In der mittelfristigen Finanzplanung gehen Sie von jährlich 2 Millionen Arbeitslosen aus. Das ist Ihre Zukunftsperspektive. So ist es: Kein Abbau von Massenarbeitslosigkeit, kein Konzept zur langfristigen Stabilisierung der Renten, geschweige denn ein Konzept zur Neuordnung des Gesundheitswesens. Dabei hat sich der Bundesarbeitsminister statt dessen für eine Politik der gesellschaftlichen und verteilungspolitischen Wende mißbrauchen lassen. Die Konzepte haben Herr Stoltenberg, die Arbeitgeber, Graf Lambsdorff und Herr Bangemann geschrieben. Norbert Blüm hat sie Punkt für Punkt ausgeführt. Die Arbeitgeber können mit diesem Arbeitsminister zufrieden sein.
Nun sagen manche, wir seien pessimistisch, und manche leugnen die neue Armut. Der Bundeskanzler hat einmal gesagt, die neue Armut sei eine Erfindung des sozialistischen Jetsets. Meine Damen und Herren, ich empfehle ihm, einmal zum Deutschen Roten Kreuz zu gehen oder bei der Arbeiterwohlfahrt oder der Caritas nachzufragen. Wenn wir diese Politik angreifen, dann sind wir nicht pessimistisch, sondern wir greifen sie an, weil wir sie unbarmherzig finden, weil wir sie unchristlich finden.
Wenn wir diese Politik bekämpfen, so schüren wir doch nicht, wie Sie meinen, Sozialneid, sondern appellieren an den Anstand in unserer Gesellschaft.
Wir sind doch ein reiches Land und könnten die Probleme auch so lösen, daß nicht die sozial Schwachen allein die Lasten zu tragen haben.Der Bundeskanzler hat gestern so in seiner Art unser Engagement gegen Armut und für soziale Gerechtigkeit mit einer Handbewegung vom Tisch zu wischen versucht, aber ich sage Ihnen noch einmal: Wir treten für die Menschen ein, die unter dieser Bundesregierung keine Lobby haben. Wir Sozialdemokraten kämpfen gegen Armut und für Gerechtigkeit gerade für jene in unserem Lande, die nicht zu den Starken zählen. Denn das ist doch wohl unser historischer sozialdemokratischer Auftrag, daß mit einer solidarischen Politik die Starken die Schwachen mitnehmen und nicht auf der Strecke lassen.
Deswegen sage ich noch einmal, wir werden uns mit Massenarbeitslosigkeit nicht abfinden. Sie tun immer so, als ob es 2 Millionen seien, inzwischen ist in jeder dritten Arbeitnehmerfamilie Arbeitslosigkeit gewesen.
Massenarbeitslosigkeit unterhöhlt die Qualität derDemokratie, Massenarbeitslosigkeit nimmt denMenschen die Chance, durch Erwerbsarbeit ihrenLebensunterhalt zu verdienen, und sie führt dazu, daß wir neue Armut haben.Deswegen sage ich Ihnen noch einmal, machen Sie nicht so falsche Zahlenspiele. Die Erwerbstätigenzahl ist Ende 1986, wenn wir Glück haben, gerade so hoch wie im Jahre 1982. Es sind keine zusätzlichen Erwerbstätigen in diesen Jahren hinzugekommen,
und dann sind es noch Arbeitsplätze, die vornehmlich Teilzeitarbeitsplätze sind. Dort ist der größte Zuwachs zu verzeichnen.
Nun kommt der entscheidende Punkt, bei dem ich mich auch mit Herrn Cronenberg auseinandersetzen will. Wir haben eine positive wirtschaftliche Entwicklung, wir haben Preisstabilität und wir haben eine Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen. Einverstanden. Aber wir haben auf Dauer, wie Sie selbst sagen, mehr als zwei Millionen Arbeitslose. So, nun sagen Sie, dagegen kann man nichts tun.
Und wir sagen: Wir wollen für mehr Arbeit sorgen! Dann kommen unsere Konzepte, die Sie alle miteinander ablehnen. Das Programm Sondervermögen Arbeit und Umwelt wird von Ihnen abgelehnt, öffentliche Investitionen werden von Ihnen abgelehnt, Arbeitszeitverkürzungen werden von Ihnen abgelehnt. Das einzige, was der Bundesarbeitsminister zur Arbeitszeitverkürzung sagen kann ist, daß er seinen alten Hut „Vorruhestand" herausholt. Dabei weiß jeder, daß das ein Flop war.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Ich wäre Ihnen dankbar, Frau Kollegin, wenn Sie mir sagen würden, wann ich gesagt habe: Da kann man nichts dagegen tun. Ist es nicht vielmehr so, Frau Kollegin, und können Sie dem nicht zustimmen, vielmehr so, daß ich Ihnen hier und heute gesagt habe: Der Kuchen muß größer werden, es muß mehr erwirtschaftet werden; nur wenn mehr erwirtschaftet wird, dann ist auch mehr Arbeit da, wofür ich die entsprechenden Rezepte angeboten habe?
Herr Cronenberg, ich will Ihnen die Argumente von Herrn von Dohnanyi noch einmal übermitteln. Das ist doch der Punkt. Es geht nicht, daß man sich allein auf die klassischen wirtschaftlichen Entwicklungen verläßt.Sie sagen doch nach Ihren Rechnungen als Bundesregierung, sie tun alles, um Arbeit zu schaffen. Obwohl Sie dieses sagen, bleiben auf Dauer zwei Millionen Menschen arbeitslos.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17787
Frau Fuchs
— Bis 1990 zumindest. Deswegen ist doch die Frage, wo kann denn durch unsere Programme erreicht werden — ich will das gleich noch ergänzen —, wo kann denn der Staat durch Impulse dafür sorgen, daß brachliegende Arbeit in Arbeitsplätze umorganisiert wird. Das ist doch das Thema auch von Klaus von Dohnanyi.
Dazu gehört dann ein Abbau der Überstunden, aber dazu gehört auch, daß die lobenswerten Erkenntnisse, Herr Bundesarbeitsminister, aus den Arbeitsbeschaffungsprogrammen — da waren Sie besser am Schluß als wir, das gebe ich zu — uns doch zeigen, daß man durch staatliche Impulse Arbeitsplätze schaffen kann. Nun kommt doch die Frage: welche Phantasie, welche Kreativität und welche Chance zur Überwindung der Töpfchenwirtschaft haben wir denn, um diese guten Erfahrungen einzubringen in Umweltschutz, in soziale Dienstleistungen oder meinetwegen auch ganz einfach wieder in Arbeitsplätze im öffentlichen Bereich? Denn, schauen Sie doch mal zu Post und Bahn. Ist es eigentlich richtig, daß wir dort nur von Sachinvestitionen reden und überhaupt nicht mehr an die Arbeitnehmer denken, die durch Personalabbau und Leistungsverdichtung überstrapaziert werden, und daß viele Beschäftigungsmöglichkeiten gar nicht mehr genutzt werden.
Das ist ein Thema, wo wir nicht lockerlassen dürfen. Ich will eben noch eine Zahl nennen, dann komme ich noch zu einem anderen Thema, das mir noch am Herzen liegt.55 Milliarden DM gibt dieser Staat durch Beitragsausfall, Steuerausfall und soziale Leistungen für die Massenarbeitslosigkeit aus. Die Kommunen haben doch recht: Der Stoltenberg hat ihnen — der Sozialhilfe — die Arbeitslosen vor die Tür gekarrt, tut hier so, als ob er konsolidiert hätte, und die Kommunen sind nicht in der Lage, dort für Arbeitsplätze zu sorgen, wo Arbeit brachliegt. Das ist doch die gesellschaftliche Veränderung.
Eine erfolgreiche Politik, meine Damen und Herren, kann man nur machen, wenn man sich um Konsens und sozialen Frieden bemüht. Aber ich sage Ihnen: den sozialen Frieden können Sie nicht beschwören. Für sozialen Frieden müssen Sie die Bedingungen schaffen, damit auch alle Menschen, die guten Willens sind, an einen Tisch kommen, um den sozialen Frieden zu gestalten. Da hat die Bundesregierung schwer gesündigt,
statt die wirtschaftlichen Partner an einen Tisch zu bringen und gemeinsam mit ihnen nach Wegen zu suchen. Aber nicht so, wie es Herr Bangemann sagt: Kommt mal zur Konzertierten Aktion, dann sagen wir euch, wie man untertarifliche Arbeitsplätze schafft! Das kann ja wohl nicht der Weg sein, wenner die Gewerkschaften verhöhnt und meint, man solle noch dahinkommen.
Sie haben j a deutlich gemacht, was Sie mit der Veränderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes wollen. Unter dem falschen Vorwand, die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit sichern zu wollen, haben Sie doch mit dieser neuen Rechtslage die Strategie der Arbeitgeber für eine aktive kalte Aussperrung salonfähig gemacht.
Wir werden dies rückgängig machen, meine Damen und Herren!
Dann haben Sie mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz die befristeten Arbeitsverträge schrankenlos zugelassen.
Sie haben Leiharbeit ausgedehnt. Sie haben Teilzeitarbeit immer noch so gestaltet, meine Damen und Herren, daß die meisten Teilzeitarbeitsplätze immer noch mit unter 410 DM angeboten werden. Und wer etwas tun will für ordentliche Teilzeitarbeitsplätze, der muß für die Abschaffung dieser Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung sorgen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bueb?
Bitte sehr.
Frau Fuchs, Sie haben gerade die Neufassung des § 116 AFG kritisiert.
Wie können Sie dann das Verhalten Ihrer Kollegen im Obleutegespräch im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung rechtfertigen, die sich geweigert haben, unseren Antrag, unseren Gesetzentwurf zum gesetzlichen Aussperrungsverbot auf die Tagesordnung zu setzen, anzunehmen? Sie wollten ihn in dieser Legislaturperiode mit dem fadenscheinigen Argument nicht mehr diskutieren lassen, Sie hätten nicht ausreichende Beratungszeit, Sie brauchten dazu eine Anhörung. Vorher hatten wir fünf andere Anhörungen beschlossen. Und Sie wissen genau: Wenn wir hier im Bundestag beschließen würden — —
Augenblick, Herr Kollege: Ihre Frage hatten Sie angebracht.
Einen Satz noch. — Und Sie wissen ganz — —
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17788 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Nein, Herr Bueb, das geht nicht.
— Nein, Sie müssen damit rechnen, daß der — —
Ich sage Ihnen die Antwort, Herr Kollege: Hopp-Hopp-Anträge der GRÜNEN ohne sorgfältige Beratung mit den deutschen Gewerkschaften werden von uns nicht unterstützt. Was wir wollen, ist die Änderung des § 116, den die Bundesregierung hier verabschiedet hat.
Herr Kollege Bueb, Ihre Fraktion hat Redezeit, die Sie benutzen können. Hier darf man nur zwischenfragen.
— Jetzt frage ich aber die Abgeordnete, ob sie weitere Zwischenfragen zuläßt. —
— Sie verzichten.
Ich muß, glaube ich, zum Schluß kommen — wenn ich meinen Obmann ansehe.
Deswegen, meine Damen und Herren, liegt mir daran, daß ich hier noch einmal das Problem der Befristung der Arbeitsverträge deutlich mache; denn es ist doch so: Das Heuern und Feuern ist in den Betrieben Realität geworden. Bei den Arbeitnehmern ist schleichend umgebaut worden. Ich empfehle dem Arbeitsminister, sich wirklich mal zu informieren, wie dramatisch dieser Umbau von Arbeitsplätzen stabiler Art zu Arbeitsplätzen unsicherer Art geworden ist.
Wir wollen dieses zurücknehmen; denn wir brauchen für die Volkswirtschaft mehr Rechte für die Arbeitnehmer, und wir brauchen eine soziale Gestaltung der technischen Entwicklung. Deswegen ist unser Konzept nicht Abbau von Arbeitnehmerrechten, sondern mehr Mitbestimmung in den Betrieben, mehr Mitbestimmung auf allen Ebenen.
Da wird dann ein Punkt kommen, bei dem ich Herrn Blüm ermuntere, auf Herrn Biedenkopf zu hören. Es wird darum gehen, ob es gelingt, noch in dieser Legislaturperiode eine Änderung des Montanmitbestimmungsgesetzes zu erreichen; denn es wird Zeit, weil dieses 1987 ausläuft.
Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht. Die CDU, die in Nordrhein-Westfalen, natürlich mit Recht, um die Arbeitnehmerstimmen bangt, hat immerhin gesagt: Wir wollen zu den Gewerkschaften ein ordentliches Verhältnis haben. — Und Herr Biedenkopf hat gesagt: Ach, gucken wir doch mal. Wie ist es denn mit der Montanmitbestimmung? — Also,
solche philosophischen Betrachtungen sind ja ganz hübsch, meine Damen und Herren. Aber wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht. Und der wird hier noch zur Entscheidung anstehen. Dann können wir Sie prüfen, ob Ihre Parteitage nur Blabla reden oder ob Sie bereit sind, für mehr Mitbestimmung in dieser Bundesrepublik einzutreten.
Ich glaube, das ist der Unterschied zu Ihnen: Wer Arbeitnehmerrechte und die Mitbestimmung als großes Investitions- und Beschäftigungshemmnis diffamiert, der nutzt die wirtschaftliche Krise einseitig zugunsten der Arbeitgeber aus. Wir sagen: Industrieller Wandel, gepaart mit sozialer Sicherung, ist möglich mit verläßlichen Arbeitsbedingungen, mit mehr Mitbestimmung, mit sozialer Gestaltung der Industriegesellschaft und dem Ausbau der Tarifautonomie. Er setzt allerdings voraus — und das habe ich schon gesagt —, daß der soziale Konsens nicht durch eine arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Politik gefährdet wird.
Wir Sozialdemokraten bleiben bei unserem Weg des Sozialstaatsgebots als Richtschnur unseres Handelns. Wir bleiben einer Politik verpflichtet, die an sozialen Maßstäben ausgerichtet ist. Nur durch sie können wir den Weg zu einer sozialen Demokratie ebnen. Auf diesem Weg schüren wir eben nicht Klassenkampf und nicht Sozialneid, sondern appellieren — ich wiederhole mich — an den Anstand, an die Barmherzigkeit und an die soziale Verantwortung aller Bürger.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Fuchs, ich möchte zunächst zwei Bemerkungen zu Ihren Ausführungen machen.Zunächst einmal möchte ich klarstellen, daß die Zahl der Beschäftigten bei der Post in den letzten Jahren nicht abgenommen, sondern zugenommen hat.
Es ist zwar an einer Stelle der Post abgebaut worden, aber an anderen Stellen ist dieser Abbau mehr als aufgefangen worden, so daß die Post heute mehr Mitarbeiter hat als zu Beginn dieser Legislaturperiode.
Frau Fuchs, wenn die Post Investitionen tätigt, dann bedeutet das natürlich auch Arbeitsplätze an anderer Stelle, Arbeitsplätze bei Firmen, die diese Investitionsgüter machen.
Ich wundere mich immer, warum Sie die wirtschaftlichen Zusammenhänge auseinanderreißen, portionieren und immer nur in kleinen Scheiben zu betrachten versuchen. Das tun Sie offensichtlich nur,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17789
Frau Dr. Adam-Schwaetzerweil das dann anscheinend besser in Ihr ein bißchen verzerrtes Bild hineinpaßt.
Herr Blüm hat gesagt, Zahlen vermitteln Objektivität. Ich denke, daß die Debatte sowohl in den letzten Tagen als auch heute gezeigt hat, daß man mit Zahlen auch manipulieren kann
und daß häufig genug eine Scheinobjektivität vermittelt wird.Frau Fuchs, auch dazu möchte ich ein Beispiel aus Ihrer Rede bringen. Sie haben gesagt, daß von der Entlastung, dem verbesserten Einkommen der Familien mit einem Kind im Jahr nach der Geburt von über 6 000 DM nach einem Jahr ein großer Teil wegfällt. Wir haben nie etwas anderes behauptet. Denn natürlich wird das Erziehungsgeld derzeit für zehn Monate gezahlt, ab 1988 für ein Jahr. Das ist zweifellos ein erheblicher Betrag, aber eben auch ein Betrag, der den Familien in dieser Zeit zur Verfügung steht, über das hinaus, was frühere Regierungen gemacht haben.Ich denke, wir sollten der Öffentlichkeit ein wahrhaftiges Bild zeichnen. Die Bürger werden uns daran messen, wie wir mit unseren eigenen Entscheidungen, mit unseren eigenen Erfolgen, aber auch Mißerfolgen umgehen. Sie haben ein wachsendes Gespür dafür, wenn nur schwarzgemalt oder nur weißgemalt wird.Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Resümee über die vergangenen vier Jahre ein Bild zeichnen, das sich sicherlich in den Erfolgen ein wenig von dem unterscheidet, was viele Vorredner hier präsentiert haben. Das Bild der Bundesrepublik Deutschland ist nicht so düster und schwarz, wie die Sozialdemokraten es zeichnen.
Aber das Bild der Bundesrepublik ist vielleicht auch nicht ganz so hell, wie manche Christdemokraten es gerne zeichnen möchten. Der Anspruch, mit dem diese Regierung angetreten ist, war in der Sozialpolitik zweierlei: erstens das soziale Netz durch Umbau an die Belastungen der Zukunft anzupassen, ohne in den Kernbereich einzugreifen, und zum anderen Lohnnebenkosten stabil zu halten, um auch damit Arbeitslosigkeit zurückzuführen.Nicht alles, meine Damen und Herren, was wir uns vorgenommen hatten, konnte auch verwirklicht werden. Es war ein bißchen weniger, als die CDU/ CSU den Bürgern glauben machen will, aber sicherlich viel mehr, als die SPD den Bürgern einreden will. Wir haben den Bürgern zu Beginn dieser Legislaturperiode viel abverlangt. Aber die Bürger haben dafür soziale Sicherheit bekommen. Das spüren sie in zunehmendem Maße.
Die SPD möchte das soziale Klima in der Bundesrepublik herunterreden, aber in den Umfragen merkt sie, daß ihr das zunehmend weniger gelingt.Frau Fuchs, Sie haben gesagt: Man kann den sozialen Frieden nicht beschwören. Aber ich bin ganz sicher, auch mit Ihrer Schwarzmalerei werden Sie es nicht schaffen, ihn kaputtzureden.
Die entscheidenden Schritte zu mehr Stabilität beim Umbau des sozialen Netzes, meine Damen und Herren, haben wir unter einer ganz klaren Setzung von Prioritäten durchgeführt. Eine dieser Prioritäten waren Ausbau und Verbesserung der Leistungen in der Familienpolitik.Wir haben es geschafft, daß die Renten aus dem Gerede gekommen sind. Wir haben das dadurch geschafft, daß wir Entscheidungen getroffen haben, die dafür sorgen, daß Renten und Einkommen der aktiven Arbeitnehmer im Gleichklang steigen. Trotz der schrittweisen Einführung eines Krankenversicherungsbeitrages für Rentner — der Wiedereinführung müßte ich besser sagen — ist das Rentenniveau heute höher als vor drei Jahren. Es ist auf dem Niveau von 1977. Das heißt, in den letzten Jahren sind die Rentnereinkommen immer noch etwas stärker gestiegen als die Einkommen der Arbeitnehmer. Die Renten sind mittelfristig ohne Probleme, und das gibt uns die Zeit, die Strukturreform für die langfristige Sicherung der Renten einzuleiten.Frau Fuchs, da ich davon überzeugt bin, daß nach dem 25. Januar die Bundesregierung in ihrer jetzigen Zusammensetzung weiterregieren wird
— wir werden sicher in einen Wettstreit in den nächsten Monaten darüber eintreten —, laden wir Sie ein, wie Sie das eben uns gegenüber auch getan haben, mit uns diese Rentenstrukturreform zu machen.Meine Damen und Herren, zum Thema „Trümmerfrauen" wird sehr schief argumentiert und auch, glaube ich, von vielen der Kollegen ein bißchen an der Wahrhaftigkeit vorbei. Frau Fuchs, Sie können doch nicht bestreiten, daß nach dem gescheiterten Versuch von 1972 die sozialliberale Koalition keinen weiteren Versuch zur Verankerung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht gemacht hat.
— Ich ergänze ja nur Ihre Rede. Ich bestreite überhaupt nicht, was Sie in Ihrem Zwischenruf gesagt haben, nur, ich finde, der Wahrhaftigkeit wegen sollte man beide Seiten nennen.
Ich möchte Sie auf eine Tatsache aufmerksam machen: Die Rentenversicherungsträger bearbeiten heute 700 000 Fälle pro Jahr. Die Frauen, die Anspruch auf Kindererziehungszeiten hätten und nach unseren Vorstellungen haben, weil sie vor 1921 geboren sind, sind 4,2 Millionen. 4,2 Millionen Rentenfälle müssen neu berechnet werden, und
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17790 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Frau Dr. Adam-Schwaetzerderzeit gibt es die Möglichkeit, 700 000 Fälle pro Jahr überhaupt zu berechnen. Das heißt, Sie können sich ausrechnen, was es bedeuten würde, alle Rentenfälle neu zu berechnen, wenn man der Forderung der Sozialdemokraten nachkäme, dies für alle Trümmerfrauen gleichzeitig einzuführen. Dann könnte man nämlich nicht am 1. Oktober 1987 anfangen, sondern sehr viel später.
Meine Damen und Herren, wir haben die Arbeitslosenversicherung neuen Herausforderungen angepaßt. Es ist richtig, daß wir eine Differenzierung der Leistungshöhe nach dem Familienstand vorgenommen haben, weil eine Familie mit Kindern einen höheren Bedarf hat als ein kinderloser Alleinstehender oder ein kinderloses Ehepaar.Wir haben aber auch, meine Damen und Herren, der Herausforderung der Langzeitarbeitslosigkeit unsere Antwort entgegengesetzt. Wir haben die Versicherungszeit leistungsgerecht ausgestaltet. Wir haben für die älteren Arbeitslosen, die längerfristig arbeitslos sind, die Bezugszeit von Arbeitslosengeld erhöht, derzeit bis auf zwei Jahre. Und, meine Damen und Herren, es ist eine weitere Differenzierung vorgesehen, weil es auch uns — das ist eine alte FDP-Forderung — unerträglich erscheint, daß vor allen Dingen ältere Arbeitslose, die lange Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, schon frühzeitig auf Arbeitslosenhilfe verwiesen werden, statt das höhere Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen zu können.
Wir haben auch mit einem Umbau der Arbeitsmarktinstrumente
auf die neuen Herausforderungen reagiert, die sich durch zunehmende Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitnehmer ergeben. Wir haben Teilunterhaltsgeld eingeführt, wir haben die Einarbeitungszuschüsse ausgebaut, wir haben Rehabilitations- und Bildungsmaßnahmen auch für sonst nicht leistungsberechtigte Arbeitnehmer eingeführt, die zur Arbeitsaufnahme gezwungen sind. Das, meine Damen und Herren, sind die Instrumente, die der Qualifikation der Arbeitnehmer dienen können, die vor allen Dingen aber den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt erleichtern.Den Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung haben wir bisher nicht in Angriff genommen. Das ist eine der zentralen Aufgaben, die uns für die nächste Legislaturperiode ins Haus stehen. Wir wollen mehr Anreize für Leistungserbringer und Versicherte zu sparsamem Verhalten einführen. Das bringt uns zweifellos in Gegensatz zur Politik der SPD.
Denn die Sozialdemokraten planen ein wenig mehrPlanwirtschaft gerade in diesem Bereich. Das hatden wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Roth, ja schon dazu veranlaßt, hier bremsend einzugreifen, weil er Angst davor hat,
daß die SPD in diesem Punkt ein wenig in ihrem Planwirtschaftsrausch entlarvt wird.
Wir haben, meine Damen und Herren, auch in dem Punkt Lohnnebenkosten einen schwierigen Weg vor uns gehabt.
Wir hatten uns vorgenommen, die Lohnnebenkosten in dieser Legislaturperiode nicht steigen zu lassen. Das ist uns nicht gelungen. Denn wir mußten hier immer zwischen den Ausgaben, die auf Grund der Arbeitslosigkeit, auch auf Grund der Rentnerstruktur, auf uns zukamen, und der Notwendigkeit abwägen, hier bremsend einzugreifen.
Eine große Aufgabe, meine Damen und Herren, haben wir damit in Angriff genommen, daß wir das Arbeitsrecht den veränderten Bedingungen der Zeit anpassen. Wir sind auf dem Weg von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Meine Damen und Herren, es wird immer deutlicher, daß die Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben und weniger kollektive Regelungen befürworten. Das Ziel muß also sein, starre, kollektive Regelungen, wie sie im Arbeitsrecht noch sehr häufig anzutreffen sind, den Bedürfnissen der einzelnen anzupassen.
Dazu brauchen wir Arbeitszeitsouveränität. Wer hätte es denn nicht schon selbst mitbekommen, daß die Gleitzeit der Erfolg der letzten Jahre gewesen ist, eine Gleitzeit, die im übrigen nicht gesetzlich abgesichert ist,
sondern die Arbeitnehmer für sich einsetzen, um damit ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden.Die Gewerkschaften stehen solchen Bestrebungen einer weiteren Arbeitszeitflexibilisierung ablehnend gegenüber, vielleicht nur nach außen. Denn immerhin hat der neue — demnächst neue — Vorsitzende der IG Metall, Herr Steinkühler, einmal laut darüber nachgedacht, ob nicht genau ein solcher Weg der Weg der Gewerkschaften in die Zukunft sein müßte. Er hat sogar den Samstag in seine Überlegungen mit einbezogen. Wir wünschen Herrn Steinkühler, daß er den Mut aufbringt, diese Gedanken weiter zu denken.
— Ja, er ist ja leider Gottes von der IG Metallzurückgepfiffen worden. Trotzdem sind wir davonüberzeugt, daß die Zeit über diese rückwärtsge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17791
Frau Dr. Adam-Schwaetzerwandten Positionen der Gewerkschaften letztlich hinweggehen wird.
Die SPD ist ein bißchen widersprüchlich, was ihre eigene Position zu mehr Flexibilität angeht: In Ihren Nürnberger Beschlüssen fordern Sie einerseits mehr Arbeitszeitflexibilisierung,
aber andererseits soll dann alles wieder kollektiv abgesichert werden.
Und das, meine Damen und Herren, ist ja ein Widerspruch in sich selbst.
Wir haben auch dafür gesorgt, daß mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt den Arbeitslosen wieder eine Chance gibt. Meine Damen und Herren, wir können uns stundenlang darüber streiten, wie viele der etwa 600 000 zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätze, die es bis zum Ende dieses Jahres geben wird, darauf zurückzuführen sind, daß wir eine Arbeitszeitverkürzung haben. Wir bestreiten überhaupt nicht, daß auch das dazu beigetragen hat, aber mit Sicherheit haben die Instrumente, die wir im Beschäftigungsförderungsgesetz zur Verfügung gestellt haben, dafür gesorgt, daß hier mehr Menschen die Chance bekommen, wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert zu werden.
— Man kann beklagen, daß von dem Instrument Zeitarbeitsvertrag Gebrauch gemacht wird, aber, Frau Fuchs, schon jetzt stellt sich heraus, daß ein nicht unerheblicher Teil der Arbeitnehmer, die zunächst mit einem befristeten Arbeitsvertrag eingestellt worden sind, in Dauerarbeitsverhältnisse übernommen werden.
— Erkundigen Sie sich einmal in den Betrieben, gehen Sie wirklich einmal in die Betriebe!
Meine Damen und Herren, dann sollte man sich doch wirklich nicht mehr hier hinstellen und sagen, die Brücke aus der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung, die hier gebaut worden ist, solle nur deshalb nicht begangen werden, weil da ideologische Schranken aufgebaut werden. Wir jedenfalls werden diesen Weg sicherlich mit Aufmerksamkeit verfolgen, seine Erfolge werten und, wenn er sich bewährt, auch die entsprechenden Regelungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes verlängern.Meine Damen und Herren, wir wollen Beschäftigungshemmnisse weiter abbauen. Das Arbeitszeitgesetz von 1938 ist leider nicht mehr zeitgemäß. Es verbietet Frauen zum Beispiel im Bauhauptgewerbe tätig zu werden.
— Es gibt auch noch ein anderes Hemmnis — richtig, das Stichwort Nachtarbeit —, das sich zu einem Beschäftigungsverbot für Frauen in technischen Berufen auswirkt.Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen, beide aus der Praxis der Frauenbeauftragten des Landes Berlin.
Da kommt eine Chemiearbeiterin aus der DDR, fertig ausgebildet, sucht eine Stelle in der Bundesrepublik — —
— Herr Glombig, es tut mir leid; ich nehme Sie selbstverständlich zur Kenntnis, aber lassen Sie mich gerade diese beiden Beispiele nennen.
Frau Kollegin AdamSchwaetzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage zu dem letzten Teil Ihrer Ausführungen?
Ja, bitte schön.
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie das Beschäftigungsförderungsgesetz verlängern wollen? Wenn ich das richtig verstanden habe: Haben Sie inzwischen zur Kenntnis genommen, daß das Beschäftigungsförderungsgesetz nach den Zahlen, die uns heute von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung bekannt sind, so negativ wirkt, daß die Ausgaben für das Krankengeld exorbitant gestiegen sind?
Herr Glombig, ich habe von einer Regelung des Beschäftigungsförderungsgesetzes, nämlich von den befristeten Arbeitsverträgen, gesprochen. Sie sind derzeit befristet. Wir werden die Erfahrungen damit sorgfältig prüfen.
Wenn sich herausstellt, daß sie positiv sind — es gibt sehr viele Anzeichen dafür, daß langfristig Arbeitslose und auch diejenigen, die aus der stillen Reserve kommen, bessere Chancen haben, Zugang zum Arbeitsmarkt finden —, dann wollen wir das allerdings verlängern.
Zu den Beispielen. Eine Chemiearbeiterin kommt aus der DDR und möchte in der Bundesrepublik Beschäftigung finden. Sie findet keine Beschäftigung, weil viele chemische Anlagen rund um die
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17792 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Frau Dr. Adam-SchwaetzerUhr arbeiten und die Firmen natürlich sagen: Wir dürfen Sie nachts nicht einsetzen; dann können wir Sie leider auch nicht einstellen. — Ein schlichtes Beschäftigungsverbot war das erste, was diese Frau von der Bundesrepublik kennenlernte.
Ein zweites Beispiel. Das Energieversorgungsunternehmen des Landes Berlin hat zum erstenmal auch Frauen als Energiefacharbeiterinnen ausgebildet. Diese Frauen wurden nach der Ausbildung als einzige nicht übernommen, weil das Unternehmen gesagt hat: Während der Ausbildung durftet ihr nachts sowieso nicht arbeiten, aber wir können ja nachts den Strom nicht abschalten; also müßten wir Sie auch nachts einsetzen. Das aber dürfen wir nicht; daher können wir Sie leider nicht übernehmen.
Meine Damen und Herren, das sind Beschäftigungsverbote für Frauen. Wir wollen keine vermehrte Nachtarbeit. Das wäre ein völlig falscher Weg. Wir wollen die Aufhebung von Beschäftigungsverboten.Wir werden uns auch in der nächsten Legislaturperiode darum bemühen, den Minderheitenschutz zu verbessern. Mehr Flexibilität in der Arbeitswelt bedeutet mehr Demokratie im Betrieb. Deshalb sollen auch kleine Gewerkschaften zu ihrem Recht kommen, und wir wollen diese Rechte absichern. Das bedeutet auch, daß leitende Angestellte das Recht auf eine eigene Interessenvertretung haben müssen. Wir bedauern es sehr, daß die Union nicht die Kraft gehabt hat, noch in dieser Legislaturperiode den Gesetzentwurf mit uns zum Abschluß zu bringen, den wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben.
— Ich habe leider keine Redezeit mehr, Herr Lutz, deshalb kann ich Ihnen Ihre Zwischenfrage nicht mehr gestatten.Wir werden uns auch in der Zukunft darum bemühen, die Mitsprache der Arbeitnehmer im Betrieb zu sichern und auszubauen. Deshalb halten wir an der Mitbestimmung von 1976 fest, und das bedeutet, daß wir die Montan-Mitbestimmung dort, wo sie mit den jetzigen Regelungen nicht mehr greift, abgelöst sehen möchten durch die Mitbestimmung von 1976; denn uns geht es nicht darum, daß Gewerkschaftsfunktionäre von außen mehr Mitspracherecht haben, sondern daß die Arbeitnehmer des Betriebes ihre Mitspracherechte wahrnehmen können.
Meine Damen und Herren, die vergangene Legislaturperiode hat viele Probleme gebracht. Wir sind sie entschlossen angegangen, wir haben eine ganzeMenge erreicht, aber es bleibt noch viel zu tun für die nächste Legislaturperiode.
Die Konzepte dafür haben wir vorgelegt, und wir werden weiter daran arbeiten, daß wir sie verwirklichen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf erst einmal Frau Dr. Adam-Schwaetzer bestätigen, daß sicherlich auf sozialpolitischem Gebiet in der letzten Legislaturperiode auch zwischen den Koalitionsparteien Meinungsverschiedenheiten bestanden haben. Das ist etwas ganz Natürliches; aber vorbildlich für Sozialpolitiker dieser Koalition war, wie wir sie gemeinsam erfolgreich gelöst und wie wir uns entschieden haben. Ich glaube, das war vorbildlich für die Demokratie.
Nun, verehrte Frau Kollegin Fuchs, will ich Ihnen gerne bestätigen, daß Sie versucht haben, in diesem neuen Raum im Kammerton die Kritik vorzutragen.
Aber, verehrte Frau Kollegin, Sie werden sicherlich verstehen, daß ich, selbst wenn unberechtigte Kritik und falsche Argumente, auch im Kammerton, auch mit Charme vorgetragen werden, diese trotzdem für meine Fraktion entschieden zurückweisen muß.
Ich werde in meiner Rede versuchen, das darzustellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir müssen doch einmal vor aller Öffentlichkeit deutlich machen, wie die Bundesrepublik Deutschland wirklich aussieht. Ich nehme hier den Sozialbericht — sowie das Sozialbudget - zur Kenntnis, den alle Bundesregierungen jedes Jahr angefertigt haben, den das Kabinett verabschiedet hat. Diese Bundesregierung hat dies am 1. Juli dieses Jahres getan.
— Herr Vorsitzender, ich greife doch den Verhandlungen gar nicht vor. Ich will nur sagen, daß unbestritten ist — das ist auch von Ihnen hier nicht bestritten worden —, daß das Sozialbudget von 1982 bis 1986 um 80 Milliarden DM zugenommen hat.
Jagoda
— Verehrte Frau Kollegin, ich komme gleich darauf.
Nun erinnere ich die SPD an ihre Sitzung vom 30. Juni 1982, als Ihr damaliger Bundeskanzler Ihnen gesagt hat: Wenn Sie mehr für die Beschäftigung tun müssen, müssen Sie noch stärker in das soziale Netz einschneiden. Wir haben das soziale Netz gestärkt, in dem uns 80 Milliarden DM mehr zur Verfügung stehen als 1982.
Wir haben also das, was Sie hätten machen müssen, nicht zu machen brauchen, weil wir eine erfolgreiche Politik gemacht haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Eine Zwischenfrage meines Ausschußvorsitzenden gestatte ich selbstverständlich.
Herr Kollege Jagoda, glauben Sie eigentlich an dies Märchen von der Ausweitung des öffentlichen Korridors durch Sozialleistungen, wenn Sie berücksichtigen, daß dies doch keine Frage der qualitativen Ausweitung des Systems der sozialen Sicherheit ist, sondern höchstens ein quantitatives durch die Verlagerung von Leistungen von einem Sachgebiet in das andere und dadurch, daß auf Grund der Armut, die inzwischen eingetreten ist, die Zahl der Leistungsberechtigten vor allem in der Sozialhilfe zugenommen hat?
Herr Vorsitzender, ich glaube, Sie kennen mich einige Jahre und werden wissen, daß ich keine Rede halte, ohne auf dieses Thema einzugehen. Ich komme gleich auf die Frage zurück.Meine Damen und Herren, wir können feststellen, daß es uns gelungen ist, ein ganzes Teil im sozialen Bereich neu zu gestalten. Ich erinnere zum Beispiel an eine enorme Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Familien wie auch der Hilfen zum verbesserten Schutz des ungeborenen Lebens.Erstmalig gibt es wieder eine spürbare Verbesserung der materiellen Situation der Rentner und der Bezieher der Kriegsopferversorgung, eine Weiterentwicklung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand und, meine Damen und Herren, eine deutliche Verbesserung im Sozialhilfebereich.Ich glaube, wir sollten uns alle miteinander einmal besinnen, stolz zu sein auf das, was der Deutsche Bundestag 1961 einstimmig beschlossen hat. Wir sind das einzige Land in der Welt, das jedem Menschen einen Rechtsanspruch gibt, ohne daß er vorher für eine Versicherung oder eine Versorgung gezahlt hat. Wir dürfen diese Leute nicht verteufeln, die heute von der Sozialhilfe leben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich würde mir schäbig vorkommen, wenn ich Ihnen vorwerfen würde, daß wir, als Sie 1969 in die Regierungsverantwortung gegangen sind
— die Zahl habe ich hier, gnädige Frau, entschuldigen Sie bitte, wenn ich deswegen diese Zahl nehme— 2,8 Milliarden DM und 1982 16,33 Milliarden DM Sozialhilfeleistungen hatten. Die Zahl der Hilfeempfänger hat sich in dieser Zeit um 841 000 erhöht. Ich werfe Ihnen dies doch nicht vor, sondern ich sage Ihnen: 841 000 Menschen waren berechtigt, dieses Gesetz in Anspruch zu nehmen.Wenn Sie uns beispielsweise in der Asylantenfrage kritisieren und wenn 200 000 Asylanten in den letzten Monaten und Jahren gekommen sind, dann sind das 200 000 zusätzliche Sozialhilfeempfänger. Wovon sollen sie denn leben?
Diese kommen, weil wir diese soziale Sicherung haben. Deswegen ist es doch an Haaren herbeigeholt, daß man heute alle, die Sozialhilfe bekommen, als arme Leute abstempelt. Gnädige Frau, sind wir denn nicht alle stolz darauf, daß wir zum Beispiel eine große Menge von Werkstätten für Behinderte geschaffen haben, jungen Menschen eine Ausbildung geben?
— Mit „wir" meine ich alle. Ich habe vorhin gesagt: „Sind wir nicht alle stolz darauf?" Herr Glombig, hören Sie doch bitte zu! Ich nehme das doch für mich nicht in Anspruch.Ich will sagen: Ist es nicht eine große Leistung, daß wir Behinderten diese Förderung geben? Ist es nicht eine große Leistung, daß ältere Menschen, wenn ihre Rente nicht ausreicht, mit einem Zuschuß der Sozialhilfe in ein Altersheim und ein Altenpflegeheim gehen können? Das sind doch soziale Errungenschaften. Das ist nicht eine neue Armut in diesem Lande.
Ich bestreite doch gar nicht, daß die Arbeitslosigkeit zusätzlich Hilfeempfänger produziert hat. Ich sage Ihnen, ich sage allen Menschen, die jetzt zuhören, sie sollen überprüfen, ob ihre Arbeitslosenhilfe nicht unter dem Sozialhilfebedarfssatz liegt. Wenn das der Fall ist, sollen sie einen Antrag stellen. Es geht nicht um Statistik, sondern um die Hilfe im Einzelfall. Derjenige, der eine geringere Arbeitslosenhilfe bekommt, als er Sozialhilfe bekommen könnte, soll hingehen und einen Antrag stellen. Wir machen keine Politik für den Cleveren und wollen sie auch nicht, für den Cleveren, der Bescheid weiß, der alles ausnutzt. Nein, wir wollen, daß alle hingehen und ihre Ansprüche geltend machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen glaube ich, daß man hier einmal neu überlegen muß, wie man die Sozialhilfe nicht abschreckend
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17794 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Jagodadarstellt, sondern vielleicht auch einmal darstellt, welche Leistungen erbracht worden sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Fuchs?
Ja.
Bitte schön, Frau Fuchs.
Herr Kollege Jagoda, sind Sie bereit, noch einmal nachzulesen, was ich zu diesem Punkt gesagt habe? Stimmen Sie mir nach Ihren Ausführungen zu, daß die Summe, die wir für soziale Leistungen ausgeben, nichts über die Qualität des Sozialstaates aussagen, denn viele dieser Arbeitslosen, die heute Sozialhilfeempfänger sind, waren früher Beitragszahler und Steuerzahler? Sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen?
Ich komme darauf zurück.
Selbstverständlich haben Sie recht, gnädige Frau, daß wir das nicht sagen können. Wenn Sie beispielsweise Ihre Zeit nehmen, als Sie 1981 8 Milliarden DM zusätzlich in die Bundesanstalt für Arbeit geben mußten, kann das doch nicht eine soziale Tat genannt werden — die Zahl allein nicht, aber wenn man sie stetig von Jahr zu Jahr vergleicht und in bestimmte Bezüge setzt, dann sagt sie, glaube ich, schon einiges aus. Außerdem — Herr Apel ist heute leider nicht da —, wenn ich schon die Zahlen vergleiche, darf ich nicht vergessen, daß z. B. im letzten Jahr den Sozialhilfeträgern 4,1 Milliarden DM von den Rentenversicherungsträgern erstattet worden sind. Daß muß ich doch einmal abziehen. Wir wollen in diesem Bereich doch nicht Türken aufbauen.Meine Damen und Herren, zum Arbeitsmarkt lassen Sie mich folgendes sagen. Hier geht es doch nicht in erster Linie um Statistik. Jeder rechnet sich gesund, so wie er es gerne haben möchte. Sie haben früher die stille Reserve nicht berücksichtigt. Heute machen Sie es.
Wir fangen an und rechnen die stillen Reserven bei Ihnen drauf. Was bringt das den Menschen draußen? Doch gar nichts. Wir müssen feststellen, daß wir Anfang 1980 den bitteren Weg in die Arbeitslosigkeit gegangen sind und den Gipfel zwar überschritten haben, aber noch lange nicht zufrieden sein können. Es muß uns gemeinsam umtreiben. Nur, wenn Sie sich heute hinstellen und sagen, diese Regierung ist eine Tunix-Regierung,
dann sage ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, 1980 hatten wir eine Arbeitslosigkeit von 865 000. Im Jahre 1981 kamen 424 000 dazu.
In 1982 waren es 508 000. Sie haben doch in der damaligen Zeit versucht, dies durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu begrenzen. Sie haben uns 50 Milliarden Schulden und 17 gescheiterte Programme hinterlassen. Nun kommen Sie und fordern von uns, daß wir das Problem mit Programmen lösen sollen.
Daß wir die Großfeuerungsanlagen-Verordnung erlassen und damit Investitionen in Milliardenhöhe ausgelöst haben, ist ein besseres Programm, als wenn es irgendwo Mitnahmeeffekte gegeben hätte, wie Sie es gefordert haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine weitere Zahl: 1982 haben Sie 6,8 Milliarden für Arbeitsmarktangelegenheiten ausgegeben, heute geben wir dafür 11,5 Milliarden aus. Das sind 5 Milliarden mehr. Mich treibt es um, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir noch eine ganze Menge an Problemen haben, zugegeben. Es gibt aber kein Patentrezept. Auch Sie haben es hier nicht vorgetragen.Meine Damen und Herren, sehen Sie einmal, es ist uns bei der Lehrstellensituation folgendes gelungen. Wenn ich „uns" sage, meine ich nicht die Union, Herr Glombig, sondern das deutsche Volk, alle Gewerkschaftler, Mittelständler, Handwerker, SPDPolitiker, CDU-Politiker, GRÜNE hoffentlich auch, und FDP.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dies ist ein Gütesiegel unserer politischen Reife gewesen, daß wir ohne den Knüppel eines Gesetzes oder eine Abgabe im freien Spiel der Kräfte alles aufgeboten haben, um jungen Menschen den Weg von der Straße in die Ausbildung zu ebnen.
— Sie waren ja früher Staatssekretär. Sie werden sicherlich bestätigen, daß bei Ihnen nie einer übriggeblieben ist, ja? Da können Sie einmal sehen, was für Zwischenrufe Sie machen. Da waren die Jahrgangsbreiten auch kleiner. Das lernt einer schon mit dem Einmaleins in der Grundschule, daß, wenn eine geringere Jahrgangsbreite ist, weniger übrigbleiben. Was soll denn dieser Blödsinn? Das ist doch unter Ihrem Niveau. Hören Sie auf.Lassen Sie mich zu den Schwerbehinderten und älteren Mitarbeitern kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es bleibt eine große Herausforderung. Dieser können wir aber nicht mit einem Beschluß im Deutschen Bundestag gerecht werden. Wenn Mitbestimmung funktioniert, dann muß sie hier funktionieren. Leider ist der Herr Bürgermeister aus Hamburg nicht da, der uns heute morgen diesen erschütternden Bericht von seiner Sprechstunde gegeben hat.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17795
JagodaIch muß Ihnen sagen, ich war deshalb nicht berührt, weil das in meiner Sprechstunde immer wieder vorkommt. Ich mache sie nicht nur einmal im Monat; das will ich dazusagen. Ich kenne diese Probleme. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Personalvertretungen und Betriebsräte, wenn Firmenchefs, wenn Personalchefs es sich nicht als oberste Leitlinie zu eigen machen, daß sie erst danach fragen: Haben wir einen Alteren, haben wir einen Schwerbehinderten?, dann werden wir das Problem nicht lösen. Wenn ich Bürgermeister in Hamburg gewesen wäre, dann würde ich sagen: eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, den Mann hätte ich eingestellt, auf der Grundlage eines Zeitarbeitsvertrages, und bei der Fluktuation des Senats hätte sich in den nächsten 18 Monaten sicherlich ein Platz ergeben, damit er untergekommen wäre. — Das wäre die Situation gewesen. So hätten wir das gemacht.
Die Frage der Jugendarbeitslosigkeit drückt uns sehr. Ich muß Ihnen nur sagen, mich beruhigt es überhaupt nicht, daß wir heute verkünden können: Statistisch ist die Quote der jugendlichen Arbeitslosen unter 20 niedriger als die Gesamtarbeitslosenquote, und Ihnen können wir im Brustton der Überzeugung sagen: Es war bei Ihnen genau umgekehrt. Was soll das? Davon hat doch keiner einen Arbeitsplatz. Wir müssen uns noch mehr anstrengen. Wir müssen die Kräfte im ganzen Spektrum unserer Gesellschaft zusammennehmen, um hier vorwärtszukommen.Meine Damen und Herren, natürlich spielt auch die Frage der Arbeitszeitverkürzung eine Rolle. Aber ich glaube, dazu sind die Tarifvertragsparteien besser geeignet. Sie sollen es machen. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Wir sind doch nicht die Oberherren dieser Nation; wir sind die ersten Diener unserer Nation. Wenn andere etwas besser machen können als wir, dann sollen sie es tun.Bei Prognosen bin ich immer sehr vorsichtig. Sie werfen uns vor, daß wir bis zum Jahr 2 000 mit 2 Millionen Arbeitslosen rechnen. Das stimmt nicht. Wenn Sie, verehrte Frau Kollegin, freundlicherweise in den neuen Sozialbericht der Bundesregierung schauen, werden Sie feststellen
— dazu komme ich gleich —, daß die Tendenz auf 7,5 % in 1990 geht.Aber nun zu Ihrer Finanzplanung. Hätten Sie doch nur einmal so gerechnet wie wir! Wir gehen von schlechten Zahlen — 2 Millionen — aus, und die Ergebnisse nachher sind besser. Heute haben wir in Nürnberg 5 Milliarden DM Rücklagen,
und die Leute machen sich Gedanken, wie sie die Überschüsse loswerden können.Herr Apel, der leider nicht da ist, hat vorgestern gesagt, wir würden die Kasse in Nürnberg plündern. Ich danke Herrn Dr. Apel dafür, weil er damit ausgedrückt hat: Es ist Geld drin. Man kann eine Kasse j a nur plündern, wenn Geld drin ist.
— Ich weiß schon. 1982 hat er ja 8 Milliarden DM mitgebracht. Die hätten noch nicht einmal gereicht. Die mußte er nämlich dalassen, weil die Lücke in der Kasse war. Er hätte ja noch mehr mitbringen müssen.Wissen Sie, Bankeinbrecher, die das Geld noch mitbringen, habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, die bekämen auch ein doppeltes Strafmaß, weil das nämlich Blödsinn wäre.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Jagoda [CDU/CSU]: Nein, keine Zwischenfrage mehr. Ich habe nur noch vier Minuten.
— Wenn der Herr Präsident so freundlich ist und mir fünf Minuten zugibt. Ihre Fragestellung dauerte vorhin anderthalb Minuten.
Das Problem ist, daß wir das im Augenblick nicht können. Aber wir handeln in solchen Fragen großzügig.
Meine Damen und Herren, es gibt keine Patentrezepte. Wir werden auf diesem Gebiet alle miteinander hart weiterarbeiten müssen.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir haben die Familien mit Kindern in den Mittelpunkt unserer politischen Arbeit gestellt. So haben wir es geschafft, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub mit Arbeitsplatzgarantie einzuführen. Das ist ein Weg in die richtige Richtung. Welcher Sozialpolitiker der Union hätte nicht auch gern gleich ein Jahr gehabt? Nein, wir haben zehn Monate genommen, weil wir im Zusammenhang mit dem Umbau des Finanzgefüges wissen, daß dies in den nächsten Jahren auch aus den Zuwächsen mit finanziert werden muß. Wir wissen, daß jede Mark, die wir im sozialen Bereich ausgeben, unsere Mitbürger erarbeiten müssen. Deswegen müssen wir mit dem Geld sparsam umgehen.
Es gibt heute viele Frauen, die aus materiellen Gründen eine Schwangerschaft abbrechen. Wir haben überhaupt nicht das Recht, uns darüber kritisch zu äußern. Meine Damen und Herren, das muß jeder selbst entscheiden.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren,demjenigen, der in solche Entscheidungszwänge
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17796 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Jagodakommt, muß ich Rahmenbedingungen geben, damit er sich auch für das Leben entscheiden kann.
Hier brauchen wir nicht den drohenden Finger des Strafgesetzbuchs, sondern die helfende Hand der Gesellschaft.
Deshalb haben wir den Fonds für das werdende Leben eingeführt. Wir haben die Mittel aufgestockt und werden sie im nächsten Jahr wiederum aufstocken.Bestellen Sie Ihrem Herrn Rau, der heute leider nicht da ist, er sollte diesem nachahmen. Das wäre eine gute Sache für die Frauen in Nordrhein-Westfalen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zur Rente sagen. Ich hoffe, wir sind alle miteinander stolz darauf, daß die älteren Mitbürger heute in Ruhe dem Ersten eines Monats entgegensehen können, weil ihre Rente sicher ist. Es ist sehr bitter, wenn jemand, der ein ganzes Leben lang gearbeitet und sich auf die Rentenversicherung verlassen hat, erfährt: Das stimmt vielleicht nicht, ich kriege das nicht mehr.
Frau Fuchs, Sie haben hier gesagt, wir hätten Rentenzahlungen auf Pump geleistet. Na schön, wir haben stundenweise 250 Millionen DM überzogen, weil das billiger war, als wenn wir Vermögenswerte veräußert hätten. Da haben wir kaufmännisch gedacht. Aber schön, den Vorwurf nehmen wir auf uns. Nur, wenn Sie drangeblieben wären, hätten Sie im August 1983 die Renten ohne Kapitalaufwand überhaupt nicht mehr zahlen können. Das war die Situation.Heute haben wir wieder Rücklagen. Ich nehme den Bericht des VDR und kann Ihnen sagen: Die Rücklage betrug im Juli 13,01 Milliarden DM; das sind 1,14 Monatsraten. Das Gesetz ist erfüllt. Es geht mit der Rentenkasse wieder aufwärts.
— Jawohl, hoffentlich, und zwar sogar noch stärker. Frau Fuchs, danke für den Zwischenruf!Nun wird von den GRÜNEN immer ein höherer Bundeszuschuß gefordert. Meine Damen und Herren, das ist schon richtig, aber den Bundeszuschuß müssen Sie auch einmal im Blick auf die gesamte Kassenlage sehen. Je besser die Finanzpolitik läuft, desto eher können wir darüber nachdenken, den Bundeszuschuß zu erhöhen. Wir haben ihn ja in diesem Jahr auch erhöht, denn wir nehmen z. B. die Rente für Kindererziehungsjahre nicht aus der Rentenkasse, sondern aus der Staatskasse. Wir werden — lassen Sie mich das sagen — im Rahmen der Haushaltsberatungen einen Antrag einbringen, wonach ganz eindeutig das Geld — 250 Millionen DM — für die Frauen eingestellt wird, die ab 1. Oktober des nächsten Jahres in den Genuß der Anrechnung dieser Kindererziehungszeiten kommen.
— 250 Millionen ab 1. Oktober. Das läßt sich nachrechnen. Wir sind froh darüber, daß das so ist.Ich sehe nun leider schon das gelbe Licht.
— Ja, sehr schade, weil ich Ihnen noch viel zu sagen hätte, Herr Kollege. So ist das ja nicht.Ich glaube, daß ich noch einen Satz zu den Frauen, die wir einbeziehen, sagen sollte. Hier ist es so wie überall: Wir möchten liebend gern am Anfang gleich alles, aber es ist in der Gesamtsituation nicht machbar. Wir sagen, daß es besser ist, wenn wir jetzt damit anfangen und 1990 fertig sind, als wenn wir bis zum Jahr 2000 schwätzen würden, und die Frauen hätten dann immer noch nichts bekommen. Sozialpolitik geht eben in kleinen Schritten voran.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr Kanzlerkandidat ist heute nicht da. Ich kann mir j a vorstellen, daß er zu einem Hinterbänkler wie mir nicht kommt, aber gestern, als die großen Leute dran waren, hätte er kommen können.
Aber ich will nur sagen: Ich werde ihm, weil ich das sehr ernst nehme, einen Brief schreiben und werde ihm sagen, er möge dafür sorgen, daß die SPD-Fraktion all die Anträge von Nürnberg hier bei den Haushaltsberatungen einbringt und die Deckungsvorschläge gleich mit vorlegt.
— Aber alle! Denn das ist Ihre Pflicht, die Sie erfüllen müssen. Sonst habe ich von Ihnen, meine Damen und Herren, hier nämlich keine großen Vorschläge gehört. Deshalb kann ich Ihnen nur einen guten Satz von Emanuel Geibel mit auf den Weg geben, der da lautet: Das ist die klarste Kritik von der Welt, wenn neben das, was ihm mißfällt, einer was Eigenes und Besseres stellt. — Das habe ich in den Beiträgen zur Sozialpolitik von Ihnen nicht gehört,
von keinem, und deswegen werden wir auf unserem Weg, mehr soziale Sicherheit und mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu schaffen,
fortfahren, und wir werden dem Wählerentscheid im Januar mit großer Gelassenheit entgegensehen, denn, meine Damen und Herren, die Wähler haben ein besseres Gespür
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Jagodaund haben mehr Empfindungen als die Opposition in diesem Hause.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wieczorek .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erschrecken Sie nicht, wenn sich in einer sozialpolitischen Diskussion ein Finanzpolitiker zu Wort meldet.
Ich will mich auch zu finanzpolitischen Fragen äußern, aber dabei auch einige Anmerkungen zu dem gerade behandelten Thema machen.Herr Jagoda, der Herr Rau ist nicht hier; das sieht man ja.
Aber vielleicht ist er gerade mit Herrn Kohl oder mit Herrn Stoltenberg zusammen, die auch nicht hier sind.
Bei Herrn Stoltenberg weiß man j a, warum: Er ist beim Zentralbankrat. Vielleicht werden gerade die Leitzinsen gesenkt,
wobei seine Anwesenheit erforderlich ist. Ich würde mich darüber sehr freuen. Sonst gibt es eigentlich keine Entschuldigung, wenn der Finanzminister dem Plenum bei den Haushaltsberatungen nicht zur Verfügung steht.
Ich muß mich also mit Herrn Dr. Voss auseinandersetzen, denn ich möchte noch einmal auf einige Dinge eingehen, die nach der Rede des Finanzministers übriggeblieben sind und die ich leider an anderer Stelle nicht mehr unterbringen kann.Zunächst möchte ich mich mit den Investitionen beschäftigen, die der Bund verkommen läßt. Wir haben immer gesagt — auch Herr Apel hat darauf hingewiesen —, daß wir die Investitionen des Bundes steigern müssen. Wenn ich Herrn Dr. Blüm hier soeben richtig verstanden habe, dann geht er von auch für mich geradezu phantastischen Zahlen aus, nämlich daß wir mit den 5 Milliarden DM, die wir im Bereich der Großfeuerungsanlagen-Verordnung zur Investition gebracht haben, 295 000 Arbeitsplätze sichern. Darf ich Sie daran erinnern, daß die Investitionslücke, die im Augenblick bei der Regierung vorhanden ist, 15 Milliarden beträgt und daß sie bis 1990 auf 20 Milliarden steigt. Glauben Sie nicht, Herr Kollege Roth, daß ich jetzt so unseriös diese Zahl von Herrn Blüm auf die 20 Milliarden transponieren würde.
— Der DGB hat allerdings gesagt, Herr Blüm — da hätten Sie auch diesmal intellektuell redlich sein sollen —, er sichere sie, und nicht etwa, sie würden dabei geschaffen.
Aber wenn Sie diese Zahl hochrechnen — ich gehe einmal davon aus, daß der DGB j a auch seriöse Berater hat —,
dann könnten Sie natürlich sagen, mit der Schließung der Investitionslücke des Bundesfinanzministers würden fast 1 Million Arbeitsplätze gesichert. Allerdings will ich so weit nicht gehen.
— Bei Ihnen investiert die private Wirtschaft; jawohl. Darum haben wir so viele Arbeitslose. Das ist die Schlußfolgerung, die man daraus ziehen muß.
Ich frage Sie, Herr Dr. Friedmann, der Sie mir ja als ein seriöser Mann im Ausschuß bekannt sind,
noch einmal, wie seriös denn die Angabe des Bundesfinanzministers ist, wenn er seine Investitionsquote berechnet und dabei die Darlehen für BAföG mitrechnet.
Es kann doch wohl nicht angehen, daß wir die Darlehen, die wir den BAföG-Empfängern geben, auf unsere Investitionsquote anrechnen und dann so tun, als ob wir damit Arbeit schaffen.
— Ich habe das Gefühl: Mit dem Definitionsbegriff tun wir uns hier sehr schwer. Wir nehmen den Definitionsbegriff, der uns gerade gefällt. Das, Herr Dr. Friedmann, kann doch wohl nicht in unserem Sinn sein.
— Ich will auch gern noch einmal auf Nordrhein-Westfalen eingehen. Das Thema liegt mir sehr. Sie gestatten allerdings, daß ich es mit Schleswig-Holstein und gleichzeitig mit dem Saarland vergleiche,
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Wieczorek
weil wir nämlich die Länder im Zusammenhang sehen müssen, wenn wir sie kritisieren.
— Herr Kollege Friedmann, es sind vordergründige wahltaktische Erwägungen, die Sie das Land Nordrhein-Westfalen hier nach vorne rücken lassen. Sie sehen mir sicher nach, wenn ich es als Sozialdemokrat hier nicht auf mir sitzen lasse, daß NordrheinWestfalen etwa ein zerrüttetes Land sei.
Ich mahne zu außerordentlicher Vorsicht, Herr Dr. Blüm,
denn schlichtes Zahlenmaterial müßte Sie eigentlich überzeugen, und dieses schlichte Zahlenmaterial werde ich Ihnen liefern. Sie müssen die Tatbestände, die jetzt zu der Finanzmisere des Landes geführt haben — ich sage mit vollem Bewußtsein: Misere —, natürlich vor einem bestimmten Hintergrund sehen. Der Hintergrund ist die allgemeine Finanzsituation, die wir vorgefunden haben.
Die erdrückende Erblast von Schleswig-Holstein und die, die auch Oskar Lafontaine im März 1985 nach jahrzehntelanger CDU-Regierung vorgefunden hat, muß natürlich auch Sie zum Nachdenken bringen. Auch das erfolgreich CSU-regierte Bayern hat in der Vergangenheit Finanzhilfen bekommen, Finanzhilfen aus dem Land Nordrhein-Westfalen,
und zwar nicht etwa in Kleinigkeiten,
sondern dieses große Land Bayern war Kostgänger des Landes Nordrhein-Westfalen. Darüber müssen Sie einmal nachdenken.
Bundesergänzungszuweisungsempfänger ist Bayern gewesen; es hat 10,5 Milliarden DM aus diesem Topf erhalten. Es ist eine Entwicklungshilfe an dieses reiche Land Bayern gegeben worden. Gott sei Dank haben wir ein Urteil unseres höchsten Gerichts, das hier einen Riegel vorschiebt und den Gesetzgeber veranlaßt, hier neue Maßnahmen zu ergreifen.Ich möchte hier auf gar keinen Fall mißverstanden werden. Es geht mir hier überhaupt nicht darum, ein Land gegen das andere auszuspielen.
Aber es kann doch wohl nicht recht sein, daß dieRekordverschuldung des Saarlandes unter CDURegierungen oder die Spitzenverschuldung Schleswig-Holsteins unter dem Ministerpräsidenten Stoltenberg
gute Schulden sind, aber die Kreditmarktverpflichtungen Nordrhein-Westfalens kritikwürdig wären.
Nordrhein-Westfalen hat stets ungeschminkt die Ursachen seiner Haushaltsprobleme genannt. Es sind die enormen Sonderlasten bei Kohle und Stahl, und es ist dies nach wie vor die verfassungswidrige Benachteiligung Nordrhein-Westfalens im Bund- Länder- Finanzausgleich.
Zum Finanzausgleich erübrigen sich weitere Worte, nachdem Sie diese Tatsache jahrelang bestritten haben und die Bundesregierung trotz nachdrücklicher Initiativen und Vorstöße des Landes Nordrhein-Westfalen untätig gewesen ist.Ich hätte mir dringend gewünscht, daß der Bundesfinanzminister hierzu und insbesondere zur Frage eines Nachteilsausgleichs für Nordrhein-Westfalen wegen nicht erhaltener Bundesergänzungszuweisungen seit 1983 etwas gesagt hätte. Es kann keine Frage sein, daß wegen der verfassungswidrigen Nichtberücksichtigung Nordrhein-Westfalens bei den Bundesergänzungszuweisungen Verpflichtungen zum Ausgleich der seit 1983 entstandenen Nachteile auf den Bundeshaushalt zukommen. Ich bitte sehr darum, bei den Haushaltsberatungen entsprechende Mittel einzustellen.Was die genannten Sonderlasten angeht, ist die Lage ebenso eindeutig. Kein einziges Bundesland außer Nordrhein-Westfalen trägt derartige Kohlesonderlasten, da das Saarland bekanntlich seine Kohleleistung vom Bund zurückerhält. Einschließlich Zins und Zinseszins hat Nordrhein-Westfalen bisher weit über 20 Milliarden DM an Kohlelasten aufgebracht. Ohne diese Kohlelasten hätte Nordrhein-Westfalen eine Pro-Kopf-Verschuldung, die es im Ländervergleich in die positive Spitzengruppe gebracht hätte. Wer hier von Mißwirtschaft redet, redet wissentlich von Unwahrheit.
Wer das wider besseres Wissen tut, muß sich fragen lassen, für welche vergleichbaren Sonderlasten eigentlich der Ministerpräsident in Schleswig-Holstein die Verschuldung von rund 14 Milliarden DM, also weit über 5 000 DM je Einwohner, eingegangen ist, und das, obwohl dieses Bundesland SchleswigHolstein im Länderfinanzausgleich an Bundesergänzungszuweisungen zusätzlich Finanzhilfen von über 14 Milliarden DM erhalten hat. Diese Frage müssen Sie sich gefallen lassen, Frau AdamSchwaetzer.
Lassen Sie mich noch ein weiteres Wort sagen, und zwar zur Konsolidierung. Der Bund liegt mit
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der Konsolidierungspolitik, die Herr Stoltenberg eingeschlagen hat, Herr Kollege Friedmann, deutlich unter dem Konsolidierungserfolg von Nordrhein-Westfalen. Auch das müssen Sie sich einmal mit klassischen Zahlen belegen lassen.
Die Nettoverschuldung von Nordrhein-Westfalen ist von 1981 bis heute von 10,1 Milliarden DM auf 5,6 Milliarden DM zurückgefahren worden.
Das sind 55% des Wertes von 1981. Der Bund erreicht nur eine Absenkung von 35,4 Milliarden auf 24,3 Milliarden und rechnet dabei noch Sonderdinge ein wie die Verscherbelung des Bundesvermögens mit 3 Milliarden DM und — denken Sie an Ihr Erbe, das Sie angetreten haben — den Bundesbankgewinn, denn den haben wir Ihnen hinterlassen.
Das sind Einsparungen, die der Regierung Schmidt nicht ausgezahlt wurden, die Sie heute verfrühstükken.
— Nein, aber die SPD mußte bei sinkendem Dollarkurs die Verluste aus den Wertberichtigungen einstecken. Sie sind der Regierung damals nicht als der ihr eigentlich zustehende Gewinn ausgezahlt worden. Herr Kollege Friedmann, ich muß Ihnen doch keinen Nachhilfeunterricht geben; Sie sind doch Volkswirt von Haus aus.
— Ja, Sie sagen aber nur immer die halbe Wahrheit, Herr Dr. Friedmann.
Das tut immer ein bißchen weh. Wenn man einen Kollegen im Ausschuß hat, bei dem man das Gefühl hat, einen seriösen Kollegen vor sich zu haben, und dieser sich dann im Plenum verändert, so tut das etwas weh, Herr Kollege Friedmann.
Ich habe nicht gedacht, daß Sie einmal in diese Situation kommen würden.Meine Damen und Herren, das Land NordrheinWestfalen hat seinen Beitrag geleistet, um mit seinen finanzpolitischen Problemen fertig zu werden. Es hat mit den Problemen ohne Hilfe fertig werden müssen. Es hat sicherlich eine Menge Verpflichtungen für andere Länder übernommen. Daß in Nordrhein-Westfalen Kohle gefördert und Stahl erzeugt wird, war immer die Voraussetzung dafür, daß im Schwarzwald und in Baden-Württemberg saubere Industrien leben konnten, daß sich dort gute und hervorragende Betriebe ansiedeln konnten. Jetzt dem Lande Nordrhein-Westfalen die Lasten allein aufzubürden und es dabei zu belassen ist sträflich. Wir sollten ein solches Thema nicht als Wahlkampfthema mißbrauchen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Seehofer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal zur Sozialpolitik zurückkommen und mich mit dem untauglichen Versuch der Opposition auch in dieser sozialpolitischen Debatte auseinandersetzen, die Dinge so darzustellen, auf der einen Seite gäbe es in diesem Hause die Christlichen, die Menschlichen, die Sozialen, und alles andere im Hause wäre unsozial, böse und unchristlich. Ich möchte diese Worte, die j a nicht nur heute in der Sozialpolitik eine Rolle gespielt haben, einmal an der Praxis der Opposition messen.Da gibt es bei den GRÜNEN einen gewissen Herrn Beckmann. Dieser Herr Beckmann ist bei den GRÜNEN beschäftigt
und bezieht gleichzeitig Arbeitslosengeld. Nun mag dies formaljuristisch in Ordnung sein. Aber interessant ist die moralische Seite dieser Geschichte.
Wenn die nicht arme Partei der GRÜNEN ihren Sprecher, diesen Herrn Beckmann, für seine Arbeit, die er für die GRÜNEN leistet, bezahlen würde,
dann bräuchte ihm das Arbeitsamt nicht Arbeitslosengeld zu zahlen.
Meine Damen und Herren, was Sie hier machen, zeigt eigentlich die ganze Verlogenheit der grünen Partei. Dies ist eine schamlose Ausbeutung der Solidargemeinschaft der Arbeitslosenversicherung.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie brauchen gar nicht schadenfroh zu sein. Da gibt es nicht nur den Herrn Beckmann, da gibt es auch eine Neue Heimat. Diese Neue Heimat hat über viele Jahre hinweg
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Seehoferan die SPD-geführte Friedrich-Ebert-Stiftung Spenden geleistet. Diese Spenden sind j a nicht vom Himmel gefallen. Sie sind auch nicht aus Gewerkschaftsbeiträgen bezahlt worden. Das wäre schlimm genug, weil sie dann die Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen bezahlt hätten. Vielmehr haben die Mieter diese Spenden der Neuen Heimat an die SPD bezahlt.Meine Damen und Herren, wenn es nach 1949 einen Mieterskandal gab, dann ist es dieser unglaubliche Vorgang, daß die Neue Heimat die Mieter zu einer Zwangsabgabe heranzieht, um der SPD Spenden zukommen lassen zu können.
Das ist exakt der Vorgang. Das zahlen doch die Mieter.
Dann, Herr Wieczorek, schauen wir uns einmal an, wie es im Lande Nordrhein-Westfalen aussieht, insbesondere beim Ministerpräsidenten Johannes Rau, der für sich in Anspruch nimmt, nur er könne die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande verwirklichen.
— Doch, dieser Rigorismus, Herr Becker, ist es, der auch heute wieder eine Rolle gespielt hat. Herr Apel hat damit begonnen, indem er hier einführte, was wir machten, sei unchristlich.
Dies sei für ihn besonders bedrückend. Da komme ich noch einmal auf die Schwerbehinderten in Nordrhein-Westfalen zurück.
Wir wissen als Sozialpolitiker, daß man das Problem sehr differenziert betrachten muß und daß es auch andere private und öffentliche Institutionen gibt, die die Beschäftigungsquote nicht erfüllen. Aber in Nordrhein-Westfalen sind von allen beschäftigungslosen Schwerbehinderten — es sind etwa 135 000 in der Bundesrepublik — allein 60 000 Schwerbehinderte ansässig.
Und dieser Johannes Rau, der immer mit Worten für die Schwachen in dieser Gesellschaft eintritt,
zahlt Strafe dafür, daß er seine Beschäftigungspflicht für Schwerbehinderte im öffentlich en Dienst nicht erfüllt.
Dies ist die Realität.
Sie sind, wenn es um Sozialpolitik geht, sehr verführerisch in Worten; aber dort, wo es ums Handeln geht, sind Sie ganz brutal und herzlos. Das zeigt dieses Beispiel.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Nein. Vom Kollegen Lutz weiß ich, daß er das nur zur Demagogie macht.
Viele lasse ich nicht zu. Wir möchten auch noch eine Mittagspause haben, wir, die wir hier noch arbeiten.
Wir haben heute schon festgestellt, daß er nur die Dinge fragt, die er längst weiß, nur, um in der Öffentlichkeit zu provozieren.
Jetzt schauen wir uns doch mal die Sparmaßnahmen im Landeshaushalt Nordrhein-Westfalen an, die alleine in den 80er Jahren stattgefunden haben. Familienerholung: 73 % Kürzung; Jugenderholung: 56 % Kürzung; Kindererholung: 73% Kürzung; Kinder- und Müttererholung: 43% Kürzung; Landesjugendplan: 53 % Kürzung; freiwillige soziale Dienste: völlig gestrichen, 100 % Kürzung; Adoptionsvermittlung und Pflegekinderdienst: 90% Kürzung.
Meine Damen und Herren, so sieht die sozialpolitische Realität, die „Barmherzigkeit", beim Kanzlerkandidaten Johannes Rau aus.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sieler?
Nein.Ich werfe ihm nicht vor, daß man — und das haben wir auch gemacht — zur Konsolidierung eines öffentlichen Haushaltes auch sparen muß. Aber ich werfe ihm sehr wohl vor, daß er in der Offentlichkeit und uns gegenüber im Bund als derjenige auftritt, der wieder soziale Gerechtigkeit verwirklichen könnte, der Wohltaten verteilen könnte. Und dort, wo er selbst Verantwortung trägt, macht er
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Seehofergenau das Gegenteil. Das werfen wir ihm vor, diese Unehrlichkeit.
Frau Abgeordnete Fuchs, ich rufe Sie zur Ordnung.
Ich stelle hier fest: In keinem Bundesland sind in den 80er Jahren stärkere Einschnitte im sozialen Netz durchgeführt worden als in Nordrhein-Westfalen. Herr Wieczorek, das können Sie nicht wegdiskutieren.
Dieser Johannes Rau hat verkündet, daß er die unsozialen Eingriffe der Bundesregierung wieder zurücknehmen möchte.
Er hat als Beispiel angeführt, daß er insbesondere die Kürzungen beim Schüler-BAföG zurücknehmen möchte.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat durch diese Neuorientierung der Bundesausbildungsförderung, die im Grunde nach wie vor gewährt wird, aber eben für diejenigen, die sie brauchen,
593 Millionen DM im Landeshaushalt eingespart.
Und die Union in Nordrhein-Westfalen hat die Regierung in Nordrhein-Westfalen wiederholt aufgefordert, diese eingesparten Mittel für Landesfördermaßnahmen beim Schüler-BAföG einzusetzen. Dies haben Johannes Rau und die SPD abgelehnt.
Auch dies ist ein Beispiel für die Wirklichkeit. Sie planen nur, Sie reden nur, aber wenn es ums Handeln geht, machen Sie genau das Gegenteil dessen, was Sie hier vor der Öffentlichkeit sagen.
Meine Damen und Herren, wenn sich bei einer Partei die Realität so stark von dem unterscheidet, was sie hier und auf Parteitagen verkündet, dann möchte ich hier ein Wort des Evangelisten Lukas zitieren: Warum siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, den Balken in deinem eigenen siehst du nicht?
— Meine Damen und Herren von der Opposition, ich würde Sie herzlich bitten, hier einmal wieder mehr zur Ehrlichkeit in der politischen Auseinandersetzung zurückzukehren.
Stellen wir einmal die ganze sozialpolitische Diskussion nicht auf die Tagespolitik ab, sondern betrachten wir einmal die Entwicklung seit 1949! Die Union stand von 1949 bis 1969 20 Jahre in der Verantwortung.
Genau in dieser Zeit sind alle wichtigen sozialpolitischen Gesetze, die auch heute noch gelten, in Kraft gesetzt worden.Dann kamen die Sozialdemokraten zum Zug. Sie haben in dreizehn Jahren
nicht nur die Steuern erhöht, die Sozialabgaben erhöht, die Schulden erhöht, sondern auch die Sozialversicherungskassen leergefegt.
Sie haben von uns große Rücklagen übernommen, aber uns leere Kassen übergeben.Dann kamen wir wieder ans Ruder. Wir haben die Rentenversicherung wieder saniert. Wir haben sie auf ein sicheres Fundament gestellt, was die Frau Fuchs vor kurzem in einem Interview gar nicht bestritten hat. Wir haben heute wieder Überschüsse in der Bundesanstalt für Arbeit, und zwar deshalb, Frau Fuchs, weil wir die Zahl der Erwerbstätigen in drei Jahren um 500 000 erhöht haben.
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SeehoferDas ist der eigentliche Grund, warum wir Überschüsse haben. Wir haben den Anstieg der Arbeitslosigkeit gestoppt.
In den letzten beiden Jahren, in denen Sie Regierungsverantwortung trugen, stieg sie in jedem Jahr um mehr als 40%.
Wenn man den geschichtlichen Ablauf seit 1949 betrachtet, stellt man fest: Wir haben 20 Jahre die Sozialgesetzgebung geprägt. Sie haben das gute Stück, das Sie von uns übernommen haben, verwirtschaftet.
Wir haben die Sozialversicherung, die öffentlichen Kassen vor dem Zusammenbruch bewahrt
und gleichzeitig sozialpolitische Perspektiven neu entwickelt,
nämlich in der Familienpolitik, meine Damen und Herren.Wir nehmen nicht für uns in Anspruch, daß wir in diesem Land die einzigen seien, die sozial denken.
Aber eines kann niemand bestreiten: daß die Christlich-Soziale Union gemeinsam mit der Christlich-Demokratischen Union die Sozialpolitik in diesem Land geprägt hat,
daß wir eine prägende soziale Kraft sind.
Frau Fuchs, ich habe es als angenehm empfunden, daß Sie heute das Thema mit der Armut etwas differenzierter betrachtet haben als in manchen Auseinandersetzungen draußen. Wenn Sie von der neuen Armut redeten — Sie werden das auch in den nächsten Monaten tun —,
dann haben Sie immer die Zahl der Sozialhilfeempfänger zum Maßstab genommen. Heute haben Sie es nicht getan. Heute haben Sie sich sehr differenziert dazu geäußert.
Sie wissen, daß wir bei der Regierungsübernahme 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger übernommen haben. Die Zahl liegt jetzt bei etwas mehr als 2,5 Millionen.
Die Gründe sind hier genannt worden. Wenn man den Maßstab der SPD nimmt, wonach die Zahl der Sozialhilfeempfänger eine Meßlatte für die Armut in unserem Land ist,
dann hätte die SPD während ihrer dreizehn Jahre 95% der Armut verursacht. Denn diese 95% haben wir von Ihnen übernommen.
Frau Fuchs, es ist heute schon einmal zitiert worden — aber es bereitet Vergnügen, dies zu wiederholen —: Sie haben gemeinsam mit Herbert Ehrenberg das Buch „Sozialstaat und Freiheit" geschrieben.
Dort schreiben Sie:Sozialhilfebezug allein ist kein Anzeichen für Armut; denn die Leistungsgewährung vermeidet Armut.
Meine Damen und Herren, über eines sollten wir uns in diesem Hause verständigen: daß wir endlich damit aufhören, diejenigen in unserem Land zu diskriminieren, die Sozialhilfe beziehen.
Denn Sozialhilfe ist ein eigenständiger Zweig der sozialen Sicherung. Hören Sie deshalb bitte damit auf, die Armut in diesem Lande immer mit der Meßlatte der Sozialhilfeempfänger anzuprangern. Niemand in diesem Lande muß sich schämen, wenn er Sozialhilfe bezieht.
Ich möchte noch ein Argument hinzufügen, Frau Fuchs.
— Ich habe über den Kollegen Bueb gelacht, über seine Äußerung und über seinen Pullover;
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Seehoferer gefällt mir nämlich außerordentlich gut.
Es ist ganz interessant, wir gaben im Jahr 1985 im Bundeshaushalt für soziale Zwecke 83,2 Milliarden DM aus. 83,2 Milliarden DM sind ein Drittel des Bundeshaushalts! Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben sich 1982 von der Regierung verabschiedet, wohl gerne verabschiedet, weil Sie den Schutt nicht aufräumen wollten, den Sie selbst verursacht haben mit einer mittelfristigen Finanzplanung, die für 1985 Ausgaben für Sozialleistungen in Höhe von 82,9 Milliarden DM vorsah.
Sie prangern uns des Sozialabbaus an
und haben selbst 1982 geplant, 1985 weniger für soziale Zwecke auszugeben, als wir tatsächlich ausgegeben haben.
Dies zeigt die ganze Scheinheiligkeit, und ich möchte sogar sagen: Das grenzt an Verleumdung.
Wenn uns dennoch Sozialabbau vorgehalten wird, dann zeigt dies — das hat die Debatte auch wieder deutlich gemacht und gilt nicht nur im sozialpolitischen Bereich —, daß es Ihnen im Grunde überhaupt nicht um die Menschen geht, die hinter den sozialen Leistungen stehen.
Ihnen geht es nur um die Verteufelung des politischen Gegners. Dies ist Ihr einziges Ziel.
Das zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Legislaturperiode. Das begann schon, als wir noch gar nicht mit dem Regieren begonnen hatten — das war noch im Wahlkampf —, mit der Verhetzung der Mieter. Frau Fuchs, wenn Sie sagen, Sie wollen die Menschen nicht verhetzen, dann tun Sie es in der Praxis trotzdem. Ihre ganze Praxis in diesen Jahren war eine Hetzkampagne, war Klassenkampf, war Schüren des Sozialneides.
Sie begannen mit den Mieten. Sie haben Mietexplosionen vorausgesagt.
Die Mieten stagnieren. Sie setzten Ihre Hetze fort, indem Sie die Friedenssehnsucht der Menschen ausgenutzt und Angst geschürt haben. Sie haben die Rentner verunsichert, indem Sie sagten, die Renten seien unsicher.
Diese Bundesregierung könne die Renten nicht mehr bezahlen. Sie haben die Gewerkschaften, die Arbeitnehmer gegen diese Regierung aufgehetzt
mit dem Schlagwort, das Streikrecht werde abgeschafft.
In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" las ich vor einigen Monaten, daß der IG-Metall-Vorsitzende Mayr erklärt hat: Wir wollen jetzt die Möglichkeiten zur Umgehung des neuen § 116 AFG, nämlich die Möglichkeit, wie komme ich im Falle eines Streiks wieder an die Arbeitslosenversicherung heran, noch nicht offenlegen, weil jetzt die Gerichtsprozesse laufen. Und darum verraten wir natürlich unsere Taktik noch nicht, wie man den neuen § 116 umgehen kann.
Sie schüren jetzt wieder die Angst im Zusammenhang mit der Kernenergiediskussion.
Meine Damen und Herren, dies zieht sich wie ein roter Faden durch die letzten vier Jahre: Nichts anderes als Hetze, Klassenkampf und Aufwiegelung!
— Übrigens in voller Eintracht mit den GRÜNEN. Hier funktioniert die Koalition schon ganz hervorragend.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher — und deshalb gehen wir ganz selbstbewußt nicht nur in den bayerischen Landtagswahlkampf, sondern auch in die Monate danach bis zum 25. Januar —, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht so dumm ist, wie Sie glauben,
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17804 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Seehoferund daß sich am Ende unsere besseren Argumente gegen Ihren Klassenkampf und gegen Ihre Hetze durchsetzen werden, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt. Ich unterbreche die Sitzung.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Bitte, Herr Minister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Fast sind es genau 100 Tage, daß ich mein Amt als Bundesminister übernommen habe.
Die Debatte über den Haushalt 1987 gibt mir Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen und die Schwerpunkte der Umweltpolitik dieser Bundesregierung darzulegen. Sie ist eine Bestandsaufnahme bedeutender umweltpolitischer Fortschritte, die wir namentlich unserem Kollegen Dr. Friedrich Zimmermann zu verdanken haben,
und enthält einen ersten Überblick über die Aktivitäten des neu gegründeten Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Erstens. Mit vereinten Kräften ist es uns in kurzer Zeit gelungen, ein leistungsfähiges Ministerium aufzubauen. Allen, die mich bei diesem schwierigen Anfang unterstützt haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Großen Dank schulde ich namentlich dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages,
der den Start durch rasche Entscheidungen ermöglicht hat, und meinem Kollegen Dr. Stoltenberg. Ich bitte Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sehr herzlich, daß Sie auch bei der Beratung des Haushaltes 1987 dazu beitragen, das neue Ministerium einschließlich seiner nachgeordneten Behörden so auszustatten, daß der Umweltschutz weiterhin erfolgreich betrieben werden kann.Zweitens. Diese Bundesregierung hat im Umweltschutz in kürzester Frist mehr durchgesetzt, als frühere Bundesregierungen auch nur als Zielvorstellungen formuliert hatten.
Was in dieser Legislaturperiode im Umweltschutzgeleistet und erreicht worden ist, besteht international jeden Vergleich, man möchte sagen: Es ist beispiellos auch im internationalen Vergleich. Ich kann das in aller Unbefangenheit sagen, meine Damen und Herren, weil mein Kollege Dr. Zimmermann an dieser eindrucksvollen Leistungsbilanz den entscheidenden Anteil hat.
Durchgreifende Verbesserungen für unsere Umwelt und den Umweltschutz hat die Bundesregierung ganz besonders in der Luftreinhaltung erzielt. Sie hat anspruchsvolle, vorsorgeorientierte Anforderungen durchgesetzt. Alle Verursachergruppen müssen ihre Schafstoffemissionen in kürzester Frist deutlich verringern. Bis 1993 werden allein die Schwefeldioxidemissionen insgesamt um zwei Drittel und bis 1995 die Stickstoffoxidemissionen um nahezu die Hälfte gesenkt.
Das führt zu Investitionen in Höhe von etwa 50 Milliarden DM. Damit wird die Umwelt verbessert, und damit werden Arbeitsplätze geschaffen.
Zum Schutz unserer Umwelt hat die Regierung Kohl schnelle und grundlegende Entscheidungen getroffen. Ich will im einzelnen darauf eingehen.Lassen Sie mich erstens auf die Luftreinhaltung zu sprechen kommen. Sie hatte besonderen Vorrang. Als wichtigste Vorhaben nenne ich nur die Großfeuerungsanlagen-Verordnung von 1983, die beiden Novellen zur TA Luft von 1983 und 1986, die Novelle zum Bundes-Immissionsschutzgesetz von 1985, die Einführung von schadstoffarmen Kraftfahrzeugen und bleifreiem Benzin.Unterstützt hat die Bundesregierung ihre nationalen Luftreinhaltemaßnahmen durch zahlreiche internationale Initiativen, ganz besonders im Rahmen von EG und ECE, durch steuerliche und finanzielle Fördermaßnahmen und durch verstärkte Forschungsanstrengungen. Der Kollege Dr. Riesenhuber kann hier insofern eine eindrucksvolle Bilanz vortragen.
Mit ihrer Luftreinhaltepolitik hat die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen auch zur Bekämpfung der Waldschäden ergriffen.Auf dem Gebiet des Gewässerschutzes — das ist das zweite wichtige Thema — hat die Bundesregierung Novellierungen des Wasserhaushaltsgesetzes, des Waschmittelgesetzes und des Abwasserabgabengesetzes eingeleitet. Sie hat mit der 1. Internationalen Nordseeschutzkonferenz entscheidende Impulse für international gemeinsame Vorsorgemaßnahmen zum Schutz der Nordsee gegeben.Drittens. In der Abfallwirtschaft hat die Bundesregierung mit der 3. Novelle zum Abfallbeseitigungsgesetz von 1985 die Vorschriften über den
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17805
Bundesminister Dr. Wallmanngrenzüberschreitenden Transport von Sondermüll verschärft. Mit der kürzlich verabschiedeten 4. Novelle zum Abfallgesetz wird der Vorrang von Abfalvermeidung und -verwertung vor der bloßen Abfallbeseitigung für die Zukunft rechtlich festgeschrieben.Viertens. Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Lärmschutz hat die Bundesregierung die Lärmminderung an der Quelle vorangetrieben. Die Geräuschgrenzwerte für Kraftfahrzeuge und für eine Reihe von Baumaschinen wurden EG-weit verschärft.Fünftens. Mit der Bodenschutzkonzeption vom Februar 1985 hat die Bundesregierung zum erstenmal dieses wichtige Umweltthema in Angriff genommen, das übrigens von den früheren Bundesregierungen völlig vernachlässigt worden war.
Meine Damen und Herren, das sind nur Beispiele für die bemerkenswerte umweltpolitische Leistungsbilanz der Regierung Kohl. Aus dem abgeschlossenen Programm dieser Legislaturperiode ergeben sich aber auch bereits wichtige Aufgaben für die Zukunft. Das gilt für den Bodenschutz, in bezug auf den derzeit ein gemeinsamer Maßnahmenkatalog von Bund und Ländern beraten wird. Die Umsetzung dieses Katalogs wird große Anstrengungen bis weit in die nächste Legislaturperiode hinein erfordern.Das gilt für die Ausfüllung des Wasserhaushaltsgesetzes. Die Festlegung des Standes der Technik für gefährliche Stoffe wird ein wichtiger Schwerpunkt für die nächste Legislaturperiode sein. Sie wird bereits jetzt intensiv zwischen Bund, Ländern und Industrie erörtert.Das gilt vor allem auch für die Ausfüllung des neuen Abfallgesetzes. Mit Vorrang sind Zielvorgaben zur Abfallvermeidung, -verringerung und -verwertung für schadstoffhaltige Abfälle, aber auch für Verpackungsabfälle festzulegen. Die Zielvorgaben der Bundesregierung und Verordnungsentwürfe sind bereits in Arbeit. Die Anhörung der betroffenen Wirtschaftskreise ist schon in diesem Herbst vorgesehen.Auch die Arbeit an der Technischen Anleitung Abfall, mit der für die Abfallbeseitigung Anforderungen nach bundeseinheitlichen Standards festzulegen sind, ist mit Hochdruck angelaufen. Auch hier sind viele Probleme zu lösen.Fortzusetzen sind auch die Anstrengungen im Bereich der Umweltchemikalien. Die Debatte im vergangenen Juni in diesem Hohen Hause hat Umfang und Bedeutung dieses Problems deutlich gemacht. In Zukunft geht es vor allem darum, zügig die sogenannten Altstoffe nach dem Chemikaliengesetz aufzuarbeiten. Hier hat sich die Industrie zu erheblichen Arbeits- und Prüfleistungen einschließlich der Übernahme der damit verbundenen Kosten bereit erklärt. Sie hat diese Bereitschaft auch schon tatkräftig unter Beweis gestellt.Wir geben uns mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden. In den nächsten Monaten stehen vor allem noch die folgenden Vorhaben an:Erstens. Die Novellen zum Abwasserabgabengesetz und zum Waschmittelgesetz befinden sich in der parlamentarischen Beratung. Ich bin zuversichtlich, daß — nach den Anhörungen im September — diese Gesetze noch bis zum Jahresende verabschiedet werden können. Mit diesen beiden Gesetzesnovellen und der vor kurzem verabschiedeten Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz wird der gesamte Gewässerschutz auf eine neue Grundlage gestellt. Der Schutz der Gewässer vor gefährlichen Stoffen wird durchgreifend verbessert.Zweitens. Gemeinsam müssen wir auch die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes zum Abschluß bringen, ein Thema, das besonders viele Menschen in unserem Lande beschäftigt. Die vorgesehene Verbesserung des Artenschutzes muß möglichst bald in Kraft treten. Dies ist, wie ich audrücklich hinzufüge, ein erster Schritt; weitere Verbesserungen sind erforderlich, vor allem im Biotopschutz. Schließlich geht es auch darum, zu einem Ausgleich in dem durchaus schwierigen Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Naturschutz zu kommen. Ich setze hierbei besonders auf eine enge Zusammenarbeit mit den Bundesländern.Drittens. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen und beeinflussen wir die Entwicklung beim schadstoffarmen Auto und beim bleifreien Benzin. Wichtig ist es, daß der Anteil des bleifreien Benzins am Gesamtabsatz größer wird. Wir brauchen diesen modernen Kraftstoff aus Gründen des Gesundheitsschutzes und als Voraussetzung für den Betrieb von Katalysatorfahrzeugen. Offenbar bestehen hier immer noch Vorurteile beim Verbraucher. Sie sind unbegründet. Wir müssen diese Vorurteile durch immer stärkere Aufklärung abbauen. Ich begrüße in diesem Zusammenhang die jüngsten Initiativen des Kraftfahrzeughandwerks und zweier großer Mineralölunternehmen, die von sich aus an den Kunden herantreten und ihn über die Bleifrei-Verträglichkeit seines Fahrzeugs unterrichten.Die Einführung des bleifreien Benzins hat in der Tat eine europäische Bedeutung. Ich setze mich daher in allen Gremien und bei meinen bilateralen Gesprächen immer wieder nachdrücklich dafür ein, daß bleifreies Benzin überall in Europa angeboten wird, und wir haben auch Erfolge. Ich sage nur als Beispiel: Im Augenblick haben wir in ganz Großbritannien elf Zapfstellen für bleifreies Benzin, und bis zum Frühjahr des kommenden Jahres werden es flächendeckend viele hundert sein.Den Standpunkt der Bundesregierung zur Notwendigkeit der Herausnahme bleihaltigen Normalbenzins aus dem Markt habe ich in diesen Tagen in einem Memorandum der EG-Kommission dargelegt. Auf der Grundlage dieses Memorandums werde ich im EG-Umweltministerrat verhandeln, wobei ich mir über die Schwierigkeiten nicht im unklaren bin und auch weiß, wo hier im förmlichen Sinne das Initiativrecht liegt, nämlich nicht bei uns, sondern bei der Kommission.
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17806 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. WallmannIch will aber auch hinzufügen, daß sich die Absatzzahlen beim schadstoffarmen Auto positiv entwickeln. Ende August waren bereits über 1,3 Millionen schadstoffarme Kraftfahrzeuge zugelassen, davon weit über 500 000 Benzin- und Dieselfahrzeuge, die den strengen US-amerikanischen Vorschriften entsprechen, und etwa 280 000 Fahrzeuge mit Katalysator.
— Erkundigen Sie sich, dann werden Sie das alles selbst feststellen können!Gerade die Zahl der Kat-Fahrzeuge hat sich seit Juni dieses Jahres deutlich vergrößert. Wer hämische Zwischenrufe macht, sollte sich daran erinnern, wie sehr seinerzeit der Kollege Dr. Zimmermann angegriffen worden ist wegen der angeblichen Vergeblichkeit seiner Bemühungen, bei den Katalysatorfahrzeugen Fortschritte zu erzielen. Wir sind noch nicht dort angelangt — meine Damen und Herren, wir verschönen überhaupt nichts —, wo wir gern sein möchten, aber es gibt eine deutliche Aufwärtsentwicklung, die immer mehr zunimmt, und das ist das Entscheidende.
Ich sage auch in allem Freimut: Natürlich müssen wir noch zu besseren Ergebnissen kommen.Was den Diesel anlangt, werde ich weiter in der EG darauf drängen, daß strengere gemeinschaftliche Partikelgrenzwerte festgelegt werden.
Ich möchte hier aber nochmals darauf hinweisen, daß die Diesel-Pkw deutscher Hersteller bereits heute wesentlich geringere Partikelemissionen haben, als die EG-Kommission sie als Grenzwerte vorschlägt.Herr Kollege Schäfer, wenn Sie dazwischenrufen: Vielleicht wissen Sie, daß wir uns darum bemüht haben, hier wenigstens eine Mittellösung zu finden. Selbst diese haben wir beim letzten Mal nicht durchsetzen können, aber wir geben deswegen nicht auf.Ich bitte vor allem unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die im Augenblick zuhören und vielleicht auch zuschauen, die vielfältigen Möglichkeiten zu nutzen, beim Autokauf, durch Umrüstung der Fahrzeuge und durch bleifreies Tanken zur Entlastung der Umwelt beizutragen.
Sie haben es letzten Endes in der Hand, wie sich die Entwicklung hier bei uns gestaltet.Ich appelliere an die Automobilindustrie, daß sie noch in diesem Jahr ihr Angebot an Neuwagen mit Katalysator und Nachrüstsätzen erweitert.In diesem Zusammenhang begrüße ich besonders die Entscheidung eines großen deutschen Unternehmens, das seit dem 1. September Fahrzeuge serienmäßig nur noch mit Katalysator anbietet. Auch das ist eine erfreuliche Entwicklung.
Viertens. Ein Schwerpunkt meiner Tätigkeit in diesen wenigen Monaten lag naturgemäß im internationalen Bereich. Ich setze alles daran, unsere nationalen Vorstellungen auch international durchzusetzen und damit den Erfolg unserer anspruchsvollen Umweltschutzmaßnahmen abzusichern. Das gilt natürlich besonders für die EG.Schwerpunkt ist für mich neben den schadstoffarmen Fahrzeugen — Thema: bleifreies Benzin — gegenwärtig vor allem die Richtlinie für Großfeuerungsanlagen. Ich sage auch hier in aller Offenheit: Daß es dabei innerhalb der EG sehr unterschiedliche Interessen gibt, will ich nicht verschweigen. Drei Tage nach meinem Amtsantritt habe ich das sehr deutlich zur Kenntnis nehmen müssen. Aber ich bin davon überzeugt, daß wir wie in vielen, vielen anderen Feldern auch hier Schritt für Schritt, nicht alles auf einmal leistend, vorankommen werden.Wesentlich für mich ist hier der Abschluß von Umweltabkommen mit der DDR, mit der CSSR und mit der UdSSR. Ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zu solchen Vereinbarungen war bislang die Frage der Einbeziehung von Experten aus Berlin-West in die bilaterale Zusammenarbeit. Bei meinen Gesprächen Anfang dieser Woche in Moskau wurde mir mehrfach von sowjetischer Seite erklärt,
daß dieses Problem nunmehr auf der Grundlage entsprechender Vereinbarungen im Rahmenabkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit gelöst werden kann.Ich möchte an dieser Stelle meinem Kollegen Genscher und auch meinem Kollegen Riesenhuber dafür danken, daß es gelungen ist, gemeinsam mit dem sowjetischen Außenminister auch den Weg für ein Umweltabkommen mit der UdSSR zu ebnen.
Die Chance, die darin liegt, habe ich natürlich zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufgegriffen. Ich kann hier sagen: Aller Voraussicht nach werden wir noch im kommenden Monat Verhandlungen wiederaufnehmen können — ich sage bewußt: wiederaufnehmen können —, die vor über einem Jahrzehnt, nämlich 1973, steckengeblieben waren.Auch die Verhandlungen über ein Umweltabkommen mit der DDR sind weit fortgeschritten. Gerade in diesem Augenblick geht eine weitere Runde von Gesprächen zwischen Mitarbeitern des Bundesumweltministeriums und einer Delegation aus der DDR zu Ende.
Die Verhandlungen mit der CSSR werden ebenfalls noch in diesem Monat fortgesetzt werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17807
Bundesminister Dr. WallmannMeine Damen und Herren, ich halte diese drei geplanten Abkommen für einen wichtigen Schritt in der bilateralen Zusammenarbeit beim Umweltschutz.Die Debatte zum Bundeshaushalt 1987 gibt natürlich auch Anlaß, über diese jetzt zu Ende gehende Legislaturperiode hinauszuschauen. Natürlich will ich hier keine umweltpolitische Regierungserklärung für die 11. Legislaturperiode vorwegnehmen.
Gleichwohl möchte ich einige grundsätzliche Worte dazu sagen, wie es in der Umweltpolitik mittelfristig weitergehen muß und nach meiner Überzeugung auch weitergehen wird.Mit den „Leitlinien zur Umweltvorsorge durch Vermeidung und stufenweise Verminderung von Schadstoffen", die auf meinen Vorschlag in der vergangenen Woche vom Kabinett verabschiedet worden sind, hat die Bundesregierung die Grundlage für eine kontinuierliche Fortentwicklung der Umweltpolitik in der nächsten Legislaturperiode und auch darüber hinaus vorgelegt. Der Akzent liegt auf dem Handlungsprinzip der Umweltvorsorge. Die Bedeutung des Verursacherprinzips wird bekräftigt. Für alle Gruppen der Gesellschaft und für den einzelnen Bürger werden Verantwortlichkeiten und Pflichten im gesamten Umweltschutz festgelegt. Definiert werden außerdem die Instrumente und Schwerpunktbereiche gegenwärtiger und künftiger Umweltpolitik.Mit ihren „Leitlinien Umweltvorsorge" bekennt sich die Bundesregierung auch für die Zukunft zu einer Umweltpolitik, die anspruchsvolle Anforderungen stellt, die dabei systematisch, planvoll und berechenbar vorgeht und entsprechend den unterschiedlichen Umweltrisiken Prioritäten setzt.
Wichtigstes Ziel ist dabei — wie auch bei allen Umweltschutzmaßnahmen der letzten Jahre — der Schutz der menschlichen Gesundheit.Für die schwierigen Aufgaben, die vor uns liegen, brauchen wir vor allen Dingen die Unterstützung der Wirtschaft. Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren im Umweltschutz erhebliche Leistungen erbracht. Ich möchte das bei dieser Gelegenheit ausdrücklich erwähnen. Ich bin auch sicher: jeder langfristig denkende Unternehmer weiß heute, daß nur eine umweltverträgliche Produktion und nur umweltverträgliche Produkte eine wirkliche Zukunft haben.
Der Umweltschutzmarkt ist ein interessanter Wachstumsmarkt. — Davon lasse ich mich auch nicht abbringen durch solche disqualifizierenden Äußerungen, und zwar disqualifizierend, was das Miteinander von Mitgliedern dieses Hauses und von Bürgern dieses Landes insgesamt angeht. Siehätten allen Anlaß, im Zusammenhang mit diesem Namen zu schweigen.
Meine Damen und Herren, ich erwarte auch für die Zukunft viel von der Initiative und dem eigenverantwortlichen Handeln der Unternehmen. Möglichkeiten dazu gibt es auf vielen Feldern.Nach meiner Auffassung gilt auch im Umweltschutz: so viel Rechtsvorschriften wie nötig und so viel Eigeninitiative wie möglich.
Hier bei dieser Gelegenheit betone ich ganz besonders den ersten Teil des Satzes. Wenn sich nämlich zeigt, daß die umweltpolitischen Ziele nicht anders zu erreichen sind, werden wir selbstverständlich zu zwingenden Rechtsvorschriften greifen. Es liegt an der Wirtschaft selbst, die ihr gebotene Chance wahrzunehmen.Um gute Kooperation bitte ich auch die Bundesländer. Wir können im Umweltschutz nur vorankommen, wenn wir am gleichen Strang ziehen. Der Bürger erwartet mit vollem Recht, daß seine Sorgen um die Umwelt ernst genommen werden. Er mißt uns an dem, was wir konkret zur Verbesserung der Umwelt tun. Diese Bundesregierung hat in diesem Bereich der Politik Bemerkenswertes getan.
Ich habe im August ein erstes Gespräch mit den Vertretern von 18 Umweltverbänden geführt. Ich bin zur Kooperation mit allen bereit, die sich dem Umweltschutz verpflichtet fühlen und die guten Willens sind.Meine Damen und Herren, ich komme zu dem zweiten Aufgabenbereich meines Ministeriums, also zum Thema Reaktorsicherheit und Strahlenschutz. Bei meiner Arbeit in den zurückliegenden Monaten stand dieses Thema natürlich aus aktuellem Anlaß im Vordergrund.
Ich möchte hinzufügen, daß wir darüber die großen Aufgaben des „klassischen" Umwelt- und Naturschutzes nicht aus den Augen verlieren dürfen und auch nicht verlieren werden.
Erstens. Der Reaktorunfall von Tschernobyl hat uns alle tief betroffen gemacht. Er hat Ängste und Sorgen ausgelöst, die niemand einfach beiseite schieben darf. Es ist richtig und wichtig, daß derzeit in der Öffentlichkeit eine so intensive Diskussion über die Kernenergie, über ihre friedliche Nutzung, geführt wird. Ich bin offen für diese Diskussion.
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17808 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. WallmannIch bin offen für alle Argumente und Ratschläge und Vorschläge. Aber, meine Damen und Herren, diese Diskussion muß redlich, realistisch und mit Verantwortungsbewußtsein geführt werden.
Das verlange ich von mir selbst; das erwarte ich aber auch von den Gesprächspartnern.
Meine Damen und Herren, ich warne vor einer Aufspaltung oder dem Versuch einer Aufspaltung unseres Volkes in „anständige" Kernkraftgegner und „unanständige" Kernkraftbefürworter.
Nach allen uns heute vorliegenden Erkenntnissen, nach bestem Wissen und Gewissen können wir sagen: Unsere deutschen Kernkraftwerke sind sicher.
— Unsere Kernkraftwerke sind sicher. — Ich hatte gedacht, daß jetzt die SPD Beifall geben würde, denn 17 von 20 Kernkraftwerken sind zu Zeiten ihrer Regierungsverantwortung ans Netz gegangen.
Unser hoher Sicherheitsstandard gib uns aber nicht die geringste Veranlassung, die Hände in den Schoß zu legen. Dies zu sagen bedeutet kein Eingeständnis früherer Versäumnisse. Es bedeutet lediglich, daß die Sicherheit unserer Kernkraftwerke eine Frage ist, die wir niemals selbstzufrieden ad acta legen dürfen.Es ist geradezu eine Selbstverständlichkeit, es ist auch eine moralische Anforderung, daß wir uns in Fragen der Sicherheit mit dem Erreichten nie zufriedengeben dürfen: Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit; dreifache Sicherheit ist besser als zweifache Sicherheit; und wer für die Sicherheit von Kernkraftwerken zuständig ist, der hat einen permanenten Überprüfungsauftrag.
Dieser Auftrag wird von mir wie — und ich füge hinzu — wie von allen meinen Vorgängern natürlich ernst genommen.
Ich will es auch hier ganz deutlich sagen: Falls notwendig, werde ich, ohne zu zögern, auch die Konsequenzen aus den Ergebnissen einer solchen Überprüfung ziehen, die vielleicht der eine oder andere heute nicht erwarten mag.
— Ich wäre an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger, Herr Kollege Hauff. Ich könnte sonst zuviel mit Zitaten aus allen möglichen Reden von Ihnen kommen. Ich sage Ihnen voraus: Sie sehen dabei nicht gut aus, Herr Hauff.
Zweitens. Der Unfall von Tschernobyl, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat nach den bisher vorliegenden Informationen und nach der übereinstimmenden Bewertung der Expertenkonferenz in Wien keine neuen Erkenntnisse und Erfahrungen gebracht,
die nicht schon im Rahmen der bisherigen Reaktorsicherheitsforschung — Untersuchungen und Gutachten — behandelt worden wären.
Die Reaktorsicherheitskommission und die Strahlenschutzkommission haben bereits im Juni 1986 eine vorläufige Bewertung des Reaktorunglücks im Hinblick auf den Stand der Reaktorsicherheitstechnik und des Strahlenschutzes in der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen. Auf Grund der völlig unterschiedlichen sicherheitstechnischen Auslegung und Ausrüstung des sowjetischen Reaktors im Vergleich zu den in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen Reaktoren war kein Anlaß zu Maßnahmen bei unseren Kernkraftwerken als Folge des Reaktorunfalls in Tschernobyl gegeben.Meine Damen und Herren, wir haben allen Grund, sowohl der Reaktorsicherheitskommission als auch der Strahlenschutzkommission für ihre ausgezeichnete, von unbestechlichem Berufsethos geprägte Arbeit zu danken. Ich tue das bei dieser Gelegenheit gern.
— Entschuldigung, die Mitglieder dieser beiden Kommissionen sind zu Zeiten der Regierung Schmidt berufen worden. Das ist für mich kein Anlaß, an der Ehrenhaftigkeit, an der Zuverlässigkeit, an dem Leistungsvermögen, an dem Verantwortungsbewußtsein dieser Pesönlichkeiten in irgendeiner Weise Zweifel zu äußern.
Ich will ein Wort zu dem Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission, Herrn Professor Dr. Birkhofer, sagen, der von der Staatskanzlei eines Bundeslandes gerade aufgefordert worden ist er solle zurücktreten, oder ich solle ihn abberufen. Warum eigentlich, meine Damen und Herren? Herr Professor Birkhofer hatte es gewagt, zur Frage der Sicherheit des Kernkraftwerkes Cattenom eine andere Auffassung zu vertreten als die politische Leitung jenes Bundeslandes. Meine Damen und Her-
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Bundesminister Dr. Wallmannren, dieser Umgang mit untadeligen, international hoch angesehenen Wissenschaftlern richtet sich selbst!
Dies gilt übrigens auch für manche Herabsetzung — und manchmal war es Diffamierung — der Mitglieder der Strahlenschutzkommission. Der Ruf nach dem sogenannten kritischen Wissenschaftler entlarvte sich hier als ein Streben nach politischer Willfährigkeit. Man sollte dem widerstehen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich will noch hinzufügen: Das Expertentreffen Ende August in Wien hat nach vorläufigem Urteil nichts ergeben, was die bisher vorläufige Beurteilung — ich sage noch einmal: bisher vorläufige Beurteilung -- des Unfalls von Tschernobyl in Frage stellen könnte.Auf der Grundlage der im August von der Sowjetunion vorgelegten Informationen ist die Reaktorsicherheitskommission jetzt in der Lage, in absehbarer Zeit ihre abschließende Stellungnahme zu erarbeiten und vorzulegen. Auch die Strahlenschutzkommission wird die gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse auswerten.Drittens. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche ein Arbeitsprogramm zu den sicherheits-, gesundheits-, forschungs- und energiepolitischen Folgen aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl beschlossen. Im Mittelpunkt steht das, was wir bereits kurz nach dem Unglück angekündigt hatten: Alle in Betrieb und im Bau befindlichen Kernkraftwerke in der Bundesrepublik werden im Lichte der Erkenntnisse aus dem sowjetischen Reaktorunfall generell auf ihren Sicherheitsstand hin überprüft und erneut bewertet. Die entsprechenden Aufträge sind erteilt.Gleich nach dem Unfall hat die Bundesregierung die erforderlichen sofortigen Maßnahmen eingeleitet. Hierzu gehört auch die schnelle Durchführung der finanziellen Entschädigung im nationalen Bereich. Bereits am 21. Mai 1986 hat die Bundesregierung die Ausgleichsrichtlinie zu § 38 Abs. 2 des Atomgesetzes beschlossen, und der Bund hat dafür die Kosten in vollem Umfange übernommen. Bis Anfang September konnten vom Bundesverwaltungsamt bereits fast 300 000 Anträge bearbeitet und die darauf anfallenden Beträge von über 200 Millionen DM an die Geschädigten ausgezahlt werden.Ich könnte auch etwas über die Billigkeitsrichtlinie sagen. Auch dafür sind — obwohl die Länder zuständig sind, zu zwei Dritteln vom Bund finanziert — 125 Millionen DM bereitgestellt worden.Auch mit dieser Bilanz hat die Bundesregierung ihr Verantwortungsbewußtsein und vor allem ihre Solidarität gegenüber den Betroffenen unter Beweis gestellt. In keinem anderen Land, das von den Auswirkungen des Reaktorunfalls betroffen worden ist, wurde so schnell und so wirksam auf die eingetretenen Schäden reagiert. Ich stelle dies hier mit großer Befriedigung fest.
Noch etwas gehört in diesen Zusammenhang: Verunsicherung und manchmal Angst in der Bevölkerung sind vor allem durch voneinander abweichende Grenzwerte und Empfehlungen zum Verzehr von Lebens- und Futtermitteln entstanden. Pro Liter Milch wurden für Jod 131 folgende Becquerel-Grenzwerte festgelegt: In Hessen: 20, in der Bundesrepublik Deutschland: 500, in Schweden: 2 000,
in Frankreich: 3 000 und in der Schweiz: 3 700.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist ein unhaltbarer Zustand, der nicht hingenommen werden kann,
und wenn Sie diesen Zwischenruf machen, dann habe ich den Eindruck, daß Ihnen daran liegt, daß die Menschen weiter verunsichert werden und nicht objektiv, nüchtern und klar über die tatsächliche Lage aufgeklärt werden.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Die Bundesregierung setzt daher alles daran, daß künftig solche unterschiedlichen Empfehlungen vermieden werden können.In dem Arbeitsprogramm ist mein Ministerium beauftragt, ein neues Bundesgesetz zur Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt auszuarbeiten. Ziele dieses Gesetzes sind im wesentlichen: Bundeseinheitliche Regelungen für die Erhebung, Auswertung, Übermittlung und Bewertung von Meßdaten; eine umfassende Neukonzeption und bessere Koordinierung der in Bund und Ländern vorhandenen Netze und dergleichen mehr. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird vorbereitet.Tschernobyl hat uns gezeigt, daß es nicht ausreicht, die Bemühungen auf den eigenen Verantwortungsbereich, das eigene Land, zu beschränken. Deswegen hat Bundeskanzler Kohl nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl die Initiative ergriffen und eine internationale Konferenz über Fragen der Sicherheit von Kernenergie angeregt. Diese Anregung fand weltweit ein positives Echo. Ihr Ergebnis ist die Sonderkonferenz der IAEO in Wien vom 24. bis zum 26. September dieses Jahres.
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17810 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. WallmannDiese Initiative des Bundeskanzlers hat bereits jetzt zu großen Erfolgen geführt und eine internationale Zusammenarbeit eingeleitet, deren Wirkungen weit über die dreitägige Konferenz hinausreichen werden. Nach meinen Gesprächen in Paris, London und Washington, in Wien und auch in Moskau glaube ich sagen zu dürfen, daß wir durch die Initiative des Bundeskanzlers vor einer neuen Phase der internationalen Zusammenarbeit auf dem Felde der Sicherheit kerntechnischer Anlagen stehen:
Erstens: Die sehr offenen und erfolgreichen Expertengespräche im Vorfeld der Sonderkonferenz haben unter den kernkraftwerksbetreibenden Staaten ein neues Bewußtsein dafür geschaffen, daß ihnen mit der IAEO ein sehr, sehr wirksames Instrument der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit kerntechnischer Anlagen zur Verfügung steht. Ich möchte hierbei auch dem Generaldirektor der IAEO, dem Schweden Professor Dr. Blix, nachdrücklich für sein umsichtiges Engagement danken.
Innerhalb kürzester Zeit ist es den Experten gelungen, sich auf zwei Konventionsentwürfe über ein grenzüberschreitendes Frühwarnsystem und über ein System wechselseitiger Hilfeleistungen zu einigen. Ich bin zuversichtlich, daß diese beiden Abkommen im Konsens beschlossen und vielleicht bereits in Wien unterzeichnet werden können.Zu den bemerkenswerten Vorgängen im Vorfeld dieser Sonderkonferenz gehörte auch, daß die Sowjetunion mit ihrem Bericht zum Reaktorunfall von Tschernobyl und mit ihren zusätzlichen Informationen auf dem Wiener Expertentreffen Ende August jetzt auch genauere Einzelheiten über das Ausmaß, Ursachen und Auswirkungen der Katastrophe vorgelegt hat. Ich sage ganz offen: Nur wenige hatten erwartet, daß die Sowjetunion mit solcher Deutlichkeit auch sicherheitstechnische Mängel — also nicht nur menschliches Versagen — eingestehen werde. Auch ich hatte es nicht erwartet. Mit Befriedigung habe ich zur Kenntnis genommen, daß die Sowjetunion bereits konkrete Maßnahmen angekündigt hat, um das Auftreten eines ähnlichen Unfalls in ihren Kernkraftwerken zu verhindern.Zweitens: Die Initiative des Bundeskanzlers hat auch dazu geführt, daß bei vielen Staaten die Bereitschaft gewachsen ist, über verbindliche Sicherheitsanforderungen und die Verbesserung des Haftungsrechts bei Reaktorunfällen zu verhandeln. In dieser Hinsicht bewerte ich die Gespräche in Moskau zu Beginn dieser Woche besonders positiv. So erklärte mir der stellvertretende Vorsitzende des Staatskomitees für die friedliche Nutzung der Kernenergie, Semjonow, die Sowjetunion sei daran interessiert, daß die bestehenden sicherheitstechnischen Empfehlungen — nur Empfehlungen — der IAEO aktualisiert werden. Er könne sich vorstellen, daß die sicherheitstechnischen Empfehlungen langfristig Grundlage für verbindliche Sicherheitsanforderungen werden könnten.
Die Sowjetunion sei bereit, zunächst auf freiwilliger Basis die Betriebssicherheit ihrer kerntechnischen Anlagen durch sogenannte OSART-Teams der IAEO bewerten zu lassen.
— Ich gestehe freimütig: Auch damit habe ich nicht zu rechnen und auch darauf habe ich nicht zu hoffen gewagt. — Die Sowjetunion sei an der Erarbeitung international abgestimmter Grenzwerte für radiologische Belastungen interessiert.Meine Damen und Herren, wenn der Vertreter eines Landes, das in Sachen Kernenergie auch und besonders den Gesichtspunkt der nationalen Souveränität betont hat, dies alles erklärt, dann kann das doch nur heißen: Die von Bundeskanzler Kohl initiierte Sonderkonferenz ist nicht das Ende, sondern der Beginn eines Prozesses, der langfristig zu verbesserter internationaler Kooperation und höheren internationalen Anforderungen auf dem Felde der Sicherheit kerntechnischer Anlagen führt.
Dürfen wir uns angesichts solcher Perspektiven der Möglichkeit begeben, unseren Einfluß auf die Entwicklung eines hohen internationalen Sicherheitsniveaus geltend zu machen? Wir schwächen diese Einflußmöglichkeiten, wenn wir uns aus der Gemeinschaft kernkraftwerksbetreibender Staaten abkoppeln. Diese Frage sollten sich all jene stellen, die für einen baldigen „Ausstieg" unseres Landes aus der Kernenergie plädieren.Im übrigen: Wer das Risiko des Betriebes eines Kernkraftwerkes nicht für verantwortbar hält, darf sich nicht dafür aussprechen, auch nur für eine Übergangszeit die Kernkraft weiter zu nutzen. Ein bißchen Sicherheit und ein bißchen Ausstieg, wie das von Ihnen gefordert wird, können wir uns nicht erlauben.
Im übrigen ist es unverantwortlich, die knappen Vorräte an fossilen Brennstoffen ohne Rücksicht auf kommende Generationen und vor allem auf die Energiebedürfnisse der Dritten Welt in wenigen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes zu verfeuern.
Wir als reiche Industrienation können uns den Ausstieg j a vielleicht finanziell noch leisten, aber moralisch können wir es nicht. Das ist das Entscheidende.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17811
Bundesminister Dr. WallmannUnsere Aufgabe muß es sein, daran mitzuwirken, daß die friedliche Nutzung der Kernenergie weltweit sicherer wird.
Es wäre widersinnig, die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzuschalten, wenn weltweit ein Vielfaches an Kernkraftwerken in Betrieb bleibt und weitere Kernkraftwerke in Betrieb gehen werden.
Gegenwärtig sind auf der ganzen Welt 374 Kernkraftwerke in Betrieb, 151 befinden sich im Bau. Wie können wir angesichts dieser Tatsache mehr Sicherheit erreichen, wenn wir unsere 20 Kernkraftwerke, von denen, nebenbei bemerkt, 17 in Ihrer Verantwortung ans Netz gegangen sind, stillegen?
Die Sowjetunion — so wurde mir in Moskau erklärt — hat die feste Absicht, bis zum Jahr 2000 die Stromproduktion aus Kernkraftwerken auf das Fünf- bis Siebenfache des gegenwärtigen Standes zu erhöhen. Sie plant ferner eine verstärkte Nutzung von Kernkraftwerken zur Fernwärmeversorgung. Auch in der DDR, in CSSR und in Frankreich wird mit Nachdruck an einem Ausbau der Kernenergie gearbeitet. Das ist eine Wirklichkeit, die wir doch nicht wegdiskutieren können.
Man kann, meine Damen und Herren, die Sie für den Ausstieg sind, nicht gestern über Waldschäden klagen und von Kohlekraftwerken als Dreckschleudern reden und heute den sofortigen Ersatz von Kernkraftwerken durch Kohlekraftwerke fordern.
Ich sage in diesem Zusammenhang das Stichwort „Kohlendioxid-Emissionen", und ich erwähne in diesem Zusammenhang, welche Belastungen dadurch für das Klima entstehen.Der frühere Bundeskanzler Schmidt hat am 1. Juli dieses Jahres in der Marktkirche in Hannover eine bemerkenswerte Rede zum Thema „Christliche Ethik und politische Verantwortung" gehalten. Dabei ging er auf Tschernobyl und die Nutzung der Kernenergie in unserem Lande ein. Er sagte u. a.:Keine der beiden großen Energiequellen ist also ohne Risiko, weder die Kernkraft noch das Verbrennen von Kohlenwasserstoff. Kein Wissenschaftler kann uns im Augenblick wirklich sagen, welches Risiko am größten sei. Die Folgen etwa beim Kohlendioxid werden ... früh im nächsten Jahrhundert zu Buche schlagen.Er fügte hinzu, daß die Antworten nicht im Katechismus gefunden werden können, sondern nur durch Nachdenken und Abwägen, und das müsse auch im Sinne christlicher Freiheit für die nach uns Kommenden geschehen. Er wehrte sich ausdrücklich gegen den Satz:Aus moralischen Gründen müssen alle Kernkraftwerke dichtgemacht werden.
Und schließlich stellte er fest — ein weiteres Zitat —:Die christliche Ethik allein liefert uns dafür keine Richtschnur. Sie kann uns nur dazu anhalten, unsere Entscheidungen im Gewissen immer und immer wieder zu prüfen und uns nicht Stimmungen oder der Mode hinzugeben.
Ich habe bewußt den früheren Bundeskanzler zitiert, um deutlich zu machen, daß es in der Frage der Kernenergie nicht um parteipolitische Interessen gehen darf, sondern, daß wir auf Fragen, die von so großer Bedeutung sind und die die Menschen bewegen, aus Verantwortung Antworten suchen und diese Antworten auch geben müssen.Wer wie Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, in diesen Tagen mit Plakaten „Mehrheit für eine gefahrlose Energie" für sich wirbt, der handelt nicht nur verantwortungslos, meine Damen und Herren, der kann auch schuldig werden.
Denn unsere so komplizierte, unsere so diffizile Welt, von Wissenschaft, Technik und moderner Industrie geprägt, verträgt keine simplen und schon gar nicht unehrliche Antworten. Die „schrecklichen Vereinfacher" sind die größte Gefahr für unsere Gesellschaft.
Es gibt keine gefahrlosen Techniken, und die fossilen Energien bedeuten erhebliche Gefahren, wahrscheinlich viel größere als die Kernenergie.
Dieses können Sie alles im einzelnen nachlesen, wenn Sie den Text jener Rede des früheren Bundeskanzlers Schmidt vom 1. Juli in Hannover nehmen. Darin ist er nämlich im einzelnen auf das, was ich eben vorgetragen habe, eingegangen.
Meine Damen und Herren, im Interesse sachgerechter Entscheidungen und damit im Interesse der Menschen sollten wir uns wirklich vor diesen „schrecklichen Vereinfachungen" hüten. Gerade in den Bereichen, für die ich als Bundesumweltminister zuständig bin, hat das Prinzip Verantwortung besonderes Gewicht. Und Verantwortung meint hier: Mitbedenken der langfristigen, der grenzüberschreitenden Folgen, die jede unserer Entscheidungen nach sich ziehen könnte; heißt sorgfältiges Abwägen aller Handlungsalternativen im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen Risiken.
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17812 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. WallmannEs gibt ein menschlich verständliches Bedürfnis nach Eindeutigkeit, nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Es ist sicherlich der bequemere Weg, die Flucht in so einfache Ja-Nein-Schemata anzutreten oder einfach mit dem Strom zu schwimmen. Aber auf dieser Basis ist ein sachlicher, ist ein vernunftgeleiteter Diskurs nicht mehr möglich. Ich wünsche mir daher, daß die Parteien wieder dazu kommen, miteinander gerade über die brennenden Zukunftsfragen zu sprechen, die Argumente des anderen anzuhören
und auch über unterschiedliche politische Grundpositionen hinweg nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.
Die große Aufgabe, unsere Umwelt für künftige Generationen funktionsfähig und auch lebenswert zu erhalten, braucht einen interessen- und parteienübergreifenden Konsens.Ich wiederhole: Ich bin zur Kooperation mit allen bereit, die sich dem Umweltschutz verpflichtet fühlen. Aber ich füge hinzu: Wir werden unsere Pflicht zur Entscheidung und zum Handeln wie auf allen anderen Feldern der Politik in den vergangenen rund vier Jahren auch in den Fragen des Umwelt- und des Naturschutzes, wie in der friedlichen Nutzung der Kernenergie, erfüllen, selbst wenn sich die SPD weiter opportunistisch gehen läßt. Wir entlassen uns nicht aus der Pflicht gegenüber unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, für die wir Verantwortung tragen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hauff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne, verehrter Herr Kollege Wallmann, mit der Rede von Herrn Schmidt in Hamburg beginnen, aus der Sie zitiert haben. Mit dieser Rede haben Sie sich mehrfach beschäftigt und immer ganz einseitig zitiert. Warum haben Sie eigentlich dem Hohen Haus verschwiegen, daß Helmut Schmidt dort auch gesagt hat, daß eine Situation möglich ist, die uns zu dem Punkt bringt — jetzt wörtlich —:Diese eine Sache lehnen wir ab. Das Risiko ist groß. Wir machen das andere, obwohl das auch Risiken hat.
Das hat er auch in Hamburg gesagt.
Und in der Situation sind wir jetzt.Ich möchte gern noch ein Wort dazu sagen, daß wir hier eine Haushaltsdebatte haben, Herr Kollege Seiters. Das ganze Land diskutiert über Energiepolitik, und der Minister, der in diesem Kabinett für Energiepolitik zuständig ist, sagt in seiner Haushaltsrede kein Wort zur Energiepolitik. Und wenn über Energiepolitik diskutiert wird, dann ist er noch nicht einmal da,
dieser Herr Bangemann.Da hatten wir einen Dreispalter: „Kohl über Wirtschaftsministerium verärgert". Das hat ja wohl was mit Energiepolitik zu tun.
Und da fragt man sich: Warum ist der eigentlich verärgert? Was ist eigentlich passiert?
Da ist etwas ganz Einfaches passiert, nämlich daß der Vorsitzende des Sachverständigenrates der Bundesregierung, verehrter Herr Kollege Wallmann, gleichzeitig Direktor des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, in einem von der Regierung bestellten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen ist, daß ein mittelfristiger Ausstieg aus der Kernenergie ohne gravierende wirtschaftliche Probleme möglich sei.
— Jetzt warten Sie doch einen kleinen Augenblick. Ich komme zu Ihren Argumenten. Keine Bange. Eins ums andere.Dies ist nicht das erste Gutachten, sondern das vierte Gutachten, das in den letzten Wochen vorgelegt wurde: von Prognos, vom Leiter der Energieabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, vom Öko-Institut und jetzt vom RWI. 4:0 steht es im Augenblick gegen die Position der Bundesregierung im Hinblick auf dieses Wort, dieses böse Wort des Bundeskanzlers, der Ausstieg bedeute Verelendung und Massenarbeitslosigkeit. Und mit diesem Problem will ich mich auseinandersetzen.
Alle vier Gutachten widerlegen diese Position. Es ist falsch, was da behauptet wurde.Nun ist ganz interessant: Wie geht die Bundesregierung eigentlich mit diesem Gutachten um?
Da spricht man von politischer Panne.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17813
Dr. HauffDas ist ja hochinteressant. Da gibt es einen Gutachter, der etwas sagt, was der Politik der Bundesregierung widerspricht, und das ist dann eine politische Panne.
Das ist ja großartig, Ihr Verhältnis zur Wissenschaft, Ihr sorgfältiges Abwägen unter Offenheit für alle Argumente, Herr Wallmann. Kein Wort davon ist wahr.
Und wenn dieses böse Wort, Herr Kollege Wallmann, von der politischen Willfährigkeit in der Situation unseres Landes einen Platz hat, dann im Umgang dieser Bundesregierung mit diesen Gutachten.
Und die Menschen wollen auch keine Durchhalteparolen mehr, sondern sie wollen in der Tat Offenheit. Sie wollen in der Tat ein Abwägen der Argumente, aller Argumente, die da sind. Und das ist auch erforderlich. Deswegen sind die platten Vereinfachungen, die diese Bundesregierung zu diesem Thema präsentiert hat, ein unerträglicher Beitrag zur Ruinierung der politischen Kultur in unserem Lande.
Es war nicht nur das Wort von der Verelendung und der Massenarbeitslosigkeit, sondern es ist auch das Problem, daß der Generalsekretär der von Ihnen, Herr Fellner, so geliebten CDU davon spricht, daß ein Ausstieg moralisch unverantwortlich wäre.
Da soll er sich doch bitte mal mit dem Bischof von Linz auseinandersetzen, wenn er solche Sachen behauptet,
und ein bißchen hineinhören, was in den Kirchen eigentlich diskutiert wird. Es ist ja schließlich kein Monopol der christlich demokratischen Partei, von Moral zu reden.
Nach Tschernobyl kann niemand mehr die Risiken und Gefahren für das Leben der Menschen und die Umwelt leugnen. Die von Herrn Wallmann vorgetragenen Entschädigungszahlungen belegen das.
Atomkraft führt zu lebensbedrohenden Gefahren. — Herr Hirsch, ich komme dazu. Ich stehe zu meiner Geschichte. Kein Problem; ich stehe dazu.
Dies war im übrigen unsere Einschätzung — das zu der Frage zu der Aufrichtigkeit der Diskussion, auch meiner, 1984, nicht nach Tschernobyl. Wir haben miteinander — auch mit meiner Stimme —1984 dies beschlossen. Herr Hirsch, wenn Sie sich richtig erinnern, dann wissen Sie: Wir hatten eine einzige große historische Kernenergiedebatte in den letzten zehn, zwanzig Jahren, die — so vermute ich — sich auch Ihnen in die Erinnerung eingegraben hat. Das war die Kernenergiedebatte 1978 im Zusammenhang mit der Frage, ob die Arbeiten am Schnellen Brüter fortgesetzt werden sollen. In dieser Debatte habe ich als Bundesminister für Forschung und Technologie das Wort ergriffen und habe gesagt: Ich bin dafür, diesen Weg fortzusetzsen. Ich habe hinzugefügt — ich bitte Sie, das Protokoll nachzulesen —: Dies ist nur zu verantworten, wenn es mit der Bereitschaft gepaart ist, in der Zukunft die Frage erneut offen zu überprüfen, ob das nicht zu gefährlich ist, und wenn es zu gefährlich ist, diesen Irrtum auch einzugestehen.
Das habe ich 1978 wörtlich gesagt.
Herr Wallmann, ich lade Sie ein, alte Zitate vorzutragen. Nur verschweigen sie auch das nicht, was dazu gesagt wurde.
— Bitte schön.
Herr Kollege Hauff, dann müssen Sie aber freundlicherweise dem erstaunten Publikum mitteilen, welche tatsächlichen Erkenntnisse Sie neu gewonnen haben, die Sie damals nicht hatten. Darauf bin ich neugierig.
Sehr einverstanden. Ich bin im Augenblick dabei und komme zu den vier Argumenten im einzelnen. Zunächst möchte ich mich damit auseinandersetzen, daß der Bundeswirtschaftsminister — der für die Energiepolitik zuständig ist, aber hier nicht anwesend ist —
gestern in Hintergrundgesprächen den Entwurf für das Energieprogramm praktisch veröffentlicht hat und in diesem Entwurf steht — so ist es der Presse heute zu entnehmen —, daß man den derzeitigen Stimmungen nach Tschernobyl nicht nachgeben darf. Jetzt frage ich Sie: Waren es eigentlich Stimmungen, warum Sie Ersatzzahlungen nach dem Haftungsrecht geleistet haben, Herr Wallmann?
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17814 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. HauffWaren es eigentlich Stimmungen, die dazu geführt haben, daß in konkreten Lebenssituationen
die Verbraucher bestimmte Dinge nicht mehr essen konnten, Bauern ihre Ernte vernichten mußten und Mütter Angst davor hatten, was sie ihren Kindern noch geben könnten?
Waren das Stimmungen, oder beruhte das auf Zahlen dieser Bundesregierung?
Ich bin dafür, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen, warum ich und andere 1984 so entschieden haben. Ich komme auf Ihre Frage zurück, Herr Hirsch. Für mich sind es vier Gründe.Der erste Grund ist tatsächlich das Risiko.
Es gibt bei technischen Systemen keine absolute Sicherheit,
auch wenn es gelegentlich so behauptet wurde.
Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe ist klein.
Sie ist durch technische Aufwendungen in der Tat immer kleiner gemacht worden. Das muß immer weiter fortgesetzt werden.
Nur ist das Ausmaß des Schadens unermeßlich groß. Das erste Mal, als wir begannen, darüber theoretisch nachzudenken, war 1979. Damals ist die erste deutsche Reaktorsicherheitsstudie abgeschlossen worden. Da ist das zum erstenmal überhaupt zum Thema erklärt worden. Mein Zitat war aus 1978 — nur damit wir ehrlich miteinander argumentieren.Herr Kollege Wallmann, wir streiten mit Ihnen von der Union nicht über die Frage: Wie sicher sind Kernkraftwerke? Es bleibt eine politische Aufgabe, sie so sicher wie irgend möglich zu machen. Das ist ein dauernder Prozeß. Da stimmen wir der Bundesregierung zu. Wir streiten mit Ihnen vielmehr darüber: Was passiert eigentlich, wenn das Unwahrscheinliche Wirklichkeit wird, weil es nicht vollständig auszuschließen ist? Wir streiten darüber, ob das eigentlich noch zu rechtfertigen ist.
— Da argumentiere ich im Augenblick nicht mit Tschernobyl. Tun Sie doch nicht so, als wäre Tschernobyl der einzige Reaktorunfall gewesen.
Ich argumentiere mit Harrisburg.
Harrisburg war ein Schadensfall, Herr Kollege Fellner, aus dem heraus eine Situation entstehen kann, bei der nach unserem Recht Evakuierungsmaßnahmen geboten sind. Und ich bitte Sie, sich mal vorzustellen, was es für unser Land bedeutet, wenn wir Hamburg, das Rhein-Main-Gebiet oder den mittleren Neckarraum evakuieren müßten. Das ist ein unerträgliches Risiko, das auf die Dauer nicht hingenommen werden kann.
Der zweite Grund: Ein weiterer, weltweiter Ausbau der Atomkraft führt zur Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Am Anfang der Nutzung der Kernenergie stand das Dogma von der klaren Unterscheidung: hie zivil, hie militärisch. Heute wissen wir, auch auf Grund von tragischen Entwicklungen, die in die falsche Richtung geführt haben und wo wir mitbeteiligt waren, z. B. in Pakistan, daß diese Unterscheidung nicht zutreffend ist, sondern daß militärische und zivile Nutzung fließend ineinander übergehen. Wer das eine beherrscht, kann auch das andere tun. Deswegen liegt in einem weltweiten Ausbau der Kernenergie eine Bedrohung für den Weltfrieden.
Dritter Grund, die Belastung kommender Generationen. Die Beseitigung des Atommülls und die Stillegung, das Abwracken von Atomkraftwerken, sind trotz langjähriger Forschungsarbeiten und trotz vielfacher Versprechungen — ich weiß, wovon ich rede — bis zur Stunde in keinem Land der Welt gelöst.
Deswegen ist es auch grob fahrlässig, wenn man behauptet, man sei jetzt in der Lage, die Wirtschaftlichkeit voll zu beurteilen, obwohl die Lösung eines Problems technisch noch nicht klar ist.
Wie immer dieses Problem gelöst wird, eines ist sicher: Man wird sicherstellen müssen, daß diese Schadstoffe über mehrere Hunderte von Jahren von der Biosphäre ferngehalten werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17815
Dr. HauffMeine Frage ist, was kostet das eigentlich? Und jetzt, Herr Kollege Wallmann, bin ich noch einmal beim Aufsatz von Helmut Schmidt und noch mal bei einem Zitat aus diesem Aufsatz, wo er zu den künftigen Entwicklungen gesagt hat:Mir will scheinen, es wäre moralisch, aber auch vernunftgemäß das klügste, sich heute so zu verhalten, daß die Freiheit zukünftiger Entscheidungen durch künftig entscheidungsbefugte Menschen so wenig wie möglich eingeengt wird.Es gibt keine Technik, die zukünftige Entscheidungen von kommenden Generationen mehr einengt als der radioaktive Abfall von Atomkraftwerken.
Herr Abgeordneter Hauff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bueb?
Nein, ich möchte gerne weiterreden.
Bitte, fahren Sie fort.
Der dritte Grund, Kollege Hirsch, war die kommende Generation, und der vierte ist die Sozialverträglichkeit. Eine Entwicklung, bei der wir alle dazugelernt haben, daß die Begeisterung — —
— Wer war's denn? — Nun gut, dann lassen wir es stehen.
Wer einmal am Zaun von Wackersdorf gestanden hat und gesehen hat, wie sich dort eine Technologie vor den Menschen eingräbt — ich war vor vier Tagen dort —, der sieht die Gefährdung für die Grundrechte auf Freiheit, auf Leben und Gesundheit, von den Bedrohungen durch Sabotage, Terrorismus und dem Problem der Verletzlichkeit bei militärischen Auseinandersetzungen ganz zu schweigen. Wenn das alles für Sie kein Argument ist, dann setzen Sie sich bitte mit den Überlegungen CarlFriedrich von Weizsäckers auseinander, der dazu Einschlägiges gesagt hat.
Bitte schön, wenn es darum geht, ja.
Sie gestatten eine Zwischenfrage? — Bitte sehr.
Herr Kollege Dr. Hauff, Sie beziehen sich auf das Vorwort zum Buch von
Mayer-Abich; denn dort hat Weizsäcker schriftlich niedergelegt, daß er heute eine andere Haltung hat. Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen — würden Sie so freundlich sein —, daß er dort ausdrücklich dazu gesagt hat, daß diese seine veränderte Haltung unter der Voraussetzung gilt, daß die Alternative S, die er nicht beurteilen könne, wirklich richtig sei. Das heißt, daß Herr von Weizsäcker seine Meinung zur Kernenergie ändern würde, wenn diese Voraussetzung nicht stimmt.
Nach meiner Information — aber da können wir beide noch einmal in das Buch hineingucken — haben Sie nicht ganz korrekt zitiert.
Aber im übrigen: Im Hinblick auf das Argument, das ich vorgetragen habe, nämlich die Verletzbarkeit bei militärischen Auseinandersetzungen, hat sich von Weizsäcker an ganz anderen Stellen und ganz ausführlich geäußert. Und das sollten Sie einmal lesen! Das wäre ganz vernünftig.
Ich sage ganz offen, Herr Hirsch: Wir haben aus unserer Geschichte gelernt. Und ich halte das auch für keine Schande. Ich halte es nicht für ein Zeichen von Schwäche, wenn Politiker in der Lage sind, ihre Meinung dann zu ändern, wenn Argumente auftauchen, die sie dazu veranlassen, das zu tun.
Das, was wir jetzt brauchen, ist in der Tat ein Weg aus der Gefahr, ein Weg, der eben nicht bei der Empörung verbleibt und durch flotte Sprüche gekennzeichnet ist,
sondern der von der Empörung über dieses atomare Risiko zur Reform unserer Energiewirtschaft führt. Das ist unsere Position.
Und jetzt möchte ich mich einmal sehr gern mit den Argumenten der Regierung in dem Zusammenhang auseinandersetzen. Was haben wir denn seit Tschernobyl von der Regierung da so gehört? Zunächst war sie einmal ganz handlungsunfähig.
Und der Minister, den der Herr Wallmann jetzt so gelobt hat, mußte anschließend gehen. Also, ich frage mich, warum der gehen mußte, wenn er auf dem Gebiet alles so vorzüglich gemacht hat.
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17816 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Das eine hat doch mit dem anderen zu tun.Das erste Argument war, es gebe eine absolute Sicherheit deutscher Kernkraftwerke.
— Der Herr Riesenhuber hat es gesagt — und hat es dann dementiert — in der „Bild-Zeitung". Korrekt, da war ich dabei. Er hat dann im Fernsehen auf die Frage, ob ein solches Risiko auch in der Bundesrepublik besteht, gesagt: Das will ich für Deutschland ausschließen.
Das ist j a eine klare Botschaft an die Zuhörer: Ich will das ausschließen.
Und Herr Zimmermann hat behauptet, eine Gefährdung sei — jetzt wörtlich — „absolut auszuschließen; denn eine Gefährdung besteht nur im Umkreis von 30 bis 50 Kilometern".
— Richtig, Herr Baum, das war falsch, was die Regierung da gesagt hat. Und das Tollste war dann: Der Kernenergieexperte dieser Bundesregierung, der Regierungssprecher Ost, hat aus Indien verkündet: „Nach internationaler Expertenansicht gelten unsere Reaktoren als absolut sicher, und ein GAU ist bei uns völlig unmöglich." Das hat der Regierungssprecher verkündet und hat es bis jetzt noch nicht dementiert. Herr Riesenhuber hat sein „absolut" dementiert und gesagt: Das haben die falsch gedruckt. Alle anderen Zitate sind bis zur Stunde undementiert. Nur, ich sage Ihnen: Bei technischen Systemen — da stimme ich Herrn Riesenhuber zu — gibt es keine absolute Sicherheit. Wer etwas anderes behauptet, täuscht die Öffentlichkeit und disqualifiziert sich für ein Amt, in dem man politische Verantwortung für solche Systeme übernommen hat.
Die Reaktortechnik läßt keine Irrtümer zu. Olof Palme, der frühere schwedische Ministerpräsident— auch einer, der dazugelernt hat, auch einer, der seine Meinung geändert hat
— ja, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Gallus —,
hat wörtlich gesagt: „Wir sind die erste Generation, die sich keinen Fehler mehr erlauben darf."
Und in der Tat, dies ist so.
— Sie verstehen etwas von Straßenbau, aber wirklich nichts von Kernenergie; seien Sie da ein bißchen vorsichtig.
Als dieses Argument „abgeräumt" war, weg war, hat die Bundesregierung ein zweites Argument nachgeschoben und sprach von der energiepolitischen Unverzichtbarkeit. Nur, die bisher vorgelegten Studien zeigen, daß davon keine Rede sein kann. Sie zeigen im übrigen auch, daß wir alle das Thema Energieeinsparung bis zur Stunde unterschätzt haben. Und ich darf dieser Bundesregierung— hoffe ich — einen unverdächtigen Zeugen zitieren, Kurt Biedenkopf, der zu Beginn dieser Woche gesagt hat — wörtlich —: „Ich messe der Energieeinsparung außerordentliche Bedeutung zu." — Daraus müssen auch Konsequenzen gezogen werden, denn solche Papierbekenntnisse haben wir in der Vergangenheit schon oft gehört. Es ist auch möglich, so sagen Experten, bis zu 20 % Strom einzusparen.
— Das unachtsame Wegwerfen von Nahrungsmitteln ist kein verantwortlicher Umgang mit Nahrung. Das ist das Thema, um das es geht. — Aber wir sagen: Eine sichere Energieversorgung ist selbst dann zu gewährleisten, wenn sich die Einsparungen nicht so schnell realisieren lassen. Das sagen alle Experten.Als dieses Thema „abgeräumt" war, ging es weiter; dann sprach man von der wirtschaftlichen „Verelendung" und von der „Massenarbeitslosigkeit". Das war das nächste Argument. Weder die Wirtschaftsinstitute noch der Deutsche Gewerkschaftsbund noch die Wirtschaft selbst teilen die Horrorvision des Bundeskanzlers, die er im niedersächsischen Wahlkampf als Holzhammerargument vorgetragen hat.
Nehmen Sie doch unvoreingenommen zur Kenntnis: Bei einem geordneten Rückzug
— im Laufe der nächsten zehn Jahre — würden allein im Bereich des Kraftwerkbaus, des Energieanlagenbaus, der Energiespartechnik und des Bergbaus mehrere zehntausend Arbeitsplätze zusätzlich entstehen.
Herr Abgeordneter Hauff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17817
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen.
Gilt das für Ihre gesamte Redezeit?
Ja, für die Redezeit.Wenn wir für Energieeinsparung plädieren, dann heißt das nicht, daß man im kalten Zimmer sitzt, sondern das heißt, daß man technische Möglichkeiten nutzt, daß neue Technologien wie Wärme-KraftKopplung, Blockheizkraftwerke, Wirbelschichtfeuerung, bessere Isolationsmaterialien, andere Haushaltsgeräte, Wärmepumpen, Solarzellen genutzt werden, um neue Industrien entstehen zu lassen, um auf diesem Gebiet Wachstum entstehen zu lassen, damit unsere Probleme besser gelöst werden.
Jetzt bleibt das Argument übrig, das Sie heute nachmittag hier auch eingeführt haben, nämlich die umweltpolitische Verträglichkeit.
Herr Kollege Wallmann, der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat in einem Sondergutachten 1981 betont, daß bei der Kohle keine Parallele zu den möglichen großen Reaktorunfällen besteht. Er führt dann weiter aus — wörtlich —:Das Risiko eines Unfalls von katastrophalem Ausmaß kann bei der Kernenergie aus der Gesamtbewertung deswegen nicht ausgeklammert werden.Das ist eine Aussage des Sachverständigenrates für Umweltfragen.Auch wenn wir, wie das RWI annimmt, keine Energieeinsparung und keine technischen Innovationen vornehmen und keine Fortschritte in der Gesetzgebung durch Umweltgesetze machen — davon geht das RWI-Gutachten aus —, dann bleibt es dennoch so, daß wir bei dem Weg, den wir empfehlen, zu einer Verringerung von Schwefeldioxid kommen, und zwar im Laufe der nächsten Jahre um 60 %, daß es zu keinem Zeitpunkt eine höhere Emission geben wird und daß wir bei NOx zu einer Reduktion um über 50% kommen. Wir wollen aber die Energieeinsparung zur Priorität Nummer eins machen. Wir wollen den strukturellen Wandel in der Wirtschaft fördern. Wir wollen technische Innovationen im Umweltschutz voranbringen. Wir wollen auch in der Gesetzgebung auf diesem Gebiet keinen Stillstand haben. Deswegen ist es zu schaffen, diese Zahl noch wesentlich zu unterschreiten. In der Tat, wir müssen die Ärmel auf all den Gebieten hochkrempeln.
Wir müssen neue Lösungen wirklich suchen. Wir müssen in unserer Industriegesellschaft die Chance nutzen, Arbeit und Umwelt miteinander zu verknüpfen. Es kann doch überhaupt keinen Zweifel geben, daß es unter allen Energietechnologienkeine kapitalintensivere und arbeitsplatzärmere Technologie gibt als die Atomkraft.
— Herr Pfeffermann, das CO2-Problem nehmen wir sehr ernst, und es darf nicht verharmlost werden. Nur muß der, der das CO2-Problem ernst nimmt, mit uns zusammen erstens als wichtigste Priorität der Energiepolitik die rationelle und sparsame Energieverwendung einsetzen.
Zweitens muß er, bevor er über andere Dinge nachdenkt, mit uns zusammen dafür eintreten, daß der Wahnsinn aufhört, daß in der Dritten Welt laufend tropische Wälder brandgerodet werden, mit riesigen Belastungen für die Umwelt.
Und wer das CO2-Problem ernst nimmt, der muß mit uns zusammen dafür eintreten, daß die unglaublich schädlichen Treibgase in dem Zusammenhang hier in der Bundesrepublik endlich verboten werden, wie das in Schweden ist.
Erst dann, wenn Sie das getan hätten, wären Sie überhaupt legitimiert zu sagen:
Jetzt müssen noch zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden.
Es gibt viele in Europa und anderswo, die mit uns zusammen diesen Weg gehen, wo es solche Entwicklungen gibt, von Schweden über die Niederlande, von Dänemark über Österreich.
Die Diskussion unserer Freunde in Italien und auch die Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika muß Sie doch dazu bringen, wo kein einziges neues Kernkraftwerk bestellt wurde.
Der frühere Leiter der Umweltschutzbehörde der Vereinigten Staaten, den ich gefragt habe, warum das seines Erachtens so sei, sagt mir, er glaube nicht, daß unter Sicherheitsgesichtspunkten in den USA überhaupt noch ein Kernkraftwerk genehmigt werde. Wenn man den Satz wirklich ernst nimmt, Wirtschaftlichkeit geht vor Sicherheit, dann wird sich sehr rasch herausstellen, was dabei von dem Märchen vom billigen Atomstrom übrigbleibt.
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17818 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. HauffWir stehen vor einer großen Reformaufgabe — das ist richtig —, und wir müssen diese Reform auch als industriepolitische Chance begreifen.
Wenn alle mitziehen — das sage ich noch einmal —, dann kann es im Laufe von zehn Jahren gelingen.
Das zeigt im übrigen auch ein Blick auf die Vergangenheit: In den letzten zehn Jahren, zwischen 1979 und 1985,
haben wir 46 Millionen Tonnen Öl aus dem Energiesystem verdrängt.
41 Millionen ist die Vergleichszahl der Kernenergie. Niemand soll behaupten, das sei völlig ausgeschlossen; deswegen sagen die Institute das auch. Das geht.
— Hören Sie doch sorgfältig zu! Ich polemisiere doch gar nicht gegen Sie.
Richtig ist: Es gab in diesen Jahren eine Übereinstimmung zwischen nahezu allen Beteiligten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, daß dieser Prozeß „Weg vom 01" vorangetrieben werden müßte.
Eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft ist aus folgenden Gründen möglich.Erstens. Wir haben heute aus verschiedenen Gründen Überkapazitäten. Nach Angaben der Elektrizitätswirtschaft, die sicherlich nicht zu hoch gegriffen sind, liegen sie in einer Größenordnung von etwas mehr als 10 000 Megawatt.Zweitens. Die Möglichkeiten zur Stromeinsparung sind größer als vermutet. Es gibt seriöse Untersuchungen, die zu heutigen wirtschaftlichen Bedingungen mit einem Sparpotential im Strombereich zwischen 15 und 20 % rechnen.
Allerdings müssen wir das alle wollen.Drittens. Es gibt genügend Braun- und Steinkohle,
um den anfallenden Bedarf auf jeden Fall zu dekken, auch dann, wenn wir mit den Einsparungen nicht so schnell vorankommen, wie wir das hoffen.Viertens. In Zukunft werden vor allem regenerative Energiequellen eine wachsende Rolle spielen. Ich teile die Auffassung von Carl Friedrich von Weizsäcker — jetzt beziehe ich mich auf das Vorwort —, der sagt, er rücke von seiner frühere Position ab für ein Energiesystem, das als Hauptenergieträger die Kernenergie vorsieht, und plädiert dafür für die Entwicklung eines Energiesystems mit dem Hauptenergieträger der Solarenergie für die Zukunft.
Ich halte das für richtig. Aber dieses Ziel — das ist richtig — werden wir nur erreichen, wenn wir unsere technischen Fähigkeiten und unsere Ingenieurleistungen wirklich bündeln und konzentriert einsetzen. Nur muß man sich dann entscheiden, auch ökonomisch entscheiden: Man kann nicht gleichzeitig 10 Milliarden DM für Wackersdorf in den Sand setzen und meinen, dann sei noch eine vergleichbare Größenordnung an Geld zur Verfügung,
um die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf diesem Gebiet voranzutreiben. Hier muß man sich entscheiden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß trotz allen Meinungsstreits — und vielleicht können Sie all die Zwischenrufe einmal verdichten und dann einen qualifizierten Debattenbeitrag von hier oben machen; das wäre ja auch nicht schlecht —
zwischen Regierung und Opposition, der notwendig ist, unser Angebot wiederholen: Wir meinen es ernst
mit der Neubesinnung in der Energiepolitik. Wir können nicht einfach weitermachen wie bisher. Wir wollen, daß unser Land, daß unsere Industriegesellschaft einen zukunfts- und technikorientierten Weg in der Energiepolitik geht.
Ich stimme ausdrücklich — und es ermutigt mich im Gegensatz zu Ihren Zwischenrufen — dem Landesvorsitzenden der CDU von Nordrhein-Westfalen zu, der vor wenigen Tagen folgendes gesagt hat: „Machen wir eine große nationale Kraftanstrengung, um möglichst bald auf die Kernspaltung als Energieträger verzichten zu können."
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17819
Dr. HauffDies ist ein hoffnungsvolles Zeichen, daß ein Konsens möglich ist.Er fügt dann hinzu — das kann er auch gar nicht anders —: „Die SPD sagt, das ist in zehn Jahren möglich; die CDU sagt, das geht in 30 bis 50 Jahren." Nur wenn Sie das sagen und wenn Sie zu dem Ergebnis kommen,
dann ist eines sicher: Dann macht es überhaupt keinen Sinn mehr, den Schnellen Brüter in Kalkar in Betrieb zu nehmen.
Dann wäre doch das das erste Stückchen neuer Gemeinsamkeit, das wir dann miteinander vor der Öffentlichkeit vertreten, daß wir bereit sind, auch etwas daraus zu lernen, wenn ein solcher Unfall passiert, und daß die Menschen in diesem Lande besorgt sind darüber, daß die Politik darauf nur mit dem Motto reagiert: Augen zu und weitermachen wie bisher.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die Atomkraft ein Irrweg ist.
— Herr Pfeffermann, setzen Sie sich doch mit Herrn Biedenkopf auseinander.
Wer den Prognosen der Weltenergiekonferenz folgt— Herr Wallmann hat in letzter Zeit diese Konferenz mehrfach zitiert —, der muß der Öffentlichkeit auch sagen, daß dort das Bild entwickelt wurde, daß wir im Jahre 2050 in der Tat ein Energiesystem haben, das weltweit im wesentlichen auf Kernenergie aufbaut. Ein solches Weltenergiesystem würde bei der heutigen Größe von Reaktoren dazu führen, daß wir dann im Jahre 2050 weltweit 20 000 Atomreaktoren laufen haben. Wenn man dann den hohen Sicherheitsstandard der Reaktorsicherheitsstudie für die Bundesrepublik nimmt, dann haben Sie die Situation, daß jedes halbe Jahr ein GAU stattfindet.
Spätestens dann wird man einsehen, daß das ein Irrweg ist und daß das nicht gemacht werden darf.
— Das ist kein Horrorgemälde, das sind die Zahlen der Weltenergiekonferenz.
Das mag Ihnen nicht gefallen. Das ändert aber nichts daran, daß es wahr ist.Wir tragen Verantwortung für kommende Generationen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern konkret durch das, was wir an Gefährdungen, an denen diese zu tragen haben, tun. Astrid Lindgren hat einmal über die Entwicklung von Kindern gesagt: „Die Kindheit ist der Morgen des Lebens, und bei einem glücklichen und sorglos erlebten Morgen kann einem Menschen später nicht mehr viel passieren."Meine Damen und Herren, ich habe meine Meinung geändert; Sie machen mir das zum Vorwurf.
Ich muß das akzeptieren. Ich habe meine Gründe dafür vorgetragen. Ich will Ihnen nur noch sagen: Mein Appell geht an Sie: Schaffen wir gemeinsam die Voraussetzung dafür, daß unsere Kinder in der Tat — wie es hieß — einen glücklichen und sorglos erlebten Morgen erleben können.Es lohnt sich, die Zeichen der Zeit wirklich zu erkennen; es lohnt sich, daraus Konsequenzen zu ziehen; und es lohnt sich, dann durch unsere praktische Politik dafür ein Zeichen, das die Menschen in unserem Land verstehen können, als ein Stück begründbare Hoffnung für unsere Zukunft zu setzen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Umweltpolitik ist— davon sind die Unionsparteien überzeugt — zu einem Schlüssel für die Zukunft unseres Landes geworden. Dieser Überzeugung entspricht es, daß wir — im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Hauff— erstmals über den Haushalt eines Bundesumweltministers debattieren. Herr Kollege Hauff, Sie haben übrigens so gesprochen, als seien Sie ganz neu im Deutschen Bundestag. Ihr eigenes vergangenes Wirken war total ausgeblendet. Was verstehen Sie eigentlich unter politischer Verantwortung?
Wenn heute, wie Sie sagen, Volksvermögen wie in Kalkar in riesigem Umfang in den Sand gesetzt werden soll, so sind Sie es doch und ihre politischen Freunde, die die Verantwortung dafür tragen, wenn es je so weit kommen sollte.
Meine Damen und Herren, von der Umweltpolitik wird es wesentlich abhängen, ob die Zukunft unseres Landes in den 90er Jahren die eines leistungsfähigen und sozialen Industriestaates ist, in dem wirtschaftliches Wachstum und technischer Fortschritt
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17820 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. Laufsden Menschen und ihrer natürlichen Umwelt dienen.Nach vier Jahren gemeinsamer Umweltpolitik der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP mit den Ministern Dr. Zimmermann und Dr. Wallmann können wir feststellen: die umweltpolitischen Weichen sind richtig gestellt. In keiner Legislaturperiode ist für den Umweltschutz so viel getan worden, wie in dieser. Das gilt nicht nur für die Gesetzgebung, sondern vor allem auch für den Vollzug neuer Umweltvorschriften.
Sie SPD spricht in ihrem Nürnberger Leitantrag zur Umweltpolitik mit selbstkritischem Blick auf ihre eigene Regierungszeit wörtlich davon, „daß auch auf Grund eigener Fehler die Umweltprobleme die Umweltpolitik überholt haben", und weiter: „Trotz anfänglicher Erfolge gelang es uns aber nicht, den Trend zu fortschreitender Umweltzerstörung nachhaltig umzukehren."Hier ist unter der christlichen-liberalen Regierung eine entscheidende Wende erfolgt.
— Ich möchte Ihnen das hier an einem Beispiel darstellen. Als wir im Jahre 1982 die Regierungsverantwortung übernahmen, betrug der Schwefeldioxidausstoß über dem Bundesgebiet 3 Millionen t pro Jahr. Inzwischen wurde dank der Großfeuerungsanlagen-Verordnung von 1983 ein Drittel der Kraftwerksleistung entschwefelt. 1988 werden die Schwefelemissionen auf 1,6 Millionen Jahrestonnen, 1993 auf nur noch 1,1 Millionen Jahrestonnen vermindert sein. Dann sind wir wieder dort, wo wir vor hundert Jahren waren.Diesen großen Erfolg unserer Luftreinhaltepolitik stellt die Opposition durch ihren Bruch mit einer langfristig angelegten und gemeinsam getragenen Energiepolitik grundsätzlich in Frage.
Der Ausstieg aus der Kernkraft und der Umstieg auf fossile Energieträger — denn andere stehen für lange Zeit nicht ausreichend zur Verfügung — hätten verheerende Folgen für die Umwelt. Es verwundert nicht, daß im Nürnberger SPD-Umweltpapier der Wald nur noch ganz am Rande erwähnt wird. Es ist eben unmöglich, weitere 40 Millionen t Steinkohle — woher auch immer sie kommen mögen —, jährlich zu verstromen, um die heutige Kernkraftwerksleistung zu ersetzen, ohne daß 140 Millionen t Kohlendioxid und weit über 1 Millionen t Schadstoffe zusätzlich in die Umwelt ausgestoßen werden.
Es gibt kein Gutachten, das zu anderen Ergebnissen kommt. Da hilft alles Verstecken und Verschweigen nicht.
Was Sie, Herr Kollege Hauff, über Energiesparen im Bereich der Elektrizitätsnutzung gesagt haben, ist pures Wunschdenken. Minister Jochimsen weiß, warum er das erste Prognos-Gutachten versteckt hat.Die SPD regt sich über diese enorme zusätzliche Umweltbelastung nicht auf, aber um 32 000 Jahrestonnen Stickoxide zu vermeiden, will sie allen Bürgern ein drastisches Tempolimit verpassen. Ich meine, das hat nichts mehr mit Umweltschutz zu tun, sondern vor allem mit der Gängelung der Bürger.
In Nürnberg ist ihr nichts mehr eingefallen als — ich zitiere wörtlich — „die Förderung des Fahrrads und die Dämpfung des motorisierten Individualverkehrs". Darum geht es Ihnen.
Herr Abgeordneter Laufs, gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hauff?
Bitte. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Wenn ich einmal davon absehe, daß Sie hoffentlich auch die ganzen Passagen zum kombinierten Verkehr gelesen haben — aber man kann nicht alles lesen; das gebe ich Ihnen zu —, möchte ich Sie gern fragen, was die Schadstoffemissionen und das Energiesparen angeht: Können Sie mir bestätigen, daß das Gutachten von Prognos, das Sie zitiert haben, von folgenden Voraussetzungen ausgeht: Erstens, es gibt keine technologischen Veränderungen, zweitens, es gibt keinen strukturellen Wandel in unserer Wirtschaft, drittens, in der Umweltgesetzgebung gibt es keine Veränderungen, so daß die Aussagen unter diesen Voraussetzungen zustande gekommen sind? Können Sie bestätigen, daß Prognos genau das Stromsparen ausgliedert und dies damit nicht Gegenstand des Gutachtens ist?
Es gibt noch weitere Prämissen, Herr Kollege Hauff, die genauso unrealistisch sind wie das, von dem Sie ausgehen, z. B. daß nur wir aus der Kernenergie aussteigen, daß alle Importkohle zu unserer Verfügung steht.
Sie können selbstverständlich jede Menge Prämissen finden, die es erlauben, zu dem Ergebnis zu kommen, das Sie haben wollen.
Das Prognos-Gutachten, das ich im Wortlaut nicht kenne — —
— Herr Jochimsen hat es j a unter Verschluß gehalten. Ich kenne nur seine Darstellung in der Presse.
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Dr. LaufsIch kann mich darauf verlassen, daß diese Darstellung, was die Prämissen angeht, richtig ist.
Dieses Prognos-Gutachten kommt zu dem Ergebnis, daß der Stromverbrauch überhaupt nicht in dem Umfang sinken kann, von dem Sie ausgehen, damit Sie in Ihrem Szenario zu Ihrem Ergebnis kommen.
Herr Abgeordneter Laufs, gestatten Sie noch eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Hauff?
Nein.
Die panikartige Flucht der SPD aus der Kernenergiepolitik ist umweltpolitisch nicht zu verantworten.
Dabei war die Begeisterung der SPD für das Atomzeitalter einst überschäumend. Es liegt gar nicht lange zurück, als sich SPD-Parteitage mit Nachdruck für den Ausbau der Kernkraft, insbesondere für die Hochtemperaturlinie, für den Schnellen Brüter aussprachen.
In all den Jahren ist der Sicherheitsstandard unserer Anlagen ernorm erhöht worden. Nun kommt der Salto mortale rückwärts, Herr Kollege Hauff, als ob in Tschernobyl deutsche Reaktortechnik, deutsche Betriebsweisen oder Sicherheitssysteme versagt hätten.
Wie wollen Sie denn glaubwürdig noch irgendeine Energiepolitik betreiben, deren Techniken alle — auch die Wasserstofftechnik, auch die Solarenergie, die Kohlenutzung, auf die Sie nunmehr offensichtlich setzten müssen — lange Zeiträume, Stetigkeit und Konsequenz erfordern, zu der Sie total unfähig geworden sind?
Herr Kollege Hauff, wer sich ohne wirklich neue Erkenntnisse — und Sie waren nicht in der Lage, hier irgendein neues Argument in die Debatte einzuführen —
so leicht wie Sie um die Windrose dreht, hat seine Glaubwürdigkeit als ernstzunehmender Ratgeber längst verspielt.
Was Sie im Hinblick auf die Stillegung der Hanauer Nuklearbetriebe gefordert haben und was der hessische Minister für Wirtschaft und Technik ganz offensichtlich in Vollzug der SPD-Parteitagsbeschlüsse inszeniert und ankündigt, verbreitet den schlimmen Geruch rechtswidrigen Vorgehens.
Es ist beschämend, wie Minister Steger die RBU, ein weltweit höchst angesehenes Unternehmen mit über 50 % Exportanteil seiner Produkte,
öffentlich mißhandelt, in seinem internationalen Ruf schädigt und damit über 1 000 Arbeitsplätze gefährdet. Es ist nicht zu fassen, wie sich die SPD über die Existenzsorgen unzähliger Arbeitnehmer hinwegsetzt!
Minister Steger muß dabei seine eigenen Reden Lügen strafen und sich als Chef der Genehmigungsbehörde selber das schlechteste Zeugnis ausstellen; denn noch im Februar dieses Jahres hat er der RBU-Geschäftsführung und dem RBU-Genehmigungsverfahren vor dem Hessischen Landtag ein umfassendes positives Gesamturteil ausgestellt.
Herr Abgeordneter Dr. Laufs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?
Bitte.
Herr Abgeordneter Schäfer, Sie müssen es aber schon mir überlassen, wann ich den Redner unterbreche. Wenn ich den Eindruck habe, daß er einen Gedanken zu Ende führen will, ist es sinnvoller, wenn ich da zunächst zurückhaltend bin. — Bitte schön!
Ich pflichte Ihnen bei. — Herr Kollege Laufs, Sie haben eben nach dem Motto „Weiter so wie bisher" argumentiert, und deswegen meine Frage: Teilen Sie die Auffassung von Herrn Biedenkopf, der gemeint hat, das Neue an der Katastrophe in Tschernobyl sei die Tatsache, daß — jetzt wörtlich — aus einem bislang theoretischen Restrisiko tödliche Wirklichkeit geworden sei und daß dies Folgerungen für die deutsche Energiepolitik haben müsse?
Teilen Sie diese Auffassung des CDU-Politikers Biedenkopf?
Ich kenne den Wortlaut der Aussage des Kollegen Biedenkopf nicht.
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17822 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. LaufsDen Wortlaut kenne ich nicht, und deshalb möchte ich Ihnen in aller Klarheit sagen: Die Restrisiken dieser Technik der Sowjetunion sind mit den Restrisiken unserer Anlagen überhaupt nicht zu vergleichen, schlicht und einfach nicht zu vergleichen.
Mit denselben Argumenten könnten Sie, Herr Kollege Schäfer, verlangen, daß nach den Chemieunfällen in Bhopal und Seveso die deutsche chemische Industrie stillgelegt wird.
— Nein, Frau Kollegin Timm, man muß nun wirklich zu differenzieren versuchen. Wenn Sie das nicht mehr zuwege bringen, bedaure ich das außerordentlich.
Wir begrüßen ausdrücklich, daß der Bundesminister Dr. Wallmann eine absolut sachbezogene und ausschließlich am Schutz der Umwelt und der Bevölkerung orientierte Haltung einnimmt.
Strikte Objektivität nach Recht und Gesetz
und ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken im Interesse der Bürger zeichnen ihn und seine Beamten aus, und dafür danken wir ihm.
Meine Damen und Herren, die zentrale Angstmeldung der GRÜNEN, die marktwirtschaftlich-industrielle Produktionsweise führe unausweichlich in die Katastrophe,
ist durch nichts belegt.
Sie ist Ausdruck der grünen Geisteshaltung des Ausstiegs und der Verweigerung.
— Wissen Sie, nach unserem Verständnis hat Umwelt- und Naturschutz zutiefst etwas mit Ehrfurcht vor der Schöpfung zu tun.
Wie können Sie von den GRÜNEN sich als Parteider Ehrfurcht vor dem Leben aufspielen, wo Sie alsPartei doch den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens absolut auf Null bringen und Ihr Verhältnis zur Gewalt nicht klären wollen?
Ich halte nichts
von aufgeregtem Pessimismus, den ich bei Ihnen finde, und der Sehnsucht nach Katastrophenmeldungen und von den Horrorszenarien, Herr Kollege Hauff,
mit dem Sie unsere Bürger erschrecken wollen.
Bei uns hat die Unheilsprophezeihung keinen Vorrang. Wer nicht an eine gute Zukunft glaubt, wird auch keine haben.
Es geht darum, die Nutzung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts möglichst weitgehend zuzulassen und zugleich ein bestmögliches Maß an Sicherheit zu realisieren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ströbele?
Bitte schön. Vizepräsident Stücklen: Bitte.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß heute morgen in der Debatte Ihr CDU-Kollege Jagoda erklärt hat, daß das Strafrecht nicht das richtige Mittel zur Regelung der Abtreibungsfrage sei?
Also über die Frage des Strafrechts kann man diskutieren.
Es geht darum, ob man, wie Sie es vorhaben, den Schutz des ungeborenen Lebens bis zur Geburt so preisgibt, wie Sie es in Hannover beschlossen haben.
Die Opposition begeistert sich für ihre Zukunftsperspektive eines tiefgreifenden ökologischen Kurswechsels. Wir denken eigentlich mehr an die praktischen Leistungen, z. B. des SPD-Hoffnungs-
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Dr. Laufsträgers und Umweltministers Jo Leinen beim großen Firschsterben in Saar und Mosel
oder des hessischen Umweltministers Josef Fischer
mit seinem Abfallbeseitigungschaos. — Er heißt „Josef" Fischer nach dem Handbuch des Deutschen Bundestages.
-- Bitte schön.Das ist eben rot-grüner Umweltschutz in Theorie und Praxis. Nach unserem Verständnis braucht man vor allem praktischen Sachverstand, Augenmaß und langen Atem. Und den vermissen wir bei der Opposition.
Die Nürnberger Beschlüsse der SPD zur Umweltpolitik
—Oh ja!-
verdeutlichen den fortschreitenden Abschied der SPD von der modernen Industriegesellschaft und ihre Zielsetzung einer strikten staatlichen Reglementierung der Wirtschaft. Es geht hier unter dem Deckmantel des Vorrangs ökologischer Interessen schlicht um Investitionslenkung und Planwirtschaft.
Dabei nimmt die SPD den Rückfall in Industriestrukturen der Jahrhundertwende in Kauf.
— Insoweit, Herr Kollege Hauff, treffen sich die Vorstellungen von SPD und GRÜNEN.Das Vorsorgeprinzip ist ein grundlegendes Element unserer Umweltpolitik.
Die SPD fordert nun eine geradezu bedingungslose Ausweitung, was zu absurden Konsequenzen führen würde und den Gesundheits- und Umweltschutz zum Spielball rot-grüner Tagespolitik und unseriöser Panikmache werden ließe.
Von Außenseitern proklamierte Zweifel an der Unbedenklichkeit bestimmter Stoffe
müßten jeweils zu einer Entscheidung gegen Hersteller oder Emittenten führen. Zum Beispiel müßte der Pkw-Verkehr nach dieser SPD-Vorsorgemaxime „Im Zweifel für die Umwelt" natürlich verboten werden.
Das wäre wohl in Ihrem Interesse.
-- Oh, ich habe es sehr genau gelesen, Herr Kollege Hauff. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß Sie das am Abend ohne Aussprache sehr schnell alles verabschiedet haben.
Die SPD Umweltpolitik der Experimente und der Maßlosigkeit reichte aus,
um jegliche Investitions- und Innovationsbereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Keim zu ersticken.
Herr Abgeordneter Laufs, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein. Ich habe kaum noch Zeit.Im Gegensatz zur SPD ist die CDU/CSU der Auffassung, daß wirksamer Umweltschutz nur in einer modernen Industriegesellschaft mit einem Höchststand von Wissenschaft und Technik zu verwirklichen ist. In der weiteren Entwicklung von Wissenschaft und Technik sehen wir die Voraussetzung für einen ständig weiter verbesserten Umweltschutz. Im Gegensatz zu der von der SPD beabsichtigten Reglementierung der Wirtschaft geht es der Union darum, die Kräfte des Marktes für umweltpolitische Ziele zu aktivieren. Wir werden die Zukunftsfähigkeit unseres Landes mit unserer Umweltpolitik sichern.Unser Ziel ist die moderne Industriegesellschaft mit einem menschlichen Gesicht. Dabei ist es die Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen fortzuschreiben, unter denen Techniken genutzt werden dürfen. Wo Gefahren für die Umwelt und menschliche Gesundheit mit nicht unerheblichen Schäden drohen, muß für eine lückenlose Gefahrenabwehr gesorgt werden. Umweltvorsorge bedeutet eine kontinuierlich mit Augenmaß betriebene Risikominderung. So ist der Eintrag von Schadstoffen in die Umwelt entsprechend dem wissenschaftlichtechnischen Fortschritt möglichst gering zu halten. Vorsorge im Umweltschutz muß von einem konkre-
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Dr. Laufsten Gefahrenverdacht ausgehen. Mehr als das technisch Machbare und wirtschaftlich Zumutbare kann sie nicht leisten. Eine verschärfte Produkthaftung ist notwendig, um den Herstellern einen Anreiz zu geben, die Stoffzusammensetzung der Produkte stärker als bisher an ihrer Umweltverträglichkeit zu orientieren. Der Umsetzung der EG-Richtlinie über die Haftung für fehlerhafte Produkte in nationales Recht kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.Die CDU/CSU wird sich auch künftig entsprechend dem Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzip für einen zügig vorangetriebenen Abbau der Umweltbelastungen einsetzen.Wir lesen heute zum erstenmal den Haushalt eines Bundesumweltministers. Das verpflichtet uns zu ganz besonders sorgfältiger Beratung, damit das neue Ministerium angemessen ausgestattet wird. Im Interesse unserer Umwelt, einer vielfältigen Natur und hoher technischer Sicherheit gegenüber radioaktiven Gefahren muß das neue Ministerium mit höchster Effizienz arbeiten können. Wir sagen Bundesminister Wallmann unsere konstruktiv-kritische Begleitung und engagierte Unterstützung seiner vielfältigen Vorhaben zu.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Abgeordneter Bueb, Sie haben offensichtlich und ganz eindeutig ein Mitglied dieses Hauses folgendermaßen bezeichnet: „So ein feiger Hund." Ich rufe Sie zur Ordnung.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht sollte man ein gewisses Verständnis für diesen zu Recht gerügten Zwischenruf aufbringen. Herr Hauff — jetzt ist er weg —, wenn Sie einen Satz gesagt hätten, der selbstkritisch bezüglich Ihrer Beschlüsse von damals gewesen wäre, oder wenn Sie wenigstens einen Satz dazu gesagt hätten, daß Sie sich bei der Antiatomkraft-Bewegung dafür zu bedanken haben, daß sie ein Jahrzehnt lang durchgehalten hat, ein Jahrzehnt lang, in dem Sie die Atomenergie aufs Heftigste ausgebaut haben, dann hätte der Abgeordnete Bueb diesen Zwischenruf sicher nicht gemacht.
Die Einrichtung eines Bundesministeriums für Umweltschutz war, wie wir alle wissen, aus der Not geboren: Tschernobyl war geschehen. Herr Minister Zimmermann hatte sich mit seiner Desinformationspolitik gänzlich blamiert — natürlich vorher auch schon —, die niedersächsischen Wahlen standen vor der Tür, und deswegen gab es keine andere Entscheidung und auch keinen anderen Trick, als Herrn Wallmann zum Umweltminister zu machen, ein Schnellschuß wie so vieles, der natürlich irgendwann nach hinten losgeht.Wie sieht dieses Umweltministerium nun aus? Es sind zwei Abteilungen unter einem neuen Titel zusammengelegt worden. Auf dem Ganzen sitzt ein bürokratischer Wasserkopf aus Staatssekretär und Minister, und das war es dann. Bürokratie statt Leistung, so könnte man diese Umweltpolitik zusammenfassen. Diesem Ministerium stehen lächerliche 430 Millionen DM zur Verfügung, mit denen natürlich auch nichts wesentlich anderes gemacht wird als im letzten Haushaltsjahr.Meine Damen und Herren von der CDU, was Sie hier geschaffen haben, ist bestenfalls der Unterbau einer Public-Relations-Abteilung in Sachen Umweltschutz und nicht irgend etwas mehr. Man könnte natürlich dieses ganze Unternehmen als einen Etikettenschwindel sehen. Ich finde, dieser Begriff stimmt dafür nicht.
Denn es ist doch eigentlich so, daß diese miserable Ausstattung für ein Umweltministerium nun genau das besagt, was Ihre Umweltpolitik ausmacht, nämlich keine Umweltpolitik zu sein.Sie haben einen Mini-Etat, Herr Wallmann, von nur 430 Millionen DM. Das sind nur lumpige 0,16 % des Bundeshaushaltes. Damit ist eindeutig bewiesen, welchen Wert diese Bundesregierung einem Bundesumweltministerium beimißt.
Das ist jetzt eindeutig. Insofern ist Ihr Schuß wirklich nach hinten losgegangen.
Es gab einmal einen englischen König, den nannte man Johann Ohneland. Sie, Herr Wallmann, sind bestenfalls der Wallmann ohne Etat.
Dieser Etat und diese Abteilungen sind von Ihren netten Regierungskollegen — deswegen ist Herr Zimmermannn ja auch nicht da — vorher noch gefleddert worden, wie man hört, indem man Ihnen — ich weiß, warum Herr Zimmermann nicht da ist — die besten Kräfte vorher abgezogen hat. Auch dies ist bekannt. Es ist also ein gefleddertes Umweltministerium, das Sie im Augenblick haben. Dieses Umweltministerium macht eigentlich deutlich, daß Sie bestenfalls ein Frühstücksdirektor des Umweltschutzes sind, der sich noch nicht einmal ein anständiges Müsli leisten kann.Nein, der Aufbau dieses Ministeriums angesichts zunehmender Umweltbelastungen ist nicht nur ein Stück aus dem politischen Tollhaus, es ist das Zynischste, was im Laufe der letzten drei Jahre hier überhaupt passiert ist, angesichts der ernsthaften Bedrohung der Umwelt, die hier zur Zeit vorliegt.
Nehmen wir zwei Beispiele Ihrer bisherigen Abführung, Luftreinhaltung: Die aus dem Jahre 1983 stammende Großfeuerungsanlagen-Verordnung
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Dr. Müller
läßt nach wie vor wegen zu großzügig bemessener Umrüstfristen bei den Großkraftwerken eine wirkungsvolle Entstickung und Entschwefelung erst ab 1993 erwarten. Zehn Jahre sind verspielt. Und da spielen Sie sich hier im Augenblick als die Waldschützer auf! Das müßte man eigentlich — ich bin da ganz vorsichtig — mit einem schärferen Begriff als Heuchelei belegen.Wie aus den Leitlinien der Bundesregierung zur Umweltvorsorge vom 3. September 1986 hervorgeht, sieht sie auch nach Tschernobyl keinen Anlaß, diese Verordnung zu verändern. Das heißt: Sie blokkieren auch in Zukunft Entschwefelung und Entstickung. Das ist die Wahrheit bezüglich Ihres Engagements in Sachen Umweltschutz und in Sachen Waldsterben.Aber es kommt noch besser: In denselben Leitlinien wird die Behauptung wiederholt, daß die Maßnahmen zur Einführung des schadstoffarmen Autos und des bleifreien Benzins bis 1995 die Stickoxidemission auf 57 % reduzieren soll. Was von dieser Zahl zu halten ist, verdeutlicht eine aktuelle Berechnung des Ifo-Instituts, wonach sich die für 1986 abzeichnende Zunahme sowohl der Fahrleistung als auch der gefahrenen Geschwindigkeit von Pkw trotz der genannten Maßnahmen der Bundesregierung noch zu einer Zunahme der Stickoxidemissionen von 2% gegenüber 1985 steigern wird. Ihre Politik ist eine Politik der Waldvernichtung; das ist das Wesentliche, was zu Ihrer polemischen Argumentation in der Atomdebatte zu sagen ist.
Zur Frage der Reaktorsicherheit: Professor Ehrenstein
sieht folgendes als wichtigste Lehre des Tschernobyl-Unglückes an — ich zitiere: Einerseits war alles noch viel schlimmer als man kurz nach dem Unfall oder gar vorher für möglich gehalten hatte, andererseits war Tschernobyl allenfalls ein mittlerer Unfall; denn von mehr als 96% des hochradioaktiven Inventars wurde unser Kontinent bei diesem Super-GAU noch einmal verschont.
Was hier also als Katastrophe dargestellt wird, ist trotz der ungeheuren Ausmaße und der ungeheuren Bedrohung, die Tschernobyl gebracht hat, noch ein kleiner Unfall gewesen. Das nur zur Warnung für alle diejenigen, die glauben, daß Tschernobyl das Schlimmste gewesen sei, was überhaupt passieren kann. Es kann noch viel schlimmer kommen.Was machen Sie, Herr Wallmann? Sie folgen weiterhin in der Debatte über Reaktorsicherheit einer Linie der Sicherheitsillusion. Und wir wissen doch jetzt, daß der Begriff Restrisiko letztendlich Verstrahlung meint. Das haben wir aus Tschernobyl gelernt. Solange Sie dieses nicht akzeptieren, werden Sie weiterhin den Fehler machen, in die Sicherheit von Atomenergie zu investieren, statt dafür zu sorgen, eine ökologische und risikofreie Energieform zu fördern und zu finden.
Nun wollen Sie, Herr Wallmann, nach dem Prinzip des Teekessels — da haben Sie wahrscheinlich was in der Küche gesehen — den Reaktor auch noch mit einem Sicherheitsventil ausstatten. Abgesehen von dem Eingeständnis, daß Sie damit zugeben, daß die Welt der Atomenergie so sicher wahrlich nicht ist, d. h. alle diejenigen Lügen strafen, die uns vor dieser Umrüstentscheidung erzählt haben, Atomenergie sei sicher, muß man feststellen, daß das natürlich kein Allheilmittel gegen einen Super-GAU ist;
denn eine derartige Maßnahme macht überhaupt nur bei einem sogenannten Niederdruck-SuperGAU einen Sinn. Und dieser dürfte nach Ansicht von Experten bloß ca. 5% aller möglichen SuperGAU-Fälle ausmachen. Also ein zusätzlicher Sicherheitsgewinn ist überhaupt nicht vorhanden. Im übrigen dürfte eine derartige Ausfilterung der Atomanlagen mindestens 2 Milliarden DM kosten, ein Betrag, der gut und gerne besser investiert werden könnte bei Abschaltung und für eine moderne, ökologische Energieform.Ganz entsprechend der Art und Weise, wie natürlich die gesamte Investition, Herr Hauff, in Atomenergie eine Verschwendung von Steuergeldern gewesen ist, nach der heutigen und auch Ihrer heutigen Erkenntnis, ist es doch so, daß all das, was Sie zusätzlich darin zu investieren bereit sind, eine weitere Verschwendung ist, weil wir wirklich ganz andere Summen brauchten, um eine ökologisch verträgliche Energiepolitik zu betreiben.
Und nun schaut man in Ihren Haushalt rein und überprüft. Sie sagen: Sehr sicher, die Atomenergie. — Und da stellt man folgendes fest, nämlich daß dort ca. 25 Millionen DM für die mögliche Bewältigung eines Super-GAU eingestellt sind.
Das nennt man Rechnungslegung.
Das steht da schon. Das ist Ihre Form von Vorsorge: 25 Millionen — abgesehen davon, daß das nicht ausreicht —, Sie Zyniker.
Das reicht nicht aus, aber Sie schreiben das da rein. Sie widerlegen sich in Ihrem Haushaltsentwurf selber bezüglich Ihrer Sicherheitsphilosophie. Ich zitiere auch gerne, wie zynisch Sie das formulieren, bei diesen 25 Millionen DM:Planung und Optimierung von Notfallschutzmaßnahmen, damit es einen bestmöglichen Schutz vor Strahlenschäden nach— steht da: nach —
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Dr. Müller kerntechnischem Unfall gibt.Also im Haushalt der Bundesregierung, im Haushalt des Ministers für Umweltschutz und Reaktorsicherheit, steht ganz klar und deutlich drin: Mittel für Maßnahmen nach einem kerntechnischen Unfall. Und das bedeutet doch, bitte schön, daß Sie sogar davon ausgehen, daß Ihr ganzes Sicherheitsgerede nicht stimmt.
Und nun erfahren wir heute, Herr Wallmann — in Hessen kennen Sie sich ja vielleicht aus —, daß bei der Hanauer Reaktor- Brennelement Union, RBU, täglich zwischen 6 000 und 7 000 Liter radioaktives Kühlwasser spurlos im Untergrund versikkern.
Was wissen Sie davon, Herr Wallmann? Warum sagen Sie als Minister für Reaktorsicherheit hier nichts dazu? Ich frage Sie: Nehmen Sie dazu Stellung? Seit wann sind Sie darüber informiert? Sind Sie überhaupt davon informiert? Und was sind Sie eigentlich bereit zu tun, um so etwas einzustellen?
Reaktorsicherheit? Nichts! Sie sind noch nicht einmal informiert. Bis heute hat Ihr Haus zu diesem Skandal keine Stellungnahme abgegeben. Das heißt: Auch die Reaktorsicherheit ist Ihnen in Wirklichkeit egal.
Ich fordere Sie deswegen auf, uns, und zwar heute noch, genauestens Auskunft darüber zu geben, was mit diesen 6 000 bis 7 000 Litern radioaktiven Wassers passiert und was mit dem Grundwasser eigentlich passiert, das auf diese Art und Weise radioaktiv verseucht wird.Sie sagen natürlich — darauf komme ich gerne zu sprechen —: Der Fischer ist dafür zuständig. — Ja, der Fischer ist für die Hanauer Nuklearbetriebe zuständig. Ja, das hören wir gerne hier.
Als wir in Hessen mit allen rechtlichen Mitteln versucht haben, diese stillzulegen: Wie haben Sie da argumentiert? Das sei Bundessache!
Da haben Sie immer die Bundessache betont, jetzt auf einmal den Fischer. Legen Sie sich da erst einmal fest und informieren Sie sich über die rechtliche Situation.
Ich weiß schon, warum ich Herrn Wallmann dazu befragen muß.
Ich möchte deutlich machen: Wenn es wirklich so ist, daß in den Etat des Ministers für Umwelt und Reaktorsicherheit Mittel für Atomunfälle und für die Bewältigung der Folgen danach eingestellt worden sind, also vorgesehen sind, dann, meine Damen und Herren, müssen wir und muß jeder in diesem Lande annehmen, daß Atomenergie nicht als sicher bezeichnet werden kann. Nur eines kann stimmen, und da müssen Sie sich festlegen.Die GRÜNEN haben zu Beginn der Legislaturperiode ein Umweltministerium beantragt. Wir waren der Auffassung, daß die Zusammenlegung von Umweltkompetenzen und selbstverständlich auch die Stärkung dieser Umweltkompetenzen mit entsprechenden Mitteln, die Ausstattung eines solchen Umweltministeriums mit entsprechenden Mitteln überhaupt erst die Möglichkeit bieten, in eine sachliche Diskussion einzusteigen, und die Möglichkeit bieten, wesentlich mehr für den Umweltschutz zu tun als bisher. Nun haben Sie ein Umweltministerium gegründet. Sie haben es aufgebaut. Wir müssen feststellen: nichts als Enttäuschung; nichts ist passiert. Vom Etat her — das ist die Wahrheit dieser Bundesrepublik; da kann man nachlesen, was Sie bereit sind zu tun — finden wir nichts Neues. Was hätte man mit einem solchen Umweltministerium eigentlich machen können! Was wären die Aufgaben gewesen? Nicht nur eine bessere Ausstattung. Selbstverständlich die Organisation einer Energiepolitik, die ökologisch verträglich ist. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Selbstverständlich Forschung und Entwicklung von Demonstrationsanlagen im Bereich vorsorgender Umwelttechnologien. Nur wenn wir Alternativen zur Verfügung haben, haben wir auch die Entscheidungsmöglichkeiten. Das wäre heutzutage die Aufgabe eines Umweltministeriums. Weiterhin: der Aufbau und die Entwicklung einer Umweltgesetzgebung, die beispielsweise nur einem Prinzip folgt, nämlich dem Gesundheitsschutz der Bürger mehr Gewicht beizumessen als dem privaten Gewinnstreben von Unternehmen. So eine Umweltgesetzgebung zu entwickeln, wäre die Aufgabe eines Umweltministeriums gewesen. Dazu braucht man natürlich auch Mittel, und dafür braucht man selbstverständlich auch Kompetenz.Insgesamt ist es traurig, was in der Bundesrepublik für Umweltschutz ausgegeben wird. Es ist viel zu wenig. Das führt dazu, daß sich die Umweltschäden in zunehmendem Maße anhäufen und nichts dagegen passiert. Sie, Herr Wallmann, verfügen über lächerliche 0,16 % des Gesamtetats. Wir haben das mit anderen Umweltministerien verglichen. Auch wo zuwenig ausgegeben wird, kann man Rangfolgen bilden. Eines der ältesten Umweltministerien, das es in der Bundesrepublik gibt, das bayerische Umweltministerium, hat es in den vielen Jahren gerade auf 0,77% des Gesamtetats gebracht. Das ist auch zu wenig. Aber das wäre ein Maßstab, den man Ihnen vielleicht setzen könnte, ein Maßstab, der von der CSU vorgegeben wird. Immerhin!, könnte man dazu sagen. Das hessische Umweltministerium, gerade aufgebaut —
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17827
Dr. Müller
auch uns liegen natürlich die 87er Daten vor —, ist immerhin mit 1,5% des Etats ausgestattet. Ich betone: Auch das ist zu wenig, aber immerhin, Herr Wallmann, das Zehnfache von dem, was Sie zur Verfügung haben.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Müller, Sie haben uns eben gefragt, was die Aufgaben eines Umweltministeriums sind. Ich denke, ich kann Ihnen gleich Antwort darauf geben.Lassen Sie mich zuvor mit einem Zitat beginnen, das sich auf die von der SPD vorhin geführte Diskussion bezieht:Der Energiebedarf der meisten Entwicklungsländer wird nur durch Kernenergie befriedigt werden können, und zwar — das läßt sich heute schon absehen — durch die sogenannten Schnellen Brüter, die heute in den USA und in der Bundesrepublik mit solcher Beschleunigung entwickelt werden, daß sie wohl schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre in größeren Mengen exportiert werden können. Hier liegt eine der großen Chancen unserer Industrie, wenn sie die Konkurrenz mit den amerikanischen Firmen besteht, hier liegt eine Chance für die Dritte Welt, weil ohne billige Energiequellen kein wirtschaftlicher Fortschritt möglich ist. Dieselben Reaktoren, die erstaunlich billigen Strom liefern, brüten auch Plutonium aus. Dieses Plutonium kann man wieder zu friedlichen Zwecken verwenden ...So Erhard Eppler in der SPD-Wochenzeitung „Vorwärts" am 25. Juli 1968.
— Nur keine Aufregung!
Herr Kollege Hauff, Sie haben mit gutem Grund gesagt, daß wir alle dazulernen müßten. Bei manchen war der Weg aber offensichtlich etwas weiter als bei anderen. Meine Partei hat nachweislich immer einen distanzierten Standpunkt zum Thema Energiegewinnung aus Kernenergie eingenommen.
Meine Damen und Herren, wir nehmen die Sorgen und Ängste der Bürger
— — Ich fange erst gerade an, Herr Hauff; Sie werden sich das noch anhören müssen. Wir nehmen die Sorgen und Ängste der Bürger im Zusammenhang mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl und seinen Auswirkungen sehr ernst. Es ist selbstverständlich,daß darüber eine intensive Diskussion geführt wurde und noch werden muß.Ich bin gegen eine Bagatellisierung des Geschehens, aber ich wende mich ebenso, meine Damen und Herren, dagegen, eine Katastrophenstimmung zu schüren aus vordergründigen, vielleicht wahltaktisch bestimmten Überlegungen.
Die friedliche Nutzung der Kernenergie hat meine Partei immer an strenge Bedingungen geknüpft wie hohe, immer wieder zu überprüfende Sicherheitsstandards, wirksame Entsorgungsvorsorge, internationale Kooperation, wirksamen Katastrophenschutz, sparsame und rationelle Energieverwendung sowie Erschließung regenerativer Energiequellen.Grundlage unserer Entscheidung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, meine Damen und Herren, war für uns stets auch das Bewußtsein der Begrenztheit der fossilen Ressourcen.
Zudem stößt die Nutzung von Kohle und Öl an die Grenzen der Belastbarkeit der Umwelt, wie die in den letzten Jahren geführte Umweltdiskussion über Waldsterben und Treibhauseffekt durch Kohlendioxidproduktion gezeigt hat.Schließlich hätte der verstärkte Einsatz von konventionellen Energieträgern in Industrieländern als Ersatz für die Kernenergie zur Folge, daß diese Energierohstoffe insbesondere in den Ländern der Dritten Welt fehlen würden, die aus Energiemangel in noch größerem Umfang ihre Wälder abholzen würden.Ich finde es ausgesprochen traurig und unverständlich, daß in der aktuellen Diskussion diese Gesichtspunkte so kurz kommen, sowohl bei Ihnen, Herr Dr. Müller, als auch bei der Fraktion der Sozialdemokraten.
Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen nicht folgen bei dem Versuch, davon abzulenken, daß wir heute keine reine Kernenergiedebatte führen, sondern, wie bereits von Dr. Laufs erwähnt, zum erstenmal über den Haushalt eines Ministeriums diskutieren, dessen Einrichtung eine langjährige Forderung meiner Partei gewesen ist.
— Das finden Sie vielleicht lustig, Herr Dr. Müller, wir haben es, das wissen Sie selbst ganz genau — —
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17828 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Frau Seiler-Albring— Leider nicht lange genug, höre ich gerade. Das kann gut sein.
— Nein, das war jemand anders.In 17 Jahren Regierungsverantwortung, meine Damen und Herren, hat die FDP mit den Ministern Genscher und Gerhart Rudolf Baum die Umweltpolitik in der Bundesrepublik und in der europäischen — —
— Gerne nehme ich den auf, sehr gerne sogar. Der Kollege Maihofer war mir ein ganz besonders lieber Kollege.
Wir wollen mit unserem Konzept einer ökologisch und sozial verpflichteten Marktwirtschaft Ökologie und Ökonomie versöhnen. Der Umweltschutz braucht mehr Marktwirtschaft. Die Nutzung der Natur muß ihren Preis haben. Das strenge Instrumentarium von Verboten und Auflagen muß ergänzt werden durch vielgestaltige ökonomische Anreize, pfleglich und sparsam mit der Natur umzugehen.Dazu gehören konsequente Anwendung des Verursacher- und Vorsorgegrundsatzes, aber auch Markterleichterungen, Branchenabkommen und Kompensationslösungen. Vernünftiges, sparsames Wirtschaften verlangt heute eine langfristige Ausrichtung an ökologischen Eckwerten, u. a. zur Luftreinhaltung, zum Boden-, Gewässer- und Naturschutz. Wir freuen uns — ich sage dies noch einmal —, daß die Forderung unseres Wahlprogramms von 1983, ein Bundesumweltministerium und einen eigenständigen Bundestagsausschuß Umwelt zu schaffen, nun verwirklicht worden ist.
Erforderlich ist ein starkes Ministerium — darin sind wir uns sicherlich alle einig — mit vollen Kompetenzen für alle umweltrelevanten Bereiche. Wir werden uns in den vor uns liegenden Haushaltsberatungen dafür einsetzen, daß dieses Ministerium auch die notwendige Personal- und Sachmittelausstattung erhält.
Aber, meine Damen und Herren, Organisationsstrukturen sind das eine, praktischer Umweltschutz, der nur mit den Bürgern möglich ist, ist das andere. Der Bürger hat die Jahrhundertaufgabe oft besser verstanden, als die Politik ihm zubilligen möchte. Wir Liberale betreiben Umweltschutz mit dem Bürger. Für sie gibt es ein Bürgerrecht auf Umweltplanung. Liberale treten für die Verbandsklage anerkannter Naturschutzverbände ein und verlangen, daß der Umweltschutz endlich als Staatszielbestimmung ins Grundgesetz aufgenommen wird.
Umweltpolitik ist für die junge Generation und andere zukunftsorientierte Menschen zum Glaubwürdigkeitstest der Parteien geworden. Dies verpflichtet zu ehrlicher Darstellung der jeweiligen Situation, nicht zuletzt auch — und das sollte eine Mahnung an uns alle sein — bei Stör- und Katastrophenfällen. Es verpflichtet dazu, die Folgen einzelner Maßnahmen offenzulegen und Wege aufzuzeigen, wie diese Ziele erreicht werden können. Eine Umweltpolitik in der Gesellschaft und mit dem Bürger muß undogmatisch und nüchtern sein. Sie hat alle vernünftigen Interessen abzuwägen. Oberstes Ziel für alle Umweltbereiche ist die konsequente Verminderung aller Schadstoffbelastungen und der Eingriffe in den Naturhaushalt.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Suhr?
Nein.
Drei Schwerpunkte werden wir Liberale auf der Tagung unseres Bundeshauptausschusses am kommenden Samstag besonders intensiv behandeln und in unser Wahlprogramm für die Bundestagswahl aufnehmen: erstens das Thema Abfallvermeidung und -beseitigung; zweitens den Schutz der Naturgüter Wasser, Luft und Boden; drittens den Naturschutz und die Landschaftspflege.
Lassen Sie mich einige dieser Forderungen stichwortartig ansprechen, die wir in der kommenden Legislaturperiode verwirklichen möchten.
Erstens. Oberstes Gebot muß sein, meine Damen und Herren: Abfälle sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Haus-, Gewerbe- und Industrieabfälle sowie besonders umweltschädliche Abfallstoffe wie verschmutztes Altöl, Lösungsmittelreste, Gifte sind getrennt zu sammeln, zu verwerten ...,
Meine Damen und Herren, ich darf bitten, daß der Rednerin besser zugehört wird. Dazu tragen solche Gespräche, wie ich sie hier sehe, nicht bei.
... damit eine weitgehende Verwendung sowie spätere Aufbereitung und Rückführung in den Naturhaushalt bzw. eine schadlose Beseitigung sichergestellt werden kann. Die technischen Erfordernisse der Abfallverwertung und der schadlosen Beseitigung vermeidbarer Reststoffe sind unverzüglich in einer Technischen Anleitung Abfall zu regeln.Meine Damen und Herren, der Verbraucher ist bei Lebens- und Reinigungsmitteln,
bei Medikamenten und Kosmetika mit Entsorgungs- und Verwertungshinweisen sowie Schadstoffkennzeichnungen zu schützen. Altlasten, vor al-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17829
Frau Seiler-Albringlen Dingen Altdeponien, sind in Stufenplänen rasch zu sanieren. Nur dort, wo das Verursacherprinzip,
an dem wir festhalten wollen, nicht greift, gilt das Gemeinlastprinzip.Schutz der Naturgüter Wasser, Luft und Boden: Um die Gewässer in unserem Land wirksamer und rascher vor Verunreinigungen schützen zu können, sollte das Wasserrecht Bundesrecht werden. Die Abwasserabgabe sollte nach unserer Ansicht jährlich so lange erhöht werden, bis die zu fordernde Gewässergüte überall erreicht ist.Maßnahmen zur Luftreinhaltung sind nicht nur am Menschen, sondern auch daran zu orientieren, daß auch empfindlichste Tiere und Pflanzen in ihren Lebensgemeinschaften ausreichend geschützt sind.
Alle Maßnahmen der Emissionsbegrenzung sind auch an diesem Ziel zu messen und im nationalen wie internationalen Bereich für stationäre Anlagen anzustreben.
— Herr Suhr, vielleicht hören Sie einmal besser zu; wir können uns dann anschließend gern darüber unterhalten. —
Ökonomische Anreize sind zu verstärken.Wir fordern, meine Damen und Herren, den Schutz von Natur und Landschaft. Vor allem die Sicherung der Existenz wildlebender Pflanzen- und Tierarten soll nachhaltig verbessert werden.Besonders wichtig sind uns eine weitere Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes, eine Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe der „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", die Neufassung des Flurbereinigungsgesetzes, umweltverträgliche Gestaltung der Landwirtschaft und schließlich ein Programm zum Schutz und zur Wiederherstellung der Großökosysteme.
Herr Dr. Müller, dieses Ministerium wird genügend Aufgaben haben, und ich hoffe, daß Sie uns dabei unterstützen werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ganz kurz etwas näher auf ein Thema eingehen, das mir besonders am Herzen liegt, nämlich auf den Umweltschutz in der Nordsee.Wie Sie wissen, haben wir uns bereits im Wahlprogramm 1983 für die Reinhaltung der Gewässer und die internationale Förderung dieses Ziels eingesetzt. Wir haben seinerzeit ein Aktionsprogramm gegen die Verschmutzung der Nord- und Ostsee undMaßnahmen zur Vorbeugung von Ölunfällen sowie eine Reduzierung der Belastung der Verschmutzung von Land aus gefordert. Die erstmals von meiner Fraktion geforderte Internationale Nordseeschutzkonferenz fand im Herbst 1984 in Bremen statt. Es wurde ein am Vorsorgeprinzip orientiertes Schutzkonzept für die Verbesserung der Umweltsituation in der Nordsee vereinbart. In der Zwischenzeit haben wir eine Reihe von Umweltschutzverträgen ratifiziert, u. a. MARPOL, dessen zweite Stufe, wie Sie wissen, im nächsten Jahr greifen wird.Lassen Sie mich jedoch festhalten: Was nützt die beste Konferenz, was nützen die besten Vereinbarungen, wenn Kontrollen nicht gewährleistet sind? Dies ist im Bereich der Überwachung der Nordsee leider immer noch nicht der Fall. Zwar ist angeordnet worden, daß der Bundesgrenzschutz seit 1982/ 83 Überwachungsaufgaben im Bereich der Nordsee wahrnimmt. Soweit der Bundesgrenzschutz mit diesen Booten Aufgaben des Umweltschutzes und schiffahrtspolizeiliche Aufgaben wahrnimmt, ist er im sogenannten „Sicherheitsverbund Nordsee" gemeinsam mit der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung des Bundes, dem Zoll und — für den Bereich des Küstenmeeres — den Küstenländern eingegliedert.Herr Kollege Wieczorek, es ist mir ja im Grunde egal, wer es macht. Ich finde diese leidige Kompetenzstreiterei vollkommen überflüssig. Mir geht es darum, daß die Nordsee geschützt wird. Ich bin Berichterstatter für diesen Bereich, und ich fordere dies für meinen Bereich. Wenn ich Sie darauf hinweisen darf: Ihre Fraktion trägt dies mit.
Meine Damen und Herren, es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, daß der Grenzschutz als Bundespolizei auf der Hohen See auch bei widrigen Witterungsverhältnissen
— jetzt haben wir hier schweres Wetter im Plenum; hören Sie mir doch bitte noch einen Moment zu — im gesetzlich vorgegebenen Einsatzraum jederzeit eingesetzt werden kann. Meine Damen und Herren, eine Polizei, deren Einsatzerfolg vom Wetter abhängig ist, kann ihre Aufgaben nicht erfüllen. Sie sollte lieber gleich im sicheren Hafen bleiben.
Mit den für die Ostsee konzipierten Booten ist die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags des Bundesgrenzschutzes nicht gewährleistet. Ich habe mich vor einer Woche bei Windstärke 7 an Bord eines Schnellboots selbst davon überzeugen können.
Meine Damen und Herren, wer nach diesen Erfahrungen bestreiten kann, daß wir größere Boote brauchen, um diese Aufgaben tatsächlich erledigen zu können, den lade ich herzlich ein, dies auch einmal zu tun. Vergessen Sie aber bitte die Bordapotheke nicht. Es wird notwendig sein.
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17830 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Frau Seiler-AlbringMeine Damen und Herren, der Aktionsradius der Boote reicht nicht aus, um sie über einen längeren Zeitraum und in entfernteren Einsatzgebieten auf See operieren zu lassen. Die Boote sind 17 Jahre alt, technisch überaltert und personalintensiv. Ihr Einsatz in der Nordsee — wir haben zwei davon in der Nordsee — strapaziert diese veralteten Boote zusätzlich, so daß der Reparaturaufwand in einem für mich als Haushälter nicht mehr zu verantwortenden Maße ansteigt und wirtschaftlich nicht mehr zu vertreten ist.Nun haben wir bei der Beratung des Haushalts 1986 beschlossen, daß sich die Vertreter der zuständigen Ministerien zusammensetzen und ihre Konzeptionen für eine Verbesserung der Kontrolle im Rahmen des Umweltschutzes im Bereich der Nordsee erarbeiten. Dieses Konzept ist leider nicht erarbeitet worden. Man konnte sich offenbar nicht darüber klarwerden, daß die Nordsee, während man sich über Kompetenzen streitet, die niemand antasten will — man kann sich sehr wohl über die Verteilung einigen —, weiter von verantwortungslosen Umweltverbrechern als Müllkippe mißbraucht wird und traurig vor sich hinstirbt. Eine politische Entscheidung ist notwendig. Ich appelliere sehr nachdrücklich an den Finanzminister, sich diesen Überlegungen nicht zu versagen.Eine effiziente Aufgabenerfüllung macht solche Boote notwendig, und ich hoffe, daß das Bemühen um einen durchgreifenden Umweltschutz, daß eine Kontrolle des Gewässerschutzes auf Hoher See nicht an den Kosten von 52 Millionen DM für zwei Boote scheitern wird.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
— Ich bedanke mich, Herr Kollege.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letzten Tage und Wochen haben uns vor Augen geführt, daß wir weder national noch international von einem Nachlassen der terroristischen Bedrohung ausgehen können. Im Gegenteil, die zahlreichen Anschläge seit Jahresbeginn, der Mord an Beckurts und Groppler, drei Anschläge auf Bundesbehörden in kürzester Zeit offenbaren, daß eine neue Offensive eingeleitet worden ist.
Dabei interessiert es die Öffentlichkeit wenig, wer letztlich hinter diesen Anschlägen steht, ob die Revolutionären Zellen, die Rote-Armee-Fraktion oder ihr Umfeld.Zwei Punkte machen mich besonders besorgt. Da ist einmal die Tatsache, daß die Terroristen ihre Ziele offenbar unbeirrt weiter verfolgen, ungeachtet ihrer faktischen ideologischen Isolierung in der Bevölkerung; denn der Ansatz, den einmal Meinhof und Mahler hatten, ging davon aus, daß das sogenannte Industrieproletariat in der Bundesrepublik die entscheidende Unterstützung für die Ziele der RAF darstellen werde, begleitet durch die Intelligenz der Jugend, gesellschaftliche Randschichten und andere. Aber schon die erste Generation der Terroristen hat erkennen müssen, daß dieser ideologische Ansatz gescheitert war.Aber es fanden sich immer wieder neue Täter, und das ist der andere besorgniserregende Grund. Es ist den Terroristen immer wieder gelungen, ihre Kader aufzufüllen und Personen aus dem Umfeld dazuzugewinnen. Diese gehen dann in den Untergrund, schließen sich — als letztes Glied der Kette — terroristischen Zirkeln an.In dieser Kette wird deutlich, was viele Fachleute schon seit Jahren beobachten — in diesen Tagen hat auch der frühere Präsident des Bundeskriminalamtes in einem Magazin diese Kette aus seiner Sicht bestätigt —,
daß nämlich niemand von heute auf morgen Terrorist wird. Solche Karrieren beginnen weiter unten bei gewalttätigen Demonstrationen, bei Hausbesetzungen, bei Hilfsmaßnahmen, bei Unterstützungen
und schließlich bei den Terroristen selbst, und dann ist das Abtauchen in den Untergrund nur noch der letzte Schritt.Die Terrorismusbekämpfung durch unsere Sicherheitsbehörden orientiert sich an Maßnahmenkatalogen, die wir mit unseren Ländern vereinbart haben und die ständig fortgeschrieben werden. Wir brauchen — das zeigen die sechs Anschläge der letzten Monate — weitere Schutzmaßnahmen für Personen und Objekte. Die Anschläge auf den Bundesgrenzschutz in Heimerzheim, das Bundesverwaltungsamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz zeigen, daß alle als Angriffsziele der Terroristen in Betracht kommenden Objekte geschützt werden müssen und daß eine ständige lageangepaßte Überprüfung der Konzeption erforderlich ist. Dabei ist eine absolute Sicherheitsgarantie weder möglich noch in unserer offenen Gesellschaft überhaupt machbar. Aber der sicherheitsmäßige Standard muß immer wieder verbessert, immer wieder den neuen Gegebenheiten angepaßt werden.Unsere Anerkennung und Unterstützung gilt unseren Sicherheitsbehörden, die gerade auch in der letzten Zeit — das sollte man nicht vergessen — beachtliche Erfolge erzielt haben. Ich nenne die Festnahmen in Rüsselsheim und Duisburg.
Ich darf hier auch sagen: Es ist immer wieder ermutigend, festzustellen, daß die Solidarität in der Bevölkerung vorhanden ist. Unser Sonderstab in Straßlach hat uns gesagt: Die Unterstützung der Bevölkerung war beispiellos. Sie haben so etwas in
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Bundesminister Dr. Zimmermanndieser Dichte, Häufigkeit, Freundlichkeit, in dieser Breite selten erlebt.
Diese Solidarität ist ermutigend; wir brauchen sie. Denn ohne sie wäre eine erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus kaum erreichbar.Daß Sie von den GRÜNEN, wenn ich über den Terrorismus spreche und die Mitarbeit der Bevölkerung lobend erwähne, den Kopf schütteln, zeigt Ihre ganze geistige Haltung, die Sie hier an den Tag legen.
Ich werde mich weiterhin und wir werden uns weiterhin mit Nachdruck dafür einsetzen, daß unsere Sicherheitsbehörden die für die Terrorismusbekämpfung erforderlichen Mittel erhalten. Das kostet Geld im Personal- und Sachaufwand. Meine Damen und Herren des Deutschen Bundestages, ich rechne mit Ihrer Unterstützung, wenn der Haushalt in zweiter und dritter Lesung beraten wird.Ebenso wie der Terrorismus hat auch ein anderes Problem, ein sogenanntes modernes Gesellschaftsproblem, eine internationale Dimension, nämlich das Rauschgift und seine Kriminalität. Wir haben hier eine Stagnation auf hohem Niveau. Wie 1984, so gab es auch 1985 5 000 Rauschgiftdelikte. Die Zahl der Rauschgifttoten ist allerdings erheblich zurückgegangen — das ist erfreulich —, und zwar von 1979 bis 1985 auf rund die Hälfte.Aber einzelne Drogen wie Kokain, Haschisch und Marijuana haben trotz erheblicher und steigender Sicherstellungen von Polizei und Zoll hohe Zuwachsraten zu verzeichnen. Es wird nicht lange dauern, bis die Modedroge Crack aus den Vereinigten Staaten auch hier herüberkommt.
Wir haben 1985 ein Konzept zur Intensivierung der Rauschgiftbekämpfung vorgestellt. Seit Beginn dieses Jahres haben wir eine eigene Abteilung „Rauschgift" im Bundeskriminalamt mit neuen Ermittlungskapazitäten und neuen Stellen geschaffen. Wir haben an die Quellen der Rauschgiftströme, z. B. in das goldene Dreieck, nach Südamerika, eigene spezielle Rauschgiftbeamte entsandt. Wir haben den Mittelansatz für Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe des BKA von 2 Millionen auf 3 Millionen DM erhöht.Wir sind mit dieser Konzeption, eigene Beamte — selbstverständlich im Einvernehmen mit den Regierungen — in die Quellenländer zu entsenden, die ersten in der westlichen Welt überhaupt. Das dauert lange. Aber nach ein bis zwei Jahren haben wir erste wichtige Erfolge. So lange dauert allerdings die Einarbeitung. Aber ich glaube, das kann sich sehen lassen.Ein neuer Straftatbestand soll geschaffen werden, der den vorsätzlichen und fahrlässigen Erwerb, Besitz und Gebrauch von Vermögenswerten ausDrogengeschäften einschließlich der sogenannten Geldwäsche pönalisiert.Wir streben darüber hinaus auf allen Ebenen im internationalen Bereich an, daß sich die betroffenen Länder bei der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität unserem Standard angleichen.Kürzlich gab es eine Tagung der Exekutivbeamten bei den Vereinten Nationen. Wir haben dort eine Reihe von Empfehlungen durchgesetzt. Mit dem Brüsseler Zollrat und Interpol steht eine Tagung bevor. Auch beim nächsten Weltwirtschaftsgipfel wird es unter unserer Federführung eine neue Initiative zur Rauschgiftbekämpfung geben.Meine Damen und Herren, Kriminalität in jeder Form, in allen Erscheinungsformen ist für uns eine Herausforderung. Denn die Kriminalität bedroht die Freiheit, das Leben, die Gesundheit und das Eigentum. Deswegen müssen wir Sicherheit gewährleisten, so gut wir es können.
Lassen Sie mich ein weiteres wichtiges Thema anschneiden. Der Zustrom Asylsuchender in unser Land hat besorgniserregende Ausmaße angenommen. Das wissen Bund, Länder und Gemeinden.
— Herr Ströbele, daß Sie mir, bevor ich den ersten Satz überhaupt vollendet habe, unterstellen, daß ich hetzen würde, zeigt, was Sie für ein Mensch sind.
Es geht nicht darum — und das sage ich Ihnen ausdrücklich —, das im Grundgesetz verankerte Asylrecht in Frage zu stellen, denn dieses Asylrecht — und so heißt es — für politisch, rassisch oder aus religiösen Gründen Verfolgte bleibt unangetastet. Die Bundesrepublik wird also auch weiterhin ein Land bleiben, in dem wirklich politisch Verfolgte eine Zuflucht finden können. Auf dem „wirklich" liegt das Schwergewicht.
Tatsache ist, daß wir seit 1984 — und wir hatten das schon einmal bei unserer Vorgängerregierung — einen Anstieg der Zahl der Asylbewerber haben. Wir hatten einen steilen Anstieg 1978/79 auf 1980; das war der letzte große Höhepunkt. Jetzt haben wir wieder einen Anstieg von 1983 auf 1984 und 1985, und kommen voraussichtlich in diesem Jahr — bei Steigerungsraten um 80 %, j a um 100 % — auf 74 000. Jetzt scheint der Rekord von 1980 überholt zu werden; denn schon Ende August hatten wir 67 000 Antragsteller. Wir werden in diesem Jahr
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17832 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. Zimmermannüber 100 000 Asylbewerber haben. Das sind Größenordnungen wie die der Städte Ulm oder Salzgitter. Wir liegen mit diesen Zugangssteigerungen weit an der Spitze innerhalb der Staaten Westeuropas.
Wir haben zur Zeit 673 000 Flüchtlinge aller Kategorien — das stimmt ganz genau für Bund, Länder und Kommunen —, und zu den Kosten von 2,7 Milliarden DM kommt die humanitäre Flüchtlingshilfe hinzu. Auch hier stehen wir im internationalen Vergleich außerordentlich gut da.Von den Asylsuchenden wird ein geringer Prozentsatz — gegenwärtig 16 % — als politisch verfolgt im Sinne des Grundgesetzes anerkannt. Meine Damen und Herren, hier wird ja das eigentliche Problem deutlich. Diejenigen, die nicht wegen politischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen ihre Heimat verlassen — auch das kann man verstehen —
oder die durch falsche Versprechungen von internationalen Schlepperorganisationen oder durch irreführende Angebote bestimmter Fluggesellschaften hierzu verleitet werden, machen die weit überwiegende Zahl der Asylbewerber aus. Die Konsequenzen — lange Dauer des Anerkennungsverfahrens, lange Ungewißheit über ihr zukünftiges Schicksal — haben nicht zuletzt die wirklich politisch, rassisch oder religiös Verfolgten zu tragen. Das heißt, wir dürfen dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen, denn durch diese Entwicklung wird das Grundrecht auf Asyl ausgehöhlt und damit mißbraucht. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage von Emnid hat gezeigt, daß rund drei Viertel der Bevölkerung der Auffassung sind, daß wir das Asylrecht zu großzügig handhaben.
Im Jahre 1983, also vor drei Jahren, als Emnid diese Frage schon einmal stellte, war noch ein Drittel der Befragten der Ansicht, daß es eher zu eng gehandhabt werde. Das heißt, hier stellt sich ein politisches Problem, über das man nicht zur Tagesordnung hinweggehen kann. Wir haben ein vagierendes Potential von 15 bis 20 Millionen Flüchtlingen. Das, meine Damen und Herren, hat nicht das geringste mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Ausländerfeindlichkeit könnte allerdings dann entstehen, wenn wir keine Lösung finden,
wenn die Probleme draußen bei den Kommunen,den Bürgermeistern und Landräten einfach nachdem Motto abgeladen würden: Seht zu, wie ihr damit fertig werdet. — Wir haben kaum lösbare Unterbringungsprobleme: Zelte, Baucontainer, Turnhallen. Sie kennen die Bilder. Wir können auchnicht dulden, daß gewissenlose Schlepperorganisationen den Leuten goldene Berge versprechen unddaß profitsüchtige staatliche Fluggesellschaften, vor allem aus der DDR und der Sowjetunion, das letzte Geld der Leute kassieren und sie dann einer ungewissen Zukunft aussetzen. Ost-Berlin spielt eine besondere Rolle. Bei der Zahl von 67 000, die ich vorhin nannte, sind allein über Ost-Berlin 36 000 Asylbewerber eingereist, also mehr als die Hälfte. Das ist der Grund unserer Gespräche mit der DDR, in denen wir nachdrücklich eine Änderung dieser unhaltbaren Praxis fordern.Wenn wir den wirklich politisch Verfolgten helfen wollen, müssen wir den Mißbrauch dieses Rechts verhindern und damit Ressentiments und ausländerfeindlichen Tendenzen entgegenwirken. Wir haben zwei Entwürfe in den Koalitionsfraktionen beschlossen: Bundesrat, Bundeskabinett 26. August. Ich erwähne die wichtigsten Regelungen.Meine Damen und Herren, hier darf ich einmal sagen, daß wir Änderungen im Asylverfahrensrecht in den Jahren 1978, 1980, 1982 vorgenommen hatten, also dreimal, bevor diese Regierung angetreten ist, und jetzt wieder 1984 und 1986.
— Zeitweise erfolgreich. Die letzte Spitze war leider 1980; es waren damals über 100 000 Bewerber, wie Sie wissen.
Das heißt, alle zwei Jahre waren solche Änderungen notwendig. Aber nun sind wir wohl an der Grenze angelangt, wo die Schwelle unterhalb der Verfassung erreicht ist. Darauf wird noch einzugehen sein.Ich erwähne die wichtigsten Punkte der Neuregelung: Sogenannte Nachfluchtgründe, die häufig dargestellt werden, um der Abschiebung zu entgehen, sollen in Zukunft bei der Asylanerkennung unberücksichtigt bleiben.Eine Anerkennung soll ausscheiden, wenn der Betreffende bereits in einem anderen Staat vor politischer Verfolgung sicher war.Das Abschiebungsverfahren soll erleichtert werden.Die Verlängerung des Arbeitsverbots für die nicht anerkannten Bewerber steht in dieser Neuregelung, ferner eine wirksamere Gestaltung der Strafverfolgung von Schlepperorganisationen, eine Neuregelung des Verhältnisses von Asyl und Auslieferung.Darüber hinaus: Einschränkung des Transitprivilegs für weitere Problemstaaten; Androhung von finanziellen Sanktionen gegen Unternehmen des Luft- und Seeverkehrs bei Beförderung von Personen ohne die notwendigen Personaldokumente; Verschärfung der Bedingungen für die Erteilung von Sichtvermerken; personelle Verstärkung des Grenzschutzeinzeldienstes und des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17833
Bundesminister Dr. ZimmermannOb und inwieweit all diese Maßnahmen und Vorschläge ausreichen werden, wird auch von der Asylpraxis unserer Nachbarstaaten abhängen. Hier, meine Damen und Herren, sind die Vorzeichen nicht gut. Bei einer angestrebten Harmonisierung des Asylrechts in Westeuropa etwa den hohen Standard unseres Art. 16 des Grundgesetzes erreichen zu wollen ist wohl eine Illusion.
Unsere Nachbarn lassen die Schranken weiter und weiter herunter. Frankreich trifft einschneidende Maßnahmen bis hin zur Ausweisung durch den Präfekten ohne jedes gerichtliche Verfahren oder Verwaltungsverfahren.
Dänemark hatte bereits im August eine Verschärfung seiner Bestimmungen beschlossen. Vor zwei Tagen hat der dänische Justizminister angesichts der überfüllten dänischen Aufnahmelager einen zwölfmonatigen Asylstopp gefordert.Mit den beschlossenen Maßnahmen, die ich hier dargestellt habe, haben wir nach meiner Auffassung unser Instrumentarium innerhalb der gegebenen Verfassungslage ausgeschöpft.
Wir werden in einem halben Jahr klarer sehen, ob wir Erfolg gehabt haben. Nach den Erfahrungen, die wir mit den Novellierungen, die ich vorher nannte, gemacht haben, erwarte ich keine Wunder.Sollte sich diese Skepsis bestätigen, so müssen wir erneut überprüfen, wie wir unsere humanitären und rechtlichen Verpflichtungen in Einklang mit unseren tatsächlichen Möglichkeiten bringen können. Dabei darf dann nach meiner Überzeugung auch die Erörterung der Frage nicht ausgeklammert werden, ob das verfassungsrechtliche Konzept des Art. 16 heute noch trägt
oder ob wir zu einer Ergänzung der Verfassung gezwungen werden.
Hierbei soll und wird es nicht darum gehen, den Schutz für die Menschen zu mindern, die aus politischen, rassischen und religiösen Gründen verfolgt werden.Im Hinblick auf die Herausforderungen, die wir im Bereich der inneren Sicherheit und bei der Asylproblematik haben, haben wir im Haushalt die notwendigen Vorkehrungen getroffen.
Präzision ist dann erforderlich, Herr Kollege, wenndiese sehr komplexen Problematiken im richtigenZeitpunkt besprochen werden können. Das ist sicher in diesem Wahlkampf nicht mehr der Fall.
Meine Damen und Herren, auch im Zivilschutz — das ist das nächste Thema, über das ich sprechen möchte — geht es um die Sicherheit unserer Bürger. Es geht darum, Vorsorge für den Fall von Katastrophen zu treffen, vor drohenden Gefahren rechtzeitig zu warnen und durch ärztliche Vorsorge und Schutzmaßnahmen Menschenleben zu retten. Die kontinuierlich steigenden Haushaltsansätze in diesem Bereich belegen, daß wir auch diese Aufgabe ernst nehmen.Von nicht geringer Bedeutung ist die weitere Verbesserung unserer rechtlichen und organisatorischen Grundlagen. Wir halten an dem Ziel fest, das Zivilschutzrecht neu zu ordnen, zu vereinheitlichen und in wichtigen Bereichen neu zu gestalten. Wir haben dieses Vorhaben gründlich mit den Bundesländern, den Hilfsorganisationen und den Verbänden erörtert und sind in unserer Zielsetzung dabei nachhaltig bestärkt worden. Da es hier ganz entscheidend auf die Zielsicherheit und Schnelligkeit des Einsatzes der vorhandenen Ressourcen ankommt, bildet die Fortentwicklung des Krisenmanagements einen weiteren Ansatzpunkt und Schwerpunkt dieser Arbeit.Die Schaffung eines zentral koordinierten Krisenmanagements für die Beherrschung großflächiger Risikolagen ist zur Zeit Gegenstand intensiver Erörterungen mit den Bundesressorts, den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und den Hilfsorganisationen.Dabei besteht Einigkeit, daß das Krisenmanagement alle Arten von Gefährdungslagen erfassen muß. Großflächige grenzüberschreitende Risiken erfordern aber nicht nur angemessene Vorkehrungen im nationalen Bereich, sondern auch eine funktionierende internationale Zusammenarbeit. Wir haben zu diesem Zweck ein System bilateraler Hilfeleistungsabkommen mit unseren westlichen und südlichen Nachbarn geschaffen, das wir zur Zeit weiter vervollständigen. Auch mit der CSSR haben wir erste Kontakte aufgenommen.Zum Schluß will ich zwei weitere, nicht unwichtige Schwerpunkte herausgreifen. Wir haben seit vier Jahren der Kulturpolitik verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet. In der Koalitionsvereinbarung vom März 1983 wurde die Absicht erklärt, die Förderung von Kunst und Kultur im Rahmen der ihr verfassungsmäßig zukommenden Rechte im Interesse der nationalen Repräsentation zu verstärken. Dieses Versprechen hat die Bundesregierung eingelöst. Das beweisen nicht nur die Haushaltszahlen der einzelnen Jahre, sondern wir haben insbesondere die Bedingungen für die Fortentwicklung des kulturellen Lebens und für das künstlerische Schaffen in unserem Land durch zahlreiche Maßnahmen verbessert und neue Akzente in der Kulturpolitik gesetzt.Als solche Akzente nenne ich zusammenfassend: das mit den Ländern erzielte grundsätzliche Ein-
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17834 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Bundesminister Dr. Zimmermannvernehmen zur Errichtung einer Kulturstiftung der Länder unter wesentlicher Mitwirkung des Bundes, die Stärkung des privaten Engagements für Kunst und Kultur durch bessere Rahmenbedingungen für Künstler und gemeinnützige Stiftungen, wesentliche Verbesserungen auf den Gebieten der Filmförderung und der Denkmalspflege,
die Grundsatzkonzeption und das Aktionsprogramm zur ostdeutschen Kulturarbeit, das Kulturabkommen mit der DDR, das Förderprogramm „Bildung und Kultur", die Förderung des Kultur- und Geschichtsbewußtseins durch die Vorhaben einer Kunst- und Ausstellungshalle, eines „Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", einer Mahn- und Gedenkstätte in Bonn sowie eines Deutschen Historischen Museums in Berlin.
Die Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit ist uns ein besonderes Anliegen. Hiermit verfolgen wir das Ziel, die Geschichte und die kulturellen Leistungen des deutschen Volkes in seinen Ostgebieten und Siedlungsgebieten in Ost- und Mitteleuropa im Bewußtsein aller Deutschen zu erhalten.Die in der Grundsatzkonzeption des Bundesministers des Innern zur Fortführung der ostdeutschen Kulturarbeit aufgezeigten Vorhaben werden konsequent verwirklicht. Für die Folgejahre wird ein detailliertes Aktionsprogramm über den Sachstand und die weiteren notwendigen Maßnahmen in den einzelnen Bereichen erarbeitet.Ein Schwerpunkt dieses Ressorts des Bundesministers des Innern war und ist die Rechts- und Verwaltungsvereinfachung. Im Gegensatz zu unerfüllten Versprechungen frührerer Regierungen ist diese Regierung an die Arbeit gegangen.
Mit dem im Mai erschienenen Zweiten Bericht zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung liegt eine Bilanz dieser Bemühungen vor, die sich sehen lassen kann.
Ich nenne zwei Vorhaben mit breiter Wirkung: erstens das Erste Rechtsbereinigungsgesetz, mit dem 24 Gesetze und Verordnungen sowie 106 Einzelvorschriften in 33 verschiedenen Gesetzen und Verordnungen aufgehoben werden; ein zweites Rechtsbereinigungsgesetz ist in der parlamentarischen Beratung. Zweitens gibt es die sogenannten blauen Prüffragen, mit denen neue Vorschriften auf ihre Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verständlichkeit geprüft werden.Neue und veränderte Aufgaben werden uns zwingen, auch neue Gesetze zu machen. Wir müssen deshalb verstärkte Bemühungen darauf verwenden, die Qualität unseres Rechts zu verbessern; denn hieran wird die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaates gemessen.Ich möchte die Gelenheit nutzen, den Mitgliedern der unabhängigen Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung und ihrem Vorsitzenden, dem Kollegen Waffenschmidt, für ihre tatkräftige Unterstützung zu denken.
Das ist keine Alibikommission, sondern eine Kommission, die mit Sinn für die Realitäten gearbeitet hat. Ich glaube, wir können uns einig sein, daß Rechts- und Verwaltungsvereinfachung keine einmalige Aktion, sondern ein dauerhaftes Ziel der Politik sein muß, das bei allen Tätigkeiten des Staates mitbedacht werden muß. Entbürokratisierung und Rechts- und Verwaltungsvereinfachung werden auch in den kommenden Jahren einen wichtigen Aufgabenbereich im Hause des Bundesministers des Innern bilden müssen.Ich habe mich in meinen Ausführungen auf einige Schwerpunkte der Innenpolitik beschränkt, besonders auf die, bei denen wir alle durch die aktuelle Entwicklung vor besondere Herausforderungen gestellt sind.Das bedeutet keine Geringschätzung für den übrigen Bereich der Innenpolitik. Ich nenne hier vor allem als Beispiel den Sport, den Hochleistungssport, wo wir uns ebenfalls durch beträchtliche Unterstützungsmaßnahmen bei der Bestellung hauptamtlicher Trainer und Honorartrainer und bei der Unterstützung der einzelnen Fachverbände in unserer nationalen Arbeit sehen lassen können.
Ich bin sicher, daß auch die Bereiche, die ich nicht genannt habe, in den weiteren Beratungen noch eine eingehende Würdigung erfahren werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Zimmermann kann sich eigentlich nicht beschweren. Bei seinem Amtsantritt ist er freundlich begrüßt worden, und zwar nicht nur von denjenigen, die ihm politisch nahestehen: von FAZ, von „Welt", von „Handelsblatt".
Er ist fair auch von denen angenommen worden, die ihm vielleicht distanziert gegenüberstehen, bis zur „Zeit", die ihn als Eckstein dieser Bundesregierung bezeichnet hat.Herr Minister, bei einem solchen Start war eigentlich mehr zu erwarten. Bei solchen Startvorgaben hätten Sie mehr Schub bekommen müssen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17835
Dr. PennerDie schönen Tage ihre Amtsantritts waren bald vorüber, Herr Minister.
Die Anforderungen der Alltagspolitik holten Sie sehr schnell ein. Sie waren und sind diesen nicht gewachsen.
Fehler zunächst mehr im Tun, später durchweg durch Nichtstun häuften sich.
Erfolge — immer noch zuverlässiger Gradmesser für und gegen Politik — blieben aus.Innenminister Dr. Zimmermann ist ins politische Abseits geraten.
Er ist nur der Firma nach noch Minister, wird vom Amt getragen, ist aber nicht mehr willens und wahrscheinlich auch nicht mehr in der Lage, aus der ministeriellen Verantwortung heraus politisch zu gestalten, wie es der Auftrag des Amtes ist,
gleichviel, ob es um Umweltschutz ging, um Belange der inneren Liberalität, um innere Sicherheit, um Ausländerpolitik oder um die verbliebenen Ansätze von Amtsführung Ihrerseits, von einer Konzeption für die auch auf den öffentlichen Dienst zukommenden Fragen der Altersversorgung ganz zu schweigen.Der Bundesinnenminister ist politisch nicht mehr da. Er ist nicht mehr bayerischer Löwe — so er es denn je gewesen sein sollte —.
Er ist eher politischer Einzeller.
Und das hat seine Gründe.Ist Ihnen, Herr Dr. Zimmermann, denn gar nicht aufgefallen, daß die öffentliche Meinung und auch Einschätzung sich sehr rasch gegen Sie gekehrt haben, ja, seit einiger Zeit Sie überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen? Ich denke dabei nicht an die, die Ihnen anderer politischer Grundüberzeugungen wegen ohnehin reserviert, j a, skeptisch gegenüberstehen. Es sind die Konservativen, die das politische Urteil über Sie und damit gegen Sie gesprochen haben; es ist nicht etwa eine linke Meinungsmafia, die sich gegen Sie verschworen hätte. Im „Rheinischen Merkur/Christ und Welt" bewertet Wolfgang Wiedemeier den Politiker Zimmermann unter der Balkenüberschrift „Wenn der Stier" — gemeint sind Sie — „als Bettvorleger endet".Die regierungsfreundliche „Bonner Rundschau" leitartikelt nach den Luxemburger Beschlüssen zum umweltfreundlichen Auto unter dem Thema „Zimmermanns Waterloo". Das „Handelsblatt" kanzelt Sie wegen Ihres Verhaltens in der Spionageaffäre gnadenlos als „Mann ohne Format" ab. Selbst „Bild" wird nach der Entlassung Hellenbroichs ein „schales Gefühl" nicht los: „Hellenbroich wird entlassen, gewisse Politiker kleben am Amt". Das „Offenburger Tageblatt" fordert knapp und präzise: „reif zum Rücktritt".Selbst die durchweg fast regierungsamtliche „FAZ" geht auf Distanz. „Fragen an Zimmermann" heißt es in einer Ausgabe und höchst ungeschminkt in einer anderen: „Bleibt Zimmermann?".Wenn denn so etwas wie die von der Koalition postulierte geistig-politische Wende überhaupt einen Sinn machen soll, Herr Dr. Zimmermann, dann rechnet entlarvend Ihr Verbleiben im Amt dazu, und da Sie so verwegen sind, insonderheit über den Einzelplan 06 des Gesamthaushaltes um politisches Vertrauen für die Zukunft zu bitten, müssen Sie es sich gefallen lassen, daß wir resümieren und bilanzieren, weil es unsere Aufgabe ist und andere dies ohnehin nicht tun.
Ich beginne mit der inneren Sicherheit. Sie haben zu Beginn der Legislaturperiode vor dem Innenausschuß Klage über das Ansteigen der allgemeinen Kriminalität geführt und gefordert, daß „einer zunehmenden Mißachtung von Gesetz und Recht alle Teile der Gesellschaft entgegenwirken müssen". Sie haben, Herr Minister, das Elternhaus, die Schulen, die Kirchen, sonstige Bildungseinrichtungen, die Politik und auch die staatlichen Organe dafür in die Pflicht nehmen wollen. Wir wollen nicht leugnen, daß den Bund bei der Kriminalitätsbekämpfung nur eine Teilverantwortung trifft. Trotzdem, Herr Minister, die Kriminalstatistik weist es aus — und es ist Ihre Kriminalstatistik —: Die Kriminalität ist auch während Ihrer Amtszeit nicht zurückgegangen. Das ist, soweit es Ihre Verantwortung angeht, auch nicht verwunderlich. Denn nach der Bewertung und der Aufforderung an die Gesellschaft mitzuhelfen, ist Ihrerseits nichts geschehen.Ich kann mir nicht denken, daß Sie Ihre Initiative zur Änderung des Waffenrechts dafür reklamieren, mit dem Sie neben dem Abbau bürokratischer Hemmnisse auch eine Aufweichung anstreben. So sollten z. B. Mindeststrafen für Verstöße gegen das Waffenrecht künftig nicht mehr als Verbrechen, sondern als Vergehen eingestuft sein und die Bedürfnisprüfung für den Erwerb nichtautomatischer Langwaffen entfallen. Herr Minister Zimmermann, ich frage Sie: ist das wirklich ein Beitrag zur inneren Sicherheit?
Reichen Ihnen die fast 14 000 Fälle nicht, bei denen laut Statistik des Jahres 1985 mit der Schußwaffe bedroht und geschossen worden ist?Oder Ihre Initiative zum Sprengstoffrecht. Ist es tatsächlich, Herr Minister, der inneren Sicherheit dienlich, in diesem Bereich den Strafschutz zurückzunehmen und teilweise als Polizeiunrecht und da-
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17836 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. Pennermit als Ordnungswidrigkeit einzustufen? Und das, obwohl Ihr Staatssekretär Neusel eine besorgniserregende Zunahme von Straftaten mit Sprengstoff gerade in jüngster Zeit der Öffentlichkeit mitteilen mußte?Herr Dr. Zimmermann, wir alle wissen, daß Kriminalität nie ganz zu vermeiden sein wird. Aber haben Sie wirklich alles in Ihren Kräften Stehende getan? Reicht der Appell an die Gesellschaft?Ich frage Sie weiter: Was haben Sie in der Ursachenforschung, bei der Bekämpfung der Gewalt an der Quelle getan? Ist das nicht gerade angesichts der ausufernden Gewalt geboten?Und wenn Sie Respekt auch vor dem Eigentum fordern, frage ich Sie: Haben Sie bedacht, mit welch immer raffinierter werdenden Methoden in der Werbung gerade bei jüngeren Leuten Begehrlichkeiten geweckt werden und damit der Schutz des Eigentums eingeebnet wird?
Wenn wir gerade bei Sicherheitsfragen sind, Herr Minister, was ist denn aus Ihrer Initiative zum Zivil- und Katastrophenschutz geworden?
Unsere Reserven beim Schutzraumbau sind Ihnen sicherlich bekannt; aber das ist nur eine Seite. Wenn Sie Zivil- und Katastrophenschutz immer für ein wichtiges Anliegen gehalten haben, wenn es — ich zitiere — „eine entscheidende, eine lebenswichtige, existentielle Aufgabe sein sollte, in all diesen Bereichen zu Verbesserungen zu kommen", wie es Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger vor dem Innenausschuß formuliert hat, wo sind Ihre gesetzlichen Initiativen denn geblieben?
Nein, Herr Minister, der maschinenlesbare Personalausweis, die Schleppnetzfahndung mit ihren unrühmlichen parlamentarischen Begleitumständen
ohne Sicherheitszuwachs, die unzureichenden personellen Verbesserungen beim Bundesgrenzschutz bewahren Sie nicht. Ein Gralshüter der inneren Sicherheit namens Dr. Zimmermann existiert nicht!
Es bleibt die ständig verblassende Erinnerung an eine Kunstfigur Zimmermann, die mit den Anforderungen des Regierens auch bei der inneren Sicherheit nicht zurechtgekommen ist.
Der bayerische Löwe hat nicht gepackt, er ist bestensfalls zum Angstbeller geworden.Ich komme zu dem Thema Liberalität und Frieden in der Gesellschaft, auch geistig-politisches Klima, für das der Innenminister besondere Verantwortung trägt. Sie haben in diesem Zusammenhang eigentlich nur das Gewaltmonopol und damit zusammenhängende Fragen im Auge, Herr Minister. In Ihren Zielvorgaben im Innenausschuß zuBeginn der Legislaturperiode haben Sie die Verhinderung des Mißbrauchs des Demonstrationsrechtes erwähnt. Die Polizei, so haben Sie gesagt, müsse wieder die Möglichkeit erhalten, dem Versteckspiel von Gewalttätern durch Strafbewehrung ein Ende zu setzen. Sie haben hinzugefügt, Sie würden keiner Regelung zustimmen, die ineffizient sei. Genau das aber haben Sie getan: Auch Sie haben jener unsäglichen Mißgeburt des § 125 des Strafgesetzbuches — Landfriedensbruch — zugestimmt, eines Tatbestands, der weder mehr Rechtsfrieden bewirkt noch justitiabel ist.
Sie sind geradezu besessen von der Idee, einen Straftatbestand gegen Vermummung bei Demonstrationen einzuführen, und hören nicht auf den Rat von Fachleuten, daß Vielstraferei dem Rechtsfrieden und der Stärke des Strafrechtes nicht dient. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß die Abgrenzungsprobleme zu nichtanstößiger Bekleidung unüberwindbar sind, beispielsweise beim Tragen von Brillen, beispielsweise beim Tragen von Schals und beispielsweise beim Tragen von Motorradhelmen.
Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß das Ordnungswidrigkeitenrecht wegen des damit verbundenen Opportunitätsprinzips für die Verfolgung von Verstößen gegen Vermummung besser geeignet ist, ohne daß der Gewalttäter damit straflos gestellt würde.
Der Gewalttäter macht sich j a ohnehin in vielerlei Hinsicht strafbar: wegen Körperverletzung, wegen Totschlags, wegen Mordes, wegen Verstößen gegen das Waffen-, das Versammlungs- und das Sprengstoffrecht. Nur muß das geltende Recht durchgesetzt werden, Herr Minister!
Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Glauben Sie denn allen Ernstes, Herr Minister, ein Straftatbestand der Vermummung würde der Gewalt in unserer Gesellschaft steuern und
Unfriedlichkeiten bei Demonstrationen abhelfen? Meinen Sie, daß einer, der zum Mord bereit ist, deshalb nicht straffällig wird, weil es einen Straftatbestand der Vermummung gibt? Ich denke, Ihnen geht es um ganz anderes.
Sie akzeptieren die freiheitliche Substanz desGrundrechts des Demonstrierens, der freien Mei-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17837
Dr. Pennernungsäußerung nicht, wenn Ihnen eine Meinung nicht paßt.
Sie nehmen Gewalttätigkeiten zum Vorwand, das Freiheitsrecht selbst auszuhebeln. Es genügt nicht, daß Sie alle Formen demokratischer Kritik „voll respektieren", wie Sie das vor dem Innenausschuß geäußert haben. Die Regierung und insonderheit der Innenminister müssen mehr tun. Sie haben entsprechend dem, was die Verfassung wörtlich garantiert, u. a. dafür Sorge zu tragen, daß alle das Recht ausüben können, sich „friedlich und ohne Waffen zu versammeln".
Dazu paßt es nicht, die Polizei mit Hartgummigeschossen auszustatten, Herr Minister.
Kommen Sie, Herr Minister, im Interesse von uns allen davon ab, die Polizei zu einer Art Bürgerkriegsarmee umzumodeln.
Ich beschwöre Sie, das auch nicht mit dem Bundesgrenzschutz zu beginnen. Die Polizei darf nicht für politische Versäumnisse herhalten. Sie kann es auch gar nicht.
Sie haben in diesem Zusammenhang an die Durchsetzung rechtmäßiger Entscheidungen erinnert und dabei sicherlich auch an die Entscheidung zu Wackersdorf gedacht. Herr Minister, wir alle wissen, daß das Mehrheitsprinzip in der Demokratie tragend ist und bleiben muß. Aber wir wissen auch, daß wir gerade deswegen, weil das Mehrheitsprinzip bei uns in die Form der repräsentativen Demokratie eingebettet ist, um so mehr gehalten sind, mit der Minderheit im Gespräch zu bleiben, die Fähigkeit zum Dialog zu behalten.
Wenn es auch schwerfällt, Herr Minister, und die Geduld der Mehrheit sehr beanspruchen, ja, sogar strapazieren sollte: ist es nicht verantwortbar, ja, ist es nicht richtig, auch einmal innezuhalten und zu warten, wenn dadurch das hohe Gut des gesellschaftlichen Friedens bewahrt werden kann?
Herr Minister, das ist die Frage, der Sie sich zu stellen und die Sie auch zu beantworten haben.
Es mag Zufall sein, daß Sie die Neuregelung des Bundesdatenschutzgesetzes in Ihrem Arbeitsprogramm zwischen dem Personalausweisrecht und der Verschärfung des Demonstrationsrechts eingereiht haben. Kein Zufall jedoch ist es, sondern Ausdruck Ihrer politischen Überzeugung, daß Sie den Datenschutz der inneren Sicherheit zugeordnet haben. Sie müssen geradezu verrannt sein in die Idee, in Datenschutz und innerer Sicherheit prinzipielle Gegensätze zu sehen, wobei sich der Datenschutz ebenso prinzipiell den Belangen der inneren Sicherheit unterzuordnen habe. Dabei meint es unsere Verfassung ganz anders. Datenschutz gründet sich unmittelbar aus der Verfassung selbst, sichert Personalität und Menschenwürde. Die innere Sicherheit garantiert Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit. Es handelt sich also bei beiden Prinzipien um Verfassungspositionen. Nur soll die innere Sicherheit diese Positionen nicht mit allen Mitteln schützen dürfen, sondern nur mit denen des Rechtsstaats, weil anders das zu schützende Rechtsgut selbst Schaden nähme.
So ist es bei der Strafverfolgung selbstverständlich, daß es auch Ermittlungshindernisse gibt, weil natürlich nicht gefoltert werden darf, weil es Auskunftsverweigerungsrechte gibt, weil es Belehrungs- und Beistandspflichten gibt und viele Ermittlungshandlungen nur mit richterlicher Genehmigung zulässig sind.
Das alles macht rechtsstaatliche Qualität aus, die wir hoffentlich alle bewahren wollen. Und dazu paßt es nicht, die eine grundgesetzlich gesicherte Position der inneren Sicherheit gegen die andere grundgesetzlich gesicherte Position des Datenschutzes auszuspielen und umgekehrt, Herr Minister. Da kann man nichts über einen Leisten spannen und sich in Prinzipien verrennen. Da muß man wägen. Aber das wollen Sie nicht. Das kann man auch an Ihren Dauerauseinandersetzungen mit dem Datenschutzbeauftragten erkennen, ob es nun um dessen Personal oder die Überprüfung beim Verfassungsschutz geht.
Man wird den Eindruck nicht los, daß nach Ihren politischen Grundausrichtungen Sie mit dem Datenschutz wenig oder gar nichts anfangen können, richtigerweise der Datenschutz nach Ihrer Überzeugung eher abgewehrt werden müßte. Sie haben sich auch bezeichnenderweise auf Strafandrohungen — zunächst jedenfalls — versteift, als das Problem der Verweigerung bei der Volkszählung ins Haus stand.
Es ist auch kein Wunder, daß Sie nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht der informationellen Selbstbestimmung kaum einen Schritt vorwärtsgekommen sind, obwohl zunächst Sie und der Justizminister gefragt sind.Der Innenminister hat sich als Verfassungsminister im Sommer 1983 verabschiedet. Sie haben damals eine zugegebenermaßen völlig unzureichende Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes aus Ihrem Hause zurückgezogen. Sie haben aus diesem Anlaß der Innenministerkonferenz des Bundes und der
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17838 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. PennerLänder erklärt, das Bundesinnenministerium werde keine neue Novelle vorlegen. Die Initiativen sind dann auf die Koalitionsfraktionen übergegangen. Aber auch dabei ist nichts herausgekommen.
Zum inneren Frieden der Gesellschaft gehört auch, Herr Minister, welche Lebensplanungen Sie für die anbieten, die aus anderen, zum Teil aus fernen Ländern zu uns kommen. Sie haben unter dem Kürzel Ausländerpolitik dazu Vorstellungen entwickelt und sind damit im Kabinett voll aufgelaufen und gescheitert. Kein Sachkundiger, der bestreiten könnte, ein wie steiniges Terrain die Ausländerpolitik ist. Aber Sie haben sich in diesem Bereich politischen Verantwortens schon sehr früh den Weg selbst verstellt. Denn Sie haben schon 1982 die rational unbegründete Furcht artikuliert, „die Deutschen könnten im eigenen Lebensreich zur Minderheit werden". Schon damals haben Sie, Herr Minister, entgegen den weichen Tönen hier, die Schleusen für Vorurteile, für Engstirnigkeit, für völkische Neigungen und was der Unappetitlichkeiten mehr sind, geöffnet und, weil Sie Minister sind, auch hoffähig gemacht.
Sie haben Ausländerpolitik „mit der Brechstange", wie Ihnen öffentlich vorgehalten werden mußte, machen wollen. Sie haben dabei geflissentlich verdrängt, daß kein Gastarbeiter ungerufen gekommen ist, daß keiner nicht begraucht worden ist.Sie stehen an der Spitze, Herr Minister, wenn es um Menschenrechte anderswo, beispielsweise in Afghanistan, geht. Wo wir aber selbst betroffen sind, wo wir selbst gefordert sind, macht es Ihnen nichts aus, den bei uns lebenden Ausländern elementare Rechte vorzuenthalten.
Daß dabei auch und sehr massiv Belange der Familie beschädigt, j a zerstört werden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Konsistenz familienfreundlicher Überzeugungen der CSU.
Nein, Herr Minister, wer das ins Werk setzt, was Sie mit den Ausländern vorhaben, verabschiedet sich von der politischen Moral und redet einem rücksichtslosen Egoismus das Wort.
Die Menschen verkümmern zu Vorgängen, zu Aktenzeichen, zu Problemen, zu kalten Begrifflichkeiten, wenn Sie das politische Sagen hätten und behalten sollten. Sie machen dabei auch vor dem Asylrecht nicht halt. Ganz im Gegenteil, Sie haben es mit anderen zuwege gebracht, daß dieses Gütesiegel unserer Verfassung ins Gerede gekommen ist, ja, daß das Wort Asyl zu einer Art Schimpfwort zu werden droht. Dabei geht es um eigentlich Selbstverständliches. Die Bundesrepublik garantiert in Ihrer Verfassung, daß politisch Verfolgte Asyl genießen. Das ist der Text der Verfassung. Damit macht unser Staat den Menschen, die wegen ihrer politischen Überzeugung um ihr Leben, um ihre Freiheit, um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssen, ein Schutzangebot. Der Parlamentarische Rat, die Mütter und Väter der Verfassung, wußten, um was es ging, zum Teil aus eigenem, aus persönlichem Erleben. Sie waren sich auch bewußt, daß sich Menschen auf diese Garantie berufen könnten, ohne politisch verfolgt zu sein.
Trotzdem haben sie sich dafür entschieden. Ich denke, es ehrt diese Männer und Frauen der ersten Stunde, daß sie diese Entscheidung bei den Grundrechten verankert haben. Jetzt, in der Stunde der Bewährung, wollen Sie, Herr Bundesinnenminister, und Sie, Herr Bundeskanzler, damit nichts mehr zu tun haben. Sie, Herr Bundeskanzler, sonst in Fragen politischen Erbes nicht gerade pingelig, sind drauf und dran, sich aus diesem Vermächtnis herauszustehlen.Natürlich haben wir alle gelesen, daß der Bundeskanzler im Kabinett an das Schicksal der katholischen Ordensschwester Edith Stein erinnert hat, die in Auschwitz nicht hätte umgebracht werden können, wenn ein für sie anhängiges Asylverfahren weniger bürokratisch gehandhabt worden wäre. Und wir haben auch nicht überhört, daß Diepgen, Laurien, Fink, Hasselmann und andere hochrangige Politiker der Union zur Mäßigung raten, j a, eine Grundgesetzänderung ablehnen. Wir wollen mal sehen, was aus ihren mäßigenden Tönen wird, Herr Zimmermann.Herr Dr. Kohl hat vor seiner Partei noch in der vergangenen Woche beteuert: „Die Bundesrepublik bleibt eine Heimstatt für Verfolgte." Aber, was hat der Bundeskanzler denn in praxi gemacht? Herr Dr. Kohl, der nicht müde wird, zu betonen — er hat das gestern noch getan —, er würde dem Druck der Straße nicht weichen, wird eins mit der Straße. Er genießt das Gegröle der Straße, wenn im Wahlkampf auf der Straße verkündet wird, aller Wahrscheinlichkeit nach sei eine Änderung des Grundgesetzes nötig.
Also doch: Künftig keine Schutzgarantie mehr für politisch Verfolgte? Oder haben Sie wie Strauß noch anderes im Sinn? Wollen Sie etwa die Rechtsweggarantie nach Artikel 19 kassieren und damit auch auf anderen Feldern eine unkontrollierte Allmacht der öffentlichen Gewalt wiederbeleben helfen?Dem Bundeskanzler kann ich den Vorwurf der Zwielichtigkeit nicht ersparen. Manches sieht in der Union nach berechneter Arbeitsteilung aus: Die einen fürs „Weiche", um in der Diktion Geißlers zu bleiben, die anderen für Stimmungen und Stimmen der Straße.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17839
Dr. PennerDer Bundesinnenminister, der als Verfassungsminister im Interesse des inneren Friedens mäßigend wirken müßte, steht an der Spitze der Bewegung
und trägt durch unverantwortliches Gerede dazu bei, daß die Sprachlosigkeit zunimmt, Trennendes vertieft wird, ja, Haß und Feindschaft wachsen können, Menschen gegeneinander aufgebracht werden.
Herr Minister, wenn Sie es doch begreifen wollten: Auch in einer Demokratie darf sich der innere Friede nicht auf Gesetze und deren Beachtung reduzieren lassen.
Wenn es denn eine Aufgabe für den Innenminister auf diesem Gebiet gibt, dann die, nicht zu erlahmen in dem Bemühen, ständig den Ausgleich, die Balance für die Menschen in unserem Land finden zu helfen und die Zäune möglichst niedrigzuhalten.Herr Minister, Sie waren für den Umweltschutz zuständig. Diese ursprüngliche Kompetenz hat Ihnen der Bundeskanzler genommen. Das ist nach fast vier Jahren Ihrer Zuständigkeit mehr als nur ein Urteil, das ist ein Verriß, und zwar durch den Regierungschef selbst.
Ein anderer als Sie hätte Konsequenzen gezogen. Sie sind klebengeblieben; Pattex läßt grüßen. Ihre Bilanz beim Umweltschutz ist kläglich. Sie haben so gut wie nichts zum Besseren gewendet.Sie haben es erwähnt, Sie sind auch für den Sport zuständig, und deshalb erinnern wir an unseren Antrag „Sport und Umwelt", mit dem wir ein zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie Sport- und Umweltorganisationen abgestimmtes Konzept anstreben. Herr Minister, leisten Sie Ihren Beitrag dafür, daß es nicht zu einer Zerreißprobe kommt. Es ist höchste Zeit. Tun Sie endlich Ihre Pflicht!Weil wir gerade beim Sport sind, muß an das Thema Sport und Steuern erinnert werden. Was haben Sie nicht alles aus der Opposition gefordert und uns vorgehalten.
Bis heute haben Sie Ihre Zusagen nicht eingehalten. Selbst der offene Brief des Deutschen Sportbundes an den Bundeskanzler, ein einmaliges Ereignis in der Nachkriegsgeschichte, hat Sie nicht aus der Deckung bringen können. Unser Konzept steht bei der Übungsleiterpauschale, bei der Körperschaft- und der Gewerbesteuer.
Kommen Sie endlich zu Ergebnissen, Herr Minister. Der Sport will nicht auf ewig hingehalten werden. Er verlangt mit gutem Recht sein Recht.Das tun übrigens auch 4 Millionen behinderte Mitbürger, die über sportliche Betätigung etwas für ihre Gesundheit tun wollen; sie haben wenig Verständnis dafür, daß Sie Jahr für Jahr unsere Anträge auf Erhöhung der Mittel ablehnen. Sie halten doch auch Hilfe zur Selbsthilfe für richtig. Halten Sie sich doch einfach an Ihre eigenen Vorgaben! Die Behinderten sind auf unsere Hilfe angewiesen.Herr Minister, bei der Bewertung Ihrer Tätigkeit kommt man nicht an Ihrer Amtsführung, an Ihrem Amtsverständnis vorbei. Ich denke dabei weniger an Klagen über Ihre Bunkermentalität, über autistische Selbstversonnenheit, die nur Zugang lasse für Gebärdenspäher, nicht aber für Ratgeber.Kritikwürdig ist schon, daß Sie sich dem Dialog mit Abgeordneten der Koalitionsfraktionen entziehen.
Ein öffentliches Ärgernis ist hingegen Ihr Verhältnis zum Fachausschuß. Wenn Sie einmal da sind, verlegen Sie sich aufs Schnauzen, schützen Nichtwissen vor, weil Sie Wichtigeres zu tun hätten. Daß die Wahrheit im Umgang mit dem Parlament geläufig sein sollte, bereitet Ihnen Schwierigkeiten.Ich erwähne Ihr Verschleierungsmanöver bei der Spionageaffäre, insbesondere zum Fall Willner.
Wir werden auch nicht vergessen, wie eisern Sie sich verschwiegen haben, als das Parlament über Privatfinanzierung bei Terroristenfahndung in den 70er Jahren in der Annahme eines singulären Ereignisses in Ihrer Gegenwart diskutierte, obwohl auf Ihre Veranlassung bei dem Verbleib von Dioxin Entsprechendes später noch einmal geschehen war.
Ihr autokratisches Gehabe hat auch der Bundesrat erleben müssen. Der niedersächsische Ministerpräsident hat Sie dafür rügen müssen, daß Sie bei der Verabschiedung der TA Luft die SPD-regierten Länder einfach übergangen haben.Sie haben von Ihren lächerlichen Selbstherrlichkeiten auch nicht gegenüber dem Ausland abgelassen —
ob das Ihren Türkei-Besuch angeht, Ihre Anrempeleien an die Adresse Österreichs in Wien gegen Wackersdorf
oder den verweigerten Empfang für den HohenFlüchtlingskommissar Poul Hartling. Sie habengroße Worte über Ihr Verständnis von politischer
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17840 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. PennerVerantwortung gefunden. Als sie von Ihnen eingefordert wurde, Herr Minister, sind Sie weggetreten und haben Herrn Hellenbroich geopfert.
Und noch so schöne Worte zur Demokratie können nicht überdecken, daß Sie drauf und dran dabei waren — hoffentlich nicht mehr sind —, den Verfassungsschutz zu einer Nachrichtenbörse für die parteipolitische Auseinandersetzung umzubauen.
Sie haben das nicht für anstößig gehalten,
ja, Sie haben das gedeckt und sind wahrscheinlich auch heute noch der Überzeugung, daß das in Ordnung ist.
Die Fragen nach Ihrem Demokratieverständnis sind dadurch nicht leiser geworden.Herr Präsident, meine Damen und Herren, in einer Demokratie ist ein Wechsel selbstverständlich. Bei diesem Innenminister sage ich: Der Wechsel ist unumgänglich.
Das Wort hat der Abgeordnete Broll.
— Ich möchte gern von den Geschäftsführern wissen, ob die Änderung auch ihnen bekannt ist. — Herr Miltner? Na, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Zunächst muß ich natürlich einige Bemerkungen zu dieser fürchterlichen Rede machen, lieber Kollege,
einer maßlosen und einer haltlosen Rede, würde ich sagen ...,
Einen Augenblick, bitte, Herr Kollege.
... einer Rede, die von persönlicher Diskriminierung, von Unwahrheiten und Unterstellungen diktiert war.
Wie können Sie behaupten, daß der Bundesinnenminister die Demonstrationsfreiheit nicht akzeptiere? Sie sind uns den Beweis schuldig geblieben.Unerträglich und unsachlich war es, eine Abrechnung mit der Person, aber nicht mit der Politik von Bundesinnenminister Dr. Zimmermann.
Wenn ich Ihren Stil einmal ein bißchen aufgreifen darf, lieber Herr Penner, dann darf ich in Erinnerung rufen, daß Sie einen Brief von einem Wähler bekommen haben, der in der letzten Nummer des „Capital" abgedruckt war. Darauf standen drei knappe Worte: Wach auf, Penner!
Dieser Brief gibt mir allerdings Veranlassung, zu fragen, ob Sie noch politisch existieren. Wenn ich mir Ihre persönliche und schäbig gewordene Kritik am Minister vergegenwärtige, so würde ich diesen Brief heute auch so knapp wie möglich abfassen, auch mit drei Worten: Hör auf, Penner!
Meine Damen und Herren, die Innenpolitik dieser Koalition ist auf die Wahrung der Grundrechte, auf die Freiheit seiner Bürger, auf den inneren Frieden ausgerichtet, und sie orientiert sich am Leitbild einer humanen Gesellschaft. Weil wir wissen, daß die Freiheit da aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt, ist der Staat und sind wir verpflichtet, diese Freiheit zu garantieren und sicherzustellen. Gerade in einer freiheitlichen Demokratie darf die Aufgabe der inneren Sicherheit nicht einseitig auf die Polizei und die anderen Sicherheitsorgane abgewälzt werden.
Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der auch in gesellschaftlichen Bereichen wie der Familie, den Bildungseinrichtungen bis hin zu den Medien Rechnung getragen werden muß.Zur inneren Sicherheit gehört das Rechtsbewußtsein, gehört die Achtung und die Anerkennung des demokratisch legitimierten Rechts und seiner Beschlüsse, und dazu gehört auch das Gewaltmonopol. Eigentlich sind das Selbstverständlichkeiten für einen Staatsbürger. Wer diese Grundsätze und Grundregeln mißachtet, verletzt den inneren Frieden. Unsere Aufgabe als Parlament ist es, darüber zu wachen, daß diese Grundregeln beachtet und ihre Verletzung unterbunden wird. Jedenfalls wir in
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17841
Dr. Miltnerdieser Koalition werden unsere Arbeit in diesem Sinne fortsetzen.
Lassen Sie mich auf einige aktuelle innenpolitische Probleme kommen. In den vergangenen Monaten hat der dramatische Anstieg der Zahl der Asylbewerber zu einer öffentlichen Diskussion geführt.
— Nein. — Es ist die Frage gestellt worden, ob wir auf Dauer noch die Last tragen können, die dadurch entsteht, daß in der überwiegenden Mehrzahl nicht politisch Verfolgte kommen, sondern solche Menschen, die sich bei uns ein besseres Leben erhoffen.Wir alle kennen die Auswirkungen besonders auf unsere Gemeinden, und wir kennen auch die Art und Weise, wie diese Flüchtlinge über Ost-Berlin nach West-Berlin geschleust werden. Jedenfalls hat sich eine Situation ergeben, als ob die Bundesrepublik ein Einwanderungsland wäre, was sie jedoch nicht sein kann. In dieser Situation geht es einzig und allein um die Eindämmung des Mißbrauchs des Asyls.Seit Monaten wird auch die Frage erörtert, ob das Grundgesetz in seinem Art. 16 ergänzt oder geändert werden muß.
In Diskussion darüber stehen für uns, für die CDU/ CSU, folgende Punkte fest:Erstens. Wir halten am Asylrecht für politisch Verfolgte fest.Zweitens. Wir tun alles, um den Menschen in Not zu helfen.Drittens. Gesetzgebung und Verwaltung müssen den massenhaften Mißbrauch des Asylrechts eindämmen.Viertens. Im Hinblick auf die Bildung einer Rechtsgemeinschaft in der EG und im Hinblick auf die Abschaffung jeglicher Grenzkontrollen wird eine Harmonisierung des Ausländerrechts in der EG nicht zu umgehen sein.Fünftens. Es muß alles getan werden, um eine Regionalisierung der Flüchtlingsströme herbeizuführen.Sechstens. Es bleibt abzuwarten, ob die beschlossenen Gesetzesänderungen und Maßnahmen auf Dauer das Problem lösen. Sollte sich zeigen, daß der Mißbrauch weitergeht, dann müssen wir eine Grundgesetzergänzung oder -änderung ins Auge fassen.Bei der Lösung des Problems der Eindämmung des Asylmißbrauchs hat sich die Koalition auf eine Novellierung des Asylverfahrensgesetzes geeinigt, und die Bundesregierung hat darüber hinaus administrative Maßnahmen beschlossen.
Mit unseren Vorschlägen sind wir an die Grenze des verfassungsrechtlich Möglichen gegangen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. de With?
Jawohl, bitte schön.
Herr Kollege Miltner, wäre es nicht fair, vor der Wahl zu sagen, wie eine solche Grundgesetzänderung aussehen soll?
Nein, es ist nicht unfair, wenn wir das heute nicht sagen können, weil wir nicht wissen, wie dann die Situation aussieht,
Außerdem wissen wir natürlich, daß wir die Zweidrittelmehrheit brauchen. Wir brauchen auch Ihre Zustimmung, und wir wollen eine Grundgesetzänderung dann auch mit Ihnen zusammen aufbauen und beschließen.Bei der heutigen Diskussion kann es nur darum gehen, wie man am besten den Mißbrauch des Asylrechts verhindert und wie das Asylrecht selbst gleichzeitig damit geschützt wird.
Es ist unerhört, wenn die SPD wie jüngst auf ihrem Parteitag diese Überlegungen diffamiert. Schließlich haben maßgebliche SPD-Politiker in ihrer Regierungszeit ernsthaft eine Grundgesetzänderung erwogen; oder erinnern Sie sich daran vielleicht nicht mehr?
War es etwa ausländerfeindlich oder ein zynisches Doppelspiel, so der SPD-Parteitag in Nürnberg, wenn der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt 1980 laut „Spiegel" vom 16. Juni 1980 im Bundeskabinett erklärte: „An Art. 16 müssen wir ran"?
Oder steht heute der Kollege Wernitz, der hier sitzt, Vorsitzender des Innenausschusses, noch zu seinem Wort in der „Zeitschrift für Rechtspolitik" aus dem Jahre 1980 — ich zitiere wörtlich —:Wenn die Flut der Asylbegehrenden nicht abebbt, werden weitere Änderungen im Verfahrensrecht und im materiellen Ausländerrecht nicht ausbleiben können.
Ob es auch eines Gesetzesvorbehalts für Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz bedarf, wie das der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts
und der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts kürzlich angedeutet haben, muß geprüft werden.
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17842 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. MiltnerMeine Damen und Herren, wie 1980 werden wir in diesem Jahr über 100 000 Asylbewerber haben. Da kann ich nur fragen: Wie kann Herr Rau, der Kanzlerkandidat der SPD, eine unvoreingenommene Diskussion dieser Frage mit dem Bundeskanzler in einem Gespräch, das der Kanzler angeregt hat, ablehnen? Ich muß Ihnen von der Opposition, von der SPD sagen: Sie müssen sich an Ihre Worte und Ihre Erwägungen 1980 erinnern, wenn Sie mit uns jetzt in eine Diskussion über eine Grundgesetzänderung eintreten müssen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier auf ein weiteres aktuelles Thema eingehen. Man muß in großer Sorge sein, daß das Recht auf friedliche Demonstration zunehmend von Gewalttätern mißbraucht wird. Die Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zählen zu den höchsten Gütern unseres freiheitlichen Rechtsstaats. Aber die brutalen Ausschreitungen in Brokdorf und Wakkersdorf und an der Startbahn West zeigen überdeutlich, daß unsere Polizei rechtlich und tatsächlich zunehmend weniger in der Lage ist, bei Großdemonstrationen Recht und Ordnung sicherzustellen. Gewalttäter mißbrauchen absichtlich die bestehende Rechtslage, um tatsächlich nicht zu demonstrieren, sondern Gewalt gegen die Polizei und damit Gewalt gegen diesen Staat auszuüben.
Das Vorgehen der Gewaltdemonstranten zeigt, daß sie nicht spontan handeln, im üblichen Sinne Chaoten sind, daß sie im Gegenteil gezielt und geplant agieren. Ihre Ausrüstung kennen Sie: von Präzisionsschleudern angefangen über Molotowcocktails bis zu Bolzenschneidern usw.
Das zeigt überdeutlich, daß ihre kriminellen Handlungen mit Absicht und von langer Hand vorbereitet sind. Sie verfügen über Sprechfunk, Kradmelder, Vermummung und einheitliche Kleidung mit Schutzhelm. Zur Taktik der Gewalttäter zählt aber auch, daß sie immer dann, wenn die Polizei sie ergreifen will, in der Menge friedlicher Demonstranten untertauchen und diese zu ihrem Schutz mißbrauchen.Bei dieser Sachlage kann man mit dem Hinweis, die Polizei solle die bestehenden Gesetze anwenden, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Man muß schon Mittel und Wege suchen, um hier Recht und Ordnung sicherzustellen.Ich habe von seiten der SPD dazu bis jetzt nur gehört, man dürfe politische Konflikte nicht auf dem Rücken der Polizei austragen.
Das bedeutet letzten Endes: Es läuft darauf hinaus, daß Gewalttaten freie Bahn gelassen werden soll.
— Doch.Wir alle haben die Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß der Bürger von seinem Versammlungsrecht, von seinem Recht auf Meinungsäußerung so Gebrauch machen kann, daß sein Anliegen, für das er eintritt, nicht durch Gewalttäter diffamiert und auch nicht manipuliert und umfunktioniert wird.
Meine Damen und Herren, die terroristischen Anschläge sind das nächste Thema. Die jüngsten Anschläge der Terroristen sind brutaler und kaltblütiger geworden. Wer immer sich im Anschluß an diese feigen Attentate bekennt: Die Täter und ihre Helfer eint ihre Zerstörungsideologie.Ich stimme hier ausdrücklich dem früheren Bundeskanzler Schmidt zu, wenn er sein Unverständnis über so manchen Versuch feindsinniger Differenzierungen gegenüber angeblich vertretbaren oder abzulehnenden Gewalttätern äußert. Wer anfängt, zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen zu differenzieren, wer gar von einem angeblichen Widerstandsrecht gegen demokratisch legitimierte Entscheidungen staatlicher Organe spricht, der bereitet den Boden für terroristische Wahnsinnstäter.Meine Damen und Herren, Terrorismus ist leider weltweit verbreitet und eine Pest des 20. Jahrhunderts geworden. Die internationalen Verflechtungen erfordern über nationale Maßnahmen hinaus gemeinsame Antworten aller zivilisierten Staaten. Länder, die Terroristen Unterschlupf gewähren, müssen international geächtet werden.
— Wir unterstützen niemanden.Einheitliche Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen der ganzen Welt sind ebenso notwendig wie eine noch engere internationale Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung. Ich habe deshalb jüngst öffentlich den Vorschlag gemacht, eine europäische Fahndungsunion über Interpol hinaus innerhalb der EG in Form einer Informationszentrale aufzubauen.Wir sollten auch dazu kommen, in die westlichen Hauptstädte Sicherheitsbeamte des Bundeskriminalamtes für einen kurzen Draht zur Regierung und zu Sicherheitsbehörden zu schicken. Derartige Verbindungsbeamte haben sich ja im Drogenbereich schon gut bewährt.
Meine Damen und Herren, es leuchtet hier schon das gelbe Licht auf.
Augenblick, Herr Abgeordneter, ich höre eben, daß Ihnen fünf Minuten mehr zustehen. Da muß es eine Panne bei Ihrer Fraktionsgeschäftsführung — nehme ich an — ge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17843
Vizepräsident Westphalgeben haben. Sie haben noch fünf Minuten. Bitte fahren Sie fort. Sie haben noch fünf Minuten.
Bitte, fahren Sie fort.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD hat sich, wie in Nürnberg festzustellen war,
aus dem Bereich der Innenpolitik abgemeldet. Was dort zum Teil an Anträgen aus dem Bereich der Innenpolitik vorgelegt worden war, ist für eine Partei mit einer derart großen Tradition
zu wenig. Es sage nur jetzt keiner, es handele sich um Anträge irgendwelcher unbedeutenden Gliederungen; das Gegenteil ist der Fall.
Statt sich mit der inneren Sicherheit auseinanderzusetzen und Vorschläge zu beschließen, haben Sie diese Anträge pauschal in einem unverdauten Paket an den Vorstand überwiesen.
Meine Damen und Herren, zur innenpolitischen Situation gehört aber auch das Bild und das Wirken der GRÜNEN. Würden die Beschlüsse der GRÜNEN realisiert werden,
was Gott verhüten möge, wäre nicht nur unsere Soziale Marktwirtschaft, unser Sozialstaat, sondern auch unser freiheitlicher Rechtsstaat ruiniert.
Heute gilt es, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung
nicht nur gegen die üblichen Rechts- und Linksextremisten, sondern auch gegen grüne Chaoten zu verteidigen.
Wir lassen uns unseren freiheitlichen Rechtsstaat, den freiheitlichsten, den es je auf deutschem Boden gegeben hat, nicht kaputtmachen, nicht von den GRÜNEN. Das Grundgesetz, das für uns alle gilt, hat sich für eine Demokratie entschieden, die sich ihrer Feinde erwehrt und ihrer erwehren kann. Wir als Abgeordnete haben in erster Linie die Verpflichtung, die politische Auseinandersetzung mit den zerstörerischen Kräften zu suchen. Wir tun dies in der Erkenntnis, daß der freiheitliche Rechtsstaat
nur Bestand hat, solange ihn seine Bürger verteidigen. Administrative oder rechtsprechende Vorkehrungen zum Schutze der Verfassung reichen nicht aus, wenn der Wille der Bürger zu unserer freiheitlichen Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht immer wieder zum Ausdruck kommt. Ich bin sicher, daß die Wähler den GRÜNEN eine glatte Absage erteilen werden.
Kein Demokrat, der zu unserer freiheitlichen Ordnung steht, kann und darf mit den GRÜNEN gemeinsame Sache machen. Die Ziele der GRÜNEN und ihr Auftreten verbieten es.
Meine Damen und Herren, zum Schluß. Wir stehen vor wichtigen innenpolitischen Entscheidungen bei der Asylpolitik und bei der Wahrung des inneren Friedens. Diese Entscheidungen erfordern ein großes Maß an Verantwortung mit Blick über den Wahltag hinaus. Die SPD wäre gut beraten, wenn sie die Gemeinsamkeit nicht bei den GRÜNEN sucht, sondern auf dem Boden eines Grundkonsenses die Rolle der Opposition konstruktiv wahrnimmt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Ströbele.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Männer und Frauen!
Es vergeht keine Debatte im Bundestag über Terrorismus und Gewalt, in der nicht mindestens von dieser Seite versucht wird, den GRÜNEN in bezug auf Terrorismus und Gewalt etwas unterzuschieben. Deshalb lassen Sie mich da mal versuchen, Klarheit zu schaffen.Die GRÜNEN sind die einzige Partei,
jedenfalls die einzige, die hier im Saal vertreten ist, die nicht nur die Gewaltfreiheit mehrfach in ihrem Programm verankert hat,
sondern die die Gewaltfreiheit sogar als Motto, als eine Art Initial benutzt: ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei.
Die Gewaltfreiheit ist für die GRÜNEN eine wichtige Säule ihrer Politik.
Hören Sie doch deshalb auf, uns in solchen Zusammenhängen zu nennen! Hören Sie auf zu versuchen, uns da etwas unterzujubeln. Wir fragen ja bei Ihnen, bei der christlichen Union, auch nicht immer, was Sie nun vom Christentum oder vom Atheismus halten oder vom Antichristen halten. Sie haben es
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17844 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Ströbelein Ihren Parteinamen hineingeschrieben. Deshalb gehen wir davon aus, daß Sie das jedenfalls meinen und proklamieren.
Im Haushalt des Innenminsteriums ist für die moralisch-geistige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus ein Posten in Höhe von 500 000 DM enthalten. Wenn man dann nachguckt, um was es da eigentlich geht, dann sieht man, es soll für 500 000 DM der Verfassungsschutzbericht des Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger einmal in vollständiger Fassung und einmal in gekürzter Fassung verschickt werden. Ich glaube, wenn Sie damit bei denen, die Sie erreichen wollen, Eindruck machen wollen, erreichen Sie nur ein müdes Lächeln. Sie können sich das sparen. Dieses Geld können Sie getrost anderen, sinnvolleren Zwecken hinzufügen.
Aber lassen Sie mich einmal ein grundsätzliches Wort zur geistig-moralischen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus sagen: Solange die Bundesregierung und auch Sie in der Gewaltfrage
— ja, da spricht ein Experte! — mit gespaltener Zunge oder mit zwei Zungen sprechen, solange die Unterstützung von Mordbanden, von Mord, von Bombenlegen in Nicaragua durch Ihre erklärten Freunde in Washington
von Ihnen nicht genauso verdammt und bekämpft wird wie ein Gewaltakt im Libanon
oder an anderer Stelle der Erde, in Karatschi beispielsweise, so lange sind Sie einfach unglaubwürdig. So lange brauchen Sie die Diskussion, die Auseinandersetzung mit diesen Menschen überhaupt nicht zu versuchen, so lange glaubt kein halbwegs wacher Jugendlicher, daß es Ihnen wirklich um das Verbot und die Bekämpfung des Terrorismus und der Gewalt geht. Offenbar kommt es darauf an, wo die Gewalt ausgeübt wird. Da wird jede Gewalt, auch Mord, auch grausamster Mord, von Ihnen gerechtfertigt bis unterstützt.
Ich habe noch nicht gehört, daß die Bundesregierung erwogen hat, die diplomatischen Beziehungen zur US-amerikanischen Regierung abzubrechen, und zwar deshalb, weil diese Regierung Mordbanden in Nicaragua finanziert,
Mordbanden, denen bereits auch zwei Bundesbürger zum Opfer gefallen sind; sie sind ermordet worden.
Solche Verlogenheit hat schon während der Vietnam-Bombardierung in den 70er Jahren viele Studenten auf die Straße in die Radikalität und in die Militanz getrieben. Ich erinnere mich genau.
— Wenn Sie etwas zu Afghanistan sagen, dann müssen Sie genau so etwas dazu sagen,
daß Ihre Freunde mit Hilfe aus Frankfurt und mit Hilfe aus der Bundesrepublik in Libyen Zivilisten und die Stadt bombardieren.
Oder gibt es Ihrer Meinung nach einen Unterschied, ob eine Bombe in einem Flugzeug gezündet wird, in dem Menschen dadurch umkommen, oder ob eine Bombe von einem Flugzeug auf Zivilisten, auf Wohnungen abgeworfen wird und dabei Menschen umkommen? Das ist die Verlogenheit, weswegen Sie in der geistig-politischen Auseinandersetzung kein Gehör finden. Solange Sie Ihr Verhältnis zur Gewalt und zum Terror nicht wirklich grundsätzlich klären, so lange werden Sie auch keinen Erfolg in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus bei uns und in der Welt haben.
Wenn man in den letzten Monaten die Zeitung gelesen und sich angehört hat, was in der Bundesrepublik unter Innenpolitik verstanden und abgehandelt wird, könnte man auf den Gedanken kommen, die einzige Innenpolitik sei nur noch die Flüchtlings- und Asylfrage. Vertreter aller Parteien, von Herrn Zimmermann bis zur SPD, werden nicht müde, immer wieder zu betonen, daß sie den wirklich politisch Verfolgten in der Bundesrepublik nach wie vor Asyl geben wollen, und zwar im Sinne des Grundgesetzes, das sie genießen. Die sollen politisches Asyl in der Bundesrepublik genießen.
Das ist eine Unwahrheit. Wir haben nach den Ereignissen in Chile, die auch Sie aus der Zeitung entnommen haben, heute morgen versucht, vom Bundestag eine Resolution zu bekommen, daß alle Parteien und auch die Bundesregierung bereit sind, alle politisch Verfolgten — daß sie in Chile politisch verfolgt sind, wird keiner bestreiten können — in der Bundesrepublik aufzunehmen und ihnen hier Zuflucht zu gewähren. Das ist abgelehnt worden. Wir sind gespannt, was Sie übernächste Woche als Entschuldigung erfinden werden, um wieder dagegen Stellung zu nehmen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17845
StröbeleEs gibt auch Beispiele aus der Vergangenheit: Vor wenigen Jahren, im Jahre 1985, hat sich ein chilenischer Flüchtling, Victor Zuniga, darum bemüht, hier in der Bundesrepublik Asyl zu bekommen. Das wurde abgelehnt; ihm wurde kein Asyl gewährt, weil er der Gruppe der MIA angehören sollte. Er ist im Oktober 1985 erschossen worden. So sieht die Praxis der Gewährung von politischem Asyl in der Bundesrepublik aus!Wenn wirklich das stimmen sollte, was der Bundeskanzler zwar nicht hier gesagt hat, aber draußen immer verkündet, daß nämlich für die wirklich politisch Verfolgten Asyl gewährt wird, warum wollen Sie dann Flugzeugkapitäne dafür bestrafen, daß sie aus der Türkei Flüchtlinge, die aus politischen Gründen aus dem Iran geflohen sind, in die Bundesrepublik bringen? 80 % der Flüchtlinge aus dem Iran werden auch von bundesdeutschen Behörden und Gerichten als politisch Verfolgte anerkannt. Viele von ihnen — und das wissen Sie — halten sich in der Türkei auf; einige von ihnen wollen in die Bundesrepublik kommen. Meine Damen und Herren, Sie regen sich darüber auf, daß Schlepperorganisationen tätig werden, daß sie für Geld Leute hierher transportieren. Diesen Schlepperorganisationen könnten Sie das Handwerk legen, wenn Sie die Botschaft der Bundesrepublik in Ankara oder das Konsulat in Istanbul anweisen würden, diesen wirklich politisch Verfolgten ein Visum zu geben, mit dem sie in die Bundesrepublik gelangen können, um hier ihr Grundrecht auf Asyl zu reklamieren und in Anspruch zu nehmen.Aber das alles stimmt j a nicht; das alles sind ja nur Worte. Sie versuchen, hinter Wortgeklingel zu verbergen, daß es Ihnen darum geht, diese „Fremden" von der Bundesrepublik fernzuhalten. Sie versuchen das, indem Sie die Zahlen fälschen. Das gilt auch für die Zahlen, die hier heute vom Herrn Bundesinnenminister wieder genannt worden sind. Herr Bundesinnenminister, es ist nicht wahr — der Hohe Flüchtlingskommissar hat Ihnen das schon vor einem Dreivierteljahr geschrieben, und nicht von ungefähr haben Sie es abgelehnt, den Hohen Flüchtlingskommissar hier in der Bundesrepublik zu empfangen —, daß über 600 000 Asylberechtigte oder andere Flüchtlinge in der Bundesrepublik leben. Ihre Zahlen sind falsch!Ich war letzte Woche in Helmstedt und habe mich dort vom Bundesgrenzschutz informieren lassen. Sie legen Ihren Zahlen für jeden als asylberechtigt Anerkannten einen zusätzlichen Faktor 2 zugrunde; Sie sagen, auf jeden hier anerkannten Asylbewerber kommen noch zwei Personen. Darüber gibt es offenbar keine Statistiken; das sind also reine Schätzungen. Ich habe mich in Helmstedt danach erkundigt, wie es tatsächlich ist, und ich werde Ihnen die Zahlen nennen: Von Januar bis August 1986 sind im Grenzschutzbereich Ost 8286 Personen, die um politisches Asyl gebeten haben, eingereist, und zusätzlich kamen 3 566 Personen, meist Kinder. Das heißt, wenn Sie die Zahl der tatsächlich anerkannten Flüchtlinge immer mal zwei nehmen, stimmt das nicht, ist das hinten und vorne nicht richtig. Sie fälschen die Zahlen, um Stimmung zu machen. Sie wollen damit im Wahlkampf Stimmen gewinnen.Sie wollen Ressentiments erzeugen und haben sie auch dadurch erzeugt, daß Sie den Flüchtlingen in der Bundesrepublik Arbeitsverbot erteilen, damit sie als Bummelanten erscheinen. Sie wollen, daß sie kaserniert untergebracht sind, damit sich die Bevölkerung von ihnen, weil sie massiv auftreten, bedroht fühlt, und dann wollen Sie das ausschlachten, um damit Wählerstimmen zu gewinnen.Das ist die Politik, mit der in Frankreich Le Pen versucht hat, Wählerstimmen zu gewinnen, und ja auch Wählerstimmen gewonnen hat.
Diejenigen, die das hier in der Bundesrepublik tun, sind die Le-Pen-Fraktion in der CDU/CSU.
Sie arbeiten mit denselben Mitteln der Fremdenfeindlichkeit, die Sie zum Teil selbst erzeugen, um sich die notwendigen Prozente zu verschaffen, die Sie offenbar noch zu brauchen meinen.Das eigentliche Problem der Asylanten- und Flüchtlingsfrage ist hier bisher von niemandem angesprochen worden. Das eigentliche Problem ist doch: Warum kommen die Menschen hierher, und was haben wir in der Bundesrepublik, die Bundesregierung, wir alle damit zu tun, wenn diese Menschen in die Bundesrepublik fliehen und hier Zuflucht suchen? Sind wir nicht verantwortlich für die Zustände in der Türkei, im Iran, im Libanon, in Sri Lanka, in Pakistan? Jeder, der sich damit beschäftigt hat, wird zu dem Schluß kommen, daß hier eine direkte Verantwortung gegeben ist. Solange diese Verantwortung nicht akzeptiert wird, werden wir zu keiner Lösung dieser Frage kommen. Wir fordern Sie auf: Akzeptieren Sie diese Verantwortung! Nehmen Sie die politisch Verfolgten auf und gewähren Sie den Menschen, die aus Not, aus Angst um ihr Leben oder ihre Gesundheit in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht suchen, hier in der Bundesrepublik ein Bleiberecht! Behandeln Sie sie menschlich! Nehmen Sie sie auf! Geben Sie ihnen eine Zuflucht — so wie mehr als 600 000 Deutschen, die vor den deutschen Nazis fliehen mußten, in allen oder den meisten Ländern der Welt Zuflucht gewährt worden ist!Aber Innenpolitik besteht nicht nur aus der Asylfrage oder der Gewaltfrage, sondern Innenpolitik im demokratischen Staat sollte eigentlich etwas grundlegend anderes als im Obrigkeitsstaat sein. Der Innenminister im autoritären Staat ist in erster Linie Polizeiminister — und so hat sich Herr Zimmermann ja hier heute wieder dargestellt; er sorgt für Ruhe und Ordnung und setzt die Entscheidungen der Regierenden bei der Bevölkerung mit polizeilichen Mitteln, mit Observationen, mit Knüppeln und anderem durch.Im demokratischen Staat sollte der Innenminister zunächst Verfassungsminister sein. Seine vornehmste Aufgabe besteht darin, den Bürgern die Ausübung der Grundrechte zu garantieren und demokratische Willensbildung, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung sicherzustellen. Der Innenminister im demokratischen Staat sollte immer
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17846 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Ströbelenach neuen Wegen suchen, wie er es den Bürgern ermöglicht, die Verwaltung zu kontrollieren und in allen öffentlichen Angelegenheiten mit zu entscheiden, und zwar auf allen Ebenen: von der Gemeinde bis zum Gesamtstaat: in Volksversammlungen, durch Volksbegehren, durch Bürgerentscheid, auch durch Wahlen, durch Demonstrationen und durch Meinungskundgaben und Manifestationen aller Art.So müssen die Menschen in den Stand gesetzt werden, für die großen Zukunftsaufgaben Lösungen zu finden, die menschenwürdig sind. Solche Lösungen können nur auf demokratischem Weg gefunden werden. Weil die große Mehrheit der Bevölkerung verstanden hat, daß das Restrisiko der Kernenergie zur Unbewohnbarkeit ganzer Länder führen kann, ist der sofortige Ausstieg erst machbar geworden. Soziale Verteidigung anstelle von Raketenhochrüstung und SDI setzt auch den demokratischen Konsens voraus. Die Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtlingen kann nur dann gelingen, wenn Beispiele wie in der Stadt nahe bei Stuttgart Schule machen, wenn die Menschen Gelegenheit haben, sich eingehend mit den Problemen auseinanderzusetzen, wenn sie ehrlich informiert werden und wenn sie selber entscheiden können. Aufgabe der Innenpolitik im demokratischen Staat ist es deshalb, überall in der Gesellschaft den Diskurs zu suchen.Was aber hat die Bundesregierung getan? Die Bundesregierung hat seit 1982 alles getan, um die soziale Kontrolle der Bevölkerung sicherzustellen. 1983 hat sie versucht, durch die Volkszählung die Daten zu bekommen, damit die Computer im Statistischen Bundesamt genug Daten erhalten und damit die Verdatung der Bevölkerung sichergestellt werden kann.
1984, 1985 hat die Bundesregierung den maschinenlesbaren Personalausweis eingeführt. Wir können nur hoffen, daß die Bevölkerung so wach ist, daß sie ihn nicht akzeptiert und im nächsten Jahr sich dagegen wehrt und die Einführung verhindert.In den drei Jahren der Bundesregierung sind Geheimdienstskandale an der Tagesordnung gewesen, bei denen klar geworden ist, in welchem Umfang und mit welcher Unverschämtheit die Geheimdienste versuchen, die Bevölkerung der Bundesrepublik in ihre Dateien zu bekommen, zu registrieren, zu überwachen und damit zu kontrollieren.Großdemonstrationen, die größten Demonstrationen, die die Bundesrepublik je in ihrer Geschichte erlebt hat, wurden nicht etwa von der Bundesregierung gefördert, wurden nicht etwa unterstützt, sondern es wurde alles getan, um Großdemonstrationen zu verhindern, zuletzt in Brokdorf, als bereits in Kleve Tausende von Demonstranten abgefangen und daran gehindert worden waren, überhaupt am Versammlungsplatz zu erscheinen.
Im Bundeshaushalt 1987 ist erneut eine ganz erhebliche Erhöhung des Etats für das Bundesamt für Verfassungsschutz und für das Bundeskriminalamt vorgesehen. Es handelt sich um Steigerungsraten von 15 bis 17 % gegenüber Steigerungsraten von 2,5 % im sonstigen Haushalt.Nach all dem kann man eigentlich nur sagen, die Bundesregierung hat eine Innenpolitik getrieben, die ich mit Heinrich Mann bezeichnen möchte als die „eiserne Wand der Autorität gegen die Zukunft", gegen die Zukunft der Bevölkerung. Statt dessen — das ist hier ja auch angesprochen worden — wollen die GRÜNEN eine andere Gesellschaft, einen anderen Staat.
Wir wollen — und so steht es tatsächlich im Parteiprogramm der GRÜNEN, das in Hannover beschlossen worden ist — keine Überwachung, wir wollen keinen maschinenlesbaren Personalausweis,
wir wollen keine Volkszählung, wir wollen, daß der Staat dem Bürger nicht mit Mißtrauen gegenübertritt.
Statt dessen wollen wir Volksentscheid, statt dessen wollen wir ein Recht zur Einsicht in Umweltakten, statt dessen wollen wir ein Niederlassungsrecht für Ausländer, und statt dessen wollen wir ein Asyl-und Bleiberecht für die Flüchtlinge aus der Welt, die in der Bundesrepublik Zuflucht suchen.
Wir wollen auf diese Weise einen Weg in eine wirklich demokratische Gesellschaft erreichen,
in eine demokratische Zukunft für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine merkwürdige Rede gehört bzw. wir haben gesehen, daß sich ein merkwürdiges Weltbild vor uns enthüllt.
Wer sich darstellt, umgeben von Feinden, Spionen, Agenten, finsteren geheimnisvollen Kräften im In-und Ausland, erzeugt im Grunde genommen Langeweile, weil jeder weiß, daß es so eben nicht ist, daß das nicht stimmt.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17847
Dr. HirschIch glaube, wir sollten uns den tatsächlichen Fragen der Innenpolitik etwas realistischer nähern. Ich will mich wegen der mir zugebilligten Zeit nur auf ganz wenige Punkte konzentrieren.Ich nehme an, daß zum Demonstrationsstrafrecht der Justizminister sprechen wird. Bezüglich der Wertung des Demonstrationsstrafrechts schließen wir uns vollkommen der an, die der Innenminister in seiner Schrift vom Mai dieses Jahres veröffentlicht hat. Es ist einer der Erfolge dieser Koalition, daß der Polizei unter Wahrung dieses Demonstrationsrechts ein wirksames Instrument angeboten worden ist.Die Kollegen Penner und Miltner haben insbesondere Fragen der inneren Sicherheit berührt. Ich glaube, Herr Penner, es ist unstreitig, daß zur inneren Sicherheit, wenn sie nicht zu einer reinen Ausübung staatlicher Herrschaft werden soll, innerer Frieden gehört. Es ist und bleibt eine unserer Grundpositionen, daß die Sicherheit des Staates nicht nur auf dem Ausbau staatlicher Macht beruht, daß wir uns um eine Rechts- und Verfassungsordnung bemühen müssen, in der der Persönlichkeitsbereich gewahrt ist, in der der Bürger erkennt, daß es sich um ein friedenstiftendes, vernünftiges, die Erfahrungen der Vergangenheit respektierendes Recht handelt, in der Minderheiten geachtet werden und in der der einzelne, weil das so ist, sich nicht als Untertan empfindet, sondern bereit ist, nicht nur Rechte wahrzunehmen, sondern auch Pflichten zu übernehmen.
Das ist die Grundposition, von der man ausgehen muß und die umzusetzen in den einzelnen Fragen der Innenpolitik nicht immer einfach ist.Aber es darf kein Zweifel daran bestehen, daß die Rechtsordnung durchgesetzt werden muß, weil jeder Staat, der die Ausübung von Gewalt zuläßt oder hinnimmt, in einer Welle von Gewalt und Gegengewalt versinken würde. Die Gewalt darf in einer zivilen Gesellschaft keine Chance haben, weil sie die Chance für eine gerechte Rechtsordnung aushöhlt und weil sie häufig auch darauf berechnet ist, tatsächliche oder gesetzgeberische Übertreibungen zu provozieren. Es ist eine terroristische Taktik, den Staat „herbeizubomben", den sie mit Aussicht auf Erfolg als ein reines Herrschaftsinstrument diskriminieren wollen, um ihn mit Erfolg bekämpfen zu können. Es ist einer der grundlegenden Fehler, den Sie in allen Ihren Reden machen, Herr Kollege Ströbele, daß Sie die primitive Taktik nicht erkennen und ihr zum Opfer fallen.
Eines muß man natürlich sagen, Herr Innenminister: Wenn man die rein polizeiliche Erfolgsbilanz der letzten Jahre vergleicht, dann sind die polizeilichen Erfolge nicht so erkennbar, wie das früher schon einmal der Fall gewesen ist. Ich glaube, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, nicht nur nach neuen Gesetzen zu rufen, sondern zu versuchen, dies gerade zu vermeiden, indem wir durch eine hervorragende, an nichts sparende personelle und sachlicheAusstattung die Polizei in die Lage versetzen, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Rechtsordnung durchzusetzen.Ich will mich noch auf zwei andere Punkte konzentrieren. Das eine ist die Umsetzung des Volkszählungsurteils. Sie haben das nicht im einzelnen dargestellt, Herr Innenminister. Wir waren etwas überrascht von Ihrem Wort, daß Sie diese Gesetze nicht brauchen und durchaus ohne sie auskommen können. Bei den Sicherheitsgesetzen geht es um die Sicherung der Persönlichkeitssphäre des einzelnen unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung. Das ist ein Bestandteil unserer Rechtsordnung, nicht irgend etwas Lästiges, das man vielleicht auch einmal wegschieben könnte.
— Auch der Verfassung. Der Grundgedanke des Volkszählungsurteils besteht in großer Eindringlichkeit darin, durch mehr Transparenz durch mehr Offenheit das Vertrauen des Bürgers zu stärken und ihm den Eindruck zu nehmen, daß er dem großen, allmächtigen, allwissenden Bruder gegenüberstünde, der alles erfahren kann und alles sieht. Wer diesem Grundgedanken nicht folgt, der zerstört die Chance für die Anwendung moderner Technik. Wir müssen dafür sorgen, daß die moderne Technik entdämonisiert wird. Das geht nur, wenn man sie offen betreibt und wenn man dafür sorgt, daß sie menschlich bleibt.
Wir haben nicht unbegrenzt Zeit, diese Aufgabe zu erfüllen.Das zweite große aktuelle Thema, das immer wieder besprochen worden ist und uns seit vielen Monaten beschäftigt, ist die Frage des Asylrechts. Wir kennen die örtlichen Probleme, die es in den Gemeinden gibt. Es ist überhaupt keine Frage, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sein soll. Wir haben ja — das hat der Innenminister aufgezählt — eine Fülle von Gesetzen in den letzten Jahren gemeinsam beschlossen, um zu vernünftigen Verfahrensregeln zu kommen, um die Verfahren abzukürzen und möglichst schnell zu unterscheiden, wer ein politischer Flüchtling ist und wer nicht. Aber wir wehren uns einmal gegen abstrakte Zahlenspiele, die in größtem Umfang auf Schätzungen und nicht auf Fakten beruhen,
in denen dargestellt wird, wie viele Menschen kommen, aber nicht, wie viele Menschen uns verlassen. Es gibt j a ganze Programme des Flüchtlingskommissars in dieser Beziehung. Ich glaube, es ist eine wichtige Aufgabe, hier zu realistischen Angaben zu kommen.Das zweite ist, es ist keine juristische Debatte. Wer die Verfassung ändern will, muß uns sagen, welche materiellen politischen Regelungen er denn dann machen will.
Wir sind froh, daß aus den Reihen unseres Partnersimmer wieder betont worden ist, daß auch sie daran
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Dr. Hirschfesthalten, daß der politische Flüchtling einen Rechtsanspruch auf Aufnahme in unserem Land haben soll. Das ist eine humanitäre Grundposition die den Erfahrungen unserer Vergangenheit entspricht und an denen nicht gerüttelt werden soll,
nicht jetzt und nicht in der Zukunft. Und nichts mehr und nichts weniger verlangt unsere Verfassung. Wer an diesem Satz festhalten will, braucht keine Verfassungsänderung. Das ist, unter den Juristen jedenfalls, ziemlich unstreitig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ströbele?
Wenn Sie mir die zwei Minuten, die ich noch habe — —
Ich stehe in der Verlegenheit, das nicht rechnen zu können. Aber ich bin großzügig.
Herr Kollege Hirsch, würden Sie dann den politisch Verfolgten auch das Recht zubilligen, nicht nur hier Asyl in Anspruch zu nehmen, sondern überhaupt in die Bundesrepublik zu kommen? Das ist doch für viele das entscheidende Problem, weswegen sie sich an Schlepper verkaufen oder ähnliche — —
Herr Kollege Ströbele, das Problem liegt darin, daß man niemandem ansehen kann, warum er kommt. Ich kann nicht in die Köpfe der Menschen gucken — Gott sei Dank, kann man sagen. Aber es ist doch unser Problem, wie wir dafür sorgen können, daß die Verheißung des politischen Asyls — ich habe gesagt: die Freiheitsstatue im Hafen unserer Verfassung — wirklich denen zugute kommt, für die sie gedacht ist, den politischen Flüchtlingen. Und wir müssen durch ein faires Verfahren dafür sorgen, daß sie eine Chance bekommen. Und sie sollen sie behalten.
Nun sagen einige, das seien ja diese Mißbrauchsfälle, da agierten Schlepper usw. Die Evangelische Kirche hat in einer Schrift an eine Entschließung des Ökumenischen Rates beider Kirchen von 1981 erinnert und sie zitiert. Ich möchte dieses Zitat hier verlesen:
Eines der alarmierendsten Kennzeichen — sagen die Kirchen —
der heutigen Zeit ist die unfreiwillige Wanderung von Millionen von Menschen, die gezwungen sind, ihr Heim und ihr Land zu verlassen. Man bezeichnet sie als Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgewiesene und Exilanten. Sie sind die Opfer von ungerechten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, von Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte und von brutalen bewaffneten Konflikten. Auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft, Identität und Zugehörigkeit kämpfen sie um ihr Überleben. Sie brauchen Gerechtigkeit, Frieden und Anerkennung ihrer Menschenwürde. Ihr Anspruch auf Hilfe seitens der Kirchen ist daher eine Selbstverständlichkeit.
Und ich füge an: Es sollte auch eine Selbstverständlichkeit sein, daß ihnen die Hilfe seitens des Staates nicht verwehrt wird. Wir halten nichts von der These der Abschreckungspolitik. Man kann nicht von Grundrechten, von Humanität abschrecken, sondern man muß das Menschenmögliche tun, um die Humanität zu verwirklichen.
Und man muß unseren Mitbürgern das immer wieder sagen
— und man muß dafür kämpfen.
— Er hört zu.
Alle hören zu. Ich freue mich darüber.
Wir wollen darüber keine politische Auseinandersetzung. Wir werden ihr aber auch nicht ausweichen, wenn sie uns aufgezwungen wird.
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Ich bedanke mich bei den Kollegen, bei den einfachen Abgeordneten
— wir sind alle einfache Abgeordnete —, bei den Kollegen unseres Koalitionspartners für faire Zusammenarbeit. Ich bedanke mich bei den Beamten des Innenministeriums für ihre loyale und intensive Zuarbeit. Ich bedanke mich, wie sich das bei einem Haushalt des Innenressorts gehört, bei den vielen Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, ohne deren Loyalität wir überhaupt nicht wirken könnten und denen gegenüber wir nicht nur zu einer Art Fürsorge verpflichtet sind, sondern auch dazu, ihnen in ihren Ansprüchen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Vielen Dank.
Nun hoffe ich, daß ich es diesmal richtig treffe, wenn ich Herrn Broll als nächsten Redner aufrufe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon eine bemerkenswerte Karriere: erst ein Urteil wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung von zehn
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17849
BrollMonaten und dann eine Rede im Bundestag über Gewaltlosigkeit.
Mein sehr verehrter Herr Kollege Ströbele, was Sie als grüne Partei oder Bewegung dem Bundesbürger bei Wahlen so als Kandidaten anbieten, liest sich in manchen Partien wie ein Fahndungsbuch der Kriminalpolizei.
Ich würde etwas vorsichtiger sein mit solchen Sprüchen über Gewaltlosigkeit. Jeder im Lande, der nicht blind ist, wenn er Zeitung liest, weiß, welchen Anteil Sie und Ihre Freunde — ich meine jetzt nicht Sie persönlich, weil ich es Ihnen im einzelnen nicht nachweisen kann, aber Sie als grüne Bewegung — aktenkundig und pressekundig daran haben, daß eine Menge von Gewalttätigen, von wirklich boshaften Leuten, die nicht nur eine gute Idee in übertriebener Weise vertreten, sondern die boshaft sind
und Gewalttätigkeit von Mal zu Mal geradezu aufsuchen, mit Ihrer moralischen Unterstützung oder Entschuldigung zu Werke gehen und unsere Polizei vor allergrößte Probleme stellen. Damit will ich zu Ihnen jetzt schon gar nichts mehr sagen. Wer Sie wählt, muß es selbst vor sich und seinem Gewissen verantworten.
Mein Problem sind Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD.
Wir sind uns einig, daß wir als Gesetzgeber und der Minister als Chef der Innenverwaltung nicht für alles verantwortlich gemacht werden können, was im Bundesgebiet läuft oder was nicht läuft.
Gerade im Bereich der schweren Kiminalität des Rauschgifts, aber auch jener scheinbar politisch motivierten Kriminalität,
wie sie sich im Zusammenhang mit Demonstrationen darstellt, liegt das Problem darin, daß wir uns darüber klarwerden müssen, welchen Anteil bestimmte gesellschaftliche Gruppen daran haben, daß moralische Dämme brüchig werden
oder daß Hemmungen verschwinden, die normalerweise im Menschen da sind und ihn hindern, mit Stahlschleudern auf andere Menschen zu schießen, Molotow-Cocktails ins Auto zu werfen, in denen sich Menschen befinden. Dabei möchte ich — um damit das letzte Mal von den GRÜNEN zu sprechen — immerhin doch bemerken, daß die Nachricht, einPolizeifahrzeug, ein Wasserwerfer sei in Brand geraten, auf einem bestimmten Parteitag mit Beifall bedacht worden ist.
Das ist ein schlimmes Zeichen der moralischen Verrohung. Ihre Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, wo Ihr Vertreter, Herr Kollege Penner — —
Herr Kollege, ich muß Sie unterbrechen. Der Begriff „Lüge", gezielt auf einen Abgeordneten und seine Äußerung, ist ordnungsrufwürdig und wird hierdurch bei Ihnen gerügt.
— Sie haben eine Möglichkeit, das auf ordentliche Weise hier zum Ausdruck zu bringen — die haben Sie auch früher gehabt —, aber nicht mit dem Begriff „Lüge", einem Vorwurf, der beleidigend ist.
Der Abgeordnete Ströbele wird vielleicht Gelegenheit nehmen, den Wortlaut jener einstweiligen Verfügung vorzulegen; denn er rechtfertigt meine Ausführungen. Ich habe mich sehr genau darüber informiert.Unser gemeinsames Problem, meine Damen und Herren von der SPD, die Sie eben durch Herrn Penner eine nicht sehr saubere,
aber von hohem moralischem Pathos getragene Rede haben halten lassen,
ist: Stärkt es das Rechtsbewußtsein, oder schwächt es die Hemmungen, wenn Sie mit Leuten koalieren, die in dieser Weise, wie eben beschrieben, Nähe zur Gewalt praktizieren? Was richten Sie mit dem deutschen Rechtsbewußtsein an,
wenn Sie Leuten zu Ministerämtern verhelfen, die entweder selbst gesagt haben, Sie würden eines Tages den Staat unregierbar machen, oder die mit Gewalttätern Sympathie bekunden?
Was richten Sie an, wenn Ihre Parteifreunde in Lübeck ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz, nämlich das Volkszählungsgesetz, boykottieren?
Viele andere Beispiele können wir nennen.
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17850 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
BrollVorsicht, höchste Verantwortung ist bei demokratischen Parteien geboten. Die Suche nach Wählerstimmen am Rande des politischen demokratischen Spektrums ist irgendwie legitim und verständlich. Aber das darf nie dazu führen, daß man die Grundprinzipien des Staates, unseres demokratischen Staates, aufgibt.
Wer das täte, würde mitschuldig an jener Gewalt, die auch als Folge jener üblen Emanzipationskampagne Ende der 60er Jahre an den Schulen zu verzeichnen sein wird. Wer den Leuten jahrelang in den Schulen durch Rahmenrichtlinien und Schulbücher einredet, das höchste Ziel der Demokratie sei, seine eigenen Interessen durchzusetzen, der schafft eine Generation von jungen Leuten, die diese Hemmungen, die früher gehindert haben, nicht mehr haben.
Was heißt es schließlich, unseren Polizeibeamten zuzumuten,
die für uns alle, für die Bewahrung der Freiheit und des Rechts kämpfen und ihr Leben hinhalten
und in höchster Gefahr sind, wenn sie sehen, daß bestimmte politische Kreise diese Unterscheidungen zu führen gar nicht mehr so bereit sind!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von mir persönlich werden Sie heute auch erwarten, daß ich ein Weniges zum Thema Asyl sage,
weil ich mich in jüngster Zeit deutlich dazu geäußert habe. Ich muß allerdings sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist bemerkenswert, daß bei Parteifreunden und bei mir selbst anschließend überhaupt noch versichert werden muß, daß jene Grunderrungenschaft der politischen Kultur, nämlich das politische Asyl, natürlich für uns nicht zur Disposition steht. Ich bitte auch zu bedenken und zuzugeben — ich würde auch raten, Herr Penner, machen Sie das deutsche Volk, auch in den Teilen, die Sie verachten, nicht so schlecht —: Wir haben im Bundesgebiet keinen Ausländerhaß.
Wir haben keine blinde Wut gegenüber Ausländern.
Wir haben keine Tendenz: Ausländer raus usw.
Was wir aber sehr wohl bemerken, ist — ich möchte es einmal so sagen —, verletztes Rechtsgefühl.
Unbestreitbar ist, daß, durch Nachrichten vielleicht überspitzt, aber sicher nachweisbar, Mißbrauch unseres sehr formellen Verfahrens geübt wird. Und so wie der Bürger in jedem Bereich der Politik von uns erwartet, dort, wo Rechtsmißbräuche durch die Art des Verfahrens geradezu nahegelegt werden, Abhilfe zu schaffen, so erwarten die Bürger auch in diesem Bereich Abhilfe.
Es geht nicht, daß eine politische oder gesellschaftliche Gruppierung, etwa auch eine Kirche, ein bestimmtes Thema wie Asyl erst einmal für sich positiv besetzt und anschließend sagt, darüber zu diskutieren, sei Wahlkampf, sei unzulässig, sei unmenschlich.
Das heißt, ein Tabu schaffen, das heißt im Grunde eine sehr dubiose Methode politischer Herrschaft anzuwenden.
Damit können wir uns nicht einverstanden erklären. Die Themen, die debattiert werden, werden nicht von uns geschaffen. Sie werden vom Volk vorgegeben.
Wir haben die Aufgabe, durch Rationalität und Humanität im Ton und in den Angeboten dafür zu sorgen, daß nicht das passiert, was bei Tabus immer passiert: daß dumpfe Emotionen aufkommen.
Und dann könnte jener Haß entstehen, von dem Sie gesprochen haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Penner?
Ich habe noch eine Minute Zeit; aber da ich Sie angesprochen habe, Herr Penner, natürlich.
Herr Broll, das wäre alles nicht so schlimm,
von Mißbrauch zu reden, wenn Sie wenigstens inAnsätzen mal menschliches Verständnis zeigenwürden für diejenigen, die aus fremden Ländern zu
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17851
Dr. Penneruns gekommen sind. Haben Sie Verständnis dafür, daß Ihnen das entgegengehalten werden muß?
Herr Penner, Ihre Zwischenfrage bestätigt das, was ich eben gesagt habe. Gerade wollte ich zu ein paar Fragen an uns alle ansetzen, auch an diejenigen, die uns so gerne in der Manier, wie Sie es eben getan haben, Vorhaltungen machen.
Da fällt mir übrigens ein, daß einmal ein bekannter Herr in Berlin über eine Straße ging und, als er einem Bettler, der da saß, nichts gab, gefragt, antwortete: „Hätte ich wenig gegeben, hätten die Leute geredet, hätte ich viel gegeben, hätten die Leute auch geredet. Also habe ich eben nichts gegeben."
Der Mann kam nicht aus Samaria, er kam aus Düsseldorf.
Ich will auch nicht sagen, was er war. Er wird auch in Düsseldorf bleiben. Aber wer solch einen Mann zum Spitzenkandidaten macht, hat kaum das Recht, uns nach christlicher Gesinnung zu fragen.
Um zum Schluß zu kommen, frage ich: Wo sind alle diejenigen, die für große Freizügigkeit sprechen, die nicht einmal Verständnis dafür haben, daß es inhuman ist, viele Hunderte und Tausende von Menschen jahrelang in den Mühlen unserer Bürokratie zu lassen und sie am Ende dennoch abschieben zu müssen. Wo sind sie, wenn es darum geht, in den Gemeinden für eine Unterkunft zu sorgen, die Menschen davon zu überzeugen, daß das nicht stört? Wo sind sie, wenn es darum geht, menschliche Kontakte zu Asylbewerbern und anderen Ausländern, die noch keine haben, zu schaffen? Wo sind sie, wenn es darum geht, ihnen in Schulungskursen und Bildungsmaßnahmen zu helfen, und zwar frei aus Humanität, nicht bar gegen Kasse, wie es leider nur praktiziert wird?
Wenn das in unserer Bevölkerung klar wäre, brauchten wir uns über das Thema Asyl viel weniger zu unterhalten. Wir aber müssen regeln, was der Regelung bedarf. Mehr wollen wir gar nicht tun.
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einige von Ihnen wissen, daß ich mit der Bildung des neuen Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit meine bisherige Fraktionsfunktion als Obmann des Innenausschusses aufgegeben habe.
Ich hatte mir vorgenommen, Herr Kollege Broll, Ihnen bei der ersten Gelegenheit im Plenum für die solidarische, verbindliche Arbeit im Ausschuß zu danken. Ich muß Ihnen sagen: Angesichts der Rede, die Sie soeben gehalten haben, bleibt mir dieses Lob im Halse stecken.
Ich will es mir versagen, auf Ihre Rede weiter einzugehen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Kollege Volker Hauff hat heute zu einer der wichtigen Zukunftsaufgaben unserer Industriegesellschaft, der Energiepolitik, Ausführungen gemacht. Ich will zu dem zweiten wichtigen Aufgabengebiet, zu der zweiten Herausforderung, unserer Verantwortung gegenüber den uns nachfolgenden Generationen entsprechen zu können, etwas sagen, zum Bereich des Umweltschutzes.Wir Sozialdemokraten haben Bundesumweltminister Wallmann bei seinem Amtsantritt unsere Unterstützung angeboten, wenn und wo es darum geht, wirksamen Umweltschutz durchzusetzen. Wir erneuern heute unser Angebot. Was für die Energiepolitik gilt, gilt auch für die Umweltpolitik. Wo es um die Wiederherstellung und dauerhafte Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen geht, wo es um die Lebens- und Überlebensfähigkeit künftiger Generationen geht, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen über die Parteigrenzen hinweg. Dies sind wir unserer Verantwortung für unsere Kinder und deren Kinder schuldig.
Gemeinsamkeit kann es freilich nur für eine Umweltpolitik geben, die diesen Namen auch verdient. Umweltminister Wallmann hat sein Amt mit viel Vorschußlorbeeren angetreten. Er hat diesen Vertrauensvorschuß zwischenzeitlich verspielt.
— Ich will dies belegen.Er hält zwar schöne und wohlklingende Reden,
wie auch heute nachmittag wieder. Sie sind im Ton auch viel verbindlicher als die Reden seines ruppigen Amtsvorgängers Zimmermann. In der Politik freilich unterscheidet er sich mit keinem Jota von der Politik seines Kollegen Zimmermann.Zu Recht betont beispielsweise Minister Wallmann immer wieder, daß die Katastrophe von
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17852 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
SchäferTschernobyl das Bewußtsein und das Wissen der Menschen über die lebensbedrohende Atomenergie verändert hat. Für die Politik dieser Bundesregierung bleibt diese Erkenntnis freilich folgenlos. Wie Ihr Vorgänger setzen Sie, Herr Wallmann, auf die energiepolitisch überflüssige, industriepolitisch verfehlte, Milliarden verschlingende, Umwelt und Gesundheit bedrohende Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und den Schnellen Brüter in Kalkar.
Herr Wallmann beteuert zwar immer wieder mit sanftem Augenaufschlag, wie ernst er die Sorgen und Ängste der Bürger nimmt. Aber ich sage Ihnen: Wer die Sorgen und Ängste der Bürger tatsächlich ernst nimmt, der muß nein sagen zu Wackersdorf, der muß nein sagen zu Kalkar, der muß jetzt damit anfangen, für eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft zu streiten.
Gerade an diesem Willen fehlt es Ihnen, meine Damen und Herren.Herr Wallmann reist jetzt viel; das ist auch gut so. Er kommt heute aus Moskau zurück, er war in Frankreich, er war in Wien. Es ist gut, daß es reist. Es ist gut, daß über Energieversorgung, über Energieprobleme international gesprochen wird. Es ist notwendig, daß auch international über einen besseren Informationsaustausch bei kerntechnischen Unfällen gesprochen wird. Nur, meine Damen und Herren, so gut dies auch ist: Es reicht nicht aus! Aufgabe einer verantwortlichen Politik muß es sein, dafür zu sorgen, daß solche Katastrophen überhaupt nicht mehr stattfinden können.
Gerade hier fehlt es an der Entschiedenheit.
Ich will kurz ein neues Beispiel nennen: Herr Wallmann und Herr Bundeskanzler Kohl sagen: „Wir nehmen die Sorgen, Nöte und Ängste der Bürger aus Rheinland-Pfalz, aus dem Saarland wegen des größten geplanten Nuklearparks in Cattenom ernst; ich fahre sofort nach Paris." Was geschieht dann in Paris? Statt die Sorgen tatsächlich vorzutragen, statt dort dafür einzutreten, daß das Kernkraftwerk Cattenom nicht in Betrieb geht, kommt er zurück und erklärt: Cattenom ist genauso sicher wie unsere Kernkraftwerke und muß in Betrieb gehen. Heute hat das Europäische Parlament mit Mehrheit gegen die Inbetriebnahme von Cattenom entschieden. Ich hoffe, daß der Bundesumweltminister, daß die Bundesregierung sich diese schallende europäische Ohrfeige zu Herzen nehmen und daß sie sich endlich bewegen und die deutschen Interessen auch dem französischen Partner gegenüber wirksam vertreten.Meine Damen und Herren, wenn es zutrifft, daß sich der Stellenwert eines Ressorts im Haushalt niederschlägt, dann machen sich die 430 MillionenDM — das muß ich sagen — in dem Haushalt für Herrn Bundesminister Wallmann recht mager aus. Es ist weniger als 1 % des gesamten Haushalts.
Nun kann man ja sagen: Geld allein ist nicht alles, wenn er wenigstens Kompetenzen hat. Aber auch hieran mangelt es vollständig. Herr Wallmann ist ein Umweltminister ohne Kompetenzen. Herr Wallmann kann kein wirklicher Interessenvertreter unserer Umwelt sein.
Meine Damen und Herren, jetzt lassen Sie sich feiern — Herr Wallmann hat es heute getan, Herr Laufs hat es getan — für Ihre angeblich großen Erfolge, was die Reduzierung der Belastungen der Luft angeht. Sie beklagen lautstark das Waldsterben und empfehlen den Einsatz der Kernenergie als Therapie dagegen. Ich sage Ihnen: Ihre Sorge um den Wald ist so lange nicht glaubwürdig, solange Sie nicht tatsächlich wirksame Maßnahmen zur Reduzierung der Luftverschmutzung ergreifen.
Sie lassen sich feiern für Ihre angeblich großen Erfolge, was Ihre Einführungsstrategie betreffend das schadstoffarme Auto angeht. Ich will die Zahlen sprechen lassen. Ganze 0,7 % aller Personenkraftwagen, etwas mehr als 200 000, sind mit einem geregelten Drei-Wege-Katalysator — dies bedeutet eine Schadstoffverminderung von 90 % — ausgerüstet. Wissen Sie, was das an Entlastung von Stickoxiden pro Jahr bedeutet?
7 000 t Stickoxide pro Jahr. Dies ist das Ergebnis Ihrer Autoabgaspolitik bei einem Ausstoß von Stickoxiden von 1,6 Millionen t pro Jahr allein vom Verkehr.
Wenn es Ihnen tatsächlich ernst ist mit Ihrem Kamkpf gegen das Waldsterben, dann können Sie sich nicht für eine Verminderung der Stickoxide um 7 000 t feiern lassen und gleichzeitig ein Tempolimit ablehnen, das selbst nach dem geschönten Gutachten des Technischen Überwachungsvereins Rheinland eine Entlastung von Stickoxiden in Höhe von mindestens 32 000 t pro Jahr bringt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Laufs?
Gerne.
Bitte schön, Herr Dr. Laufs.
Herr Kollege Schäfer, können Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß in diesem Jahr mehr als die Hälfte aller neu zugelassenen Kraftfahrzeuge schadstoffarm war, daß pro
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Dr. LaufsJahr nur 10 % des Bestandes umgeschichtet werden
und daß deshalb eine Verminderung der Gesamtmenge der durch den Kraftfahrzeugverkehr verursachten Schadstoffemissionen um zunächst überhaupt nur wenige Prozente pro Jahr erreicht werden kann?
Herr Kollege Laufs, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar für die Frage. Sie gibt mir nämlich die Gelegenheit, einmal etwas mit dem Etikettenschwindel der Bundesregierung, was das Etikett „schadstoffarmes Auto" angeht, aufzuräumen.
2,4 Millionen der über 3 Millionen neu zugelassenen Pkws sind Dieselfahrzeuge. Wir haben heute noch keinen Diesel-Partikelwert. Mehr als 2 000 t krebserregende Dieselpartikel gehen in die Umwelt. Sie verschleudern 1 Milliarde DM für Steuererleichterungen für Diesel-Pkws. Ich gönne es den Fahrern von Diesel-Pkws, aber das Entscheidende ist: Sie erreichen damit keinen zusätzlichen Entlastungseffekt in bezug auf die Umwelt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Menge der durch den Pkw-Verkehr verursachten Schadstoffemissionen nimmt zu.
Mit dem Etikettenschwindel „schadstoffarmes Auto" wollen Sie über Ihre verfehlte Politik hinwegtäuschen. — Übrigens, Kollege Laufs, vielen Dank für die Zwischenfrage; ich habe Sie selten so solidarisch erlebt.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben 1971 — lassen Sie mich das sagen, Herr Kollege Hirsch und Herr Kollege Baum — gemeinsam mit den Freien Demokraten ein Umweltprogramm vorgelegt,
das für die damalige Zeit auf internationaler Ebene beispiellos gewesen ist.
Ich räume ein, daß auch wir Mitte der 70er Jahre dem Umweltschutz unter dem Blickpunkt zunehmender Arbeitslosigkeit nicht den gebührenden Rang eingeräumt haben.
Aber zwischenzeitlich haben wir ein Programm vorbeugender, vorsorgender Umweltpolitik vorgelegt. Dabei handelt es sich um ein Programm zur ökologischen Modernisierung unserer Gesellschaft, das drei Chancen bietet und wahrnimmt:
Zum ersten leisten wir einen nachhaltigen Beitrag zur dauerhaften Verbesserung unserer Umwelt.
Zum zweiten schaffen wir einen Investitionsschub,
einen Erneuerungsschub für umweltfreundliche
Technologien, für Umweltschutztechnologien. Wir
werden dadurch die erste Adresse, was Umweltschutztechnologie angeht, in der Welt sein.
Drittens leisten wir damit einen Beitrag, um die volkswirtschaftlichen Schäden durch Umweltbelastungen zu reduzieren.
Ich sehe bei mir das rote Licht. Ich sage noch einen Satz zum Schluß, der Ihnen von der Koalition vielleicht zum Nachdenken verhilft: Professor Wikke, der Wissenschaftliche Direktor des Umweltbundesamts, übrigens Mitglied der CDU,
hat erst kürzlich ein Buch veröffentlicht, in dem er die volkswirtschaftlichen Verluste durch Umweltschäden pro Jahr auf etwa 100 Milliarden DM beziffert. Dies sind Verluste, die sich — —
Herr Abgeordneter, nun ist Ihre Redezeit aber um.
Dies sind Verluste, die sich keine Volkswirtschaft auf Dauer leisten kann. Sie sind nicht einmal bereit, diese Zahlen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Sie weigern sich, Auskunft zu geben auf eine Große Anfrage von uns: Volkswirtschaftliche Verluste durch Umweltverschmutzung.
Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen und noch in dieser Periode die Anfrage erneut einbringen, damit Sie gezwungen werden, Farbe zu bekennen, ob Sie nur umweltpolitisch reden oder tatsächlich auch bereit sind, die nötigen Maßnahmen zur ökologischen Erneuerung unserer Volkswirtschaft durch politisches Handeln einzuleiten.
Nach meiner Liste hat jetzt der Abgeordnete Kuhlwein das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Bilanz der sozialen Ungerechtigkeiten dieser Regierung wäre unvollständig, wenn dabei nicht auch der Kahlschlag in der Bildungspolitik angesprochen würde. Bildungspolitik ist der Schlüssel für die Zukunft, und wir werden die großen Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir die Menschen in die Lage versetzen, die Zukunft nicht als Objekt zu erleiden, sondern als Subjekt selbst gestalten zu können. Deshalb können wir uns eine Demontage des Bildungsbereichs und der Bildungspolitik nicht leisten. Das gilt für die allgemeine Bildung in der Schule genauso wie für die berufliche Erstausbildung, die berufliche und allgemeine Weiterbildung wie für die Hochschulausbildung. Ich betone ausdrücklich: Wir wollen allen jungen Menschen und
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Kuhlweinallen Menschen die Chance zur Teilhabe an der Gestaltung der Zukunft geben, und deshalb darf Bildung nicht wie bei dieser Regierung wieder zum Privileg derjenigen werden, die sich das finanziell leisten können.Die Bundesregierung hat einen Haushalt vorgelegt, der für Bildung und Wissenschaft erneut Kürzungen vorsieht. Während der Verteidingungshaushalt um 3,8 % steigt, schrumpft der Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft um 2,5 %, und das, meine Damen und Herren, in einer Zeit, in der alle Welt von zusätzlichem Bedarf an Qualifizierung spricht, in einer Zeit mit erkanntem hohen Bedarf an Zukunftsforschung, in einer Zeit mit wachsendem Bedarf an sozialen und kulturellen Dienstleistungen. Mit diesem Haushalt hat sich die Regierung Kohl aus der Bildungspolitik endgültig abgemeldet, und Frau Minister Wilms hat durch Unterlassen erheblich dazu beigetragen. Die Tatsache, daß sie nicht auf der Regierungsbank sitzt, spricht dafür, daß sie sich mit diesem Haushalt gar nicht hier ins Hohe Haus gewagt hat.
Ich sehe in diesem Haushalt ein Signal dafür, daß diese Regierung, wenn sie denn im Amt bliebe, das Bundesbildungsministerium auflösen würde. Aber ohne eine angemessen genutzte Kompetenz des Bundes auch in der Bildungspolitik ginge diesem Land ein Stück Zukunft verloren. Wir haben doch den Ausbau der Hochschulen, die Modernisierung der Berufsausbildung, die Weiterentwicklung unseres Schulsystems nur deshalb in den 70er Jahren vorantreiben können, weil engagierte SPD-Bildungsminister gemeinsam mit den Ländern große Schritté nach vorn gewagt haben, und da kommt gerade einer von denen, die das gewagt haben: Ich begrüße hier ausdrücklich den Kollegen Jürgen Schmude.
Frau Wilms hat hier ein zinsträchtiges Erbe übernommen, aber sie hat es verschleudert, und es wird große Mühe machen, auf den Trümmern der Bildungspolitk dieser Regierung wieder neu aufzubauen.Frau Wilms hat ihre Karriere im Bildungsministerium mit dem BAföG-Kahlschlag begonnen, und sie hat damit Hunderttausenden von Jugendlichen die Bildungschancen abgeschnitten.
Sie hat das bewußt getan; sie hat das aus ordnungspolitischen Gründen und nicht nur aus finanzpolitischen Gründen getan, sonst hätte man ja spätestens bei der Aufstockung der Ausbildungsfreibeträge im Steuerrecht das Finanzvolumen zur Verfügung gehabt, um das Schüler-BAföG wiederherzustellen.Aber diese Regierung der sozialen Ungerechtigkeit schenkt den Spitzenverdienern unter den Eltern studierender Kinder mehr als 200 DM Steuerersparnis pro Monat, während die Kinder der Armen ihr Studium auf Pump finanzieren müssen. Ich bleibe dabei, daß wir von einer Partei mit dem „C" davor mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Nächstenliebe hätte erwarten dürfen.
Aber Sie wollten bewußt keine Chancengleichheit mehr.
„Weiter so, Deutschland" in diesem Feld würde bedeuten, daß weniger Arbeiterkinder und weniger Mädchen weiterführende Schulen und Hochschulen besuchen würden. Und „Weiter so, Deutschland" würde bedeuten, daß die für die Entwicklung unserer Gesellschaft so notwendigen Begabungsreserven eben unerschlossen bleiben.
Der Bundeskanzler hat im Wahlkampf 1983 versprochen, für jeden sei eine Lehrstelle da. Er hat auch dieses Versprechen nicht eingehalten.
In den letzten Jahren sind pro Jahr 100 000 jugendliche Bewerber ohne Ausbildungsplatz geblieben. Das wird auch 1986 trotz aller Gesundbeterei nicht viel besser aussehen.
Und dann sagen Sie doch bitte nicht, wie der Kollege Jagoda das heute morgen getan hat, daß diese das Pech gehabt hätten, zu den starken Jahrgängen zu gehören. Meine Damen und Herren, das ist die Kälte und Herzlosigkeit, die wir Ihnen in diesem Haus und an anderer Stelle zu Recht vorgeworfen haben.
Sie haben unsere Vorschläge für Sofortprogramme abgelehnt. Sie haben die Bildungschancen von Hunderttausenden von Jugendlichen beeinträchtigt. Für diese jungen Menschen war kein Geld da. Für Panzer, die die Bundeswehr nicht braucht, und für Subventionen an die Wirtschaft haben Sie jedoch schnell und bereitwillig in die Ta-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17855
Kuhlweinsche gegriffen. Sie werden uns nicht verübeln können, daß wir Ihnen diese soziale Ungerechtigkeit vorhalten und vorwerfen.Frau Wilms hatte die Chance, sich als Bildungsministerin für die schwächeren Gruppen der Gesellschaft zu profilieren. Jürgen Schmude, Björn Engholm hatten ihr das Programm für die Ausbildung benachteiligter Jugendlicher hinterlassen.
Frau Wilms hat sich nur halbherzig darum gekümmert, weil ihr dieses Programm immer suspekt gewesen ist, weil sie fürchtete, daß das duale System leiden könnte, wenn nicht einmal ein ganzes Prozent der Ausbildung in außerbetrieblichen Einrichtungen absolviert würde. Die Mittel werden auch in diesem Jahr wieder nicht ausreichen, um alle Mädchen und Jungen auszubilden, die als Bewerber in Frage kommen. Die Träger des Benachteiligtenprogramms werden bis heute von der Bundesregierung mit der Frage im Stich gelassen, wie es denn nach 1980 weitergehen soll. Frau Wilms opfert damit Chancen für junge Leute auf dem Altar ihrer Ideologie.
Herr Stark, Sie hätten in vier Jahren Regierung die Chance gehabt, auch in den Hochschulen Antworten auf neue technische und ökologische Herausforderungen anzustoßen. Es gibt viele solcher Herausforderungen. Die Hochschulen werden sich künftig stärker damit beschäftigen müssen, wie Arbeit für alle geschaffen werden kann, wie die neuen Technologien sozial beherrschbar gemacht werden können, wie die Umwelt saniert und vor weiteren Schäden bewahrt werden kann, wie in der Gesellschaft die Gleichstellung der Geschlechter erreicht werden kann und wie Konflikte innerhalb der Völker und zwischen Völkern friedlich geregelt werden können. Manche Hochschulen kümmern sich um diese Themen. Aber das reicht bei weitem noch nicht aus.Die Bundesregierung hätte sich hier in wissenschaftspolitischer Gesamtverantwortung einschalten können und einschalten müssen. Aber dieser Bundesregierung war in der Hochschulpolitik einzig und allein eingefallen, der Wirtschaft den unkontrollierten Zugang zu den Labors und zu den personellen Kapazitäten der Hochschulen zu öffnen. Sie hat das Hochschulrahmengesetz zu diesem Zweck novelliert und gleichzeitig an den Hochschulen Strukturen wiederhergestellt, die eben gerade nicht geeignet sind — und das wissen wir aus der Vergangenheit —, Zukunftsaufgaben gemeinsam kreativ anzupacken.Meine Damen und Herren, wir brauchen dringend eine neue Phase der Bildungsreform. Diese Bundesregierung hat gezeigt, daß sie dazu weder bereit noch in der Lage ist.
Bildungspolitik ist der Schlüssel für die aktive Bewältigung der Zukunft. Mit dieser Bundesregierung wird das Tor zur Zukunft nicht aufgeschlossen werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ihrem Beitrag, Herr Kollege Kuhlwein, hat sich einen Moment lang die Bildungspolitik vor die Rechtspolitik geschoben, was ich nicht als Nachteil ansehe, weil man j a die Parole ausgeben könnte: durch Bildung zum Recht. Allerdings würde ich nach Anhören Ihres Beitrages sagen, daß das Wort „durch Recht zur Bildung der Wahrheitsliebe" auch eine ganz gute Losung wäre. Denn mein Ressort ist nicht die Bildungspolitik, aber jedermann weiß, daß einige der von Ihnen hier aufgestellten Behauptungen — etwa zu den Lehrstellen — ganz schlicht unrichtig sind
und daß hier in vergangenen Jahren in einem Maße Leistungen erbracht werden konnten, die sich nicht nur sehen lassen können, sondern die alles in der Vergangenheit hier Geleistete in den Schatten gestellt haben.
Dies ist jedermann, nicht nur der zuständigen Ministerin, sondern weit in der Öffentlichkeit klar.Meine Damen und Herren, die Legislaturperiode ist zeitlich so weit fortgeschritten, daß man eine gewisse Schlußbilanz schon ziehen kann. Sie weist aus, daß in der Rechtspolitik diese Bundesregierung und diese Koalition handlungsfähig und erfolgreich waren.
Mit dem Stichwort Bilanz will ich in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit hier im Raume nicht Erschrecken hervorrufen.
In der Tat, ich werde diese Bilanz, meine Damen und Herren, natürlich nicht vorlegen; sie ist so gewaltig und erfolgreich, daß dies schon einige Zeit in Anspruch nehmen würde.
Nein, ich will mich auf einige wenige Punkte beschränken.
Wir beginnen mit drei Handlungszielen, die sich eine Rechtspolitik vorgeben muß, die zunächst davon ausgeht, daß das Recht der Kontinuität bedarf. Ich sage, drei Handlungsziele, die dann wären, er-
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Bundesminister Engelhardstens bewährtes Recht zu bewahren. Bewährtes Recht, das ist nicht immer Recht, dem alle im Augenblicke zustimmen. Das kann Recht sein, das durchaus umstritten ist, aber Recht, um dessen Setzung man sich in der Vergangenheit große Mühe gegeben hat und wo es aus gutem Grunde keinen Sinn haben kann, mit denselben Argumenten von ehedem die Debatte neu zu beginnen.Wenn ich dies so sage, so spreche ich vom Recht des § 218 des Strafgesetzbuches. Diese Bundesregierung ist mit einer weiten Öffentlichkeit der Auffassung, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu hoch ist, daß wir alles daran setzen müssen, materiell, mit Rat, mit Tat, wo immer der Möglichkeiten sind, zu helfen und Beistand zu leisten, daß aber die vor Jahren getroffene Grundentscheidung im Bereich des Strafrechts festgehalten werden muß und keiner Änderung bedarf.Ich spreche in diesem Zusammenhang ein zweites Thema an, das des Asylrechts. Hier hat ja Herr Kollege Penner zu sehr starken Worten gegriffen.
— Es war eine gute Rede.
— Habe ich gesagt, daß es keine gute Rede war? Es war von seinem Standpunkt her, eine gute Rede, wie er versucht hat, die Dinge vorzutragen.Ich lege Wert auf die Feststellung: Wo Herr Kollege Penner den Versuch unternommen hat, die Bundesregierung anzusprechen, hat er sich nicht das richtige Objekt gewählt, weil bekannt ist, daß alles, was er dazu gesagt hat, nicht Thema dieser Bundesregierung ist.Die Bundesregierung beschäftigt sich mit den schwierigen Fragen in diesem Zusammenhang und hat erst am 26. August ein Maßnahmenpaket im Kabinett beschlossen, das derzeit umgesetzt wird. Verfassungsänderung, Änderung unseres Grundgesetzes, ist innerhalb des Kabinetts kein Thema.
Nun mag es in Wahlkämpfen unausbleiblich sein, daß die Töne aus Interviews, daß die Auseinandersetzungen draußen — —
— Herr Kollege, es ändert dies nichts. Maßgeblich sind die Entscheidungen der Bundesregierung. Was ein einzelner von seinem Standpunkt — auch wenn er Mitglied des Kabinetts ist — hier an Überlegungen anstellen mag,
ist eine ganz andere Frage.Herr Kollege Vogel, Ihr Ziel ist natürlich ganz bewußt, den Herrn Bundeskanzler in diese Debatte zu ziehen.
Das ist mir nach unserem kurzen Briefwechsel sehr wohl ersichtlich. Es wird Ihnen nicht gelingen, und es hat keinen Zweck, diese Debatte fortzusetzen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?
Nein, bedaure.Meine Damen und Herren, es galt darüber hinaus, Recht zu korrigieren. Wir haben im Scheidungsfolgenrecht an bewährten Entscheidungen festgehalten, aber gleichzeitig Korrekturen dort anbringen müssen,
wo im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung ersichtlich über die Jahre nicht eingesehen wurde, daß sich in bestimmten, exzeptionell herausragenden, besonders kritischen Fällen eine schematische Übertragung des Zerrüttungsprinzips in das Recht des materiellen Unterhalts fortgesetzt hat.Wir haben gleichzeitig aber dafür Sorge getragen, daß — Sie haben das wohl verfolgen können — am nachehelichen Solidaritätsprinzip festgehalten wird und daß Frauen, insbesondere die, die in der Ehe Kinder geboren und großgezogen haben oder die aus anderen Gründen ganz für die Familie da waren, Klarheit darüber haben, daß sie den Anspruch behalten, nach der Scheidung vom wirtschaftlich Stärkeren materiell unterhalten zu werden. Es bedurfte nur der Korrektur in dem anderen Bereich.Da bin ich schon bei einem anderen Thema, dem des Demonstrationsstrafrechts.
Sowenig ich in der Vergangenheit bei unserer Auseinandersetzung vom Juli des letzten Jahres Herrn Kollegen Dr. Emmerlich zu verstehen vermochte, sowenig habe ich heute Herrn Kollegen Penner verstanden,
wie er den Versuch unternommen hat, Dinge, die längst einer Klärung zugeführt sind — was Vermummung und was keine Vermummung ist — hier erneut ansprechen und aufkochen zu wollen. Ich weiß um Ihren Widerstand. Wir haben in einer Situation, in der man, wenn man verantwortungsvoll handelt, der Gewalt mit Erfolg entgegentreten und sich an die Seite der Polizei stellen will, die es bei der Vollziehung ihres Amtes schwer genug hat, Regelungen getroffen, die es der Polizei ermöglichen, an der jeweiligen Situation orientiert, flexibel vom Recht Gebrauch zu machen, gleichzeitig aber klargestellt, daß dort, wo es in einer Demonstration ge-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17857
Bundesminister Engelhardwalttätig wird, ein Straftatbestand — Vermummung und passive Bewaffnung — vorliegt, und zwar aus gutem Grunde. Denn die Statistik weist unbestritten aus, daß es dort, wo eine größere Zahl von Vermummten an Demonstrationen teilnimmt, elfmal so häufig wie in anderen Fällen gewaltätig wird.
Meine Damen und Herren, wir haben eine Reihe von Gesetzgebungsvorhaben neu auf den Weg gebracht. Da gibt es Dinge, die — aus mir nicht ganz verständlichen Gründen — über die Zeit hinweg vernachlässigt worden sind, über Jahrzehnte, über viele Jahrzehnte.
Damit bin ich beim Thema des Opferschutzes.
Wir haben den Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Stellung des Opfers einer Straftat im Strafverfahren vorgelegt, und dieser Entwurf wird derzeit vom Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages behandelt.
— Herr Kollege de With,
wie kann man eigentlich, wenn man über so viele Jahre Parlamentarischer Staatssekretär war,
wenn 13 Jahre lang das Justizministerium einen SPD-Minister hatte
und wenn nie der Versuch unternommen wurde, ein solches Gesetz vorzulegen, so argumentieren?
Sehen Sie, als ein Mensch, der sich eine gewisse Fairneß zugute hält, würde ich nie auf den verblasenen Gedanken kommen, Ihnen diesen Vorwurf zu machen und Sie zu fragen: Was haben Sie eigentlich in diesen ganzen 13 Jahren erarbeitet, wenn Sie etwas so Wichtiges vergessen haben? Auf einen solchen Gedanken würde ich nicht kommen, aber ich muß ihn jetzt aussprechen, weil Ihre Gedankenkette dazu verleitet, solche Gedanken zu Ihrem eigenen Schaden zu pflegen.
Meine Damen und Herren, ich bin bei dem nächsten Vorhaben, weil ganz speziell die Rechtspolitik es so an sich hat, meist vorgefundenen Tatbeständen lange, lange Zeit hinterherzuhinken und schließlich sehr spät eine Regelung zu treffen, was auch sein Gutes haben mag. Nur meine ich, es gibt eine Dimension der Ereignisse, die es dem Gesetzgeber und speziell auch der Regierung abverlangt, beizeiten Umschau zu halten, ob nicht möglicherweise bestimmte Dinge, die heute technisch noch gar nicht machbar sind, schon jetzt einer Regelung zugeführt werden müssen.Damit bin ich bei dem von mir vorgelegten Diskussionsentwurf eines Embryonenschutzgesetzes. Es handelt sich aus gutem Grund um einen Diskussionsentwurf, denn noch zur Stunde beschäftigt sich der Deutsche Juristentag in Berlin auch mit diesem Thema. Wir wollen abwarten, was uns dort an Ratschlägen, an Beschlüssen, an Beiträgen mit auf den Weg gegeben wird.
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Legislaturperiode — ich nenne nur einiges Wenige, ohne daß damit in jedem Falle eine Wertigkeit verbunden sein soll — das Urheberrecht novelliert, das Bilanzrichtliniengesetz verabschiedet, die Neuregelung des Internationalen Privatrechts herbeigeführt, das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität beraten und verabschiedet und vieles mehr.Diese vier Vorhaben nenne ich deswegen besonders, weil man sich auch bei Meinungsverschiedenheiten im Detail schlußendlich in dem gesamten Kreis unterschiedlicher politischer Richtungen zusammengefunden hat und dies von allen mitgetragen worden ist.
— Das ist auch völlig unbestritten; Gott sei Dank. Herr Kollege de With, werden Sie nicht wieder so leichtsinnig; es schlägt Ihnen nicht gut an!
Kein vernünftiger Mensch, der um die Kontinuität des Rechts bemüht ist, wird sich anheischig machen, das, was er von Amtsvorgängern in den Schubladen des Ministeriums vorfindet, zunächst der Verbrennung zu überantworten — wo kämen wir da hin —,
um dann alles in Eigenbau selber zu machen. Nein; Gott sei Dank gibt es hier über die Zeiten gerade in der parlamentarischen Demokratie die Möglichkeit, Hand in Hand vernünftig zu arbeiten.
Mit diesem Gedanken sollte man vielleicht schließen.
Das Wort hat der Abgeordnete Emmerlich.
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17858 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Amt des Bundesjustizministers
ist kein leichtes Amt, Frau Kollegin. Es ist ein Amt von ganz besonderer Verantwortung, von einer Verantwortung, die häufig auch gegen vorhandene Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung und gegen Bedenken und Einwendungen aus den eigenen Reihen wahrgenommen werden muß. Der Justizminister muß der Hüter und Wahrer der Verfassung, insbesondere — hier schließe ich an Helmut Schmidt an — der Grundrechte sein. Er muß in den Mittelpunkt seines Handelns die Gerechtigkeit stellen und das Prinzip der Menschlichkeit und der Mitmenschlichkeit verteidigen, wo es geht, und sich selber nach ihm richten.Dieser Bundesjustizminister hatte in der Geschichte der Bundesrepublik gute Vorbilder. Er muß sich an diesen Vorbildern messen lassen. Ich bedaure sehr, hier sagen zu müssen: Betulichkeit und Zaghaftigkeit, Vorsicht, kleinliche Vorsicht vor dem übermächtigen Koalitionspartner
und Angst vor Koalitionsauseinandersetzungen,
— lassen Sie mich doch mal in Ruhe ausreden und machen Sie vernünftige Einwendungen dann, wenn Sie gemerkt haben, was ich sagen wollte —, alle diese Eigenschaften und Verhaltensweisen sind nicht in der Lage, dafür zu sorgen, daß der Justizminister seinen Pflichten hinreichend nachkommt.Dieser Justizminister redete soeben von einer Bilanz übergroßer Erfolge.
Was er uns dazu vorgeführt hat, zeigt, daß es ihm so ergeht wie einem kleinen Kind, das in einen dunklen Keller muß, Angst empfindet und diese Angst zu übertönen versucht, indem es laut vor sich hin sagt: „Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst."
Dieser Justizminister ist kein Anwalt der persönlichen und der politischen Freiheitsrechte. Er hat es zugelassen, daß seitens seiner Koalitionspartner und seitens der Minister der Regierung, der er angehört, ständig der Versuch unternommen worden ist, das Demonstrationsrecht einzuschränken. Er hat es sogar wegen der Zwänge der Koalition hingenommen, daß die Wahlkampfaussage der FDP „Am geltenden Demonstrationsrecht wird nicht gerüttelt" schon kurze Zeit nach der Wahl gebrochen worden ist.
Dieser Bundesjustizminister hat zu den Provokationen der Verantwortlichen in Wackersdorf und Brokdorf,
die Gewalt bewußt, mindestens mit Dolus eventualis, herausgefordert und provoziert haben, geschwiegen.
Er hat es geduldet, daß diese provozierte Gewalt ausgenutzt worden ist, um Wahlentscheidungen zugunsten der konservativen Kräfte herbeizuführen und Wahlentscheidungen in demagogischer Weise durch an Hetze heranreichende Diskussionsbeiträge zu manipulieren.
Wo ist die Stimme des Bundesjustizministers in der Frage der Bewahrung der Rundfunkfreiheit und der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Frage der Meinungsfreiheit? Hat der Bundesjustizminister im Verfassungsrechtsstreit um das niedersächsische Landesrundfunkgesetz seine Aufgabe wahrgenommen, und ist er eingetreten für die Grundlage dieser Freiheiten, für die Erhaltung der Pluralität im Rundfunk unseres Landes? Hat der Bundesjustizminister ein Wort dazu gesagt, daß so, wie die Dinge liegen, selbst wenn die Beschränktheit der Sendemöglichkeiten, der Veranstaltungsmöglichkeiten technisch überwunden werden könnte, aus ökonomischen Gründen Außenpluralität nicht herstellbar ist, sondern aus ökonomischen Gründen nur die Möglichkeit für allenfalls zwei Kapitalriesen besteht, ein privates Rundfunkprogramm zu betreiben?
Wo ist der Bundesjustizminister tätig geworden, um entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das informationelle Selbstbestimmungsrecht im Bereich der inneren Sicherheit, im Bereich des Strafverfahrensrechts durchzusetzen? Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt nunmehr länger als zweieinhalb Jahre zurück, und der Bundesjustizminister hat es immer noch nicht fertiggebracht, auch nur einen Referentenentwurf zur datenschutzgerechten Novellierung des Strafverfahrensrechts zustande zu bringen und zu veröffentlichen. Die Tatsache, daß die Novellierungszwänge in bezug auf die gesetzlichen Grundlagen für die Sicherheitsorgane ausgenutzt werden, um neue Befugnisse, um neue Eingriffsbefugnisse in rechtlich geschützte Positionen der Bürger zu begründen — durch seine Koalitionspartner —, auch diese Tatsache ist auf einen Justizminister gestoßen, der sich schweigend in den Mauern seines Ministeriums verkrochen hat.Ich vermisse, Herr Minister, daß Sie die Grundentscheidung, die nach dem Kriege aus leidvoller Erfahrung der Terrorherrschaft in unserem Lande getroffen worden ist, verteidigen, nämlich: keine nachrichtendienstlichen Befugnisse für die Polizei,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17859
Dr. Emmerlichkeine polizeilichen Befugnisse für die Nachrichtendienste, auch nicht über den Umweg des Datenaustausches.
Wo ist dieser Bundesjustizminister, wenn es darum geht, klar und deutlich zu sagen, mit mir gibt es keine Rückkehr zur Geheimpolizei.
— Wenn das Selbstverständlichkeiten wären, brauchte man darüber nicht zu reden.Dieser Bundesjustizminister, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat sich eben auf das Embryonenschutzgesetz bezogen. Aber das Embryonenschutzgesetz, das er vorgelegt hat, ist ein klägliches Ausweichen vor den eigentlichen Problemen, die die künstliche Befruchtung aufwirft.
Diese eigentlichen Probleme sind: Erstens, können wir es zulassen, daß Möglichkeiten zur Züchtung von Menschen eröffnet werden?
Und wie können wir verhindern, daß solche Möglichkeiten entstehen? Zweitens. Können wir es zulassen, daß Forschungsexperimente mit menschlichen Embryonen stattfinden?
Die Unklarheit in bezug auf diese Frage ist durch Ihren Entwurf nicht beseitigt,
sondern im Gegenteil, sie ist gefördert worden. Sie haben sich mit Herrn Riesenhuber und anderen, die für derartige Experimente an Embryonen sind, nie auseinandergesetzt.Und das Dritte: Wir müssen dafür sorgen, daß dem durch eine künstliche Befruchtung erzeugten Kind dadurch keine Nachteile entstehen. Jedes Kind hat Anspruch auch darauf, über seine Abstammung aufgeklärt zu werden. Wo ist in Ihrem Gesetz Klarheit darüber, daß Anonymisierung des Samenspenders unzulässig ist?
Wo ist in Ihrem Gesetz dafür gesorgt, daß erbrechtliche und unterhaltsrechtliche Ansprüche gegenüber dem biologischen Vater nicht beseitigt werden dürfen, sondern aufrechterhalten werden müssen? Diesen entscheidenden Fragen, Herr Bundesjustizminister, sind Sie in Ihrem Gesetz wohlweislich ausgewichen, weil Sie zumindest nicht die politische Kraft haben, in bezug auf diese entscheidenden Fragen die politische Führung zu ergreifen und wahrzunehmen.
— Wenn die Zeit nicht angerechnet wird, lasse ich jede Zwischenfrage zu, sonst muß ich bedauerlicherweise ablehnen.
Es gibt jemand der darauf lauert, einen Schluß herbeiführen zu dürfen. Ich bin seit über drei Stunden dabei, diese Debatte zu leiten, und bitte um Verständnis. Sie haben also gesagt, Sie werden noch eine Zusatzfrage zulassen; dann werde ich großzügig sein bei Ihren letzten 13 Sekunden Redezeit.
Herr Kollege Emmerlich, glauben Sie, daß ein Justizminister, ganz gleich woher er gekommen wäre und zu welcher Gruppierung im Parlament er gehört, sich der Gefahr aussetzen könnte und würde, das Problem der nicht ehelich gezeugten Kinder an dem Recht der Mutter, den Vater zu verschweigen, in Gefahr bringen könnte durch leichtsinnige Äußerungen bei der künstlichen Befruchtung?
— Er hat mich schon verstanden.
Herr Kollege Erhard, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie mir im Endergebnis darin nicht widersprochen, daß eine Anonymisierung der Abstammung mit der Menschenwürde unseres Landes nicht in Übereinstimmung steht, daß ihr entgegengetreten werden muß und daß es keiner großen und schwierigen Überlegungen und Beratungen bedarf, um dies in aller Eindeutigkeit und Klarheit zum Ausdruck zu bringen. Darüber, glaube ich, braucht man sich nicht auseinanderzusetzen.
Lassen Sie mich, meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluß ein Beispiel dafür nennen, wie man auch gegen eine Mehrheitsmeinung eine schwierige Position im Interesse von Minderheiten, im Interesse der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit zum Ausdruck und zur Geltung bringt.
Der Bundespräsident hat auf dem Deutschen Juristentag zu der schwierigen Frage der Fortsetzung der Reform des Strafvollzuges drei Sätze gesagt, die ich gerne zitieren möchte.Erstens. Es bleibe der Gedanke der Resozialisierung und der Neusozialisierung vordringlich.Zweitens. Im Strafvollzug dürfe die Person keines Täters aufgegeben werden. Jeder Straftäter müsse die Chance auf neue Einsicht haben, und jeder Täter habe uns gegenüber den Anspruch auf unsere Hilfe.
Und der dritte Satz — der dritte Satz ist, glaube ich, der wichtigste —: Die große haupt- und ehren-
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17860 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986
Dr. Emmerlichamtliche Arbeit für und mit Strafgefangenen sei wichtig für das Rechtsbewußtsein unseres Landes im Ganzen.
Ich wünsche mir einen Justizminister, der den Mut hat, so schwierige und auch unpopuläre Themen mit dieser Deutlichkeit und mit diesem Engagement anzusprechen. Und das ist es, was ich bei diesem Justizminister bedauerlicherweise im Gegensatz zu seinem Vorgänger vermisse. (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN —Marschewski [CDU/CSU]: Ein Meisterwerk war das auch nicht!).
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf morgen, Freitag, den 12. September 1986, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.