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ID1022916600

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    Plenarprotokoll 10/229 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 229. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 Inhalt: Begrüßung des Ersten Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrates der Volksrepublik Bulgarien und seiner Delegation . 17757 B Änderung der Überweisung des Antrags betr. Einführung von Bestandsobergrenzen zum Schutz der bäuerlichen Landwirtschaft und der Umwelt — Drucksache 10/2822 — an Ausschüsse 17757 B Begrüßung einer Delegation des australischen Parlaments 17782 D Zur Geschäftsordnung Volmer GRÜNE 17755 B Seiters CDU/CSU 17756 A Porzner SPD 17756 B Wolfgramm (Göttingen) FDP 17757 A Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1987 (Haushaltsgesetz 1987) — Drucksache 10/5900 — in Verbindung mit Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1986 bis 1990 — Drucksache 10/5901 — Dr. von Dohnanyi, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg . . 17757 D Dr. Friedmann CDU/CSU 17762 C Bueb GRÜNE 17766 B Cronenberg (Arnsberg) FDP 17768 B Sieler (Amberg) SPD 17772 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 17774 A Frau Fuchs (Köln) SPD 17783 A Frau Dr. Adam-Schwaetzer FDP . . . 17788 D Jagoda CDU/CSU 17792 C Wieczorek (Duisburg) SPD 17797 A Seehofer CDU/CSU 17799 C Dr. Wallmann, Bundesminister BMU . 17804A Dr. Hauff SPD 17812 B Dr. Laufs CDU/CSU 17819 D Dr. Müller (Bremen) GRÜNE 17824 B Frau Seiler-Albring FDP 17827 A Dr. Zimmermann, Bundesminister BMI 17830 B Dr. Penner SPD 17834 D Dr. Miltner CDU/CSU 17840 B Ströbele GRÜNE 17843 D Dr. Hirsch FDP 17846 D Broll CDU/CSU 17848 D Schäfer (Offenburg) SPD 17851 B Kuhlwein SPD 17853 D Engelhard, Bundesminister BMJ . . . . 17855 C Dr. Emmerlich SPD 17858A Vizepräsident Westphal 17801 A Vizepräsident Stücklen 17824 A Nächste Sitzung 17860 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 17861* A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 229. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. September 1986 17755 229. Sitzung Bonn, den 11. September 1986 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 12. 9. Antretter * 11. 9. Bahr 12. 9. Frau Borgmann 11. 9. Büchner (Speyer) * 11. 9. Eigen 12. 9. Frau Fischer * 11. 9. Dr. Geißler 11. 9. Dr. Götz 12. 9. Hanz (Dahlen) 12. 9. Dr. Hüsch 11. 9. Dr. Hupka 11. 9. Dr. Klejdzinski * 11. 9. Dr. Kreile 12. 9. Dr. Kronenberg 12. 9. Dr. Kübler 11. 9. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Landré 11. 9. Lenzer * 11. 9. Dr. Mitzscherling 12. 9. Dr. Müller * 12. 9. Nagel 12. 9. Frau Pack * 11. 9. Pöppl 12. 9. Dr. Riedl (München) 12. 9. Dr. Soell 12. 9. Dr. Sperling 12. 9. Dr. Stercken 12. 9. Frau Verhülsdonk 12. 9. Voigt (Sonthofen) 12. 9. Dr. Wieczorek 11. 9. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Christian Ströbele


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Männer und Frauen!

    (Zuruf von der SPD: Frauen und Männer!)

    Es vergeht keine Debatte im Bundestag über Terrorismus und Gewalt, in der nicht mindestens von dieser Seite versucht wird, den GRÜNEN in bezug auf Terrorismus und Gewalt etwas unterzuschieben. Deshalb lassen Sie mich da mal versuchen, Klarheit zu schaffen.
    Die GRÜNEN sind die einzige Partei,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    jedenfalls die einzige, die hier im Saal vertreten ist, die nicht nur die Gewaltfreiheit mehrfach in ihrem Programm verankert hat,

    (Broll [CDU/CSU]: Aber nur bei der Polizei!)

    sondern die die Gewaltfreiheit sogar als Motto, als eine Art Initial benutzt: ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Die Gewaltfreiheit ist für die GRÜNEN eine wichtige Säule ihrer Politik.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So was!)

    Hören Sie doch deshalb auf, uns in solchen Zusammenhängen zu nennen! Hören Sie auf zu versuchen, uns da etwas unterzujubeln. Wir fragen ja bei Ihnen, bei der christlichen Union, auch nicht immer, was Sie nun vom Christentum oder vom Atheismus halten oder vom Antichristen halten. Sie haben es



    Ströbele
    in Ihren Parteinamen hineingeschrieben. Deshalb gehen wir davon aus, daß Sie das jedenfalls meinen und proklamieren.

    (Broll [CDU/CSU]: Aber einen Flugzeugentführer haben wir bei uns nicht! — Rusche [GRÜNE]: Gekaufte Brüder von Flick habt ihr genug bei euch!)

    Im Haushalt des Innenminsteriums ist für die moralisch-geistige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus ein Posten in Höhe von 500 000 DM enthalten. Wenn man dann nachguckt, um was es da eigentlich geht, dann sieht man, es soll für 500 000 DM der Verfassungsschutzbericht des Parlamentarischen Staatssekretärs Spranger einmal in vollständiger Fassung und einmal in gekürzter Fassung verschickt werden. Ich glaube, wenn Sie damit bei denen, die Sie erreichen wollen, Eindruck machen wollen, erreichen Sie nur ein müdes Lächeln. Sie können sich das sparen. Dieses Geld können Sie getrost anderen, sinnvolleren Zwecken hinzufügen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Aber lassen Sie mich einmal ein grundsätzliches Wort zur geistig-moralischen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus sagen: Solange die Bundesregierung und auch Sie in der Gewaltfrage

    (Frau Berger [Berlin] [CDU/CSU]: Da spricht ein Experte!)

    — ja, da spricht ein Experte! — mit gespaltener Zunge oder mit zwei Zungen sprechen, solange die Unterstützung von Mordbanden, von Mord, von Bombenlegen in Nicaragua durch Ihre erklärten Freunde in Washington

    (Weiß [CDU/CSU]: Ach hören Sie doch auf mit Ihrem dummen Zeug! Das ist doch eine Unverschämtheit!)

    von Ihnen nicht genauso verdammt und bekämpft wird wie ein Gewaltakt im Libanon

    (Rusche [GRÜNE]: Das ist richtig!)

    oder an anderer Stelle der Erde, in Karatschi beispielsweise, so lange sind Sie einfach unglaubwürdig. So lange brauchen Sie die Diskussion, die Auseinandersetzung mit diesen Menschen überhaupt nicht zu versuchen, so lange glaubt kein halbwegs wacher Jugendlicher, daß es Ihnen wirklich um das Verbot und die Bekämpfung des Terrorismus und der Gewalt geht. Offenbar kommt es darauf an, wo die Gewalt ausgeübt wird. Da wird jede Gewalt, auch Mord, auch grausamster Mord, von Ihnen gerechtfertigt bis unterstützt.

    (Marschewski [CDU/CSU]: Das ist doch unerhört! Quatsch! Dummes Zeug! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich habe noch nicht gehört, daß die Bundesregierung erwogen hat, die diplomatischen Beziehungen zur US-amerikanischen Regierung abzubrechen, und zwar deshalb, weil diese Regierung Mordbanden in Nicaragua finanziert,

    (Weiß [CDU/CSU]: Das ist unerhört! — Rusche [GRÜNE]: Das ist allerdings unerhört!)

    Mordbanden, denen bereits auch zwei Bundesbürger zum Opfer gefallen sind; sie sind ermordet worden.

    (Weiß [CDU/CSU]: Klären Sie mal Ihr Verhältnis zum Terrorismus!)

    Solche Verlogenheit hat schon während der Vietnam-Bombardierung in den 70er Jahren viele Studenten auf die Straße in die Radikalität und in die Militanz getrieben. Ich erinnere mich genau.

    (Weiß [CDU/CSU]: Afghanistan hat Sie nicht auf die Straße getrieben!)

    — Wenn Sie etwas zu Afghanistan sagen, dann müssen Sie genau so etwas dazu sagen,

    (Weiß [CDU/CSU]: Wo ist Ihr Protest zu Afghanistan?)

    daß Ihre Freunde mit Hilfe aus Frankfurt und mit Hilfe aus der Bundesrepublik in Libyen Zivilisten und die Stadt bombardieren.

    (Weiß [CDU/CSU]: Wo ist denn Ihr Protest zu Afghanistan?)

    Oder gibt es Ihrer Meinung nach einen Unterschied, ob eine Bombe in einem Flugzeug gezündet wird, in dem Menschen dadurch umkommen, oder ob eine Bombe von einem Flugzeug auf Zivilisten, auf Wohnungen abgeworfen wird und dabei Menschen umkommen? Das ist die Verlogenheit, weswegen Sie in der geistig-politischen Auseinandersetzung kein Gehör finden. Solange Sie Ihr Verhältnis zur Gewalt und zum Terror nicht wirklich grundsätzlich klären, so lange werden Sie auch keinen Erfolg in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus bei uns und in der Welt haben.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Weiß [CDU/ CSU]: Ich warte auf eine Klärung Ihres Verhältnisses zur Gewalt!)

    Wenn man in den letzten Monaten die Zeitung gelesen und sich angehört hat, was in der Bundesrepublik unter Innenpolitik verstanden und abgehandelt wird, könnte man auf den Gedanken kommen, die einzige Innenpolitik sei nur noch die Flüchtlings- und Asylfrage. Vertreter aller Parteien, von Herrn Zimmermann bis zur SPD, werden nicht müde, immer wieder zu betonen, daß sie den wirklich politisch Verfolgten in der Bundesrepublik nach wie vor Asyl geben wollen, und zwar im Sinne des Grundgesetzes, das sie genießen. Die sollen politisches Asyl in der Bundesrepublik genießen.

    (Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Das hat aber nichts mit Genuß zu tun!)

    Das ist eine Unwahrheit. Wir haben nach den Ereignissen in Chile, die auch Sie aus der Zeitung entnommen haben, heute morgen versucht, vom Bundestag eine Resolution zu bekommen, daß alle Parteien und auch die Bundesregierung bereit sind, alle politisch Verfolgten — daß sie in Chile politisch verfolgt sind, wird keiner bestreiten können — in der Bundesrepublik aufzunehmen und ihnen hier Zuflucht zu gewähren. Das ist abgelehnt worden. Wir sind gespannt, was Sie übernächste Woche als Entschuldigung erfinden werden, um wieder dagegen Stellung zu nehmen.



    Ströbele
    Es gibt auch Beispiele aus der Vergangenheit: Vor wenigen Jahren, im Jahre 1985, hat sich ein chilenischer Flüchtling, Victor Zuniga, darum bemüht, hier in der Bundesrepublik Asyl zu bekommen. Das wurde abgelehnt; ihm wurde kein Asyl gewährt, weil er der Gruppe der MIA angehören sollte. Er ist im Oktober 1985 erschossen worden. So sieht die Praxis der Gewährung von politischem Asyl in der Bundesrepublik aus!
    Wenn wirklich das stimmen sollte, was der Bundeskanzler zwar nicht hier gesagt hat, aber draußen immer verkündet, daß nämlich für die wirklich politisch Verfolgten Asyl gewährt wird, warum wollen Sie dann Flugzeugkapitäne dafür bestrafen, daß sie aus der Türkei Flüchtlinge, die aus politischen Gründen aus dem Iran geflohen sind, in die Bundesrepublik bringen? 80 % der Flüchtlinge aus dem Iran werden auch von bundesdeutschen Behörden und Gerichten als politisch Verfolgte anerkannt. Viele von ihnen — und das wissen Sie — halten sich in der Türkei auf; einige von ihnen wollen in die Bundesrepublik kommen. Meine Damen und Herren, Sie regen sich darüber auf, daß Schlepperorganisationen tätig werden, daß sie für Geld Leute hierher transportieren. Diesen Schlepperorganisationen könnten Sie das Handwerk legen, wenn Sie die Botschaft der Bundesrepublik in Ankara oder das Konsulat in Istanbul anweisen würden, diesen wirklich politisch Verfolgten ein Visum zu geben, mit dem sie in die Bundesrepublik gelangen können, um hier ihr Grundrecht auf Asyl zu reklamieren und in Anspruch zu nehmen.
    Aber das alles stimmt j a nicht; das alles sind ja nur Worte. Sie versuchen, hinter Wortgeklingel zu verbergen, daß es Ihnen darum geht, diese „Fremden" von der Bundesrepublik fernzuhalten. Sie versuchen das, indem Sie die Zahlen fälschen. Das gilt auch für die Zahlen, die hier heute vom Herrn Bundesinnenminister wieder genannt worden sind. Herr Bundesinnenminister, es ist nicht wahr — der Hohe Flüchtlingskommissar hat Ihnen das schon vor einem Dreivierteljahr geschrieben, und nicht von ungefähr haben Sie es abgelehnt, den Hohen Flüchtlingskommissar hier in der Bundesrepublik zu empfangen —, daß über 600 000 Asylberechtigte oder andere Flüchtlinge in der Bundesrepublik leben. Ihre Zahlen sind falsch!
    Ich war letzte Woche in Helmstedt und habe mich dort vom Bundesgrenzschutz informieren lassen. Sie legen Ihren Zahlen für jeden als asylberechtigt Anerkannten einen zusätzlichen Faktor 2 zugrunde; Sie sagen, auf jeden hier anerkannten Asylbewerber kommen noch zwei Personen. Darüber gibt es offenbar keine Statistiken; das sind also reine Schätzungen. Ich habe mich in Helmstedt danach erkundigt, wie es tatsächlich ist, und ich werde Ihnen die Zahlen nennen: Von Januar bis August 1986 sind im Grenzschutzbereich Ost 8286 Personen, die um politisches Asyl gebeten haben, eingereist, und zusätzlich kamen 3 566 Personen, meist Kinder. Das heißt, wenn Sie die Zahl der tatsächlich anerkannten Flüchtlinge immer mal zwei nehmen, stimmt das nicht, ist das hinten und vorne nicht richtig. Sie fälschen die Zahlen, um Stimmung zu machen. Sie wollen damit im Wahlkampf Stimmen gewinnen.
    Sie wollen Ressentiments erzeugen und haben sie auch dadurch erzeugt, daß Sie den Flüchtlingen in der Bundesrepublik Arbeitsverbot erteilen, damit sie als Bummelanten erscheinen. Sie wollen, daß sie kaserniert untergebracht sind, damit sich die Bevölkerung von ihnen, weil sie massiv auftreten, bedroht fühlt, und dann wollen Sie das ausschlachten, um damit Wählerstimmen zu gewinnen.
    Das ist die Politik, mit der in Frankreich Le Pen versucht hat, Wählerstimmen zu gewinnen, und ja auch Wählerstimmen gewonnen hat.

    (Rusche [GRÜNE]: Das ist der einzige Vergleich, der hier möglich ist!)

    Diejenigen, die das hier in der Bundesrepublik tun, sind die Le-Pen-Fraktion in der CDU/CSU.

    (Rusche [GRÜNE]: Sehr richtig!)

    Sie arbeiten mit denselben Mitteln der Fremdenfeindlichkeit, die Sie zum Teil selbst erzeugen, um sich die notwendigen Prozente zu verschaffen, die Sie offenbar noch zu brauchen meinen.
    Das eigentliche Problem der Asylanten- und Flüchtlingsfrage ist hier bisher von niemandem angesprochen worden. Das eigentliche Problem ist doch: Warum kommen die Menschen hierher, und was haben wir in der Bundesrepublik, die Bundesregierung, wir alle damit zu tun, wenn diese Menschen in die Bundesrepublik fliehen und hier Zuflucht suchen? Sind wir nicht verantwortlich für die Zustände in der Türkei, im Iran, im Libanon, in Sri Lanka, in Pakistan? Jeder, der sich damit beschäftigt hat, wird zu dem Schluß kommen, daß hier eine direkte Verantwortung gegeben ist. Solange diese Verantwortung nicht akzeptiert wird, werden wir zu keiner Lösung dieser Frage kommen. Wir fordern Sie auf: Akzeptieren Sie diese Verantwortung! Nehmen Sie die politisch Verfolgten auf und gewähren Sie den Menschen, die aus Not, aus Angst um ihr Leben oder ihre Gesundheit in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht suchen, hier in der Bundesrepublik ein Bleiberecht! Behandeln Sie sie menschlich! Nehmen Sie sie auf! Geben Sie ihnen eine Zuflucht — so wie mehr als 600 000 Deutschen, die vor den deutschen Nazis fliehen mußten, in allen oder den meisten Ländern der Welt Zuflucht gewährt worden ist!
    Aber Innenpolitik besteht nicht nur aus der Asylfrage oder der Gewaltfrage, sondern Innenpolitik im demokratischen Staat sollte eigentlich etwas grundlegend anderes als im Obrigkeitsstaat sein. Der Innenminister im autoritären Staat ist in erster Linie Polizeiminister — und so hat sich Herr Zimmermann ja hier heute wieder dargestellt; er sorgt für Ruhe und Ordnung und setzt die Entscheidungen der Regierenden bei der Bevölkerung mit polizeilichen Mitteln, mit Observationen, mit Knüppeln und anderem durch.
    Im demokratischen Staat sollte der Innenminister zunächst Verfassungsminister sein. Seine vornehmste Aufgabe besteht darin, den Bürgern die Ausübung der Grundrechte zu garantieren und demokratische Willensbildung, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung sicherzustellen. Der Innenminister im demokratischen Staat sollte immer



    Ströbele
    nach neuen Wegen suchen, wie er es den Bürgern ermöglicht, die Verwaltung zu kontrollieren und in allen öffentlichen Angelegenheiten mit zu entscheiden, und zwar auf allen Ebenen: von der Gemeinde bis zum Gesamtstaat: in Volksversammlungen, durch Volksbegehren, durch Bürgerentscheid, auch durch Wahlen, durch Demonstrationen und durch Meinungskundgaben und Manifestationen aller Art.
    So müssen die Menschen in den Stand gesetzt werden, für die großen Zukunftsaufgaben Lösungen zu finden, die menschenwürdig sind. Solche Lösungen können nur auf demokratischem Weg gefunden werden. Weil die große Mehrheit der Bevölkerung verstanden hat, daß das Restrisiko der Kernenergie zur Unbewohnbarkeit ganzer Länder führen kann, ist der sofortige Ausstieg erst machbar geworden. Soziale Verteidigung anstelle von Raketenhochrüstung und SDI setzt auch den demokratischen Konsens voraus. Die Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtlingen kann nur dann gelingen, wenn Beispiele wie in der Stadt nahe bei Stuttgart Schule machen, wenn die Menschen Gelegenheit haben, sich eingehend mit den Problemen auseinanderzusetzen, wenn sie ehrlich informiert werden und wenn sie selber entscheiden können. Aufgabe der Innenpolitik im demokratischen Staat ist es deshalb, überall in der Gesellschaft den Diskurs zu suchen.
    Was aber hat die Bundesregierung getan? Die Bundesregierung hat seit 1982 alles getan, um die soziale Kontrolle der Bevölkerung sicherzustellen. 1983 hat sie versucht, durch die Volkszählung die Daten zu bekommen, damit die Computer im Statistischen Bundesamt genug Daten erhalten und damit die Verdatung der Bevölkerung sichergestellt werden kann.

    (Rusche [GRÜNE]: Das ist ja Gott sei Dank gescheitert!)

    1984, 1985 hat die Bundesregierung den maschinenlesbaren Personalausweis eingeführt. Wir können nur hoffen, daß die Bevölkerung so wach ist, daß sie ihn nicht akzeptiert und im nächsten Jahr sich dagegen wehrt und die Einführung verhindert.
    In den drei Jahren der Bundesregierung sind Geheimdienstskandale an der Tagesordnung gewesen, bei denen klar geworden ist, in welchem Umfang und mit welcher Unverschämtheit die Geheimdienste versuchen, die Bevölkerung der Bundesrepublik in ihre Dateien zu bekommen, zu registrieren, zu überwachen und damit zu kontrollieren.
    Großdemonstrationen, die größten Demonstrationen, die die Bundesrepublik je in ihrer Geschichte erlebt hat, wurden nicht etwa von der Bundesregierung gefördert, wurden nicht etwa unterstützt, sondern es wurde alles getan, um Großdemonstrationen zu verhindern, zuletzt in Brokdorf, als bereits in Kleve Tausende von Demonstranten abgefangen und daran gehindert worden waren, überhaupt am Versammlungsplatz zu erscheinen.

    (Fellner [CDU/CSU]: Weil sie sich nicht kontrollieren ließen!)

    Im Bundeshaushalt 1987 ist erneut eine ganz erhebliche Erhöhung des Etats für das Bundesamt für Verfassungsschutz und für das Bundeskriminalamt vorgesehen. Es handelt sich um Steigerungsraten von 15 bis 17 % gegenüber Steigerungsraten von 2,5 % im sonstigen Haushalt.
    Nach all dem kann man eigentlich nur sagen, die Bundesregierung hat eine Innenpolitik getrieben, die ich mit Heinrich Mann bezeichnen möchte als die „eiserne Wand der Autorität gegen die Zukunft", gegen die Zukunft der Bevölkerung. Statt dessen — das ist hier ja auch angesprochen worden — wollen die GRÜNEN eine andere Gesellschaft, einen anderen Staat.

    (Marschewski [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

    Wir wollen — und so steht es tatsächlich im Parteiprogramm der GRÜNEN, das in Hannover beschlossen worden ist — keine Überwachung, wir wollen keinen maschinenlesbaren Personalausweis,

    (Broll [CDU/CSU]: Keine Polizei!)

    wir wollen keine Volkszählung, wir wollen, daß der Staat dem Bürger nicht mit Mißtrauen gegenübertritt.

    (Marschewski [CDU/CSU]: Keine Bestrafung bei Rauschgiftdelikten! — Fellner [CDU/CSU]: Kein Alu!)

    Statt dessen wollen wir Volksentscheid, statt dessen wollen wir ein Recht zur Einsicht in Umweltakten, statt dessen wollen wir ein Niederlassungsrecht für Ausländer, und statt dessen wollen wir ein Asyl-und Bleiberecht für die Flüchtlinge aus der Welt, die in der Bundesrepublik Zuflucht suchen.

    (Fellner [CDU/CSU]: Und wir wollen unsere Ruhe vor solchen Reden!)

    Wir wollen auf diese Weise einen Weg in eine wirklich demokratische Gesellschaft erreichen,

    (Fellner [CDU/CSU]: Wir wollen unsere Ruhe vor solchen Reden!)

    in eine demokratische Zukunft für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Weiß [CDU/ CSU]: Wollen Sie wenigstens noch Arbeitslosenunterstützung?)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Burkhard Hirsch


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eine merkwürdige Rede gehört bzw. wir haben gesehen, daß sich ein merkwürdiges Weltbild vor uns enthüllt.

    (Rusche [GRÜNE]: Dann merken Sie sich die mal! Die war wirklich merk-würdig!)

    Wer sich darstellt, umgeben von Feinden, Spionen, Agenten, finsteren geheimnisvollen Kräften im In-und Ausland, erzeugt im Grunde genommen Langeweile, weil jeder weiß, daß es so eben nicht ist, daß das nicht stimmt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




    Dr. Hirsch
    Ich glaube, wir sollten uns den tatsächlichen Fragen der Innenpolitik etwas realistischer nähern. Ich will mich wegen der mir zugebilligten Zeit nur auf ganz wenige Punkte konzentrieren.
    Ich nehme an, daß zum Demonstrationsstrafrecht der Justizminister sprechen wird. Bezüglich der Wertung des Demonstrationsstrafrechts schließen wir uns vollkommen der an, die der Innenminister in seiner Schrift vom Mai dieses Jahres veröffentlicht hat. Es ist einer der Erfolge dieser Koalition, daß der Polizei unter Wahrung dieses Demonstrationsrechts ein wirksames Instrument angeboten worden ist.
    Die Kollegen Penner und Miltner haben insbesondere Fragen der inneren Sicherheit berührt. Ich glaube, Herr Penner, es ist unstreitig, daß zur inneren Sicherheit, wenn sie nicht zu einer reinen Ausübung staatlicher Herrschaft werden soll, innerer Frieden gehört. Es ist und bleibt eine unserer Grundpositionen, daß die Sicherheit des Staates nicht nur auf dem Ausbau staatlicher Macht beruht, daß wir uns um eine Rechts- und Verfassungsordnung bemühen müssen, in der der Persönlichkeitsbereich gewahrt ist, in der der Bürger erkennt, daß es sich um ein friedenstiftendes, vernünftiges, die Erfahrungen der Vergangenheit respektierendes Recht handelt, in der Minderheiten geachtet werden und in der der einzelne, weil das so ist, sich nicht als Untertan empfindet, sondern bereit ist, nicht nur Rechte wahrzunehmen, sondern auch Pflichten zu übernehmen.

    (Beifall bei der FDP)

    Das ist die Grundposition, von der man ausgehen muß und die umzusetzen in den einzelnen Fragen der Innenpolitik nicht immer einfach ist.
    Aber es darf kein Zweifel daran bestehen, daß die Rechtsordnung durchgesetzt werden muß, weil jeder Staat, der die Ausübung von Gewalt zuläßt oder hinnimmt, in einer Welle von Gewalt und Gegengewalt versinken würde. Die Gewalt darf in einer zivilen Gesellschaft keine Chance haben, weil sie die Chance für eine gerechte Rechtsordnung aushöhlt und weil sie häufig auch darauf berechnet ist, tatsächliche oder gesetzgeberische Übertreibungen zu provozieren. Es ist eine terroristische Taktik, den Staat „herbeizubomben", den sie mit Aussicht auf Erfolg als ein reines Herrschaftsinstrument diskriminieren wollen, um ihn mit Erfolg bekämpfen zu können. Es ist einer der grundlegenden Fehler, den Sie in allen Ihren Reden machen, Herr Kollege Ströbele, daß Sie die primitive Taktik nicht erkennen und ihr zum Opfer fallen.

    (Ströbele [GRÜNE]: Warum machen die das, Herr Hirsch?)

    Eines muß man natürlich sagen, Herr Innenminister: Wenn man die rein polizeiliche Erfolgsbilanz der letzten Jahre vergleicht, dann sind die polizeilichen Erfolge nicht so erkennbar, wie das früher schon einmal der Fall gewesen ist. Ich glaube, es ist unsere gemeinsame Aufgabe, nicht nur nach neuen Gesetzen zu rufen, sondern zu versuchen, dies gerade zu vermeiden, indem wir durch eine hervorragende, an nichts sparende personelle und sachliche
    Ausstattung die Polizei in die Lage versetzen, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Rechtsordnung durchzusetzen.
    Ich will mich noch auf zwei andere Punkte konzentrieren. Das eine ist die Umsetzung des Volkszählungsurteils. Sie haben das nicht im einzelnen dargestellt, Herr Innenminister. Wir waren etwas überrascht von Ihrem Wort, daß Sie diese Gesetze nicht brauchen und durchaus ohne sie auskommen können. Bei den Sicherheitsgesetzen geht es um die Sicherung der Persönlichkeitssphäre des einzelnen unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung. Das ist ein Bestandteil unserer Rechtsordnung, nicht irgend etwas Lästiges, das man vielleicht auch einmal wegschieben könnte.

    (Dr. Penner [SPD]: Und der Verfassung!)

    — Auch der Verfassung. Der Grundgedanke des Volkszählungsurteils besteht in großer Eindringlichkeit darin, durch mehr Transparenz durch mehr Offenheit das Vertrauen des Bürgers zu stärken und ihm den Eindruck zu nehmen, daß er dem großen, allmächtigen, allwissenden Bruder gegenüberstünde, der alles erfahren kann und alles sieht. Wer diesem Grundgedanken nicht folgt, der zerstört die Chance für die Anwendung moderner Technik. Wir müssen dafür sorgen, daß die moderne Technik entdämonisiert wird. Das geht nur, wenn man sie offen betreibt und wenn man dafür sorgt, daß sie menschlich bleibt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir haben nicht unbegrenzt Zeit, diese Aufgabe zu erfüllen.
    Das zweite große aktuelle Thema, das immer wieder besprochen worden ist und uns seit vielen Monaten beschäftigt, ist die Frage des Asylrechts. Wir kennen die örtlichen Probleme, die es in den Gemeinden gibt. Es ist überhaupt keine Frage, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sein soll. Wir haben ja — das hat der Innenminister aufgezählt — eine Fülle von Gesetzen in den letzten Jahren gemeinsam beschlossen, um zu vernünftigen Verfahrensregeln zu kommen, um die Verfahren abzukürzen und möglichst schnell zu unterscheiden, wer ein politischer Flüchtling ist und wer nicht. Aber wir wehren uns einmal gegen abstrakte Zahlenspiele, die in größtem Umfang auf Schätzungen und nicht auf Fakten beruhen,

    (Sehr richtig! bei der FDP)

    in denen dargestellt wird, wie viele Menschen kommen, aber nicht, wie viele Menschen uns verlassen. Es gibt j a ganze Programme des Flüchtlingskommissars in dieser Beziehung. Ich glaube, es ist eine wichtige Aufgabe, hier zu realistischen Angaben zu kommen.
    Das zweite ist, es ist keine juristische Debatte. Wer die Verfassung ändern will, muß uns sagen, welche materiellen politischen Regelungen er denn dann machen will.

    (Beifall des Abg. Dr. de With [SPD])

    Wir sind froh, daß aus den Reihen unseres Partners
    immer wieder betont worden ist, daß auch sie daran



    Dr. Hirsch
    festhalten, daß der politische Flüchtling einen Rechtsanspruch auf Aufnahme in unserem Land haben soll. Das ist eine humanitäre Grundposition die den Erfahrungen unserer Vergangenheit entspricht und an denen nicht gerüttelt werden soll,

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    nicht jetzt und nicht in der Zukunft. Und nichts mehr und nichts weniger verlangt unsere Verfassung. Wer an diesem Satz festhalten will, braucht keine Verfassungsänderung. Das ist, unter den Juristen jedenfalls, ziemlich unstreitig.