Protokoll:
18074

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 74

  • date_rangeDatum: 5. Dezember 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:49 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/74 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 74. Sitzung Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Artur Auernhammer, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Sabine Poschmann, Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Der deutsche Meisterbrief – Erfolg- reiche Unternehmerqualifizierung, Basis für handwerkliche Qualität und besondere Bedeutung für die duale Ausbildung Drucksache 18/3317 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7057 A Sabine Poschmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7057 B Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 7059 A Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7060 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7062 C Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7064 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7064 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7065 D Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7066 D Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7068 D Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 7070 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7070 D Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) . . . . . . 7071 A Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . 7072 A Barbara Lanzinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7072 D Martin Rabanus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7074 D Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7076 A Tagesordnungspunkt 27: a) Antrag der Bundesregierung: Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte am NATO-geführten Einsatz Resolute Sup- port Mission für die Ausbildung, Bera- tung und Unterstützung der afghani- schen nationalen Sicherheitskräfte in Afghanistan Drucksache 18/3246 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7078 A b) Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank Heinrich (Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Gabi Weber, Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer (Bochum), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Transformationsdekade mit zivilen Mit- teln erfolgreich gestalten Drucksache 18/3405 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7078 A Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7078 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7080 C Thomas Silberhorn, Parl. Staatssekretär BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7081 D Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7083 C Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . . 7084 D Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7085 D Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7087 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7088 C Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7089 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7091 B Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7091 D Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7092 A Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7093 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7094 B Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 7095 B Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Eva Bulling-Schröter, Dr. Dietmar Bartsch, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Stromsperren gesetzlich verbieten Drucksache 18/3408 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7096 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 7097 A Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7098 C Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 7100 C Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7100 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7101 B Marcus Held (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7102 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . 7103 C Barbara Lanzinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7104 B Bernd Westphal (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7105 C Tagesordnungspunkt 29: Vereinbarte Debatte: 25 Jahre VN-Kinder- rechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7106 D Susann Rüthrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7106 D Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 7107 C Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 7108 D Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7110 A Ulrike Bahr (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7111 B Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7112 B Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7113 C Tagesordnungspunkt 30: Vereinbarte Debatte: Menschenrechte glo- bal durchsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7115 A Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 7115 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7116 A Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7117 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7119 A Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 7119 D Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 7121 A Tagesordnungspunkt 31: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kordula Schulz-Asche, Renate Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation von Opfern von Menschenhandel in Deutschland Drucksache 18/3256 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7122 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7123 A Nina Warken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7124 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 7125 C Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7126 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7127 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7128 B Susanne Mittag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7129 C Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) . . . . . 7130 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7131 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7133 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7133 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7057 (A) (C) (D)(B) 74. Sitzung Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7133 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 5.12.2014 Bleser, Peter CDU/CSU 5.12.2014 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 5.12.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 5.12.2014 Daldrup, Bernhard SPD 5.12.2014 Freitag, Dagmar SPD 5.12.2014 Gabriel, Sigmar SPD 5.12.2014 Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 5.12.2014 Jung, Xaver CDU/CSU 5.12.2014 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 5.12.2014 Kermer, Marina SPD 5.12.2014 Dr. Launert, Silke CDU/CSU 5.12.2014 Lenkert, Ralph DIE LINKE 5.12.2014 Dr. von der Leyen, Ursula CDU/CSU 5.12.2014 Liebich, Stefan DIE LINKE 5.12.2014 Lösekrug-Möller, Gabriele SPD 5.12.2014 Lutze, Thomas DIE LINKE 5.12.2014 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 5.12.2014 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 5.12.2014 Mihalic, Irene BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 5.12.2014 Mortler, Marlene CDU/CSU 5.12.2014 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 5.12.2014 Müntefering, Michelle SPD 5.12.2014 Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 5.12.2014 Post (Minden), Achim SPD 5.12.2014 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 5.12.2014 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 5.12.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 5.12.2014 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 5.12.2014 Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 5.12.2014 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 5.12.2014 Dr. Sütterlin-Waack, Sabine CDU/CSU 5.12.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 5.12.2014 Tillmann, Antje CDU/CSU 5.12.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 5.12.2014 Wanderwitz, Marco CDU/CSU 5.12.2014 Weber, Gabi SPD 5.12.2014 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 5.12.2014 Zollner, Gudrun CDU/CSU 5.12.2014 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 928. Sitzung am 28. No- vember 2014 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungs- gesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes – Drittes Gesetz zur Änderung des Agrarstatistik- gesetzes – Gesetz zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Eltern- zeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 7134 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 (A) (C) (D)(B) – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstitu- ten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/ 36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/ 2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (BRRD-Umsetzungsge- setz) Der Bundesrat hat hierzu ferner die folgende Ent- schließung gefasst: 1. a) Der Bundesrat begrüßt, dass sich die Bundes- regierung auf europäischer Ebene darum be- müht hat, die Belastungen von Landesförder- banken und Förderkrediten durch Beiträge zum Europäischen Abwicklungsfonds zu ver- meiden oder zumindest gering zu halten. b) Der Bundesrat stellt jedoch fest, dass die He- ranziehung der Landesförderbanken zu Beiträ- gen zum Europäischen Bankenabwicklungs- fonds auf der Grundlage der im delegierten Rechtsakt der Europäischen Kommission vom 21. Oktober 2014 veröffentlichten Berech- nungssystematik zu einer systemisch nicht gerechtfertigten und dem Gesichtspunkt der Risikoproportionalität grob widersprechenden Belastung der Landesförderbanken führt. c) Der Bundesrat stellt weiterhin fest, dass durch eine Heranziehung von Landesförderbanken zum einheitlichen Bankenabwicklungsfonds öffentliche Mittel der Länder im erheblichen Umfang für die Abfederung von Risiken pri- vater Geschäftsbanken verwendet werden. Der Bundesrat erkennt hierin einen Widerspruch zu der Zielsetzung der durch das vorliegende Gesetz umzusetzenden Richtlinie, zukünftig eine Belastung der öffentlichen Hand durch die Rettung von Banken zu vermeiden. d) Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich im EU-Ministerrat und im Europäi- schen Rat dafür einzusetzen, dass die Landes- förderbanken durch Beiträge zum Europäi- schen Bankenabwicklungsfonds nicht oder wesentlich geringer belastet werden als durch den delegierten Rechtsakt der EU-Kommis- sion vom 21. Oktober 2014 vorgesehen. 2. Der Bundesrat hält es für in hohem Maße proble- matisch, dass die Kreditanstalt für Wiederaufbau von der Beitragspflicht zur Europäischen Banken- abgabe befreit ist, die Förderbanken der Länder hingegen einer Beitragspflicht unterliegen. Der Bundesrat weist darauf hin, dass auf Grund des ri- sikoarmen Geschäfts und der spezifischen Eigen- tümerstruktur eine Beitragspflicht der Länderför- derinstitute unter sachlichen Gesichtspunkten in keiner Weise gerechtfertigt ist. Der Bundesrat sieht die dringende Notwendigkeit einer grundlegenden Überarbeitung der Regelun- gen zur Beitragspflicht von kleinen und mittleren Kreditinstituten. Die vorgesehenen Erleichterun- gen für kleinste Institute werden für die Mehrzahl der regional tätigen Banken in Deutschland aller Voraussicht nach keine signifikanten Entlastungen zur Folge haben und daher ins Leere gehen. Der Bundesrat weist kritisch darauf hin, dass die von der Kommission vorgesehenen Regelungen die mangelnde Systemrelevanz der kleinen und mittleren Institute und die sich daraus ergebende Folge, dass diese Institute niemals Leistungen aus dem Abwicklungsfonds erhalten werden und da- mit lediglich zur Befüllung des Abwicklungsfonds beitragen, nicht ausreichend berücksichtigen und daher unverhältnismäßig sind. Der Bundesrat lehnt Doppelbelastungen ab, die sich für die durch ihre Institutssicherungssysteme im Bestand geschützten Sparkassen und Kreditge- nossenschaften ergeben. Der Bundesrat bittet da- her die Bundesregierung, sich auf europäischer Ebene für die Festlegung differenzierterer Rege- lungen einzusetzen, die dem Proportionalitätsprin- zip entsprechen. 3. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, darauf zu achten, dass die Beitragserhebung zum euro- päischen Abwicklungsfonds zu keinen Wettbe- werbsverzerrungen führt. Er befürwortet daher eine EU-weit steuerliche Gleichbehandlung. – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 2014 über die Übertragung von Beiträgen auf den ein- heitlichen Abwicklungsfonds und über die ge- meinsame Nutzung dieser Beiträge – Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzierungsge- setzes – Gesetz zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsme- chanismus – Gesetz zur Verringerung der Abhängigkeit von Ratings – Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/ EU und weiterer Vorschriften – Zweites Gesetz zur Änderung des Mikrozensusge- setzes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes – … Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgeset- zes – Gesetz zur Durchführung des Haager Überein- kommens vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstands- vereinbarungen sowie zur Änderung des Rechts- pflegergesetzes, des Gerichts- und Notarkosten- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7135 (A) (C) (D)(B) gesetzes, des Altersteilzeitgesetzes und des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/99/EU über die Europäische Schutzanordnung und zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 606/2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutz- maßnahmen in Zivilsachen – Gesetz zur Änderung mautrechtlicher Vorschrif- ten hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes – Gesetz zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 10. November 2010 zum Europäischen Ausliefe- rungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 – Gesetz zu dem Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Zudem hat der Bundesrat in seiner 928. Sitzung am 28. November 2014 gemäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3, Satz 4 bis 6 des Standortauswahlgesetzes Staatsminister Thomas Schmidt (Sachsen) als Nachfolger des ausschei- denden Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich (Sachsen) zum Mitglied der „Kommission Lagerung hoch radioak- tiver Abfallstoffe“ und Minister Dr. Helmuth Markov (Brandenburg) als Nach- folger der ausscheidenden Ministerin a. D. Anita Tack (Brandenburg) zum stellvertretenden Mitglied der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ gewählt. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro- parates vom 25. bis 29. Juni 2012 in Straßburg Drucksachen 18/2945, 18/3108 Nr. 5 Ausschuss für Gesundheit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Gutachten 2014 des Sachverständigenrates zur Begut- achtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländli- che Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche Drucksachen 18/1940, 18/2530 Nr. 3 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Unterrichtung durch den Präsidenten des Deutschen Bun- destages Erster Bericht über die Anwendung der Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon Drucksachen 17/14601, 18/641 Nr. 25 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Umsetzung des Europäischen Semesters 2013 und der Europa 2020-Strategie unter besonderer Berücksichtigung der länderspezifischen Empfehlun- gen Drucksache 17/14622 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/822 Nr. A.7 Ratsdokument 5812/14 Drucksache 18/3110 Nr. A.1 EuB-BReg 74/2014 Drucksache 18/3110 Nr. A.3 EuB-BReg 80/2014 Drucksache 18/3110 Nr. A.5 EuB-BReg 86/2014 Innenausschuss Drucksache 18/1935 Nr. A.6 Ratsdokument 10208/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.14 Ratsdokument 10307/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.21 Ratsdokument 12315/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.22 Ratsdokument 12331/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.23 Ratsdokument 12332/14 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/3110 Nr. A.12 Ratsdokument 14028/14 Verteidigungsausschuss Drucksache 18/3110 Nr. A.13 EuB-BReg 76/2014 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 18/1935 Nr. A.15 Ratsdokument 10024/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.72 Ratsdokument 12150/14 Drucksache 18/2677 Nr. A.12 Ratsdokument 12646/14 Drucksache 18/2935 Nr. A.8 Ratsdokument 13442/14 Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 74. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 26 System der zulassungspflichtigen Handwerkerberufe TOP 27 Bundeswehreinsatz in Afghanistan (RSM) TOP 28 Stromsperren TOP 29 Vereinbarte Debatte 25 Jahre VN-Kinderrechtskonvention TOP 30 Vereinbarte Debatte Menschenrechte global durchsetzen TOP 31 Situation von Opfern von Menschenhandel Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807400000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
zu unserer Plenarsitzung.

Unser erster Tagesordnungspunkt ist der TOP 26:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Artur
Auernhammer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Sabine Poschmann, Niels
Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Der deutsche Meisterbrief – Erfolgreiche Un-
ternehmerqualifizierung, Basis für handwerk-
liche Qualität und besondere Bedeutung für
die duale Ausbildung

Drucksache 18/3317
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ganz offen-
kundig gibt es dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Poschmann für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sabine Poschmann (SPD):
Rede ID: ID1807400100

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Gütesiegel „Made in Germany“ ist ein Exportschla-
ger der deutschen Wirtschaft. Es steht für hohe Qualität
deutscher Produkte und Dienstleistungen, die weltweit
Anerkennung finden. Aber nicht nur das „Made in Ger-
many“ ist zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor
geworden. Auch unser Meisterbrief ist ein Wettbewerbs-
faktor und gleichzeitig das Fundament des Erfolges.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Er bietet jungen Menschen eine Perspektive und vermit-
telt hohe Qualifikation. Er trägt zur Fachkräftesicherung
bei und macht das Handwerk zum Innovationsmotor der
deutschen Wirtschaft. Für viele unserer europäischen
Nachbarn gilt deshalb unser duales Ausbildungssystem
als Vorzeigemodell.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die EU fordert Deutschland nun auf, die Bedingungen
für den Zugang zu bestimmten Berufen zu prüfen, um
Beschränkungen auf dem europäischen Binnenmarkt ab-
zubauen. Das heißt, dass auch der Meisterbrief zur Dis-
position steht.


(Zurufe von der SPD: Pfui!)


Schauen wir uns vor diesem Hintergrund die Effekte
der Handwerksnovelle von 2004 an, bei der ein Teil der
Gewerke von der Zulassungspflicht befreit wurde. Die
Novelle hat zwar zu einem Gründerboom im Handwerk
geführt; dies waren aber meist Kleinstbetriebe – oft So-
loselbstständige – mit geringer Wettbewerbsfähigkeit
und wenig Personal. Mehr als die Hälfte dieser Betriebe
war innerhalb von fünf Jahren wieder vom Markt ver-
schwunden. Die Ausbildung im Handwerk findet heute
zu 95 Prozent in den Gewerken statt, die meisterpflichtig
sind, und nur zu 5 Prozent in den zulassungsfreien Ge-
werken. Bevor diese Gewerke von der Meisterpflicht be-
freit wurden, wurden in ihnen erheblich mehr junge
Menschen ausgebildet. Das ist die Gefahr: Ohne Meister,
ohne fachliche Eignung sind viele Betriebe gar nicht
ausbildungsfähig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das stellt letztlich einen großen Teil unseres Ausbil-
dungssystems infrage.

7058 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Sabine Poschmann


(A) (C)



(D)(B)

Wir fordern deshalb in unserem Antrag, an unseren
Standards festzuhalten. Wir wollen dafür sorgen, dass
notwendige Harmonisierungen in einem Europa ohne
Grenzen keine Abwärtsspirale bei der beruflichen Quali-
fizierung in Gang setzen. Wenn es um den Abbau von
Zutrittsbarrieren auf dem europäischen Binnenmarkt
geht, ist der Meisterbrief für uns kein Verhandlungsge-
genstand.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es geht nicht darum, andere Modelle totzureden oder per
se zu verwerfen. Doch auch die EU muss anerkennen,
dass Deutschland neben der Novelle von 2004 bereits ei-
niges getan hat, um Wettbewerbshindernisse abzubauen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun muss es uns ge-
meinsam darum gehen, diejenigen zu stärken, die sich
hohen Standards im Sinne des Verbrauchers verpflichtet
fühlen, die Ausbildungsplätze schaffen, ihrer Verantwor-
tung für das Gemeinwohl nachkommen und dazu beitra-
gen, unseren Wohlstand zu erwirtschaften und zu sichern.
Dazu gehört weit mehr als der Erhalt des Meisterbriefes
als Zulassungsvoraussetzung. Aus diesem Grund haben
wir weitere 15 Ziele definiert, die das Handwerk und die
duale Ausbildung stärken sollen.

Ein Punkt ist der Technologietransfer. Wir müssen die
Nutzbarkeit von Produkt- und Prozessinnovationen aus
Forschung und Industrie für das Handwerk stärker unter-
stützen; denn gerade für das Handwerk sind neue Werk-
stoffe, neue Medien, neue Dienstleistungen und ein
neues Design harte Wettbewerbsfaktoren. In die Koope-
ration und den Austausch, den wir bisher zwischen
Hochschulen und Industrie gestärkt haben, muss das
Handwerk mehr einbezogen werden. Dadurch können
Kundenerfahrungen und praktische Kenntnisse in Inno-
vationen einfließen und kann das hohe Qualifikationsni-
veau im Handwerk erhalten werden. Eine wichtige Rolle
kommt hierbei den überbetrieblichen Lehrlingsunterwei-
sungen zu. Sie sind ein wichtiges Instrument im Hand-
werk, damit Technologietransfer funktioniert. Deshalb
setzen wir uns für eine dauerhafte hohe Bundesförde-
rung ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum heutigen Tag des Ehrenamtes möchte ich auf
eine weitere Forderung in unserem Antrag aufmerksam
machen, nämlich das Ehrenamt im Interesse der berufli-
chen Bildung noch stärker zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die vielen ehrenamtlichen Prüfer gemäß Berufsbildungs-
gesetz und Handwerksordnung sichern die Qualität der
Ausbildung und gewährleisten so einen stetigen Nach-
schub an Fachkräften. Der DGB geht von 15 Millio-
nen Euro aus, die Arbeitnehmervertreter im Handwerk
durch ihre Tätigkeit an Nettonutzen für Kammern und
Innungen erarbeiten. Bei diesem Nutzen sollten wir auch
an die Qualifizierung der Ehrenamtlichen denken und
ein entsprechendes Förderangebot bereitstellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Allein im Handwerk wurden im letzten Jahr über
100 000 Gesellen- und Abschlussprüfungen abgenommen.
Es ist meist nicht die geringe Aufwandsentschädigung
oder die Freistellung, die ihr Engagement bestimmen, son-
dern es ist die Anerkennung – unsere Anerkennung –
und der eigene Qualifikationserhalt, der sie antreibt, sich
ehrenamtlich auf diesem Gebiet zu betätigen. Den ehren-
amtlichen Prüfern, aber auch den vielen Ehrenamtlichen
in den Vollversammlungen und Ausschüssen der Kam-
mern sage ich am heutigen Tag des Ehrenamtes von die-
ser Stelle ein herzliches Dankeschön.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Stärkung der Sozialpartnerschaft und der Tarif-
bindung ist eine weitere wichtige Forderung in unserem
Antrag. Sie sind in Deutschland von großer Bedeutung,
haben sie doch in der Vergangenheit für Konsens gesorgt
und sind wesentliche Faktoren für den Erfolg der deut-
schen Wirtschaft. Angesichts des drohenden Fachkräfte-
mangels ist es besonders wichtig, gemeinsame Anreize
für potenzielle Auszubildende und Fachkräfte zu schaf-
fen. Gute Arbeitsbedingungen, gerechte Bezahlung sowie
gute Übernahme- und Aufstiegschancen sind notwendig,
um im Wettbewerb mit anderen Branchen Fachkräfte
langfristig an sich zu binden. Mit dem Gesetz zur Stär-
kung der Tarifautonomie haben wir einen großen Schritt
in diese Richtung geschafft.


(Beifall bei der SPD)


Doch wir sehen weiteren Handlungsbedarf für Innungen
und Verbände, um Instrumenten der Tarifflucht zu be-
gegnen. Zum Beispiel sollten Mitgliedschaften ohne Ta-
rifbindung grundsätzlich ausgeschlossen sein.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Koalitions-
antrag ist Teil einer mittelstandsfreundlichen Politik, die
wir in dieser Legislaturperiode ganz oben auf die
Agenda setzen. Er ist ein weiterer Eckpfeiler auf unse-
rem Weg, Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und
Beschäftigung in der mittelständischen Wirtschaft auf
Dauer zu sichern und zu stärken. Lassen Sie uns gemein-
sam daran arbeiten, dass Handwerksbetriebe auch in Zu-
kunft anspruchsvollen Qualitätsstandards gerecht wer-
den und dass das bestehende duale Ausbildungssystem
auf hohem Niveau fortgeführt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der „Meister“, meine Damen und Herren, muss eines
der Qualitätsmerkmale Deutschlands bleiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807400200

Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7059


(A) (C)



(B)


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807400300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist gut, dass wir diesen Antrag hier behan-
deln. Es ist auch gut, dass wir das Handwerk würdigen.
Vieles in Ihrem Antrag können wir mittragen, insbeson-
dere die Kritik an der Handwerksnovelle 2004, die eben
auch zum Ausdruck kam. Es freut mich sehr, dass es da
wohl einen Meinungsumschwung bei den Sozialdemo-
kraten gab. Daher ein kurzer Rückblick.

Worum ging es damals? Ich habe es in den alten Pro-
tokollen mit Freude nachgelesen und festgestellt: Das
war ja die Zeit, in der Rot-Grün alles deregulieren wollte
und auch vieles davon umgesetzt hat – von der Arbeit
bis zu den Finanzmärkten. Auch die Handwerksordnung
blieb damals nicht ausgenommen. Es war der heute von
Ihnen nicht mehr so geliebte Herr Clement, der ja aus
der Partei ausgeschieden ist – nach mehreren Ausschluss-
anträgen ist er ausgetreten –, der 2004 diese Novelle be-
gründet hat.

Wie war der Zustand bis 2004? Bis 2004 war es üb-
lich, dass man für das Betreiben eines Handwerksbe-
triebs einen Meisterbrief brauchte. Übrigens war die
CDU/CSU damals mit der Reform nicht einverstanden;
sie hatte eine andere Haltung. Ich fand das gut, als ich
das in den Protokollen gelesen habe.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir waren überhaupt gut!)


Mit der gesetzlichen Änderung wurde für mehr als die
Hälfte der Gewerke die Meisterpflicht als Voraussetzung
für das Betreiben eines Handwerksbetriebs abgeschafft.
Heute ist für viele Bereiche nicht einmal mehr ein Gesel-
lenbrief notwendig. Einige Beispiele und Blüten: Ein
Maler und Lackierer braucht bis heute einen Meister-
brief, ein Fliesenleger nicht. Ebenfalls muss ein Fein-
werkmechaniker Meister sein, ein Uhrmacher nicht. Ein
Schuhmacher muss kein Meister sein, ein Orthopädie-
schuhmacher schon. Ein Friseur muss Meister sein – das
gilt natürlich auch für Friseurinnen –, ein Feinoptiker
nicht. – Welchen Unfug haben Sie damals eigentlich be-
schlossen?


(Beifall bei der LINKEN)


Bis heute sind die betroffenen Menschen, die Handwer-
ker, über diese Entwicklung stinksauer, und zwar zu
Recht, weil es absolut unlogisch ist.

Meine Damen und Herren, es war nicht alles schlecht:
Langjährige Berufserfahrung wurde aufgewertet, und das
Inhaberprinzip, nach dem der Inhaber des Betriebes un-
bedingt auch Meister sein musste, wurde mit der Novelle
abgeschafft. Aber im Kern haben Sie – das betrifft die
SPD, aber auch die Grünen, die damals mit im Boot wa-
ren – mit diesem Gesetz das Handwerk und damit auch
die qualifizierte Ausbildung massiv geschwächt. Diesen
Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen.


(Beifall bei der LINKEN)


Heute haben die Kunden, die einen Handwerker be-
auftragen, nicht mehr die Gewähr, dass sie einen ausge-
bildeten Fachmann bekommen. Wir stimmen ausdrück-
lich mit Ihrem Antrag überein: Der Erfolg der dualen
Ausbildung im Handwerk hängt mit der Meisterqualifi-
kation zusammen. In Ihrem Antrag schreiben Sie – las-
sen Sie mich daraus zitieren –:

… die Zahl der Gesellenprüfungen im nicht mehr
meisterpflichtigen Fliesen-, Platten- und Mosaikle-
gerhandwerk ging von 1.665 im Jahr 2003 auf 658
im Jahr 2010 zurück. … die Zahl der Meisterprü-
fungen von 557 auf 84.

Selbstverständlich hat das Auswirkungen auf die er-
brachte Arbeit.

Sie halten in Bezug auf die Handwerksnovelle auch
fest – ich zitiere –, „dass Deregulierung nicht zwangs-
läufig zu einem Wachstumsschub und … mehr Beschäf-
tigung führt“. Ich wiederhole es, weil es so schön ist:
Deregulierung führt nicht zwangsläufig zu einem
Wachstumsschub und mehr Beschäftigung. – Das gilt al-
lerdings nicht nur für das Handwerk; das gilt auch für
andere Bereiche.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sollten sich den Satz aus Ihrem Antrag wirklich zu
Gemüte führen.

2003 forderten Sie noch für die meisterfreigestellten
Gewerke – ich zitiere –:

Zumindest … müssen die Gesellenprüfung und die
Ausbildereignungsqualifikation nachgewiesen wer-
den.

Sie forderten eine Revisionsklausel. Alle sieben Jahre
sollte die geltende Liste der Meisterberufe überprüft
werden. Seit 2005 ist die CDU/CSU mit an der Macht.
Was ist mit Ihren Forderungen von damals? Ich hätte
mich gefreut, wenn Sie in Ihren Antrag die Forderung
aufgenommen hätten, die Liste zu überprüfen oder das
zu revidieren. Aber nein, das bleiben Sie in Ihrem An-
trag schuldig. Einen entsprechenden Antrag von uns ha-
ben Sie abgelehnt.

Dabei gibt es seit 2004 viele offene Fragen, die da-
mals auch hier im Bundestag diskutiert worden sind. Ei-
nige davon möchte ich Ihnen noch einmal stellen: Wie
viele der nicht mehr meisterpflichtigen Gewerke werden
noch von einem Meister geführt? Hat die Freiwilligkeit,
einen Meister zu machen, irgendeine Auswirkung ge-
habt? Wie wirkt sich die Novelle auf die Ausbildungs-
leistung aus? Wie wirkt sich die Novelle auf die Qualität
der Arbeit aus? Wie wirkt sich die Novelle auf die Be-
schäftigung und insbesondere auf die sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung aus? – Alle diese Fragen
stehen im Raum. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie in Ih-
rem Antrag ein Stück weit in diese Richtung diskutiert
hätten.

Ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren: Wer
den Meisterbrief verteidigen will, tut das am besten, in-
dem er innerhalb der Organisation des Handwerks, den
Handwerkskammern, für demokratische Zustände sorgt.
Auch das erhöht die Glaubwürdigkeit gegenüber der Eu-
ropäischen Union. Da haben wir einen Nachholbedarf;
das wissen Sie. Man braucht nur die Presse zu lesen, um
zu wissen, was da zum Teil intern los ist.

(D)


7060 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

In Ihrem Antrag fordern Sie von der Bundesregie-
rung, also eigentlich von sich selber, das Handwerk vor
dem Zugriff der Europäischen Union zu schützen. Rich-
tig; das teilen wir völlig. Aber was ist denn, wenn die
internationalen Handelsabkommen CETA und TTIP tat-
sächlich kommen? Können Sie ausschließen, dass die
Handwerksordnung im Rahmen dieser Handelsabkom-
men nicht als klassische Marktzugangsschranke für
Amerikaner und Kanadier gewertet wird? Können Sie
ausschließen, dass die verbleibenden 41 Gewerke, für
die ein Meisterbrief und damit eine vernünftige Qualifi-
kation im Interesse der Kunden erforderlich ist, nicht
auch als Handelsschranke angesehen werden? – Meine
Damen und Herren, das können Sie nicht. Trotzdem be-
fürworten Sie diese Handelsabkommen. Das ist ein Pro-
blem. Darüber müssen Sie einmal nachdenken.

Meine Damen und Herren, Sie promoten eine mög-
lichst weitgehende Liberalisierung und Deregulierung
und wundern sich am Ende, dass genau diese Liberali-
sierung und Deregulierung den Meisterbrief und andere
Standards gefährden. So gut Ihr Antrag auch gemeint
sein mag: Ihre Politik geht nach dem Motto „Mitma-
chen, um Schlimmeres zu verhindern“, „Das haben wir
nicht gewollt“ und zum Schluss „Wie konnte es dazu
kommen?“.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


Ich hoffe, dass Sie bezüglich der Handelsabkommen
noch einmal darüber nachdenken.

Meine Damen und Herren, Ihr Antrag geht in die rich-
tige Richtung. Er wäre glaubwürdiger und meines Er-
achtens für das Handwerk erfolgreicher, wenn Sie versu-
chen würden, den Unsinn von 2004 zu korrigieren. Sie
von der CDU/CSU wollten das damals. Inzwischen sind
Sie mit der SPD in einer Koalition. Die machen sicher
mit.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807400400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt die Kollegin

Lena Strothmann das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Lena Strothmann (CDU):
Rede ID: ID1807400500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Verachtet

mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“, so heißt
es in den Meistersingern von Nürnberg. Dieser Aufruf
begleitet das Handwerk nun schon fast 150 Jahre, und er
hat an Bedeutung nicht verloren. Im Gegenteil: Er ist ak-
tueller denn je, würde ich sagen; denn gerade jetzt fährt
die EU-Kommission in Brüssel einen Frontalangriff auf
das deutsche Meisterhandwerk.

Meine Damen und Herren, der Meisterbrief ist die Er-
folgsgeschichte des Handwerks. Trotzdem, muss ich sa-
gen, fehlt mir manchmal seine gesellschaftliche Aner-
kennung und Wertschätzung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der Meisterbrief ist wesentlich mehr als nur ein Zertifi-
kat. Er ist das Markenzeichen des deutschen Handwerks.
Er steht für hochwertige Qualifizierung, für fachliches
Können, für ausgezeichnete Produkte und Dienstleistun-
gen und vor allen Dingen für Ausbildung und hochquali-
fizierten Nachwuchs.

Was macht den Meisterbrief eigentlich so erfolgreich?
Es ist die Qualifizierung an unseren Meisterschulen.
Hier erhält der Handwerker das erforderliche Rüstzeug
zum erfolgreichen Unternehmertum: betriebswirtschaft-
liche, kaufmännische und rechtliche Kenntnisse. Eine
Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsfor-
schung hat ergeben: 40 Prozent der Betriebe ohne
Meister sind nach fünf Jahren insolvent, weil die Inhaber
in dem jeweiligen Bereich nicht die nötigen Kenntnisse
haben. Die Meisterbetriebe dagegen sind insolvenzfest.

Zum Erfolg gehört natürlich auch die fachliche Kom-
petenz, das Können und Wissen des Meisters. Das ist die
Basis für hohe Qualität der Dienstleistungen und Pro-
dukte. Das garantiert vor allen Dingen hohen Verbrau-
cherschutz, und zwar mit großem Erfolg; denn das welt-
weit anerkannte „Made in Germany“ wird entscheidend
auch vom deutschen Handwerk geprägt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hierzulande vertrauen die Verbraucher auf das Können
der Meister.

Die Meisterschule sorgt aber nicht nur für die Kompe-
tenz des Meisters. Sie macht ihn vor allen Dingen zum
Ausbilder und zur Führungsperson. Ohne Ausbilder gibt
es keinen Nachwuchs, und ohne Nachwuchs gibt es
keine Fachkräfte. Nur gut ausgebildete Leute können ihr
Wissen weitergeben. Deshalb sind es mit 95 Prozent vor
allen Dingen die Meisterbetriebe, die ausbilden. In über
130 Gewerken bilden Handwerksbetriebe in Deutsch-
land rund 400 000 junge Menschen aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Ausbildungsquote liegt bei 8 Prozent. Das ist ein
Spitzenwert. Damit ist sie im Vergleich zu Handel und
Industrie immerhin doppelt so hoch. Darauf kann das
deutsche Handwerk stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Poschmann [SPD])


Auch andere profitieren von unseren gut ausgebilde-
ten Fachkräften. Viele Auszubildende arbeiten nach der
Lehre in anderen Wirtschaftsbereichen. Damit leistet das
Handwerk einen großen Beitrag zur Fachkräftesicherung
der gesamten deutschen Wirtschaft und zur Verringerung
der Jugendarbeitslosigkeit. Diese Quote bei uns liegt bei
7,8 Prozent. Sie ist immer noch zu hoch; aber es ist die
niedrigste in ganz Europa.

Viele andere Mitgliedstaaten beneiden uns um unser
Ausbildungssystem. Die EU-Kommission empfiehlt die
duale Ausbildung den Ländern mit hoher Jugendarbeits-
losigkeit sogar als „best practice“. Auf der anderen Seite

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7061

Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)

will sie den Meisterbrief als Voraussetzung für Selbst-
ständigkeit abschaffen. Im Rahmen der Transparenzini-
tiative werden im Augenblick alle reglementierten Be-
rufszugänge in den Mitgliedstaaten überprüft; im Übrigen
hat Deutschland nicht die meisten reglementierten Be-
rufszugänge. Ziel der Kommission ist der vollendete
Binnenmarkt. Durch den Abbau der Reglementierung
sollen in Europa mehr Wachstum und mehr Arbeits-
plätze entstehen. Das ist ein gutes Ziel, aber zu kurz ge-
dacht, eine falsche Harmonisierung um jeden Preis. Ich
sage: keine Meister, kein Nachwuchs.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben in Deutschland nach der Handwerksno-
velle 2004 schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Auch
damals ging es um mehr Wachstum und mehr Arbeits-
plätze. Und was ist passiert? Eine fatale Abwärtsspirale
wurde in Gang gesetzt. Nachdem 53 Handwerksberufe
zulassungsfrei wurden, gab es zwar viele Existenzgrün-
der – leider zum großen Teil nur Einmannbetriebe –,
aber die konnten sich, jedenfalls die meisten, nicht lange
am Markt halten.

Eine Studie des Volkswirtschaftlichen Instituts für
Handwerk und Mittelstand belegt: Fünf Jahre nach
Gründung waren 60 Prozent dieser Betriebe vom Markt
verschwunden. Aber das Schlimmste ist: In diesen Ge-
werken wird nicht ausgebildet. Im Zeitraum von 2003
bis 2010 ging die Zahl der Gesellenprüfungen im Flie-
senlegerhandwerk von 1 665 auf 658 zurück. Die Zahl
der Meisterprüfungen sank im gleichen Zeitraum von
557 auf 84. – Nun fehlt uns der Nachwuchs an allen
Ecken und Enden. Das darf sich in Deutschland nicht
wiederholen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb gilt nach wie vor: Wer den Meisterbrief an-
greift, legt gleichzeitig die Axt an unser erfolgreiches
Ausbildungssystem an. Das muss auch Brüssel begrei-
fen. Der Meisterbrief und die duale Ausbildung gehören
zusammen.

Es ist ein harter Kampf mit der Kommission. Die
Kommission sagt zwar, die Überprüfung sei ergebnis-
offen; aber bei einem Prozess, der über zwei Jahre ange-
legt ist, kann ich das, ehrlich gesagt, nicht ganz glauben.
Ich bin trotzdem optimistisch; denn wir haben gute Ar-
gumente und vor allen Dingen gute Leute in den Cluster-
Gesprächen vor Ort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vor allen Dingen bin ich dankbar, dass wir hier, in die-
sem Hohen Hause, bei diesem Thema eine Allianz ha-
ben.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: In der Koalition!)


Wir haben im Koalitionsvertrag klare Aussagen getrof-
fen. Auch der Bundesrat hat sich entsprechend positio-
niert. Das sind starke Signale an Brüssel.
Für mich ist im Übrigen noch die Frage der Subsidia-
rität zu klären. Hierzu sage ich ganz deutlich: Der Meis-
terbrief und die berufliche Bildung sind nationale Ange-
legenheiten. Ich bin überzeugte Europäerin, sage aber:
Europa wird nicht wettbewerbsfähiger, wenn wir in
Deutschland unsere erfolgreichen Standards aufgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zur Wahrheit gehört auch: Nicht die Kommission al-
lein macht der dualen Ausbildung zu schaffen; wir sägen
selber an unseren Grundpfeilern. Aus demografischen
Gründen sinken die Schülerzahlen ständig, und darum
sinken automatisch auch die Auszubildendenzahlen.
Aber nicht nur die Demografie ist schuld daran, dass uns
immer mehr Auszubildende fehlen. Gleichzeitig steigt
die Zahl der Abiturienten und Studierenden rasant an. Im
Jahr 2000 sind noch ein Drittel der Schulabgänger an die
Unis gegangen und zwei Drittel in die berufliche Bil-
dung. 2020 wird es genau umgekehrt sein. So sagen es
jedenfalls Prognosen. Wenn wir einmal genau überlegen,
stellen wir fest: Bis 2020 ist es nicht mehr lange hin.

Ich frage mich: Wo sollen eigentlich unsere Fach-
kräfte herkommen? Natürlich muss sich die Wirtschaft
intensiver um ihren Nachwuchs kümmern; das ist keine
Frage, schließlich steht die Existenz unserer Betriebe auf
dem Spiel. Aber nicht nur die Wirtschaft ist gefordert,
sondern wir alle. Wir brauchen ein neues Bildungsver-
ständnis. Auf dem Papier sind Meister und Bachelor
gleich. Aber die Wirklichkeit sieht, wenn wir ehrlich
sind, anders aus. Für viele Schulabgänger, Eltern und
Lehrer ist die duale Ausbildung nur zweite Wahl. Diesen
Trend hat Professor Nida-Rümelin treffend als Akademi-
sierungswahn bezeichnet. Ich sehe das auch so. Dieser
Trend ist gefährlich für unser Land. Die duale Ausbil-
dung ist der Lebensnerv und der Erfolgsgarant für die
gesamte mittelständische Wirtschaft. Wenn uns heute die
Auszubildenden fehlen, dann fehlen uns morgen die
Fachkräfte. Hier steht also nicht nur die Zukunft des
Handwerks auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unse-
res Landes, um Wachstum und Wohlstand.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Situation muss sich ändern – ich glaube, es ist
schon fünf nach zwölf –, sonst werden wir die großen
Zukunftsaufgaben wie die Energiewende oder die Digi-
talisierung nicht meistern können. NAPE können wir
dann auch gleich einstampfen; denn die Gebäudesanie-
rung ist ohne das Handwerk nicht zu machen. Deshalb
fordere ich ganz klar: Wir brauchen mehr Meister statt
Master.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die berufliche Bildung muss stärker gefördert wer-
den. Wir haben viel Geld in den Hochschulpakt und die
Exzellenzinitiative gesteckt. Ich sage: Wir brauchen Ex-
zellenz in der beruflichen Bildung. Es muss in die Köpfe
der Lehrer, Eltern und Schüler: Ein Studium ist nicht im-
mer der Königsweg. 30 Prozent brechen ihr Studium an
einer Universität ab, Tendenz steigend. Da läuft doch et-
was schief. Vor allen Dingen schützt ein Universitätsab-
schluss nicht unbedingt vor schlechter Bezahlung; auch

7062 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)

das muss einmal gesagt werden. Wir haben viele junge
Akademiker, die die Hälfte von dem verdienen, was
heute ein Elektromeister oder ein Installateurmeister ver-
dient.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das stimmt! Das ist richtig!)


Leider setzen sich noch zu wenige Menschen mit den
einzelnen Berufsbildern im Handwerk auseinander, ge-
rade am Gymnasium. Da muss in Sachen Berufsorientie-
rung mehr getan werden. Hier sind die Länder gefragt.
Laut einer Studie der Vodafone-Stiftung fühlt sich nur
gut die Hälfte der Schüler über ihre Möglichkeiten aus-
reichend informiert. Das ist deutlich zu wenig. Viele
wissen gar nicht, was das Handwerk bietet: mehr als
130 Ausbildungsberufe. Das Handwerk ist innovativ,
das Handwerk ist kreativ, und das Handwerk ist vor allen
Dingen Hightech. Vergessen Sie einfach einmal die Bil-
der von schmutzigen Kfz-Werkstätten und verschmier-
ten Schraubern in Blaumännern. Vergessen Sie die Elek-
triker, die die Kabel im Haus verlegen. Heute müssen
Installateure und Elektriker auf Knopfdruck Gebäude
automatisieren. Das nennt man Smart Home.

Zu unseren Hochqualifizierten – davon bin ich fest
überzeugt – gehören nicht nur unsere Akademiker, son-
dern auch die Techniker und Meister.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das müssen auch Eltern, Lehrer und Schüler begrei-
fen. Das Handwerk bietet viele individuelle Karriere-
möglichkeiten, von der Ausbildung über das Studium bis
hin zur Chance, ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Wir haben die Durchlässigkeit im Handwerk. Nur, viele
wissen das noch nicht. Auch wir hier im Hohen Hause
müssen umdenken.

Ich bin fest davon überzeugt: Bildungspolitik ist
knallharte Wirtschaftspolitik. Ohne Fachkräfte läuft in
Deutschland bald nichts mehr. Deshalb müssen wir alle
Potenziale für die berufliche Bildung nutzen: Wir müs-
sen die Studienabbrecher gewinnen. Ich finde, das ist
eine gute Initiative von Ministerin Wanka. Außerdem
haben wir jedes Jahr 50 000 Jugendliche, die die Schule
ohne Abschluss verlassen. Auch die müssen wir auffan-
gen. Hier schlummern unentdeckte Talente. Wir sind si-
cherlich mit der assistierten Ausbildung auf dem richti-
gen Weg.

Lassen Sie mich zum Schluss aber noch sagen: Die
Wirtschaft ist kein Reparaturbetrieb für schulische Defi-
zite. In den Schulen muss mehr getan werden. Rechnen,
Schreiben und Lesen kann man wohl von den Schülern
verlangen, wenn sie einen Abschluss haben.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Der Fachkräfte-
mangel ist eine der größten Herausforderungen unserer
Zeit. Aber es ist noch kein Meister vom Himmel gefal-
len. Deswegen heißt es jetzt gemeinsam anpacken.

Gott schütze das ehrbare Handwerk.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807400600

Thomas Gambke ist der nächste Redner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Feststel-
lung muss ich am Anfang treffen, nachdem wir Ihren
Antrag gelesen haben.


(Der Redner hält ein Schriftstück hoch)


Die gelb markierten Stellen stammen original vom Zen-
tralverband des Deutschen Handwerks.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie haben Ihren gelben Stift wiedergefunden!)


Dieses Papier ist auf den Februar dieses Jahres datiert.
Ich habe diese Stellen markiert. Sie haben wörtlich an
15 Stellen Textpassagen übernommen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Ist das denn falsch oder richtig? – Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD]: Wo ist das Problem?)


Wie das bei Plagiaten so ist, Herr Oppermann: Das Ab-
schreiben ehrt den Autor, aber nicht den Plagiator.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


180 Abgeordnete von Ihnen haben unterschrieben;
ich halte es für ein Trauerspiel,


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Irgendein Haar in der Suppe müssen Sie ja finden!)


dass Ihnen wirtschaftspolitisch nichts anderes einfällt,
als Verbandspositionen eins zu eins in einen Antrag des
Deutschen Bundestages zu übernehmen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wenn sie doch gut sind, kann man es doch machen!)


Ich finde: Das ist unserem Parlament unwürdig, und ich
hoffe, dass dieser Antrag in dieser Art und Weise keine
weitere Lesung erfährt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, wir alle hier im Haus unterstützen das
Handwerk. Aber wenn wir das Handwerk, den Meister-
brief und die duale Ausbildung stärken wollen, dann
müssen wir uns doch kritisch mit dem Thema auseinan-
dersetzen. Klar, es heißt: Stärken stärken, aber wir müs-
sen gleichermaßen die Schwächen identifizieren und
nach Möglichkeit ausbügeln.

Stillstand ist Rückschritt, meine verehrten Kollegin-
nen und Kollegen von der Regierungsbank, und genau
dieser Rückschritt wird durch dieses Plagiat dokumen-
tiert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7063

Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

Gerade im Forderungskatalog, in dem die Themen ange-
sprochen werden, in einem Bereich, in dem wir Weiter-
entwicklung brauchen, bleiben Sie vollkommen nebulös
und machen keinerlei konkrete Vorschläge.

Erstes Beispiel. Sie fordern unter Punkt 4 – ich zitiere –,
„den Technologietransfer … aus Forschung … ins Hand-
werk … zu unterstützen …“ Ja, wie denn? Wollen Sie
die steuerliche Forschungsförderung für das Handwerk
einführen? Wollen Sie am Gewährleistungsrecht – da
sollte man einmal hinschauen – etwas verändern? Wol-
len Sie sich endlich einmal dem wirklich drängenden
Problem der steigenden Komplexität der Technologien
und Materialien im Handwerk zuwenden?

Gehen Sie einmal vor Ort, und sprechen Sie mit den
Handwerkern, gerade mit denen, die in dem wichtigen
Bereich der energetischen Sanierung arbeiten! Von de-
nen hören Sie durchaus Kritik an der geringen Reak-
tionsgeschwindigkeit der Kammern, nämlich wenn es
darum geht, was der Schreiner machen darf, was der
Trockenbauer machen darf und was der Installateur ma-
chen darf.

Ich kann nur sagen: Wer sich so ignorant gegenüber
dem, was sich draußen abspielt, verhält, wie Sie es mit
diesem Antrag tun, der verdient nicht nur wegen Ab-
schreibens eine Sechs, sondern auch wegen Arbeitsver-
weigerung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweites Beispiel. Sie wollen das Streben nach Selbst-
ständigkeit unterstützen. Wie denn? Einen konkreten
Vorschlag sucht man vergebens.

Es ist schon unglaublich, was Sie hier vorlegen, und
ich glaube nicht, dass die Handwerker mit diesem – ge-
statten Sie mir diesen Ausdruck – Politikergeschwätz et-
was anfangen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Poschmann [SPD]: Doch, das haben sie schon gesagt! Positiv!)


Sie stellen sich auch nicht den im europäischen Kon-
text durchaus gegebenen kritischen Punkten. Frau
Strothmann, Sie nehmen mehrfach kritisch Bezug auf
die Initiative der Kommission, aber eigentlich schüren
Sie damit indirekt Unsicherheit und Vorurteile im Hand-
werk gegenüber der Europäischen Union.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ein Quatsch! Dummes Zeug!)


Nach Ludwig Erhard ist Wirtschaft zu 50 Prozent
Psychologie, und genau hier gehen Sie in die falsche
Richtung. Ich will das einmal klar sagen: Ich begrüße es,
dass die Kommission über Berufszugangsvoraussetzun-
gen an dieser Stelle Transparenz schafft


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Aha, jetzt haben wir es verstanden! – Sabine Poschmann [SPD]: Aha!)


und uns vor Augen führt, dass unsere Regulierung mit-
unter ein Problem sein kann – auch für Handwerkerin-
nen und Handwerker.
Ich will Ihnen ein aktuelles Beispiel nennen: Ein Me-
tallbauer mit zehn Jahren Berufserfahrung will Surfbret-
ter bauen. Er geht zur Handwerkskammer und bekommt
dort zu hören, ohne eine Meisterausbildung im Bootsbau
könne er keine Surfbretter entwickeln und bauen. Insbe-
sondere die Gefahr für Dritte sei zu hoch. Zehn Jahre
Berufserfahrung reichten nicht aus. Er müsse 25 Jahre
Berufserfahrung nachweisen.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist ja ein richtiges Praxisbeispiel!)


Diese Geschichte klingt amüsant, sie ist aber leider
wahr, und deshalb in hohem Maße gefährlich und trau-
rig. Jungen Menschen wird der Weg in die Selbstständig-
keit verwehrt,


(Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD]: Soll er doch den Meisterbrief machen!)


obwohl objektiv keinerlei Gründe vorliegen, dies zu
rechtfertigen. Hier bleibt die Innovation auf der Strecke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Gabriel ist mit 120 Personen und großem Getöse
nach Kalifornien gereist, um Innovationen auf die Spur
zu kommen, und nicht, um Surfbretter einzukaufen. Ich
befürchte auch, er würde untergehen, auch wenn sie von
einem Handwerksmeister mit 25 Jahren Berufserfahrung
hergestellt worden wären.

Der Hinweis der Handwerkskammer ist hier aber
schon interessant: Der Mann könne ja Surfbretter ver-
kaufen, die er aus dem Ausland – vielleicht aus Kalifor-
nien – importiert.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen Sie doch einmal etwas mit Schneidebrettern und Pyramiden!)


Die Lösung soll also sein: Er soll ins Ausland gehen und
dort etwas kaufen, anstatt hier in Deutschland zu produ-
zieren. Das kann und darf nicht die Folge unserer Meis-
terpflicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bekenne mich klar zur Meisterpflicht, und ich
teile auch die Kritik an einigen – nicht an allen – Dere-
gulierungen des Jahres 2003.


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auf der anderen Seite darf es aber keine dogmatischen
Regeln geben, die Innovationen verhindern. Das ist
durchaus ein Spannungsfeld – gar keine Frage –, aber
ich hätte hier erwartet, dass Sie liefern und nicht ab-
schreiben, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt weitere Entwicklungen im Handwerk, auf die
wir dringend Antworten brauchen. Ich habe es schon ge-
nannt: Immer wieder kommt es bei der Anwendung
komplexer Technologien zu Abgrenzungsproblemen bei
den Gewerken und zu jahrelangen Blockaden, wenn die
Arbeitsumfänge nicht geklärt werden, und wir haben das

7064 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

Problem der Gewährleistung bei Materialien, die einge-
setzt werden.

Zu diesen Punkten finde ich nichts in Ihrem Antrag.
Auch hier wäre es dringend an der Zeit, bestehende
Strukturen zu überdenken und weiterzuentwickeln.

Letztlich schreiben Sie in Ihrem Antrag nichts ande-
res, als dass Sie bestehende Strukturen schützen wollen.
Das ist einfach zu wenig. Es wäre Ihr Job gewesen, hier
konkrete Vorschläge vorzulegen. Ich hoffe, dass das im
Gespräch mit dem Handwerk gelingt.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807400700

Für die Bundesregierung erhält nun die Parlamentari-

sche Staatssekretärin Iris Gleicke das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


I
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1807400800


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim Meisterbrief, bei der dualen Ausbildung und bei
der Selbstverwaltung der Wirtschaft handelt es sich um
gewachsene Strukturen, die ihre Tragfähigkeit unter Be-
weis gestellt haben. Sie machen den Mittelstand in
Deutschland so stark, wie er ist.

Wenn wir sagen, dass der Meisterbrief ein Eckpfeiler
unserer Wirtschaft ist und dass wir an der Meisterpflicht
festhalten, dann ist das alles andere als ein Lippenbe-
kenntnis. Wir sagen das aus der inneren Überzeugung
heraus, dass die Meisterpflicht nicht nur für das Hand-
werk, sondern auch für unsere Wirtschaft und für unsere
Zukunft unverzichtbar ist.

Auch in Zukunft werden die Meister nicht vom Him-
mel fallen. Unser duales System, unsere berufliche Aus-
und Weiterbildung sind die Basis für unsere Zukunfts-
und Wettbewerbsfähigkeit. Das gilt, Kollege Gambke,
eben auch für die Kammern und die Zwangsmitglied-
schaft. Es ist nämlich so, dass die Grünen bei weitem
nicht der Meinung sind, dass das das richtige System ist.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP auch nicht! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch! Wir haben einen ganz anderen Beschluss!)


Es gibt einen inneren Zusammenhang, die Kammern
einzubeziehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben europaweit die geringste Jugendarbeitslo-
sigkeit. Es ist auch kein Zufall, dass man in vielen Län-
dern durchaus mit einem gewissen Neid auf unsere duale
Ausbildung blickt.


(Zuruf von der CDU: So ist es!)


Das Handwerk bietet jungen Menschen Chancen und be-
rufliche Perspektiven. Der Grund ist einfach: In der be-
ruflichen Bildung sind Theorie und Praxis optimal mitei-
nander verzahnt. So können die Jugendlichen frühzeitig
in die Arbeitswelt integriert werden.

Herzstück der dualen Ausbildung sind die kleinen und
mittleren Unternehmen. Sie stellen nicht nur zwei von
drei Arbeitsplätzen in der deutschen Wirtschaft, sondern
auch vier von fünf Ausbildungsplätzen. In über 130 Ge-
werken bilden Handwerksbetriebe rund 400 000 junge
Menschen aus. Jährlich werden rund 120 000 neue Aus-
bildungsverträge geschlossen.

Im Jahr 2012 waren 11 Prozent der sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigten im meisterpflichtigen Hand-
werk Auszubildende. Die Ausbildungsquote war damit
mehr als doppelt so groß wie in der übrigen Wirtschaft.

Diejenigen, die das immer noch nicht davon über-
zeugt, dass es uns hier nicht um bloße Besitzstandswah-
rung für das Handwerk geht, sollten sich einmal genauer
ansehen, welchen Beitrag das Handwerk zur Fachkräfte-
sicherung leistet. Über 60 Prozent, also mehr als die
Hälfte der Ausgebildeten, wandern später als qualifi-
zierte Fachkräfte in andere Wirtschaftsbereiche ab. Frau
Strothmann hat schon darauf hingewiesen.

Das lässt doch wohl nur einen Schluss zu: Die duale
berufliche Bildung im Handwerk ist für unsere gesamte
Wirtschaft von existenzieller Bedeutung.

Meine Damen und Herren, aber es geht hier nun wirk-
lich nicht nur um wirtschaftliche Interessen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807400900

Frau Gleicke, darf die Kollegin Andreae eine Zwi-

schenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?

I
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1807401000


Aber gerne.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die ist nachher noch dran!)



Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807401100

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Ich bin tatsäch-

lich nachher noch einmal dran. Das wird mir dann nach-
her nicht von der Redezeit abgezogen.

Ich wollte Sie nur bitten, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die grüne Partei und die grüne Fraktion sich sehr
eindeutig zum Kammerwesen bekennen und auch gesagt
haben, dass das ein notwendiges Instrument in unserer
wirtschaftspolitischen Gesamtheit ist. Es gibt von uns
ein klares Bekenntnis zur Kammermitgliedschaft. Ich
möchte Sie bitten, dies zur Kenntnis zu nehmen und zu-
künftig auch so zu referieren.

I
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1807401200


Ich nehme das gerne zur Kenntnis, auch als Bekennt-
nis. Sie haben dieses Thema in dieser Woche durchaus
mit einer eigenen Veranstaltung auf die Tagesordnung
gesetzt. Insofern wollen wir einmal schauen, was mit

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7065

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)

dieser Veranstaltung dann wird und ob es bei diesem Be-
kenntnis bleibt.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kritische Auseinandersetzung!)


Ich nehme das aber gerne für heute zur Kenntnis. Danke.

Meine Damen und Herren, ich will das noch einmal
sagen: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interessen,
sondern es geht um die Zukunft der jungen Leute. Eine
gute Ausbildung bietet nach wie vor den besten Schutz
vor Arbeitslosigkeit. Eine gute Ausbildung schafft gute
Perspektiven für diejenigen, die nicht mit einem silber-
nen Löffel im Mund auf die Welt gekommen sind.

Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern,
dass wir in letzter Zeit immer wieder über Integration
gesprochen haben, nicht zuletzt mit Blick auf die Men-
schen mit Migrationshintergrund. Da kann man ruhig
einmal darauf hinweisen, dass die Ausbildung im Hand-
werk ein wichtiger Beitrag zu dieser Integration ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man muss auch darauf hinweisen, dass das Handwerk
in strukturschwächeren Regionen häufig der größte und
wichtigste Arbeitgeber ist. Unsere Aus- und Weiterbil-
dung ist zudem ein Motor der Innovation; Frau
Poschmann hat darauf hingewiesen. Sie ist die Basis für
unsere Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit.

Meine Damen und Herren, für die duale Ausbildung
im Handwerk ist die Meisterpflicht von herausragender
Bedeutung. 95 Prozent der ausbildenden Betriebe zählen
zum meisterpflichtigen Handwerk. Nur 5 Prozent gehö-
ren zum zulassungsfreien Handwerk.

Besonders die meistergeführten Betriebe tragen damit
maßgeblich zu einer hochwertigen Berufsausbildung
bei. Ein „Meister made in Germany“ ist Garant für eine
hohe Ausbildungsqualität. In der Meisterschule werden
neben fachlichen auch betriebswirtschaftliche, kaufmän-
nische und rechtliche Kenntnisse vermittelt. Der Meis-
terbrief, der „große Befähigungsnachweis“, vermittelt
Fachkompetenz für erfolgreiche Unternehmer, Ausbilder
und Führungskräfte. Das schafft eine solide Basis für
eine erfolgreiche Unternehmensführung, und das senkt
nachweislich das Insolvenzrisiko von neugegründeten
Betrieben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, der Meisterbrief steht auch
für eine hohe Dienstleistungs- und Servicequalität und
einen effektiven Verbraucherschutz. Auch das müssen
wir in den Debatten immer wieder klarmachen. Das
müssen wir auch unseren Freunden und Partnern in
Europa klarmachen. Wir sollten die Diskussion mit der
Kommission und den Mitgliedstaaten als Chance begrei-
fen, unseren Partnern die deutschen Strukturen zu erklä-
ren. Wir sollten und wir werden die sogenannte Transpa-
renzinitiative der Europäischen Kommission nutzen, um
für unser System zu werben.
Mit der Transparenzinitiative hat die Kommission
eine Überprüfung der mitgliedstaatlichen Regulierung
des Berufszugangs eingeleitet. Sie zielt damit auf eine
stärkere Öffnung des EU-Binnenmarkts. Bis zum nächs-
ten Jahr stehen damit alle 41 meisterpflichtigen Hand-
werke auf einer Agenda der Rechtfertigung. Wir stehen
da sehr wohl auf dem Prüfstand, aber wir müssen uns
nicht verstecken; ganz im Gegenteil. Es macht aus mei-
ner Sicht schlicht und ergreifend keinen Sinn, bewährte
und ökonomisch sinnvolle Strukturen infrage zu stellen.
Deshalb werden wir gegenüber der Kommission und den
Mitgliedstaaten unser System mit all seinen Vorteilen
darstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Sie wissen, ich habe schon häufiger mit den zuständi-
gen Menschen in der Kommission geredet; Herr Calleja
war ein paar Mal hier in Deutschland. Wir haben die
Lage immer wieder deutlich gemacht. Ein bisschen
scheint der stete Tropfen den Stein zu höhlen. Die Meis-
terpflicht steht für die Bundesregierung nicht zur Dispo-
sition. Das haben Sigmar Gabriel als Wirtschaftsminister
und auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel klipp und
klar gesagt.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er eigentlich?)


Meine Damen und Herren, wir setzen heute ein star-
kes und ein unmissverständliches Signal für das Hand-
werk. Ich bin den Koalitionsfraktionen für diesen Antrag
sehr dankbar, der auch einen Schulterschluss mit dem
Handwerk darstellt. Dabei geht es eben nicht um Besitz-
standswahrung oder dergleichen. Es geht nicht darum,
angeblich überkommene Traditionen um jeden Preis und
mit aller Gewalt bewahren zu wollen. Nein, es geht um
ein Erfolgsmodell. Es geht um Strukturen, die sich be-
währt haben und die es zu bewahren gilt.

In diesem Sinne herzlichen Dank für die Debatte am
heutigen Morgen und dafür, dass Sie mir zugehört ha-
ben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807401300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine

Zimmermann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807401400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich hoffe, Sie haben noch nie die Erfahrung
machen müssen, die ein Bekannter von mir machen
musste. Er hatte mit der Renovierung seines Badezim-
mers einen Fliesenleger beauftragt und dabei wahr-
scheinlich zu sehr auf den Preis als auf die Qualität und
Ausbildung geschaut. Jedenfalls hatte er keinen Meister-
betrieb beauftragt. Das Ergebnis dieser Renovierung war
deprimierend: Die Zuschnitte waren miserabel, die Flie-
sen nicht im Winkel, und die Fläche war uneben. Zu al-
lem Überfluss war nachher auch noch der Kostenvoran-

7066 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Sabine Zimmermann (Zwickau)



(A) (C)



(D)(B)

schlag null und nichtig. Das Ganze kostete mehr, als im
Voraus vereinbart worden war.

Sie meinen vielleicht: ein bedauerlicher Einzelfall.
Wohl eher nicht. Der Zentralverband des Deutschen
Baugewerbes hat 2011 in einer Expertenumfrage unter
Sachverständigen des Fliesen-, Platten- und Mosaikle-
gerhandwerks sowie des Estrichhandwerks erschre-
ckende Zahlen ermittelt: Den betroffenen Bauherren und
Endkunden entstand nach Angaben der Sachverständi-
gen ein durchschnittlicher Schaden von 9 000 Euro. Die
Mehrheit der Sachverständigen kommt zu dem Ergebnis,
dass bei Meistern und Gesellen die Qualität in der Aus-
führung unverändert hoch, manchmal sogar noch gestie-
gen ist. Dagegen ist aber in der Gruppe der Verleger
ohne ausgewiesene Qualifikation die Zahl der Mängel
stark gestiegen.

Wem haben die Bauherren das zu verdanken? Es war
eine SPD-geführte Regierung, die vor zehn Jahren die
größte Deregulierung im Handwerk vorgenommen hat,
und heute stellen Sie sich hier als die Retter des Hand-
werks hin. 2004 haben Sie die Axt angelegt und das
Handwerk drastisch verstümmelt.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott!)


Das ist scheinheilig.


(Beifall bei der LINKEN)


Heute kann jeder ohne irgendeine Qualifikation zum
Beispiel Fliesen legen. Er muss nur eine Gewerbeanmel-
dung mitbringen. Die SPD wollte damals unbedingt ihre
unsäglichen Ich-AGs, über die heute kaum noch jemand
redet, an den Start bringen. Das war ein Angriff auf die
gute Qualifikation im Handwerk. Haben Sie jemals da-
ran gedacht, dass Sie damit vielen Handwerkern gesagt
haben: „Was du machst, kann eigentlich jeder machen“?
Haben Sie damals daran gedacht, dass Sie einem
Meister, der sein Leben lang stolz auf seinen Meister-
brief war, erklärt haben, dieser sei nichts mehr wert?

Die Abschaffung der Meisterpflicht in vielen Hand-
werkszweigen im Jahr 2004 unter Rot-Grün hat zu mehr
Scheinselbstständigkeit geführt. Die Zahl der Ausbil-
dungsplätze wurde drastisch gesenkt. Für weniger Aus-
bildungsqualität wurde gesorgt. Der Druck auf Löhne
und Arbeitsbedingung ist erhöht worden. Im Datenreport
zum Berufsbildungsbericht 2014 haben wir 24 Prozent
weniger Lehrlinge im Handwerk als vor zehn Jahren.
Genau das sind die Folgen Ihrer Handwerksreform aus
dem Jahr 2004. Jetzt sollten Sie sich nicht hier hinstellen
und ein Loblied auf den Meisterbrief singen. Das nimmt
Ihnen, meine Damen und Herren gerade von der SPD,
leider niemand ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Bevor Sie behaupten, das sei wieder einmal die über-
zogene Kritik der Linken, hören Sie vielleicht auf den

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1807401500


Die Vielzahl der Ein-Mann-Betriebe bildet das Ein-
fallstor für Illegalität und Schwarzarbeit am Bau
und führt somit zu Schäden weit über das Fliesenle-
gerhandwerk hinaus. Zudem leidet das Image die-
ses Berufes seit der Novellierung. Dumpingpreise
und geringe Löhne … sind verheerend …

Die Linke hat schon in der vergangenen Wahlperiode
in ihrem Antrag gefordert, das Gefälle zwischen den
meisterpflichtigen und nichtmeisterpflichtigen Gewer-
ken abzubauen. Auf jeden Fall muss es einen Gesellen-
brief als Grundlage und als Mindestqualifizierung ge-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)


Damals wollten Sie davon nichts wissen. Stattdessen le-
gen Sie heute einen Schönwetterantrag für das Hand-
werk vor. Außen vor bleibt allerdings, dass das Hand-
werk völlig zu Recht zum Schutz der Verbraucher
wieder mehr nachweisbare Qualifikation fordert, und
das unterstützen wir.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber auch das Handwerk selbst steht in der Pflicht.
Das betrifft vor allem die Tarifbindung, aber auch die
Mitbestimmung der Beschäftigten. Betriebsräte und gute
Tarifverträge sind im Handwerk leider nicht selbstver-
ständlich. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat eine
Reihe von Vorschlägen vorgelegt. Die Linke unterstützt
diese.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin seit 22 Jahren ehrenamtlich in einer großen
Kammer tätig. In den letzten Jahren haben wir immer
wieder festgestellt, dass die Industrie bessere Löhne und
bessere Arbeitsbedingungen bietet und die gut ausgebil-
deten Fachkräfte aus dem Handwerk abzieht. Ich sage
Ihnen: Wir brauchen in Deutschland ein Handwerk, das
gut qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
hat, wo gute Löhne gezahlt werden und gute Arbeitsbe-
dingungen herrschen. Dafür sollten Sie konkrete Vor-
schläge machen. Diese habe ich in Ihrem Antrag leider
nicht gefunden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807401600

Das Wort hat nun der Kollege Axel Knoerig für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1807401700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der deutsche Meisterbrief ist das Gütesiegel unseres
Handwerks. Er steht für erfolgreiche Tradition und
höchste fachliche Qualität. Diese besondere berufliche
Qualifikation ist einzigartig in der Welt. Auf dem Meis-
tertitel beruht der wirtschaftliche Erfolg vieler mittel-
ständischer Betriebe, die ja bekanntlich das Rückgrat un-
serer Wirtschaft bildet. Insgesamt gibt es in Deutschland
rund 1 Million Handwerksfirmen. Die meisten von ihnen
sind kleine Unternehmen und haben maximal vier bis
acht Mitarbeiter. Als Beispiel nenne ich meinen Wahl-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7067

Axel Knoerig


(A) (C)



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kreis Diepholz/Nienburg. Dort gibt es etwa 2 000 Hand-
werksbetriebe, die rund 10 000 Menschen beschäftigen.
Gerade in unserer ländlichen Region kommt dem Hand-
werk damit eine erhebliche Bedeutung zu, zum einen in
der Sicherung von Arbeitsplätzen, zum anderen in der
beruflichen Bildung; denn ein Drittel unserer heimischen
Auszubildenden erlernen ihren Beruf in Handwerksbe-
trieben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Insgesamt hat das deutsche Handwerk im vergange-
nen Jahr über 500 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die
Betriebe haben rund 5 Millionen Menschen einen Ar-
beitsplatz gegeben. Dazu gehören 380 000 Lehrstellen.
Die Ausbildungsquote ist mit 8 Prozent doppelt so hoch
wie in der gesamten Wirtschaft. Damit trägt das Hand-
werk maßgeblich dazu bei, dass wir die geringste Ju-
gendarbeitslosigkeit in Europa verzeichnen.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!)


Die niedrige Quote von 7,5 Prozent kommt auch da-
durch zustande, dass die duale Ausbildung häufig eine
anschließende Übernahme in den Betrieb ermöglicht.
Auf diese Weise leistet unser Handwerk einen ganz we-
sentlichen Beitrag zur Fachkräftesicherung in unserem
Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dafür, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, liefert
der Meisterbrief die Grundlage.

Wir müssen uns fragen: Warum ist der Meisterbrief so
erfolgreich? Lassen Sie uns bitte einen kurzen Rückblick
in die Geschichte werfen: Im 19. Jahrhundert wurde die
Gewerbefreiheit eingeführt und damit auch eine staatli-
che Regelung der Handwerkerausbildung. Gleichzeitig
gründeten sich die Innungen als Interessenvertretungen
der verschiedenen Handwerksberufe. Mit dieser frühen
Organisation wurde ein einmaliges Aus- und Weiterbil-
dungsmodell geschaffen, das noch heute als zukunfts-
und krisensicher gilt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch hier muss die Frage gestellt werden: Warum ist
das so? Weil sich dieses Modell ständig den aktuellen
Entwicklungen des Arbeitsmarktes anpasst und weil es
in der Abstimmung von Berufskammern, Tarifpartnern
und Politik laufend modernisiert wird. Dabei gilt es, das
richtige Verhältnis zwischen Tradition und Moderne,
aber auch zwischen Theorie und Praxis zu erwähnen.
Heute wie damals basiert die Meisterqualifikation auf
zwei Pfeilern:

Erstens. Grundvoraussetzung ist eine duale Berufs-
ausbildung mit abschließender Gesellenprüfung. Inzwi-
schen wird auch eine erfolgreiche Abschlussprüfung in
einem ähnlichen Ausbildungsberuf anerkannt.

Zweitens. Wer die Meisterprüfung bestanden hat,
wird in die Handwerksrolle eingetragen. Nur dann ist
man berechtigt, als selbstständiger Unternehmer einen
Handwerksbetrieb zu führen. Einzig die Meister dürfen
in ihrem Beruf den Nachwuchs ausbilden. Ganz wichtig
dabei ist auch, dass die Meister aufgrund dieser pädago-
gischen Erfahrungen und der gesammelten Kenntnisse
auch als Berufsschullehrer bestens geeignet sind.

Diese strenge Reglementierung beim Berufszugang
dient von jeher einem Ziel, und zwar der Sicherung der
Qualität und damit der Wettbewerbsfähigkeit. Mit der
Handwerksnovelle von 2003 wurde der Berufszugang
jedoch gelockert. Die rot-grüne Bundesregierung er-
hoffte sich davon mehr Unternehmensgründungen. Über
die Hälfte der zulassungspflichtigen Gewerke wurde da-
her als zulassungsfrei eingestuft. Seither kann man diese
Handwerksbetriebe auch ohne Meisterbrief führen.

Meine Damen und Herren, wir müssen heute leider
festhalten, dass diese Liberalisierung unserem Hand-
werk eher geschadet hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Denn Fakt ist: In den vergangenen elf Jahren wurden
Handwerksberufe erster und zweiter Klasse geschaffen.
Wie die Zahlen belegen, sind Neugründungen ohne
Meisterbrief relativ schnell insolvent: Schon zwei Jahre
nach dem Start in die Selbstständigkeit gibt es deutlich
mehr Registerlöschungen als bei den Meisterbetrieben.
Insofern hat Rot-Grün genau das Gegenteil vom damali-
gen Ziel erreicht: Gefördert wurden Einmannbetriebe,
die als Unternehmen nicht ausreichend qualifiziert sind.
Genauso wenig tragen diese zur Nachwuchssicherung
im Handwerk bei; denn 95 Prozent der Lehrlinge werden
in den zulassungspflichtigen Berufen ausgebildet.

Die Union hat dagegen in ihrer Bildungspolitik
Schwerpunkte gesetzt, die gerade unserem Handwerk
zugutekommen: So haben wir uns bereits in der letzten
Wahlperiode dafür eingesetzt, die berufliche und akade-
mische Bildung besser vergleichbar zu machen. Dazu
wurde der Deutsche Qualifikationsrahmen eingeführt.
Dieses Einstufungssystem ermöglicht einen objektiven
Vergleich der verschiedenen Berufs- und Studienab-
schlüsse. Der Meisterbrief ist hier auf Niveau 6 einge-
stuft, genau wie der akademische Grad des Bachelors.
Damit wurde die Meisterprüfung als Berufsqualifikation
sichtbar aufgewertet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Seit Anfang dieses Jahres ist die Meisterqualifikation
auch im europäischen Qualifikationsrahmen der Stufe 6
zugeordnet. Hiermit haben wir ebenfalls eine erhebliche
Aufwertung des deutschen Meisterbriefes in Europa er-
zielt.

Immer wieder gibt es Bestrebungen, die duale Ausbil-
dung zu reformieren und damit die solide Basis für die
Meisterqualifikation infrage zu stellen, und dem ist ent-
gegenzuwirken. Von meiner Kollegin Lena Strothmann
ist heute schon einmal der Münchener Philosoph und
ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin zi-
tiert worden. Er hat ein Buch veröffentlicht mit dem
Titel Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher
und akademischer Bildung. Darin warnt er davor, die be-
rufliche Bildung allzu wissenschaftlich zu gestalten. Die

7068 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Axel Knoerig


(A) (C)



(D)(B)

duale Ausbildung sollte praxisorientiert zwischen Be-
trieb und Berufsschule eingebunden bleiben.


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Recht hat er!)


Schließlich beruht der Schwerpunkt auf dem Berufs-
alltag – und nur so kann die Qualität dieses erfolgreichen
Bildungsmodells langfristig gehalten werden.

Die Grünen haben in der letzten Wahlperiode gefor-
dert, das duale Ausbildungssystem um eine weitere
Komponente zu ergänzen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


DualPlus – so haben Sie das genannt; ich will das gar
nicht als Konzept bezeichnen – bedeutete eigentlich nur
mehr bürokratischen Aufwand. Die Grünen wollten ne-
ben Betrieb und Berufsschule noch eine weitere überbe-
triebliche Einrichtung an der Ausbildung beteiligen.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Die Betriebe sollten sogar Träger dieser Einrichtung
werden.

Da, meine Damen und Herren von den Grünen, ist,
denke ich, auch die Sicht von Verbänden wie IHK und
ZDH maßgeblich; denn die haben damals überhaupt kei-
nen Reformbedarf gesehen. Wieso auch? Warum sollte
man dieses gut funktionierende Modell aus betrieblicher
Praxis und begleitender Theorie aus dem Gleichgewicht
bringen?


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gibt es aber schon noch ein paar Lücken!)


Es ist doch so: Wenn man die Zuständigkeit, zum Bei-
spiel für Praktika, an überbetriebliche Ausbildungsstät-
ten überträgt, dann werden doch die Betriebe aus der
Verantwortung gedrängt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!)


Doch gerade ihre intensive Beteiligung sichert die pra-
xisnahe und am Arbeitsmarkt orientierte Ausbildung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, wir müssen nicht an etwas
herumdoktern, was bereits bestens funktioniert. Genau
deshalb ist unser Bildungssystem ja in aller Welt hoch-
angesehen. Insbesondere seit der Wirtschafts- und
Finanzkrise dient es in Europa sogar als Vorbild: Zahl-
reiche Länder der Europäischen Union sind bemüht, die
besonderen Vorzüge der dualen Ausbildung in Deutsch-
land nachzuahmen. So soll die hohe Jugendarbeits-
losigkeit, zum Beispiel in Spanien, bekämpft werden.
38 000 junge Spanier und Griechen haben über die Bil-
dungskooperation in Deutschland schon einen Ausbil-
dungsplatz bekommen. Auch mit Italien wurde solch
eine Vereinbarung getroffen. Seit 2012 unterstützt
Deutschland bereits mehrere Länder mit Kooperationen
zur Berufsbildung. Ich denke, das ist eine gute Grund-
lage, um die Zukunftschancen junger Menschen in ganz
Europa zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Aufstiegsmöglichkeit zum Meister wird seit Jah-
ren konstant genutzt: 2013 wurden über 23 000 Meister-
prüfungen erfolgreich abgelegt. Es ist erfreulich, dass
der Frauenanteil mittlerweile auf 20 Prozent gestiegen
ist. Der Bund unterstützt diese Fortbildung mit dem so-
genannten Meister-BAföG. Seit dem Start im Jahr 2008
ist die Zahl der Antragsteller kontinuierlich gestiegen –
auf nunmehr rund 170 000. Die Förderzusagen beliefen
sich im vergangenen Jahr auf 576 Millionen Euro.

Genauso wie in der akademischen Bildung wollen wir
auch in der beruflichen Bildung Karrieren fördern. Da-
her werden wir die Leistungen beim Meister-BAföG, wie
wir das im Koalitionsvertrag vereinbart haben, weiter
verbessern. Ähnlich wie beim BAföG für Studierende
sollen auch Meister mit guten Noten bei den Rückzah-
lungen entlastet werden.

In vielerlei Hinsicht haben wir berufliche und akade-
mische Bildung damit schon gleichgestellt. Doch, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen, wäre es nicht eine lo-
gische Konsequenz, die Meisterqualifikation genau wie
das Studium nun kostenfrei anzubieten? Das wäre,
denke ich, ein weiterer bedeutender Beitrag zur Quali-
tätssicherung im Handwerk und in der dualen Ausbil-
dung.

Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807401800

Nun erhält die Kollegin Kerstin Andreae das Wort.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807401900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist ja richtig, was Sie da schreiben: Dass wir den Meis-
terbrief als Gütesiegel wertschätzen sollten. Aber was
ich so verblüffend finde und was mich auch ein bisschen
irritiert, ist, dass wir in dieser wertvollen Kernzeit einen
Antrag diskutieren, der wirklich dünn ist, weil er die ent-
scheidenden Fragen offenlässt, weil er Lücken lässt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE])


Es ist per Copy-and-paste erstellt worden. Es handelt
sich um die ZDH-Position. Wenn Sie schon beantragen,
dass hier zur Kernzeit so eine wichtige Debatte geführt
wird, dann hätte ich mir echt gewünscht, dass Sie uns ei-
nen Antrag mit ein bisschen mehr Substanz vorgelegt
hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, es ist richtig: 2004 haben wir die Handwerksord-
nung novelliert. Liebe SPD, macht euch mal nicht so arg
vom Acker! 2004 gab es hochverkrustete Strukturen,
hohe Arbeitslosigkeit; an vielen Stellen ist überlegt wor-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7069

Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

den: Wie können wir dazu beitragen, dass wieder mehr
Leute einen Job haben? Wie Marktzugangsbeschränkun-
gen beseitigen, wie den Wettbewerb beleben? Dann hat
es die Novelle gegeben, und man hat sich dafür entschie-
den, dass Berufe, die dem Gefahrenrisiko nicht unterlie-
gen – wie der Uhrmacher, der Goldschmied, der Schuh-
macher, der Buchbinder oder auch der Fliesenleger –,
herausgenommen werden. Es kann ja sein, dass an der
einen oder anderen Stelle tatsächlich über das Ziel hi-
nausgeschossen wurde. Was haben wir deswegen gesagt,
und was fordern wir hier Jahr für Jahr? Evaluiert mal,
damit wir wissen, wie die Novelle gewirkt hat und wor-
über wir eigentlich reden müssen! Das ist doch das, was
hier zunächst einmal kommen müsste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lena Strothmann [CDU/CSU]: Das wissen wir doch! Haben wir alles festgestellt!)


Man muss doch schauen: Was ist aus den Betrieben
geworden? Ja, es gibt die Zahl von 60 Prozent Insolven-
zen bei Existenzgründern. Vergleichbare Zahlen bekom-
men Sie aber überall; denn der Gang in die Selbststän-
digkeit ist tatsächlich ein risikobehafteter.

Wie ist die Situation am Ausbildungsmarkt? Ja, die
Zahl der ausbildenden Betriebe sinkt. 2012 bildeten nur
noch 21,3 Prozent der Betriebe überhaupt aus. Aber den
direkten Zusammenhang zu der Novelle ziehen Sie mir
hier ein bisschen zu en passant. Da müssen Sie doch ein-
mal genau hinschauen: Was ist passiert? Und auf der an-
deren Seite müssen Sie sich auch anschauen: Welche
Herausforderungen sind 2014 zu bewältigen, damit mehr
ausgebildet wird? Denn dass wir mehr ausbilden müs-
sen, ist doch gar keine Frage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Über 250 000 Jugendliche sind heute in der Warte-
schleife, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden ha-
ben –


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Da sind doch nicht die Meister dran schuld!)


es kostet uns übrigens jedes Jahr 4 Milliarden Euro, dass
wir keine Lösung für diese Jugendlichen finden –, und
1,5 Millionen unter 35-Jährige sind ohne Ausbildung.
Deswegen müssen wir einen Paradigmenwechsel hinbe-
kommen.. Wir müssen eine Ausbildungsoffensive star-
ten – diese haben Sie im Koalitionsvertrag groß ange-
kündigt –, für gute Ausbildung sorgen und letztlich eine
Ausbildungsplatzgarantie auf den Weg bringen, so wie
es Österreich macht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das betrifft vor allem Jugendliche mit Einwande-
rungshintergrund. Der Name ist eine Hürde. Das ist zwar
dramatisch und beklagenswert; da kann man nur an die
Unternehmen appellieren, dies nicht zuzulassen. Aber:
Wir wissen es. Als die Kanzlerin letzte Woche sehr me-
dienwirksam Betriebe besucht hat, wurde auch ihr sehr
deutlich gesagt: Der Name ist eine Hürde. – Bildungs-
chancen in Deutschland sind ungerecht verteilt. Bil-
dungsgerechtigkeit und Inklusion sind für viele Kinder
und Jugendliche nicht gegeben. Es gibt also ganz viele
Baustellen, und wir müssen viele Antworten geben. Eine
davon ist DualPlus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das hat mit dem Antrag nichts zu tun, was Sie da erzählen!)


– Doch, das hat etwas mit dem Antrag zu tun. Denn es
geht darum, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen
einer geringeren Zahl von Ausbildungsplätzen, dem
Meisterbrief und der Frage: Welche Lösungen gibt es,
um mehr Ausbildungsplätze zu schaffen? Wir müssen
uns fragen: Wie können wir kleinen Handwerksbetrie-
ben helfen, damit sie sagen: „Ja, wir bilden wieder aus“?
Wenn man überbetriebliche Ausbildungsstätten schafft
und einzelne Module herausnimmt, dann sagt vielleicht
der eine oder andere Handwerksbetrieb: Okay, unter die-
sen Voraussetzungen bilde ich wieder aus. – Deswegen
hat das definitiv etwas mit dem Antrag zu tun. Das steht
sogar in seiner Überschrift.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Oh nein! So steht das da bestimmt nicht drin!)


– Das ist ja ganz besonders niedlich. Also ehrlich, Leute!

Unter II.5 wird gefordert,

die Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiter-
bildung zur Sicherung des Fachkräfte- und Unter-
nehmernachwuchses weiter zu steigern –

– so weit, so gut, dass Sie dies wollen; aber dann geht es
nach dem Bindestrich so weiter –

dies insbesondere auch im Hinblick auf Menschen
mit Migrationshintergrund oder Behinderung und
Frauen …

Das treibt einem doch Tränen in die Augen!


(Sabine Poschmann [SPD]: Nein, nein! Das ist schon richtig so! Lesen Sie erst mal weiter!)


Ihr braucht doch einen Paradigmenwechsel! Frauen sind
nicht behindert, sie werden behindert!


(Christine Lambrecht [SPD]: Also wirklich! Wer behauptet denn das? Das ist ja unterirdisch, was Sie da sagen!)


Meine Güte, geht das endlich mal in eure Köpfe?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Frauen sind keine Belastung, sondern eine Bereicherung.
Es ist etwas völlig anderes, ob man Inklusion betreibt
und sich darum kümmert, dass Jugendliche mit Migra-
tionshintergrund einen Ausbildungsplatz bekommen,
oder ob man sich darum kümmert, dass Frauen echte
Chancen am Arbeitsmarkt haben, Führungskräfte wer-
den können.

Wenn Sie schon beim ZDH abschreiben, dann hätten
Sie auch diese Zahlen übernehmen können: Fast ein
Drittel aller neuen Auszubildenden im Handwerk sind

7070 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

weiblich. Mehr als 20 Prozent aller Meisterprüfungen
werden von Frauen abgelegt. Der Anteil von Frauen mit
Meistertitel hat sich in den vergangenen Jahren fast ver-
doppelt. – Trotzdem haben es Frauen unheimlich
schwer: Das Kapital fehlt, die Unterstützung fehlt, und
sie müssen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in
den Griff bekommen.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das müssen Männer auch!)


Im Ergebnis sind die Frauen am Ende nicht diejenigen,
die ein Unternehmen bzw. einen Handwerksbetrieb füh-
ren. Das ist ein Problem, dem Sie sich endlich einmal
stellen müssen, auch vom Kopf und von der Haltung her.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Poschmann [SPD]: Aber das steht doch im Antrag! Lesen!)


Der ZDH hat die richtigen Analysen betrieben. Auch wir
bekennen uns zum Meisterbrief als Garant für gute und
sichere Arbeit. Dazu bekennen wir uns.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Na bitte, geht doch!)


Von den Regierungsfraktionen hätte ich aber wirklich
mehr als Copy-and-paste erwartet. Wo sind die Konzepte
für stabiles Handwerk, für die Integration von ausländi-
schen Auszubildenden, für die Bekämpfung der Jugend-
arbeitslosigkeit, gegen den Fachkräftemangel? Über die
Rente mit 63 kann ich jetzt leider nicht mehr sprechen.
Wie wollen Sie die jungen Frauen ermutigen, in die
handwerklichen Berufe einzusteigen und Führungsver-
antwortung zu übernehmen? Da sind Sie blank. Dazu sa-
gen Sie in diesem Antrag überhaupt nichts. Das ist ein
Wohlfühlantrag mit ganz vielen Unterschriften, und Sie
werden jetzt alle durch Ihre Wahlkreise gehen und sa-
gen: Wunderbar! Schaut mal, was wir gemacht haben! –
Aber ein bisschen mehr im Bereich der Handwerkspoli-
tik können wir von Ihnen schon erwarten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ja, machen Sie mal!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807402000

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Ernst

das Wort.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807402100

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Frau Andreae, ich

habe Ihnen genau zugehört: Verkrustete Strukturen und
Ähnliches habe es vor 2004 gegeben. Ich hätte mir ei-
gentlich gewünscht – auch wenn wir jetzt gerade zusam-
men in der Opposition sind, komme ich nicht darüber
weg und muss das sagen –, dass Sie ein wenig selbstkri-
tischer mit dem umgegangen wären, was Sie in der Zeit
der Koalition mit der SPD gemacht haben;


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

denn Sie sind mitverantwortlich. Ich habe mir gerade die
Liste noch einmal angeschaut: Sie waren doch dabei, als
zum Beispiel Maßschneider – die Frau Strothmann hat
gesprochen; sie ist, wenn ich es richtig gelesen habe,
Maßschneidermeisterin – in die Liste B aufgenommen
wurden, sodass also eine Meisterprüfung nicht mehr Vo-
raussetzung für diesen Beruf ist. Finden Sie das eigent-
lich richtig? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass
das, was Sie damals mit der SPD zusammengeschustert
haben, tatsächlich dem dient?


(Zurufe von der SPD: Zusammengeschneidert!)


– „Zusammengeschneidert“, genau, nicht „zusammenge-
schustert“. – Finden Sie das wirklich gut?

Ich teile ja teilweise die Kritik an diesem Antrag;
auch wir finden, dass darin etwas zu den Handwerks-
kammern fehlt, dass wir dort genauer sein müssen – alles
d’accord, einverstanden. Aber ein klein wenig Selbstkri-
tik zu dem Unfug, den Sie damals gemacht haben, wäre
angebracht gewesen, wenn Sie sich hier in dieser Weise
verhalten. Ich muss Ihnen sagen: Das hat mir überhaupt
nicht gefallen. Denn ein wenig Selbstkritik für das, was
man selbst anstellt, ist wichtig, damit man hinterher
glaubwürdiger wird bei dem, was man selbst will.


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Ich stimme Herrn Ernst ungern zu! Aber da hat er recht!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807402200

Zur Erwiderung Frau Andreae.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807402300

Herzlichen Dank. – Ich glaube, ich habe sehr deutlich

gemacht, dass damals verkrustete Strukturen und eine
hohe Arbeitslosigkeit dazu geführt haben, dass man sich
verschiedenste Dinge überlegt hat, dass Reformen auch
immer lernende Reformen sind und dass Korrekturen
dort vorgenommen werden müssen, wo sie notwendig
sind.

Damals wurde eine Novelle gemacht, bei der nicht
gefahrengeneigte Berufe aus der Handwerksrolle heraus-
genommen wurden; und bei aller Wertschätzung der
Schneidermeisterei – auch wenn ich bei dem einen oder
anderen manchmal das Gefühl habe, dass dort tatsäch-
lich Gefahrenpotenzial vorhanden ist – sind Schneider-
meister, Uhrmacher, Buchbinder eben keine Berufe, bei
denen diese Gefahrgeneigtheit bestanden hat.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber Friseur! Können Sie das erklären? Friseur!)


– Ja, der Friseur hat auch manchmal etwas mit Gefahren
zu tun, aber davon sprechen wir jetzt nicht.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt! Je nachdem, wie man hinterher aussieht! – Gegenruf von der SPD: Wächst alles wieder nach!)


Aber tatsächlich ist richtig: Man muss überprüfen.
Und dort kommen wir doch zusammen. Die Evaluierung
ist notwendig, denn sie bringt uns die Daten und die Si-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7071

Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)

cherheit, um festzustellen: Gibt es einen Korrekturbe-
darf, oder nicht? Richtig ist aber auch, dass wir nicht
unterstützen, weitere Berufe, die jetzt noch in der Hand-
werksrolle sind, herauszunehmen.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Aber Sie waren verantwortlich für den Kahlschlag!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807402400

Nun hat der Kollege Schabedoth für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1807402500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was ist, wenn die Praxis nicht zur Theorie passt? Glau-
bensstarke Theoretiker und bornierte Ideologen antwor-
ten: Das ist aber sehr schlimm für die Praxis. Den Prakti-
kern bleibt dann oft nur noch die Überzeugung, trotzdem
recht zu haben, oder, zu resignieren. So ähnlich war die
Situation, als es vor zehn Jahren um die Handwerksno-
velle ging.

Die Deregulierungsideologen und ihre Weihrauchkes-
selschwenker, befeuert von einer EU-Vorgabe – verges-
sen Sie das bitte nicht –,


(Beifall bei der SPD – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist eine Mär!)


begeisterten sich für eine möglichst umfassende Entsor-
gung dessen, was sie als mittelalterliche Zunftordnung
missverstanden. Es konnte gar nicht genug dereguliert
werden, nicht nur auf diesem Feld; Sie erinnern sich.

Die Praktiker des Handwerks können bis heute nicht
nachvollziehen, wieso Handwerksgesellen, die zu be-
quem oder vielleicht auch ein bisschen damit überfordert
sind, eine Meisterprüfung zu bestehen, ihren Meistern
im Wettbewerb um Aufträge Konkurrenz machen dür-
fen. Keiner käme schließlich auf die Schnapsidee, zum
Beispiel jedem Fußballverein, der sich in der 1. Bundes-
liga redlich müht, deshalb die Qualifikation für das Mit-
spielen in der Champions League zu erlassen.

Ich finde, es ist auch eine gute gesellschaftliche Kon-
vention, dass sich selbst eine lebenskluge und sehr erfah-
rene Sprechstundenhilfe besser nicht ohne erfolgreich
absolviertes Medizinstudium als Ärztin niederlassen
darf. Warum – das hat mich schon immer bewegt – sollte
zum Beispiel den Fliesenlegern der Befähigungsnach-
weis für eine gute Unternehmensführung erspart blei-
ben?

Zu Recht beharrt unsere Gesellschaft bei verantwort-
lichen Tätigkeiten auf einer besonderen Qualifikation.
Im Handwerk ist das für eine Betriebsführung der Meis-
terbrief.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Machte es schon keinen Sinn, hier zwischen den einzel-
nen Gewerken zu differenzieren, wäre es wirklich noch
törichter, sich infolge der gerade von der EU-Kommis-
sion gewollten Evaluierungsprozesse der nationalen Be-
rufsreglementierungen vom deutschen Meisterbrief zu
verabschieden.

Wir können inzwischen auf zehn Jahre Praxis mit der
Deregulierung der Handwerksordnung zurückblicken.
Der verheißene Arbeitsplatzboom durch die neuen zulas-
sungsfreien Gewerke fand nicht statt.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Und jetzt?)


Da haben wir dazugelernt. Daraus muss man Konse-
quenzen ziehen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Bei aller Selbstgerechtigkeit: Im Himmel soll mehr
Freude über diejenigen sein, die von einem falschen Weg
abkehren, als über die, die schon immer wussten, was
richtig oder falsch ist.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben gehört, dass die zulassungsfreien Gewerke
sich auf dem Arbeitsmarkt und auf den entsprechenden
Geschäftsfeldern nicht sehr gut positionieren konnten.
Fünf Jahre nach der Neugründung meisterfreier Betriebe
waren 60 Prozent dieser Betriebe schon wieder insol-
vent. Bei den meisterpflichtigen Betrieben sah das ganz
anders aus – aus gutem Grund, wie wir wissen.

Was besonders wichtig an Meisterbetrieben ist: Sie
bilden überproportional häufig aus. Das meisterpflich-
tige Handwerkssystem ist das Rückgrat des international
bewunderten deutschen Systems der dualen Berufsaus-
bildung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch einmal besonders hervorheben, dass über
die Ausbildung im Handwerk gerade auch solche Ju-
gendliche einen Zugang in ein gelingendes Berufsleben
finden, die in den akademischen Ausbildungsgängen
vielleicht Mühe hätten. Nicht zuletzt ist das ein Vorteil
gerade für Jugendliche mit dem sogenannten Migra-
tionshintergrund.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und einmal an-
regen, das Wort „Migrationshintergrund“, so oft es geht,
zu vermeiden – auch in den politischen Debatten unseres
Hauses – und stattdessen von „Kindern aus Einwande-
rerfamilien“ zu sprechen.

Wenn Fakten gelten, ist die Überlegenheit des deut-
schen Systems der meisterpflichtigen Handwerksberufe
hinlänglich bewiesen. Es lohnt sich also, den noch ver-
bliebenen Kernbestand zu verteidigen und vielleicht
auch gemeinsam der Frage nachzugehen, wie weit bis-
lang zulassungsfreie Gewerke nicht doch wieder in die
Meisterpflicht zurückgeholt werden können. Es gibt ja
schließlich die Volksweisheit, die uns ermutigt, aus
Schaden klüger zu werden. Allerdings gibt es auch eine
Volksskepsis, wonach eher ein Politiker durch ein Na-
delöhr geht, als dass er Fehlentscheidungen korrigiert. –
Auf der Tribüne habe ich jetzt einige nicken gesehen.

Wir wollen das beim deutschen Meisterbrief anders
machen. Es war eben ein Fehler, sich aufschwätzen zu

(B)


7072 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Dr. Hans-Joachim Schabedoth


(A) (C)



(D)(B)

lassen, dass von der Deregulierung der Handwerksord-
nung ein Segen für die deutsche Wirtschaft ausgehe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der LINKEN)


Die vorliegende Entschließung zieht daraus die Konse-
quenz. In einer Eindringlichkeit, die viele Praktiker des
Handwerks schon 2004 gewünscht hätten, wird festge-
halten: Meisterbrief – das ist ein Gütesiegel für gute Ar-
beit.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807402600

Herr Kollege Schabedoth, darf kurz vor Ende Ihrer

Redezeit der Kollege Krichbaum Ihnen noch eine Zwi-
schenfrage stellen?


Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1807402700

Dafür bin ich sehr dankbar.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807402800

Das habe ich fast befürchtet: Der Kollege Krichbaum

darf also.


(Heiterkeit)



Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1807402900

Herr Kollege Dr. Schabedoth, Sie haben wiederholt

von der Vorgabe der Deregulierung seitens der EU ge-
sprochen. Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass es eine solche Vorgabe des Inhalts, den Sie hier in
den Raum gestellt haben, nicht gegeben hat?

Es war nämlich tatsächlich so, dass die Länder der
Europäischen Union inklusive der Bundesrepublik
Deutschland, wo es diese spezielle Thematik des Meis-
ters gibt, aufgefordert wurden, andere aus der Europäi-
schen Union kommende Handwerker zuzulassen. Wir
hätten aber ohne diesen Kahlschlag in der Handwerks-
ordnung durchaus weiterhin an der Meisterpflicht jener
Berufe festhalten können, die auch bis dato in der An-
lage A aufgeführt waren. Das hätte dann zum Tatbestand
der sogenannten Inländerdiskriminierung geführt, was
aber seitens der EU keinesfalls verboten ist und wogegen
die EU auch nicht vorgegangen wäre. Wir hätten an den
höheren Standards festhalten können. Es waren aber lei-
der damals ideologisierende Debatten, gerade bei Rot-
Grün, die dazu geführt haben, dass dann viele Gewerke
aus der Meisterpflicht herausgenommen wurden – was
schade war. Wir konnten es damals nicht verhindern. Ich
selbst war aber damals in diese Dinge involviert und
konnte es auch nicht verhindern.


Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD):
Rede ID: ID1807403000

Vielen Dank, dass Sie Ihre Erinnerung in die Debatte

mit einbringen. Ein berühmtes Mitglied meiner Fraktion
hat mal gesagt: „Hätte, hätte, Fahrradkette“.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Der dann nicht gewählt wurde!)


Wir haben damals unter dem Druck einer anderen De-
batte anders entschieden. Es gab durchaus den Hinter-
grund, den Sie nannten: dass auch von der EU der Impuls
kam, den Meisterbrief nicht als letztgültige Zulassung zu
verstehen. Wir haben ja daraus gelernt; darauf habe ich
vorhin noch hingewiesen.

Wenn Sie jetzt mit uns den Restbestand verteidigen
und auch ein wenig mit darauf schauen: „Können wir
vielleicht etwas zurückholen?“, können wir doch einen
Fehler korrigieren. Ich habe jedenfalls meine Gesprächs-
partner vom Handwerk so verstanden, dass sie das alle
von uns erwarten, übrigens nicht nur von den Regie-
rungsparteien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Meisterbrief ist ein Segen und kein Relikt; das
wollten meine vielen Kollegen, die vor mir gesprochen
haben, und ich zum Ausdruck bringen. Es ist ja verständ-
lich, wenn die Opposition einer Regierungsvorlage mit
Misstrauen begegnet.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, mit Erwartungen!)


Doch seien Sie versichert, meine Damen und Herren:
Bei unserem Eintreten für den deutschen Meisterbrief
würde oppositionelles Misstrauen am falschen Gegen-
stand geübt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bitte deshalb auch besonders um die Unterstützung
der Opposition.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Ansprüche an Sie!)


Das wäre ein sehr gutes Signal für rund 1 Million Be-
triebe des deutschen Handwerks.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807403100

Ich erteile das Wort der Kollegin Barbara Lanzinger

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt was Neues, was ganz Neues!)



Barbara Lanzinger (CSU):
Rede ID: ID1807403200

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-

gen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Handwerk hat
goldenen Boden“ ist auch ein Sprichwort.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handwerk hat grünen Boden! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Grünen Boden“ ist auch hübsch! – Gegenruf der Abg. Lena Strothmann [CDU/CSU]: Gott sei Dank nicht!)


– Na ja, im Sprichwort heißt es halt „goldenen Boden“
und nicht „grünen Boden“; ich glaube, so weit sind wir
uns schon einig, oder?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7073

Barbara Lanzinger


(A) (C)



(D)(B)


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


– Gut, in Ordnung. – Das Gold glänzt nicht mehr ganz
so, wie es früher einmal geglänzt hat: Es gibt viele Auf-
lagen und viele Anforderungen an unser Handwerk und
gerade an unsere kleinen und mittleren mittelständischen
Betriebe. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb,
weil diese Kraft dahintersteckt, ist das Handwerk das
Rückgrat unserer Wirtschaft. Ich glaube, gerade diese
kleinen und mittleren mittelständischen Betriebe haben
uns in Deutschland die letzten Jahre, wo es wirtschaft-
lich gesehen ja nicht so einfach war, sehr wohl geholfen;
ich denke, das muss man festhalten. Wir müssen alles
tun, um diese Kraft zu stärken, und dürfen sie nicht
schwächen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Handwerksbetriebe mit ihren ausgezeichnet aus-
gebildeten Beschäftigten und vorneweg den Meisterin-
nen und Meistern sind – das wurde heute schon ein paar-
mal erwähnt – das Herzstück und – auch das sage ich
ganz bewusst – der Puls unseres Mittelstandes.

Meine Vorredner haben vieles erwähnt; man könnte
auch sagen, ich hätte von denjenigen, die schon gespro-
chen haben, abgeschrieben, oder ich wiederholte, was
schon gesprochen wurde. Ich sage aber: Es gibt auch ein
altes Sprichwort in der Werbeindustrie. Demnach muss
man vieles mehrfach sagen und hören, damit es tatsäch-
lich ankommt und angenommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb sage ich noch einmal ganz deutlich in meiner
Rede: Unsere hohe Qualität – made in Germany – ist
Präzisionsarbeit, und unsere Leistungsfähigkeit kommt
nicht irgendwoher oder von ungefähr. Unsere Basis da-
für ist eine gute, fundierte Ausbildung, ist das Können,
sind bewährte Strukturen, auf die wir zurückgreifen kön-
nen, mündend auch im Meisterbrief, und zwar – auch
das sage ich ganz deutlich – nicht nur im Meisterbrief,
sondern vor allem auch im Meistervorbehalt. Ich denke,
es ist wichtig, dies deutlich zu machen; denn es geht auf
europäischer Ebene nicht darum, den Meisterbrief zu un-
tersuchen, sondern vor allem den Meistervorbehalt,
sprich: Wie kann ich mich selbstständig machen, nur mit
einem Meister? – Der Meisterbrief steht nicht zur Dis-
position.

Es ist auch richtig – ich wiederhole es ganz be-
wusst –: Bereits Ludwig Erhard hat ganz deutlich gesagt,
dass es sich bei dem Meisterbrief nicht um eine Ein-
schränkung, sondern um einen Nachweis zur Befähi-
gung handelt. Der Meisterbrief – ich glaube, wir sind uns
hier alle einig – ist beileibe kein Hemmnis und schon gar
keine Marktzugangsbeschränkung, sondern ist vielmehr
ein wirksames Instrument zur Leistungssteigerung ins-
gesamt, durch das im Handwerk erst die Voraussetzun-
gen für Wettbewerb geschaffen werden, den wir in unse-
rer Wirtschaft dringend brauchen.
Es ist falsch, von einer Reglementierung zu sprechen
und damit negative Verbindungen herzustellen. Immer
wenn das Wort „Reglementierung“ fällt, denkt man an
Bürokratie und Bürokratieabbau. Das ist in diesem Fall
falsch. Man muss hier sehr wohl differenzieren. Hier ist
die Reglementierung positiv, absolut positiv für mehr
Qualität. Wir müssen uns gemeinsam bei der Umsetzung
der EU-Richtlinien zur Reglementierung der Berufe für
den Erhalt des Instruments Meisterbrief und damit des
Meistervorbehalts starkmachen und dafür kämpfen, dass
dieses bewährte Instrument der Leistungssteigerung er-
halten bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die EU-Kommission verfolgt mit ihrem Aufruf zur
Überprüfung das Ziel – ich wiederhole das noch ein-
mal –, durch den Abbau von Regulierung mehr Beschäf-
tigung und Wachstum zu schaffen. Daher sollen wir im
Zuge eines gegenseitigen Evaluierungsprozesses die Zu-
gangsschranken für regulierte Berufe genau überprüfen
und begründen. Aus meiner Sicht – ich denke, wir sind
uns hier einig – muss die Überprüfung und Begründung
heißen, den Meisterbrief nicht nur zu erhalten, sondern
zu stärken. Warum? Weil die Ausbildung vom Gesellen
über die Berufserfahrung hin zum Meister die Basis für
einen qualifizierten und leistungsstarken Wirtschaftsbe-
reich und auch – das sage ich ganz deutlich – für eine so-
lide und wirtschaftliche Unternehmenspolitik ist. Das ist
ein Qualitätssiegel und ein Gütesiegel erster Klasse.

Die Idee von mehr Wachstum und mehr Beschäfti-
gung im Zuge von Dienstleistungsfreiheit auf dem euro-
päischen Binnenmarkt ist wirtschaftlich interessant. Es
ist jedoch sehr wohl fraglich, ob dies durch die Abschaf-
fung des wertvollen Instruments der Meisterprüfung und
damit unserer dualen Ausbildung erreicht werden kann
und erreicht werden sollte.

Ich wiederhole auch – das wurde schon einige Male
erwähnt –: Wir dürfen nicht – ich nenne es ganz bewusst
so – über Qualitätsleichen gehen, um eine europäische
Liberalisierung zu erreichen. Die Erfahrungen der Hand-
werksnovelle 2004 zeigen uns schon deutlich, dass sie
nicht geholfen hat, dem Fachkräftemangel entgegenzu-
wirken, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln oder gar
den grenzüberschreitenden Austausch von Handel und
Dienstleistungen zu beflügeln. Ganz im Gegenteil: Die
Abschaffung der 53 zulassungspflichtigen Gewerke hat
bei uns zu einem Qualitätsverlust – ich sage es ganz
deutlich: zu einem enormen Qualitätsverlust – geführt.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Und Ausbildungsverlust!)


Das darf nicht noch einmal passieren.

Weil man auch in der Politik schlauer werden kann,
haben wir heute diesen Antrag gestellt. Denn wir wollen
im Zusammenhang mit der neuen Evaluierung nicht wie-
der den gleichen Fehler machen. Wir sagen ganz klar:
Wir müssen den Meister und den Meistervorbehalt er-
halten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


7074 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Barbara Lanzinger


(A) (C)



(D)(B)

Es stimmt – ich erwähne das ganz bewusst –, dass
sich wegen der damaligen Novellierung heute jeder als
Fliesenleger, als Trockenbauer selbstständig machen
kann. Wenn man heute auf dem Bau arbeitet – da weiß
ich, wovon ich spreche –, dann erlebt man schon, dass
Meisterbetriebe, deren Mitarbeiter eine gute Ausbildung
haben, tatsächlich das ausbaden müssen, was vorher ka-
puttgemacht worden ist. Deren Auftragsbücher sind aber
übervoll; ich bekomme sie gar nicht auf den Bau, wenn
es tatsächlich zu Pfusch am Bau gekommen ist. Das ist
so, und insofern müssen wir dafür sorgen, dass solche
Dinge nicht mehr passieren.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wie? Sie müssen mal was vorlegen!)


Einer meiner Handwerksmeister erzählt mir immer:
Ein gut ausgebildeter Koch, der keine Arbeit kriegt,
kann sich als Estrichleger selbstständig machen. Er weiß
aber nicht, welche Dämmung darunter ist. Der Metzger,
der in seinem Gewerk eigentlich auch sehr gut ist, legt
dann die Fliesen drauf. Dabei kommt nichts Gutes he-
raus; eine solche „Wurst“ kann man nicht essen.

Es ist auch so, dass sich viele Dienstleister, zum Bei-
spiel Hausmeister, als Handwerker niederlassen. Da
müssen wir schon vorsichtig sein und ganz genau auf-
passen, dass die Reglementierung im positiven Sinn in
diesem Fall erhalten bleibt.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben wir ja gar nichts dagegen!)


Ich möchte einen Punkt erwähnen, der heute noch
nicht erwähnt worden ist: die Altgesellenregelung, die es
nach wie vor gibt. Gesellen, die über Jahre hinweg in ih-
rem Betrieb gearbeitet haben, können sich demnach
auch ohne Meisterbrief selbstständig machen und sehr
wohl einen Betrieb eröffnen.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach 25 Jahren! Ist das nicht ein bisschen lang?)


Ich denke, es ist sehr wichtig, noch einmal darauf hinzu-
weisen.

Ein weiterer wichtiger Punkt: die Meisterfrauen im
Handwerk. Ich erwähne sie ganz bewusst.


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Danke schön. – Wir haben über viele Jahre hinweg da-
rum gerungen, dass die Meisterfrauen im Handwerk so-
zialversicherungspflichtig angemeldet sind, was früher
nicht so selbstverständlich war; da wurde halt einfach
mitgearbeitet. Wir haben heute eine hohe Qualifikation
der – ich sage es jetzt mal so – angeheirateten Meister-
frauen; ich bin auch so eine angeheiratete Mittelständle-
rin. Man muss hier schon etwas leisten, man muss sich
fortbilden, weil man oftmals aus branchenfremden Beru-
fen kommt. Die Meisterfrauen im Handwerk – sie nen-
nen sich so – sind ganz wichtig, weil sie unendlich vieles
leisten, wie soziales, gesellschaftliches Engagement
etwa im Hinblick auf die Auszubildenden in den Betrie-
ben, die sie oftmals begleiten. Gerade die Ausbildung im
Handwerk ist sehr nah an den Hauptschulen dran, die
uns sehr wichtig sind. Es ist manchmal nicht ganz ein-
fach, diese jungen Leute wirklich zu fördern und nach
vorne zu bringen.

Ich fasse zusammen. Dies alles zeigt: Das Handwerk
ist für die regionale Wertschöpfung, für unsere gesell-
schaftspolitische Entwicklung enorm wichtig. Es sichert
in der Region die Bevölkerungsstruktur, die wir brau-
chen; es hält Jugendliche in den Heimatregionen und
verhindert die Abwanderung in die Städte.

Ich möchte ganz kurz Folgendes erwähnen. Sie alle
wissen, ich komme aus Bayern. Ich denke schon, dass
man sagen sollte, dass mit der Abschaffung der Studien-
gebühren in Bayern – es ist unerheblich, ob ich damals
damit einverstanden war – die Schaffung des sogenann-
ten Meisterbonus in Höhe von 1 000 Euro einherging,
den wir denjenigen, die die Meisterprüfung machen, zu-
sätzlich bezahlen, um sie zu unterstützen. Das ist sicher-
lich nicht genug, aber es ist ein deutlicher Anreiz. An
den Fachhochschulen haben wir Studiengänge, in denen
Meister studieren können und dort einen Abschluss, den
Bachelor, machen können. Ich denke, das ist richtig, um
den jungen Menschen, den Gesellen, den Gesellinnen
und den Meistern, einen Weg zu ebnen und sie ein Stück
weit mit Studenten gleichzustellen. Es gibt die immer
fortwährende Diskussion, ob nur ein Studium richtig ist.
Ich halte das für falsch. Ich denke, es ist ganz wichtig,
hier deutliche Zeichen zu setzen.

Ich möchte schließen. Wir müssen aufpassen, dass
wir unsere wertvollen nationalen Regeln zum Berufszu-
gang insgesamt nicht zunehmend verwässern. Uns er-
wartet da im Rahmen der Transparenzrichtlinie noch ei-
niges, gerade was die freien Berufe betrifft. Da bitte ich
einfach alle, auch mitzuhelfen.

Schließen möchte ich mit dem wunderschönen Satz,
der mich eigentlich mein ganzes Leben lang begleitet
hat: Gott schütze das ehrbare Handwerk!

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807403300

Martin Rabanus ist der nächste Redner für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Martin Rabanus (SPD):
Rede ID: ID1807403400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich freue
mich, als Bildungspolitiker auch einen Beitrag in dieser
Debatte leisten zu können. Ich will mich in dieser Rolle
auch nicht über Handwerksordnungsänderungen aus
dem Jahr 2004 auslassen; ich will mich auch nicht da-
rüber auslassen, ob es sinnvoll oder legitim ist, sich For-
derungen vom Handwerk oder von Gewerkschaften an-
zueignen, sondern ich möchte mir diesen Bereich aus
bildungspolitischer Sicht anschauen, und das fast am
Ende des parlamentarischen Jahres. Eine Sitzungswoche

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7075

Martin Rabanus


(A) (C)



(D)(B)

haben wir noch, und dann neigt sich das Jahr 2014 dem
Ende entgegen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, aus bildungspolitischer Sicht war
das Jahr 2014 ein gutes Jahr für Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben in der letzten Woche einen Rekordhaushalt
für den Bildungsbereich beschlossen, wir haben die
Fortsetzung des Hochschulpakts und des Pakts für For-
schung und Innovation beschlossen, wir haben die Ab-
schaffung des Kooperationsverbots im Hochschulbe-
reich beschlossen, wir haben eine BAföG-Novelle
beschlossen, und wir haben erst gestern die Hightech-
Strategie diskutiert.

Weiterhin haben wir in diesem Jahr 2014 der berufli-
chen Bildung in der parlamentarischen Arbeit und in den
parlamentarischen Debatten einen Raum eingeräumt wie
seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr. Des-
wegen sage ich auch: Es war ein gutes Jahr für die beruf-
liche Bildung in Deutschland. Denn, Frau Strothmann,
wir haben in diesen Debatten ja auch den Stellenwert der
beruflichen Bildung als der zentralen Säule in der beruf-
lichen Erstausbildung in Deutschland verdeutlichen
können und, wie ich schon glaube, auch den jungen
Menschen verdeutlichen können, welche Perspektiven,
welche Chancen darin liegen. Diese Chancen ergeben
sich nicht nur für die jungen Menschen, sondern auch für
die Wirtschaft, die die Fachkräfte braucht. Das ist schon
erwähnt worden. Für die Gesellschaft insgesamt ist es
wichtig, dass diese Chancen ergriffen werden. Deswe-
gen, glaube ich, war es auch richtig, genau diesen
Schwerpunkt in den parlamentarischen Debatten zu set-
zen, und zwar ohne einen Konflikt mit der allgemeinen
oder akademischen Bildung zu produzieren. Das festzu-
stellen, ist mir an der Stelle noch einmal ganz wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir brauchen beide Säulen der Qualifikation in unserem
Land, weil sie sich ergänzen. Wir müssen immer wieder
betonen – davon bin ich in der Tat felsenfest über-
zeugt –, dass diese Säulen der Bildung und der Ausbil-
dung gleichwertig sind.

Ich will noch hinzufügen: Gerade das berufliche Bil-
dungssystem halte ich in besonderer Weise für an-
schlussfähig, in besonderer Weise für durchlässig und in
besonderer Weise für geeignet, einmal einen Umweg zu
ermöglichen. Denn in der Kombination von theoretischem
und beruflichem Wissen, die wir in der beruflichen Bil-
dung ja haben, leiten sich ganz andere Berufsperspektiven
ab, leiten sich quasi auch andere Einkommensmöglich-
keiten ab, die sich so manch ein Politikstudent durchaus
wünschen würde. Ich darf das sagen, weil ich selber
solch ein Politikstudent gewesen bin.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das hört auch nie auf!)


Ich habe mich nicht nur einmal mit der Frage eines Ta-
xischeins auseinandergesetzt. Aber Spaß beiseite! Das
ist etwas, was, glaube ich, in den Debatten der letzten
Monate deutlich geworden ist.

Heute ist der Meisterbrief, der große Befähigungs-
nachweis, die Krone der beruflichen Ausbildung in
Deutschland, im Fokus. Er ist – das ist gesagt worden –
Garant für hohe praktische, theoretische und auch so-
ziale Kompetenzen. Er befähigt zum Führen eines Un-
ternehmens, er befähigt dazu, das eigene Wissen auch an
die nächste Generation weiterzugeben. Das Stichwort
„Ausbildung“ ist dazu genannt worden. Er befähigt
dazu, in dem jeweiligen Fach Standards zu setzen und zu
sichern. Dieser Meisterbrief, meine sehr verehrten Da-
men und Herren, steht in der Tat in der Wertigkeit einem
Abschluss an einer Hochschule in nichts nach;


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


erst recht nicht – das habe ich eben schon gesagt – bei
der Eröffnung von Lebensperspektiven. Deswegen ist es
aller Ehren wert, dass wir gemeinsam in diesem Hohen
Haus dafür sorgen, dass der Meisterbrief erhalten bleibt,
gerade weil unser duales Berufsausbildungssystem ein
Exportschlager ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen jetzt – das ist ein kleiner Ausblick ins
nächste Jahr – auch dafür sorgen, dass möglichst viele
Menschen die Chance erhalten, die Meisterschule zu be-
suchen; ich spreche da natürlich vom Meister-BAföG.
Wir werden das Aufstiegsausbildungsförderungsgesetz
– das haben wir uns in der Koalition vorgenommen – im
nächsten Jahr reformieren und novellieren.

Wir wollen die Förderbedingungen verbessern. Wir
wollen den Kreis der geförderten Personen ausweiten.
Wir wollen die Förderung selbst erhöhen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen dabei die Möglichkeit von Frauen ebenso
– ich sage das, mit Verlaub, in dieser Reihenfolge – wie
die Möglichkeit von Menschen mit Behinderungen – wir
haben erst am Mittwoch über die Teilhabe von Men-
schen mit Behinderungen diskutiert –, Meisterschulen zu
besuchen, verbessern. Wir wollen jungen Menschen, die
einen akademischen Bildungsweg eingeschlagen haben,
die aber erkennen, dass das nicht wirklich der richtige
Weg für sie ist, die Möglichkeit eröffnen, die Meister-
schule zu besuchen.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das Jahr
2014 war ein gutes Jahr für die Bildung, weitere werden
folgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807403500

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Martin Feist für die CDU/CSU-Fraktion.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Thomas!)


7076 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

– Ach so, was habe ich gesagt?


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Martin! – Zuruf von der SPD: Das ist auch ein schöner Name!)


– Na ja, gut. Wir haben das jetzt einvernehmlich im Pro-
tokoll klargestellt. Damit steht einem fulminanten Auf-
tritt überhaupt nichts mehr im Wege.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1807403600

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich war nur ganz kurz

etwas unsicher; denn Ihr Wort ist mir natürlich Befehl.
Aufgrund der Qualität der heutigen Schriftführerliste
kann das schon einmal passieren, dass man „Martin“
statt „Thomas“ liest.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir disku-
tieren heute über einen Antrag zum Meisterbrief. Man
muss sich den Hintergrund dieses Antrags vor Augen
führen. Die Europäische Kommission hatte festgestellt:
In vielen Handwerksbranchen, einschließlich des Bauge-
werbes, ist nach wie vor ein Meisterbrief oder eine
gleichwertige Qualifikation erforderlich, um einen Be-
trieb zu führen. – Liebe EU-Kommission, das ist richtig,
und daran werden wir festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Warum macht die Europäische Kommission Vorga-
ben? Ich glaube nicht, dass sie dies tut, um uns zu är-
gern. Was steckt dann also dahinter? Es ist die Frage:
Wie mobil können Menschen in Europa sein? Wie ein-
fach ist die Freizügigkeit in Europa gerade auch im be-
ruflichen Sektor?

Ja, es ist richtig, Mobilität zu fördern. Aber genauso
wichtig ist es, zu erkennen, dass Mobilität Qualität vo-
raussetzt, und Qualität im Bereich der Berufe und auch
im Bereich der beruflichen Bildung erreichen wir nur
durch eine starke Verzahnung von einem theoretischen
Teil und einem praktischen Teil, die dadurch sicherge-
stellt wird, dass Berufsschullehrer und Meister in her-
vorragender Art und Weise zusammenarbeiten. Liebe
Europäische Kommission, dies könnte doch ein Beispiel
für ganz Europa sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Über den Stellenwert von beruflicher Bildung und
akademischer Bildung ist bereits gesprochen worden. Da
schlagen – wie einige Kollegen wissen – zwei Herzen in
meiner Brust. Ich habe einen Gesellenbrief als Hei-
zungsmonteur und einen Doktortitel in Musikwissen-
schaft; eine typische ostdeutsche Bildungsbiografie, die
aber überall möglich ist.


(Lachen des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

– Es muss nicht jeder Musikwissenschaftler werden; das
ist in Ordnung. Aber dann wird man auch nicht gewählt;
das ist die Gefahr gerade in Thüringen. –


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja hochkomplex!)


Diese beiden Herzen schlagen also in meiner Brust. Des-
wegen ist es mir wichtig, dass wir in dieser Debatte die
akademische nicht gegen die berufliche Bildung ausspie-
len, sondern die Gleichwertigkeit von beiden betonen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir für
den Verlauf der weiteren Beratung, dass wir die Gleich-
wertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung
anerkennen. Im Deutschen Qualifikationsrahmen haben
wir dazu einiges gesagt. Auch im Europäischen Qualifi-
kationsrahmen ist uns diesbezüglich Entscheidendes ge-
lungen. Lassen Sie uns daran festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vor dem Hintergrund der Bildungsbiografien kann
man natürlich darüber diskutieren, ob es nicht besser
wäre, wenn eine berufliche Ausbildung der Regelfall
wäre und wenn der gesellschaftliche Druck, ein Studium
aufzunehmen, nicht noch mehr zunähme. Man kann
diese Frage stellen. Vor dem Hintergrund, dass ungefähr
30 Prozent der Studienanfänger ihr Studium vorzeitig
abbrechen, sollte man diese Frage sogar stellen. Dann zu
sagen – dieses Argument ist in dieser Debatte vorgetra-
gen worden –, dass bei einem Studienabbruch die beruf-
liche Bildung immer noch gut genug ist, halte ich für den
genau falschen Hinweis.


(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD])


Wir müssen vielmehr sagen: Berufliche Bildung hat ih-
ren Wert, und aufgrund der Durchlässigkeit unseres Bil-
dungssystems kann jeder mit jeder Qualifikation alles er-
reichen. Das müssen wir den jungen Leuten noch
deutlicher sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Was tun wir als Bund und wir Bildungspolitiker für
die berufliche Bildung? Wir setzen – Kollege Rabanus
hat es angesprochen – Geld ein. Das ist gut und richtig.
Das ist prima investiertes Geld. Aber auch in Sachen
Meisterbrief sind wir nicht untätig. Wir geben beispiels-
weise 24 Millionen Euro im Jahr für die Begabtenstif-
tung aus. Dadurch haben die Leute, die sich auf eine
Meisterprüfung vorbereiten, die Möglichkeit, bis zu zwei
Jahre lang einen bestimmten Betrag als Stipendium zu
erhalten.


(Axel Knoerig [CDU/CSU]: Gute Sache!)


Ich sage Ihnen: Drei Viertel der jungen Menschen, die
diese Förderung bekommen, nutzen sie, um eine Meis-
terprüfung abzulegen. Lassen Sie uns schauen, wie wir
sie noch weiter ausbauen können.

Führen wir uns noch einmal die duale Ausbildung vor
Augen. Als Bildungspolitiker ist mir dieses Thema ein
wichtiges Anliegen. Es geht nicht nur um die Frage, wie

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7077

Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)

erfolgreich das Handwerk ist, sondern es geht auch um
das Image des Handwerks. Für junge Leute, die noch
nicht wissen, welchen Lebensweg sie einschlagen wol-
len – Berufsausbildung oder Studium –, spielt das Image
eine wichtige Rolle. Das Handwerk hat mit seiner
Imagekampagne viel dazu beigetragen, dass die Attrakti-
vität einer Ausbildung in einem Handwerksberuf gestie-
gen ist. Das spiegelt sich noch nicht überall in den Zah-
len wider; aber beispielsweise in Sachsen haben wir bei
den Ausbildungsverhältnissen im Handwerk im letzten
Jahr einen Zuwachs von 4 Prozent verzeichnen können.
Wir sollten den jungen Leuten sagen: Fangt eine Ausbil-
dung im Handwerk an, bringt euch ein, und später könnt
ihr euch vielleicht weiterqualifizieren. Das ist der rich-
tige Ansatz. Dazu sollten wir die jungen Leute ermuti-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für die Ausbildung im Handwerk ist eine Person von
zentraler Bedeutung: der Meister. Der Meister steht wie
kein anderer für das Handwerk. Das sind Menschen, die
mitten im Leben stehen. Das sind Menschen, die Berufs-
und Bildungserfahrung haben. Das sind Menschen, die
sich für andere einsetzen. Da wir heute den Tag des Eh-
renamtes haben, kann man schon einmal sagen, dass
nicht nur das ehrenamtliche Engagement der Meister in
den Handwerkskammern ein hohes Gut ist, sondern auch
das darüber hinausgehende Engagement vieler Hand-
werksmeister. Beispielsweise engagieren sich viele für
die Weiterbildung derjenigen, die in ihrem ersten Bil-
dungsweg nicht so erfolgreich waren.

Wir sollten die Meister auch deswegen stärken, weil
wir dem Handwerk ein Gesicht geben müssen. Deswe-
gen ist dieser Antrag trotz aller Kritik am Antragstext,
die verschiedentlich geäußert worden ist, wichtig. Es ist
doch richtig, dass sich das deutsche Parlament in diese
Debatte einbringt und sagt: Wir entscheiden uns für eine
Unterstützung des Handwerks; wir entscheiden uns für
eine Unterstützung des Meisterbriefs. – Das ist doch ein
wichtiges Signal nach draußen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Den Elan habe ich mir von Ihnen, Frau Andreae, abge-
schaut.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön! Da freue ich mich!)


Allerdings: Ich fokussiere mich auf die Inhalte. Das ist
der Unterschied.

Wenn wir nach Europa und darüber hinaus schauen,
dann stellen wir fest, dass oft gefragt wird: Wie können
wir etwas für unsere jungen Menschen im Bereich der
dualen beruflichen Bildung tun? – Oftmals wird verges-
sen, welchen Anteil die Unternehmen mit ihren Meistern
an der Ausbildung haben und welche finanziellen Mittel
eingesetzt werden. 24 Milliarden Euro im Jahr, die die
Unternehmen einsetzen, sind doch kein Pappenstiel. Üb-
rigens sind viele davon kleine und mittlere Unterneh-
men, die einen Meister oder eine Meisterin an der Spitze
haben.

Schauen wir einmal über Europa hinaus. Wo sind
denn die Länder, in denen Hochtechnologie und Produk-
tion, also Wertschöpfung im eigenen Land, am besten
miteinander verbunden werden? Da fällt mir ein schönes
Beispiel aus Israel ein. Dort gibt es einen Kibbuz, der
Beth El heißt. Der stellt unter anderem Hochtechnolo-
giegüter her. Der Kibbuz hat eine eigene Berufsschule
mit Meistern. Dort werden nicht nur die eigenen Leute
ausgebildet, sondern auch viele Zuwanderer, für die
diese Ausbildungsstätte der erste Anlaufpunkt und eine
Chance für eine gelungene Integration in die Gesell-
schaft ist. Dieses Modell sollte uns doch Mut machen.
Wenn wir außerhalb unseres Landes unser System entde-
cken, sollten wir stolz darauf sein und dazu stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Dass der Meisterbrief in Deutschland auch in letzter
Zeit eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren hat, sieht
man nicht zuletzt daran, dass sich auch unser Bundesprä-
sident zu diesem Thema mehrfach geäußert hat. Ende
November war Bundespräsident Gauck in Dresden und
hat dort an einer Meisterfeier teilgenommen. Er hat da-
von gesprochen, wie wichtig diese Säule in Deutschland
ist.

Dazu muss ich sagen: Ich verstehe oftmals Vorbehalte
unserer europäischen Partner, die sagen: Jetzt kommen
die Deutschen und wissen schon wieder irgendetwas
besser. – In diesem Punkt kann ich sie beruhigen. Wir
wissen nicht nur etwas besser, sondern wir machen das
auch besser. Deswegen sollte dieses Modell des Meister-
briefs auch in Europa das Modell sein, an dem wir uns
orientieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Da es manchmal schwierig ist, von Brüssel nach Ber-
lin zu schauen und zu wissen, was die Abgeordneten hier
machen, würde ich der Kommission empfehlen, in den
Dokumenten nachzuschauen, die von der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates in Straßburg veröf-
fentlicht worden sind. Dort habe ich in diesem Jahr eine
Rede zu diesem Thema gehalten, das nach Europa ge-
hört. Mit einem kurzen Zitat möchte ich schließen:

Exzellenz in der beruflichen Bildung heißt für mich
und meine Kollegen aus dem Deutschen Bundes-
tag, dass wir uns über gemeinsame Ausbildungs-
standards an dem orientieren, was in Deutschland
und anderen Ländern der Gesellenbrief und der
Meisterbrief ist. Auf diese Weise schaffen wir Mo-
bilität im beruflichen Sektor auf hohem und höchs-
tem Niveau. Mobilität der exzellent Qualifizierten
statt Mobilität der Unterbezahlten. Mobilität mit
Mehrwert für alle. Und ein Stück mehr Gerechtig-
keit für junge Menschen in Europa.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


7078 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1807403700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 18/3317 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:

a) Beratung des Antrags der Bundesregierung

Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte
am NATO-geführten Einsatz Resolute Sup-
port Mission für die Ausbildung, Beratung
und Unterstützung der afghanischen nationa-
len Sicherheitskräfte in Afghanistan

Drucksache 18/3246
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Sabine Weiss (Wesel I), Frank Heinrich

(Chemnitz), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Gabi Weber, Dr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer

(Bochum), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der SPD

Transformationsdekade mit zivilen Mitteln
erfolgreich gestalten

Drucksache 18/3405

Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinba-
rung die Aussprache 96 Minuten dauern. – Das ist offen-
sichtlich unstreitig. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
außenminister das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An-
fang 2002 besuchten zwei deutsche Reporter Afghanis-
tan, um den Zustand des Landes nach der Befreiung von
den Taliban zu erkunden. Sie sind eingereist über den
Norden, über die Grenze zu Tadschikistan, und an der
Grenze verabschiedete der Zöllner die beiden Journalis-
ten damals mit den Worten: „Viel Spaß im Mittelalter“.

Das, was die Journalisten damals, im Jahre 2002, ge-
sehen haben, entsprach dem in der Tat. Sie waren ge-
schockt von dem, was sie sahen: Menschen, die in
Lehmhütten ohne Türen hausten, Menschen in Lumpen
rund ums Feuer versammelt, wo das kärgliche Mahl an-
gerichtet wurde. Sie sahen grausame Dinge, wie den
Jungen mit dem verstümmelten Kniegelenk in einem
Dorf in der Provinz Takhar, dessen offene Wunde wohl
mit heißem Teer desinfiziert worden war.

„Stunde null im Mittelalter“, hieß die Überschrift die-
ser Reportage aus dem Jahre 2002, und das Fazit der Re-
portage lautete damals: „Es ist schwer, ein Land wie Af-
ghanistan in die Neuzeit zu holen.“

Meine Damen und Herren, kein Thema hat die außen-
politische Debatte in Deutschland in den vergangenen
Jahren wahrscheinlich so intensiv geprägt wie unser En-
gagement dort am Hindukusch. Es begann mit den An-
schlägen vom 11. September, dem ISAF-Einsatz und der
Konferenz auf dem Bonner Petersberg. Deutschland hat
damals mit Verbündeten Verantwortung für Afghanistan
übernommen und tut das in großem Umfang auch bis
heute.

In weniger als einem Monat ist der NATO-Einsatz
ISAF, der damals begonnen hat, Geschichte. Das muss
für uns natürlich Anlass sein, eine Bilanz zu ziehen, die
auch selbstkritisch sein darf und sein muss. Es geht nicht
darum, ob wir, wie es in diesem Artikel heißt, „Afgha-
nistan in die Neuzeit“ holen oder geholt haben, sondern
es geht vielmehr um die politische Frage, inwieweit sich
unser risikoreicher Einsatz gelohnt hat. Es geht auch da-
rum, was wir richtig gemacht haben und wo Fehler un-
terlaufen sind, und darum, mit welchem Aufwand und
welchen Zielen wir diesen Einsatz für die Zukunft weiter
betreiben sollen.

Die, die immer dagegen waren, diejenigen, die an der
Oberfläche bleiben wollen, sind natürlich immer schnell
dabei, diesen Einsatz als gescheitert anzusehen. Viele
haben dies gesagt oder geschrieben. In der Tat: In Teilen
des Landes floriert immer noch die Drogenökonomie.
Korruption behindert oftmals die Modernisierung von
Staat und Gesellschaft. In vielen Provinzen herrschen
mächtige Warlords. In Teilen des Landes regiert auch
noch Gewalt. Wer sich eine Gleichberechtigung der
Frauen erhofft hat, kann trotz mancher Fortschritte na-
türlich nicht zufrieden sein. Und, ja, es gibt auch immer
noch die radikal-islamischen Taliban.

Alles das ist richtig. Die Frage, die wir uns aber auch
zu stellen haben, lautet: Ist das die ganze Wahrheit?
Denn auf der anderen Seite haben wir vieles für die Ent-
wicklung dieses Landes erreicht. Natürlich leben immer
noch viele Menschen in Armut, aber die durchschnittli-
che Lebenserwartung der Menschen ist eben – und das
ist ein Fortschritt – von 45 auf 60 Jahre gestiegen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die Sterblichkeitsrate von Müttern und Kindern ist ex-
trem gesunken. Erfreulich viele Mädchen gehen zur
Schule. Über 200 000 Studenten sind an den Hochschu-
len eingeschrieben. Es gibt auch asphaltierte Straßen,
Strom, Handys und Autos. Es gibt eine Zivilgesellschaft,
und es gibt eine beachtliche Zahl relativ unabhängiger
Medien. Auf dem Pressefreiheitsindex der Organisation
Reporter ohne Grenzen – das weiß man auch nicht unbe-
dingt – liegt Afghanistan mittlerweile vor seinen Nach-
barstaaten Indien, Pakistan und Usbekistan.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7079

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb sage ich: Alles das ist zwar wahrlich kein
Anlass zur Selbstzufriedenheit, und wir müssen uns für
diesen Einsatz auch nicht gegenseitig auf die Schultern
klopfen, aber es gibt eben ganz konkrete Erfolge, die wir
auch nicht geringschätzen sollten und die ohne den Ein-
satz der internationalen Staatengemeinschaft nicht er-
reicht worden wären.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vielleicht noch wichtiger als die Details, über die viel
gesagt und geschrieben worden ist: Wir haben dieses
Land nicht im Chaos versinken lassen. Wir haben es von
einer terroristischen Herrschaft befreit, und heute geht
keine terroristische Gefahr mehr von Afghanistan aus.
Das ist wichtig für uns, aber das ist genauso wichtig für
Afghanistan selbst.

Ja, Sicherheit und Entwicklung sind immer noch fra-
gil in Afghanistan. Ja, vielleicht haben wir selbst zu
große Erwartungen gehabt und zu große Erwartungen
geweckt mit dem, was wir erreichen wollten. Trotzdem
ist das Land ein anderes geworden. Jüngster Beleg dafür
ist aus meiner Sicht der Wechsel im Präsidentenamt im
Sommer von Hamid Karzai zu Ashraf Ghani, der in die-
ser Woche hier ist. Das war keine leichte Übung, weder
für Afghanistan noch für die internationale Staatenge-
meinschaft. Aber er ist am Ende gelungen, und ich bin
sicher, das wird sich auszahlen.

Die Wahlen im vergangenen Sommer sind schon da-
mals weitgehend abgesichert worden durch afghanische
Sicherheitskräfte. Auch darin zeigt sich, dass sich viele
unserer Bemühungen gelohnt haben.

Die neue Regierung der Nationalen Einheit unter
Staatspräsident Ghani und dem Regierungsvorsitzenden
Abdullah Abdullah hat unsere Unterstützung, damit es
in Afghanistan weiter vorangeht. Diese Unterstützung
– hoffentlich auch in Ihrem Namen – werden wir den
beiden bei ihrem heutigen Besuch in Berlin erneut zusi-
chern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn wir heute auf 13 Jahre Engagement in Afgha-
nistan zurückblicken, dann blicken wir auch auf Opfer
zurück, die wir, die internationale Staatengemeinschaft,
und die wir, auch Deutschland, in den vergangenen Jah-
ren gebracht und noch mehr zu beklagen haben. Über die
Jahre haben Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
über 130 000 Einsätze in Afghanistan geleistet. Bis zu
5 500 waren teilweise gleichzeitig dort im Einsatz.

Seit Beginn dieses Einsatzes haben 55 von ihnen in
Afghanistan ihr Leben gelassen. Hinzu kommen zahlrei-
che körperliche und seelische Verletzungen. Wir geden-
ken der Opfer, und unser aufrichtiges Mitgefühl gilt den
Hinterbliebenen und Angehörigen. Unser Mitgefühl ist
mit all denjenigen, die weiter an ihren Verletzungen zu
tragen haben.

Ich möchte an dieser Stelle unseren Soldatinnen und
Soldaten danken und sagen: Unter oft schwersten Bedin-
gungen haben Sie über die Zeit des gesamten Einsatzes
dazu beigetragen, dass jenes Maß an Sicherheit geschaf-
fen werden konnte, ohne das Wiederaufbau und Ent-
wicklung nicht möglich gewesen wären. Sie haben Ihren
Dienst mit wirklich bemerkenswerter Professionalität
versehen, vom Beginn des Einsatzes bis zum nun erfolg-
ten Abzug aus dem Lager Kunduz und zur Reduzierung
unserer Präsenz in Masar-i-Scharif. Für all das gebühren
Ihnen Dank und größter Respekt unseres Landes.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber unser Engagement war nicht nur auf das Militä-
rische beschränkt und ist es niemals gewesen. Deshalb
gilt derselbe Dank auch den Polizistinnen und Polizisten,
die ihren Beitrag zum Aufbau eigener afghanischer Si-
cherheitskräfte, einer eigenen afghanischen Polizei ge-
leistet haben. Danken möchte ich den vielen deutschen
Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern und
auch den Diplomatinnen und Diplomaten, die – das dür-
fen wir nicht vergessen – unter Eingehung persönlicher
Risiken und mit unglaublich großem Engagement unse-
ren afghanischen Freunden Hoffnung gegeben haben,
dass es eine Alternative zu Krieg und Bürgerkrieg gibt,
dass es eine Zukunft für Afghanistan gibt. Ihnen allen
herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 1. Januar 2015
schlagen wir ein neues Kapitel in der jüngeren afghani-
schen Geschichte auf. Die Regierung in Kabul wird die
volle Verantwortung übernehmen für die innere und äu-
ßere Sicherheit des Landes. Die internationale Unterstüt-
zung endet nicht abrupt, aber sie bekommt ein neues Ge-
sicht. An die Stelle von ISAF tritt der Einsatz von
Resolute Support, und über den militärischen Beitrag
stimmen wir heute ab.

Aber unser Engagement wird auch weiterhin nicht
nur militärisch sein. Wir werden bis 2016 jedes Jahr
430 Millionen Euro in zivile Aufbauhilfe investieren, sei
es für den Aufbau von Schulen, für den weiteren Ausbau
von Infrastruktur, für die Elektrifizierung des Landes
oder für die Stärkung einer Basisgesundheitsversorgung.

Sicherheit ist die Voraussetzung für vieles, auch für
zivile Unterstützung. Aber wenn Afghanistan jemals
vollständig auf eigenen Füßen stehen will, dann braucht
es gerade jetzt nachhaltige Entwicklung. Wir alle haben
lernen müssen, dass wir dafür einen verdammt langen
Atem brauchen. Das gilt auch weiterhin.

Der Ihnen vorliegende Mandatsantrag regelt die Be-
teiligung deutscher bewaffneter Streitkräfte an Resolute
Support. Anders als ISAF ist Resolute Support kein
Kampfeinsatz; denn die beteiligten Streitkräfte haben
nicht die Aufgabe, sich an der Terror- und Drogenbe-
kämpfung zu beteiligen, sondern dieser Einsatz folgt ei-
ner anderen Philosophie, der Philosophie, dass afghani-
sche Sicherheitskräfte zukünftig auf eigenen Füßen
stehen müssen. Sie tragen die volle Verantwortung für
die Sicherheit im Land. Nur in zentralen Bereichen, bei
denen wir heute davon ausgehen müssen, dass da noch
Defizite bestehen, werden Ausbilder und Berater von der
internationalen Staatengemeinschaft zur Verfügung ge-
stellt werden. Daneben wird der Auftrag auch die Not-

7080 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

fallhilfe für zivile Helfer der internationalen Staatenge-
meinschaft beinhalten.

Der Einsatz beruht auf der ausdrücklichen Zustim-
mung der afghanischen Regierung und dem vom Parla-
ment mit eindrucksvoller Mehrheit ratifizierten NATO-
Afghanistan-Truppenstatut. Wir hoffen zudem, dass der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen noch im Dezem-
ber eine Resolution verabschieden wird, die Resolute
Support politisch flankiert. Die Verhandlungen über diese
Resolution laufen derzeit in New York. Wir tun alles,
was wir können, um hier zu einem positiven Ergebnis zu
kommen.

Deutschland wird auch über das Jahr 2015 hinaus in
Afghanistan engagiert bleiben. Das gilt für viele Berei-
che. Was das für den Bereich der Sicherheit und für den
Bereich Ausbildung und Beratung heißt, das werden die
NATO-Verbündeten im Verlaufe des kommenden Jahres
untereinander diskutieren und analysieren, wie Resolute
Support in 2015 verläuft.

Was man aber jetzt schon sagen kann: Die Frage der
Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte wird
auch langfristig von strategischer Bedeutung bleiben.
Deshalb beabsichtigen wir als Bundesregierung, ab 2015
etwa 150 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung zu stel-
len: 80 Millionen Euro für die Finanzierung der afghani-
schen Armee, 70 Millionen Euro für die Polizei.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung
muss weitergehen. Wir stehen zur Unterstützung bereit.
Aber uns muss bewusst sein: Die Einflussmöglichkeiten
von außen haben ihre natürlichen Grenzen, und sie sol-
len sie auch haben. Deshalb: Alle unsere Bemühungen
werden nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die
Afghanen selbst einen erfolgreichen politischen Prozess
gestalten. Ich habe gesagt: Der erste friedliche und de-
mokratische Präsidentenwechsel ist ermutigend; das ist
ein Fortschritt. Aber ich bin auch weiter der Überzeu-
gung, dass nur ein innerafghanischer Versöhnungspro-
zess, nur eine politische Lösung am Ende wirklich dau-
erhaften Frieden für Afghanistan bringen kann.

Wir stehen bereit, Afghanistan weiter zu unterstützen.
Die Mission Resolute Support ist ein Teil dieser Unter-
stützung. Wir erinnern uns: Die ISAF-Mandate haben
hier im Hohen Hause stets eine breite Unterstützung ge-
funden. Ich hoffe, dass das für Resolute Support in ähnli-
cher Weise gilt. Ich jedenfalls glaube, es entspräche der
gemeinsamen Verantwortung, die wir hier für ein schwie-
riges und lang andauerndes Engagement tragen. Deshalb
darf ich Sie, auch im Namen von Frau von der Leyen
– sie kann heute wegen eines Trauerfalls nicht hier sein –
und im Namen der ganzen Bundesregierung, um Zustim-
mung für dieses Mandat bitten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807403800

Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Guten Mor-

gen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen,
liebe Gäste auf den Tribünen!
Nächster Redner in der Debatte ist Wolfgang Gehrcke
für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807403900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Sie werden mir nachsehen,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!)


dass ich als Erstes meinem Kollegen Bodo Ramelow zu
seiner Wahl zum Ministerpräsidenten in Thüringen gra-
tulieren möchte.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gratulation auch an SPD und Grüne! Für mich ist es ein
sehr hoffnungsvolles Zeichen, dass man mit einer klaren
Antikriegsposition – ich habe zusammen mit Bodo
Ramelow an unendlich vielen Demonstrationen gegen
den Krieg in Afghanistan teilgenommen – Wahlen ge-
winnen kann. Das ist ein Signal in eine andere Richtung;
so nehme ich es auf. Deswegen freue ich mich darüber.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh Mann! – Charles M. Huber [CDU/CSU]: Falsche Richtung!)


Ich habe viel darüber nachgedacht und bin zu dem
Schluss gekommen, dass wir uns als Abgeordnete des
Bundestags in der heutigen Parlamentssitzung aus Trauer
um die Opfer des Krieges in Afghanistan – ich sage aus-
drücklich dazu, Herr Außenminister, dass ich die Opfer
sowohl aus Afghanistan als auch aus anderen Ländern
meine – hätten erheben und Abbitte für unseren Anteil
an diesem Krieg mit zahlreichen Opfern leisten müssen.
Eine solche Geste des Parlaments wäre angebracht ge-
wesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich verstehe nicht, warum man die afghanischen Opfer
aus der Trauer immer herausnimmt. Ich weiß, dass es
eine solche Geste nicht geben wird, auch deshalb nicht,
weil es bei den anderen Fraktionen keine Bereitschaft
gibt, sich schonungslos Rechenschaft darüber abzulegen,
was passiert ist.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Anmaßend ist das von Ihnen!)


Der Antrag der Bundesregierung lautet im Klartext:
850 Bundeswehrsoldaten werden im Rahmen eines
12 000 Personen umfassenden Kontingents der NATO
und anderer Staaten in Afghanistan stationiert. Es gibt
bis zum heutigen Tag kein UNO-Mandat dafür. Sie sa-
gen, dass Sie sich darum bemühen werden. Es gibt aber
kein Mandat. Sie entscheiden, obwohl die UNO ihre
Position bisher nicht dargelegt hat. Das bricht mit allem,
was Sie versprochen haben. Das ist kein Abzugsmandat,
sondern ein Mandat, das möglicherweise dafür sorgt,
dass der Krieg weitergeht.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7081

Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Ich erinnere daran, dass wir die Namen der Opfer von
Kunduz, zu deren Tötung ein deutscher Offizier den Be-
fehl gegeben hatte, hier im Parlament hochgehalten ha-
ben. Wir sind damals herausgeflogen. Aber es blieben
die Fragen: Warum ist das Ganze eigentlich passiert?
Hat es keine anderen Wege gegeben? Wurden andere
Wege nicht eingeschlagen, und warum nicht? Wann be-
greift der Bundestag endlich die Schwere der Fehlein-
schätzung, sich am Afghanistan-Krieg beteiligt zu ha-
ben?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Deutschlands Sicherheit ist nicht am Hindukusch ver-
teidigt worden. Deutschland hat Krieg am Hindukusch
geführt. Das hätte angesichts der deutschen Geschichte
und unserer Verantwortung eigentlich unmöglich sein
müssen. Das Parlament hätte eine entsprechende Ent-
scheidung treffen müssen.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Die Rede ist noch schlimmer als erwartet!)


Seit 13 Jahren dauert nun der Krieg in Afghanistan.
Ich frage mich, wann die Bundeswehr endlich vollstän-
dig abgezogen wird. Für einen vollständigen Abzug sor-
gen Sie nicht. Ich frage Sie, ob Sie nicht endlich begrei-
fen wollen, dass dieser Krieg verloren ist, militärisch,
moralisch, sozial und politisch. Meine Fraktion hat als
Einzige von Anfang an kategorisch gesagt: Man kann
den Kampf gegen den Terror gewinnen, wenn man seine
Ursachen austrocknet. Aber ein Krieg gegen den Terror
ist nicht zu gewinnen. – Das ist das Ergebnis und die
Botschaft von Afghanistan.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben im Wesentlichen immer vier Argumente für
den Einsatz in Afghanistan angeführt. Ich habe sie nie
geglaubt. Ich glaube, dass es andere Gründe für diese
Auseinandersetzung gegeben hat.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn!)


Aber ich will mich noch einmal ein Stück weit mit Ihren
Argumenten auseinandersetzen. Sie haben gesagt, der
Krieg in Afghanistan sei ein Krieg gegen den Terror. Ich
frage Sie sehr ernsthaft: Ist die Terrorgefahr heute klei-
ner oder größer geworden? Jeder, der halbwegs hin-
schaut, wird zugeben: Die Terrorgefahr ist heute größer
geworden. Durch die Kriegsbeteiligung der NATO,
Deutschlands und der USA sind Tausende Leute in die
Hände der Terroristen getrieben worden. Das halte ich
für das größte Versagen in diesem Krieg. Was wir nun
im Nahen Osten erleben – ich nenne als Beispiel IS –,
hat seine Wurzeln auch im Afghanistan-Krieg. Sehen Sie
endlich ein, dass dieser Weg falsch ist, dass man einen
anderen Weg einschlagen muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben uns erzählt, dieser Krieg müsse geführt
werden, um die Weiterverbreitung von Massenvernich-
tungswaffen zu stoppen. Wie ist es nun? Ist die Gefahr
kleiner oder größer geworden? Ein Blick darauf zeigt
doch, dass die Gefahr der Weiterverbreitung von Mas-
senvernichtungswaffen größer und nicht kleiner gewor-
den ist. Auch hier war Krieg nicht die richtige Antwort.
Ich frage Sie, ob Sie noch heute Ihr Versprechen einlö-
sen wollen, dass es ein Krieg für Demokratie gewesen
ist.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Schwachsinn!)


Sowohl das, was in Afghanistan herrscht, als auch das,
was wir weltweit erleben – die Entstaatlichung und den
Niedergang von Staaten –, sind ein Schlag gegen die De-
mokratie. Dieser Krieg hat die Demokratie nicht beför-
dert, sondern ein Stück weit vernichtet.

Ihr Argument war: Das ist ein Krieg um Menschen-
rechte. Glauben Sie heute noch ernsthaft, man könne
Menschenrechte mit Krieg verteidigen? Krieg und Tö-
tung, Blut, Dreck und Vernichtung sind immer das Ge-
genteil von Menschenrechten. Dieser Krieg hat Men-
schenrechte nicht verteidigt, sondern infrage gestellt und
vernichtet.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister: Die der Taliban, oder?)


Das wollen wir hier im Parlament aussprechen; denn
ohne eine Auseinandersetzung damit werden wir kein
Stück vorankommen.


(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Kein Wort zu den Taliban!)


Es werden ja Kollegen der SPD und der CDU/CSU
sprechen: Erklären Sie dem Parlament doch einmal, wa-
rum Sie ohne Beschluss der Vereinten Nationen diesen
Einsatz jetzt vom Zaune brechen. Das werden Sie nicht
erklären können. Das widerspricht Ihren eigenen Posi-
tionen. Deswegen wäre die einzig richtige Botschaft:
Schluss mit der deutschen Beteiligung am Afghanistan-
Krieg – vollständig und sofort!


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807404000

Vielen Dank, Wolfgang Gehrcke. – Nächster Redner

in der Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Silberhorn.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Th
Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1807404100


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
2014 ist eine entscheidende Wegmarke in der Entwick-
lung Afghanistans. Zum ersten Mal in der Geschichte
des Landes hat eine demokratisch gewählte Regierung
die Verantwortung an eine andere demokratisch ge-
wählte Regierung übergeben. Auch wenn im Umfeld der
Wahlen und bei der Regierungsbildung danach nicht al-
les reibungslos verlaufen ist: Der friedliche Übergang
der Regierungsverantwortung in Afghanistan ist ein gro-
ßer Erfolg. Es ist vor allem für die afghanische Bevölke-
rung ein Erfolg. Die Afghanen haben sich nicht ein-

7082 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

schüchtern lassen von Drohungen der Taliban. Sie haben
ihr Wahlrecht wahrgenommen. Diese Selbstsicherheit
und dieses Selbstbewusstsein sind eine wichtige Bot-
schaft für Afghanistan und für die internationale Ge-
meinschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dass nun eine Regierung der nationalen Einheit gebil-
det werden konnte, ist ein Ausdruck der Bereitschaft zur
Versöhnung zwischen den verschiedenen Interessen-
gruppen des Landes. Das ist eine wichtige Botschaft;
denn Demokratie ist nicht nur Entscheidung der Mehr-
heit, sondern auch Schutz der Minderheit und Beteili-
gung der Minderheit. Deswegen kommt es darauf an,
dass man einen Interessenausgleich organisiert, dass
man eine Balance zwischen den Kräfteverhältnissen
schafft. Das erst ermöglicht eine stabile Entwicklung.

Afghanistan bleibt auch in den nächsten Jahren auf zi-
vile internationale Unterstützung angewiesen. Wir haben
für militärische Mittel immer nur ein mehr oder weniger
großes Zeitfenster, um Recht und Ordnung in einem
Land wiederherzustellen. Aber danach müssen eben zi-
vile Instrumente greifen, damit eine nachhaltige Ent-
wicklung stattfinden kann. In Afghanistan darf sich nicht
wiederholen, was wir derzeit im Nordirak erleben müs-
sen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb müssen wir die Entwicklungserfolge, die in
den letzten Jahren erreicht worden sind, fortsetzen und
weiter ausbauen. Das Bruttonationaleinkommen in Af-
ghanistan hat sich seit 2001 verdoppelt. In 2001 haben
nur 8 Prozent der Menschen medizinische Grundversor-
gung in Anspruch nehmen können; heute sind es 85 Pro-
zent. Immer mehr Menschen in Afghanistan haben nicht
nur zu medizinischer Versorgung, sondern auch zu Was-
ser, Strom und Bildung Zugang. Im Jahr 2001 sind in
Afghanistan etwa 1 Million Buben zur Schule gegangen.
Heute gibt es dort 9 Millionen Schüler; 40 Prozent da-
von sind Mädchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, es ist so, wie es Friedens-
nobelpreisträgerin Malala in bewegenden Worten ausge-
drückt hat: Nichts ist für Terroristen, für Extremisten
schlimmer als ein Mädchen mit einem Buch. – Deshalb
bleibt Bildung der Schlüssel für nachhaltige Entwick-
lung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Es geht den meisten Afghaninnen und Afghanen
heute deutlich besser als vor 13 Jahren, und unsere Ent-
wicklungszusammenarbeit hat daran einen erheblichen
Anteil. Unsere Experten genießen einen hervorragenden
Ruf in Afghanistan. Deshalb bleibt die deutsche Ent-
wicklungszusammenarbeit auch in Zukunft an der Seite
der afghanischen Bevölkerung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben in unserer Länderstrategie für Afghanistan
fünf Schwerpunkte gesetzt, die wir bis 2017 verwirkli-
chen wollen:

Erstens. Wir brauchen Arbeitsplätze. Wir brauchen
Beschäftigungsperspektiven. Das ist das beste Mittel ge-
gen Extremismus. Jedes Jahr drängen in Afghanistan
400 000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Sie brauchen
die Chance auf eine eigene Zukunft in wirtschaftlicher
Sicherheit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Wir brauchen gute Regierungsführung. Das
ist eine konkrete Erwartung an den Präsidenten und an
die Regierung. Wir wollen signifikante Verbesserungen
beim Kampf gegen Korruption und Willkür.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Drittens. Wir wollen Frauen und Mädchen unterstüt-
zen. Meine Damen und Herren, die Rolle der Frauen in
einer Gesellschaft ist ein Gradmesser für den Entwick-
lungsstand eines Landes.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es kommt auf Frauen und Mädchen an. Wir können da-
rauf nirgendwo verzichten, auch nicht in Afghanistan.

Viertens. Wir wollen afghanischen Flüchtlingen eine
Perspektive geben. Deswegen werden wir in Afghanis-
tan, im Übrigen auch im Nachbarland Pakistan, Flucht-
ursachen bekämpfen und die Reintegration von Rück-
kehrern fördern.

Fünftens. Wir wollen in Nordafghanistan tätig blei-
ben, solange ein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet
ist, auch ohne internationale Soldaten. Besonders im
ländlichen Raum bleibt viel zu tun.

Im Gegenzug für unsere Unterstützung erwarten wir
von der afghanischen Regierung Zug um Zug konkrete
Reformen. Deswegen war Bundesminister Dr. Gerd
Müller im November in Kabul und hat dort den Staats-
präsidenten Ghani und den Regierungsvorsitzenden
Abdullah getroffen. Beide haben einen konkreten Willen
zu umfassenden Reformen gezeigt. Deswegen wollen
wir sie daran messen, dass sie ihre Reformversprechen
auch einlösen.

Wir fordern konkrete Fortschritte in folgenden Berei-
chen:

Zum Ersten fordern wir ein klares Bekenntnis zu De-
mokratie und Menschenrechten. Der Schutz von Frauen
und Mädchen muss insbesondere hier verbessert werden.

Zum Zweiten fordern wir umfassende Wirtschafts-
reformen. Das Land hat erhebliche Rohstoffressourcen,
die aber so genutzt werden müssen, dass sie der breiten
Bevölkerung zugutekommen. Die Rahmenbedingungen
für Investitionen aus dem In- und Ausland müssen bes-
ser werden. Damit wird auch die Voraussetzung dafür
geschaffen, dass eigene staatliche Einnahmen generiert
werden.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7083

Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

Zum Dritten fordern wir von der afghanischen Regie-
rung, dass sie konsequent wirksame Maßnahmen zur
Korruptionsbekämpfung umsetzt. Dort, wo Korruption
herrscht, ist die Allgemeinheit das erste Opfer, meine
Damen und Herren.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie in Bayern!)


Wir fordern weiter konkrete und überprüfbare
Schritte zur Bekämpfung des Drogenanbaus. Die Dro-
genökonomie finanziert den Terrorismus und fördert or-
ganisierte Kriminalität. Deswegen sind Opiumanbau und
Drogenhandel eine große Gefahr für die Sicherheit, für
die Regierbarkeit und für die Entwicklung des Landes.

Es liegt ganz entscheidend an diesem Land selbst, an
seinen Eliten, an den Führungskräften in der Politik und
der Wirtschaft, aber natürlich auch an einer starken Zi-
vilgesellschaft, ob politische Institutionen geschaffen
werden, die stabil und leistungsfähig sind, sodass Afgha-
nistan einen erfolgreichen Weg beschreiten kann, der am
Gemeinwohl, am Wohl der Bevölkerung orientiert ist.

Wir wollen, meine Damen und Herren, Afghanistan
auf diesem Weg begleiten. Deutschland ist immer ein
verlässlicher Partner Afghanistans gewesen. Deswegen
werden wir die Menschen in Afghanistan auch zukünftig
unterstützen, und zwar resolut, wie die neue Mission
– Resolute Support Mission – heißt. Gerade jetzt, wo das
Land nach dem ISAF-Einsatz vor einem weiteren Um-
bruch steht, gilt es, sicherzustellen, dass die Entwick-
lungserfolge erhalten bleiben und weiter ausgebaut wer-
den können. Das Ziel muss sein, dass Afghanistan
immer stärker auf eigenen Füßen steht, nicht nur bei Mi-
litär und Polizei, sondern auch wirtschaftlich. Ohne Ent-
wicklung, meine Damen und Herren, gibt es dauerhaft
keine Sicherheit und keinen Frieden. Und umgekehrt:
Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit kann Entwicklung
nicht stattfinden.

Die NATO-Folgemission Resolute Support Mission
muss deshalb die afghanischen Sicherheitskräfte so
lange unterstützen, bis sie dauerhaft eigenständig in der
Lage sind, Sicherheit zu gewährleisten. Das heißt, wir
müssen die Sicherheit durch fremde Kräfte überführen
in eine Sicherheit aus eigener Kraft, nämlich durch
Afghanen. Bis dahin bleibt auch für die Entwicklungs-
zusammenarbeit von großer Bedeutung, dass wir uns in
Extremsituationen auf die Unterstützung durch interna-
tionale Kräfte verlassen können.

Wir brauchen in Afghanistan sicherlich einen langen
Atem, nicht nur im Sicherheitsbereich, sondern auch und
gerade beim zivilen Wiederaufbau. Ich will daran erin-
nern, dass die Entwicklungsexperten schon in Afghanis-
tan vor Ort waren, bevor die ersten deutschen Soldaten
2002 nach Kabul kamen. Die Schwerpunkte unserer Ent-
wicklungszusammenarbeit waren damals Berufsbildung,
Energie und ländliche Entwicklung. Wenn wir uns nun
daranmachen, nach dem Einsatz mit militärischen Mit-
teln Konfliktnachsorge zu betreiben, dann ist das zu-
gleich Vorsorge, um zukünftige Konflikte zu vermeiden.

Ich bin froh darüber, dass es hier im Hause einen frak-
tionsübergreifenden Konsens gibt, unsere Entwicklungs-
zusammenarbeit in Afghanistan fortzusetzen. Ich danke
für die Unterstützung des Parlaments und darf Sie bitten,
unsere Entwicklungsbemühungen in Afghanistan auch
weiterhin tatkräftig mit zu begleiten und zu unterstützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807404200

Vielen Dank, Thomas Silberhorn. – Nächster Redner

für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Frithjof Schmidt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit fast 13 Jahren ist die Bundeswehr in Afghanistan.
Vieles hat sich dort in dieser Zeit verändert – das ist an-
gesprochen worden –, auch sehr vieles zum Guten. Da-
mit möchte ich beginnen. In dieser Hinsicht kann ich an
Ihre Ausführungen anknüpfen, Herr Außenminister.
Junge Menschen, darunter viele Frauen und Mädchen,
haben Zugang zu Bildung erhalten. Die medizinische
Versorgung im Land hat sich wesentlich verbessert. Es
ist eine plurale Medienlandschaft entstanden. Das alles
ist wichtig. Denn es ist ein Beitrag zur Stabilisierung des
Grundgerüsts, der weiteren Demokratisierung des Lan-
des. Dieser zivile Aufbau muss weitergehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deutschland muss seine Hilfszusagen aus Tokio unein-
geschränkt einhalten.

Wir begrüßen sehr, dass sich der vorliegende Antrag
der Koalitionsfraktionen zur Transformationsdekade zur
Einhaltung der entwicklungspolitischen Ziele bekennt.
Das ist gut. Hier ziehen wir an einem Strang, auch wenn
Sie sich leider nicht zu konkreten Zahlen bekennen; wir
reden ja über das bestehende Volumen von 430 Millio-
nen Euro jährlich. Wir werden Sie hier beim Wort neh-
men. Besonders in den nächsten Haushaltsberatungen
werden wir Sie auch an dieser Zahl messen. Trotz ver-
schiedener Kritikpunkte an Ihrem Text wird meine Frak-
tion diesem Antrag heute zustimmen. Denn es soll auch
zum Ausdruck kommen, dass wir hier politisch an einem
Strang ziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Afghanistan-
Einsatz ist auch eine Geschichte westlicher Fehlein-
schätzungen und gescheiterter Hoffnungen. Am Anfang
stand die Erwartung, dass al-Qaida und die Taliban in ei-
nem, maximal in zwei Jahren besiegt werden könnten;
manche dachten, es geht noch schneller. Das war ein Irr-
tum. Jahrelang wurde vor allem versucht, die Taliban
militärisch zu besiegen. Eine Folge war eine erhebliche
Zahl von Opfern, auch zivilen Opfern, durch nächtliche
Kommandoaktionen, Luftschläge und Drohnenangriffe.
Diese militärische Strategie – das kann man nach fast

7084 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

13 Jahren Afghanistan-Einsatz wohl kaum mehr bestrei-
ten – ist gescheitert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie hat dem Vertrauen in die internationalen Truppen er-
heblich geschadet, und sie hat eine politische Lösung des
Konfliktes jahrelang mehr blockiert als gefördert. Des-
halb war es richtig, 2010 die strategische Wende der in-
ternationalen Gemeinschaft in London zu beschließen,
ein Abzugsdatum für die ISAF-Truppen festzulegen und
sich für eine politische Lösung zu engagieren. Darum
hat meine Fraktion hier vor einem Jahr dem Abzugsman-
dat zur Beendigung von ISAF mit großer Mehrheit zuge-
stimmt.

Jetzt geht es um eine Nachfolgemission. In der Öf-
fentlichkeit ist dazu folgende Botschaft angekommen:
Nach dem Abzug der Kampftruppen gibt es noch für
zwei Jahre Ausbildung und Training, aber ohne Beteili-
gung an der Aufstandsbekämpfung, und 2017 ist dann
auch damit Schluss. – Das müsste im Mandat und im
Operationsplan eindeutig festgelegt werden – wird es
aber nicht. Das leistet das Mandat, das Sie uns hier vor-
legen, nicht. Wann Resolute Support endet, wird nicht
festgelegt. Das politische Versprechen, dass 2017
Schluss ist, wird im Mandatstext nicht eingelöst. Statt-
dessen gab es verschiedene öffentliche Äußerungen, in
denen es hieß, dass es auch zwei, drei oder mehr Jahre
länger dauern kann. Hier droht das Abrutschen auf einer
schiefen Ebene in einen erneuten längerfristigen Einsatz
in Afghanistan ohne Exitstrategie. Das ist nicht akzepta-
bel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die USA stellen über 9 000 der 12 000 Soldaten, die
an Resolute Support beteiligt sind. Wenn sie ihr militäri-
sches Konzept ändern, verändert das diese Mission ent-
scheidend, auch wenn die Bundeswehr bestimmte Dinge
dann nicht mitmacht. Vor wenigen Wochen hat Präsident
Obama entschieden, dass sich die US-Truppen nun doch
direkt an der Aufstandsbekämpfung beteiligen können
und sollen. Jetzt droht Resolute Support eine Fortset-
zung von ISAF zu werden, nur mit stärkerem Schwer-
punkt auf der Aufstandsbekämpfung durch Spezial-
kräfte.

Zu den Aufgaben der Bundeswehr gehört ausdrück-
lich – das ist in dieser Form neu – die Ausbildung und
Beratung der niederen Ebenen der afghanischen Spezial-
kräfte.

Nun haben wir hier schon andere Ausbildungsman-
date für die Bundeswehr verabschiedet, zum Beispiel zu
Mali. Dem hat meine Fraktion zugestimmt. Aber da steht
ausdrücklich drin, dass eine Unterstützung von militäri-
schen Operationen der malischen Streitkräfte nicht statt-
findet. Dieser Passus – schauen Sie es sich an –, diese
eindeutige Festlegung im Mandatstext fehlt hier für
Afghanistan. Warum?

Stattdessen gibt es in der Begründung eine vage For-
mulierung, dass man sich nicht direkt an der Terrorbe-
kämpfung beteiligt. Nicht direkt – was kann das alles be-
deuten, meine Damen und Herren? Dieses Mandat ist an
entscheidenden Punkten gefährlich unklar. Vor dem Hin-
tergrund, dass sich unser größter Partner offensichtlich
auf eine mittelfristige Strategie der Aufstandsbekämp-
fung einstellt, sehe ich die große Gefahr, dass RSM er-
neut in komplizierte Kampfeinsätze verwickelt wird,
und dann wird es sehr schwer, 2017 dort herauszukom-
men.

In diesem Zusammenhang hat es auch große politi-
sche Bedeutung, dass es, anders als für ISAF, bisher kein
UN-Mandat gibt. Das schwächt nicht nur die völker-
rechtliche Legitimation dieses Mandates, sondern es
heißt auch, dass es keine übergeordnete Rahmensetzung
für Entscheidungen der NATO und der USA gibt, was
Art und Dauer des Einsatzes betrifft. Auch das verstärkt
die Gefahr, auf die schiefe Ebene eines langfristigen Mi-
litäreinsatzes zu kommen, den so eigentlich niemand in
diesem Haus gewollt hat. Deshalb kann ich meiner Frak-
tion nicht empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807404300

Vielen Dank, Frithjof Schmidt. – Nächster Redner in

der Debatte: Dr. Hans-Peter Bartels für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1807404400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die heutige Mandatsdebatte markiert eine Zäsur. Der
lange ISAF-Einsatz geht jetzt wirklich zu Ende. Für
Afghanistan bedeutet das Jahr 2014 den Beginn einer
neuen Ära. Es gab Wahlen und erstmals einen friedli-
chen Regierungswechsel – keinen einfachen Wechsel,
aber einen Wechsel, der die alte Regierung nicht liqui-
diert oder ins Exil treibt. Der alte Präsident bleibt im
Land.

Aus Anlass der heutigen Debatte habe ich mich an ei-
nen Artikel erinnert, den Hamid Karzai vor einigen Jah-
ren in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit unter der
Überschrift „Ich habe einen Traum“ veröffentlicht hatte.
Karzai sagt darin:

Mein Traum ist das Afghanistan meiner Kindheit.
Als ich ein Junge war, gab es dieses friedliche Af-
ghanistan. Wir Kinder konnten ohne Gefahr allein
zur Schule gehen … Ich habe diese besseren Tage
gesehen, und ich will sie wieder sehen.

So weit Karzai 2007.

Ich zitiere das, weil mir wichtig ist, dass wir ein we-
nig vorsichtig sind mit den beliebten Pauschalurteilen,
so mit der falschen Behauptung, Afghanistan sei immer
ein schreckliches Land gewesen, mit dem hochmütigen
Glauben, unsere Mitmenschen seien, wenn sie denn
Afghanen sind und in Afghanistan leben, gar nicht zur
Demokratie fähig, oder mit dem entmutigenden Verdikt,
es sei nichts gut in Afghanistan.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7085

Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)

30 Millionen Menschen leben dort jeden Tag ihren
Alltag. Dieser Alltag mag leichter geworden sein durch
die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Vieles ist
besser als zur Zeit der Herrschaft der Taliban. Aber die
Sicherheitslage ist längst nicht gut. Es gibt immer noch
viel zu viel Gewalt in Afghanistan. Natürlich müssen wir
Bilanz ziehen, müssen wir uns heute, am Ende des alten
Mandats und vor dem Beginn des neuen, kritisch fragen:
Ist die Afghanistan-Mission eine gescheiterte Mission
des Westens? Ich glaube, wir dürfen nicht sagen, dass
die Mission gescheitert ist. Wir alle kennen die vielen
unbezweifelbaren Erfolge, und die Soldatinnen und Sol-
daten unserer Bundeswehr haben einen wesentlichen
Anteil daran, wenn auch unter Opfern. Das verdient den
Dank des gesamten Hauses, gerade heute, wenn wir Bi-
lanz über fast 13 Jahre ISAF ziehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber wir sollten uns klar darüber sein, dass unsere
Afghanistan-Mission kein Modell für irgendeine andere
Konfliktregion auf der Welt sein kann. Der Einsatz war
sehr, sehr lang. Seit über zwölf Jahren haben wir Militär
am Hindukusch stationiert; und bis heute wird geschos-
sen, gebombt und gekämpft. Der Einsatz war sehr, sehr
international: 48 Nationen haben Soldatinnen und Solda-
ten nach Afghanistan geschickt, über 80 Nationen helfen
mit zivilen Mitteln. Es ist gut, dass es viele sind; aber
manchmal macht es das noch ein bisschen schwerer.

Unser Einsatz hat unvorstellbar viel Geld gekostet.
Die USA haben auf dem Höhepunkt ihres Engagements
mehr als 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr allein für ih-
ren militärischen Einsatz ausgegeben. Das war ein Viel-
faches der zivilen Hilfe. Ich weiß, dass man so nicht
rechnen kann, aber wir müssen uns heute wenigstens fra-
gen, ob die Proportionen immer gestimmt haben. Ich
selbst habe keine fertige Antwort auf diese Frage.

Afghanistan war in den 80er-Jahren eine Art Symbol
im Kampf gegen die Ausbreitung des sowjetischen Im-
perialismus. Afghanistan ist heute ein Symbol im Kampf
gegen eine ganz andere totalitäre Ideologie: den mörde-
rischen Dschihadismus. Dieser Dschihadismus bedroht
nicht nur Afghanistan oder Irak. Er bedroht Nigeria, Li-
byen, Somalia, Jemen, Syrien und Pakistan. Wir haben
gelesen, dass pakistanische Talibanführer ausdrücklich
zur Unterstützung der Kämpfer des „Islamischen Staa-
tes“, des IS, aufgerufen haben. Deshalb gibt es auch für
Afghanistan eine reale Besorgnis: Gehen die Taliban
heute neue Bündnisse mit dem IS ein wie vor 15 Jahren
mit al-Qaida? Entsteht hier eine weltweit immer einheit-
lichere totalitäre Bewegung? Oder werden sich die
dschihadistischen Gruppen untereinander bekämpfen
wie in Syrien?

Ich glaube, für die Zukunft Afghanistans sind viele
innere Faktoren wichtig, aber auch drei äußere:

Erstens. Der totalitäre Dschihadismus in Syrien und
im Irak muss sichtbar eingedämmt und zerschlagen wer-
den.

Zweitens. Pakistan muss eindeutig die Taliban und
den Dschihadismus in Pakistan und in Afghanistan be-
kämpfen. Die Bedrohung durch den Dschihadismus ist
tödlich. Auch Ambivalenz gegenüber dieser Bedrohung
könnte tödlich sein.

Drittens. Der Westen darf sich nicht von Afghanistan
abwenden. Die Fortsetzung der Entwicklungszusam-
menarbeit ist wichtig. Ebenso wichtig ist die Fortsetzung
einer begrenzten militärischen Präsenz für Beratung und
Unterstützung, und zwar so lange dies nötig ist. Der Mis-
sionsabbruch des Westens im Irak darf kein Modell für
Afghanistan sein. Das darf in Afghanistan nicht passie-
ren.

Zum Schluss ein Wort zu Deutschland. Ich zitiere
noch einmal aus dem Artikel „Ich habe einen Traum“
von Hamid Karzai. Er schreibt:

Um ehrlich zu sein, mir gefällt das Leben in
Deutschland sehr gut. Es ist ein vorhersagbares Le-
ben, und das mag ich. Wenn man an einem Flugha-
fen ankommt und ein Taxi braucht, bekommt man
definitiv ein Taxi. Wenn Sie einen Bus brauchen,
bekommen Sie einen Bus. Es ist ein Land mit einer
strengen Arbeitsethik, das ist extrem wichtig. …
Wenn ich etwa 50 Jahre in die Zukunft sehe, dann
wäre ich froh, wenn wir nur die Hälfte von dem hät-
ten, was Deutschland hat. Ich wäre sogar schon froh
über 30 Prozent.

So weit Karzai.

Ich möchte abschließend sagen: Ich bin froh, dass wir
Deutsche nicht auf der Seite stehen, die dringend Hilfe
braucht – das gab es auch schon mal –, sondern dass wir
diejenigen sind, die Hilfe zur Selbsthilfe geben können.
Dieses Parlament ist bereit, das zu tun.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das war eine wirklich gute Rede von Kollege Bartels! Was droht uns jetzt?)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807404500

Vielen Dank, Hans-Peter Bartels. – Nächste Rednerin

in der Debatte: Christine Buchholz für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807404600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Bundesregierung bemüht sich, den Eindruck zu erwe-
cken, der Kampfeinsatz in Afghanistan sei nun abge-
schlossen, nun gehe es nur noch um die Ausbildung der
afghanischen Streitkräfte. Aber das ist nicht wahr: In Af-
ghanistan herrscht weiter Krieg. Allein in Kabul gab es
in den vergangenen zwei Wochen ein Dutzend An-
schläge, und laut UN ist die Zahl der zivilen Opfer in der
ersten Jahreshälfte 2014 um 17 Prozent gestiegen.

Die Bundeswehr wird im Bündnis mit den US-ameri-
kanischen Truppen und der NATO weiter Teil dieses
Krieges sein. Wie wird der Afghanistan-Einsatz ab 2015
aussehen? Von den 12 000 Soldaten, die die NATO in
Afghanistan ab 2015 stationiert, werden nur etwa ein

7086 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)

Zehntel Ausbilder sein – neun Zehntel des Kontingents
werden von militärischer Logistik, Schutz- und Kampf-
truppen gestellt. Wenn neun Zehntel der stationierten
Soldaten keine Ausbilder sind, dann ist es irreführend,
von einer Ausbildungsmission zu sprechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ja, der Einsatz wird sich verändern. Dass die neue Mis-
sion mit einer deutlich reduzierten Truppenstärke aus-
kommt, zeigt vor allem eines: Kämpfen sollen in Zu-
kunft vor allem die afghanischen Streitkräfte; die
NATO-Staaten unterstützen sie dabei.

Der vorliegende Antrag der Bundesregierung lässt die
Möglichkeit offen, dass Bundeswehrsoldaten den afgha-
nischen Streitkräften auch im Gefecht zur Hilfe kom-
men. Angesichts der weiterhin extrem schlechten Si-
cherheitslage ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieser
Fall eintritt. Erinnern wir uns: 2014 wurden rund
3 500 afghanische Sicherheitskräfte getötet. Wenn im
neuen Mandat nun davon die Rede ist, dass diese Kräfte
im Gefechtsfall zu sichern, zu schützen und zu bergen
sind, dann droht die Bundeswehr Teil ihres Krieges zu
werden. Das, meine Damen und Herren, sollten Sie so-
wohl der Bevölkerung als auch den Soldatinnen und Sol-
daten nicht verschweigen!

2015 wird es weiterhin offensive Aufstandsbekämp-
fung geben; das hat Barack Obama kürzlich noch einmal
klargestellt. Dazu gehört auch ein Schattenkrieg der
Spezialkräfte. Der neue afghanische Präsident, Ashraf
Ghani, hat gerade erst das Verbot der Durchführung von
Nachtrazzien aufgehoben. In diesen Nachtrazzien haben
in der Vergangenheit insbesondere amerikanische Ein-
heiten nachts Dörfer überfallen, Türen eingetreten, Be-
wohner aus dem Schlaf gerissen und Verdächtige ver-
schleppt. Der vorherige Präsident, Hamid Karzai, hatte
dieses Vorgehen 2013 verboten. Ab nächstem Jahr sollen
afghanische Sondereinheiten diese Arbeit wiederaufneh-
men; amerikanische Spezialkräfte werden sie dabei un-
terstützen.

Unterstützung gibt es auch durch die Ausbildung. Be-
reits jetzt werden 200 afghanische Spezialkräfte durch
die US-Armee in Kandahar trainiert, solche Nachtraz-
zien durchzuführen, und auch in dem deutschen Mandat
ist diese Möglichkeit enthalten.

In der Vergangenheit gab es auch Spezialoperationen,
an denen deutsche Soldaten beteiligt waren. Das vorlie-
gende Mandat lässt noch offen, ob Einheiten wie das
Kommando Spezialkräfte weiter den Krieg im Gehei-
men fortführen werden. Wir lehnen diese Kriegsführung
ab und fordern Klarheit von der Regierung,


(Beifall bei der LINKEN)


ob das auch in Zukunft der Fall sein wird.

Für eine Ausbildungsmission braucht man keine
Drohnen; aber die Bundeswehr wird sich mit der Drohne
Heron weiter an der Lagebilderstellung in Afghanistan
beteiligen. Diese Lagebilderstellung ist eine Vorausset-
zung, um Aufstandsbekämpfung und andere kriegeri-
sche Handlungen weiterhin durchzuführen.

Darüber hinaus wird die US-Armee mit Kampfdroh-
nen in Afghanistan bleiben und ihren verbrecherischen
Drohnenkrieg weiterführen. Die Linke lehnt den Einsatz
von Spionage- und Kampfdrohnen auch in Afghanistan
ab. Die Drohne Heron muss unverzüglich aus Afghanis-
tan abgezogen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach über zwölf Jahren NATO-Einsatz ist Afghanis-
tan durch und durch militarisiert. Es gibt 350 000 afgha-
nische Soldaten und Sicherheitskräfte. Es ist bezeich-
nend, dass die Ausgaben für Sicherheitskräfte deutlich
höher als der Staatshaushalt sind.

Daneben können wir ein grassierendes Milizenwesen
und Privatarmeen beobachten. Herr Steinmeier ist leider
nicht mehr anwesend.


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Doch!)


– Er hat sich in die letzte Reihe verdrückt. Herr
Steinmeier, schön, dass Sie noch da sind.

Sie haben neulich in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung gesagt, dass das nicht die Schuld der
intervenierenden NATO-Staaten sei. Die afghanische
Frauenrechtlerin Wazhma Frogh ist deutlich anderer
Meinung. Sie sagte gestern im Deutschlandfunk – ich zi-
tiere –:

Der Westen hat sehr bewusst mit Kriegsfürsten zu-
sammengearbeitet. Mit korrupten Männern, die für
einen grausamen Bürgerkrieg verantwortlich sind
… Diese alten, konservativen Eliten sind heute Mil-
lionäre, Minister und Vizepräsidenten. Der Westen
hat den Kriegsfürsten zu neuer Stärke verholfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde, dass wir mit diesen Verbrechern keine gemein-
same Sache machen sollten.


(Beifall bei der LINKEN)


13 Jahre Krieg gegen den Terror offenbaren das
Scheitern dieses Ansatzes. Gerade die Ausbreitung des
IS ist ein weiteres Argument dafür. Weltweit und in Af-
ghanistan wurde der Terror nicht gestoppt, sondern an-
gefacht. Bitte nehmen Sie diese Realität endlich zur
Kenntnis. Das neue Mandat macht eine weitere Beteili-
gung am Krieg in Afghanistan zum Normalzustand. Das
Ende ist nicht absehbar. Die Linke wird einem solchen
Mandat niemals zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807404700

Vielen Dank, Christine Buchholz. – Nächster Redner

in der Debatte ist Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7087


(A) (C)



(D)(B)


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1807404800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst einmal, Herr Generalinspekteur, möchte ich an
dieser Stelle noch einmal derjenigen gedenken, die in
diesem Einsatz ums Leben gekommen sind. 55 deutsche
Soldaten sind gestorben. Ich finde, dass man in einer sol-
chen Debatte – zum Ende des ISAF-Mandats – als Parla-
ment sagen muss, dass diese Soldaten erstens nicht um-
sonst gestorben sind und dass sie zweitens den Respekt
von uns allen bekommen und ihre Angehörigen immer
in unseren Herzen sind, wenn wir auch zukünftig über
Afghanistan reden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte Sie, Herr Generalinspekteur, das würdevolle
Andenken, das die Bundeswehr praktiziert, an die Solda-
tinnen und Soldaten weiterzutragen. Ich glaube schon,
dass mit dem Afghanistan-Einsatz unser Land gewach-
sen ist und es ein Stück weit erwachsener geworden ist.
In dem Sinne haben wir – das haben wir auf der Mün-
chener Sicherheitskonferenz zum Stichwort „mehr Ver-
antwortung und neue Verantwortung“ gehört – eigentlich
schon in den vergangenen zehn Jahren ein Kapitel vor-
gestellt, aus dem wir Lehren gezogen haben. Wir haben
aus dem Vergleich des Afghanistan-Einsatzes mit dem
Irak-Einsatz der Amerikaner gelernt: Es macht Sinn, das
Anschlussmandat Resolute Support zu beraten und zu
beschließen. Wir wissen heute, dass es ein Fehler der
westlichen Gemeinschaft war, die im Irak eingegriffen
hat – Deutschland war nicht direkt beteiligt –, Hals über
Kopf aus dem Land abzuziehen. Die Ergebnisse im Hin-
blick auf IS sehen wir heute.

Man kann heute über die Entstehungsgeschichte des
Irakkrieges sicherlich unterschiedlicher Meinung sein.
Das ist gar keine Frage. Aber der kopflose Abzug war
ein Fehler. Diesen Fehler dürfen wir in Afghanistan
nicht begehen.


(Beifall des Abg. Charles M. Huber [CDU/ CSU])


Natürlich muss man auch kritisch darüber diskutieren
– das haben wir auch getan; unsere Fraktion hat gemein-
sam mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD den
Fortschrittsbericht auf den Weg gebracht –, was die Leh-
ren aus Afghanistan sind, was wir in Zukunft besser ma-
chen müssen und was wir gänzlich falsch gemacht ha-
ben. Wenn man sich anschaut, wie dieses Mandat
entstanden ist, dann stellt man fest, dass es verschiedene
Gründe gab, weshalb man nach Afghanistan gegangen
ist. Der erste Grund war – der Minister hat es schon an-
gesprochen –, die Fähigkeiten von Terroristen, aus dem
Land als Operationsbasis zu arbeiten, einzudämmen und
Afghanistan aus unserem ureigenen Sicherheitsinteresse
sicherer zu machen. Das ist gelungen. Dieses Ziel haben
wir erreicht. Das war aber auch der kleinste Anspruch an
das Thema Afghanistan.

Der zweite Grund war sicherlich die Festnahme oder
Beseitigung – wie man es auch immer definieren will –
von Osama Bin Laden. An dieser Stelle kann man natür-
lich schon kritisch fragen: Wo ist man Osama Bin Laden
letztendlich begegnet? – Nicht in Afghanistan, sondern
in Pakistan. Dieses Land wird uns in der Zukunft sicher-
lich mehr Probleme bringen, als wir hier am heutigen
Tag diskutieren können. Der eigentliche Schlüssel zur
regionalen Sicherheit liegt in Pakistan. Exemplarisch
kann man es damit belegen, dass sich Osama Bin Laden
dort vor seiner Tötung jahrelang an einem Ort versteckt
halten konnte.

Eine Sache, die ich ansprechen muss – da will ich hier
wirklich niemanden kritisieren, auch keinen, der damals
Verantwortung getragen hatte, insbesondere nicht die da-
mals die Regierung tragenden Fraktionen der Grünen
und der SPD –: Bei der Petersberger Konferenz in Bonn
hat man sich sehr hohe Ziele gesteckt. Ich sage nicht,
dass die Ziele falsch waren; denn es waren gute Ziele.
Aber ich glaube, die Ziele waren – auch das gehört zu
den Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz – an der einen
oder anderen Stelle zu hoch gesteckt; wir haben sie an
vielen Stellen verfehlt.

Das, was Frau Buchholz hier gerade sehr plakativ und
propagandistisch vorgetragen hat, ist an manchen Stellen
nicht falsch. Natürlich arbeitet man dort mit Leuten zu-
sammen, die zwar ganz anders legitimiert sind als früher
die Taliban und die Warlords, deren Herkunft aber den-
noch oft problematisch ist. Man kann aber nur mit denje-
nigen kooperieren, die es dort gibt. Damit rede ich das
nicht schön. Vielmehr sage ich ganz kritisch: Natürlich
wissen wir, dass sowohl die Verwandtschaft des früheren
Präsidenten Karzai als auch ganz viele Minister und
hohe Würdenträger dort extrem problematisch sind. Nur
fehlte mir, ehrlich gesagt, bei Ihrer Präsentation, Frau
Buchholz, schon die Alternative zu dem, was wir ma-
chen. Man kann natürlich hier sagen: Wir verschließen
die Augen und machen in Afghanistan gar nichts mehr. –
Ich glaube aber, dass die Erfolge des Einsatzes es recht-
fertigen, dass wir so gehandelt haben, wie wir gehandelt
haben.

Ich habe gerade zu Ihnen gesagt: 55 deutsche Solda-
ten sind im Einsatz gefallen. Hätte man sich zum Ziel
gesetzt, die Beschlüsse von Petersberg wirklich bis zur
letzten Konsequenz mit militärischer Gewalt durchzuset-
zen, dann wäre es nicht bei diesen 55 Toten geblieben; es
wäre eine weitaus höhere Zahl. Ich glaube nicht, dass
dieses Parlament dazu bereit gewesen wäre, das zu ak-
zeptieren. Ich glaube auch nicht, dass die deutsche Ge-
sellschaft dazu bereit gewesen wäre.

Ein weiterer Grund ist die Bekämpfung des Drogen-
schmuggels und des Drogenanbaus. Man hätte das zum
Kern des Mandats machen können und sagen können:
Wir wollen die Aufgabe in den Mittelpunkt rücken, die-
ses militärisch zu unterbinden. – Auch da haben wir eine
Konzession gemacht; wir haben diese Aufgabe nicht in
den Fokus gerückt, sondern uns auf andere Schwer-
punkte konzentriert. Die Alternative wären viel mehr
Tote gewesen. Auch da wären uns das Parlament und die
Bevölkerung, wie ich glaube, nicht mehr gefolgt.

In der schwierigen Situation, in der man abwägen
muss, mit wem man zusammenarbeiten soll, welche
Ziele realistisch sind und welche man anpassen muss,
haben wir den richtigen Weg gefunden. Wir haben uns

7088 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

mit dem Fortlauf des Mandats von der Konzeption ver-
abschiedet, die auf dem Petersberg gefunden worden ist,
und haben unter Franz Josef Jung massiv darauf hinge-
wirkt, den Comprehensive Approach im Bündnis voran-
zubringen. Nächste Woche diskutieren wir, Kollege Frei,
Kollege Schockenhoff, Frau Bulmahn, über das Thema
zivile Krisenprävention. Ich würde sogar sagen, wir
müssen die Debatte über den Comprehensive Approach
und über mehr Verantwortung um das Thema „zivile
Krisenprävention“ erweitern, gerade jetzt an dieser
Stelle ansetzen und fragen: Was ist jetzt bei Resolute
Support für uns wichtig? Was können wir im Bereich der
zivilen Krisenprävention tun? Es ist hier keine philoso-
phische Debatte, bei der es um die Frage geht: Wie lange
soll so ein Einsatz dauern? Meine Antwort darauf ist
ganz klar: so kurz wie möglich. Dabei muss man so ver-
antwortungsbewusst wie möglich handeln.

Der Einsatz wird natürlich nicht ewig dauern. Des-
halb ist es aller Mühen wert, unsere entwicklungspoliti-
schen Maßnahmen so auf den Weg zu bringen und zu
verstärken, dass sie nachhaltig überprüfbar und gut sind.
Wir haben in dieser Woche eine sehr kritische Diskus-
sion mit unserem Minister Gerd Müller geführt, der die
Defizite ganz offen anspricht. Es gibt hier keine Schön-
färberei: Wenn man im Ministerium Gespräche führt, be-
kommt man an allen Ecken zu hören, was in Afghanistan
gut läuft, was schlecht läuft und wo wir besser werden
müssen. Darüber zu diskutieren, gehört zur Entschei-
dung über die Fortsetzung dieser Mission dazu.

Ich sage aber auch ganz deutlich: Es geht an dieser
Stelle leider nicht ohne militärische Maßnahmen. Ich
würde mir wünschen, dass wir diesen Militäreinsatz hier
heute beenden könnten, aber es geht leider nicht. Ich
sage Ihnen gleichzeitig, dass dies eine der wichtigsten
Lehren aus dem Irakkrieg ist – damit hatte ich angefan-
gen –: Jedes kopflose Abziehen aus Militärmissionen
oder jede Fehlplanung, wie in Libyen, führt dazu, dass
die Situation chaotischer wird und nicht übersichtlicher.

In Afghanistan haben wir es bislang geschafft, geord-
netere Verhältnisse zu schaffen. Wir haben bei weitem
nicht die Ziele erreicht, die wir uns gesetzt haben; aber
jetzt ist die Situation – für die Frauen, für die jungen
Menschen in dem Land, beim Zugang zu medizinischer
Versorgung, bei der Infrastruktur – viel besser, als sie
2001 war. Damit das so bleibt, sind diese militärischen
Absicherungsmaßnahmen notwendig. Wir wollen unsere
Freunde in Afghanistan unterstützen, damit sie ihre Si-
cherheit selber gewährleisten können. Deshalb werbe ich
für diesen Einsatz.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807404900

Vielen Dank, Philipp Mißfelder. – Nächster Redner in

der Debatte: Omid Nouripour vom Bündnis 90/Die Grü-
nen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807405000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mardom

mohtaram Afghanestan, payane ISAF payane hambaste-
giye ma nist. Ma shoma ra faromoush nakhahim kard. –
Ich übersetze: Verehrtes Volk von Afghanistan, das Ende
von ISAF bedeutet nicht das Ende unserer Solidarität.
Wir werden Sie nicht vergessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit diesen Worten durfte ich meine letzte Rede zur
Verlängerung des ISAF-Mandats beenden. Ich finde,
diese Worte sollten weiterhin gelten, genauso wie sie im
Februar gegolten haben.

Es ist kein Geheimnis: Wenn ein Großteil der Trup-
pen abzieht, sinkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
relativ schnell. Es ist kein Geheimnis, dass mit dem Feh-
len der Aufmerksamkeit auch der Wille immer kleiner
wird, genau hinzuschauen, wie die Entwicklungen lau-
fen und welche Mittel man dafür braucht. Jetzt sehen wir
ja bereits, dass sich NGOs beklagen, dass ihre Mittel für
die Afghanistan-Arbeit kleiner werden. Aber gerade bei
Afghanistan dürfen wir nicht nachlassen und nicht in die
Aufmerksamkeitsfalle tappen, unabhängig davon, was in
anderen Teilen der Welt passiert.

Der Afghanistan-Einsatz ist der teuerste, aufwen-
digste und opferreichste Einsatz – nicht nur bei der Bun-
deswehr, sondern auch, wie wir wissen, bei den Afgha-
ninnen und Afghanen – in der bundesrepublikanischen
Geschichte. Abertausende Entwicklungshelferinnen und
Entwicklungshelfer, Soldatinnen und Soldaten, Polizis-
tinnen und Polizisten, Diplomatinnen und Diplomaten
haben in Afghanistan am Wiederaufbau mitgearbeitet.
Ihnen gilt nicht nur unser Dank, sondern auch unsere
Verpflichtung, dass wir alles, was wir können, beitragen
mögen, dass die vielen Errungenschaften, die weit mehr
hätten sein können und müssen – das lag nicht an den
Menschen, die vor Ort gearbeitet haben –, nicht rückgän-
gig gemacht werden können.

Diese Verpflichtung gilt erst recht für die Menschen
in Afghanistan. Wir reden über Menschen, die sehr viel
Hoffnung haben, wir reden über ein sehr junges Volk.
70 Prozent der Bevölkerung sind zwischen 17 und
29 Jahre alt. Das ist eine Generation, die erstmals seit
Dekaden – der Krieg hat nicht mit ISAF angefangen; der
Krieg hat in den 70er-Jahren angefangen – erlebt, wie es
sein kann, wenn das Land ein Stückchen freier ist, wenn
man sich ein wenig mehr entfalten kann. Und es ist vor
allem eine Generation, die sich auch von Gewalt und
Drohungen nicht entmutigen lässt. Wenn man sich an-
schaut, dass 7 Millionen Menschen dieses Jahr zu den
Wahlen gegangen sind, dann sieht man, dass die Hoff-
nung dieser Menschen alles andere als verloren ist.

Aber diese Menschen haben nicht nur Hoffnung, son-
dern sie haben auch eine sehr große Unsicherheit. Die
Frage ist, welche Signale wir setzen und senden können,
damit diese Unsicherheit nicht Oberhand gewinnt und
damit die Hoffnung nicht verloren geht.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7089

Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

Wie geht es weiter mit der Regierung – es ist eine fra-
gile Situation –, wie geht es weiter mit der Unterstüt-
zung? Ich finde, wir sollten ein klares Signal setzen, dass
wir uns weiterhin langfristig und engagiert um Afghanis-
tan mit kümmern werden und dass wir helfen können
und helfen wollen, wo es geht, allen voran im zivilen
Bereich und in der Entwicklungspolitik. Ein gutes Bei-
spiel dafür ist die Polizeiarbeit, die zunächst sehr holprig
begonnen hat. Die deutsche Polizeiausbildung hat sehr
viel Gutes geleistet. Es gab sehr viele engagierte Polizis-
tinnen und Polizisten, die eine tolle Arbeit gemacht ha-
ben. Heute wissen wir, dass nicht nur die Alphabetisie-
rung in der afghanischen Polizei ein großer Erfolg war.
Deutsche Polizistinnen und Polizisten haben im Sinne
von „train the trainer“ 2 000 afghanische Polizistinnen
und Polizisten ausgebildet, die wiederum weitere Afgha-
nen ausbilden, damit sie dort arbeiten können.

Wir müssen einen klaren Schwerpunkt setzen auf Bil-
dung, auf berufliche Chancen und auf Arbeitsplätze in
Afghanistan. Wenn Sie mit jungen Menschen in Afgha-
nistan reden und sie fragen, welche Wünsche und Hoff-
nungen sie haben, dann hören Sie, dass sie die gleichen
haben wie alle anderen jungen Menschen auf der ganzen
Welt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass klar ist, dass
wir den Schwerpunkt dort setzen, wo es notwendig ist,
nämlich im Bereich Bildung und Arbeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da müssen wir weiterhin dranbleiben und dürfen
nicht nachlassen beim Aufbau von Institutionen. Ich
sage ganz bewusst „Institutionen“ und nicht „Personen“.
Gerade in solch einem Land ist es umso wichtiger, dass
Institutionen funktionieren.

Wenn ich jetzt sehe, dass die afghanische Menschen-
rechtskommission, mit der wir seit Jahren hervorragend
zusammenarbeiten, die eine grandiose Arbeit leistet, da-
von bedroht ist, dass die Ernennung der Mitglieder nun
politisch motiviert ist, dann kann ich nur sagen, dass die
internationale Gemeinschaft das keineswegs tolerieren
darf. Wir müssen hier deutlich machen, dass die Men-
schenrechte – in einem Land wie Afghanistan in erster
Linie die Rechte von Mädchen und Frauen – für uns
nicht verhandelbar sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Mein Kollege Schmidt hat bereits darauf hingewie-
sen, dass wir mit einigen Punkten des heute vorliegen-
den Antrags der Bundesregierung nicht einverstanden
sind. Ich finde, dass zur Ehrlichkeit gehört, Herr Außen-
minister, dass man einen solchen Einsatz endlich einmal
evaluiert. Sie haben gesagt, man müsse da kritisch drauf-
schauen. Wir wünschen uns immer noch eine unabhän-
gige und wissenschaftliche Evaluation. Es ist natürlich
mehr als ein Skandal, dass die Bundesregierung nicht
bereit ist, ihre Verantwortung – und zwar ohne bürokrati-
sche Hemmnisse – für die vielen lokalen Kräfte, die ihre
Sicherheit für die Deutschen in Afghanistan geopfert ha-
ben, voll zu übernehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen und werden dranbleiben, damit diesen Men-
schen geholfen werden kann.

Wir werden nichtsdestotrotz dem vorliegenden An-
trag zustimmen, weil wir durch eine möglichst geschlos-
sene Haltung dieses Hohen Hauses das Signal senden
wollen, dass wir die Afghanen nicht vergessen.

Ich kann Ihnen versprechen: Wir werden weiterhin
mit kritischem Blick sehr genau darauf achten, dass die
gemachten Versprechen auch gehalten werden. Unabhän-
gig davon, wie die Grünen sich in Bezug auf Resolute
Support verhalten werden, gilt für meine Fraktion – und
ich glaube, wir sind nicht die Einzigen – absolut und
ohne jegliche Vorbedingung: Wir werden die Afghanin-
nen und Afghanen nicht vergessen. Wir stehen zur Ver-
fügung, zu helfen, wo es geht.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807405100

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner:

Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1807405200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Ende des Jahres 2014 endet nach 13 Jahren der
Kampfauftrag im Rahmen der ISAF-Mission. Damit
geht für die Bundeswehr eine erfolgreiche Arbeit zu
Ende, und für Afghanistan beginnt ein weiterer Ab-
schnitt eines langen Weges hin zu einem Land mit einer
guten Perspektive. Auf diesem Weg werden wir Afgha-
nistan auch in Zukunft begleiten.

Deutschland übernimmt weiter Verantwortung und
stärkt die afghanische Regierung wie auch die afghani-
schen Sicherheitskräfte durch Ausbildung sowie militä-
rische und strategische Beratung. Mit der Nachfolgemis-
sion Resolute Support bringen wir heute einen weiteren
Baustein dafür auf den Weg. Die Bundeswehr hat einen
maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, dass wir den Über-
gang von der ISAF-Mission, von einer robusten Mission,
zu einer eher im Hintergrund sich abspielenden Mission,
nämlich Resolute Support, erfolgreich gestalten.

Lassen Sie mich zunächst eine Rückschau halten, be-
vor ich dann den Blick in die Zukunft richte.

Zuallererst möchte ich mit großem Respekt und aus
tiefstem Herzen Danke sagen: allen Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr, den Mitgliedern der Bundes-
polizei, den zivilen Mitarbeitern und allen Angehörigen,
die in den vergangenen 13 Jahren dazu beigetragen ha-
ben, diesen bisher schwersten Einsatz in der Geschichte
der Bundeswehr so erfolgreich zu gestalten. Sie haben

7090 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

der Verantwortung, die Deutschland mit seinem Engage-
ment übernommen hat, ein Gesicht gegeben.

Im Dienst für uns alle, für die Sicherheit hier in
Deutschland und für die Sicherheit in Afghanistan haben
unsere Männer und Frauen in Uniform schwere Entbeh-
rungen auf sich genommen. Es gibt wohl keinen unter
ihnen, der in dieser Zeit nicht die Geburt oder die Ein-
schulung eines Kindes oder die Hochzeit des besten
Freundes verpasst hat; Augenblicke, die sich nicht nach-
holen lassen. Stattdessen hat man Dienst getan als Späh-
truppführer in einem Fennek, als Mechanikerin an einem
Hubschrauber oder als Sanitäter in einem Lazarett. Für
die meisten von ihnen ist diese Arbeit mehr als ein Be-
ruf: Es ist ein Dienst für unser Land, ein Dienst an unse-
rer Gesellschaft. Dafür gebührt ihnen unser Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


55 dieser Soldaten haben diesen Dienst für uns mit
dem Leben bezahlt. Viele weitere sind an Körper und
Seele verwundet worden. Den Hinterbliebenen spreche
ich mein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Der Toten der
Bundeswehr gedenken wir am Ehrenmal der Bundes-
wehr im Verteidigungsministerium und im „Wald der Er-
innerung“ am Standort des Einsatzführungskommandos
in Potsdam. Es ist gut, dass wir ebenfalls darüber disku-
tieren, wo wir eine Würdigung im parlamentarischen
Raum ermöglichen können, um der Tatsache Ausdruck
zu verleihen, dass es sich um eine Parlamentsarmee han-
delt. Diese Gedenkstätten ergänzen sich gegenseitig und
dokumentieren die gemeinsame Verantwortung von Le-
gislative und Exekutive.

Erinnern wir uns: Afghanistan war als Staat zerfallen
– Außenminister Steinmeier hat das dargestellt –; die Ta-
liban herrschten mit einem Schreckensregime, unter des-
sen Mantel die Terroristen der al-Qaida eine Heimat ge-
funden hatten; von hier aus wurden die Anschläge des
11. September 2001 geplant; das Wertesystem der west-
lichen Welt wurde von afghanischem Boden aus ange-
griffen. Dagegen mussten wir uns gemeinsam wehren.
Damit sich solche Angriffe nicht wiederholen, mussten
wir den Terroristen deren Unterschlupf und Nährboden
nehmen und gleichzeitig das afghanische Volk wieder in
die Lage versetzen, ein staatliches Gewaltmonopol auf-
zubauen und eine friedliche, zivile Perspektive zu entwi-
ckeln.

Vieles davon ist in den letzten Jahren gelungen. Es ist
gelungen, die Terroristen der al-Qaida zurückzudrängen.
Das militärische Eingreifen der Staatengemeinschaft war
die Voraussetzung dafür. Es ist aber auch eine notwen-
dige Voraussetzung für Bildung, für Staatlichkeit, für zi-
vile Strukturen; Staatssekretär Silberhorn hat das noch
einmal verdeutlicht. Dies hat der damalige Verteidi-
gungsminister, Dr. Jung, frühzeitig erkannt und mit dem
Begriff der vernetzten Sicherheit im letzten Weißbuch
der Bundeswehr festgeschrieben. Das Militär bildet eben
oftmals die Voraussetzung und den notwendigen Sicher-
heitsschirm, unter dem sich diese Maßnahmen dann ent-
wickeln können.
Das Gesamtergebnis kann sich sehen lassen. Natür-
lich gibt es in Afghanistan noch viel zu tun. Natürlich ist
Afghanistan noch nicht am Ziel. Aber vieles ist jetzt gut,
und vieles ist besser geworden in Afghanistan.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])


Wir sehen eine neue Generation von jungen Afghanen
heranwachsen, die erstmals eine Perspektive für ein gu-
tes Leben haben und mehr aus sich und dem eigenen
Land machen können. Der Torhüter des Fußballvereins
VfB Oldenburg heißt Mansur Faqiryar. Er ist in seiner
Heimat ein Held. Er ist Torhüter der afghanischen Fuß-
ballnationalmannschaft, und die Afghanen sind ein fuß-
ballbegeistertes Volk. Mansur erzählte mir hier in Berlin,
dass es noch nicht lange her sei, dass im Stadion von Ka-
bul junge Frauen gesteinigt worden seien. Heute wird
dort wieder Fußball gespielt. Erstmals seit Jahrzehnten
können Mädchen und Frauen zur Schule oder zur Uni-
versität gehen. Insbesondere sie waren vollkommen ent-
rechtet und abgeschnitten von jeglicher Hoffnung und
Würde. Dazu, dass das besser geworden ist, hat auch der
Einsatz der Bundeswehr einen wesentlichen Beitrag ge-
leistet. – Das sollten auch Sie als Linke zur Kenntnis
nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Weg zu einer freien Gesellschaft ist lang; aber je-
der Schritt lohnt sich, denn es ist ein Schritt hin zu einer
besseren Welt. Deutschland hat bewiesen, dass Verant-
wortung nicht nur ein Wort ist. Deutschland hat sich
dazu bekannt, Verantwortung in diesem Sinne in der
Welt zu übernehmen. RSM ist ein Beleg dafür, dass
diese Verantwortung nicht nur ein Lippenbekenntnis ist,
sondern Ausdruck eines Weges hin zu einem stabilen
Afghanistan. Das machen wir nicht allein, sondern im-
mer in Zusammenarbeit mit Freunden und Partnern.

Das Mandat umfasst 850 Soldaten. Damit folgen wir
der militärischen Empfehlung und schaffen einen ange-
messenen Personalrahmen für unsere Aufgaben in Af-
ghanistan. Eingesetzt sind die deutschen Soldaten im
Norden von Afghanistan und in der Hauptstadt. Der
Schwerpunkt des Auftrags liegt in der Ausbildung und
Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte sowie der
Regierung. Außerdem haben wir die Fähigkeit, uns an-
vertraute Menschen vor Bedrohung zu schützen und zu
befreien. – Herr Dr. Schmidt, da das in dem Mandat sehr
konkret abgebildet ist, habe ich Ihre Eingabe nicht ver-
standen. – Wir unterhalten einen militärischen Flugbe-
trieb, auch zur Rettung Verwundeter, mit den CH-53-
Hubschraubern.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807405300

Herr Otte, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung

von Christian Ströbele?


Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1807405400

Ich würde gerne diesen Ansatz weiter ausführen, auch

angesichts der Redezeit, die mir noch zur Verfügung
steht.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7091

Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

Zusammengefasst kann man sagen: Wir unterstützen
einen dreigliedrigen Ansatz, den wir in der NATO für
Afghanistan entwickelt haben: Erstens. Kurzfristig tra-
gen wir dazu bei, dass die Fähigkeiten der afghanischen
nationalen Sicherheitskräfte durch Ausbildung und durch
Beratung ausgebaut werden. Zweitens. Mittelfristig leis-
ten wir einen Beitrag mit der NATO zum Erhalt der af-
ghanischen Sicherheitskräfte. Drittens will die NATO
langfristig mit Afghanistan ein dauerhaftes Partner-
schaftsabkommen eingehen.

Fazit: In den vergangenen 13 Jahren konnten in Af-
ghanistan viele Verbesserungen erreicht werden. Afgha-
nistan ist noch lange nicht am Ziel. Insbesondere die Re-
gierung um Präsident Ghani ist aufgefordert, einen Weg
der Stabilität und Sicherheit und auch der Versöhnung
konsequent zu gehen. Mit RSM gehen wir als Teil der
Staatengemeinschaft diesen Weg konsequent mit. Das ist
Teil unserer Verantwortung, die die deutsche Außenpoli-
tik in der Welt wahrnimmt.

Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr tragen
eine Hauptlast dieses Auftrags mit dem neuen Mandat.
Deswegen werbe ich dafür, dass wir eine breite Unter-
stützung im Deutschen Bundestag für dieses Mandat er-
teilen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807405500

Vielen Dank, Henning Otte. – Das Wort zu einer

Kurzintervention hat der Abgeordnete Christian
Ströbele.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Hat er wieder keine Redezeit bekommen?)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Otte, ich be-
dauere, dass Sie die Frage nicht zugelassen haben. Ich
höre die ganze Zeit dieser Diskussion mit Interesse zu,
stelle aber fest, dass es eigentlich gar keine Diskussion
ist, weil auf die gegenseitigen Argumente, vor allen Din-
gen die Argumente der Opposition, gar nicht eingegan-
gen wird. Es wird im Wesentlichen das vorgetragen, was
man sich vorher vorgenommen hat, ohne dass der eine
auf den anderen eingeht.

Deshalb stelle ich nun ganz konkret hier in den Raum
– vielleicht kann auch der Bundesaußenminister dazu
noch etwas sagen –: Wir kritisieren, dass – das ist ganz
augenscheinlich – die deutsche Bundeswehr im Rahmen
einer großen NATO-Aktion mit 12 000 Soldaten tätig
werden soll. Es wird immer wieder betont, dass es sich
nicht um ein Kampfmandat handelt und dass die Bun-
deswehrsoldaten nicht eingreifen sollen. Gleichzeitig
hören wir aber – der Kollege Schmidt hat darauf hinge-
wiesen –, dass der größte Truppensteller, nämlich die
USA, eine klare Fortsetzung der Kampfeinsätze plant.
Die USA planen, die Kommandounternehmen, die ille-
galen gezielten Hinrichtungen durch Drohnen und die
bisherigen Einsätze fortzusetzen. An der Politik ändert
sich nur insofern etwas, als nicht mehr so viele Soldaten
da sind und diese sich auf – ich sage mal – diese Terror-
aktionen konzentrieren. Das ist unsere Besorgnis.

Ich frage jetzt die Bundesregierung, und ich hätte Sie
gerne gefragt: Was sagen Sie eigentlich dazu? Sehen Sie
nicht diese Gefahr? War die Bundesregierung in die
Überlegungen der US-Amerikaner, mit denen zusammen
wir jetzt in Afghanistan tätig werden sollen, eingebun-
den? Haben Sie zugestimmt? Haben Sie Bedenken dage-
gen geäußert? Fürchten Sie nicht auch, dass die Bundes-
wehr wie schon einmal vor Jahren wieder in einen
veritablen zusätzlichen Krieg hineingezogen wird? Denn
wir dürfen ja nicht vergessen: Auch ISAF war ursprüng-
lich ausdrücklich kein Kampfmandat, sondern lediglich
ein Schutzmandat für die Verwaltung in Kabul. Daraus
ist ein Kampf- und Kriegsmandat geworden. Viele, auch
ich, fürchten zu Recht, dass das wieder so kommt. Es
braucht nur irgendein Vorfall zu passieren, und dann sind
wir wieder mittendrin. Dann wollen Sie wieder die Zu-
stimmung des Deutschen Bundestages zu einem ergän-
zenden Mandat einholen, damit sich die Bundeswehr
wieder an solchen Kampf- und Kriegsaktionen beteili-
gen kann.

Darauf hätte ich gerne eine Antwort. Diese Frage
stellt sich auch die Bevölkerung. Die Bevölkerung er-
wartet, dass der eine auf die Argumente des anderen ein-
geht und dass die Koalition, die diesen Antrag befürwor-
tet, auf diese Frage eine Antwort gibt. Wie wollen Sie
verhindern, dass eine Entwicklung eintritt, wie sie nach
2001 schon einmal eingetreten ist?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807405600

Vielen Dank, Christian Ströbele. – Herr Otte, Sie ha-

ben jetzt die Möglichkeit zu einer Antwort.


Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1807405700

Herr Ströbele, zuerst einmal müssen Sie diese Diskus-

sion in Ihrer Fraktion führen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Noch sind Sie an der Regierung!)


Ich bin Herrn Nouripour sehr dankbar dafür, dass er ge-
sagt hat, dass wir das afghanische Volk nicht im Stich
lassen. Ich glaube, das war eine gute Aussage.

Zweitens muss ich mit Bedauern feststellen, dass Sie
in Ihrer Intervention gar nicht auf meine Rede eingegan-
gen sind, sondern nur, wie jedes Mal in diesen Debatten,
Ihre vorgefertigten Behauptungen noch einmal wieder-
holt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Drittens möchte ich Ihnen sagen, dass oftmals erst mit
militärischen Mitteln die Voraussetzungen dafür ge-
schaffen werden können, dass zivile Maßnahmen mög-
lich werden,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist die Schallplatte!)


7092 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

dass Bildung und Infrastruktur erreicht werden können,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach, mit gezielten Tötungen wird die Infrastruktur gestärkt?)


und auch das sollten Sie bitte einmal zur Kenntnis neh-
men, auch wenn Ihnen das offensichtlich schwerfällt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807405800

Vielen Dank, Herr Kollege Otte. – Wir fahren nun in

der Debatte mit dem nächsten Redner fort: Stefan
Rebmann für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1807405900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zum ersten Mal seit 13 Jahren, Herr Ströbele,
debattieren wir heute hier kurz vor Jahresende nicht
mehr über die Verlängerung eines ISAF-Mandats,


(Lachen des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


sondern heute stehen die entwicklungspolitische Kom-
ponente und das zivile Engagement in Afghanistan viel
stärker als bisher im Vordergrund. Das ist, wie ich
meine, eine positive Nachricht. Es geht in dieser Debatte
zwar um einen Bundeswehreinsatz in Afghanistan, aber
wir debattieren heute auch über einen entwicklungspoli-
tischen Antrag. Ich bitte doch, das in der ganzen Diskus-
sion nicht zu vergessen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Charles M. Huber [CDU/CSU])


Im Zentrum unseres entwicklungspolitischen Antrags
hierzu stehen die Unterstützung und Förderung demokra-
tischer Prozesse, die Wirtschafts- und Beschäftigungsför-
derung, die Schul- und Berufsbildung, der Aufbau von
leistungsfähigen staatlichen Institutionen und gute Re-
gierungsführung. Ich finde, das ist auch gut so; denn
ohne weitere entwicklungspolitische Fortschritte wird es
keine dauerhafte selbsttragende Sicherheit in Afghanis-
tan geben.

Entwicklungspolitik und vor allem die Entwicklungs-
arbeit vor Ort finden in der Regel abseits von Kameras
statt. Die Entwicklungsfachkräfte – die Kolleginnen und
Kollegen der GIZ, der KfW und der zahlreichen NGOs –
sind auch dann noch vor Ort, wenn der Medientross
schon längst weitergezogen ist.

Wir hier im Parlament setzen den Rahmen, stellen die
finanziellen Mittel zur Verfügung und geben die Rich-
tung vor. Erfolgreich umsetzen müssen das dann aber die
engagierten Entwicklungsfachkräfte, die vor Ort sind.
Ich finde, dafür gebührt ihnen unser aller Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will hier nur auf einige wenige Erfolge hinweisen
– das ist auch schon angesprochen worden –:
Vor 13 Jahren ging etwa 1 Million Kinder zur Schule,
heute sind es über 9 Millionen – darunter über 40 Pro-
zent Mädchen. 2001 gab es 8 000 Studenten, heute sind es
über 200 000 – darunter viele Frauen. Heute verfügt Af-
ghanistan über 2 500 Kilometer asphaltierte und befes-
tigte Straßen, 2002 waren es 50 Kilometer.

Als ich im letzten Jahr mit einer AwZ-Delegation in
Afghanistan war, haben wir eine 30 Kilometer lange
Straße gesehen, die gebaut worden ist und die von
Masar-i-Scharif zum Ali-Baba-Gate führt. Auf dieser
Straße kam uns ein älterer Mann mit einem Esel entge-
gen. Wir haben mit ihm sprechen können, und er hat uns
gesagt: Diese Straße rettet Leben.

Diese Straße rettet Leben, weil die Menschen dort
jetzt nicht mehr fünf Stunden von ihrem Dorf nach
Masar-i-Scharif brauchen – am Fluss entlang, wo vorher
die Straße verlaufen ist –, sondern weniger als eine
Stunde. Er hat gesagt, sie haben dadurch Zugang zur Ge-
sundheitsversorgung und zu Medizin, ihre Kinder kön-
nen zur Schule gehen, und sie können Handel treiben.
Wir haben gesehen, dass rechts und links an dieser einfa-
chen Straße Gebäude und Kleingewerbe entstanden sind
und Handel betrieben wurde. Durch eine einfache Straße
entsteht Entwicklung, und die Menschen lernen sich
kennen. Ich finde, in diese Richtung sollten wir weiterar-
beiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt in Afghanistan ein Berufsbildungssystem, das
mit deutscher Unterstützung aufgebaut worden ist.
Afghanistan ist ein junges Land. Wir haben es schon ge-
hört: 70 Prozent der Afghanen sind unter 25 Jahre alt.
Diese jungen Menschen brauchen eine Zukunftsperspek-
tive in ihrem Land. Sie brauchen Arbeit. Sie brauchen
Sicherheit. Sie brauchen Einkommen. Sie brauchen Per-
spektiven. Wenn wir diese Grundbedürfnisse nicht erfül-
len können, dann drohen Frust, Abwanderungsbewegun-
gen und politische Radikalisierung.

Wir sollten die Erfolge und die positiven Entwicklun-
gen – die Liste könnte ich noch fortsetzen – nicht klein-
reden. Diese Erfolge müssen aber abgesichert werden;
denn – auch das gehört zur Wahrheit – es ist längst noch
nicht alles auf einem guten Weg in Afghanistan und hat
in vielen Bereichen noch einen sehr langen Weg vor
sich.

Eine große Herausforderung zum Beispiel besteht
nach wie vor bei den Frauen- und Mädchenrechten, bei
der allgegenwärtigen Korruption bis hin zum Opium-
anbau. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir für eine
gute Regierungsführung sorgen und diese fördern, dass
wir Frauenrechte stärken und dass wir zum Beispiel
kleinbäuerliche Strukturen, Genossenschaften und die
Landwirtschaft fördern. Denn ein Bauer, der sein Ge-
müse, seinen Weizen und seine Früchte ernten und ver-
markten kann, der hat es nicht nötig, in den Opiumanbau
zu investieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7093

Stefan Rebmann


(A) (C)



(D)(B)

Wir brauchen in Afghanistan tragfähige Impulse für
eine nachhaltige Beschäftigung und Wirtschaftspolitik.
Davon sind wir aber nach wie vor noch weit entfernt,
wie im Fortschrittsbericht zu lesen ist.

Frau Präsidentin, ich komme dann demnächst zum
Ende, –


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807406000

„Demnächst“ ist ziemlich schnell, bitte.


Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1807406100

– denn hier blinkt es ganz aufgeregt; damit das ent-

sprechend repariert werden kann.

Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr
Rechtssicherheit. Die leisen Hoffnungen, die die aktuel-
len Vorhaben der Regierung der Nationalen Einheit we-
cken, sollten wir meines Erachtens unterstützen. Wir
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
sehen in Afghanistan eine ganze Reihe von positiven
Entwicklungen. Wir müssen aber auch sehen, wie müh-
sam, schmerzhaft und oft auch traurig der Weg in den
vergangenen 13 Jahren war, und wir müssen sehen, wie
fragil diese Erfolge sind. Wir brauchen Beharrlichkeit
und strategische Geduld.

Mögen auch die Scheinwerfer nach und nach ausge-
gangen sein und die Kameras sich woandershin wenden:
Wir müssen in Afghanistan bleiben. Wir müssen den
Menschen eine Zukunft geben, und wir müssen zu unse-
ren Zusagen stehen.

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807406200

Danke, lieber Kollege Rebmann. Es ist repariert. –

Dann hat jetzt der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1807406300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor dem Hintergrund der Regierungsbildung, vor dem
Hintergrund des Endes von ISAF und des Starts von Re-
solute Support sowie im Rahmen der Transformations-
dekade hatte ich in diesem Herbst zweimal die Gelegen-
heit, Afghanistan zu besuchen. Dabei habe ich unter
anderem die Gelegenheit gehabt, ein Gespräch mit einer
afghanischen Abgeordneten, Frau Barakzai, zu führen,
die eine mutige Frau ist; sie hat zur Zeit der Taliban-
Herrschaft heimlich eine Mädchenschule geführt und
kämpft als Abgeordnete und Frauenrechtlerin in Afgha-
nistan für die Rechte der Frauen und den Aufbau einer
Zivilgesellschaft.

Wir haben unter anderem darüber gesprochen, wie
man in der afghanischen Verfassung, in dieser sehr stark
auf den Präsidenten zugeschnittenen Verfassung, mehr
parlamentarische Elemente implementieren kann. Wir
haben darüber gesprochen, wie sehr insbesondere die
junge afghanische Bevölkerung das Wort „Demokratie“
nicht als eine hohle Phrase empfindet, sondern ganz im
Gegenteil als eine Riesenchance für ihr Leben. Das hat
man nicht zuletzt daran gesehen, dass über 7 Millionen
Afghaninnen und Afghanen an der Präsidentschaftswahl
teilgenommen haben, obwohl dies mit unmittelbaren
Gefahren für Leib und Leben für sie verbunden war.

Dieses Gespräch mit Frau Barakzai – die mir auch ge-
sagt hat, dass sie selbst dann ihre Stimme abgegeben
hätte, wenn die Taliban ihr den Kopf abgeschnitten hät-
ten – ist mir vor allen Dingen auch deshalb so in Erinne-
rung geblieben, weil wenig später, am 16. November, ein
Anschlag auf sie verübt wurde, dem sie zwar verletzt
entkommen ist, aber drei Begleiter kamen ums Leben,
und 20 Passanten wurden schwer verletzt.

Diese Geschichte zeigt aus meiner Sicht exemplarisch
zwei Grundwahrheiten in Afghanistan: Zum einen – da-
rauf sind die Vorredner umfassend eingegangen – ist in
den 13 Jahren des ISAF-Einsatzes unheimlich viel er-
reicht worden. An vielen Beispielen kann man sehen,
dass die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und
das, was im Bereich der Infrastrukturentwicklung und in
anderen Bereichen passiert ist, letztlich die Grundlage
für eine weitere gute Entwicklung des Landes für die Zu-
kunft bedeuten.

Zum anderen aber ist neben den nackten Zahlen, die
auch eine Vervielfachung des Bruttoinlandsprodukts zei-
gen, deren Auswirkungen bei den Menschen unmittelbar
ankommen, eine Änderung im Denken und im Bewusst-
sein der Menschen zu erkennen; die Tatsache, dass man
förmlich spürt, dass die Menschen sich nicht einschüch-
tern lassen wollen, dass sie die Taliban nicht mehr
wollen, dass sie die Errungenschaften der Vergangenheit
nicht aufgeben wollen, sondern im Gegenteil dieses
Land tatkräftig mitgestalten und mitentwickeln möchten.

Ich bin davon überzeugt, dass wir in Afghanistan
tragfähige staatliche Strukturen brauchen, um die Kor-
ruption einzudämmen, damit letztlich der Staat sein Ge-
waltmonopol durchsetzen kann, und zwar nicht nur in
Kabul, nicht nur in den Provinzhauptstädten, sondern
eben auch in der Peripherie des Landes, um die Grund-
bedürfnisse der Menschen erfüllen zu können.

Damit kommen wir zu dem größten Defizit, das der-
zeit besteht, nämlich die mangelnde Sicherheit. Dieser
Anschlag auf Frau Barakzai, von dem ich gesprochen
habe, ist mitten in Kabul passiert, also der Hauptstadt,
die wir eigentlich für sicher gehalten haben. Deshalb ist
in diesem Bereich noch vieles zu tun. Wir schaffen es
nur mit stärkeren staatlichen Strukturen in Afghanistan.
Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.

Wenn man das zugrunde legt, wenn man auf stärkere
staatliche Strukturen setzt, mit denen dafür gesorgt wird,
die Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen, dann
wird das dabei helfen, dass sich die Taliban in der Bevöl-
kerung nicht erneut verwurzeln und konsolidieren kön-
nen. Das wird auch dazu führen, dass die Zivilgesell-
schaft gestärkt und eine wirtschaftliche Entwicklung im
Land entfesselt werden kann. Vor diesem Hintergrund
und angesichts dieser Zielsetzung ist das, was jetzt mit
Resolute Support erreicht werden soll, folgerichtig.

7094 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Thorsten Frei


(A) (C)



(D)(B)

Lieber Herr Ströbele, ich möchte an dieser Stelle sa-
gen: Ich hatte nicht den Eindruck, dass dies ein Schlag-
abtausch mit vorgefertigten Argumenten ist. Ganz im
Gegenteil: Von Ihnen habe ich kein vernünftiges Argu-
ment gehört. Ich will es anders formulieren: Sie haben
zwar berechtigte Bedenken angeführt; das ist richtig.
Manchem Argument, das Sie genannt haben, kann man
sogar folgen und sagen: Ja, das stimmt. Damit sind Ge-
fahren verbunden. – Aber worauf Sie mit keiner Silbe
eingegangen sind, ist die Frage der Alternativen. Was
haben Sie denn für Alternativen, um zu einer positiven
Entwicklung dieses Landes beizutragen? Das können Sie
mir gerne im Anschluss an diese Rede sagen. Ich werde
Ihnen gespannt zuhören.

Es geht letztlich darum, dass wir den Übergang schaf-
fen, und nicht darum – das hat das Beispiel Irak ge-
zeigt –, kopflos das Land zu verlassen, es im Stich zu
lassen, wie Ihr Fraktionskollege Nouripour gesagt hat,
sondern zu helfen. Wir müssen das, wofür wir 2001 im
Land Verantwortung übernommen haben, weiterführen
und zu einem guten und verantwortungsvollen Ende
bringen. Dafür übernehmen wir in der Speiche Nord
Masar-i-Scharif unmittelbare Führungsverantwortung
– auch das ist eine Antwort auf Ihre Frage – und statten
dieses Mandat mit 850 Mann Personalobergrenze aus.
Ich hoffe wirklich, dass das reicht. Ich persönlich hätte
mir durchaus vorstellen können, dass wir etwas mehr
Spielräume für die militärische Führung vor Ort schaf-
fen, weil es natürlich auch darum geht, Sicherheit für un-
sere Soldatinnen und Soldaten zu erreichen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass dieser Einsatz noch länger dauern wird. Der zivile
Einsatz wird in jedem Fall noch sehr lange dauern. Aber
ich glaube, dass es völlig falsch und blauäugig wäre,
heute hinsichtlich der militärischen Unterstützung von
festen Abzugsterminen zu sprechen, sondern dass es
letztlich so sein muss, wie es der Kollege Mißfelder ge-
sagt hat: Wir brauchen die Präsenz so kurz wie möglich,
aber eben auch so lange wie notwendig, damit wir die
Erfolge der Vergangenheit tatsächlich für die Zukunft si-
chern können.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807406400

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

Bemerkung von Christian Ströbele?


Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1807406500

Ja, bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege Frei. – Ich hätte das auch am
Ende Ihrer Rede sagen können. Aber jetzt passt es bes-
ser. Dann können Sie noch etwas dazu sagen.

Natürlich suche auch ich einen Ausweg. Aber dieser
Ausweg kann nach 13 Jahren Krieg nicht mehr Krieg
sein


(Beifall bei der LINKEN)

und den Krieg genauso fortzusetzen, nur mit weniger
Truppen. Das muss man doch irgendwann lernen. Einen
Siegfrieden gibt es dort nicht,


(Beifall bei der LINKEN)


selbst wenn Sie noch 20 Jahre Militär dorthin schicken.
Es gibt eine einzige Lösung, für die ich mich seit Jahren
einsetze – sie wäre real und auch chancenreich –: Man
muss mit den gezielten Hinrichtungen und den Kom-
mandounternehmen aufhören. Man muss mit denjeni-
gen, die man bislang tötet, verhandeln. Es gibt einen
Frieden nur durch Verhandlungen. Das sagen Ihnen alle
Experten vor Ort. Auch mit den Taliban muss gespro-
chen werden.

Als ich vor zwei, drei Jahren in Afghanistan war, ha-
ben mir Leute aus dem Parlament, die von den Taliban
verfolgt wurden, oder Angehörige von Gruppen, die mit
den Taliban überhaupt nichts zu tun hatten, gesagt: Wir
müssen gemäßigte Taliban in die Regierung aufneh-
men. – Aber darüber hat man nicht verhandelt. Die
Bundesregierung hat im Norden Afghanistans nach an-
fänglichen Verhandlungsmöglichkeiten und Verhandlungs-
ansätzen das völlig den Amerikanern überlassen. Die
wollten das nicht, und auch die Regierung Karzai hat das
dann hintertrieben. Aber die einzige Chance, jemals zu
einer vernünftigen, friedvollen Lösung zu kommen, sind
Verhandlungen. Deshalb sollte die gesamte Politik da-
rauf ausgerichtet sein.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807406600

Herr Kollege Frei. – Und wir bleiben wieder stehen,

Christian Ströbele.


Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1807406700

Herr Kollege Ströbele, ich gebe Ihnen gerne recht.

Natürlich brauchen wir erstens Verhandlungen und Ge-
spräche. Zweitens muss eine Friedensentwicklung aus
dem Land heraus erfolgen. Aber ich bin sehr zuversicht-
lich, dass angesichts der unter dem Strich gelungen ver-
laufenen Wahlen, der Regierung der Nationalen Einheit
sowie der Zusammenarbeit von Ghani und Abdullah
letztlich die Chance besteht, verfeindete Stämme und
Gruppierungen zusammenzubringen und damit die
Grundlage für eine wirtschaftliche, rechtsstaatliche und
gesellschaftliche Reformagenda zu schaffen.

Lassen Sie mich als weiteren Aspekt darauf eingehen:
Sie müssen genauso zuhören wie wir Ihnen. Wir haben
ab dem 1. Januar 2015 kein robustes Einsatzmandat
mehr. Die Resolute Support Mission zielt vielmehr auf
Unterstützung und Training ab und ist darauf ausgerich-
tet, die afghanischen Sicherheitskräfte zu befähigen,
selbst die komplette Sicherheitsverantwortung in ihrem
Land zu übernehmen. Mit der Absicherung der Wahlen
haben sie bereits bewiesen, dass sie dazu in der Lage
sind. In diesem Sinne handeln wir. Damit geben wir,
glaube ich, eine angemessene Antwort auf die Heraus-
forderungen im Land.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7095


(A) (C)



(D)(B)


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807406800

Danke.


Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1807406900

Lassen Sie mich zu einem letzten Aspekt kommen,

der mir ebenfalls wichtig erscheint. Wir haben es in der
Nachfolge der Konferenz von Tokio mit einem auf Ge-
genseitigkeit angelegten Prozess zu tun. Das heißt, es
muss klare Erwartungen an die afghanische Regierung
geben, klare Erwartungen im Hinblick auf bessere Re-
gierungsführung, transparentere Kontrollmechanismen,
mehr Sicherheit für Investoren und Rechtssicherheit;
denn es ist nicht akzeptabel, dass 80 Prozent des afgha-
nischen Haushalts letztlich von der internationalen Staa-
tengemeinschaft finanziert werden. Da muss es klare
Abmachungen und einen Pfad hin zu mehr afghanischer
Verantwortung geben. Daran müssen wir die Regierung
des Landes auch messen; denn es ist nicht akzeptabel,
dass ein Land, das rohstoffreich ist und gute Vorausset-
zungen hat, in derartiger Abhängigkeit von der interna-
tionalen Staatengemeinschaft ist. Ich bin zuversichtlich,
dass wir es dort schaffen.

Zum Schluss möchte ich gerne die Worte meiner Vor-
redner wiederholen und denjenigen herzlich danken, die
in den vergangenen 13 Jahren in unterschiedlichen Kon-
tingenten als Soldaten, als zivile Aufbauhelfer oder als
Polizeibeamte Verantwortung vor Ort getragen haben.
Wir denken im Besonderen an die 55 Gefallenen und de-
ren Familien sowie an diejenigen, die schwer und dauer-
haft gesundheitlich verletzt wurden im Dienst für ihr
Land, für unser Land und für uns. Dafür sagen wir herz-
lichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807407000

Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Letzter Redner in

dieser Debatte: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1807407100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende die-
ser sehr ausgiebigen Debatte könnte man denken: Es
bleibt nicht mehr viel zu sagen. Ich möchte an einige
Punkte erinnern, die den Einsatz in Afghanistan in den
letzten 13 Jahren begleitet haben.

Heute haben wir die afghanische Staatsführung zu
Gast in Berlin. Genau auf den Tag vor drei Jahren, am
5. Dezember 2011, fand die letzte Petersberg-Konferenz
in Deutschland statt. Sie wurde damals stark parlamenta-
risch begleitet; viele, die in diesem Saal sind, waren sei-
nerzeit in Bonn auf dem Petersberg. Damals ist eigent-
lich das entschieden worden, was heute hoffentlich den
Geist der Resolute Support Mission ausmacht, der näm-
lich darin besteht, dass wir uns verpflichten, bis zum
Jahr 2024 Afghanistan zu einem normalen Entwick-
lungsland zu machen. Das wird ein schwerer Weg sein.
Dafür ist viel zu schultern.
Aber gerade das, was eben in die Diskussion vom
Kollegen Ströbele eingebracht wurde, zeigt doch deut-
lich, dass unser Weg, der Weg weg von einer Kampfmis-
sion, hin zu einer Beratungs- und Unterstützungsmis-
sion, richtig ist.

Im Übrigen haben wir das schon einmal in einem an-
deren Umfeld unter Beweis gestellt, auf dem Balkan:
Zunächst gab es eine UN-Mission, dann eine Mission
der NATO, und heute gibt es noch eine EU-Mission.
Bosnien ist zwar kein sonderlich prosperierendes Land;
aber die Unruhen dort haben aufgehört, und die interna-
tionale Gemeinschaft steht an seiner Seite. Genauso
muss auch der Weg Afghanistans begleitet werden: Hilfe
zur Selbsthilfe einerseits und auf der anderen Seite Ent-
schlossenheit in der Unterstützung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
ein paar Punkte ansprechen, die wir vielleicht als Lehren
betrachten können.

Wir als Parlament haben bereits im Jahr 2010 Fort-
schrittsberichte gefordert. Seit Dezember 2010 hat unser
Parlament vom Auswärtigen Amt neun Fortschrittsbe-
richte, die viel konstruktive Kritik, viele Evaluierungs-
vorschläge enthalten haben, erhalten. Ich möchte an die-
ser Stelle nicht nur im Namen unserer Fraktion dem
Auswärtigen Amt, Ihnen, Herr Außenminister, aber auch
Herrn Botschafter Koch und seinem Vorgänger, Herrn
Botschafter Steiner, und deren Afghanistan-Team für
diese solide Arbeit Dank aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese solide Arbeit hat auch dazu geführt, dass wir
uns in manchen Punkten ehrlich machen mussten. Ich
spreche hier ganz gezielt die psychologische Nachsorge
für unsere Soldatinnen und Soldaten an. Als im Jahr
2001/2002 die ISAF-Mission begann, wurde nicht nur
im Bundestag, sondern auch unserer Bevölkerung er-
klärt, dass man sich in einem friedlichen Wiederaufbau
befindet. Das hat sich als Trugschluss erwiesen. Im Rah-
men dieses „friedlichen Wiederaufbaus“ sind unsere
Soldaten in einen Einsatz geschickt worden, der sie in
erheblichem Maße gefordert hat. Wir haben eine hohe
Zahl traumatisierter Soldatinnen und Soldaten, die die
Gefechtserlebnisse und andere Eindrücke überwinden
müssen.

Da die Gesellschaft aber geglaubt hat, dass unsere
Streitkräfte im friedlichen Wiederaufbau sind, haben wir
die traumatischen Erfahrungen nicht ernst genommen.
Was die menschliche Komponente und diejenigen, die
den Einsatz geleistet haben, angeht, ist das die schwer-
wiegendste Folge und die gravierendste Lehre, die wir
für unser eigenes Land gezogen haben.

Ich war unlängst bei der Einweihung des Denkmals in
Potsdam, wo 104 im Kampf gefallener Menschen ge-
dacht wird. Es ist jetzt an der Zeit, darüber nachzuden-
ken, dass sich in den letzten Jahren in unserem Land eine
Erinnerungskultur entwickelt hat, eine Erinnerungskul-
tur, die wir vermisst und versäumt haben und die unsere
Soldaten lange erwartet haben – nicht nur die Soldaten,

7096 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

sondern auch die Entwicklungshelfer und die Polizisten,
die dort unterstützen. Ich denke, da haben wir etwas ge-
leistet, womit wir denjenigen Ehre erweisen, die im Auf-
trag dieses Parlaments ihr Leben gelassen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


– Ich glaube, als Abgeordnete sollten Sie hinter denjeni-
gen stehen – egal ob Sie deren Einsatz politisch mittra-
gen oder nicht –, die ihr Leben für unser Land einsetzen,
weil sie nicht ausweichen können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine weitere
Lehre, die wir daraus ziehen sollten, ist, dass wir die
Frage „Was sagen wir unserer Bevölkerung?“ beantwor-
ten müssen. Wir haben mit dem Weißbuch-Prozess 2006
einige Fortschritte erzielt. Es gibt einen weiteren Weiß-
buch-Prozess, der hoffentlich viele Ministerien umfassen
wird und der sicherlich federführend vom Verteidigungs-
ministerium begleitet werden wird. Wir brauchen dort
einen inklusiven Ansatz. Wir müssen unserer Bevölke-
rung künftig von vornherein erklären, um was es in den
Einsätzen geht – „erklären“ heißt nicht „schönreden“ –,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann fangen Sie bei diesem Einsatz an!)


und dürfen nicht von vornherein hoffen, dass alles gut
geht. Wir müssen der Bevölkerung klar sagen, dass es
möglicherweise eskalieren kann.

Das ist eine weitere Lehre, meine sehr geehrten Da-
men und Herren. Wir haben immer gesagt: Der Einsatz
des Militärs ist die Ultima Ratio. – Das ist richtig; das ist
die letzte Eskalation. Aber wir machen damit, glaube
ich, einen strategischen Fehler in der Art und Weise, wie
wir mit Militär in unserer Außenpolitik umgehen; denn
wenn wir Militär in der frühen Begleitung ausschließen
und sagen: „Der militärische Einsatz ist die Ultima Ratio
und kommt erst dann, wenn alles andere versagt hat“,
vergessen wir die Möglichkeiten, die ein militärischer
Einsatz bietet. Ich denke hier an Sicherheitssektorre-
form, an Militärdiplomatie, an Entwaffnung, an Überwa-
chungsmissionen, auch an unbewaffnete Missionen. Wir
müssen bedenken, was wir damit leisten können, meine
sehr geehrten Damen und Herren.

Deshalb rate ich dazu, dass wir aus Afghanistan die
Lehre ziehen, uns der Frage zuzuwenden: Wie kann man
Militär so in ein Gesamtkonzept eingliedern, dass wir
die Eskalation bis zur Ultima Ratio von vornherein ver-
hindern oder vermeiden? Wenn das Weißbuch darauf
eingeht, unter Einbindung der Expertise des Auswärti-
gen Amtes, des Ministeriums für Entwicklungszusam-
menarbeit, des Innenministeriums und anderer, die sich
hier berufen fühlen, bekommen wir, glaube ich, einen
echten Fortschritt, was unsere außen- und sicherheits-
politische Strategie angeht.

Ein anderer Aspekt, der mir sehr am Herzen liegt, ist
die Frage des regionalen Einbindens und des regionalen
Zusammenhangs. Wir haben deutscherseits guten Grund,
unsere Interessen zu formulieren, die Aufgaben, die wir
erfüllen wollen, und auch die Instrumente, die wir ge-
meinsam mit Partnern und möglichst unter einem UN-
Mandat einsetzen wollen, zu definieren und die Region
zu diskutieren, wo wir aktiv sein wollen. Wir müssen das
erklären. Wir müssen es unserer Bevölkerung nahebrin-
gen. Wir müssen es aber auch unseren Partnern erklären.

Das führt dazu, dass wir, wo immer wir uns engagie-
ren, den regionalen Kontext betrachten müssen. Es ist
schon auch Verdienst der Bundesrepublik Deutschland
und ihrer Diplomatinnen und Diplomaten, dass in der
Afghanistan-Kontaktgruppe fast 50 Staaten sind, dass
durch die regionale Zusammenarbeit nicht nur Geldge-
ber gefunden wurden; die Resolute Support Mission
wurde überhaupt erst möglich, weil Südostasien hinter
diesem Einsatz steht und weil es uns gelungen ist, bisher
5,7 Millionen Flüchtlinge aus den Nachbarländern in
ihre Heimat zurückkehren zu lassen.

In diesem Sinne, meine sehr geehrten Damen und
Herren, lassen Sie uns auch mit Blick auf künftige Ein-
sätze an ein vernetztes Vorgehen und einen inklusiven
Ansatz denken! Lassen Sie uns als Parlament weiterhin
die Stimme erheben! Die Fortschrittsberichte hätte es
nicht gegeben, hätten wir sie nicht verlangt.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807407200

Vielen Dank, Kollege Kiesewetter.

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3246 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden?


(Unruhe)


– Weil hier so eine Absetzbewegung stattfindet, weise
ich darauf hin: Wir stimmen gleich noch über etwas an-
deres ab. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
18/3405 mit dem Titel „Transformationsdekade mit zivi-
len Mitteln erfolgreich gestalten“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Lin-
ken angenommen.


(Unruhe)


– Jetzt gibt es in der Tat einen Wechsel. Wenn die Kolle-
ginnen und Kollegen, die an der nächsten Debatte teil-
nehmen, ihre Plätze eingenommen haben, rufe ich den
Punkt auf.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Eva Bulling-Schröter, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7097

Vizepräsidentin Claudia Roth


(A) (C)



(D)(B)

Stromsperren gesetzlich verbieten
Drucksache 18/3408
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit

Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat Caren
Lay für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807407300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch ich kann meine heutige Rede natürlich
nicht beginnen, ohne eingangs meine Freude über Thü-
ringen zum Ausdruck zu bringen:


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Marcus Held [SPD])


meine Freude über den ersten linken Ministerpräsidenten
und vor allen Dingen über das erste rot-rot-grüne Bünd-
nis in Deutschland. Herzlichen Glückwunsch auch von
meiner Seite!


(Beifall bei der LINKEN – Lena Strothmann [CDU/CSU]: Das ist der Niedergang Deutschlands!)


– Da ich gerade aus der CDU/CSU-Fraktion den Zwi-
schenruf, das sei der Niedergang Deutschlands, höre,
will ich Ihnen sagen: Opposition ist eine wichtige Auf-
gabe in unserem Land. Opposition kann auch Spaß ma-
chen. Ich gönne Ihnen sehr, dass Sie diese wertvolle Er-
fahrung bald auch auf Bundesebene machen werden.


(Beifall bei der LINKEN – Lena Strothmann [CDU/CSU]: Gott bewahre!)


Meine Damen und Herren, kommen wir jetzt zum
Thema. Julia S. aus München führte noch vor ein paar
Monaten ein ganz normales Leben. Dann kam ein Un-
fall, dann kam Arbeitslosigkeit, eines kam zum anderen.
Wenige Wochen später konnte sie ihrer kleinen Tochter
keinen Kakao und auch kein warmes Essen mehr ma-
chen; denn ihr wurde der Strom gesperrt. Das ist leider
kein Einzelfall. So wie Frau S. geht es 345 000 Haushal-
ten in Deutschland, denen im letzten Jahr der Strom ab-
gedreht wurde; die Tendenz ist deutlich steigend. Das
sind 24 000 Haushalte mehr als noch im Jahr zuvor. Man
kann sich vorstellen: In jedem Haushalt leben im Schnitt
zwei, drei, vier Personen. Während andere europäische
Länder gehandelt haben, ist in Deutschland nichts pas-
siert, um Energiearmut zu bekämpfen. Deutschland ist
Europameister im Stromsperren. Ich finde, das ist ein-
fach schändlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch die Verbraucherzentralen schlagen Alarm. Bei
der Berliner Verbraucherzentrale beispielsweise ist in-
zwischen jeder vierte Kunde, der zur Beratung kommt,
von einer Stromsperre bedroht, oder er kommt wegen
Schulden beim Energieversorger. Auch hier ist die Ten-
denz deutlich steigend. Diese Zahlen, meine Damen und
Herren, sind alarmierend. Energiearmut ist ein Problem
in Deutschland. Wir müssen hier endlich etwas tun.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber was tut diese Bundesregierung? Im Koalitions-
vertrag spricht sie die Empfehlung aus, man möge sich
einen Prepaid-Zähler anschaffen. Na, schönen Dank
auch! Konkrete Maßnahmen: Fehlanzeige. Noch nicht
einmal die EU-Richtlinie ist aus unserer Sicht richtig
umgesetzt. Sie legt nämlich fest, dass „schutzbedürftige
Kunden“, denen der Strom nicht abgestellt werden darf,
klar zu definieren sind. Wer sind diese schutzbedürftigen
Kunden? Dieser Begriff ist in Deutschland, wie gesagt,
nicht definiert. Aber nach meinem Verständnis wären
das Familien mit kleinen Kindern, alte Menschen und
pflegebedürftige Menschen. Diese Menschen können
wir doch nicht allen Ernstes im Dunkeln sitzen lassen!


(Beifall bei der LINKEN)


Aber diese europäische Vorgabe ist in Deutschland bis
heute nicht umgesetzt. Es wird höchste Zeit.

Unsere Nachbarländer machen uns vor, dass es auch
anders geht. In vielen Ländern ist „Energiearmut und
Stromsperren“ seit Jahren ein wichtiges politisches
Thema. Es gibt Maßnahmen, die dazu geführt haben, die
Anzahl der Fälle deutlich zu senken. Direkt nebenan, in
Belgien und Frankreich, sind Stromsperren zumindest
im Winter komplett verboten. Meine Kollegin Bulling-
Schröter erzählte mir vorhin, dass sie vorgestern mit ei-
ner Delegation aus Frankreich, mit französischen Parla-
mentariern, darüber gesprochen hat. Die Mitnahme-
effekte, die Sie hier immer vermuten, sind dort nicht
eingetreten. Ich finde, daran sollten wir uns ein Beispiel
nehmen. Energieversorgung ist ein Grundrecht, und
Stromsperren müssen verboten werden, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Einwände sind mir natürlich bekannt: Es kostet
Geld. Ja, aber an anderer Stelle zeigen Sie deutlich mehr
Verständnis, beispielsweise bei den Industrierabatten,
wenn die energieintensiven Unternehmen schreien: Un-
sere Stromrechnung ist zu hoch! – Aber ich sage: Statt
Menschen, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen kön-
nen, subventioniert diese Regierung lieber Industriebe-
triebe, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen wollen.
Das sind Milliardengeschenke.


(Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär: Quatsch!)


5 Milliarden Euro lässt sich die Regierung diese Indus-
trierabatte kosten, bzw. sie lässt uns die Stromrechnung
der Industriebetriebe bezahlen. Ich finde, das ist eine
völlig falsche Prioritätensetzung.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Koeppen [CDU/ CSU]: Von Wirtschaft keine Ahnung!)


7098 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Und hier läuft auch insgesamt etwas falsch. Der Preis
für den Haushaltsstrom ist seit dem Jahr 2008 um
38 Prozent gestiegen. Für die energieintensive Industrie
ist er im gleichen Zeitraum sogar um 1 Prozent gesun-
ken. Das ist nun wirklich die falsche Prioritätensetzung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mich gefreut, dass Frau Ministerin
Hendricks zu Beginn der Legislaturperiode unsere linke
Idee von einer Abwrackprämie für Stromfresser über-
nommen hat. Einkommensschwache Haushalte sollen
einen Zuschuss bekommen, wenn sie sich zum Beispiel
einen energiesparenden Kühlschrank anschaffen. Dann
haben wir lange nichts davon gehört. Vorgestern hieß es
dann im Aktionsplan Klimaschutz: Wir machen einen
Prüfauftrag und gucken, ob wir das nicht auf Hartz IV
anrechnen. – Das ist doch wirklich absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, viele Menschen, auch
viele in diesem Saal, können sich vielleicht ein Leben
ohne Strom überhaupt nicht vorstellen. Aber dahinter
stecken ganz konkrete Schicksale. Mich schrieb zum
Beispiel Dagmar Meis aus Wuppertal an, eine Frau mit
einer kleinen Rente, die von einem Großteil ihrer Le-
benshaltungskosten aufgefressen wird. Sie ist schwer
krank und müsste beispielsweise regelmäßig ein heißes
Bad nehmen. Sie schrieb mir, das kann sie sich nicht
leisten. – In einem reichen Land finde ich das wirklich
unwürdig.

Zu guter Letzt möchte ich sagen: Es geht nicht nur um
das Problem der Stromsperren. Auch andere lebensnot-
wendige Dinge werden den Menschen vorenthalten. Bei-
spielsweise gab es im letzten Jahr 46 000 Gassperren,
und auch hier ist die Tendenz deutlich steigend. Bei-
spielsweise erreichte mich eine Mail aus Colditz in
Sachsen. Die Mieterinnen und Mieter haben immer ganz
brav ihre Gasrechnung bezahlt, aber der Vermieter hat
das Geld nicht an den Versorger weitergegeben. Nun
wurden die Mieterinnen und Mieter mit einer Gassperre
bedroht. Das darf doch wirklich nicht wahr sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir als Linke bringen das Thema Stromsperren heute er-
neut in den Bundestag ein, da bisher nichts passiert ist.
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, und
wir sagen: Strom, Gas und Wasser – das sind soziale
Grundrechte. Darauf hat jeder Mensch ein Recht, und
hier darf nicht gespart werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807407400

Vielen Dank, Caren Lay. – Nächster Redner in der

Debatte: Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1807407500

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lay, es fällt mir schon
schwer, bei diesem Antrag kollegial und einigermaßen
diplomatisch zu bleiben.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Wir sind gespannt!)


Das ist ein tiefer Griff in die Mottenkiste des Klassen-
kampfes. Sie haben eine schier unerschöpfliche Quelle
von Schauanträgen, die Sie immer wieder hervorziehen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen mehr Empathie für die betroffenen Menschen!)


Damit helfen Sie den Menschen aber nicht.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Sagen Sie uns doch mal, wie Sie den Menschen helfen wollen!)


Sie blenden die Menschen, und Sie werden damit
auch zum politischen Gaukler. Das sollten Sie sich nicht
antun.

Worum geht es? Sie haben den gleichen Antrag
– wortgleich – vor zwei Jahren schon einmal gestellt.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, natürlich, es ist ja auch nichts passiert!)


Er musste mit den gleichen Fakten abgelehnt werden,
die ich Ihnen jetzt auch wieder nennen werde und nen-
nen muss; denn es hat sich ja nichts geändert.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, Sie haben nichts getan!)


Sie wollen mit diesem Antrag Stromsperren gesetz-
lich verbieten, wenn ein Abnehmer seine Rechnung
nicht bezahlt. Der Bundestag soll also ein Gesetz ma-
chen, mit dem in das Eigentumsrecht eingegriffen wird.
Das ist völlig absurd; denn jeder Leistungserbringer – ob
es der Handwerksmeister, der Einzelhändler, der Online-
händler, der Tante-Emma-Laden oder der Supermarkt
ist – hat ein Recht darauf, dass seine Leistungen bezahlt
werden, und er hat auch ein Recht darauf, dass der
Rechtsstaat ihm hilft und ihn schützt.

Das, was Sie wollen, trifft ja nicht nur die aus Ihrer
Sicht bösen großen Energieversorger, sondern – dazu
wird es nicht kommen – es würde auch die Stadtwerke
treffen, den Windmüller, alle Energieversorger, also
auch die Kommunen, die Landkreise, die Städte und Ge-
meinden, und das, meine Damen und Herren, ist völlig
absurd.


(Zuruf von der LINKEN: Sollen die Leute im Dunkeln sitzen, oder was? – Sabine Leidig [DIE LINKE]: In Frankreich brechen die doch auch nicht zusammen!)


Nun kommen wir zu den Fakten. Sie schreiben in Ih-
rem Antrag: Es ist eine soziale Katastrophe in Deutsch-
land.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, stimmt!)


Jetzt nenne ich Ihnen einmal die Fakten, was die Unter-
stützung des Sozialstaates angeht. Menschen, die ihren

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7099

Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, haben
ein Recht darauf – Sie sprechen ja insbesondere die
Hartz-IV-Empfänger an –, im Rahmen der Grundsiche-
rung über das SGB II folgende Leistungen zu erhalten:
einen Regelsatz von circa 400 Euro; darin sind übrigens
die 30 Euro Stromkosten eingerechnet und eingepreist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wenn die Stromkosten höher sind?)


Diese Menschen bekommen die Kosten der Unterkunft
sowie die Heizungskosten komplett bezahlt. Diese Men-
schen bekommen die Kosten für Warmwasser komplett
bezahlt. All das erfolgt im Rahmen der Angemessenheit,
wenn ihnen kein unwirtschaftliches Verhalten nachge-
wiesen wird. Und das kann ihnen auch nicht nachgewie-
sen werden. Demzufolge bekommen sie das bezahlt. Da-
rüber hinaus werden Mehrbedarfe und Zuschläge
bezahlt, zum Beispiel für Schwangere, Alleinerziehende
oder Behinderte. Sie bekommen beim Erstbezug einer
Wohnung Hausgeräte bezahlt.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das jetzt mit der Stromsperre zu tun?)


Sie bekommen die Krankenversicherung bezahlt. Es gibt
ein Milliardenpaket des Bundes für Bildung und Teil-
habe.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das jetzt mit dem Thema zu tun? Das ist eine totale Sozialneiddebatte, die Sie anfangen!)


Die Kinder und Jugendlichen, die davon profitieren, dür-
fen in den Sportverein gehen, dürfen die Musikschule
besuchen. Sie dürfen an Klassenfahrten teilnehmen. Sie
bekommen eine Förderung für die Schule. Sie bekom-
men eine Lernförderung. Sie bekommen Mittagessen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine peinliche Rede!)


Sie bekommen die Schülerbeförderung bezahlt. Und
dann gibt es auch noch Eingliederungshilfe, wenn die
Menschen in Arbeit kommen; das heißt, sie bekommen
ein Einstiegsgeld.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverschämtheit! – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal bitte zum Thema!)


Sie bekommen Bewerbungskosten bezahlt. Sie bekom-
men die Berufsausbildung bezahlt. Sie bekommen Mo-
bilitätskosten bezahlt, wenn sie eine Arbeit gefunden ha-
ben.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal zum Thema reden, statt über den Sozialstaat zu schimpfen?)


Die Menschen können alle diese Möglichkeiten nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Und dann reden Sie, meine Damen und Herren von
der Linken, in Ihrem Antrag von „Armut per Gesetz“.
Wovon reden Sie eigentlich? Vor allen Dingen reden Sie
von einer „sozialen Katastrophe“. Ich will Ihnen sagen,
was eine Katastrophe ist:


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Kritik hat das überhaupt nichts zu tun!)


Dieser Antrag ist eine Katastrophe.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Mein Gott! Das ist ja eine arrogante Haltung gegenüber den Betroffenen!)


Kommen wir jetzt zum Bundeshaushalt.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807407600

Herr Kollege Koeppen, erlauben Sie eine Zwischen-

frage oder -bemerkung von Frau Bulling-Schröter?


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1807407700

Nein. Ich würde ganz gerne fortfahren – vor zwei Jah-

ren wurde der Antrag ja schon einmal eingebracht –, da-
mit Sie es endlich einmal verstehen. Wenn Sie es danach
immer noch nicht verstanden haben, dann können Sie
nachfragen.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Wir stellen diesen Antrag, weil Sie nicht handeln! Feigling!)


Fast 42 Prozent der Ausgaben im Bundeshaushalt
2014 entfallen auf Arbeit und Soziales. Das entspricht
122 Milliarden Euro. Im Bundeshaushalt 2015 sind die
Ausgaben sogar noch höher. Da reden Sie von „unso-
zial“. Ich will Ihnen sagen, was das ist: Das ist unredlich,
das ist ignorant, und das ist vor allen Dingen dreist. Das
sind haarsträubende Schauergeschichten, die Sie hier er-
zählen.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Reden Sie doch mal mit den Betroffenen!)


Kommen wir zur Wahrheit: Bund, Länder und Kom-
munen lassen die Bedürftigen natürlich nicht, wie Sie
behaupten, im Dunkeln sitzen. Diese Menschen werden
auch nicht erfrieren; denn jeder hat ein Recht auf Sozial-
hilfe, jeder hat ein Recht auf Transferleistungen der Ge-
sellschaft. Das ist Solidarität mit den Menschen, die das
brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das werden wir natürlich auch so fortsetzen.

Kommen wir zu einem anderen Punkt in Ihrem An-
trag. Sie schreiben in Ihrem letzten Absatz, dass in
Deutschland „Stromsperren rechtlich völlig unterregu-
liert“ sind. – Frau Präsidentin, darf ich „unwahr“ sagen?


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807407800

Sie dürfen „unwahr“ sagen.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1807407900

Das ist unwahr, und das ist vor allen Dingen auch

völlig absurd. Ich will Ihnen sagen, dass die Rechts-

7100 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

grundlage für Stromsperren in § 19 der Stromgrundver-
sorgungsverordnung geregelt ist. Dort sind vier Voraus-
setzungen glasklar definiert:

Erstens. Man muss mit mindestens 100 Euro in Zah-
lungsverzug sein. Wenn die Summe darunter liegt, wird
nicht reagiert. Wenn sie darüber liegt, ist das auch nicht
so gut, weil man, wenn jemand schon verschuldet ist,
nicht möchte, dass die Schulden weiter anwachsen. Also
sind 100 Euro die Grenze.

Zweitens. Die Verhältnismäßigkeit muss gegeben
sein. Das, was Sie vorgebracht haben, würde nach § 19
überhaupt nicht gestattet werden. Nach dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit darf der Strom, wenn die Ge-
sundheit von Bedürftigen – von Kindern, von alten Men-
schen oder von Menschen, die krank sind – gefährdet ist,
laut dieser Verordnung nicht abgeschaltet werden. Da-
rüber hinaus bedeutet Verhältnismäßigkeit: Wenn abzu-
sehen ist, dass der Kunde anfängt, seine Schulden in Ra-
ten abzuzahlen, auch wenn es kleine Raten sind, wird der
Strom nicht abgeschaltet.

Drittens. Es muss eine Sperrandrohung geben. Diese
muss mindestens vier Wochen vorher, klar und deutlich
definiert, schriftlich beim Kunden eingehen.

Viertens. Es muss eine weitere Sperrankündigung mit
ganz konkretem Datum geben. Diese muss drei Tage
vorher schriftlich beim Kunden eingehen. Erst dann
kann man überhaupt reagieren.

Zudem gibt es ein Darlehen vom Jobcenter, das man
in Anspruch nehmen kann. Es gibt Beratungsangebote
bei den Energieversorgern, wo der Kunde über Raten-
zahlungen sprechen kann. Niemand, aber auch niemand,
weder der Energieversorger, das Stadtwerk noch irgend-
jemand, der Energie liefert, hat ein Interesse daran, je-
mandem den Strom zu sperren. Niemand hat ein Inte-
resse daran, auch nicht die Kommunen und die Städte.

Jetzt kommen wir zu dem Prepaid-Zähler. Natürlich
ist der Prepaid-Zähler eine Variante – warum auch
nicht? –, eine Möglichkeit, dass Kunden, die nicht haus-
halten können oder nicht haushalten wollen, lernen, mit
dem Budget umzugehen, dass sie eine Kontrolle haben,
Planbarkeit haben. Der Prepaid-Zähler ist ein zusätzli-
ches Mittel, das wir evaluieren wollen. Vielleicht kommt
es so letztendlich zu weniger Sperren.

Es gibt Pilotprojekte, wo die Energieversorger bzw.
die Stadtwerke mit den Jobcentern in Verhandlungen tre-
ten und ein Frühwarnsystem entwickeln, indem, wenn
einem Kunden eine Sperre angedroht wird, das Jobcen-
ter sofort alles Weitere übernimmt, angefangen mit der
Ratenzahlung, damit es eben nicht zur Sperre kommt.
Diese Maßnahmen, die es bereits gibt, wollen wir weiter
ausbauen.

Der Antrag der Linken ist purer Populismus, ist Ef-
fekthascherei. Solche Schauanträge helfen wirklich nie-
mandem. Hören Sie auf mit diesen Dingen; denn das ist
reine Energieverschwendung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807408000

Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention

hat jetzt die Kollegin Bulling-Schröter.


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Immer noch nicht überzeugt? – Gegenruf der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]: Bei den Argumenten wohl kaum!)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807408100

Danke schön, Frau Vorsitzende. Herr Koeppen hat ja

gesagt, wenn wir es nicht verstehen, dürfen wir fragen.
Er hat die Frage trotzdem nicht zugelassen.

Herr Koeppen, Sie haben uns Populismus vorgewor-
fen. Ich muss der Bundesregierung auch Populismus vor-
werfen; denn auf eine Anfrage der Linken hat die Bundes-
regierung selbst zugegeben, dass es 345 000 Stromsperren
im Jahr gibt. Sie werfen uns Populismus vor. Ich frage
Sie: Wer ist da populistisch? Es gibt genügend Beispiele
dafür. Natürlich versuchen die Kommunen und die Bun-
desagentur, zu helfen; das ist aber sehr unterschiedlich.
Ich kenne selbst Fälle, wo Unterlagen nicht vorhanden
waren, wo es kurz vor Weihnachten war und es dann
hieß, man habe keine Zeit mehr usw., wo dann der Strom
gesperrt wurde und wir richtig massiv werden mussten.

Jetzt noch einmal zu dem, was Frau Lay gesagt hat.
Im Wirtschaftsausschuss war eine französische Regie-
rungsdelegation zu Gast – es ging um den Energiemix –,
die uns gesagt hat: In Frankreich gelten für 8 Millionen
Menschen Sozialtarife. So etwas gibt es in Deutschland
nicht. Wir leben in einem Europa. Ich frage mich daher:
Warum gibt es so etwas bei uns nicht? Es wurde explizit
ausgeführt, dass dort im Winter keine Strom- und Hei-
zungssperren vorgenommen werden, dass das ausge-
schlossen ist. Dann gab es noch den Zusatz: Es gibt
keine Mitnahmeeffekte.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das können Sie ja alles in Thüringen beschließen! Alles Gute können Sie jetzt in Thüringen beschließen!)


Davor haben Sie ja Angst. Sie glauben, dass irgendje-
mand 2 Cent zu viel bekommen könnte. Bei denen, die
arm sind, macht Ihnen das offensichtlich sehr viel aus;
bei anderen, die dick absahnen, ist Ihnen das ziemlich
egal.

Es gibt immer noch Menschen, die frieren müssen.
Diese Menschen schreiben uns – Ihnen wahrscheinlich
nicht; warum, sei dahingestellt. Warum nehmen Sie
nicht zur Kenntnis, dass es in anderen europäischen Län-
dern Sozialtarife und ein Verbot von Stromsperren gibt?


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807408200

Vielen Dank. – Herr Kollege Koeppen.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1807408300

Wahrscheinlich haben Sie es wirklich noch nicht ver-

standen. Wenn Sie die europäische Richtlinie anspre-
chen, die in nationales Recht umgesetzt wird, dann muss

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7101

Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

man doch sehen, dass andere Staaten – Sie haben Frank-
reich erwähnt – eben nicht das soziale System haben, das
wir haben. Ich kann Ihnen gerne noch einmal vorbeten,
was Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht erwirt-
schaften können, in Deutschland alles vom Staat, von der
Gesellschaft, vom Steuerzahler an Transfers bekommen.
Wenn Sie davon reden, die Bundesrepublik Deutschland
sei ein unsozialer Staat, dann weiß ich nicht, wo Sie le-
ben,


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: In Bayern!)


in welcher Wirklichkeit Sie leben.

Noch einmal: Es gibt unterschiedliche Systeme, und
unser System ist so aufgebaut, dass niemand im Dunkeln
sitzen muss.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Stimmt doch gar nicht! – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Was ist denn mit der Antwort der Bundesregierung? Lügt die, oder was?)


Wenn jemand auf die Androhung, dass in einigen Wo-
chen der Strom gesperrt wird, reagiert, zu seinem Job-
center geht und nur einen einzigen Euro abzuzahlen be-
ginnt, dann wird ihm definitiv nicht der Strom gesperrt.
So ist die Realität. Man muss auch einmal an die Ver-
nunft der Menschen appellieren und an die Jobcenter,
dass sie mit den Menschen zusammenarbeiten. Wenn das
Frühwarnsystem zwischen Energieversorgern bzw.
Stadtwerken und den Menschen besser funktioniert,
dann kommt es nicht zu Stromsperren. Wenn aber keiner
reagiert, dann wird der Zähler gesperrt. Das kann man
gesetzlich nicht anders lösen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807408400

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist

Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807408500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Niemand sollte im Dunkeln sitzen, und es
soll auch niemand frieren. Das gilt nicht nur in der Weih-
nachtszeit. Es ist aber Fakt, Herr Koeppen, dass immer
mehr Menschen in Deutschland der Strom abgedreht
wird. Für ein so reiches Land wie Deutschland ist das ein
echtes Armutszeugnis. Sie, liebe Bundesregierung, ha-
ben in den letzten Jahren nichts dagegen getan; denn die
Zahlen steigen weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es geht hier nicht nur darum, Herr Koppen, dass Sie
die EU-Richtlinie zum Elektrizitätsbinnenmarkt nicht
richtig umsetzen. Es geht hier um ein handfestes soziales
Problem, was Sie versucht haben wegzudiskutieren.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das sind alles soziale Fakten!)


Menschen ohne Strom haben kein Licht. Sie können
nicht mehr kochen, weil der Elektroherd kalt bleibt.

(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Sie können kochen, wenn sie sich melden!)


Die Kommunikation funktioniert nicht, wenn der Handy-
akku leer ist. Das schränkt die soziale Teilhabe in einem
unzumutbaren Maße ein, und – mehr noch – das ist ent-
würdigend und riskant.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Denn die Brandgefahr steigt, wenn in der Not auf Ker-
zen oder Campingkocher ausgewichen wird. Viele Hei-
zungen laufen auch nicht ohne Strom. Also wird es kalt.
Und das ist nicht nur unangenehm, es macht die Men-
schen auch krank.

Wir müssen dafür sorgen, dass alle Bürgerinnen und
Bürger ausreichend versorgt sind, und zwar mit Strom
und Wärme, gerade jetzt im Winter. Wir sagen daher:
Stromsperren für Privathaushalte müssen gesetzlich ein-
geschränkt werden. Die Versorger müssen verpflichtet
werden, eine Ratenzahlungsvereinbarung anzubieten,
statt Strom oder Gas einfach zu sperren.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Gibt es doch jetzt schon! Gibt es alles!)


– Wenn Sie glauben, dass die Rahmenbedingungen
schon existieren, können Sie die Sperren auch einschrän-
ken. Dann gibt es ja erst recht keinen Grund, Stromsper-
ren zuzulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dass Sie von der Großen Koalition die EU-Richtlinie
nicht umsetzen, die verlangt, eine Grundversorgung mit
Strom für schutzbedürftige Kundinnen und Kunden zu
gewährleisten, ist das eine Problem. Das andere Problem
– das wurde noch gar nicht ausreichend thematisiert –
ist, dass Sie die Ursachen nicht anpacken. Faire Strom-
preise kann es nur geben, wenn die Energiewende ge-
recht finanziert wird.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Wenn Sie die Kohle abschaffen, wird es noch teurer!)


An dem Erfolg der Energiewende sollen alle teilhaben.
Das heißt, dass die großen Versorger die Preissenkun-
gen, die ihnen die erneuerbaren Energien heute schon
bescheren, an die Kundinnen und Kunden weitergeben
müssen. Das tun sie aber oft nicht. Dazu haben wir Zah-
len vorliegen. Gerade in den sogenannten Grundversor-
gungstarifen, also den Versorgungstarifen, in die man
automatisch rutscht, wenn man vor Ort mit Strom ver-
sorgt wird, werden die Kundinnen und Kunden zu oft
abgezockt, weil die Preise viel zu hoch sind. Es gibt für
viele Menschen keine Möglichkeit, einen Tarif- oder
Anbieterwechsel vorzunehmen, weil derjenige, der keine
gute Kreditwürdigkeit hat, nicht so schnell an einen
günstigeren Vertrag kommt. Also kommen wieder hohe
Rechnungen, Mahnungen und dann die Stromsperre.
Das ist ein Teufelskreis. Diesem Teufelskreis müssen wir
etwas entgegensetzen.


(Zuruf des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


7102 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Dr. Julia Verlinden


(A) (C)



(D)(B)

– Herr Koeppen, wenn Sie eine Frage haben, dann kön-
nen Sie sie mir gerne stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das war eine Anmerkung!)


Sie, liebe Bundesregierung, haben uns Grünen auf
eine Kleine Anfrage zu dem Thema geantwortet, dass
Sie die Entwicklung zu den Grundversorgungstarifen
erst einmal beobachten und – ich zitiere – „zu gegebener
Zeit ihre Schlussfolgerungen ziehen“ wollen. So viel so-
ziale Kälte hätte ich gerade von einer Bundesregierung
mit SPD-Beteiligung nicht erwartet, meine Damen und
Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Faire Preise heißt auch, dass Bürgerinnen und Bürger
nicht für die Altlasten der Energiekonzerne verantwort-
lich sein dürfen, die jahrelang Gewinne aus klimaschäd-
lichen Kohle- und Atommeilern eingestrichen haben,
ohne sich um die Zukunft zu kümmern. Wir dürfen also
nicht zulassen, dass die Folgekosten dieser fossil-atoma-
ren Geschäftsmodelle am Ende den Bürgerinnen und
Bürgern aufgebürdet werden.

Was wir für die Menschen brauchen, sind ernsthafte
Vorschläge und Unterstützungsangebote, damit Wärme
und Strom auch für ärmere Menschen erschwinglich
bleiben. Dabei geht es nicht darum, Strom und Wärme
möglichst billig zu machen. Für uns Grüne ist klar: Jede
eingesparte Kilowattstunde ist billiger und besser als
eine verbrauchte Kilowattstunde. Gerade Menschen mit
geringem Einkommen sind oft schon längst die Spar-
weltmeister unserer Nation, weil ihnen gar nichts ande-
res übrig bleibt. Trotzdem reicht es oft nicht für die
Stromrechnung oder die Heizkostennachzahlung. Des-
wegen müssen wir die Einnahmeseite dieser Menschen
verbessern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sorgen Sie dafür, dass steigende Energiepreise im Exis-
tenzminimum berücksichtigt werden! Sorgen Sie dafür,
dass endlich die Regelsätze beim ALG II, beim BAföG
und beim Wohngeld erhöht werden!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Heizkosten sind für Privathaushalte ein wesent-
lich größerer Kostenpunkt als der Strom; das sollten wir
nicht vergessen. Menschen mit geringen Einkommen
können als Mieterinnen und Mieter wenig daran ändern,
wenn ihr Haus schlecht gedämmt ist oder die Heizungs-
anlage vollkommen veraltet ist. Auch hier erleben wir
kaum Engagement von Ihrer Seite, liebe Bundesregie-
rung. Die Sanierung einkommensschwacher Stadtquar-
tiere geht viel zu langsam voran, weil Sie einfach nicht
bereit sind, dafür genügend Geld in die Hand zu nehmen.


(Marcus Held [SPD]: Dann wird es ja noch viel teurer für die Leute!)

– Ich verstehe Sie nicht. Sie müssen sich schon melden
und ans Mikro treten.


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Sie schreien doch auch immer dazwischen! Gerade Sie!)


– Möchten Sie eine Frage stellen?


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Nein!)


– Okay. Dann lassen Sie mich doch einfach weiterreden.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807408600

Ihre Redezeit ist eh schon zu Ende. Deshalb wäre eine

Frage gar nicht mehr möglich gewesen. Ich darf Sie bit-
ten, zum Schluss zu kommen.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807408700

Das werde ich gerne tun. – Geben Sie sich doch jetzt,

in der Adventszeit, endlich einen Ruck! Strom und
Wärme gehören in unserer Gesellschaft untrennbar zu
einem menschenwürdigen Leben. Wenn Sie schon nicht
in der Lage sind, die Ursachen zu bekämpfen, also die
Einkommenssituation dieser Menschen zu verbessern,
dann sorgen Sie doch wenigstens dafür, dass niemandem
mehr einfach so Strom und Gas abgeklemmt werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807408800

Danke schön. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Marcus Held.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1807408900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Heute fordern Sie von der Linken in Ihrem An-
trag, Stromsperren gesetzlich zu verbieten. Im ersten
Moment hört sich der Antrag ja ganz sinnvoll an; denn
wir würden so sicherstellen, dass alle Menschen in
Deutschland immer Zugang zur Teilhabe in allen Le-
bensbereichen hätten. Gleichzeitig würde das Verbot
aber auch bedeuten, dass es ohne Sanktion bleibt, wenn
man seinen Strom nicht bezahlt. Alle Menschen, die der
Forderung ihres Energieversorgers nachkommen und
ihre Rechnungen brav bezahlen, obwohl auch sie ihr
Geld Monat für Monat zusammenhalten müssen, würden
bestraft und würden sich fragen, warum sie eigentlich
noch ordentlich ihren Pflichten nachkommen.

So zu argumentieren, wie Sie es tun, nämlich dass die
Außenstände der Stromversorger bei den Kunden, bei
denen eine Stromsperre verhängt wurde, in Höhe von
36 Millionen Euro in einem krassen Missverhältnis zu
den Gewinnen der Stromversorger stehe, ist – das muss
ich sagen – blanker Populismus. Dies ist deutlich zu-
rückzuweisen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7103

Marcus Held


(A) (C)



(D)(B)

Ich gehe davon aus, dass Sie das Argument selbst nicht
wirklich ernst nehmen, sondern eher versuchen, damit
heute Abend in die heute-show zu kommen; denn nach-
vollziehbar ist es nicht wirklich.

Bei Folgendem sind wir beieinander: Wir brauchen
Verbesserungen für sozial Schwache. Ich erlebe regel-
mäßig in meinen Sprechstunden als Abgeordneter, aber
auch als ehrenamtlicher Bürgermeister – und das schon
seit vielen Jahren –, dass Menschen zu mir kommen, vor
mir einen Berg von Briefen auftürmen und sagen: Seit
heute Morgen ist der Strom abgeschaltet. – Wenn wir
dann gemeinsam die Briefe durchgehen, stellen wir fest,
wie viele Mahnungen und Aufforderungen geschrieben
wurden. Dann aber ist das Kind leider schon in den
Brunnen gefallen.


(Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Das ist genau der Punkt!)


Dann steht die Abschaltung entweder unmittelbar bevor,
oder sie ist schon realisiert worden. Hier müssen wir an-
setzen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen
nicht allein bleiben,


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sorgen Sie denn dafür?)


dass sie im Kontakt mit den Behörden nicht überfordert
sind und dass sie mit dem Energiedienstleister und den
Sozialbehörden direkt in Kontakt treten können.

Es sind mehr Menschen von Stromsperren betroffen;
das ist richtig. Das hat aber auch damit zu tun – Frau
Verlinden, Sie haben das angesprochen, aber nicht rich-
tig zu Ende geführt –, dass wir in Deutschland viele Mil-
lionen Wohnungen haben, in denen Elektroheizungen
betrieben werden. Durch entsprechende Preissteigerun-
gen in den zurückliegenden Jahren haben sich die Kos-
ten erhöht. Ich erinnere daran, warum diese Teuerungen
eingetreten sind: insbesondere durch die EEG-Umlage,
durch die erneuerbaren Energien und durch die Tatsache,
dass wir nicht in Quartieren sanieren können, in denen
die Leute heute schon kaum ihre Miete zahlen können.
Sie fordern in Ihren Anträgen immer wieder eine Sanie-
rung auch in diesen Quartieren; aber das müssen wir aus
sozialen Gründen zurückweisen. Das ist die Wahrheit,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Poschmann [SPD])


Bürgerinnen und Bürger mit geringen Einkommen
– mein Vorredner hat das schon ausgeführt – sind in
Deutschland schon heute abgesichert. Ihre Wärme- und
Stromkosten werden im Bedarfsfall im Rahmen öffentli-
cher Leistungszuweisung übernommen. Wir brauchen
aber eine gesetzliche Mitteilungspflicht für Energie-
dienstleister gegenüber den Sozialbehörden bei drohen-
den Zahlungsunfähigkeiten. Wenn man sich früh genug
einschalten kann, kann man das Schlimmste verhindern.
Das ist meine Erfahrung aus den Sprechstunden. Wenn
ich den Kontakt hergestellt und die Menschen zum So-
zialamt geschickt habe – ich spreche von meiner Praxis
als Bürgermeister und Abgeordneter –, dann ist mir noch
nie passiert, dass am Ende tatsächlich der Strom abge-
schaltet wurde.

Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807409000

Herr Kollege Held, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen von den Grünen?


Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1807409100

Sehr gerne.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-
frage ermöglichen. – Sie haben gerade gesagt, dass die
Kosten durch die Hartz-IV-Leistungen abgedeckt wären.
Heizkosten werden tatsächlich, solange es angemessen
ist, komplett übernommen. Bei den Stromkosten ist das
anders; der Regelbedarf ist pauschaliert. Es gab am
9. September dieses Jahres ein Bundesverfassungsge-
richtsurteil, in dem explizit gesagt wird, dass, wenn die
Strompreise steigen, die Bundesregierung nachweisen
muss, dass die vorgesehenen Kosten im Regelbedarf
ausreichen, um die Strompreise zu decken. Gegebenen-
falls muss der Regelbedarf entsprechend erhöht werden.

Da Sie nicken, kennen Sie das Urteil wahrscheinlich.
Deshalb frage ich Sie erstens, wie die Bundesregierung
bzw. die Große Koalition darauf reagiert, und zweitens,
wann Sie den Regelbedarf entsprechend erhöhen wer-
den, da der Teil, der im Regelbedarf dafür vorgesehen
ist, häufig nicht ausreicht.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807409200

Vielen Dank, Herr Kollege Strengmann-Kuhn. – Bitte

schön, Herr Held.


Marcus Held (SPD):
Rede ID: ID1807409300

In dieser Debatte geht es um die Frage, ob man

Stromsperren vornehmen darf oder nicht. Dazu sage ich
Ihnen: Wenn ein Bedürftiger den Strom nicht bezahlen
konnte, aber zum Beispiel eine Ratenzahlung mit dem
Energieversorger – im Zweifel auch über das Sozialamt –
vereinbart hat, kam es noch nie zu einer Abschaltung.
Natürlich müssen wir die Regelsätze entsprechend an-
passen. Da bin ich völlig bei Ihnen; das werden wir als
SPD auch fordern. Aber wir können nicht so tun, als wä-
ren die Regelsätze nicht hoch genug und aus dem Grund
würde den Leuten in Masse der Strom abgestellt. Das ist
falsch. Das ist auch deshalb falsch, weil diese mehreren
Hunderttausend Abschaltungen, von denen der Antrag-
steller, die Fraktion Die Linke, spricht, keine Abschal-
tungen über Wochen oder Monate sind. Das sind im
Zweifel Abschaltungen über ein paar Stunden, manch-
mal über wenige Tage hinweg, weil der Betroffene dann
in der Regel


(Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Erst reagiert!)


immer zu einer Regelung mit dem Sozialamt und dem
Energieversorger kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Damit hätte ich auch schon eine Lanze für die Ener-
gieversorger gebrochen, was ich an dieser Stelle tun

7104 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Marcus Held


(A) (C)



(D)(B)

wollte, weil sie in der Regel eng im Verbund mit den
Städten, den Gemeinden und den öffentlichen Trägern
stehen mit entsprechend eingebauten Mechanismen. Me-
chanismen sind im Übrigen auch gesetzlich eingebaut.
Es muss zunächst eine Erinnerung erfolgen, dann eine
Abmahnung des Zahlungsrückstandes und schließlich
eine Sperrandrohung, nach dem Gesetz vier Wochen vor
der tatsächlichen Sperrung. Drei Tage vor dieser mögli-
chen Sperrung muss noch einmal entsprechend erinnert
werden, und dann kommt noch die Verhältnismäßigkeit
ins Spiel. Deshalb kann ich das Beispiel meiner Vorred-
nerin nicht ganz nachvollziehen. Natürlich sind soziale
Härten zu berücksichtigen. Wenn ein Stromanbieter das
nicht tut – da bin ich bei Ihnen –, dann ist der Sache
nachzugehen. Aber vom Gesetz her ist vorgesehen, dass
hier die Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen ist.

Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten ste-
hen dafür, dass Regelungen eingeführt werden, die einen
noch besseren Schutz vor Strom- und Gassperren bieten,
zum Beispiel durch den Einsatz intelligenter Stromzäh-
ler mit Prepaid-Funktion. Wir wollen aber auch, dass bei
den Tarifgenehmigungen künftig beachtet wird, dass
Grundversorgungstarife angemessen gestaltet sind und
für alle Menschen, auch für sozial schwächere, er-
schwinglich sind. Wir wollen nicht, dass niemand mehr
Konsequenzen erfährt, wenn er seinen Strom nicht be-
zahlt. Das wäre ein Freifahrt- bzw. Freistromschein für
alle Kunden und damit der Niedergang der sozialen
Marktwirtschaft. Kein Kunde müsste mehr fürchten, bei
Nichtbezahlung seinen Strom abgeschaltet zu bekom-
men, würden wir dem Antrag heute folgen.

Sie haben das Beispiel Frankreich angesprochen. Dort
ist der Strommarkt ganz anders organisiert. Dort gibt es
von vornherein staatliche Zuschüsse und staatliche Be-
treiber, sodass das überhaupt nicht mit dem deutschen
System vergleichbar ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir werden gemeinsam in der Koalition dafür sorgen,
dass die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie der EU einge-
halten wird und in Deutschland geeignete Maßnahmen
ergriffen werden, um den schutzbedürftigen Kunden ei-
nen noch angemesseneren Schutz zu geben. Wir wollen,
dass sich Ehrlichkeit und eine gute Zahlungsmoral auch
in Zukunft auszahlen und dass von staatlicher Seite ge-
holfen wird, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807409400

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt die Kollegin Barbara Lanzinger.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Barbara Lanzinger (CSU):
Rede ID: ID1807409500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen! Kolle-

gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die in Ihrem An-
trag „Stromsperren gesetzlich verbieten“ genannte Zahl
der Haushalte, denen der Strom gesperrt wurde – rund
345 000 –, stammt aus dem Monitoringbericht der Bun-
desnetzagentur. Das ist ein leichter Anstieg von etwas
mehr als 23 000 Unterbrechungen; auch das steht drin.
Das klingt zunächst einmal viel. Aber wir müssen die
Zahl ins richtige Verhältnis setzen. Wenn wir berück-
sichtigen, dass wir in Deutschland 40 Millionen Haus-
halte haben und 345 000 davon der Strom gesperrt
wurde, betrifft das gerade einmal 0,8 Prozent der Haus-
halte.

In Ihrem Antrag sprechen Sie von einer „stillen sozia-
len Katastrophe stromloser Haushalte“. Das hört sich
fürchterlich an, so als ob mehr als der Hälfte der Haus-
halte in Deutschland ständig der Strom abgestellt wird.
Es sollte immer um das richtige Maß gehen, auch bei der
Wortwahl. Fakt ist: Wir wissen alle nicht, warum in
345 000 Haushalten der Strom gesperrt wird. Welche
Menschen sind betroffen? Betrifft das tatsächlich nur
Hartz-IV-Empfänger? Das wissen wir nicht, das wissen
Sie nicht.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Bei rund 4 Millionen Leistungsempfängern machen die
Stromsperren lediglich 9 Prozent aus. Ich gebe Ihnen
recht: Jeder ist einer zu viel.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Aber daraus zu schließen, dass wir in Deutschland eine
Energiearmut haben, halte ich doch für sehr überzogen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Marcus Held [SPD])


Die Stromlieferverträge sind ganz normale schuld-
rechtliche Vertragsverhältnisse. Daher muss es dem
Stromlieferanten im Falle einer Nichtzahlung durch den
Kunden grundsätzlich möglich sein, die Lieferung ein-
zustellen. Ich möchte noch einmal klarstellen – meine
Vorredner haben es erwähnt –: Ab einem Rückstand von
circa 100 Euro wird überlegt, zu sperren. Eine Sperrung
kostet zwischen 100 und 168 Euro; die Höhe ist prozen-
tual vom Rückstand abhängig. Jeder Stromlieferant, je-
des Stadtwerk überlegt sich, ob es dieses Risiko eingeht
und eventuell auf seinen Forderungen sitzen bleibt. Sie
sind daher bemüht, mit den Betroffenen zu reden.

Im BGB ist ganz klar geregelt, dass die zustehenden
Leistungsverweigerungsrechte eingeschränkt und zu-
gunsten des Kunden an weitere Voraussetzungen ge-
knüpft sind. Hierzu zählen: mehrere Mahnungen und
eine Androhungsfrist von mindestens vier Wochen. Die
beabsichtigte Unterbrechung muss mindestens drei
Werktage im Voraus angekündigt werden. In der Praxis
wird diese Frist seitens der Unternehmen oftmals kulan-
terweise verlängert. So ist wirklich sichergestellt, dass
jedem Bürger ausreichend Zeit bleibt, um die Sozialhil-
feträger um eine Kostenübernahme zu bitten und damit
eine Liefersperre abzuwenden. Um soziale Härten zu
vermeiden – ich wiederhole, was schon gesagt wurde –,
besteht für sozial schwache Kunden die Möglichkeit, die
Kosten der Stromlieferung im Rahmen der Grundsiche-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7105

Barbara Lanzinger


(A) (C)



(D)(B)

rung abzudecken. Stromsperren sind die Ultima Ratio
der möglichen Maßnahmen bei zahlungsunwilligen
Kunden oder bei Kunden, die nicht zahlen können. Aber
jeder Bürger, der sich in einer sozialen Notlage befindet,
hat die Möglichkeit, eine Liefersperre zu verhindern.

Ich sage ganz bewusst: Wir können doch nicht unsere
Rechtsstaatlichkeit außer Kraft setzen, weil 0,8 Prozent
der Haushalte ihre Stromrechnung nicht zahlen können.
Es ist jedenfalls nicht gemeinwirtschaftlich, wie Sie
schreiben, die Kosten einer Minderheit auf die Mehrheit
der Bevölkerung abzuwälzen. Zahlende Bürger können
nicht die nichtzahlenden Bürger mitfinanzieren. Das
geht nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Marcus Held [SPD])


Ein völliges Verbot der Stromsperre würde einseitig zu-
lasten der meist kommunalen Energieversorger sowie
der anderen Kunden gehen.

Alle Ihre diesbezüglichen Forderungen – das muss
ich jetzt schon einmal festhalten, weil das auch für Ihren
Antrag zu bundeseinheitlichen Netzentgelten gilt, den
Sie letzte Sitzungswoche eingebracht haben – kommen
einer Verstaatlichung der Energieversorgung durch die
Hintertür gleich. Wir sind gegen eine Verstaatlichung.
Staatliche Verpflichtungen widersprechen den europäi-
schen Bemühungen um eine Liberalisierung der Ener-
gieendkundenmärkte und um die weitere Stärkung des
Wettbewerbs. Ich nenne das Planwirtschaft. Das wollen
wir nicht unterstützen, und das können wir nicht unter-
stützen.

Es wird immer Menschen bzw. Haushalte geben, die
sich Strom nicht leisten können. Für diese Menschen
brauchen wir – ich glaube, darüber sind wir uns einig –
soziale Unterstützung und nicht eine allgemeine, kosten-
lose Grundversorgung mit Strom, wie Sie es fordern.
Wir alle befürworten die Unterstützung sozial schwacher
Haushalte, um eine Grundversorgung mit Energie si-
cherzustellen. Eine separate Betrachtung jedoch und die
Definition einzelner Armutsfelder – mit „Energiearmut“
definieren Sie ein solches Feld – ist nicht zielführend.

Wir unterstützen das dritte Energiepaket der EU aus
dem Jahr 2009 ganz klar, bei dem es darum geht, die
Strom- und Gasmärkte in der EU weiter zu liberalisieren
und die Verbraucherrechte zu stärken. Dazu gehört unter
anderem – ich nenne jetzt nur ein Beispiel – der Schutz
von schutzbedürftigen Kunden.

Ich halte das, was wir im Koalitionsvertrag verankert
haben, für wichtig: Wir sollten die Smart Grids und die
Smart Meter zum Einsatz bringen und durch sogenannte
Prepaid-Tarife die Menschen dazu bringen, zu überle-
gen, wie sie sich beim Stromverbrauch verhalten. Das ist
im Übrigen nicht nur für sozial schwache Familien wich-
tig; das ist für uns alle wichtig. Wir alle müssen ein biss-
chen mehr darüber nachdenken, wie wir mit dem Strom
umgehen.


(Beifall des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


Mit der Novelle zum EEG haben wir erreicht, dass die
Strompreise konstant bleiben, zumindest nicht weiter an-
steigen, und im nächsten Jahr zum ersten Mal wieder
sinken – ich füge hinzu: sinken sollen. Es ist unser lang-
fristiges Ziel, die Strompreise zu senken.

Damit bin ich am Ende meiner Rede. Ihrem Antrag
können wir in keiner Weise zustimmen.

Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807409600

Danke schön. – Letzter Redner in dieser Debatte ist

der Kollege Bernd Westphal, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Bernd Westphal (SPD):
Rede ID: ID1807409700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Antrag der Linken ist sicherlich berech-
tigt. Das wird deutlich, wenn man sich die Zahlen an-
schaut, auf die meine Vorredner schon eingegangen sind:
345 000 Stromabstellungen dürfen die Politik nicht kalt-
lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb ist es gut, dass wir Gelegenheit haben, über die-
ses Thema zu reden. Wir reden darüber übrigens nicht
zum ersten Mal. Der Antrag wurde, wie meine Vorredner
bereits gesagt haben, schon in der letzten Legislatur-
periode vorgelegt.

Wir sollten nach den Ursachen für diese Situation fra-
gen und überlegen, welche Lösungswege wir den Men-
schen aufzeigen können. Wenn es um die Frage nach den
Ursachen geht, muss man auch berücksichtigen, wie wir
das wichtige Thema Energiewende gestalten. Wir haben
drei energiepolitische Ziele. Dabei geht es um die Um-
welt, um Versorgungssicherheit und vor allen Dingen
um die Bezahlbarkeit. Doch an dieser Stelle fehlt die so-
ziale Balance; das machen die Zahlen deutlich. Wir müs-
sen darauf achten, dass wir Energie und Strom für pri-
vate Haushalte bezahlbar halten. Wenn es um die
Energiewende geht, müssen wir die soziale Balance im
Auge behalten.

Wie können Lösungen aussehen? In Deutschland ist
es nicht so, dass wir Menschen mit diesem Problem al-
leinlassen. So unsozial sind wir nicht. Hier ist ja schon
gesagt worden, dass wir eine ganze Reihe von sozialen
Sicherungssystemen haben, die greifen, wenn Menschen
in Not geraten. Ich glaube, wir sollten nicht nur, wie im
Antrag gefordert, den Strom einfach weiter liefern, wenn
eine Zahlungsunfähigkeit festgestellt wird, sondern
schauen, wie wir dieses Problem in Gänze bearbeiten
können. Es gibt viele Kommunen, die dieses Thema vor-
bildlich angehen. In Lübeck zum Beispiel setzen sich so-
ziale Einrichtungen gemeinsam mit dem Energieversor-
ger mit den Betroffenen auseinander, sobald eine
Rechnung nicht bezahlt werden kann, und suchen nach
Lösungsmöglichkeiten. Ich glaube, dass die Probleme,
warum die Rechnung nicht bezahlt wird, vielschichtig

7106 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Bernd Westphal


(A) (C)



(D)(B)

sind, dass man aber, wenn man den Kontext berücksich-
tigt und den Menschen hilft, dieses eine Problem anzu-
packen, eine Lösung finden kann.

Denn was würde passieren, wenn Strom weiter gelie-
fert würde, obwohl die Rechnung nicht bezahlt wird?
Die Ursachen würden damit nicht behoben. Deshalb,
glaube ich, brauchen wir ein Frühwarnsystem und vor
Ort Strukturen, bestehend aus dem Energieversorger,
den Sozialbehörden und sozialen Einrichtungen, die es
erlauben, herauszufinden, woher die Bedürftigkeit kommt
und welche Ursachen dazu führen, dass die Stromrech-
nung nicht bezahlt werden kann.

Wie könnte ein solches Frühwarnsystem aussehen?
Es gibt im Grunde genommen schon heute ein mehrstu-
figes Verfahren. Zunächst werden Mahnungen ver-
schickt. Vier Tage bevor es zu einer Stromabschaltung
kommt, wird das den Betroffenen angezeigt. Das sollte
man aufgreifen. Bevor es zu einer Stromabschaltung
kommt, sollten Berater die betroffenen Haushalte aufsu-
chen und eine Beratung durchführen. Dazu zählen auch
Dinge wie Energieberatung, Anregungen, wie man
Strom sparen kann und wie es zukünftig gelingen kann,
regelmäßig seine Stromrechnung zu bezahlen.

Ich denke, wir haben eine ganz gute gesetzliche Rege-
lung, die einem solchen Verfahren entgegenkommt.
Vielleicht bietet der Antrag die Möglichkeit, dass wir
konstruktiv an dieses Thema herangehen und es im Aus-
schuss beraten. Dann sollten wir prüfen, ob die Instru-
mente ausreichen oder nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807409800

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3408 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Vereinbarte Debatte

25 Jahre VN-Kinderrechtskonvention
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für

die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Susann
Rüthrich, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Susann Rüthrich (SPD):
Rede ID: ID1807409900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Geburtstage, zumal runde, sind immer ein
schöner Anlass, zurückzuschauen. Wie sah denn die
Welt von Kindern vor 25 Jahren aus, bevor die Kinder-
rechtskonvention in Kraft getreten ist? Doppelt so viele
Kinder wie jetzt auf der Welt haben damals ihren fünften
Geburtstag nicht erlebt. Es gab bei uns noch kein Recht
auf gewaltfreie Erziehung. Kinderschutz hatte sich der
Bund noch nicht zur gesetzlichen Aufgabe gemacht.
Umgangsrechte mit beiden Eltern waren nicht geklärt.
Weitere Beispiele ließen sich aufzählen.

Doch fast noch spannender, als zurückzuschauen,
finde ich es, an Geburtstagen vorauszuschauen. Wo wer-
den wir denn wohl in 25 Jahren stehen, vielleicht auch
schon in 20 oder 10? Einmal abgesehen davon, dass ich
den Kinderrechten wünsche, dass sie sich dann selbst
weiterentwickelt haben werden, etwa um ökologische
oder digitale Rechte, wünsche ich den Kinderrechten
vier Dinge zum Geburtstag.

Zum einen: Die Kinderrechte werden dann längst im
Grundgesetz stehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Kein Mensch kann dann mehr so recht nachvollziehen,
warum es eigentlich so lange gedauert hat, sie in das
Grundgesetz hineinzuschreiben. Es war dann wohl ein-
fach endlich an der Zeit, das Grundgesetz moderner zu
machen und an die gesellschaftlichen Entwicklungen in
Deutschland und der Welt anzugleichen. Die dann leben-
den Kinder kennen es gar nicht mehr anders, als dass sie
gleichwertige Rechte wie Erwachsene haben, nur dass
sie diese eben etwas anders ausleben, ihrem Alter ge-
mäß.

Das werden die späteren Erwachsenen als Bereiche-
rung sehen, weil die jungen Leute immer neuen
Schwung in Debatten bringen, sei es über ihr Wahlrecht,
sei es über verbindliche Befragungen oder durch Be-
schwerden beim Bundeskinderbeauftragten. Unsere Poli-
tik und das, was daraus folgt, erleben unsere Kinder
doch am längsten. Wer von einer Entscheidung betroffen
ist, der wirkt auch an der Entscheidung mit. Das ist de-
mokratisch. Also, hören wir Kinder an und beachten wir
das, was sie sagen.

Mein zweiter Geburtstagswunsch ist: Wir haben dann
eine Kindergrundsicherung oder etwas Vergleichbares.
Jedenfalls ererbt kein Kind mehr die Armut seiner El-
tern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])


Jedem Kind steht kostenfrei das Lern- und Lebensum-
feld zur Verfügung, das es tatsächlich braucht. So wird
es dann der Vergangenheit angehören, dass es Kinder
gibt, die weniger gute Chancen im Leben haben, nur
weil ihre Eltern nicht wohlhabend sind; denn Bildung ist
dann für alle kostenfrei, und zwar von der Kita an.

Kitas und Schulen sind dann offen. Vereine und Ver-
bände laden jedes Kind ein, dort seine Talente zu entde-
cken. Die Kinder toben, spielen und lernen. Kein Kind
braucht mehr Geld, um ein Instrument zu lernen, um
Fußball zu spielen, um Nachhilfeunterricht zu bekom-
men oder um Sprachförderung zu erhalten. Zur kosten-
freien Bildung gehört dann auch, dass kein Kind hungrig

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7107

Susann Rüthrich


(A) (C)



(D)(B)

lernt und spielt. Gesunde Mahlzeiten gehören einfach
zum Kita- und Schulalltag.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme zu meinem dritten Wunsch. Leider wird
es wahrscheinlich auch in 25 Jahren noch Flüchtlings-
kinder bei uns geben. „Leider“ deswegen, weil ich
fürchte, dass es auch dann noch schreckliche Gründe ge-
ben wird, weswegen Menschen unseren Schutz suchen.
Es wird dann aber anders sein als jetzt: Da die Kinder-
rechte im Grundgesetz stehen, werden diese Kinder
nicht mehr anders behandelt. Sie sind bis zum 18. Ge-
burtstag vor dem Gesetz Kinder; logisch eigentlich. Sie
erhalten die medizinische Versorgung, die jedes andere
Kind auch bekommt, und zwar dann, wenn es nötig ist,
und nicht mehr dann, wenn das Kind Schmerzen hat;
denn es ist doch einfach unmenschlich, erst zu warten,
bis die Zahnschmerzen akut sind, anstatt vorzusorgen.

Flüchtlingskinder gehen dann ganz normal in die
Schule und in die Kita nebenan. Vor allem aber werden
ihre Fluchtgründe im Asylverfahren erfragt und beach-
tet; denn nur sie können etwa jung zwangsverheiratet
oder als Kindersoldaten ausgebeutet werden. Im Asyl-
verfahren werden sie angehört, und selbstverständlich
gilt auch hier: Das Kindeswohl hat Vorrang.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was viertens spätestens in 25 Jahren anders sein wird:
Die erschütternden Zahlen von misshandelten Kindern
müssen gesunken sind. Allein die bekannten Zahlen
– ohne das Dunkelfeld – machen mich fassungslos. Tau-
sende Kinder jedes Jahr werden geschlagen und miss-
handelt, und jährlich überleben 150 Kinder ihr Eltern-
haus nicht. Wenn wir heute also von einem Fall in der
Zeitung lesen, dann müssen wir davon ausgehen, dass in
derselben Woche wahrscheinlich zwei weitere Kinder
gestorben sind – nicht infolge eines Unfalls, sondern
durch die Hand Erwachsener.

Die Zahl der tödlichen Unfälle von Kindern im Stra-
ßenverkehr hat sich seit 1990 halbiert, und immer weni-
ger Kinder sterben an schweren Krankheiten. Nur die
Zahl der getöteten Kinder bleibt stabil. Das muss sich in
den kommenden Jahren unbedingt ändern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die ganz traurigen Ausnahmefälle wird es wohl im-
mer geben. Das müssen aber tatsächliche Einzelfälle
sein, bei denen sich zuvor keine Auffälligkeiten gezeigt
haben. Es sind ja nicht zu wenige Institutionen, die sich
mit Risikofamilien beschäftigen, aber diejenigen, die
helfen, sind zu schlecht ausgestattet und haben zu we-
nige bis keine Ressourcen, um etwa die Fallberatung zu
koordinieren. Das erzählen uns zumindest Kinderärzte.
Dass dann im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf
Unversehrtheit wird dazu führen, dass Kindern schneller
und besser geholfen werden muss.
In 25 Jahren werden wir hoffentlich sagen: Weil wir
Kinderleben gerettet haben, hat sich die Grundgesetzän-
derung gelohnt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807410000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist

Norbert Müller, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Norbert Müller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807410100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Gäste! Liebe Susann Rüthrich, ich
könnte mich Ihnen in vielen Punkten anschließen. Vor
wenigen Wochen hatten wir aus Anlass eines Antrags
der Grünen schon eine Debatte zur UN-Kinderrechts-
kommission, und es wäre nun sehr langweilig, wenn ich
all das, was Sie gesagt haben, wiederholen und mit unse-
rer eigenen Position anreichern würde oder wenn ich das
wiederholen würde, was ich hier vor drei Wochen schon
gesagt habe. Deshalb möchte ich gerne einen anderen
Aspekt in die Debatte einbringen und damit vielleicht
ein bisschen Wasser in den Wein gießen.

Die UN-Kinderrechtskommission regelt, dass Kind
ist, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.
UNICEF leitet aus der UN-Kinderrechtskonvention
– das ist spannend für die Bewertung dieser Konvention –
zehn Grundrechte ab. Das siebte Grundrecht ist – ich zi-
tiere –

das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewalt-
freie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung
und des Friedens.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke teilt dies un-
eingeschränkt;


(Beifall bei der LINKEN)


denn Kinder sind trotz ihrer besonderen Schutzbedürf-
tigkeit oft die ersten Opfer eines Krieges.

Gerade in Bürgerkriegen, wie in Syrien oder – viel
näher – in der Ukraine, die wir gerade erleben müssen,
beobachten wir immer wieder, wie Kinder unter militäri-
schen Konflikten leiden, und wir beobachten auch im-
mer wieder den Einsatz von Kindern und Jugendlichen
als Kombattanten in militärischen Konflikten. Oftmals
enden Kindheit oder Jugend mit Traumatisierungen, mit
Verletzungen und auch durch einen gewaltsamen Tod.

Bei der Umsetzung und Wahrung dieses Grundrechts
brauchen wir in Deutschland aber gar nicht auf andere
Staaten zu verweisen. Denn auch die Enttabuisierung
des Militärischen – mancher hier im Haus ist darauf auch
noch stolz – ist eben nicht zu bagatellisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Kaum eine Ausbildungsmesse ohne Bundeswehrstand.
Jugendoffiziere werben in Schulen offensiv für den Sol-

7108 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Norbert Müller (Potsdam)



(A) (C)



(D)(B)

datenberuf, der eben kein gewöhnlicher Beruf ist. Dabei
ist es nun gerade nicht so, dass man es nicht insbeson-
dere auf Kinder im Sinne der UN-Kinderrechtskonven-
tion abgesehen hat, sondern gerade die unter 18-Jährigen
sind im Blick der Werber.

Insofern ist es ein Stück weit verrückt, dass wir im
Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention vor
drei Wochen darüber diskutiert haben. Für die Redner
der Union war ganz klar, dass ein Wahlrecht für 16- und
17-Jährige abzulehnen ist. Es gibt aber eine Mehrheit im
Hause dafür, 17-Jährige zu rekrutieren und in eine Uni-
form zu stecken. Das ist politisch offenbar gewollt.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Was?)


2013 wurden 1 032 17-Jährige bei der Bundeswehr
eingestellt. Dies erfolgte natürlich freiwillig. Gott sei
Dank wird niemand mit 17 Jahren zum Militär gezwun-
gen. Warum aber kann die Bundeswehr eigentlich nicht
darauf verzichten, die Volljährigkeit abzuwarten, und da-
mit in diesem Sinne die UN-Kinderrechtskonvention zu
beachten? Was zwingt sie eigentlich, das Rekrutierungs-
alter immer weiter vorzuverlegen? Warum wirbt denn
die Bundeswehr gezielt an Schulen und auf Ausbil-
dungsmessen, gezielt bei Jugendlichen? Offenbar
scheint sich die Bundeswehr davon zu versprechen, dass
Kinder und Jugendliche offener für den Kriegsdienst
sind als Menschen in einem höheren Alter, in dem sie die
Folgen ihres Tuns besser abschätzen können.

Aber Sie treiben es noch toller. Ich will hier gar keine
weiteren Worte zur Bundeswehr an Schulen verlieren.
Die Positionen hierzu sind ausgetauscht und bekannt.
Dass Sie aber inzwischen die Bundeswehr bei Kitakin-
dern auf Werbetour schicken, ist meines Erachtens schon
eine neue Qualität, und das ist auch verurteilenswert.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung hat erst vor wenigen Wochen
auf mehrere Kleine Anfragen der Linksfraktion zum
Thema „Bundeswehr in der Kita“ geantwortet. Sie haben
unter anderem geantwortet – ich zitiere –:

Das Kennenlernen des gesellschaftlichen Umfelds
einschließlich der Arbeitswelt der Eltern gehört
grundsätzlich zum pädagogischen Angebot von
Kindertagesstätten.

Ursache war, dass Fotos im Internet aufgetaucht sind,
auf denen zu sehen war, dass unter Sechsjährige auf Pan-
zern herumgeklettert sind, dass offenbar Truppenbesu-
che vorgenommen worden sind, dass die Bundeswehr
für Kitaeinrichtungen gespendet hat usw.

Das ist schon einigermaßen frech. Aus dem Recht der
UN-Kinderrechtskonvention auf eine gewaltfreie Erzie-
hung im Sinne des Friedens machen Sie offenbar ein
Recht, dass auch unter Sechsjährige auf Panzern herum-
zuklettern haben, weil das in irgendeiner Form zum ge-
sellschaftlichen Umfeld von Kindern und Jugendlichen
gehört. Ich finde, im 25. Jahr der UN-Kinderrechtskon-
vention müsste man deutlich machen, dass das Militäri-
sche nicht zum gesellschaftlichen Umfeld von Kindern
und Jugendlichen gehört.

(Beifall bei der LINKEN)


Nein. Das ist unwürdig. Die Bundesregierung hat die
Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention erst vor we-
nigen Jahren – im Jahr 2010, aber immerhin – zurückge-
nommen. Nutzen Sie jetzt die Gelegenheit des 25. Jah-
restages der Konvention, um selbst beispielgebend
voranzugehen! Unterlassen Sie die Werbung an Schulen!
Stellen Sie diese schrägen Kasernenexkursionen von Ki-
tas ein! Rekrutieren Sie keine Minderjährigen mehr!


(Beifall bei der LINKEN)


Krieg ist das größte Leid, das man Kindern und Ju-
gendlichen zufügen kann. Lassen Sie uns daraus Konse-
quenzen ziehen für die Bundesrepublik Deutschland, für
unser Land. Seien Sie so konsequent, und nehmen Sie
endlich die Kinderrechte in unsere Verfassung auf.

Ich weiß, dass es bei Grünen und der SPD hierzu
große Übereinstimmung gibt. Das geht insbesondere an
die Kolleginnen und Kollegen der SPD: Seien Sie so
mutig, und gehen Sie auch in dieser Legislaturperiode
Schritte! Drücken Sie Ihren Koalitionspartner, damit wir
bei der Frage der Verankerung von Kinderrechten im
Grundgesetz vorankommen. Das wäre ein besseres Zei-
chen anlässlich der Feier des 25. Geburtstags der Kin-
derrechtskonvention als nur wohlfeile Reden im Parla-
ment.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1807410200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Marcus

Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1807410300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen

und Herren, man muss schon einmal zurückschauen auf
die vergangenen 25 Jahre und darüber hinaus, um die
Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention zu erken-
nen. Wenn man sich ein wenig umschaut, dann landet
man schnell bei der Frau, die viel für Kinder geschrieben
hat und auch vieles ausdrücken konnte, nämlich bei
Astrid Lindgren. Sie hat schon 1978 bei der Verleihung
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine ih-
rer so besonderen Geschichten erzählt:

Eines Tages hatte ein kleiner Junge etwas getan, wo-
für er nach Ansicht seiner Mutter eine Tracht Prügel ver-
diente, die erste in seinem Leben. Er sollte nun selbst im
Garten nach einem Stock suchen und ihn der Mutter
bringen. Ihr Sohn kam nach einiger Zeit weinend zurück
und sagte: „Ich habe keinen Stock finden können, aber
hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir wer-
fen.“ Da fing auch die Mutter an, zu weinen; denn plötz-
lich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Sie nahm
ihren Sohn in die Arme. Dann legte sie den Stein auf ein
Bord in der Küche. Dort blieb er liegen, als ständige
Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser
Stunde selber gegeben hatte: „NIEMALS GEWALT!“

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7109

Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

So weit Astrid Lindgren. – Möge in jedem Haus in
diesem Land ein kleiner Stein liegen und diese Mahnung
dann auch in jedem Haus umgesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Geschichte bringt einen wichtigen Gedanken
zum Ausdruck, der mit der UN-Kinderrechtskonvention
verbunden war, nämlich die Welt aus Sicht der Kinder zu
sehen. Kinder sehen, fühlen und erkennen die Welt an-
ders. Diese Verabschiedung der Konvention am 20. No-
vember 1989 ist schon ein Meilenstein in der Geschichte
der Kinderrechte gewesen.

Unser Bewusstsein für die Rechte der Kinder ist seit
damals stark angewachsen, sowohl in Deutschland wie
auch weltweit. Diese Rechte sind jetzt in einem interna-
tionalen Vertragswerk verankert. Es geht darum, wie wir
den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und
Wasser, wie wir das Recht auf Leben, den Schutz vor
Gewalt, Misshandlung und Verwahrlosung national und
– mehr noch – international umsetzen können.

Ich will in diesem Zusammenhang daran erinnern: In
diesem Jahr wurde das dritte Zusatzprotokoll verab-
schiedet. Danach können sich jetzt Kinder gegen die
Verletzung ihrer Rechte dadurch wehren, dass sie sich an
den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden.
Es war eine richtige Entscheidung, die Rechte der Kin-
der dadurch zu stärken.

Nun müssen wir auch auf die internationale Ebene
schauen. Da kann man sicherlich Erfolge verbuchen, die
uns als globaler Teil derjenigen stolz machen können,
die hierfür Verantwortung übernommen haben. Immer-
hin: Die Kindersterblichkeit ist gesunken, und die Zahl
der arbeitenden Kinder ging um fast ein Drittel zurück.
Aber noch heute erleben 6,3 Millionen Kinder nicht ein-
mal ihren fünften Geburtstag. 168 Millionen Kinder
müssen arbeiten, und nur 5 Prozent aller Kinder leben in
Ländern, in denen jede Gewalt gegen Kinder verboten
ist. Es bleibt also auf internationaler Ebene noch viel zu
tun, um das zu ändern.

Deutschland hingegen hat in der Familienpolitik viel
getan. Nun kann man die familienpolitischen Leistungen
nicht nur am Geld festmachen. Aber es ist schon so, dass
wir in den letzten Jahren den Familien und den Kindern
deutlich mehr Geld haben zukommen lassen. Ganz zen-
tral – das ist auch für uns in der Großen Koalition ein
wichtiger Punkt – ist: Das staatliche Handeln ist auf das
Wohl des Kindes ausgerichtet. Aber wir sagen auch: Wir
wollen nicht nur das Wohl des Kindes in den Fokus neh-
men, sondern immer auch die Frage stellen: Wie können
wir Eltern stärken, und wie können wir Familien insge-
samt stärken? Unsere Aufgabe in der Familienpolitik ist
es, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft zu stär-
ken;


(Beifall bei der CDU/CSU)


denn dann, wenn das Verhältnis zu den Kindern in der
Familie gut ist, sind die Kinder besser geschützt und ha-
ben stärkere Unterstützung.
Viele Maßnahmen dienen diesem Ziel: Die Alleiner-
ziehenden werden bessergestellt, das Kindergeld wurde
erhöht, der Kitaausbau wurde vorangetrieben, das El-
terngeld wurde nicht nur eingeführt, sondern auch modi-
fiziert und verändert – immer im Sinne der Familien und
ihrer Wünsche. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass
es auch für Kinder gut ist, wenn die Eltern mehr Zeit für
sie haben.

Zum besseren Schutz haben wir 2012 ein Bundeskin-
derschutzgesetz eingeführt. Als weiteres Beispiel sei
hier der Ausbau des Netzwerkes „Frühe Hilfen“ ge-
nannt. Wir werden das Bundeskinderschutzgesetz aber
auch evaluieren. Die Frage – das ist für uns die Heraus-
forderung – ist: Was bringen unsere Maßnahmen? Wir
geben über 8 Milliarden Euro für Hilfen zur Erziehung
aus. Trotz dieser Hilfen und trotz des Bundeskinder-
schutzgesetzes gibt es dramatische Fälle von Misshand-
lung und in Teilen eine Zunahme von Fällen von Ver-
wahrlosung und Inobhutnahmen. Wenn 40 000 Kinder
im Jahr in Deutschland in Obhut genommen werden
müssen, dann stimmt etwas in dieser Gesellschaft nicht.
Daran müssen wir arbeiten, und daran werden wir auch
arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Voraussetzung wird aber auch sein, dass wir uns in
den nächsten Jahren mit folgenden Fragen beschäftigen:
Was eigentlich heißt „Kindeswohl“? Was ist für Kinder
wichtig? Wo gibt es Strukturdefizite? Wo gibt es mögli-
cherweise Finanzierungsdefizite? Wo können wir als
Bundesgesetzgeber die Kommunen entlasten und die
Länder unterstützen? Schließlich sind Länder und Kom-
munen für das Thema Kinder- und Jugendhilfe verant-
wortlich.

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Dann
gibt es die interessante Diskussion: Reichen Änderungen
im Grundgesetz aus? Dazu nur zwei Bemerkungen. In
10 von 16 Länderverfassungen sind die Kinderrechte be-
reits verankert. Ich glaube, wir sollten uns darum küm-
mern, was real wirkt, und keine Symbolpolitik betreiben.
Wir sagen klar: Wir müssen die Strukturen überprüfen.
Wir müssen die Hilfsmaßnahmen verstärken. Wir dürfen
aber durch eine eventuelle Grundgesetzänderung nicht
dahin kommen, dass wir Kinder sozusagen weiter von
ihren Eltern trennen. Werter Kollege Lehrieder, Sie wer-
den sicherlich noch das eine oder andere zu der Frage sa-
gen, ob Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen
werden sollen. Ich bin weiterhin zurückhaltend, weil ich
glaube, dass wir schauen müssen, was wir real für Kin-
der tun können. In den letzten Jahren hat sich viel getan.
Unser aller Auftrag ist im Sinne von Astrid Lindgren, ei-
nen kleinen Stein im Herzen zu tragen, der uns gemahnt:
„NIEMALS GEWALT!“ und „Hilfe für Kinder“.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807410400

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Franziska

Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.

7110 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014


(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucher! Leider sind nicht so viele
Kinder anwesend. Es wäre anlässlich unserer heutigen
Debatte über die Kinderrechtskonvention schön, wenn
die Ränge auf der Zuschauertribüne voll mit Kindern
wären.

Heute ist ein besonderer Tag, da wir über die Kinder-
rechtskonvention sowie die Rechte der Kinder in unse-
rem Land und weltweit reden. Anlässlich des Jahrestags
der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention habe
ich am 20. November in meinem Wahlkreis die 3. und
4. Klassen einer Grundschule in Heidelberg besucht, um
über die Kinderrechtskonvention zu sprechen. Nachdem
ich mit den Kindern ein bisschen geredet hatte, meldete
sich ein Mädchen zu Wort und fragte: Was bedeutet „ein
Recht“? Ich fand es ziemlich schwierig, diese Frage zu
beantworten. Was bedeutet „ein Recht“? Was ist dein
Recht? Ich habe versucht, die Frage anhand von Beispie-
len zu beantworten. Ich habe gesagt: Dein Recht ist bei-
spielsweise, nicht geschlagen zu werden. Daraufhin mel-
dete sich ein Junge und sagte: Aber mein Papa haut
mich. Dann dachte ich: Das war wohl das falsche Bei-
spiel. Was habe ich damit nur provoziert? Dann sagte
ich: Dein Recht ist, genau gleich behandelt zu werden
wie alle anderen. Daraufhin meldete sich ein Mädchen
und fragte: Darf ich trotzdem über jemand anderen la-
chen? Das war auch keine einfach zu beantwortende
Frage. Ich habe gesagt: Nicht weil sie aus einem anderen
Land kommt oder anders ausschaut. Daraufhin meinte
das Mädchen: Wenn sie aber die Sprache nicht kann und
deswegen lauter Blödsinn sagt? Ich habe gesagt: Nein,
auch deswegen nicht. Dann sah ich, dass ein Mädchen in
der hinteren Ecke offensichtlich nicht so gut deutsch
sprach und etwas zusammenzuckte.

Dann habe ich die Kinder etwas gefragt: Wisst ihr
denn, wo ihr euch beschweren könnt, wenn ihr euch un-
gerecht behandelt fühlt? Dann war es relativ ruhig in der
Klasse. Nach einer Weile meldete sich ein Mädchen und
sagte: Bei der Lehrerin. Ich fand es beruhigend, dass die
Kinder in dieser Schule offensichtlich so viel Vertrauen
in die Lehrerin haben, um sich bei ihr zu beschweren.
Ich sagte dann: Bei uns gibt es eine Kinderschutzbeauf-
tragte in jedem Viertel. – Den Namen dieser Person hatte
keines der Kinder jemals gehört. Dann dachte ich: Ei-
gentlich ist es die Aufgabe dieser Person, Kinder wissen
zu lassen, wo sie sich beschweren können, wenn ihre
Rechte nicht eingehalten werden.

Frau Rüthrich, Sie haben zu Recht die Missstände in
Deutschland beschrieben und darauf hingewiesen, dass
diese in Zukunft beseitigt werden müssen, wie Kinder-
armut, keine gleichen Chancen für alle Kinder, Schutz
vor Gewalt und sexuellem Missbrauch sowie Ausgren-
zung, nicht die gleichen Rechte für Flüchtlinge. Erlau-
ben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass Sie, wenn wir
dorthin wollen, wo Sie in 25 Jahren sein wollen, nun ent-
sprechende Schritte machen müssen. Sonst sind wir in
25 Jahren nicht dort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Artikel 2 der Kinderrechtskonvention ist sehr deut-
lich:

Die Vertragsstaaten achten die in diesem Überein-
kommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie
jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind
ohne jede Diskriminierung unabhängig von der
Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache,
der Religion, der politischen oder sonstigen An-
schauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen
Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der
Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner
Eltern oder seines Vormundes.

Das ist doch enorm breit. Da steht nicht „jedem deut-
schen Kind“, sondern „jedem ihrer Hoheitsgewalt unter-
stehenden Kind“. Wenn wir diesem Anspruch in Artikel 2
gerecht werden wollen, dann müssen wir dringend etwas
mit Blick auf die Kinderarmut in unserem Land tun;
denn nach Artikel 2 sind die Rechte jedem Kind zu ge-
währleisten, unabhängig vom Vermögen. Das ist in
Deutschland keine Realität. Genauso wenig ist es Reali-
tät, dass ein Flüchtlingskind die gleichen Chancen hat.
Daher lautet mein Appell: Sorgen Sie für Änderungen!
Wir ändern gerade ständig Asylgesetze. Vielleicht kön-
nen wir sie in diesem Sinne positiv ändern. Das würde
mich und sicherlich auch viele Kinder in diesem Land
sehr erfreuen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Ihnen noch Artikel 3 der UN-Kinder-
rechtskonvention vorlesen, über den wir mit Blick auf
das Grundgesetz gerade noch einmal diskutiert haben:

Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich-
viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtun-
gen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungs-
behörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen
werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt,
der vorrangig zu berücksichtigen ist.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Das passiert aber schon!)


Herr Weinberg, Sie haben gerade gesagt: Kinder oder
Familie. – Natürlich ist Familie immer ein Gesichts-
punkt. Im zitierten Artikel steht, dass das Wohl des Kin-
des ein Gesichtspunkt ist – dort steht überhaupt nicht,
dass es andere Gesichtspunkte gibt –, der, das ist
wichtig, „vorrangig zu berücksichtigen ist“. Das ist in
Deutschland nicht überall der Fall: dass das Kindeswohl
vorrangig berücksichtigt wird.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Muss aber sein!)


Das gilt für Verkehrsplanungen; das gilt für unser Bau-
recht. Auch im Asylrecht ist das nicht der Fall. Bei Fra-
gen von Inobhutnahmen ist es am Ende ebenfalls nicht
immer das Kindeswohl, das entscheidet.

Herr Weinberg, Sie haben gerade gesagt: Die Veran-
kerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist nur eine
Symbolik. – Ich würde da widersprechen und sagen: Es

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7111

Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

geht um mehr als nur um eine Symbolik. Aber selbst
wenn es nur ein Symbol wäre: Warum sind Sie gegen
dieses Symbol? Warum wollen Sie als CDU-Bundes-
tagsabgeordneter das Symbol, dass die Kinder gleiche
Rechte haben und dass ihre Rechte im Grundgesetz ver-
ankert sind, nicht haben? Wenn es nur ein Symbol ist, wa-
rum wollen Sie es dann nicht? Ich bin davon überzeugt,
dass die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz
mehr als ein Symbol ist, dass sie bei der Auslegung und
Fortentwicklung von Gesetzen etwas verändern würde.
Von daher halte ich Ihren Hinweis auf die Symbolik für
kein akzeptables Argument. Sie müssen schon inhaltlich
begründen, warum Sie das nicht wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807410500

Kommen Sie bitte zum Schluss.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich wollte am Ende nur sagen: Erlauben Sie, dass wir
in 25 Jahren dieses Ziel erreicht haben! Lassen Sie uns,
Deutschland, Vorreiter sein bei der Umsetzung der UN-
Kinderrechtskonvention!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807410600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Ulrike Bahr,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ulrike Bahr (SPD):
Rede ID: ID1807410700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Schutz, Förderung und Beteiligung, in diesem
Dreiklang will die UN-Kinderrechtskonvention seit
25 Jahren die Rechte der Kinder sichern. Zweifellos hat
sie damit viel bewegt im weltweiten Kampf gegen Kin-
derarbeit und sexuelle Ausbeutung von Kindern, für ein
Recht auf Bildung für Mädchen und Jungen, ein Recht
auf Gesundheitsversorgung und Schutz vor Kriegen und
auch für einen neuen Blick auf Kinder und Jugendliche.

Noch viel mehr bleibt aber zu tun, weltweit und bei
uns in Deutschland. Kinder sind nach wie vor die Haupt-
leidtragenden der zahlreichen bewaffneten Konflikte auf
dieser Welt. Allein 1,6 Millionen syrische Kinder sind
auf der Flucht. Weitere 5,6 Millionen sind innerhalb Sy-
riens von Krieg und Gewalt betroffen. Nicht so stark im
Fokus steht die kaum weniger schädliche Lage von Mil-
lionen Kindern nach Bürgerkriegen, zum Beispiel im
Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik oder in So-
malia. Einige dieser Kinder und Jugendlichen schaffen
es allein oder mit ihren Angehörigen als Flüchtlinge bis
nach Deutschland.
Als Unterzeichner der UN-Kinderrechtskonvention,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es unsere Verpflich-
tung, bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das
Kindeswohl als oberste Richtschnur zu nehmen. Kinder
im Sinne der UN-Konvention sind alle Menschen unter
18 Jahren ohne jede Diskriminierung nach nationaler,
ethnischer oder sozialer Herkunft. Asyl- und ausländer-
rechtliche Regelungen müssen darum die besondere
Schutzbedürftigkeit und das Wohl minderjähriger Flücht-
linge berücksichtigen:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


für alle Kinder bei der medizinischen Versorgung und
beim Zugang zu Spracherwerb und Bildung, für die un-
begleiteten Minderjährigen auch bei der unverzüglichen
Inobhutnahme durch das Jugendamt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Flughafenverfahren und Abschiebehaft für Minder-
jährige und eine generelle Verfahrensfähigkeit ab 16 Jah-
ren halte ich für nicht vereinbar mit der UN-Kinder-
rechtskonvention. Kinder müssen immer zuerst als
Kinder wahrgenommen werden mit den ihnen zustehen-
den Rechten. Auch in anderen Bereichen unseres Sozial-
rechts geschieht dies nicht immer. Vielmehr sind und
werden Trennlinien gezogen. Dies trifft besonders Kin-
der mit Behinderungen. Kinder und Jugendliche mit kör-
perlicher oder geistiger Behinderung erhalten Eingliede-
rungshilfe nicht von der Kinder- und Jugendhilfe,
sondern aus der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch. Haben Kinder dagegen eine seelische
Behinderung, ist die Kinder- und Jugendhilfe zuständig.
Diese künstliche Trennung führt zu großen Abgren-
zungsschwierigkeiten. Sie kann die Jugend- und Sozial-
ämter dazu verleiten, mehr über die eigene Zuständigkeit
nachzudenken, als die Bedarfe von Kindern und Jugend-
lichen und ihren Familien in den Mittelpunkt zu stellen.


(Beifall der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Bürokratische Hindernisse führen oft zu ungewollten
Verschiebebahnhöfen, unter denen die Kinder mit Be-
hinderung und ihre Familien leiden. Das widerspricht
dem Geist der Kinderrechtskonvention und der sie er-
gänzenden Behindertenrechtskonvention, in jedem Kind
und in jedem jungen Menschen die Potenziale zu sehen,
unterstützend zu fördern und gesellschaftliche Teilhabe
zu ermöglichen, anstatt zu trennen und auszuschließen.
Wenn wir in einer großen Lösung Hilfen für alle Kinder
und Jugendlichen unter dem Dach der Kinder- und Ju-
gendhilfe vereinen, können wir daran etwas ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Noch ein letzter Punkt ist mir sehr wichtig: In den
letzten 25 Jahren haben sich in den Kommunen, an Ge-
richten und bei öffentlichen Institutionen vielfältige
Strukturen entwickelt, Kinder zu beteiligen, sie zu hören
und ihre Meinungen einzubeziehen, wie es der Arti-
kel 12 der Kinderrechtskonvention vorgibt. Vielerorts
werden Kinder schon als eigenständige Träger von
Rechten wahrgenommen, nicht nur als Schutzbefohlene

7112 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Ulrike Bahr


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und zu Erziehende. Erst neulich haben mir bei einem Be-
such in einer Grundschule Kinder vorgeführt, wie kom-
petent und engagiert sie bei Themen in ihrem Nahbe-
reich mitwirken und mitentscheiden können. Es ging um
ein Schülerbegehren zur Sanierung der Schultoiletten,
und das Beste daran: Die Toiletten wurden saniert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darum ist es jetzt auch an der Zeit, meine Damen und
Herren, dass wir Kinder nicht nur punktuell und in Mo-
dellprojekten ernst nehmen und einbeziehen. Diese ge-
wandelte Haltung gegenüber Kindern sollte sichtbar
werden. Mir fallen gleich mehrere Beispiele ein, wie das
geschehen kann: an erster Stelle durch Aufnahme der
Kinderrechte ins Grundgesetz – das würde sie bekannter
und akzeptierter machen und das Recht auf Beteiligung
festschreiben –, mit einer Kampagne, die Kinder über
ihre Rechte aufklärt – die breite Medienberichterstattung
zum 25. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention war
in dieser Beziehung sehr ermutigend; solche Aktionen
brauchen wir aber nicht nur zu Jahrestagen –,


(Beifall bei der SPD)


außerdem mit einem eigenen Anrecht des Kindes auf
Hilfen zur gleichberechtigten Entwicklung und Teilhabe
sowie mit einem Anspruch auf eigenständige, kindge-
rechte und niederschwellige Beratungsangebote.

Schutz, Förderung und Beteiligung, das dürfen Kin-
der von unserer Gesellschaft erwarten. Darauf haben sie
ein Recht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807410800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Susann Rüthrich [SPD])



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1807410900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich sehe, dass viele Ju-
gendliche auf der Tribüne sind. Das freut mich bei die-
sem Debattenpunkt natürlich besonders.

Die UN-Kinderrechtskonvention hat vor 25 Jahren
erstmals die Rechte von Kindern international verbrieft.
Ihre Umsetzung ist Auftrag und natürlich Maßstab zu-
gleich. Bevor ich jedoch in die Debatte zur Umsetzung
in Deutschland einsteige, einiges vorweg:

Kindern in Deutschland geht es gut. Einigen geht es
sogar sehr gut, anderen leider weniger. Um diese müssen
wir uns natürlich weiter kümmern. Für Kinder zu sorgen
und sie zu schützen, ist unser aller Auftrag: als Gesetz-
geber, als Eltern und als Mitglieder dieser Gesellschaft.
Grundsätzlich aber gilt: Den allermeisten Kindern geht
es gut; sie fühlen sich wohl und sie sind gesund. Das hat
nicht zuletzt die KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kin-
dern und Jugendlichen in Deutschland bestätigt.

Ich finde diesen Punkt wichtig – auch das unter-
streicht den Stellenwert der UN-Kinderrechtskonvention
in Deutschland –: Schutz, Wohlbefinden, Förderung,
Wahrung der Rechte von Kindern, all dies ist bereits ge-
lebte Praxis in Deutschland. Das heißt allerdings nicht,
dass wir uns zum Jubiläum zurücklehnen. Wir müssen
Kinderrechte jeden Tag aufs Neue verwirklichen und
achten.

Vielfach wird aus der Kinderrechtskonvention abge-
leitet, dass Kinderrechte nur durchsetzbar wären, wenn
sie auch im Grundgesetz stehen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Kinderrechte in Deutschland werden geachtet,
auch wenn sie nicht explizit im Grundgesetz genannt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch das Ratifizierungsgesetz hat Deutschland 1992
seine Zustimmung zur Konvention zum Ausdruck ge-
bracht. Damit ist klar, dass die Konvention geltendes
Recht in Deutschland ist.

Bei einem Treffen mit dem Aktionsbündnis Kinder-
rechte in der letzten Woche habe ich erneut klar zum
Ausdruck gebracht, dass die UN-Kinderrechtskonven-
tion Deutschland nicht automatisch verpflichtet, die da-
rin normierten Kinderrechte auch in der Verfassung fest-
zuschreiben. Vielmehr verlangt sie eine Umsetzung in
die gesetzliche Praxis aller Rechtsbereiche. Ich möchte
hier nur exemplarisch auf das Kinder- und Jugendhilfe-
recht verweisen; denn SGB VIII sagt in § 8:

Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem
Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Ent-
scheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteili-
gen.

Ein richtiger und wichtiger Schritt. Ergänzt wird er da-
durch, dass Kinder auch allein das Jugendamt um Hilfe
bitten können, wenn sie sich in ihrer Entwicklung oder
ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt fühlen.

Nun ist es, meine Damen und Herren, ein offenes Ge-
heimnis, dass ich den Einbezug der Kinderrechte ins
Grundgesetz für einen Ansatz halte, über den man disku-
tieren und den man bedenken kann. Die Vorschläge, bei-
spielsweise vom Kinderhilfswerk oder vom Deutschen
Anwaltverein, liegen auf dem Tisch. Das Kinderhilfs-
werk spricht sich für einen Zusatz zu Artikel 2 a des
Grundgesetzes aus, der Deutsche Anwaltverein ist für
eine Ergänzung von Artikel 6 des Grundgesetzes um die
Worte „die Kinder“.

Inhaltlich halte ich daher die Debatte um Kinder-
rechte für wichtig. Ich denke, dass wir sie weiterhin ak-
tiv führen sollten. So hat sich die Kinderkommission des
Deutschen Bundestages noch einmal vertieft mit der
Umsetzung des Übereinkommens befasst. Dabei haben
wir auch über die Einrichtung einer Beschwerdestelle
diskutiert, wie die Konvention sie fordert. Norwegen
zum Beispiel hat diesen Weg gewählt und eine Kinder-
ombudsperson eingesetzt. Frau Rüthrich, wir beide hät-
ten das vielleicht in den Koalitionsvertrag geschrieben;

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7113

Eckhard Pols


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denn wir, die Mitglieder der Kinderkommission, haben
uns bereits 2011 vor Ort in Oslo über die Arbeit des Kin-
derombudsmanns informiert und einige interessante
Aspekte mitnehmen dürfen.

Ob also am Ende dieser Diskussion Kinderrechte tat-
sächlich im Grundgesetz stehen oder ob wir uns für eine
andere Lösung entscheiden, ist für mich offen. Entschei-
dend ist für mich, dass wir Kindern in Deutschland sub-
stanziell zu ihrem Recht verhelfen. Das fängt überall
dort an, wo die Lebenswelten von Kindern berührt wer-
den: in der Familie, in Kitas, in Schulen, in Sportverei-
nen und im kommunalen Umfeld.

Die 3. World Vision Kinderstudie hat gezeigt, dass
insbesondere Elternhäuser einen ganz wesentlichen Bei-
trag zum Gelingen von Beteiligung leisten. Kinder ma-
chen in ihren Familien die Erfahrung der Wertschätzung,
dass sie angehört und in die gemeinsame Beratung all-
täglicher Fragen eingebunden werden. Eltern leisten da-
mit einen konkreten und enorm wichtigen Beitrag zur
Umsetzung der Kinderrechte. Sie machen die Familie zu
einem lebendigen Ort der Verhandlung.

Nun wissen wir alle, dass es leider Familien gibt, die
nicht immer ein Hort des liebevollen und respektvollen
Umgangs sind. Es gibt in allen Schichten der Bevölke-
rung Familien, in denen die Rechte des Kindes auf kör-
perliche und seelische Unversehrtheit, sein Recht auf
Respekt und freie Entwicklung nicht realisiert werden.
Doch machen wir uns nichts vor, meine Damen und Her-
ren: Diese Familien erreichen wir auch nicht mit einer
Änderung des Grundgesetzes.

Ich möchte noch einmal deutlich machen: Entschei-
dend ist, dass wir Kindern in Deutschland substanziell
zu ihrem Recht verhelfen. Frau Dr. Brantner, auch ich
habe anlässlich des 25. Geburtstags der Kinderrechts-
konvention mit Schülern aus meinem Wahlkreis über die
Rechte, die sie haben, diskutiert. Bei dieser Diskussion
drehten sich die Fragen der Kinder nicht darum: „In wel-
chem Artikel finden wir diese Rechte im Grundgesetz
wieder?“, sondern die Kinder haben gefragt, wie sie
selbst ihre Rechte im Alltag wahrnehmen können und an
wen sie sich wenden könnten, wenn sie nicht entspre-
chend gehört werden. Das war den Kindern wichtig. Ich
meine, über diese Fragen einmal vertieft nachzudenken,
lohnt sich. In den nächsten Jahren, aber nicht erst in
25 Jahren – aber natürlich können wir den 50. Jahrestag
der Kinderrechtskonvention zum Anlass nehmen, uns
wieder einmal zu fragen, wie weit wir gekommen sind –
sollten wir uns daran messen lassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807411000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Paul Lehrieder,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1807411100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Ich darf, bevor ich mit meiner Rede be-
ginne, zunächst dem Kollegen Markus Koob aus dem
Familienausschuss im Namen unserer Fraktion alles
Gute zu seinem heutigen Geburtstag wünschen.


(Beifall)


Meine Damen und Herren, von den Vorrednern wurde
bereits darauf hingewiesen: Im Jahr 1989 ereignete sich
nicht nur der Fall der Mauer. Im selben Jahr wurde am
20. November, just an meinem Geburtstag, auch eines
der wegweisendsten Dokumente der internationalen
Staatengemeinschaft verabschiedet. Von der Generalver-
sammlung der Vereinten Nationen wurde die UN-Kin-
derrechtskonvention angenommen. Am 2. September
1990 traten die insgesamt 54 Artikel, die gemeinsame
Standards zum Schutz der Kinder auf der ganzen Welt
festlegten, schließlich in Kraft.

Ich will, bevor ich auf die Artikel im Einzelnen ein-
gehe, noch zwei Sätze zu der mehrfach angesprochenen
Thematik „Aufnahme der Kinderrechte in die Verfas-
sung“ verlieren. Es wurde von mehreren Kolleginnen
und Kollegen – so von Kollegin Rüthrich und Kollegin
Brantner – moniert, dass die Aufnahme der Kinderrechte
in unser Grundgesetz eine weitaus höhere Gewichtung
der Kinderrechte ergeben würde. Ich bitte Sie: Schlagen
Sie mit mir gemeinsam das silberne Buch, das Grundge-
setz der Bundesrepublik Deutschland, das im Schubfach
Ihres Tisches liegt, Seite 15 unten rechts auf; ich gehe
somit nicht zu Artikel 6, sondern zu Artikel 3. In Arti-
kel 3 Absatz 2 ist normiert – es ist der Gleichbehand-
lungsgrundsatz; das kennen Sie vielleicht –:

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichbe-
rechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch ein wichtiger Satz!)


Frau Kollegin Brantner, Ihre Auffassung als zutref-
fend unterstellt, brauchten wir in den nächsten Monaten
sicher nicht über eine Frauenquote zu diskutieren und
hätten längst nicht mehr das Problem des Gender Pay
Gap. Wir hätten viele Probleme nicht, wenn allein die
Aufnahme in die Verfassung die Lösung des Problems
wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne den Artikel hätten wir die Quote nicht! Das ist der Unterschied! – Weitere Zurufe von der SPD)


Meine Damen und Herren, am 27. November 2014,
also vor wenigen Tagen – das wurde ebenfalls zitiert –,
wurde anlässlich des 25. Jahrestages der Kinderrechts-
konvention eine Entschließung der UN durch das Euro-
päische Parlament zu den Kinderrechten gefasst. Darin
fordert es alle Mitgliedstaaten dazu auf, den Kreislauf
der Benachteiligung zu durchbrechen, die UN-Kinder-
rechtskonvention in nationales Recht zu gießen und si-

7114 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Paul Lehrieder


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cherzustellen, dass der Vorrang des Kindeswohls tat-
sächlich umgesetzt ist.


(Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Dann packen Sie es an!)


Selbst das Europäische Parlament hat in dieser Resolu-
tion vom 27. November noch nicht einmal die Auf-
nahme in die Verfassung gefordert, sondern nur, dass
sichergestellt werden muss, dass die Kinderrechte umge-
setzt werden.


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Kollege Weinberg hat bereits darauf hingewiesen:
Wir haben in Deutschland Kinderschutzrechte, die viele
andere Länder in diesem Umfang überhaupt nicht haben:
die materielle Absicherung, der Schutz von Kindern vor
Gewalt, unser Kinderschutzgesetz, das wir im kommen-
den Jahr evaluieren werden. Wir diskutieren jetzt über
Führungszeugnisse im Kinderschutz. Wir haben in den
letzten Jahren sehr vieles zum Kinderschutz auf den Weg
gebracht, und ich denke, das ist im europäischen Raum
vorbildlich. In vielen anderen Ländern der Welt wären
die Kinder heilfroh, wenn sie nur ansatzweise die Rechte
hätten, die die Kinder in Deutschland bereits jetzt für
sich in Anspruch nehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das Argument des kleineren Übels ist keines!)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, insbesondere zäh-
len zu den Schutzrechten der Kinder das Recht, ohne
Gewalt, Diskriminierung und in Sicherheit leben zu kön-
nen, das Recht auf Zugang zu medizinischer Versorgung
– das wird in Deutschland keinem Kind ernsthaft abge-
sprochen –, das Recht auf Bildung, das Recht auf Nah-
rung sowie ein Mitspracherecht bei kinderrelevanten
Entscheidungen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, 25 Jahre
nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention
ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen: Was haben wir in ei-
nem Vierteljahrhundert erreicht? Wo müssen wir noch
weiterarbeiten, und wo müssen wir noch nachbessern?

Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der
Konvention ganz klar dazu bekannt, das Wohl unserer
Kinder, unserer künftigen Generationen und somit der
Hoffnungsträger unseres Landes als Leitlinie für sein
politisches und gesellschaftliches Handeln zum Maßstab
zu nehmen.

Einige Forderungen der Konvention zur besseren Ver-
wirklichung der Kinderrechte konnten wir bereits umset-
zen, beispielsweise die gesetzliche Regelung zur gewalt-
freien Erziehung in § 1631 Absatz 2 BGB seit dem Jahr
2000 oder die Gleichstellung von ehelichen und nicht-
ehelichen Kindern. Zudem belegen aktuelle Forschungs-
ergebnisse, dass es unserer heutigen jungen Generation
so gut geht wie keiner Generation zuvor.

Das außenpolitische Engagement Deutschlands zur
Förderung und zum Schutz der Kinderrechte wird welt-
weit ausdrücklich gelobt. Human Rights Watch und
andere Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass
Deutschland weltweit zu den Vorreitern und größten
Verfechtern des Schutzes der Kinderrechte zählt. Da-
rüber hinaus wird den Kinderrechten in der Entwick-
lungshilfezusammenarbeit – auch durch unseren ge-
schätzten Minister Dr. Gerd Müller – eine herausragende
Stellung eingeräumt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kinder und
Jugendliche brauchen den Schutz unserer Gesellschaft.
Für sie ist es schwierig, sich zu organisieren und sich ei-
genständig für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Sie sind auf
die Unterstützung Erwachsener angewiesen, seien es die
Familien, seien es politische oder gesellschaftliche Gre-
mien wie wir. 1988 wurde daher vom Deutschen Bun-
destag die Kinderkommission eingesetzt, um die Be-
lange der Kinder und Jugendlichen in einem besonderen
Gremium wahrzunehmen.

Ich darf den Leiter der Kinderkommission, Kollegen
Eckhard Pols, der vor mir gesprochen hat, zitieren. Lie-
ber Eckhard, du hast darauf hingewiesen: Wir sind beru-
fen, uns Gedanken zu machen, wie wir Kindern Be-
schwerdemöglichkeiten einräumen können. Ich finde die
Idee durchaus sympathisch, und es wäre erwägenswert,
sie aufzugreifen: die Einrichtung einer unabhängigen Be-
schwerdestelle für Kinder im Allgemeinen, angelehnt an
die sogenannten Ombudsstellen. Man könnte es eventuell
so verwirklichen, dass man eine Beschwerdemöglichkeit
für Kinder als Unterabteilung im Petitionsausschuss ein-
richtet. Dann könnten Kinder sich bei empfundener Ver-
letzung ihrer eigenen Rechte tatsächlich aktiv an ein
Gremium, in diesem Fall im Bundestag, wenden. Das
finde ich durchaus diskussionswürdig.

Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, lassen Sie uns
vernünftige Realpolitik für die Kinder machen. Das ist
besser, als wenn wir eine Norm in die Verfassung schrei-
ben, liebe Frau Kollegin Brantner. Trotz einer solchen
Norm ist die Gleichstellung von Frauen bis heute ja im-
mer noch nicht so toll umgesetzt worden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ohne die Verfassungsänderung hätten wir die Quote immer noch nicht!)


– Sie haben auch ein Exemplar der Verfassung vor sich
liegen. Dort können Sie einmal nachschauen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807411200

Der Kollege wollte nur darauf hinweisen, dass wir

ohne die Verfassungsänderung die Quote heute vielleicht
immer noch nicht hätten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE] – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist eine sehr mutige Interpretation, Frau Präsidentin!)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7115

Vizepräsidentin Ulla Schmidt


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Insofern ist eine Verfassungsänderung manchmal auch
sehr bewusstseinsbildend und bewusstseinsfördernd.

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Vereinbarte Debatte

Menschenrechte global durchsetzen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist
Gabriela Heinrich, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1807411300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir reden
momentan häufig von der gewachsenen Verantwortung
Deutschlands in der Welt, von einem Mehr an Verant-
wortung. Dieses Mehr an Verantwortung wird jedoch
höchst unterschiedlich interpretiert. Da geht es mal um
militärische Einsätze, mal um mehr Verhandlungen, um
Konflikte beizulegen. Der 10. Dezember ist der Interna-
tionale Tag der Menschenrechte. Ich nehme diesen
10. Dezember zum Anlass, zu fordern, dass Deutschland
weltweit tatsächlich noch mehr Verantwortung über-
nimmt, mehr Verantwortung für die Menschenrechte.

Was heißt „Menschenrechte global durchsetzen“? In
meiner Heimatstadt Nürnberg gibt es die „Straße der
Menschenrechte“. Der Künstler Dani Karavan hat die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in weiße
Säulen eingemeißelt – 30 Artikel in 30 Sprachen. Ich bin
vor kurzem mit Bürgerinnen und Bürgern durch die
„Straße der Menschenrechte“ gegangen. Uns sind zu je-
der Säule Menschenrechtsverletzungen eingefallen,
manchmal auch in Deutschland, zum Beispiel wenn
Menschen Opfer von Arbeitsausbeutung werden oder
man sie auf Matratzen in Abrisshäusern zusammen-
pfercht. Moderne Sklaverei wird so etwas genannt. Auch
wenn wir schon sehr viel erreicht haben: Es gibt in
Deutschland durchaus noch einiges zu tun, um Men-
schen vor Verletzungen ihrer Menschenwürde und vor
Diskriminierung zu schützen.

Wir Parlamentarier haben ganz aktuell eine sehr kon-
krete Gelegenheit, Verantwortung im eigenen Land zu
übernehmen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte
droht seinen A-Status zu verlieren, wenn wir es jetzt
nicht auf eine vernünftige gesetzliche Grundlage stellen.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum geht das denn immer noch nicht? Ist das Frau Steinbach? – Gegenruf des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD]: Du kennst die Antwort, Tom!)


– Ich bin ganz bei Ihnen, Herr Koenigs. – 1993 haben
die Vereinten Nationen die sogenannten Pariser Prinzi-
pien entwickelt. Darin wird festgelegt, welche Kriterien
nationale Menschenrechtsinstitutionen erfüllen müssen,
um bei Staatenkonferenzen oder beim Menschenrechts-
rat voll handlungsberechtigt zu sein. Wie peinlich wäre
es für die Bundesregierung, wenn der A-Status, also die
Bestnote, ausgerechnet in dem Jahr entzogen wird, in
dem Deutschland den Vorsitz im Menschenrechtsrat
übernimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie glaubwürdig ist das Mehr an Verantwortung, wenn
wir uns hier nicht einigen können?


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bach ist steinig!)


Meine Damen und Herren, wir werden im nächsten
Jahr viele Gelegenheiten haben, uns für die Durchset-
zung der Menschenrechte einzusetzen. Auch wenn es in
der letzten Zeit einige positive Beispiele gegeben hat
– in Tunesien, in Marokko und in einigen anderen afri-
kanischen Staaten –: Es gibt noch unendlich viele Län-
der, in denen Frauen völlig rechtlos sind. Sie sind perma-
nent sexueller Gewalt ausgesetzt. Sie werden an den
Genitalien verstümmelt, im Kindesalter verheiratet. Sie
sterben im Kindbett und durch ungeheuerliche Verlet-
zungen, die ihnen ihre pädophilen Ehemänner zufügen.

Ich hatte die Gelegenheit, mit der diesjährigen Preis-
trägerin des Menschenrechtspreises der Friedrich-Ebert-
Stiftung, der Somalierin Fartuun Adan, zu sprechen. Sie
setzt sich für vergewaltigte, rechtlose Frauen ein und
kämpft mit ihren Mitstreiterinnen gegen Genitalverstüm-
melungen.

Was uns Menschenrechtsverteidiger aus aller Welt er-
zählen – über Kindersoldaten, Folter, Verfolgung von
Schwulen und Lesben –, ist erschütternd. Sie alle brau-
chen unsere Unterstützung und sie fordern sie auch ein.
Alice Nkom, Schwulen- und Lesben-Rechtsanwältin aus
Kamerun, hat uns ins Stammbuch geschrieben: Lassen
Sie sich nie erzählen, dass die Menschenrechte von der
Tradition eines Landes abhängen. Die Menschenrechte
gelten für alle Menschen überall auf der Welt gleich.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben in diesem Jahr bereits einiges getan, zum
Beispiel mit dem Antrag „Gute Arbeit weltweit“, der auf
die Verantwortung deutscher Unternehmen hinweist.
Auch Konfliktrohstoffe müssen weiter Thema für uns
sein. Wir haben die Instrumente, Staaten beim Aufbau
von mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Wir haben
die Erfahrung, beim Aufbau von Zivilgesellschaften in
fragilen Staaten zu helfen. Und wir haben die Mittel,
Versöhnungsprozesse zwischen Konfliktparteien zu be-
gleiten. Wir müssen die finanziellen Mittel dafür bereit-
stellen, wenn wir Fluchtursachen bekämpfen wollen.
Wenn wir humanitäre Hilfe für die Menschen in Syrien,
im Irak und in vielen anderen Ländern bereitstellen,
dann setzen wir uns unmittelbar für das Menschenrecht
auf Leben ein. Wenn wir diese durch Bürgerkriege trau-

7116 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Gabriela Heinrich


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(D)(B)

matisierten Menschen empfangen und Kommunen in die
Lage versetzen, Flüchtlinge aufzunehmen, menschen-
würdig unterzubringen und zu integrieren, dann setzen
wir Menschenrechte durch. Das alles bedeutet: mehr
Verantwortung in der Welt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807411400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Wolfgang

Gehrcke, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807411500

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Wenn ich darüber nachdenke, wie
eine künftige Gesellschaftsordnung aussehen könnte,
welche Elemente sich in einer solchen Gesellschaft wie-
derfinden müssten, dann wäre ein Zusammenführen der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit dem
Grundgesetz unseres Landes für mich der Maßstab, was
man verwirklichen müsste, wenn man über Sozialismus
nachdenkt.

Wenn man sich die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte anschaut, erkennt man: Sie hat einen großar-
tigen Zug, auch dadurch, dass sie soziale und Freiheits-
rechte nicht gegeneinanderstellt, sondern völlig deutlich
macht: Ohne soziale Rechte gibt es keine Freiheits-
rechte, und ohne Freiheit kann man keine sozialen
Rechte erkämpfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Diesen Grundgedanken müssten wir viel stärker an uns
heranlassen.

Ich glaube, das Neue, was man der Allgemeinen Er-
klärung der Menschenrechte hinzufügen müsste, wäre,
dass auch die Wahrung der Natur eine elementare Be-
deutung hat, ein Menschenrecht ist, und es müssten viel
stärker, als das damals in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte möglich war, die Frauenrechte als
Grundrechte betont werden. Ich finde, über eine solche
Gesellschaft nachzudenken, lohnt sich.

Um auf einen Kollegen zurückzukommen, der vor
mir in dieser Debatte gesprochen hat: Wenn man die All-
gemeine Erklärung der Menschenrechte mit der Realität
des Lebens auf diesem Planeten konfrontiert, dann wird
man feststellen, dass die Realität des Lebens eine völlig
andere ist. Da muss man sich doch die Frage stellen, was
wir ändern wollen: Sollen wir die Texte an die Realität
anpassen – auch in unserem Land – oder die Realität an
die Texte, an die entsprechenden Vorgaben, an die gro-
ßen gesellschaftlichen Vorstellungen? – Ich will Zweite-
res, ich will diese Veränderungen. Wenn Sie über Verän-
derungen nachdenken, werden Sie jedoch nicht drum
herumkommen, auch über die Veränderung von Eigen-
tumsfragen, über Verteilungsfragen nachzudenken; sonst
werden Sie das alles nicht erreichen können.

(Beifall bei der LINKEN)


In dieser Hinsicht gefällt mir die Debatte hier. Ich
möchte diesen gesellschaftlichen Impuls.

Vieles, was die Kollegin Heinrich vorgetragen hat,
finde ich, auch unter diesem Gedanken, erschütternd. Ich
möchte das mit nur drei Dingen noch weiter erhärten:

Täglich sterben 57 000 Menschen in der Welt – täg-
lich! – an Unterernährung. Das ist ein Krieg, der gegen
die Menschheit geführt wird, ein Krieg mit ökonomi-
schen Waffen, mit dem Terror der Ökonomie. Ein
Mensch, der hungert oder gar am Verhungern ist, kann
nicht frei sein. Wenn wir über Freiheit in der Welt reden
wollen, dann müssen wir auch darüber reden, wie man
den Kampf gegen Hunger durch eine neue Verteilung in
der Welt gewinnen kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Oder schauen Sie auf die Wasserversorgung. Nach
Berichten der Vereinten Nationen sterben jährlich unge-
fähr 2,4 Millionen Menschen – darunter 4 000 Kinder
am Tag! – daran, dass es kein sauberes Trinkwasser für
sie gibt. Ist es vor diesem Hintergrund nicht ein Verbre-
chen, wenn Wasser privatisiert wird, wenn auf Wasser
zugegriffen wird? Müssten wir nicht alle sagen, dass wir
öffentliche Rechte, öffentliche Güter verteidigen müs-
sen, gerade wenn man Menschenrechte einlösen will?

Mein dritter Gedanke – ich frage mich selber, ich
frage uns, was wir in der Realität tun können; wir kön-
nen uns da schnell auf zwei Punkte einigen – gilt den
Flüchtlingen. Wenn Europa und Deutschland nicht eine
andere Flüchtlingspolitik machen, dann brauchen wir
über Menschenrechte in unserem Land überhaupt nicht
zu reden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt kein Recht, Menschen im Mittelmeer ertrinken
zu lassen.

Wie finden wir es denn, dass im Dezember dieses
Jahres das UNO-Welternährungsprogramm angekündigt
hat, die Lebensmittelhilfe für 1,7 Millionen syrische
Flüchtlinge zu streichen? Begründung hierfür sind die
nicht eingehaltenen Spendenzusagen. Wir haben hier ei-
nen Widerspruch zur reichen Erde und zur reichen Pro-
duktivität. Mit dem, was produziert wird und produziert
werden könnte, könnten, wenn auf eine andere Art und
Weise produziert würde, alle Menschen ernährt und die
Probleme gelöst werden. Müssen wir, auch die christ-
lich-konservativen Kollegen, nicht sagen, dass aus die-
sem Teil der Menschenrechte die Anforderung resultiert,
dass wir anders produzieren, anders konsumieren und
anders verteilen müssen? Dazu gehört auch, uns deutlich
zu machen: Wenn wir Rüstungsexporte nicht überwin-
den, dann werden wir den Flüchtlingen nicht helfen kön-
nen.

Ich bitte Sie sehr, damit wir nicht folgenlos aus der
Debatte gehen, lassen Sie Folgendes an sich heran:
Wenn das Freihandelsabkommen, das jetzt zwischen der
EU und den USA ausgehandelt werden soll, nicht ver-
hindert wird – zumindest in der Form, wie es bisher prä-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7117

Wolfgang Gehrcke


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(D)(B)

sentiert wird –, dann wird unser Kampf für Menschen-
rechte in Europa, in den USA und weltweit sehr viel
schwieriger werden.

Konkrete Schlussfolgerungen sind also: zumindest
eine andere Flüchtlingspolitik und Ablehnung des Frei-
handelsabkommens. Das wären Initiativen an diesem be-
deutsamen Tag. Ich lade Sie ganz herzlich ein: Lassen
Sie uns das gemeinsam machen. Dann bekommen wir
vielleicht auch eine andere Gesellschaftsordnung. Das
ist dann mein Ding. Dann nehme ich gerne Ihre Unter-
stützung entgegen.

Danke sehr.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807411600

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Michael Brand,

CDU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1807411700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist eine gute Tradition, dass der Deutsche Bundestag
am Tag der Menschenrechte eine Debatte zur Lage der
Menschen auf unserem Planeten führt.

Die heutige Debatte will ich dazu nutzen, als Vorsit-
zender des Ausschusses für Menschenrechte und Huma-
nitäre Hilfe auf konkrete Fälle im Bereich Menschen-
rechte und im Bereich humanitäre Hilfe hinzuweisen.
Diese Beispiele werfen auch ein Licht auf die umfang-
reiche Arbeit in unserem Ausschuss, der von dem ge-
meinsamen Bemühen geprägt ist, den Krisen auf dieser
Welt etwas entgegenzusetzen und die Menschenrechte
zu stärken.

Man kann diese Debatte heute nicht führen, ohne auf
die großen humanitären Katastrophen im Irak, in Syrien
und die Folgen für die Gesamtregion hinzuweisen. Aus
Gesprächen mit Jesiden und auch mit Angehörigen der
christlichen Minderheiten in den letzten Wochen möchte
ich ausdrücklich auf die Situation in Syrien und im Irak
hinweisen. Wir alle wissen, dass diese humanitären Ka-
tastrophen durch Krieg, Terror und Menschenrechtsver-
letzungen brutalster Art verursacht wurden. Wir alle spü-
ren auch, dass wir mit den Mitteln Deutschlands und der
EU sowie der internationalen Gemeinschaft an Grenzen
stoßen, weil die Katastrophen erstens lange anhalten und
zweitens dabei Millionen von Menschen betroffen sind.
Zahlreiche Staaten in der Nachbarschaft sind in Mitlei-
denschaft gezogen, und eine rasche Lösung ist nicht in
Sicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was folgt daraus für
uns? Ich möchte zunächst die Frage damit beantworten,
davor zu warnen, was es nicht geben kann: Es kann kei-
nen kalten Zynismus geben, es darf keine Gewöhnung
geben, und es darf auch keine Verzweiflung geben. – Die
Antworten auf diese Krise bleiben schwer, und sie blei-
ben unvollständig. Dazu ist die Krise in ihrer Breite und
ihrer Tiefe zu komplex und zu gefährlich, im Übrigen
nicht nur für die Betroffenen, sondern mittelfristig und
manchmal sogar kurzfristig auch für uns alle.

Wir alle wissen, dass die Terrorgruppe IS nicht für
den Islam steht, sondern dass sie die Welt ins dunkelste
Mittelalter zurückbomben will, manche sagen sogar: in
die Steinzeit. Wir alle wissen, dass der syrische Diktator
Assad, der erheblich zum Erfolg der Terrorgruppe beige-
tragen hat, dieser in ihrer Brutalität kaum nachsteht. Da-
mit stehen diejenigen, die den Opfern helfen wollen,
nicht selten vor der Wahl zwischen Pest und Cholera.
Das kann uns aber nicht davon abhalten, den Blick auf
die Opfer zu richten.

Der bevorstehende und zum Teil schon angebrochene
Winter bringt für Millionen Flüchtlinge eine tödliche
Gefahr. Die Kinder sind dabei neben den Kranken und
den Alten am meisten gefährdet. Ich will Ihnen nicht
vorenthalten, was mich weniger politisch als sehr per-
sönlich mitgenommen hat. Eine Gruppe von Jesiden aus
Köln, darunter übrigens langjährige deutsche Staatsbür-
ger, hat mir vor wenigen Tagen von der Lage berichtet.
Sie berichteten mir, dass der IS nach seinem brutalen
Vorgehen die Jesiden im Sindschar-Gebirge nicht mehr
aktiv bekämpft. Der IS hat sich stattdessen darauf ver-
legt, Tausende Flüchtlinge in das nackte Gebirge zu trei-
ben und sie dort notfalls den Hungertod sterben zu las-
sen. Die Terrorgruppe hat ihren Terror rund um das für
die Jesiden heilige Gebirge verbreitet und setzt darauf,
dass Tausende unschuldiger Menschen dort oben – man
muss es so drastisch sagen, wie es der IS auch meint –
elendig verrecken.

Als mir Jesiden vom Fall eines kleinen Kindes berich-
teten, das dort oben vor den Augen seiner Familie
schmerzvoll und langsam an einem eigentlich behandel-
baren Schlangenbiss sterben musste, weil inmitten des
Terrors keine Hilfe möglich war, da war ich – das be-
kenne ich offen – auch persönlich betroffen. Wenn ein
Vater sagt: „Ich hätte lieber meine Tochter angesteckt,
als sie so elendig leiden und krepieren zu sehen“, dann
ist das kaum zu ertragen.

Ich sage es für mich und für die allermeisten hier im
Haus ganz klar: Es ist nicht hinnehmbar, dass wir ange-
sichts eines solchen mörderischen Treibens nur zu-
schauen. Es ist bei allen Schwierigkeiten im Zusammen-
hang mit dem Haushalt dringend geboten, dass wir noch
vor der harten Winterzeit mehr als bisher mobilisieren,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


um nicht nach dem Winter viele Verstorbene beklagen
zu müssen, deren Tod wir durchaus hätten verhindern
können. Der Ausschuss für Menschenrechte und Huma-
nitäre Hilfe hat sich jüngst darauf verständigt, dass wir
angesichts dieser besonderen Lage einen aktuellen
Schwerpunkt auf die Debatte über die humanitäre Lage
legen werden. Der jüngste Bericht der Bundesregierung
über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland bietet ei-
nen sehr guten Anlass dazu, sich intensiver mit dieser in
qualitativer und quantitativer Hinsicht neuen Herausfor-
derung zu befassen. Die Antworten – das ist klar – wer-
den sicher nicht einfach sein, und nicht jede Frage wer-

7118 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)

den wir zufriedenstellend beantworten können. Aber es
bleibt richtig, die Augen vor der Realität auch oder ge-
rade dann nicht zu verschließen, wenn es besonders
schwierig wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, so ist es gut, dass
Deutschland seinen humanitären Verpflichtungen in die-
sen Tagen vorbildlich nachkommt; auch das will ich in
der Debatte unterstreichen. In einem einzigartigen Kri-
senjahr wie dem Jahr 2014 – man weiß ja gar nicht mehr,
wo man hinschauen soll; es brennt an allen Ecken – be-
laufen sich allein die Mittel für humanitäre Hilfe in die-
sem Jahr auf weit über 400 Millionen Euro; das sind
über 100 Millionen Euro mehr, als zu Beginn des Jahres
im Haushalt standen. Es ist eine besondere Sache, wenn
Bundesregierung und Bundestag in diesen Tagen noch
mal eins draufpacken, um die Versorgung der Flücht-
linge in Syrien und den Nachbarländern vor dem Winter
sicherzustellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ärgerliches
Thema will ich nicht aussparen. Besonders ärgerlich ist
es nämlich – alle Fraktionen waren im Ausschuss in die-
ser Woche völlig zu Recht darüber empört –, dass das
Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen die Hilfe
eingestellt hatte. Es muss auch von diesem Parlament ein
Signal ausgehen: Wenn die UN trotz monatelanger War-
nungen nicht rechtzeitig vor dem Winter die Versorgung
der Opfer von Krieg und Massenmord sicherstellen kön-
nen, dann ist das schlicht ein Armutszeugnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht sein,
dass auf Geberkonferenzen vollmundige Versprechun-
gen im Sinne der Menschlichkeit abgegeben werden und
dann einzelne Regierungen die Menschen in höchster
Not im Stich lassen und ihre Zusagen nicht einhalten.
Wir bitten die Bundesregierung ausdrücklich, den inter-
nationalen Partnern diese Haltung des Deutschen Bun-
destages zu vermitteln. Das geht so nicht, und das wollen
wir im Sinne der Menschen nicht noch einmal erleben.

Ich habe eben meine Anerkennung gegenüber der
Bundesregierung ausgedrückt. Ich will ihr Respekt dafür
zollen, dass sie auf nationaler Ebene, innerhalb der EU
und im Rahmen der Vereinten Nationen bei denjenigen
an vorderster Stelle steht, die versuchen, die Auswirkun-
gen dieser gewaltigen Katastrophe auf die Menschen zu
lindern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte bei die-
ser Gelegenheit einmal auf ein anderes Gebiet unserer
Arbeit zu sprechen kommen, nämlich auf den konkreten
Einsatz für Menschenrechte und politische Gefangene,
den Abgeordnete des Deutschen Bundestages leisten.
Viele von Ihnen kennen aus der eigenen Arbeit unser
Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“.
Dieses Programm haben wir aus guten Gründen auf
Menschenrechtsaktivisten in aller Welt ausgeweitet.

Der Einsatz von Abgeordneten für einzelne Verfolgte
– das wissen wir – ändert nicht die gesamte Lage der
Menschenrechte in einem Land. Aber es bleibt ein wich-
tiges Signal an Tausende und Abertausende unschuldig
Inhaftierte, dass sich das Parlament eines der wichtigsten
Länder in Europa und in der Welt mit darum kümmert,
dass in den Kerkern von Diktaturen die Menschen nicht
einfach vergessen werden. Denn es gilt immer noch der
Satz: Wer dort vergessen ist, der ist auch verloren. – Ich
bin deshalb sehr froh, dass es so viele Kolleginnen und
Kollegen gibt, die mit dabei helfen, dass Menschen-
rechte und die Aktivistinnen und Aktivisten eben nicht
vergessen werden. Dafür allen ein herzliches Danke-
schön.

Lassen Sie mich kurz ein aktuelles Beispiel konkret
schildern. Vor wenigen Monaten hatte ich das Glück und
die Ehre, die Mutter einer vietnamesischen Aktivistin
hier in Berlin zu sprechen, deren Tochter im kommunis-
tischen Vietnam ausgerechnet wegen ihres Einsatzes für
die Rechte der Arbeiterschaft willkürlich inhaftiert wor-
den war. Sie wurde im Gefängnis gefoltert und brutalen
Behandlungen ausgesetzt. Es haben viele dazu beigetra-
gen – die Bundesregierung, Abgeordnete des Deutschen
Bundestags; ich nenne hier ausdrücklich unseren Kolle-
gen Frank Heinrich, der vor Ort war und die Aktivistin
im Gefängnis besucht hat –, diese tapfere Frau aus dem
Gefängnis freizubekommen.

Ich weiß, dass es viele Tausend Fälle gibt, die nicht so
gut ausgegangen sind. Aber ich erwähne das Beispiel
deswegen, weil es uns bei unserer Arbeit motiviert und
zeigt, dass dieser Einsatz für einzelne Schicksale nicht
sinnlos ist, sondern dass er notwendig ist. Inzwischen
konnten wir hier in Berlin in der letzten Sitzungswoche
die Tochter begrüßen. Sie hat mit Tränen in den Augen
berichtet, dass sie nie geglaubt hätte, ihre Mutter wieder-
zusehen. Sie kämpft jetzt für ihre ehemaligen Mitinsas-
sen. Auch dort sind wir weiter mit Unterstützung von
Kollegen aus den Parlamenten und aus der Regierung
dabei, diesen Frauen und Männern zu helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Damit konnten wir gemeinsame und lange Bemühungen
zu einem glücklichen Ende führen. Wir müssen nicht
stolz sein, dass dies gelungen ist. Aber wir dürfen uns
freuen, dass unser Patenschaftsprogramm konkrete Er-
folge für Menschenrechtler erreichen konnte.

So nehme ich abschließend die Gelegenheit wahr,
weitere Kolleginnen und Kollegen dazu einzuladen, sich
an diesem wunderbaren Programm aktiv zu beteiligen.
Melden Sie sich bei uns im Ausschuss für Menschen-
rechte! Wir helfen gern weiter, damit Sie anderen noch
effektiver helfen können.

Der Tag der Menschenrechte ist ein wichtiger Tag. Er
ist nie nur ein Tag der Freude. Das liegt in der Natur der
Sache. Dass wir im Deutschen Bundestag in jedem Jahr
im Umfeld des Tages der Menschenrechte in würdiger
Form eine Debatte um die Würde des Menschen führen,
zeichnet das Thema und ein wenig auch dieses Parla-
ment aus.

Ich danke Ihnen ganz herzlich.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7119

Michael Brand


(A) (C)



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(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es geht doch, Kollege Brand!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807411800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Tom Koenigs,

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807411900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich will nicht der Versuchung anheimfallen,
jetzt urbi et orbi zu reden, obwohl der Tag dazu einlädt.
Ich will ein ganz spezifisches Phänomen aufnehmen, das
auf Englisch „shrinking space“, Verkleinerung des öf-
fentlichen Raumes, heißt. Wir kennen alle das Agenten-
gesetz aus Russland, das NGOs, die sich für Menschen-
rechte einsetzen und Geld aus dem Ausland kriegen,
verpflichtet, sich als feindliche Agenten zu bezeichnen.
Das empört uns. Sie müssen diese Bezeichnung auch an
all ihre öffentlichen Äußerungen anfügen. Das diskredi-
tiert Menschenrechtsverteidiger als Agenten.

Leider ist dieses russische Gesetz nicht das einzige,
das es gibt. Beispiel Äthiopien: Nichtregierungsorgani-
sationen dürfen sich höchstens zu 10 Prozent aus dem
Ausland finanzieren – das in einem Staat, der seinerseits
zu 60 Prozent aus dem Ausland finanziert wird. Das Er-
gebnis eines solchen Gesetzes: Ein Jahr nach Inkrafttre-
ten ist die Zahl der Nichtregierungsorganisationen um
zwei Drittel geschrumpft.

Oder ein Beispiel, das wir auch alle kennen: Ägypten.
Die Arbeit der internationalen Stiftungen wird nicht nur
beschränkt, sondern die Mitarbeiter werden wie im Fall
der Konrad-Adenauer-Stiftung zu hohen Haftstrafen ver-
urteilt. Glücklicherweise sind sie in diesem Fall inzwi-
schen entlassen worden. Wir erinnern uns.

Russland, Äthiopien, Ägypten. Das ist Ausdruck, weil es
auch in vielen anderen Staaten so stattfindet, eines globalen
Trends, nämlich dass der öffentliche Raum schrumpft oder
geschrumpft wird. „Shrinking space“ nennt das der zustän-
dige Rapporteur der Vereinten Nationen. Menschenrechts-
verteidiger, Umweltaktivisten, soziale Akteure, Nichtre-
gierungsorganisationen, Menschenrechtsinstitute – sie
alle brauchen ihre Unabhängigkeit und die Öffentlich-
keit. Das wird explizit oder implizit schleichend durch
die Vorder- oder durch die Hintertür immer weiter ver-
kleinert.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung – das steht in
Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschen-
rechte – und das Recht auf Versammlungs- und Vereini-
gungsfreiheit werden vielerorts durch staatliche Maßnah-
men systematisch beschränkt. Der Sonderberichterstatter
für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der VN,
Maina Kiai aus Kenia, schreibt, dass sich weltweit viele
Staaten auf die Beschränkung und nicht auf die Garantie
der Menschenrechte konzentrieren. Die Beschränkung
kann durch Gesetze, durch finanzielle oder administra-
tive Bestimmungen geschehen.
In Ruanda kann sich ein Unternehmen in sechs Stun-
den registrieren lassen. Will man sich als NGO registrie-
ren lassen, braucht man dafür mindestens sechs Monate.
In Singapur, Malaysia und Myanmar darf man zwar in
gewissen Grenzen friedlich demonstrieren; das gilt aber
nur für die Einheimischen. Die Ausländer dürfen das
nicht, obwohl die Menschenrechte doch für alle gelten.

Ja, Bürgerbewegungen fordern den Staat heraus; das
ist richtig. Ja, sie wollen ihm manchmal auch lästig fal-
len. Wer wüsste das besser als wir, Bündnis 90 und
Grüne, die beide aus solchen Bürgerbewegungen hervor-
gegangen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wohin seid ihr gegangen?)


Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dieser Grup-
pen immer weiter einzuschränken, beseitigt den Protest
nicht, wie die Regierungen hoffen, sondern drängt ihn in
den Untergrund, radikalisiert ihn und macht ihn dann
manchmal zu einem Problem, das völlig ausufert.

Ein typisches Beispiel ist Syrien. Dort hat es mit
friedlichen Protesten im öffentlichen Raum angefangen.
Dann ist, in dem Fall durch Scharfschützen, der öffentli-
che Raum beschränkt worden. Jetzt haben wir die Situa-
tion von Radikalisierungen auf allen Seiten, die völlig
ausweglos ist. Wir wissen, dass das nicht einzelne
– manchmal große, manchmal kleine – Fälle sind, son-
dern dass das ein weltweiter Trend ist.

Menschenrechte zu verteidigen, heißt, Menschen-
rechtsverteidiger zu schützen vor willkürlicher Verhaf-
tung, vor Verschwindenlassen, vor Folter und vor Mord.
Es heißt aber auch, das System dahinter zu verstehen, die
vielen kleinen Fußangeln, Steine und Steinchen zu er-
kennen, über die die Menschenrechtsverteidiger stolpern
sollen.

Dem Verkomplizieren, Diskreditieren, Enervieren,
Aufreiben und schließlich Kriminalisieren zivilgesell-
schaftlichen Engagements und zivilgesellschaftlicher In-
stitutionen im In- und Ausland entgegenzutreten, dem
Trend zum Shrinking Space entgegenzutreten, ihn zu
thematisieren, ihn zu erkennen und ihn zu kritisieren, das
erfordert Durchblick und Mut. Die Menschenrechtsver-
teidiger auf der ganzen Welt haben das. Aber ich
wünschte mir diesen Mut auch bei den Staatsbesuchen,
bei den Regierungsverhandlungen, bei den Äußerungen
auch von der Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807412000

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Dr. Karamba Diaby.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1807412100

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 10. De-
zember 1948 verkündete die Generalversammlung der

7120 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Dr. Karamba Diaby


(A) (C)



(D)(B)

Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte. Sie enthält in 30 Artikeln kulturelle, politi-
sche, aber auch wirtschaftliche Rechte. Hinzu kamen
später der Zivilpakt und der Sozialpakt. Gemeinsam bil-
den sie die Bill of Rights. Ab 1979 kamen die Frauen-
rechts- und 1989 die Kinderrechtskonvention hinzu. Die
heutige Debatte ist Gelegenheit, deutlich zu machen, wo
der Schutz der Menschenrechte im Argen liegt und wie
unsere eigene Rolle dabei aussieht.

Als Bildungs- und Menschenrechtspolitiker richte ich
heute den Fokus auf das eigenständige Menschenrecht
auf Bildung. Als Berichterstatter für westafrikanische
Staaten greife ich beispielhaft die Region Subsahara-
afrika heraus, um die Frage zu beleuchten, wie wir die-
ses Recht auf Bildung tatsächlich verwirklichen können.

Uns alle bewegt die Frage: Wie sieht es mit Deutsch-
lands Rolle und Deutschlands Engagement in der Welt
aus? Diese Diskussion wird vor allem vor dem Hinter-
grund militärischer Einsätze geführt; das haben auch
meine Vorredner deutlich gemacht. Dabei dürfen wir den
präventiven und vorsorgenden Charakter guter Entwick-
lungszusammenarbeit nicht aus den Augen verlieren.

Mit den neuen Afrikapolitischen Leitlinien der Bun-
desregierung beschreitet Deutschland neue Pfade, und
das ist gut so. Der Perspektivwechsel macht es möglich,
unseren politischen Instrumentenkasten der Vielfältig-
keit des afrikanischen Kontinents anzupassen. Damit er-
weitern wir unseren Blick auf Afrika und nehmen uns
gezielt der Frage an, wie wir positive Entwicklungen un-
terstützen können. Die genannten Leitlinien der Bundes-
regierung sind ein klares Bekenntnis zur Verwirklichung
des Menschenrechts auf Bildung.

„Bildung ist die mächtigste Waffe, die Welt zu verän-
dern.“


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Satz stammt von dem Friedensnobelpreisträger,
dem ehemaligen Präsidenten Südafrikas, dem Men-
schenrechtler Nelson Mandela, der genau heute vor ei-
nem Jahr verstarb. Dieser Satz von Nelson Mandela hat
nichts von seiner Aktualität verloren. Ich denke, es ist
richtig, seiner an dieser Stelle zu gedenken.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Annette Groth [DIE LINKE])


Gute Bildung für alle ist der Schlüssel für eine bes-
sere, selbstbestimmte Zukunft. Gute Bildung emanzi-
piert den Einzelnen und die Einzelne, sie fördert die Per-
sönlichkeitsentfaltung und im besten Fall die Talente.
Gute Bildung eröffnet Zukunftsperspektiven. In diesem
Sinne hat gute Bildungspolitik einen demokratiestabili-
sierenden Effekt. Deshalb sollten wir gute Bildung wei-
terhin fördern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Was bedeutet also das Menschenrecht auf Bildung?
Zunächst: Bildung soll jeden Menschen in die Lage ver-
setzen, an der Gesellschaft teilzuhaben. Der Bildungs-
begriff meint den allgemeinen Zugang zu Grundbildung.
Das ist – ich betone das an dieser Stelle – nicht zu ver-
wechseln mit Grundschulbildung. Dieses Recht auf Be-
friedigung der grundlegenden Bildungsbedürfnisse
kennt keine alters- oder geschlechtsbezogenen Ein-
schränkungen. Es umfasst lebenslanges Lernen und die
Erwachsenenbildung ebenso wie den Zugang zu Sekun-
darschulen oder zu Hochschulen, je nach Fähigkeit.

Meine Fraktion und ich unterstützen, dass Deutsch-
land sich in den Afrikapolitischen Leitlinien deutlich
zum universellen Zugang zu hochwertiger und relevan-
ter Bildung bekennt und tatkräftig die bisherige Bil-
dungszusammenarbeit intensivieren wird. Wir wollen
den Schwerpunkt auf die Grundbildung legen. Ein
deutsch-afrikanisches Jugendwerk nach französischem
Vorbild ist ebenso Ziel wie die Einrichtung eines Fonds
für Bildungsprogramme speziell für fragile Staaten.

Auch im Bereich des Auf- und Ausbaus arbeitsmarkt-
orientierter beruflicher Bildung wollen wir enger zu-
sammenarbeiten und neue Ausbildungspartnerschaften
einrichten. Denken Sie alleine an die erfolgreiche Zu-
sammenarbeit mit Äthiopien – das Land wurde in einem
anderen Zusammenhang gerade schon genannt –: Hier
beraten und unterstützen wir beschäftigungsfördernde
Projekte. So waren allein im Jahr 2012 über 350 000
Schülerinnen und Schüler an mehr als 800 äthiopischen
Berufsschulen eingeschrieben.

Auch die Einzelförderungen über Stipendien wollen
wir intensivieren. Ein Beispiel: Im Rahmen der deutsch-
afrikanischen Zusammenarbeit steigt die Zahl der Sti-
pendien kontinuierlich an. Alleine 2012 förderten wir
über den DAAD mehr als 6 000 Stipendiatinnen und Sti-
pendiaten. Hier wollen wir noch mehr Förderungen auf
den Weg bringen. Daneben bestehen insgesamt nahezu
600 Hochschulkooperationen. Aktuell laufen 61 bi- und
multilaterale Forschungspartnerschaften und Studienan-
gebote. Das BMBF ist in allen afrikanischen Ländern
bildungspolitisch engagiert. Mehr als zwei Drittel dieser
Zusammenarbeiten entwickelten sich in den letzten Jah-
ren.

Alleine an diesem beispielhaften Ausschnitt zur Um-
setzung des Menschenrechts auf Bildung auf dem afrika-
nischen Kontinent sehen wir: In vielen Ländern ist
Bildung ein Luxus und weit davon entfernt, als Men-
schenrecht realisiert zu werden. Deshalb meine ich: Der
Mensch braucht nicht nur Nahrung für den Magen, son-
dern auch für den Kopf. Lassen Sie uns gemeinsam da-
ran arbeiten, Bildung zu exportieren.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1807412200

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist

der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7121


(A) (C)



(D)(B)


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1807412300

Als Phirun am Strand erwacht, stehen Männer und
Frauen um ihn herum und reden auf ihn ein. Er hus-
tet, spuckt Wasser, fühlt den Sand im Gesicht. Er
lebt.

Phirun, 26, wohnte in einem Dorf nahe der Stadt
Siem Reap, im Norden von Kambodscha, als ihn
ein Mann aus dem benachbarten Thailand ansprach
und ihm einen gut bezahlten Job in einer Konser-
venfabrik versprach. Bis zu 500 Baht könne er täg-
lich verdienen, wenn er ein paar Überstunden ma-
che, umgerechnet gut zwölf Euro. Für Phirun, der
seit Jahren schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs
machte, war das ein verlockendes Angebot.

Aber Phirun besaß keine Papiere und hatte kein
Geld für die Reise nach Thailand. Der Mann er-
klärte, das sei kein Problem, er würde das alles
schon organisieren. Anstatt misstrauisch zu werden,
willigte Phirun ein. Immerhin musste er kein Geld
an einen Schleuser zahlen. Anfang 2014 ließ er sich
über die Grenze schmuggeln.

Doch anstatt in einer Fabrik Ananas in Dosen zu
füllen, fand er sich auf einem alten Fischkutter wie-
der, auf dem es an allen Ecken rostete. Menschen-
händler hatten ihn an den Schiffsbesitzer und Kapi-
tän verkauft, für umgerechnet 300 Euro. „Man
sagte mir, dass ich dafür zwei Monate ohne Lohn
arbeiten müsse“, erzählt Phirun. Doch auch danach
sah er kein Geld. Stattdessen wurden er und andere
junge Männer an Bord geschlagen und mussten täg-
lich 15 Stunden und mehr arbeiten, sieben Tage die
Woche, ohne Aussicht auf Urlaub. …

Neun Monate lang war Phirun Sklave an Bord eines
thailändischen Fischkutters. „Wir legten nie in ei-
nem Hafen an. Lebensmittel und sonstigen Nach-
schub brachte uns ein anderes Schiff, ebenso neues
Personal.“ Phirun berichtet, dass ein Sklave, der
sich einen Arm gebrochen hatte, über Bord gewor-
fen wurde. „Der Kapitän sagte uns: ‚Wenn ihr euch
weigert zu arbeiten, blüht euch auch dieses Schick-
sal.‘ Dabei hatte der sich gar nicht geweigert zu ar-
beiten, sondern war verletzt.“

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer! Dieses Beispiel – aktualisiert
im Spiegel vor zwei Tagen – zeigt: Es gibt eine Riesen-
spanne zwischen den Erklärungen und Vorsätzen und der
Wirklichkeit in unserer Welt. Es gibt eine ganze Menge
zu tun, um die Menschenrechte global durchzusetzen.

Und doch hat die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte eine große richtungsweisende und rechtliche
Bedeutung. Deshalb lohnt es sich, ganz kurz zurückzu-
schauen, wie sich die Menschenrechte entwickelt haben;
denn wir reden über ein globales Phänomen. Der Weg,
der zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ge-
führt hat und der sehr lang war, der sich aber gelohnt hat,
darf hier nicht zu Ende sein; denn es liegt noch eine
Menge Arbeit vor uns.

Gestatten Sie mir eine kurze Rückschau. Die Ge-
schichte der Menschenrechte begann 2 000 vor Christus
in der Antike, also vor 4 000 Jahren, mit dem Gesetz des
Hammurabi in Babylonien. In der Bibel finden wir nicht
nur die zehn Gebote, sondern auch den prägenden Be-
griff der Ebenbildlichkeit Gottes. Das war 600 vor
Christus. In Athen, im vierten Jahrhundert vor Christus,
gab es die Bürgerrechte, allerdings, wie wir alle wissen,
nur für eine eingeschränkte Personengruppe.

Meilensteine waren die Unabhängigkeitserklärung
der Vereinigten Staaten 1776 und die französische Erklä-
rung der Menschen- und Bürgerrechte im Jahr 1789. Da-
nach gab es verschiedenste Abkommen, zum Beispiel
die Genfer Konventionen. 1948 wurde dann die Allge-
meine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.
Warum 1948? Das war eine Reaktion auf „die Nichtan-
erkennung und Verachtung der Menschenrechte“, die
„zu Akten der Barbarei geführt“ hatten. So steht es in der
Präambel. Wir wissen, dass das sehr nahe bei uns ge-
schah.

Die Botschaft des Artikels 1 der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte lautet: „Alle Menschen sind
frei und an Würde und Rechten gleich geboren.“ Diese
Erklärung wurde am 10. Dezember 1948 in Paris – an-
lässlich dessen führen wir diese Debatte – verabschiedet.
Aus dieser Erklärung erwuchsen verschiedenste Instru-
mente und Konventionen. Zwei davon möchte ich nen-
nen – jeder von uns hat seine Schwerpunkte, und es ist
gut, wenn wir uns fokussieren –:

Erstens: die 1969 – ein Jahr nach dem Tod von Martin
Luther King – verabschiedete Anti-Rassismus-Konven-
tion. Diese Errungenschaft führte unter anderem dazu,
dass die USA inzwischen einen afroamerikanischen Prä-
sidenten haben. Dort – in Klammern gesetzt – ist das
Thema noch lange nicht erledigt, wie wir in den letzten
Tagen und Wochen immer wieder gehört haben.

Zweitens: die Frauenrechtskonvention von 1979.
Gleichberechtigung wurde vorher schon in den Konven-
tionen erwähnt, aber bis heute hat sie sich nicht wirklich
bis zum Ende durchgesetzt. Denken wir hier nur noch
einmal an den Sklavenhandel und an das Schicksal von
Herrn Phirun. Eurostat sagt, dass in unseren 28 EU-Mit-
gliedsländern – also nicht irgendwo, sondern hier, unter
und bei uns – in den Jahren 2010 bis 2012 über 30 000
Opfer von Menschenhandel registriert wurden – 80 Pro-
zent davon weiblich.

Ich komme nun zu Deutschland: Welche Instrumente
zum Messen unserer Leistungen – auch der Deutsche
Bundestag und wir als Politiker müssen Rechenschaft
ablegen – gibt es? Sie kennen vielleicht den bekannten
Spruch von McKinsey – er wurde auch von anderen zi-
tiert –, der in der Wirtschaftswelt eine Selbstverständ-
lichkeit ist: „What you can measure you can manage!“
Übersetzt heißt das: Mit dem, was man messen kann,
kann man auch etwas bewegen.

Wir haben Rechenschaft abzulegen gegenüber den
Vereinten Nationen – dem Menschenrechtsrat, dem
Hochkommissar –, dem Europarat und der Europäischen
Union. Auch das von Ihnen angesprochene DIMR ist un-
ter anderem eine kritische Instanz nach innen. Der vor
zwei Tagen herausgegebene 11. Menschenrechtsbericht

7122 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang eben-
falls zu erwähnen.

Ich habe es eben schon gesagt: Wir alle haben
Schwerpunkte, bei denen wir uns einbringen. Wenn wir
in den Spiegel schauen, dann müssen wir uns fragen: Wo
müssen wir noch besser werden? Ich zitiere von der
Webseite des Auswärtigen Amtes:

Die Bundesregierung betrachtet den Einsatz für
Menschenrechte als eine Querschnittsaufgabe, die
alle Politikfelder durchzieht.

Erstes Beispiel: die Wirtschaftspolitik. Wir brauchen
faire – möglicherweise fairere als bisher – Handelsab-
kommen. Wie weit das gehen muss, werden wir noch
weiter diskutieren. Zweites Beispiel: die Außen- und
Verteidigungspolitik. Wir brauchen Frühwarnsysteme –
nicht nur im humanitären Bereich. Drittes Beispiel: die
EU-Politik. Wir brauchen in kritischen Situationen ein
Eintreten für eine – aktueller kann es nicht sein – ge-
meinsame Flüchtlingspolitik und für gemeinsame Stan-
dards.

Hier tun wir viel; einer meiner Kollegen hat das vor-
hin gesagt. Aber wir tun das manchmal viel zu leise.
Dies zeigt ja auch der Zeitpunkt der Debatte ein wenig.

Wir können uns an Kampagnen beteiligen, wie
Michael Brand vorhin gesagt hat, als er die Patenschaf-
ten erwähnte. Ein Beispiel ist die Kampagne „Human
Rights Challenge“ anlässlich des Internationalen Tags
der Menschenrechte. In der nächsten Woche werden
viele von Ihnen dazu etwas zugesandt bekommen, zum
Beispiel auch ein entsprechendes Logo. Anstatt mit ir-
gendwelcher Werbung herumzurennen, kann man ja
auch dieses Logo zeigen. Beantworten Sie die Frage,
warum Sie dafür sind! Wenn es im Netz ist, dann leiten
Sie es weiter! Unterstützen Sie diese Kampagne!

Was können wir tun? Wir können in unserer Medien-
landschaft besser hinhören und vielleicht auch die Me-
dien auffordern, die unangenehmen Nachrichten noch
mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt inzwischen
vier Krisen der Stufe 3, und über maximal drei Krisen
wissen die meisten Bürger Bescheid.

Wir können zum Beispiel den Organisationen, die im
humanitären Bereich aktiv sind, den NGOs und den vie-
len Ehrenamtlichen, die sich auch um die Flüchtlinge in
unserem Land bemühen – die Bandbreite reicht also vom
globalen bis hin zum persönlichen Bereich –, unsere
Wertschätzung sehr deutlich ausdrücken; denn das Enga-
gement muss am Schluss aus der Mitte unserer Gesell-
schaft kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Schließlich – wir alle sind auch Konsumenten – ist
hier auch an unser Kaufverhalten zu denken. Es geht um
unsere Bemühungen – sowohl im politischen als auch im
privaten Bereich – in Bezug auf die Billig- und Hunger-
löhne in der Textilwirtschaft, aber auch in Bezug auf Fi-
schereiprodukte; hier können wir etwas tun.
In der letzten Woche waren Vertreter der Environ-
mental Justice Foundation bei mir. Sie haben deutlich
gemacht, dass das Schicksal von Herr Phirun kein Ein-
zelfall ist, sondern dass Schiffe vor Thailand teilweise
jahrelang solche Sklaven an Bord haben.

Wenn unser Fisch möglichst exotisch und zugleich
möglichst billig sein soll, werden Menschen wie Phirun
weiterhin als Sklaven arbeiten müssen.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807412400

Kollege Heinrich, achten Sie bitte auf die Zeit und

setzen einen Punkt.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1807412500

Ich komme zum Ende.

Immer wieder höre ich den Satz, dem ich formell und
deutlich widersprechen möchte: Was macht es denn für
einen Unterschied, wenn ich etwas tue?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es macht einen Riesenunterschied. Die geplagten Men-
schen brauchen diese Botschaft. Das ist ein wichtiges Si-
gnal.

Am schlimmsten finde ich es, wenn wir das am
Schluss gar nicht wissen wollen und uns nicht die Zeit
nehmen. Denn es ist unbequem, dies zu hören. Vielleicht
schlafen wir das eine oder andere Mal schlechter, und
wir müssten ja etwas tun.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807412600

Ich schließe die Aussprache.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 31 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Kordula Schulz-Asche, Renate
Künast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Si-
tuation von Opfern von Menschenhandel in
Deutschland

Drucksache 18/3256
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7123


(A) (C)



(D)(B)


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807412700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Men-

schenhandel ist eines der schlimmsten Menschenrechts-
verbrechen, das in unserem Lande stattfindet. 500 bis
1 000 Verdachtsfälle zählt das Bundeskriminalamt jedes
Jahr. Das betrifft den Handel mit Menschen, deren Ar-
beitskraft ausgebeutet wird oder die sexuell ausgebeutet
werden.

Wenn wir Menschenhandel bekämpfen wollen, dann
müssen wir von den Opfern des Menschenhandels her
denken, ihre Rechtsposition schützen und sie stärken.
Dem dient der Gesetzentwurf, den wir heute vorgelegt
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wir fordern, dass Men-
schenhandelsopfern unabhängig von ihrer Aussagebereit-
schaft und unabhängig davon, ob sie eine Strafanzeige ge-
stellt haben, ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik
Deutschland zugesprochen wird. Denn für viele Men-
schenhandelsopfer ist es aufgrund der Situation ihrer Fa-
milie, ihrer Kinder, ihrer Eltern oder ihrer Geschwister
im Heimatland nicht möglich, einfach zur Polizei zu ge-
hen und die Täter anzuzeigen. Wenn wir das nicht durch-
brechen und nicht dem Opferschutz Vorrang vor dem In-
teresse an der Strafverfolgung der Täter einräumen,
werden wir die überwiegende Anzahl der Täter auch
nicht fassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das gegenwärtige Recht bindet den Aufenthaltstitel
allein an die Aussage- und Zeugenbereitschaft der Men-
schenhandelsopfer. Wenn das Verfahren vorbei ist, dann
ist der Aufenthaltstitel nicht mehr verlängerbar. Diesen
Zustand müssen wir dringend ändern. Ich bin sehr ent-
täuscht, dass die Bundesregierung, Herr Schröder, in ih-
rem Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsrechts,
den sie in dieser Woche beschlossen hat, zwar vorsieht,
dass nach einem Prozess unter Umständen aus humanitä-
ren Gründen oder aus Gründen des öffentlichen Interes-
ses der Aufenthaltstitel verlängert werden kann. Men-
schenhandelsopfer, die nicht aussagen können, genießen
danach aber überhaupt keinen Schutz. Damit werden
viele Strafverfahren gegen die Täter vereitelt. Zudem
schützen wir nicht wirksam und mit Rechtssicherheit die
Rechtsposition der Opfer des Menschenhandels.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will Ihnen einmal zwei Lebensschicksale schil-
dern, die zeigen, wie sich diese Rechtslage negativ aus-
wirkt für die Opfer, aber auch für das Strafverfolgungs-
interesse. Der Katholische Verband für Mädchen- und
Frauensozialarbeit hat mir von einer jungen Frau erzählt,
die mit 14 Jahren nach Deutschland gebracht und zur
Prostitution gezwungen wurde. Als sie 17 Jahre alt war,
wurde ein Ermittlungsverfahren gegen die Täter durch-
geführt. Diese Frau bekam aber nur einen Aufenthaltsti-
tel für sechs Monate.
Zu der Angst um sich selbst, der Angst vor den Tä-
tern, kam die Angst um ihren unsicheren Status. Das hat
dieses Mädchen psychisch stark destabilisiert und hat
dazu geführt, dass auch ihre Aussagen unzuverlässig wa-
ren, sodass die Staatsanwaltschaft gesagt hat: Diese Aus-
sagen sind nicht verwertbar, wir müssen das strafrechtli-
che Ermittlungsverfahren einstellen.

Ein zweiter Fall. Eine junge Frau namens Grace aus
Nigeria, 19 Jahre alt, berichtete darüber, dass sie mit
dem Versprechen, sie könne in Deutschland eine Ausbil-
dung machen, etwas lernen und dann hier eine gute Ar-
beit finden, von einem Nigerianer nach Deutschland ge-
lockt wurde. Als sie hier ankam, wurde ihr der Pass
abgenommen und ihr eröffnet, sie schulde diesem Herrn
nun 50 000 Euro. Sie wurde zur Prostitution gezwungen
und arbeitete bei einer Bordellbetreiberin, über die sie
selber sagte: Ich arbeitete für diese Madame bis zu mei-
ner Festnahme. – Danach war sie in Abschiebehaft.

Sie wurde 2009 nach Nigeria abgeschoben. Dort
wurde sie von dem Umfeld des Täters bedroht und er-
neut bedrängt. Ihr wurde mitgeteilt, sie schulde ihm im-
mer noch 20 000 Euro. Sie konnte nicht bezahlen. Da-
raufhin wurde ihre Familie unter Druck gesetzt, und sie
wurde erneut nach Europa gebracht. Dort wurde sie wie-
der aufgegriffen und erneut abgeschoben. Vor der Ab-
schiebung hatte sie fürchterliche Angst davor, was mit
ihr passieren würde, wenn sie ohne die 20 000 Euro nach
Nigeria zurückkommen würde.

Solchen Menschen ist es nicht zuzumuten, bei uns
auszusagen. Sie riskieren Leib, Leben und Freiheit, aber
nicht nur von sich selbst, sondern auch von ihren Famili-
enangehörigen. Wenn wir hier als Gesetzgeber nicht
endlich ein Einsehen haben und diesen Menschen, weil
sie Opfer eines Menschenrechtsverbrechens geworden
sind, bedingungslos einen aufenthaltsrechtlichen Schutz
geben, dann brauchen wir hier im Plenum auch nicht den
Tag der Menschenrechte zu begehen. Vielmehr gehen
wir dann in unserem Land sehenden Auges an den Op-
fern von Menschenrechtsverletzungen und ihren Nöten
vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Wir wollen, dass ein Aufenthaltsrecht gewährt wird.
Wir wollen auch – das betrifft vor allen Dingen die Aus-
beutung als Arbeitskraft –, dass es endlich einen Opfer-
fonds gibt, aus dem die Menschen den ihnen vorenthal-
tenen Lohn bekommen können, unabhängig von der
Frage, ob die Menschen oder die Unternehmen, die sie
ausgebeutet haben, rechtlich belangbar sind. Dieser soll
sich auch darum kümmern, dass dieses Geld eingetrie-
ben wird.

Wir wollen die Opfer besserstellen. Das verlangt von
uns, die Menschenhandelsrichtlinie umzusetzen, was
Deutschland skandalöserweise immer noch nicht getan
hat. Wir müssen in diesem Zusammenhang schauen, wo
es im Strafrecht Lücken gibt. Aber wir sollten nicht
glauben, dass dieses Problem durch mehr Strafrecht zu
lösen ist. Es ist nur zu lösen, wenn wir uns mit Empathie

7124 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

um die Opfer dieser Menschenrechtsverbrechen küm-
mern und ihren Status verbessern.

Ich hoffe, dass wir anhand Ihres und unseres Gesetz-
entwurfes zu einer Lösung für die Opfer kommen. Wenn
wir eine gute Lösung finden – das garantiere ich Ihnen –,
werden wir das Dunkelfeld aufhellen und viele straf-
rechtliche Verfahren gegen die Täter mit Erfolg führen
können. So werden wir in jeder Hinsicht eine Verbesse-
rung der Menschenrechtslage für die vielen Frauen und
auch Männer, die Opfer dieser Verbrechen werden, errei-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807412800

Das Wort hat die Kollegin Nina Warken für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1807412900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist eine traurige
Realität: Menschenhandel und die systematische Aus-
beutung der Opfer sind immer noch ein erhebliches Pro-
blem, auch bei uns in Deutschland. Skrupellose Täter,
die in kriminellen Netzwerken weltweit agieren, machen
sich die Not vieler Menschen aus ärmeren Ländern zu-
nutze und locken sie mit falschen Versprechungen auf il-
legalen Wegen nach Europa. Was folgt, ist ein Leben
voller Abhängigkeit, Erniedrigung und Armut. Damit ist
Menschenhandel in der Tat ein komplexes Problem. In
diesem Punkt gebe ich dem Gesetzentwurf der Grünen
recht.

Statt sich aber nur mit den Folgen zu beschäftigen,
wollen wir als Union mit einem ganzheitlichen Ansatz
die Ursachen des Menschenhandels bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Den Betroffenen hilft man doch damit am meisten, in-
dem man dafür Sorge trägt, dass sie erst gar nicht Opfer
werden. Als Union setzen wir uns deshalb für eine ver-
stärkte Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transit-
ländern ein, um dort die Lebensbedingungen zu verbes-
sern. Dadurch verlieren die falschen Versprechungen der
Menschenhändler bereits viel von ihrem Reiz. Gleich-
zeitig geht es in der Zusammenarbeit mit den Herkunfts-
und Transitländern darum, dass kriminelle Schleuser und
Menschenhändler schon dort strafrechtlich stärker ver-
folgt und bestraft werden. Auf diese Weise wollen wir
dem Menschenhandel bereits in seinem Ursprung die
Grundlage entziehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei ignorieren Sie aber, dass bei der Polizei in diesen Ländern zum Teil Komplizen sind!)


Ein nächster Schritt muss die konsequente Strafver-
folgung in Deutschland sein. Nur wenn auch die Täter
mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats hart
bestraft werden, wird es am Ende weniger Kriminalität
und weniger Opfer geben. Das Bundesinnenministerium
und unsere Strafverfolgungsbehörden haben deshalb
zahlreiche Initiativen wie gezielte Sonderermittlungen
und grenzüberschreitende Kooperationen mit anderen
EU-Ländern ins Leben gerufen.

Trotzdem gab es 2013 im Bereich Menschenhandel
zum Zweck der sexuellen Ausbeutung rund 13 Prozent
weniger Ermittlungsverfahren in Deutschland als im
Vorjahr. Was im ersten Moment wie eine positive Ent-
wicklung wirkt, geht leider nicht darauf zurück, dass
etwa weniger Opfer oder Täter vorhanden wären. Nein,
vielmehr fehlen viel zu oft ausreichende Anhaltspunkte,
um ein Ermittlungsverfahren einleiten zu können. Häu-
fig sind es die Opfer, die als einzige Zeugen sachdienli-
che Hinweise zu den Tätern liefern können. Ein effekti-
ves Strafverfahren durch unsere Gerichte ist mangels
anderer Beweise oft gar nicht möglich. Deshalb ist die
Mitwirkung der Opfer der Verbrechen, die zweifelsohne
in vielen Fällen viel Leid und Gewalt erfahren haben, bei
der Strafverfolgung von so entscheidender Bedeutung.
Genau deshalb muss das weiterhin gesetzlich verankert
bleiben.

Wenn man wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf sagt, dass
die Opfer von Menschenhandel aus Angst vor Repressa-
lien besser nicht am Strafverfahren mitwirken sollen,
hilft das nicht den Opfern, sondern nur den Tätern, die
dann weiter ihre menschenverachtenden Geschäfte ma-
chen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Genau das gilt es doch mit allen Mitteln zu verhindern.
Stattdessen müssen wir meiner festen Überzeugung nach
mit allem, was wir hier beschließen, dazu beitragen, dass
die Opfer ermutigt werden, gegen diejenigen auszusa-
gen, die sie gequält und ausgebeutet haben, damit nicht
andere dasselbe Schicksal erleiden müssen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie sie aber auch schützen!)


In einem sind wir uns einig: Wir wollen und wir müs-
sen mehr für die Opfer tun. In unserem Entwurf eines
Gesetzes zur Neuordnung des Bleiberechts und der Auf-
enthaltsbeendigung werden wir deshalb veranlassen,
dass Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung nach
der Mitwirkung im Strafverfahren ein Bleiberecht be-
kommen sollen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bekommen können! Das steht nicht im Gesetzentwurf!)


Bisher hatten die Betroffenen nur ein vorübergehendes
Aufenthaltsrecht für den Zeitraum des Strafverfahrens.
Mit der neuen Regelung soll die Geltungsdauer der Auf-
enthaltserlaubnis über die Beendigung des Strafverfah-
rens hinaus verlängert werden können.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können!)


Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7125

Nina Warken


(A) (C)



(D)(B)

Eine Verlängerung kann es auch geben, wenn es zu kei-
nem Strafverfahren kommt, weil etwa der Täter trotz der
Mithilfe des Opfers nicht ermittelt werden kann.

Ein weiterer Ansatz ist, dass im Rahmen eines Projekts
des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zusammen
mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen die zu-
ständigen Mitarbeiter speziell geschult wurden, um Op-
fer von Menschenhandel früh zu erkennen. Damit soll
erreicht werden, dass sie schnellstmöglich die notwen-
dige Versorgung und einen besonderen Schutz erhalten.

Für die Opfer bringen diese Neuregelungen und Maß-
nahmen erhebliche Verbesserungen. Mit ihnen bekom-
men sie eine Zukunftsperspektive in Deutschland aufge-
zeigt, frei von Zwang, Erniedrigung und Ausbeutung.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich aber auch klarstel-
len, dass Opfer von Menschenhandel schon heute ohne
Mitwirkung am Strafverfahren ein Aufenthaltsrecht be-
kommen können, wenn dies aus persönlichen oder hu-
manitären Gründen erforderlich ist. So und nicht anders
fordert es übrigens auch die Europaratskonvention gegen
Menschenhandel, die Sie, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen, in Ihrem Gesetzentwurf ansprechen. In der
Konvention wird die Erteilung des Aufenthaltstitels aus-
drücklich von der persönlichen Situation des Opfers
abhängig gemacht. Ob diese einen Aufenthaltstitel er-
forderlich macht, muss die zuständige Behörde entschei-
den. Das hat einen guten Grund; denn bei einem gesetz-
lichen Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht, unabhängig
von der Situation des Opfers, besteht die Gefahr, dass
dies gezielt von Schleusern und Menschenhändlern aus-
genutzt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Scheinmenschenhandel, oder wie?)


Ein solcher Anspruch könnte sie ermutigen, noch mehr
Menschen mit der Aussicht auf ein Aufenthaltsrecht in
Deutschland illegal ins Land zu bringen und auszubeu-
ten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist perfide!)


Das wäre nicht im Interesse der Opfer, und es kann da-
mit auch nicht in unserem Interesse sein.

Meine Damen und Herren, wir sind der Überzeugung,
dass der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen sich kei-
neswegs dazu eignet, wirksam etwas gegen Menschen-
handel zu tun. Wir als Koalition haben dagegen mit der
Neuregelung des Bleiberechts, mit der verstärkten Zu-
sammenarbeit mit den Herkunftsländern und mit der
frühzeitigen Erkennung der Opfer Gesetzesinitiativen
und Maßnahmen auf den Weg gebracht, die einen ganz-
heitlichen Ansatz verfolgen, die den Opfern wirklich
helfen und die gleichzeitig die Ursachen von Menschen-
handel konsequent bekämpfen. Lassen Sie uns gemein-
sam dafür sorgen, dass dieser Ansatz weiterverfolgt
wird, indem wir nach dem Jahreswechsel den Gesetzent-
wurf zur Neuregelung der Aufenthaltsbeendigung und
des Bleiberechts beschließen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Zu den Ursachen haben Sie nichts gesagt!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807413000

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807413100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Linke begrüßt ausdrücklich die Initiative der Grünen,
Opfer von Menschenhandel besser zu schützen. Sie sol-
len ohne weitere Bedingungen ein Bleiberecht erhalten.
Bislang bekommen Menschenhandelsopfer nur dann
eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis, wenn ihre
Aussage im strafrechtlichen Verfahren benötigt wird.
Dabei sieht eine Konvention des Europarates von 2008
ausdrücklich vor, ein Aufenthaltsrecht auch unabhängig
von der Aussagebereitschaft der Opfer zu gewähren. Die
Linke fordert hier, diese Konvention endlich vollständig
umzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, auch die Grünen haben in
der vergangenen Wahlperiode noch gefordert, das Auf-
enthaltsrecht von der Aussagebereitschaft abhängig zu
machen. Das ändert aber nichts daran, dass wir uns ganz
besonders freuen, dass sie jetzt eine ganz andere Position
vertreten und dass im vorliegenden Gesetzentwurf wei-
tere Verbesserungen enthalten sind, etwa bei der Opfer-
entschädigung oder die Möglichkeiten, vorenthaltenen
Lohn einzuklagen.

Man muss hier ganz deutlich sagen: Die betroffenen
Menschen sind in der Bundesrepublik Deutschland Op-
fer von schwersten Menschenrechtsverletzungen gewor-
den. Viele wurden sexuell ausgebeutet oder regelrecht
als Sklaven in der Gastronomie oder zum Teil auch auf
Baustellen gehalten. Insofern haben wir hier eine beson-
dere Verantwortung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im vergangenen Jahr hat die Polizei in Deutschland
542 Opfer von Menschenhandel ermittelt, davon 70 Kin-
der. Uns allen ist klar, dass die Dunkelziffer weitaus hö-
her liegt. Aber nur 87 Menschen hatten Ende 2013 eine
Aufenthaltserlaubnis, weil sie als Opfer von Menschen-
handel vor Gericht ausgesagt haben. Es gibt viele
Gründe, warum diese Zahl so niedrig ist:

Erstens endet die Aufenthaltserlaubnis, wenn das
Strafverfahren beendet ist. Wenn dann die Abschiebung
droht, besteht kein Anreiz, in einem Prozess auszusagen.

Zweitens müssen die Opfer mit Racheakten gegen
ihre Verwandten im Herkunftsland rechnen, wenn sie ge-
gen die Täter aussagen.

Drittens sind vor allem die Opfer von Zwangsprosti-
tution häufig zutiefst traumatisiert. Sie sind nicht in der

7126 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Lage, in einem Strafprozess ihren Peinigern gegenüber-
zutreten.

All das spricht aus unserer Sicht für ein bedingungs-
loses Bleiberecht aus humanitären Gründen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Doch davon, meine Damen und Herren, liebe Kolle-
gin Warken, ist die Regierungskoalition allerdings weit
entfernt. Sie haben zwar, wie eben berichtet, am Mitt-
woch im Kabinett einen Gesetzentwurf beschlossen, der
in der Tat kleinere Verbesserungen vorsieht. Nach die-
sem Entwurf sollen die Ausländerbehörden stärker in die
Pflicht genommen werden, solche Aufenthaltstitel zu er-
teilen. Außerdem wird die Möglichkeit geschaffen, auch
nach einem Prozess ein Bleiberecht zu erhalten. Doch
daran, die Aussagebereitschaft zur Bedingung für ein
Aufenthaltsrecht zu machen, hält die Regierung leider
fest. Der besondere Schutzbedarf von Kindern ist in Ih-
rem Gesetzentwurf überhaupt nicht berücksichtigt. Da-
bei sind Kinder die Opfergruppe – wir haben es vorhin in
der Debatte gehört –, die am stärksten traumatisiert ist.
Das Aufenthaltsrecht muss endlich der besonderen Ver-
antwortung diesen Kindern gegenüber gerecht werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein Ausblick. Ich finde es schon interessant, dass in
sechs EU-Staaten die EU-Richtlinie, in der die Erteilung
eines Aufenthaltstitels vorgesehen ist, bereits umgesetzt
wurde. In sieben weiteren EU-Staaten können die Be-
hörden von der Anforderung, dass eine Aussage ge-
macht wird, absehen, wenn es die persönliche Situation
der Betroffenen erfordert, beispielsweise infolge einer
Traumatisierung.

Ich meine, auch in Deutschland darf man die Opfer
von Menschenhandel nicht länger im Regen stehen las-
sen. Es ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein hu-
manitäres Gebot, diesen Menschen, denen hier größtes
Unrecht geschehen ist, tatkräftig unter die Arme zu grei-
fen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807413200

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Eva Högl

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1807413300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Menschenhandel ist ein abscheuliches Verbrechen
und ein klarer Verstoß gegen Menschenrechte. Men-
schenhandel, das ist sexuelle Ausbeutung. Menschen-
handel, das ist auch Ausbeutung der Arbeitskraft. Im Be-
reich Menschenhandel, mit und durch Menschenhandel,
wird viel Geld verdient – das wissen wir –, und Men-
schenhandel hat ein jahrelanges Leid der Opfer zur
Folge. Deswegen sind wir uns hier im Hause, denke ich,
einig, dass wir für die Opfer von Menschenhandel etwas
tun müssen, und das nehmen wir uns hier gemeinsam
auch fest vor.

Wir müssen Menschenhandel, liebe Kolleginnen und
Kollegen, nicht nur national, sondern auch international
wirksam und engagiert bekämpfen. Deswegen ist es gut,
dass wir internationale Verpflichtungen haben: das UN-
Zusatzprotokoll, die Europaratskonvention und seit 2011
auch die EU-Richtlinie. Ich will das auch hier ganz deut-
lich sagen: Natürlich ist es peinlich – wir, die wir hier
heute Nachmittag zusammensitzen, wissen das auch –,
dass Deutschland die Europaratskonvention bisher noch
nicht ordentlich umgesetzt hat und auch die Richtlinie
noch nicht umgesetzt hat. Genau daran arbeitet diese Re-
gierungskoalition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben in Deutschland schlimme Fälle von Men-
schenhandel; wir wissen das. Wir wissen auch, dass wir
die Opfer bisher nicht ausreichend schützen und dass wir
die Täter in viel zu geringem Maß und nicht wirksam
verurteilen. Deswegen haben wir uns im Koalitionsver-
trag für diese Legislaturperiode vier Punkte vorgenom-
men: Wir wollen die Opfer besser schützen, und das
werden wir auch tun. Wir wollen das Strafrecht überar-
beiten, um Täter wirksam bestrafen zu können. Wir wol-
len vor allen Dingen die Arbeitsausbeutung stärker in
den Fokus nehmen; denn die ist viel zu wenig in der Dis-
kussion. Wir wollen, damit wir legale Prostitution von
Zwangsprostitution besser unterscheiden und Zwangs-
prostitution besser bekämpfen können, eine strikte Tren-
nung vornehmen und auch dort Verbesserungen errei-
chen.

Ausgangspunkt – das haben Sie gesagt, Herr Beck –
ist der Schutz der Opfer von Menschenhandel. Das ist
der Ausgangspunkt all unserer Bemühungen. Deshalb ist
es natürlich richtig und wichtig, das Aufenthaltsrecht zu
verbessern. Wir waren zu Anfang der 17. Legislaturpe-
riode mit dem Rechtsausschuss in den USA – Sie waren
dabei, Frau Jelpke; Jerzy Montag, unser früherer Kol-
lege, war dabei – und haben uns gemeinsam vorgenom-
men, wie die USA – das ist nämlich ein gutes Beispiel –
ein umfassendes Aufenthaltsrecht für Opfer von Men-
schenhandel zu schaffen.

Wir haben in den USA ganz kritisch nachgefragt:
Kommen mehr Menschen dadurch in die USA, dass sie
vorgeben, Opfer von Menschenhandel zu sein? Die Ant-
wort war ganz klar und deutlich: Nein, das schafft keine
Sogwirkung. Niemand erklärt sich zum Opfer von Men-
schenhandel und nutzt ein Aufenthaltsrecht dadurch aus.

Das war für uns ein gutes Beispiel. Deswegen haben
wir gemeinsam vereinbart, dass wir das Aufenthaltsrecht
überarbeiten und dass wir für Opfer von Menschenhan-
del ein besseres, ein wirksames Bleiberecht in Deutsch-
land schaffen.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7127

Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Genau das steht in dem Gesetzentwurf aus dem Bun-
desministerium des Innern, der am Mittwoch im Kabi-
nett verabschiedet wurde. Dieser Entwurf enthält keine
kleinen Verbesserungen, sondern ganz viele wichtige
und ganz erhebliche Verbesserungen für die Opfer von
Menschenhandel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das sind genau die Verbesserungen, die auch in dem Ge-
setzentwurf der Grünen und in dem Europaratsüberein-
kommen angesprochen werden. Ich will die fünf Punkte
noch einmal hervorheben – sie sind alles andere als un-
wesentlich –:

Wir gestalten das Bleiberecht in eine Sollvorschrift
um. Außerdem gestalten wir das Bleiberecht so um, dass
den Opfern von Menschenhandel der Aufenthalt nicht
mehr nur für sechs Monate, sondern für ein Jahr gewährt
werden soll. Es gibt außerdem eine Sollverlängerung des
Bleiberechts nach dem Strafverfahren. Auch das ist eine
deutliche Verbesserung. Wir haben zudem die Möglich-
keit eines Familiennachzugs geschaffen. Ihn gab es bis-
her überhaupt nicht. Er war für Opfer von Menschenhan-
del ausgeschlossen. Der Familiennachzug ist für die
Opfer jedoch sehr wichtig.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Nina Warken [CDU/CSU])


Und: Wir schaffen einen Zugang zu Integrationskursen.
Auch das ist wichtig, weil wir die Opfer nicht nur wirk-
sam schützen, sondern ihnen auch die Möglichkeit ge-
ben wollen, sich hier zu integrieren und länger hier zu
bleiben.

Ich freue mich auf die Beratungen dieses Gesetzent-
wurfes hier im Deutschen Bundestag, weil darin die
wichtige Vereinbarung enthalten ist, die Opfer von Men-
schenhandel wirksam zu schützen.

Am 28. November dieses Jahres haben wir im Bun-
desrat und vorher auch in diesem Hause eine weitere
Verbesserung für Opfer von Menschenhandel erreicht.
Wir haben sie nämlich komplett aus dem Geltungsbe-
reich des Asylbewerberleistungsgesetzes herausgenom-
men. Dafür hat sich die SPD-Fraktion sehr engagiert,
und wir haben das gemeinsam vereinbart; auch der Bun-
desrat fand das richtig. Denn Opfer von Menschenhan-
del gehören nicht in den Geltungsbereich des Asylbe-
werberleistungsgesetzes. Vielmehr sollen sie dann, wenn
sie Sozialleistungen beziehen, diese auf Grundlage der
normalen Sozialregelungen beziehen.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben uns außerdem etwas vorgenommen, was
ich schon angesprochen habe – Stichwort: wirksame Be-
strafung der Täter –: Wir wollen die entsprechenden Re-
gelungen im Strafrecht, insbesondere die §§ 232 und 233
Strafgesetzbuch, so überarbeiten, dass nicht mehr allein
die Aussage der Opfer entscheidend ist für die Auf-
nahme eines Ermittlungsverfahrens, eines Strafverfah-
rens und für eine mögliche Verurteilung der Täter,
sondern die Gesamtumstände der Ausbeutung berück-
sichtigt werden. Damit werden die objektiven Tatum-
stände stärker herangezogen. Dadurch machen wir die
Bestrafung der Täter etwas unabhängiger von der Aus-
sage der Opfer, als es gegenwärtig der Fall ist.


(Beifall bei der SPD)


Eine letzte Bemerkung. Wenn wir Opfer besser schüt-
zen und Täter wirksamer bestrafen wollen, dann muss
man sich hier im Haus, also im Bund, aber auch in den
Ländern darüber im Klaren sein, dass wir dafür Geld in
die Hand nehmen müssen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen. Wir brauchen bessere Schulungen, beispielsweise
der Grenzbeamten und der Behördenmitarbeiter. Wir
brauchen Beratungsstellen. Wir brauchen Sensibilisie-
rungskampagnen. Wir brauchen einen Zugang zu Bil-
dung. Über die rechtlichen Regelungen hinaus, über die
wir hier miteinander diskutieren, wird es erforderlich
sein, die geplanten Schritte durch solche Maßnahmen zu
ergänzen.

Ich denke, das ist ein gutes Maßnahmenpaket für die
Opfer von Menschenhandel bzw. zur Bekämpfung von
Menschenhandel insgesamt. Wir schützen damit die Op-
fer besser, und wir bestrafen die Täter wirksamer. Ich
würde mich freuen, wenn wir darüber diskutieren und es
gemeinsam auf den Weg bringen würden. Denn in dem
Paket der Koalition sind viele Punkte, die Sie in Ihrem
Gesetzentwurf aufführen, bereits enthalten oder sogar
schon erledigt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die erledigten Punkte müssen Sie mir noch einmal erklären!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807413400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege

Dr. Volker Ullrich das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1807413500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist im Grunde schon eine beschämende Situa-
tion: In den Minuten, in denen wir hier über Opfer von
Menschenhandel diskutieren, werden in diesem Land
Tausende von Menschen ausgebeutet. Sie müssen zum
Zwecke eines unnatürlichen Gewinnstrebens dienen,
und sie werden an Körper und Seele ausgebeutet. Wir in
Deutschland sind stolz auf unseren Rechtsstaat, auf un-
sere Werte und Traditionen. Aber wir müssen selbstkri-
tisch sagen: Wir haben es nicht geschafft – bislang nicht
geschafft –, die Strukturen und Umstände von Men-
schenhandel in Deutschland wirksam zu bekämpfen.
Das bleibt unsere Pflicht.

Das Wort einer jungen Frau, die selbst Opfer von
Menschenhandel war und ein Buch darüber geschrieben
hat, soll uns zur Mahnung gereichen. Sie schreibt:

Kein junger Mensch … verkauft gern seinen
Körper. Doch wenn man diesen Weg erst einmal be-
schritten hat, führt er unaufhaltsam nach unten. Es

7128 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Dr. Volker Ullrich


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wird dunkler, … und man sieht nirgendwo einen
Ausweg.

Es ist unsere Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die
Menschen, die Opfer von Menschenhandel sind, einen
Ausweg sehen. Durch gesetzgeberische Maßnahmen
müssen wir diesem Leid ein Ende bereiten und sicher-
stellen, dass der wehrhafte Rechtsstaat diesen Menschen
zur Seite steht. Dafür stehen wir.

Es ist richtig, dass der Gesetzentwurf der Grünen in
vielen Punkten wahre Dinge anspricht,


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Dinge, die der Gesetzentwurf der Regierung in den
nächsten Monaten anpacken und umsetzen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


Interessant ist aber auch, das anzusprechen, was die Grü-
nen nicht in ihren Gesetzentwurf geschrieben haben.

Es gibt nämlich gerade auch im Bereich der sexuellen
Ausbeutung Umstände, die ein Handeln von uns allen
erfordern, und dieses Handeln fordern die Grünen ge-
rade nicht ein. Es geht um das Handeln im Bereich der
Prostitution, um eine Reform des Prostitutionsgesetzes
aus dem Jahr 2002.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist denn das in Ihrem Gesetzentwurf zum Bleiberecht geregelt? Dazu haben wir doch andere Gesetze!)


Ich mache Ihnen überhaupt keinen Vorwurf, dass im
Jahr 2002 dieses Gesetzgebungsverfahren so über die
Bühne ging. Es war sicherlich aus manchen Gründen gut
gemeint. Aber es hat sich in der Realität als nicht gut er-
wiesen, deshalb muss der Gesetzgeber den Mut haben,
dies anzusprechen und zu ändern. Wir wollen es ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Genau! – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach neun Jahren!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807413600

Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Bemerkung oder

Frage? – Bitte, Herr Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1807413700

Nur damit das Hohe Haus bei der Chronologie durch

Ihren Sachvortrag nicht durcheinanderkommt: Würden
Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir als Grüne schon 2002
eine Ausgestaltung des Berufs- und Gewerberechts der
Prostitution für erforderlich gehalten haben und im Jahr
2013, als die schwarz-gelbe Koalition einen später im
Bundesrat gescheiterten Versuch unternommen hat, die
Menschenhandelsopferfrage zu regeln – wobei übrigens
auf das Aufenthaltsrecht gar nicht eingegangen wurde,
sondern nur auf das Strafrecht –, Änderungsanträge ge-
stellt haben, um die gewerberechtliche Reglung der Pro-
stitution vorzunehmen, die die Koalition jetzt auch im
Grundsatz aufgegriffen hat?

In vielen Details werden wir uns wahrscheinlich noch
auseinandersetzen müssen, aber wir sind uns einig, dass
wir Prostitutionsstätten gewerberechtlich durchregeln
müssen. Der Kollege Uhl war damals bass erstaunt, dass
von uns Anträge kamen, die offensichtlich in der damali-
gen Koalition nicht mehrheitsfähig gewesen sind. Wir
sind sogar so weit gegangen – was in Ihren Reihen,
glaube ich, jetzt auch diskutiert wird –, zu sagen: Wer als
Freier vorsätzlich die Dienstleistung eines Menschen-
handelsopfers ausnutzt, der muss dafür natürlich bestraft
werden, weil er sich zum Täter macht und sich nicht da-
rauf berufen kann, dass ihm jemand anderes das Men-
schenhandelsopfer zugeführt hat.

Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
vielleicht schon etwas weiter waren als Sie, gezwungen
durch Ihren Koalitionspartner in der letzten Legislatur-
periode? – Sie müssen nur Ja sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1807413800

Herr Kollege Beck, Ihre Rhetorik kann nicht darüber

hinwegtäuschen, dass Sie von völlig falschen Vorausset-
zungen ausgehen. Wenn Sie sich mit Opferverbänden,
mit Personen unterhalten, die sich beruflich mit den Fol-
gen des Menschenhandels beschäftigen, dann wird Ihnen
unisono gesagt: Das rot-grüne Prostitutionsgesetz aus
dem Jahr 2002 hat es erst ermöglicht, dass in Deutsch-
land


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe mit sehr vielen gesprochen! Ich habe das nicht unisono gehört!)


– Kollege Beck, Zuhören erleichtert manchmal die Fin-
dung der Realität –


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht, wenn Sie Falsches erzählen!)


Hunderttausende von jungen Frauen in Bordellen ausge-
beutet werden konnten,


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Vermischen Sie nicht alles!)


weil man es aufgrund der laxen Rechtslage den Bordell-
besitzern einfach gemacht hat, diese Menschen auszu-
beuten. Legale Prostitution lässt sich oftmals in einem
Graubereich nicht von Zwangsprostitution trennen, des-
wegen tragen Sie Mitverantwortung für dieses Gesetz.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Faktenund sachwidrig ist Ihr Vortrag!)


Daher wäre ich an Ihrer Stelle eher ruhig geblieben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn in den letzten zehn Jahren gemacht? Die Verantwortung liegt doch bei Ihnen! – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7129 Dr. Volker Ullrich Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit 2005 regieren Sie!)


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Wir wollen in diesem Hohen Hause die gesetzlichen
Maßnahmen umsetzen, um zukünftig junge Frauen stär-
ker vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Dazu braucht
es nicht allein eine Reform der Erlaubnispflicht von Bor-
dellen. Es braucht auch eine Anhebung des Mindestal-
ters auf 21 Jahre. Wir brauchen eine verpflichtende Be-
ratung und verpflichtende Gesundheitsuntersuchungen.
Wir brauchen eine Abschaffung des eingeschränkten
Weisungsrechts, und wir brauchen am Ende auch eine
Änderung der Kultur in diesem Land. Körper sind keine
Ware.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sexuelle Dienstleistungen!)


Man kauft Menschen nicht. Der Respekt vor Menschen
verbietet es, dass wir sexuelle Dienstleistungen als Ware
ansehen. Es geht um Menschen, die oftmals vor dem
Hintergrund einer legalen Fassade ausgebeutet wurden.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen die Prostitution verbieten! Dann sagen Sie es doch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen also die Prostitution verbieten!)


Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren und tolerieren
wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Frage der Bekämpfung
von Menschenhandel ist geprägt durch ein Mosaik von
vielen Maßnahmen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man bei der Moral zu sehr aufdreht, landet man manchmal in der falschen Ecke!)


Wir müssen stärker überwachen, dass Unternehmer
Menschen nicht ausbeuten. Wir müssen zukünftig die
Bordellszene in Deutschland stärker reglementieren, um
damit die Opfer zu schützen. Wir müssen dieses Thema
aber immer auch vor dem Hintergrund der Würde des
Menschen betrachten. Dort, wo die Würde des Men-
schen verletzt ist, haben wir die Pflicht, zu handeln. Die
Würde des Menschen ist die beste Idee, die wir haben.
Deswegen ist das Handeln unsere allererste Pflicht.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie die Würde von Prostituierten schützen! Das ist auch Menschenwürde!)


Dafür wollen wir kämpfen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807413900

Die Kollegin Susanne Mittag hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Susanne Mittag (SPD):
Rede ID: ID1807414000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bun-
deskriminalamt vermeldete in seinem Bundeslagebild
Menschenhandel 2013 – damit wollen wir wieder zu den
Fakten kommen – 603 Opfer des Menschenhandels in
Deutschland. 542 davon sind Opfer des Menschenhan-
dels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung geworden.
Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Frauen. Ihr
Anteil beträgt 96 Prozent. Weiter registrierte das BKA
61 Opfer des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeu-
tung der Arbeitskraft. Wenn man sich die Zahlen an-
schaut, dann sieht man, dass es sich also in erster Linie
um sexuelle Ausbeutung handelt.

Insgesamt sind es 603 Menschen, die wie ein Han-
delsgut von Kriminellen über Staatsgrenzen hinweg ver-
kauft und ausgenutzt werden. Diese Straftaten gehen oft-
mals mit Gewalttaten, Freiheitsberaubung, Schleusungs-
und Fälschungsdelikten sowie anderen Delikten einher,
also der gesamten Bandbreite organisierter Kriminalität.
Das findet nicht in der Dritten Welt oder sonst wo statt,
sondern hier in Deutschland. Das sind erschreckende
Zahlen, aber sie zeigen leider nur die ermittelte Spitze
des Eisbergs; denn das BKA listet nur die abgeschlosse-
nen polizeilichen Ermittlungsvorgänge auf. Es gibt also
noch jede Menge mehr. Es gibt ein riesiges Dunkelfeld.

Vor diesem Hintergrund finde ich es gut, dass wir
jetzt diese Diskussion führen. Ich finde es auch gut, dass
Sie – damit meine ich die Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen – hier einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der
Situation von Opfern des Menschenhandels in Deutsch-
land eingebracht haben. Wir brauchen eine breite gesell-
schaftliche Diskussion darüber, wie es sein kann, dass
Hunderte Menschen wie Sklaven verkauft und ausge-
beutet werden – genau das findet nämlich dabei statt –,
Hunderte oftmals unerkannt, Hunderte, vor denen wir als
Gesellschaft die Augen verschließen. Sie leben mitten
unter uns, mit falschen Versprechungen angelockt, in
teils unwürdigen Unterkünften, müssen sich prostituie-
ren oder werden als billige Arbeitssklaven ausgebeutet,
werden um ihr Einkommen betrogen. Sie fühlen sich
nicht nur alleine, sie sind es auch. Sie wissen oftmals
nicht einmal, in welchem Land sie leben, da sie so häu-
fig über Landesgrenzen hinweg verkauft werden. Sie
trauen sich kaum, Hilfe bei staatlichen Stellen oder sons-
tigen Organisationen zu suchen; denn die staatlichen Be-
hörden in ihren Herkunftsländern sind weiß Gott oftmals
keine Hilfe.

Das ist, denke ich, erschreckend und nicht länger hin-
nehmbar. Deswegen sind die Diskussionen, die heute
und im Anschluss stattfinden, sehr gut und sehr wichtig.
Wir als Große Koalition haben uns im Koalitionsvertrag
vorgenommen, den Opfern des Menschenhandels in
Deutschland zu helfen. Das wollen wir jetzt tun. Die
Bundesregierung hat am Mittwoch im Kabinett einen
entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Dieser Ge-
setzentwurf zur Neubestimmung des Bleiberechts und
der Aufenthaltsbeendigung wird uns bald hier im Bun-
destag beschäftigen, nicht nur heute, sondern auch im
Rahmen einer größeren Diskussion. Ich gebe zu, dass
wir als SPD uns für alle Opfer einen eigenständigen Auf-

7130 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014

Susanne Mittag


(A) (C)



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enthaltstitel unabhängig von einer Aussage in einem
Strafverfahren gewünscht hätten.


(Beifall der Abg. Dr. Lars Castellucci [SPD] und Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Darüber müssen wir vielleicht noch ein bisschen verhan-
deln. Das haben wir nicht für alle, aber zumindest für
minderjährige Menschenhandelsopfer erreicht; das ist
doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.

Gleichwohl sind in diesem Gesetzentwurf jede Menge
Verbesserungen enthalten: Eine Aufenthaltserlaubnis soll
nun für ein Jahr erteilt werden bzw. verlängert werden
bei Strafverfahren und soll nach Abschluss des Verfah-
rens aus humanitären oder persönlichen Gründen für
zwei Jahre erteilt werden. Das waren vorher nur sechs
Monate; das ist schon mal ein Riesenunterschied. Damit
geben wir den Menschen hier eine aufenthaltsrechtliche
Perspektive. Nur so können wir erreichen, dass die Opfer
vielleicht doch bereit sind, in einem Prozess auszusagen;
das ist nicht unbedingt zwingend.

Verbessert wurde auch, dass die oben beschriebene
Vorschrift zur Aufenthaltserlaubnis eine Soll- und nicht
mehr eine Kannbestimmung ist; das ist ebenfalls ein rie-
siger Unterschied.


(Beifall bei der SPD)


Das schafft sehr wohl Klarheit und verbessert die Sicher-
heit der Betroffenen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber warum „soll“ und nicht „ist zu“? Das müssen Sie mir erklären!)


– Da arbeiten wir noch dran.


(Heiterkeit)


Wir haben ja noch Zeit zum Diskutieren, da steigen wir
noch ein.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bedeutet weiter Rechtsunsicherheit für die Betroffenen! – Gegenruf der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]: Ermessen!)


Jetzt kommt der Punkt für Sie: Verbessert wurde auch
der Familiennachzug der Opfer, schon während des Ver-
fahrens. Herr Beck, das ist ganz wichtig für die Diskus-
sion mit Ihnen; das fehlt nämlich gänzlich in dem Ge-
setzentwurf der Grünen. Der Familiennachzug ist aber
entscheidend für die Opfer von Menschenhandel. 30 Pro-
zent der Opfer geben laut Lagebericht des BKA an, dass
auf ihre Aussagebereitschaft bei Polizei oder Gericht
durch die Täter oder deren Umfeld eingewirkt wurde.
Das ist nicht zu unterschätzen; denn „eingewirkt“ ist ein
sehr milder Ausdruck für das,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich vorhin in meiner Rede angesprochen!)


was da abgeht: dass entweder direkt, auf die Opfer
selbst, oder indirekt, auf ihre Familien, eingewirkt
wurde. Ich denke, jeder kann sich gut vorstellen, dass
Frauen – ich erinnere an die Zahl, die ich zu Anfang ge-
nannt habe: 96 Prozent der Opfer von Menschenhandel
sind Frauen – um die Sicherheit ihres Kindes besorgt
sind, wenn sie wissen, dass ihr Kind in der Reichweite
der Täter ist und bleibt, und das machen die Täter den
Opfern auch sehr deutlich klar. Es ist also existenziell für
die Opfer von Menschenhandel, mit ihren Familien in ei-
nem sicheren Umfeld – das heißt: nicht wieder in dem
Dorf oder in der Gegend, aus der sie kamen – zusammen
leben zu können. Es ist auch ein Gebot der Menschlich-
keit, dass wir uns hier auch darum kümmern.


(Beifall bei der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das haben wir in unserem Gesetz zur Verwirklichung des Schutzes von Ehe und Familie im Aufenthaltsrecht gefordert! Bundestagsdrucksache!)


– Schön. – Und es hilft den Ermittlungsbehörden, weil
dadurch die Bereitschaft der Opfer zur Aussage gegen
die Täter wahrscheinlicher wird. Mit dem Familiennach-
zug nimmt man den Tätern ein erhebliches Druckpoten-
zial, endlich.

Ich freue mich auf die anstehenden parlamentarischen
Beratungen zu diesem Thema; sie sind ja heute schon or-
dentlich losgegangen. Ich denke, im Ziel – der Verbesse-
rung der Situation der Opfer – sind wir uns parteiüber-
greifend einig. Ich bin mir sicher, dass wir hier im
Parlament eine konstruktive Diskussion darüber führen
werden, wie wir den Opfern von Menschenhandel insge-
samt am besten helfen können.

Vielen Dank für Ihre Mitarbeit schon mal im Voraus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807414100

Das Wort hat die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Christel Voßbeck-Kayser (CDU):
Rede ID: ID1807414200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Uns eint in diesem Haus, dass wir die Notwendigkeit ei-
ner gesetzlichen Neuregelung zur Bekämpfung von Pro-
stitution und Menschenhandel in Deutschland sehen. So
sollte das Ergebnis auch konkrete Verbesserungsmaß-
nahmen für die Opfer von Menschenhandel zur Folge
haben.

Das von der rot-grünen Regierung 2002 eingeführte
Prostitutionsgesetz – Ziel war die Einführung der Sozial-
versicherungspflicht – war sicherlich gut gemeint, hat
aber vielen betroffenen Frauen nicht geholfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn der Anteil der sozialversicherungspflichtig be-
schäftigten Prostituierten blieb minimal. Daher brauchen
wir wirksame Entscheidungen für die Betroffenen.

Liebe Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
Sie beziehen sich in Ihrem Gesetzentwurf auf die Opfer
von sexueller Ausbeutung und die Opfer von Ausbeu-

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7131

Christel Voßbeck-Kayser


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tung der Arbeitskraft. Natürlich müssen die Opfer immer
im Mittelpunkt stehen! Ohne die Opferhilfe, den Opfer-
schutz geht es nicht. Aber der Staat kann nicht alles
leisten. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen aus-
drücklichen Dank den zahlreichen Organisationen, Ver-
einigungen und Initiativen in unserem Land ausspre-
chen, die, getragen von hohem ehrenamtlichem
Engagement, den Opfern direkte Begleitung, Hilfe und
Unterstützung im Alltag zukommen lassen, die einfach
zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden. Vielen Dank
für diese Ihre Arbeit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, aus un-
serer Sicht geht Ihr Entwurf jedoch nicht weit genug;
denn er befasst sich nur mit einem Teilaspekt: Sie küm-
mern sich nur um die Nachsorge. Es geht aber auch um
Prävention, also um Maßnahmen zur Verhinderung der
Entstehung von Menschenhandel.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was ist in Ihrem Aufenthaltsgesetz dazu geregelt? Jetzt verlangen Sie doch nicht, dass alles in einem Gesetz geregelt wird! Machen Sie selber eins! – Gegenruf des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Lassen Sie einmal die Kollegin sprechen!)


Sie wollen am Bundesministerium für Arbeit und So-
ziales eine Berichterstatterstelle für Menschenhandel
schaffen. Das ist sicherlich eine Überlegung wert. Aber
schaut man sich einmal in Ihrem Gesetzentwurf die Auf-
gabenbeschreibung für diese Stelle an, stellt man fest, es
soll beobachtet werden, es sollen Daten erfasst und es
soll über Geschehenes berichtet werden. Was hilft das
bitte den Opfern? Aufgaben im Bereich der Präventions-
arbeit sucht man in Ihrer Stellenbeschreibung vergebens.
Warum soll diese Stelle im Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales angesiedelt sein? Menschenhandel ist
ein vielschichtiges und ein ressortübergreifendes Pro-
blem.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es Arbeitsausbeutung ist!)


Wir haben es mit Menschenhandel zum Zweck der
Ausbeutung der Arbeitskraft zu tun. Hier ist das Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales gefragt. Aber – das
wurde heute festgestellt – ein großer Teil des existieren-
den Menschenhandels ist im Bereich der sexuellen Aus-
beutung. Hier ist das Bundesfamilienministerium in der
Pflicht. Auch dort wird an einem neuen Gesetz gearbei-
tet. Denken wir auch an den Menschenhandel zum
Zweck des Organhandels. Dies fällt in das Ressort des
Bundesgesundheitsministeriums.

Menschenhandel ist ein grenzüberschreitendes Pro-
blem. Daher kann eine Bekämpfung nur gelingen, wenn
im internationalen Bereich eng zusammengearbeitet
wird. Somit sind auch das Auswärtige Amt und das Bun-
desentwicklungsministerium unbedingt mit einzubezie-
hen.

Dies macht doch deutlich: Eine ressortübergreifende
ganzheitliche Abstimmung ist unabdingbar. Und: Wir
dürfen in den verschiedenen Ressorts keine Parallel-
strukturen aufbauen, sonst entstehen nur Reibungsver-
luste. Deshalb mein Fazit: Wir brauchen im Sinne der
Opfer und der Vielschichtigkeit von Menschenhandel
ressortübergreifende Lösungen. Die Ursachen von Men-
schenhandel bekämpfen wir nur mit direkten Maßnah-
men, so wie sie im Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb
noch im Jahr 2013 vorgelegt wurden. Dort ging es um
die Änderung des Gewerberechts und des Strafrechts.
Dies wurde aber im rot-grün dominierten Bundesrat ver-
hindert.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Dies hilft den Opfern so nicht. Stützen und stärken wir
doch besser alle gemeinsam die bestehenden Strukturen
mit entsprechenden Gesetzen, statt einseitige und damit
wenig wirksame neue Strukturen zu schaffen!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1807414300

Ich glaube, wir alle haben einen Ausblick auf die

spannenden Aussprachen und Verhandlungen zu diesem
Thema bekommen.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3256 an die an der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 17. Dezember 2014, 13 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute und, soweit es geht, einen schönen zweiten Advent.