Rede von
Susann
Rüthrich
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Geburtstage, zumal runde, sind immer ein
schöner Anlass, zurückzuschauen. Wie sah denn die
Welt von Kindern vor 25 Jahren aus, bevor die Kinder-
rechtskonvention in Kraft getreten ist? Doppelt so viele
Kinder wie jetzt auf der Welt haben damals ihren fünften
Geburtstag nicht erlebt. Es gab bei uns noch kein Recht
auf gewaltfreie Erziehung. Kinderschutz hatte sich der
Bund noch nicht zur gesetzlichen Aufgabe gemacht.
Umgangsrechte mit beiden Eltern waren nicht geklärt.
Weitere Beispiele ließen sich aufzählen.
Doch fast noch spannender, als zurückzuschauen,
finde ich es, an Geburtstagen vorauszuschauen. Wo wer-
den wir denn wohl in 25 Jahren stehen, vielleicht auch
schon in 20 oder 10? Einmal abgesehen davon, dass ich
den Kinderrechten wünsche, dass sie sich dann selbst
weiterentwickelt haben werden, etwa um ökologische
oder digitale Rechte, wünsche ich den Kinderrechten
vier Dinge zum Geburtstag.
Zum einen: Die Kinderrechte werden dann längst im
Grundgesetz stehen.
Kein Mensch kann dann mehr so recht nachvollziehen,
warum es eigentlich so lange gedauert hat, sie in das
Grundgesetz hineinzuschreiben. Es war dann wohl ein-
fach endlich an der Zeit, das Grundgesetz moderner zu
machen und an die gesellschaftlichen Entwicklungen in
Deutschland und der Welt anzugleichen. Die dann leben-
den Kinder kennen es gar nicht mehr anders, als dass sie
gleichwertige Rechte wie Erwachsene haben, nur dass
sie diese eben etwas anders ausleben, ihrem Alter ge-
mäß.
Das werden die späteren Erwachsenen als Bereiche-
rung sehen, weil die jungen Leute immer neuen
Schwung in Debatten bringen, sei es über ihr Wahlrecht,
sei es über verbindliche Befragungen oder durch Be-
schwerden beim Bundeskinderbeauftragten. Unsere Poli-
tik und das, was daraus folgt, erleben unsere Kinder
doch am längsten. Wer von einer Entscheidung betroffen
ist, der wirkt auch an der Entscheidung mit. Das ist de-
mokratisch. Also, hören wir Kinder an und beachten wir
das, was sie sagen.
Mein zweiter Geburtstagswunsch ist: Wir haben dann
eine Kindergrundsicherung oder etwas Vergleichbares.
Jedenfalls ererbt kein Kind mehr die Armut seiner El-
tern.
Jedem Kind steht kostenfrei das Lern- und Lebensum-
feld zur Verfügung, das es tatsächlich braucht. So wird
es dann der Vergangenheit angehören, dass es Kinder
gibt, die weniger gute Chancen im Leben haben, nur
weil ihre Eltern nicht wohlhabend sind; denn Bildung ist
dann für alle kostenfrei, und zwar von der Kita an.
Kitas und Schulen sind dann offen. Vereine und Ver-
bände laden jedes Kind ein, dort seine Talente zu entde-
cken. Die Kinder toben, spielen und lernen. Kein Kind
braucht mehr Geld, um ein Instrument zu lernen, um
Fußball zu spielen, um Nachhilfeunterricht zu bekom-
men oder um Sprachförderung zu erhalten. Zur kosten-
freien Bildung gehört dann auch, dass kein Kind hungrig
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7107
Susann Rüthrich
(C)
(B)
lernt und spielt. Gesunde Mahlzeiten gehören einfach
zum Kita- und Schulalltag.
Ich komme zu meinem dritten Wunsch. Leider wird
es wahrscheinlich auch in 25 Jahren noch Flüchtlings-
kinder bei uns geben. „Leider“ deswegen, weil ich
fürchte, dass es auch dann noch schreckliche Gründe ge-
ben wird, weswegen Menschen unseren Schutz suchen.
Es wird dann aber anders sein als jetzt: Da die Kinder-
rechte im Grundgesetz stehen, werden diese Kinder
nicht mehr anders behandelt. Sie sind bis zum 18. Ge-
burtstag vor dem Gesetz Kinder; logisch eigentlich. Sie
erhalten die medizinische Versorgung, die jedes andere
Kind auch bekommt, und zwar dann, wenn es nötig ist,
und nicht mehr dann, wenn das Kind Schmerzen hat;
denn es ist doch einfach unmenschlich, erst zu warten,
bis die Zahnschmerzen akut sind, anstatt vorzusorgen.
Flüchtlingskinder gehen dann ganz normal in die
Schule und in die Kita nebenan. Vor allem aber werden
ihre Fluchtgründe im Asylverfahren erfragt und beach-
tet; denn nur sie können etwa jung zwangsverheiratet
oder als Kindersoldaten ausgebeutet werden. Im Asyl-
verfahren werden sie angehört, und selbstverständlich
gilt auch hier: Das Kindeswohl hat Vorrang.
Was viertens spätestens in 25 Jahren anders sein wird:
Die erschütternden Zahlen von misshandelten Kindern
müssen gesunken sind. Allein die bekannten Zahlen
– ohne das Dunkelfeld – machen mich fassungslos. Tau-
sende Kinder jedes Jahr werden geschlagen und miss-
handelt, und jährlich überleben 150 Kinder ihr Eltern-
haus nicht. Wenn wir heute also von einem Fall in der
Zeitung lesen, dann müssen wir davon ausgehen, dass in
derselben Woche wahrscheinlich zwei weitere Kinder
gestorben sind – nicht infolge eines Unfalls, sondern
durch die Hand Erwachsener.
Die Zahl der tödlichen Unfälle von Kindern im Stra-
ßenverkehr hat sich seit 1990 halbiert, und immer weni-
ger Kinder sterben an schweren Krankheiten. Nur die
Zahl der getöteten Kinder bleibt stabil. Das muss sich in
den kommenden Jahren unbedingt ändern.
Die ganz traurigen Ausnahmefälle wird es wohl im-
mer geben. Das müssen aber tatsächliche Einzelfälle
sein, bei denen sich zuvor keine Auffälligkeiten gezeigt
haben. Es sind ja nicht zu wenige Institutionen, die sich
mit Risikofamilien beschäftigen, aber diejenigen, die
helfen, sind zu schlecht ausgestattet und haben zu we-
nige bis keine Ressourcen, um etwa die Fallberatung zu
koordinieren. Das erzählen uns zumindest Kinderärzte.
Dass dann im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf
Unversehrtheit wird dazu führen, dass Kindern schneller
und besser geholfen werden muss.
In 25 Jahren werden wir hoffentlich sagen: Weil wir
Kinderleben gerettet haben, hat sich die Grundgesetzän-
derung gelohnt.
Vielen Dank.