Rede von
Dr.
Hans-Peter
Bartels
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Mandatsdebatte markiert eine Zäsur. Der
lange ISAF-Einsatz geht jetzt wirklich zu Ende. Für
Afghanistan bedeutet das Jahr 2014 den Beginn einer
neuen Ära. Es gab Wahlen und erstmals einen friedli-
chen Regierungswechsel – keinen einfachen Wechsel,
aber einen Wechsel, der die alte Regierung nicht liqui-
diert oder ins Exil treibt. Der alte Präsident bleibt im
Land.
Aus Anlass der heutigen Debatte habe ich mich an ei-
nen Artikel erinnert, den Hamid Karzai vor einigen Jah-
ren in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit unter der
Überschrift „Ich habe einen Traum“ veröffentlicht hatte.
Karzai sagt darin:
Mein Traum ist das Afghanistan meiner Kindheit.
Als ich ein Junge war, gab es dieses friedliche Af-
ghanistan. Wir Kinder konnten ohne Gefahr allein
zur Schule gehen … Ich habe diese besseren Tage
gesehen, und ich will sie wieder sehen.
So weit Karzai 2007.
Ich zitiere das, weil mir wichtig ist, dass wir ein we-
nig vorsichtig sind mit den beliebten Pauschalurteilen,
so mit der falschen Behauptung, Afghanistan sei immer
ein schreckliches Land gewesen, mit dem hochmütigen
Glauben, unsere Mitmenschen seien, wenn sie denn
Afghanen sind und in Afghanistan leben, gar nicht zur
Demokratie fähig, oder mit dem entmutigenden Verdikt,
es sei nichts gut in Afghanistan.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Freitag, den 5. Dezember 2014 7085
Dr. Hans-Peter Bartels
(C)
(B)
30 Millionen Menschen leben dort jeden Tag ihren
Alltag. Dieser Alltag mag leichter geworden sein durch
die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Vieles ist
besser als zur Zeit der Herrschaft der Taliban. Aber die
Sicherheitslage ist längst nicht gut. Es gibt immer noch
viel zu viel Gewalt in Afghanistan. Natürlich müssen wir
Bilanz ziehen, müssen wir uns heute, am Ende des alten
Mandats und vor dem Beginn des neuen, kritisch fragen:
Ist die Afghanistan-Mission eine gescheiterte Mission
des Westens? Ich glaube, wir dürfen nicht sagen, dass
die Mission gescheitert ist. Wir alle kennen die vielen
unbezweifelbaren Erfolge, und die Soldatinnen und Sol-
daten unserer Bundeswehr haben einen wesentlichen
Anteil daran, wenn auch unter Opfern. Das verdient den
Dank des gesamten Hauses, gerade heute, wenn wir Bi-
lanz über fast 13 Jahre ISAF ziehen.
Aber wir sollten uns klar darüber sein, dass unsere
Afghanistan-Mission kein Modell für irgendeine andere
Konfliktregion auf der Welt sein kann. Der Einsatz war
sehr, sehr lang. Seit über zwölf Jahren haben wir Militär
am Hindukusch stationiert; und bis heute wird geschos-
sen, gebombt und gekämpft. Der Einsatz war sehr, sehr
international: 48 Nationen haben Soldatinnen und Solda-
ten nach Afghanistan geschickt, über 80 Nationen helfen
mit zivilen Mitteln. Es ist gut, dass es viele sind; aber
manchmal macht es das noch ein bisschen schwerer.
Unser Einsatz hat unvorstellbar viel Geld gekostet.
Die USA haben auf dem Höhepunkt ihres Engagements
mehr als 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr allein für ih-
ren militärischen Einsatz ausgegeben. Das war ein Viel-
faches der zivilen Hilfe. Ich weiß, dass man so nicht
rechnen kann, aber wir müssen uns heute wenigstens fra-
gen, ob die Proportionen immer gestimmt haben. Ich
selbst habe keine fertige Antwort auf diese Frage.
Afghanistan war in den 80er-Jahren eine Art Symbol
im Kampf gegen die Ausbreitung des sowjetischen Im-
perialismus. Afghanistan ist heute ein Symbol im Kampf
gegen eine ganz andere totalitäre Ideologie: den mörde-
rischen Dschihadismus. Dieser Dschihadismus bedroht
nicht nur Afghanistan oder Irak. Er bedroht Nigeria, Li-
byen, Somalia, Jemen, Syrien und Pakistan. Wir haben
gelesen, dass pakistanische Talibanführer ausdrücklich
zur Unterstützung der Kämpfer des „Islamischen Staa-
tes“, des IS, aufgerufen haben. Deshalb gibt es auch für
Afghanistan eine reale Besorgnis: Gehen die Taliban
heute neue Bündnisse mit dem IS ein wie vor 15 Jahren
mit al-Qaida? Entsteht hier eine weltweit immer einheit-
lichere totalitäre Bewegung? Oder werden sich die
dschihadistischen Gruppen untereinander bekämpfen
wie in Syrien?
Ich glaube, für die Zukunft Afghanistans sind viele
innere Faktoren wichtig, aber auch drei äußere:
Erstens. Der totalitäre Dschihadismus in Syrien und
im Irak muss sichtbar eingedämmt und zerschlagen wer-
den.
Zweitens. Pakistan muss eindeutig die Taliban und
den Dschihadismus in Pakistan und in Afghanistan be-
kämpfen. Die Bedrohung durch den Dschihadismus ist
tödlich. Auch Ambivalenz gegenüber dieser Bedrohung
könnte tödlich sein.
Drittens. Der Westen darf sich nicht von Afghanistan
abwenden. Die Fortsetzung der Entwicklungszusam-
menarbeit ist wichtig. Ebenso wichtig ist die Fortsetzung
einer begrenzten militärischen Präsenz für Beratung und
Unterstützung, und zwar so lange dies nötig ist. Der Mis-
sionsabbruch des Westens im Irak darf kein Modell für
Afghanistan sein. Das darf in Afghanistan nicht passie-
ren.
Zum Schluss ein Wort zu Deutschland. Ich zitiere
noch einmal aus dem Artikel „Ich habe einen Traum“
von Hamid Karzai. Er schreibt:
Um ehrlich zu sein, mir gefällt das Leben in
Deutschland sehr gut. Es ist ein vorhersagbares Le-
ben, und das mag ich. Wenn man an einem Flugha-
fen ankommt und ein Taxi braucht, bekommt man
definitiv ein Taxi. Wenn Sie einen Bus brauchen,
bekommen Sie einen Bus. Es ist ein Land mit einer
strengen Arbeitsethik, das ist extrem wichtig. …
Wenn ich etwa 50 Jahre in die Zukunft sehe, dann
wäre ich froh, wenn wir nur die Hälfte von dem hät-
ten, was Deutschland hat. Ich wäre sogar schon froh
über 30 Prozent.
So weit Karzai.
Ich möchte abschließend sagen: Ich bin froh, dass wir
Deutsche nicht auf der Seite stehen, die dringend Hilfe
braucht – das gab es auch schon mal –, sondern dass wir
diejenigen sind, die Hilfe zur Selbsthilfe geben können.
Dieses Parlament ist bereit, das zu tun.
Schönen Dank.