Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir sind tief betroffen und erschüttert über das Unglück, das sich gestern mittag in Remscheid ereignet hat. Der sitzungsleitende Präsident, Vizepräsident Westphal, ist bereits unmittelbar nach Bekanntwerden auf die Flugkatastrophe eingegangen. Beim Absturz eines amerikanischen Kampfflugzeuges wurden fünf Menschen getötet und fünf zum Teil schwer verletzt. Häuser gerieten in Brand und wurden zerstört oder schwer beschädigt. Es ist nicht auszuschließen, daß sich noch Opfer unter den Trümmern befinden.
Mit tiefer Trauer gedenken wir der Opfer dieses Unglücks. Unser ganzes Mitgefühl gilt ihren Familien, Angehörigen und Freunden. Unsere Anteilnahme gilt ebenso den Angehörigen, Freunden und Kameraden des amerikanischen Piloten, der bei dem Absturz ums Leben kam. Unsere Gedanken gehen auch zu all denen, die Verletzungen erlitten haben. Wir wünschen ihnen rasche Genesung.
Mein besonderer Dank gilt den Angehörigen der Polizei, der Feuerwehr und des Rettungsdienstes, die sich mit großem Einsatz am Katastrophenort um die Bergung der Menschen wie um die Bekämpfung der Brände bemüht haben.
Meine Damen und Herren, Sie haben sich zur Ehrung der Toten von Ihren Sitzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze auf Drucksache 11/2421 zu erweitern. Ich gehe davon aus, daß damit gleichzeitig der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3097 mit der dazu vorliegenden Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/3672 auf die Tagesordnung gesetzt werden soll.
Vorgesehen ist eine Debattenzeit von zwei Stunden.
Außerdem ist beantragt worden, von der Frist des § 81 Abs. 1 Satz 2 unserer Geschäftsordnung, soweit erforderlich, abzuweichen.
Wird das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was hier beantragt worden ist, ist ein einmaliger Vorgang in dieser Legislaturperiode.
Das haben wir noch nicht erlebt.
Die Geschäftsordnung des Bundestages schreibt für die zweite Beratung von Gesetzentwürfen eindeutig vor — ich zitiere aus § 81 der Geschäftsordnung — :
Die zweite Beratung wird mit einer allgemeinen Aussprache eröffnet, wenn sie vom Ältestenrat empfohlen oder von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages verlangt wird. Sie beginnt am zweiten Tage nach Verteilung der Beschlußempfehlung und des Ausschußberichts .. .
Dieser zweite Tag nach Verteilung der Beschlußempfehlung und des Ausschußberichts ist noch nicht erreicht. Wir haben eine Beschlußempfehlung, die seit Mittwoch vorliegt, aber einen Ausschußbericht, der erst seit gestern vorliegt.
Das verstößt eindeutig gegen die übliche Praxis hier im Haus.
Was ist der Grund, weshalb hier von all dem abgewichen werden soll, was sonst hier gängige Praxis ist?
Ich will es Ihnen sagen, meine Damen und Herren. Sie wollen hier jetzt, kurz vor Weihnachten, auf jeden Fall, um jeden Preis dieses Gesetz zur Veränderung der Parteienfinanzierung noch durchziehen.
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Kleinert
Da ist es gar nicht so wichtig für Sie, was ansonsten hier in diesem Hause übliche Praxis ist. Dieses Gesetz soll um jeden Preis noch durchgepeitscht werden. Das ist der Hintergrund dafür. Sie können es nicht abwarten. Wir wissen ja auch, wie die Mehrheitsverhältnisse im Hause sind. In dieser Frage gibt es eine große Koalition, eine Superkoalition von Regierung und der größeren Oppositionspartei.
Wir wissen, wie die Mehrheitsverhältnisse im Hause sind. Trotzdem: Sie können nicht abwarten, bis das nächste Jahr angefangen hat. Sie wollen unbedingt noch vor Weihnachten ihren Schatzmeistern dieses auf den Gabentisch legen.
Deswegen soll das um jeden Preis hier noch durchgesetzt werden, meine Damen und Herren. — Herr Bohl, lärmen Sie doch nicht so herum.
Diese Aufregung ist ungewöhnlich für diese frühe Morgenstunde.
Es scheint hier doch einiges auf dem Spiel zu stehen. Ich kann mich nicht erinnern, bei vergleichbarer Gelegenheit um 8.06 Uhr am Morgen eine solche Aufregung erlebt zu haben.
Wenn es um Geld geht, meine Damen und Herren, dann bewegt das die Herrschaften hier im Hause noch. Viele andere Themen, die wir um diese Zeit diskutiert haben, haben nur ein müdes Gähnen hervorgelockt. Aber jetzt, wo es um Ihre Parteifinanzen geht, gibt es große Aufregung, große Präsenz. Da sehe ich hier ungewöhnliche Vorgänge.
Die Devise, unter der das alles läuft,
stand schon im Juni in den Zeitungen zu lesen: Wir müssen das alles durchbringen, noch bevor die Leitartikler zuschlagen. So stand es damals zu lesen. Nach diesem Wahlspruch wollten die Schatzmeister der etablierten Parteien seinerzeit verfahren, als man sich vorgenommen hatte, dieses Parteiengesetz möglichst unauffällig mal eben so hintenherum über die Bühne zu bringen. Diese Devise gilt noch heute.
In letzter Minute sind am Mittwoch noch Veränderungen in den Gesetzentwurf hineingestimmt worden. Sie haben das gemacht, weil Sie selbst nur zu genau spüren, daß dieses Gesetz in wesentlichen Punkten nicht verfassungskonform ist.
Sie wollen das mühsam kaschieren. Um zu verhindern, daß in der Öffentlichkeit bekannt genug wird, wie verfassungswidrig dieses Gesetz ist und wie stark es weiterhin von der Selbstbedienungsmentalität der etablierten Parteien gekennzeichnet ist, wollen Sie das hier um jeden Preis unter Abweichung von all
dem, was hier im Hause lange geübte Praxis ist, durchziehen. Deshalb dieser Aufsetzungsantrag. Das verstößt gegen den Sinngehalt der Geschäftsordnung. Es verstößt gegen all das, was hier im Hause lange geübte Praxis ist. Deswegen muß dem widersprochen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kleinert, es ist nun wirklich eine aufgesetzte Empörung, die Sie hier zur Schau tragen.
Sie argumentieren wirklich haarscharf an der Wahrheit vorbei, wie sich sehr leicht nachweisen läßt. Sie sagen, das sei ein einmaliger Vorgang. Wir haben allein in dieser Woche dreimal diesen Vorgang — wenn Sie sich erinnern.
— Natürlich.
— Nun hören Sie doch mal zu. Wir haben gestern die Gesetzentwürfe betreffend Strukturhilfe auf der Tagesordnung gehabt, die erst am Mittwoch in den Ausschüssen beraten worden sind. Es lagen erst die Beschlußempfehlungen vor. Wir sind von der Frist abgewichen. Wir haben diesen Punkt einvernehmlich auf die Tagesordnung gesetzt.
Bei dem Kohlepfennig war es genauso. Das ist das zweite Beispiel. — Natürlich einvernehmlich. Herr Kollege Kleinert, Sie hätten ja aber die Möglichkeit gehabt, diese einvernehmliche Regelung auch bei diesem Gesetzentwurf zu treffen.
Das haben wir auch besprochen.
Ich darf aus den Besprechungen der Geschäftsführer, die ja mehrfach gelaufen sind — —
— Sie haben vorhin von der Aufregung bei uns gesprochen. Ich stelle nun Aufregung bei Ihnen fest, denn Sie reden dauernd dazwischen. Ich habe hier nur ein paar Sätze zu sagen. Das, was wir machen, entspricht der parlamentarischen Normalität.
Die Änderung des Parteiengesetzes ist in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages in den letzten Wochen wirklich sorgfältig beraten worden. Seit langem ist angekündigt, daß am heutigen Tage die zweite und die dritte Lesung dieses Gesetzes erfolgen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8555
Seiters
soll. Ich bestreite Ihnen überhaupt nicht das Recht, sich auf die Geschäftsordnung insoweit zu berufen, als Sie sagen, der schriftliche Ausschußbericht lag am Mittwochabend noch nicht vor, sondern nur die Beschlußempfehlung. Die Geschäftsordnung sieht aber für diesen Fall ausdrücklich die Möglichkeit vor — und auch das haben wir in diesem Hause schon mehrfach in der Vergangenheit praktiziert — , an Stelle eines schriftlichen Berichts einen mündlichen zu geben und damit das eine Erfordernis durch das andere zu ersetzen. Das entspricht der parlamentarischen Normalität. Sie machen hier einen Zirkus und ein Theater, weil Ihnen das parlamentarisch in den Kram paßt. Das ist doch der Sinn des Unternehmens.
Wir hätten eine einvernehmliche Regelung vorgezogen — ich sage das noch einmal — , die jederzeit hätte erreicht werden können und der wir im übrigen auch sehr nahe waren. Da dieses Einvernehmen nicht herzustellen war, stellen wir den Antrag nach § 81 der Geschäftsordnung, damit wir die Änderung des Parteiengesetzes — wie auch in den Ausschüssen besprochen — am heutigen Tage abschließend vornehmen können. Ich sage noch einmal: Das ist wirklich parlamentarische Normalität und bedeutet überhaupt keinen Sonderfall.
Das Wort hat der Abgeordnete Bernrath.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es ist weder Anlaß zur Aufregung noch zur Verwendung solcher Vokabeln wie „durchpeitschen" gegeben. Wir können Ihnen höchstens einmal darlegen, wie zögerlich sich Ihre Kolleginnen und Kollegen an den Beratungen im Innenausschuß beteiligt haben.
Sie werden dann erfahren, daß Sie meist nicht nur sehr unvorbereitet kommen, sondern auch gar kein Interesse am Abschluß irgendeines Verfahrens haben.
Zur Geschäftsordnung brauche ich nichts mehr zu sagen; das ist eindeutig. Der Gesetzentwurf ist bereits vor der Sommerpause eingebracht worden. Er ist hier frühzeitig in erster Lesung beraten worden. Er hat einige Male im Innenausschuß zur Beratung angestanden. Er ist Mittwoch abschließend beraten worden, und nach Schluß der Beratung war, sehr verehrter Herr Kollege Kleinert, Ihre Kollegin Berichterstatterin aus dem Innenausschuß nicht mehr aufzufinden,
deren Unterschrift wir brauchten. Es bedurfte gestern
einer fast kriminologischen Aktion, um nun zu ihrer
Unterschrift zu kommen. Von daher muß ich Sie ausdrücklich bitten, in Ihrem Laden Ordnung zu machen, obwohl darauf schon keiner mehr hofft.
Ich nehme an, daß Sie inzwischen diesen Bericht gelesen haben, zumindest wissen, was darin steht, und auch wissen, daß es am Mittwoch keine Veränderungen mehr gegeben hat, die die Verfassung tangieren, sondern eher Veränderungen, die es Ihnen hätten leichter machen können, das Geld, was Sie empfangen, auch anzunehmen, ohne rot zu werden.
Von daher plädiere auch ich dafür, daß wir dem Antrag der drei Fraktionen jetzt zustimmen.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir versammeln uns hier zu dieser frühen Morgenstunde streng nach der Geschäftsordnung, denn § 81 der Geschäftsordnung, den ich doch ausführlicher zitieren möchte, Herr Kollege Kleinert , sagt ja:
Die zweite Beratung wird mit einer allgemeinen Aussprache eröffnet, wenn sie vom Ältestenrat empfohlen oder von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages verlangt wird. Sie beginnt am zweiten Tage
— das haben Sie ja hier vorgetragen —
nach Verteilung der Beschlußempfehlung und des Ausschußberichts, früher nur, wenn auf Antrag einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zwei Drittel der anwesenden Mitglieder
— wir werden sogleich feststellen, daß es zwei Drittel sein werden —
des Bundestages es beschließen; . . .
Wir handeln hier streng nach der Geschäftsordnung. Es gibt überhaupt keine Veränderung. Es ist mätzchenhaft — wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf — , wenn Sie auf der einen Seite die Unterschrift unter den Bericht durch vorgeschobene Tarnkappen nicht leisten
und auf der anderen Seite versuchen, uns hier Fehler bei der Anwendung der Geschäftsordnung anzukreiden. Lesen Sie immer auch den zweiten Teil der Bestimmungen der Geschäftsordnung; dann werden Sie schon richtig fahren.
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Wir kommen zur Abstimmung über beide Teile des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD betreffend Aufsetzung und Abweichung von der Frist. Wer stimmt dafür? —
Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen.
Die Beratung erfolgt gegen 12 Uhr.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Straßmeir, Fischer , Börnsen (Bönstrup), Bohlsen, Haungs, Uldall, Dr. Wittmann, Dr. Jobst, Carstensen (Nordstrand), Eylmann, Neumann (Bremen), Hinrichs, Hinsken, Jung (Limburg), Maaß, von Schmude, Kraus und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Richter, Gries, Kohn, Funke, Zywietz, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Seeschiffahrtsregisters für deutsche Handelsschiffe im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister)
— Drucksache 11/2161 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 11/3679 —
Berichterstatter: Abgeordneter Ewen
Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3681 und 11/3699 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Fischer .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Probleme der Seeschiffahrt existieren bereits seit Anfang der 70er Jahre. — Die Uhr stimmt aber nicht, wenn ich darauf hinweisen darf! — Wir haben es seither mit einer ständigen Ausflaggungswelle zu tun. Die Tonnage unter deutscher Flagge hatte Ende 1977 mit 9,3 Millionen Bruttoregistertonnen ihren Höchststand und beträgt heute knapp 3,7 Millionen Bruttoregistertonnen. Das heißt, in elf Jahren haben wir knapp 6 Millionen Bruttoregistertonnen verloren.
Das Bordpersonal auf Schiffen unter deutscher Flagge hatte ohne die Fischerei, die im übrigen — um das einmal klarstellend zu sagen — von dem Gesetzentwurf überhaupt nicht berührt ist, im Jahr 1971 mit 49 000 Mitarbeitern einen Höchststand. Anfang 1983 gab es nur noch 24 500 Mitarbeiter. Damit steht fest,
daß das Bordpersonal in der Zeit der SPD-Regierung in seinem Bestand halbiert worden ist. Heute — Stand 30. September 1988 — haben wir 16 000 Mitarbeiter auf deutsch beflaggter Tonnage.
Die Zahlen belegen eindeutig, daß auch die heutige Opposition nicht ohne Mitverantwortung für die Gesamtentwicklung ist.
Ich glaube, es wäre gut, in einer solchen Debatte nicht opportunistisch jeweils von Insel zu Insel zu hüpfen, sondern auch zur Mitverantwortung zu stehen und anzuerkennen, daß die Probleme so gewichtig und gewaltig sind, daß sie sowohl von der früheren als auch von der jetzigen Bundesregierung wegen der internationalen Strukturveränderungen trotz erheblicher Bemühungen und Hilfen nicht bewältigt werden konnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im übrigen möchte ich daran erinnern, daß das Genehmigungsschreiben aus dem Jahre 1972, das die sogenannte Bareboat-Vercharterung ermöglichte, die Unterschrift des damaligen Staatssekretärs Wittrock, SPD, trägt.
Ich glaube, seinerzeit war Kollege Haar Parlamentarischer Staatssekretär. Bareboat-Charter bedeutet: im deutschen Register verbleiben, fremde Flagge aufziehen, deutsches Personal gegen ausländisches zu Heimatlohnheuern ersetzen. In diesem Bereich sind zur Zeit 374 Schiffe mit knapp 1,7 Millionen Bruttoregistertonnen eingetragen.
Das heißt also, wer meint, heute würde durch diesen Gesetzentwurf etwas prinzipiell anderes gemacht werden, der kann dieser Auffassung nur sein und kann dies von diesem Pult aus nur behaupten, wenn er fähig ist, die Erinnerung an die Vergangenheit und das eigene Tun vollständig zu verdrängen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben bis 1982 erlebt, daß drei Jahre lang Finanzbeiträge gezahlt worden sind, bewilligt in einer Summe von 360 Millionen DM. Dann hat man, obwohl die Ausflaggung weiterging, im Jahr 1981 das Instrument abgeschafft. Wir haben es 1984 wieder eingeführt und in der Zwischenzeit schon 614 Millionen DM bewilligt. Weitere 240 Millionen DM sind in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen.
Die Sozialdemokraten haben die Novellierung der Schiffsbesetzungsverordnung immer wieder hinausgeschoben. Herr Kollege Funke, wir erinnern uns sicher sehr gut daran, daß wir dies im Jahre 1984 umgesetzt und daß wir damit die notwendige Flexibilisierung der Schiffsbesetzung ermöglicht haben, womit auch technologischer Fortschritt in Kostensenkung umgesetzt werden konnte. Wir haben den UNCTAD-Kodex für Linienkonferenzen, dessen Ratifizierung immer wieder auf die lange Bank geschoben worden ist, dann im Jahre 1983 verabschiedet. Damit ist er weltweit in Kraft getreten, weil mit unserer Tonnage die notwendigen mehr als 25 % der Welttonnage erreicht werden konnten.
Wir haben bei den EG-schiffahrtspolitischen Maßnahmen nach jahrelangem Entscheidungsstillstand
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Fischer
auf Grund der besonderen Verdienste des früheren Bundesverkehrsministers Dr. Dollinger erreicht, daß vier wichtige Verordnungen verabschiedet werden konnten, die zum 1. Juli 1987 auch unmittelbar geltendes nationales Recht geworden sind.
Ich will nur diese wenigen Beispiele nennen, sonst würde es den zeitlichen Rahmen sprengen, wobei im übrigen — wenn ich darauf hinweisen darf — für mich eigentlich etwas mehr Zeit vorgesehen ist, als die Uhr anzeigt; vielleicht kann man das in der Zwischenzeit einmal überprüfen.
Wir haben eine Reihe von zusätzlichen Anstrengungen unternommen. Ich glaube, daß wir im Ergebnis doch sagen können, daß Bundesregierung und Koalitionsfraktionen alles in ihrer Macht Stehende getan haben — sowohl im Regelungsbereich, als auch im internationalen Bereich, als auch im steuerlichen Bereich, wie auch im Bereich der unmittelbaren Subventionen —, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Handelsflotte zu verbessern und ihr Flankenschutz zu geben.
Wenn ich dies kontrastiere mit der Bilanz der SPD-Regierung, so möchte ich darauf hinweisen, daß Sie eben 25 000 Bordarbeitsplätze in dieser Zeit verloren haben; sie sind ersatzlos weggefallen. Sie haben, entgegen dem Eindruck, den Sie heute erwecken, die ÖTV-Forderung nicht umgesetzt und die Schließung der offenen Register betrieben.
Sie haben in dieser Zeit eben nicht, obwohl Sie heute diesen Eindruck erwecken möchten, die ÖTV-Forderung erfüllt, eine nationale Ladungslenkung herbeizuführen. Sie haben eben nicht den UNCTAD-Kodex für Linienkonferenzen ratifiziert; sie haben BareboatCharter gemacht, und Sie haben Finanzbeiträge abgeschafft.
Vor diesem Hintergrund wage ich einmal die Frage zu stellen, woher Sie eigentlich die moralische Kraft für Ihre heutige Empörung und Ihre heutigen Aussagen nehmen wollen.
Ich habe in der Diskussion der letzten Monate immer spöttisch gesagt — ich war immer überzeugt, es wäre eine Übertreibung — : Seit 1982 hat SPD-
Schiffahrtspolitik in einer Kleinen Anfrage bestanden. Ich habe, um mich hier abzusichern, das Sach- und Sprechregister des Deutschen Bundestages abgefragt. Ich habe es nicht für möglich gehalten: Es stimmte sogar. Seit 1982 haben Sie hier nicht Roß und Reiter genannt; Sie haben Verbalismus betrieben; Sie haben parlamentarisch keine Alternative angeboten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe gesagt, alle Instrumente und Anstrengungen haben die Ausflaggungswelle nicht stoppen können. Wir müssen handeln, um der Totalausflaggung der deutschen Tonnage unter unserer Bundesflagge entgegenzuwirken. Es ist sozusagen kurz vor zwölf.
Wir haben von 1984 auf 1987 einen Anstieg der Ausflaggungsrate etwa von 40 auf 60 % erlebt. Diese Entwicklung schreitet mit großen Schritten voran. Wenn nicht gehandelt wird, wird hier das nationale Interesse verletzt; denn eine Totalausflaggung können wir im nationalen Interesse nicht akzeptieren. Wir würden die Versorgungssicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden. Wir würden uns im Exportbereich aus dem wichtigen Dienstleistungssektor abmelden. Wir würden die maritime Verbundwirtschaft an der Küste nicht aufrechterhalten können. Wir müssen daran erinnern, daß heute über 80 To der Aufträge für deutsche Werften von deutschen Schiffahrtsunternehmen kommen. Wir würden die ohnehin geographisch problematische Position der deutschen Seehäfen weiter schwächen.
Im übrigen ist dieses keine isolierte Initiative in der Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr haben die Norweger in einer sehr viel weitergehenden Form auf Antrag der dortigen sozialistischen Regierung Brundtland sich sogar ein offenes Register geschaffen, das heute auch für Drittstaaten als Billigflagge fungieren kann. Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Holland haben Zweitregister in unterschiedlicher Ausprägung. Luxemburg hat eine Vorlage im Parlament und plant dieses mit Blick auf Belgien und auch mit Blick auf Deutschland. Wo stehen wir eigentlich, wenn Luxemburg ein solches attraktives Zweitregister schafft, mit dem Sitz unserer Schiffahrtsunternehmen? Sollen wir zuschauen, daß die Schiffahrtsunternehmen dann zu dem attraktiven Platz Luxemburg wechseln? — Es gibt entsprechende Planungen in Spanien und Portugal — Sie wissen genau, welche Regierungen dort amtieren —, und es gibt erste Initiativen auch in Schweden.
Wir können uns von dieser europäischen Entwicklung nicht abkoppeln.
Würde man dieses tun, verehrte Kollegen der Opposition, dann wäre das nichts anderes, als in einer schwierigen Situation die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und zu sagen: Das wird schon vorübergehen. — Dieses wäre für uns katastrophal.
Ich möchte einmal die Alternative der Ausflaggung mit dem vergleichen, was wir heute beantragen: Bei der Ausflaggung ist die Gefahr der Totalausflaggung, der Verlust aller Bordarbeitsplätze, der Verlust der eigenständigen Berufsgruppe der Seeleute zu befürchten. Wir aber sichern langfristig qualifizierte Bordarbeitsplätze für deutsche Seeleute. Das steht schon in der Begründung des Gesetzentwurfes, und wir haben außerdem, um jedem Zweifel vorzubeugen, eine Entschließung auf den Tisch des Hauses gelegt, damit niemand, der uns in den letzten Monaten wahrheitswidrig diffamiert hat, im Zweifel darüber ist, daß wir diese Personalstruktur auch durch eine umgehende Änderung der Schiffsbesetzungsverordnung absichern werden.
Wir wollen, daß der überwiegende Anteil bei der Schiffsführung sowie die zur Qualifizierung notwendigen Arbeits- und Ausbildungsplätze an Bord gesichert werden. Die Ausflaggung bedeutet Verlust des
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Sozialversicherungsschutzes. Konsequenz für die Betroffenen, auch für die Angehörigen: keine Versorgungsansprüche im Unglücksfall. Das jüngste Beispiel ist der Untergang der MS Pumori im Taifun im Golf von Bengalen. Die deutschen Seeleute, die dort untergegangen sind, haben keinerlei Versicherungsschutz gehabt — es war eine Bremer Reederei betroffen; das Schiff war ausgeflaggt und fuhr unter der Flagge Singapurs —; die Angehörigen haben keinerlei Ansprüche. Dies ist die Wirkung der Ausflaggung.
Wir wollen den deutschen Sozialversicherungsstandard beibehalten, sowohl für deutsche wie auch für ausländische Seeleute an Bord von Schiffen, die im Zusatzregister für internationale Fahrt registriert sind. Ausflaggung bedeutet verminderten Schiffssicherheitsstandard. Zweitregister bedeutet Beibehaltung des deutschen Schiffssicherheitsstandards. Ausflaggung bedeutet mittel- und langfristig Verlagerung der Reedereisitze ins Ausland und damit Verlust maritimer Landarbeitsplätze. Wir sichern mit unserer Initiative auch die zahlenmäßig viel größere Zahl der Landarbeitsplätze, die großen Landorganisationen deutscher Reedereien. Ausflaggung bedeutet Verlust der Versorgungssicherheit im Krisenfall; wir aber gewährleisten den Erhalt einer angemessenen Tonnage unter der Bundesflagge.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wird an Alternativen angeboten, oder was wäre die Alternative? Finanzbeiträge und Steuererleichterungen sind keine Alternative, sondern allein kumulative Teile eines Maßnahmenbündels. Wir müssen in dem Bereich der Finanzbeiträge bzw. der steuerlichen Erleichterungen auch in der Zukunft Anstrengungen unternehmen. Was wird ansonsten angeboten, insbesondere von der ÖTV? Bei der SPD ist es immer sehr unklar, ob sie das eigentlich mitvollzieht, verbal ein bißchen, Anträge werden nicht gestellt, also eine richtig schöne opportunistische Wackelpolitik: Wasch mir den Pelz, und mach mich nicht naß.
Nationale Ladungslenkung wäre für unsere exportorientierte Wirtschaft, die auf offene Seeverkehrsmärkte angewiesen ist, eine Katastrophe. Für unsere Häfen würde das bedeuten: zusätzliche Verkehrsverlagerung zu den Beneluxhäfen; dann können wir den Laden dichtmachen. Dann muß die ÖTV übrigens einmal sagen, ob sie ihre Leute an Bord oder unter den Hafenarbeitern vertreten will. Sie verfolgt hier konkurrierende Zielsetzungen. Dauerhafte Maximalsubventionierung? Ein voller Ausgleich würde etwa 500 Millionen DM erfordern, und dies als Dauersubvention. Ich frage einmal: Ist das finanzierbar, ist das überhaupt EG-rechtlich verträglich? Ich sage: nein. Staatliche Garantietonnage wird da auch angeboten, eine Bundesbahn auf See. Da sage ich nur: Ein Problem „Bundesbahn" reicht uns schon. Im übrigen wäre dies der Einstieg in eine Möglichkeit der Tarifpolitik gegen den Staat. Davor kann man ordnungspolitisch nur nachhaltig warnen.
Ich frage mich, warum eigentlich die Bremer Initiative öffentliche Belobigung von SPD, ÖTV und DAG erfährt. Die Bremer Initiative, die jetzige — die erste war ja eine Abkopiererei unserer Initiative plus Quote
drauf — , ermöglicht eine Schiffsbesetzung unter deutscher Flagge ohne einen einzigen deutschen Seemann einschließlich des Kapitäns. Da können Sie ein Drittel Griechen, ein Drittel Spanier und ein Drittel aus Nicht-EG-Staaten nehmen; so können Sie unter deutscher Flagge besetzen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Frau Wulf-Mathies mir dann die Sorge des Einbruchs portugiesischer Lkw-Fahrer in die Bundesrepublik Deutschland schildert, wenn sie gleichzeitig der Bremer Initiative Beifall klatscht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Fazit: Das Zweitregister bietet gegenüber der Ausflaggung entscheidende Vorteile. Es erhält qualifizierte Bordarbeitsplätze, Sozialversicherungsschutz, Schiffssicherheitsstandard, Rechtsschutz vor deutschen Gerichten, vor allem der wichtigen Arbeitsgerichtsbarkeit,
die Ausbildung zu seemännischen Berufen. Die ÖTV und die SPD behaupten, daß durch dieses Register die deutschen Seeleute ihre Arbeitsplätze verlieren. Dies ist eine schlimme Verdrehung, eine böse Unwahrheit,
die durch die Tatsachen widerlegt werden wird. Die Kollegin Faße geht sogar so weit, öffentlich den Reedern Kündigungstips für deutsche Seeleute zu verabreichen. Ich halte dieses Obstruktionsverhalten für skandalös.
Nicht durch das Zweitregister, sondern durch Ausflaggung gehen Arbeitsplätze verloren. Durch das Zweitregister werden Arbeitsplätze erhalten.
Weder die Verweigerungshaltung der Gewerkschaften noch der Opportunismus der SPD helfen in der Sache weiter.
Vielmehr appelliere ich an die Betroffenen zur Rückkehr zur Vernunft. Notwendig ist jetzt eine konstruktive Mitarbeit bei der Ausgestaltung des Instruments Zweitregister. Der Bundesrat wird darüber zu befinden haben.
Ich sage: Am Anfang der Entwicklung stand die Forderung der damaligen Hansestadtbürgermeister Wedemeier und von Dohnanyi, endlich ein Zweitregister zu schaffen. Ich kann nur fragen: Wo sind die Herren geblieben? Der eine ist aus dem Amt und der andere auf Tauchstation.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist überschritten.
Meine Damen und Herren, wir wollen die notwendigen Anpassungen zeitgleich umsetzen, um zugunsten unseres nationa-
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len Interesses und unserer Handelsflotte dieses wirksame Instrument sehr bald zur Verfügung zu haben.
Das Wort hat die Abgeordnete Faße.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven muß anbauen. Nötig ist ein Erweiterungsbau mit der neuen Abteilung „Deutscher Seemann". Nicht mehr auf deutschen Schiffen, sondern in diesem Museum werden wir den deutschen Seemann in Zukunft finden.
Es gilt, die deutsche Handelsflotte — wie immer man sie definieren mag — zu erhalten. Es gilt, das Ausflaggen zu verhindern; da sind wir uns alle einig. Was uns heute aber vorliegt, erfüllt diese Ansprüche nicht.
Das Gesetz zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr wird eine Ausflaggung nicht verhindern und nur kaum verzögern.
Dieses Gesetz wird keine Rückflaggung zur Folge haben. Dieses Gesetz ist für die Reeder nur ein Teil eines Pakets von Forderungen.
Dieses Gesetz bedeutet aber für über 10 000 Seeleute den Verlust ihrer Arbeitsplätze.
— Welchen Sinn hätte das Gesetz denn sonst? Es soll Kosten in diesem Bereich einsparen. Sie widersprechen sich selber.
Dieses Gesetz schickt Männer in die Arbeitslosigkeit, die an Land kaum eine Chance auf einen neuen Arbeitsplatz haben. Dieses Gesetz wird den Reedern Kosten ersparen, und zwar auf dem Rücken der Seeleute und zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit.
Dieses Gesetz durchbricht die Tarifhoheit der Gewerkschaften. Dieses Gesetz ist der Einstieg, deutsche Arbeitnehmer durch billige ausländische Arbeitskräfte zu ersetzen. Dieses Gesetz ist für uns eindeutig ein Arbeitsplatzvernichtungsgesetz,
das der deutschen Handelsflotte mittelfristig nicht hilft und den Arbeitnehmern schon gar nicht hilft.
Dieses Gesetz wird hier noch von Abgeordneten der Küste vorgelegt. Sie spielen sich hier, Herr Fischer, als Retter der Seefahrt auf. Vielleicht bekommen Sie auch noch einen Heiligenschein. Das wäre ja was.
Eine Sachstandsbeschreibung zur Lage der Handelsflotte kann ich mir hier ersparen. Jeder will das
Ausflaggen der deutschen Schiffe mit all seinen Nachteilen, die ganz unumstritten sind, verhindern.
Es stellt sich aber die Frage, ob ein Zusatzregister sinnvoll ist, ob es sich überhaupt rechnet.
Der Entwurf faßt als Möglichkeit lediglich das Abschließen von Tarifverträgen mit Heimatlandgewerkschaften — so es sie gibt — und damit die Senkung der Personalkosten durch Austausch der derzeitigen Arbeitnehmer gegen Billigseeleute ins Auge. Aber Kosten in der Schiffahrt setzen sich aus zahlreichen Größen zusammen. Diese stehen hier aber leider überhaupt nicht zur Diskussion.
In einem sind sich alle Sachverständigen und natürlich die Reeder einig: Ohne weitere finanziellen Hilfen kann das Ausflaggen nicht verhindert werden. Kostenunterschiede zwischen ausgeflaggten Schiffen und deutschen Schiffen können durch ein Zweitregister nicht beseitigt werden. Konkrete Zusagen finanzieller Art wurden den Reedern aber nicht gemacht, und auch im Verkehrsausschuß war auf Nachfragen nichts zu vermerken.
Da schicken wir unsere Seeleute zum Arbeitsamt, wo ca. 300 Millionen DM jährlich für Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit fällig werden. Da sollen auf der einen Seite Heuersummen in Höhe von ca. 300 Millionen DM eingespart werden, damit auf der anderen Seite Lohnsteuern in Höhe von ca. 65 Millionen DM wegfallen. Volkswirtschaftlich wird hier eine Milchmädchenrechnung zu Lasten der abhängigen Arbeitnehmer aufgemacht.
Das Votum des gerade in diesem Bereich sehr wichtigen Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung scheint überhaupt nicht zu interessieren, obwohl ja mit den Stimmen der Koalitionsmitglieder eine neue Beratung für den Januar angesetzt wurde. Die Ausschußmitglieder möchten ausreichende Beratungszeit. Aber gerade diese Voten — vielleicht ist einem das nicht so angenehm — interessieren überhaupt nicht. Hauptsache durch! Das möge begreifen wer will. Ich nenne das unverantwortliches Handeln.
Rechtliche Bedenken wurden ebenfalls nicht beachtet. Man muß die Aussagen von Sachverständigen ernst nehmen, wenn es um verfassungsrechtliche Bedenken geht. Wer sich darüber hinwegsetzt, kommt leicht in Gefahr, die Verfassung zu brechen. Meine Bedenken in bezug auf Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz bleiben bestehen.
Bisher galt, daß sich die Bezahlung nach der Art der Arbeit, nach deren Dauer und deren Schwierigkeitsgrad und nicht danach richtete, in welchem Land der Arbeitnehmer lebt. Sie heben hier das anerkannte Prinzip, gleiche Arbeit — gleicher Lohn, auf.
Wie sieht die Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen tatsächlich aus? Ist eine Gewerkschaft nicht
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Frau Faße
bereit, den Wunschvorstellungen der Reeder mit einem Ja entgegenzukommen, dann geht dieser halt in einen anderen Staat. Das ist eine einfache Sache. Ausländische Gewerkschaften werden gezwungen, Rückschritte zu machen, um ihren Seeleuten überhaupt noch eine Chance einzuräumen. Gibt es keine Gewerkschaften in den betreffenden Ländern, können Einzelverträge abgeschlossen werden.
Die Auswirkungen dieses Gesetzes für die nationalen Seeleute sind negativ. Nationale Arbeitsplätze werden durch internationale ersetzt. Ersatzarbeitsplätze stehen für die meisten Seeleute nicht zur Verfügung. Spezielle Schulungsprogramme wird es nach Aussage der Regierung im Ausschuß nicht geben.
In der Region treten neben der Zunahme der Arbeitslosigkeit auch Kaufkraftverluste durch den Verlust an Lohnaufkommen ein. Ausbildungseinrichtungen werden stark betroffen. Die Konsequenzen sind vielfältig und betreffen diese Ausbildungseinrichtungen selbst und zusätzlich die Seeberufsgenossenschaft, Seemannsheime, Dienstleistungsunternehmen, Lotsen. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Betroffen sind auch die Sozialversicherungen. Die Seeleute werden wesentlich geringer entlohnt, und da entfällt wohl auch, wie in Norwegen, der Versicherungszwang. Der Sicherheitsstandard eines Schiffes hängt u. a. von der Besatzungszusammensetzung ab. Untersuchungen haben eindeutig festgestellt, daß eine gemischte Besatzung eine erschwerte Kommunikation an Bord bedeutet.
Die Gefahr von Schiffsunfällen steigt. Ich erinnere an den Untergang der Elma Tres. Dieses Containerschiff ist in relativ kurzer Zeit gesunken; es kam auf eine korrekte und schnelle Kommunikation an.
In dieser Streßsituation hat sich herausgestellt, daß die philippinische Besatzung nicht mehr englisch, sondern ihren Heimatdialekt sprach. Von der gesamten Besatzung hat nur der Erste Offizier überlebt.
Die Versorgungssicherheit ist für den Krisen- und Spannungsfall nicht gewährleistet.
Ausländische Seeleute werden in solchen Fällen, wo immer das stattfinden mag, sicherlich nicht der deutschen Flagge die Treue schwören, sondern sehen, daß sie möglichst schnell vom Schiff herunterkommen.
Vergebens haben Seemannsfrauen, stellvertretend für ihre Männer, die Bundesregierung um Hilfe gebeten. Vergebens haben Seebetriebsräte für ihre Kollegen an Bord einen Hungerstreik geführt. Vergebens haben arbeitslose Seeleute, Auszubildende, Gewerkschaften mit Demonstrationen in den Hafenstädten und mit bundesweiten Aktionen auf die Lage eines ganzen Berufsstandes hingewiesen.
Vergebens haben die nautischen Vereine, die Seemannsmission, die Wasserschutzpolizei Briefe geschrieben und Unterschriften gesammelt.
Die Alternative lautet nicht: Ausflaggen oder Zweitregister, sondern sie lautet für uns: finanzielle Hilfen. Wir müssen in jedem Fall mit finanziellen Hilfen weiterarbeiten, denn schon in einigen Monaten werden die Reeder wieder anklopfen und uns sagen: Das Zweitregister allein hat nichts gebracht; wir brauchen weitere finanzielle Entlastungen. — Dann aber wird es kaum noch einen deutschen Seemann an Bord geben, mit Glück einige wenige Führungskräfte. Dann haben wir hier unsere Seeleute geopfert und haben die Väter und Söhne in die Arbeitslosigkeit geschickt.
Was die Bundesregierung vorhat, hilft der deutschen Handelsflotte nicht, sondern es vernichtet Arbeitsplätze deutscher Seeleute und verschlimmert damit die wirtschaftlichen Sorgen an der Küste.
Wir lehnen dieses Gesetz ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die problematische Lage, in der sich die deutsche Seeschiffahrt befindet, ist seit langer Zeit bekannt. Weltweite Übertonnage, Verfall der Frachtraten, eine Konkurrenzsituation zu Billiglohnländern hatten dazu geführt, daß immer mehr deutsche Reeder ausflaggten, also ihr Schiff unter einer anderen Flagge registrieren ließen. Die Kosten der deutschen Flagge waren einfach zu hoch geworden, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Eine weitere Entwicklung bahnte sich an: die Verlagerung der Betriebssitze ins Ausland. Am Beispiel Zyperns läßt sich zeigen, wie fleißig auf dem deutschen Seeschiffmarkt in diese Richtung akquiriert wird.
Auch der neuerdings spürbare Aufschwung des Welthandels und die damit verbundene positive Entwicklung der Raten darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Strukturprobleme damit leider nicht gelöst sind.
Überall in unseren europäischen Nachbarländern gab es bereits zweite Seeschiffahrtsregister unterschiedlicher Struktur oder sie wurden neu eingerichtet, so in Großbritannien, in Frankreich, in Dänemark, in Norwegen. Sogar die nun nicht eben traditionelle Seefahrtnation Luxemburg tummelt sich auf diesem Markt, erkennbar auf die für Luxemburg interessanten deutschen Schiffe zielend, die drauf und dran sind, auszuflaggen. Es mußte etwas geschehen, es mußte gehandelt werden, und zwar schnell, denn bereits heute fahren mehr deutsche Schiffe unter fremder Flagge als unter deutscher Flagge. Allein im Jahre 1987 verloren wir 10 % unserer Flotte durch Ausflaggung.
Nun ist es nicht etwa so, daß nichts getan wurde. Die Bundesregierung hat erhebliche Anstrengungen unternommen, um der deutschen Seeschiffahrt zu helfen — Kollege Fischer hat darauf hingewiesen — , etwa durch die Wiedereinführung der Finanzbeiträge,
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8561
Richter
durch die Umwandlung in nicht rückzahlbare Zuschüsse, die Trennung von Schiffahrts- und Schiffbauhilfe, durch Erleichterung bei den ertragsunabhängigen Steuern usw. Aber all das reichte nicht aus, um die Ausflaggung zu stoppen. Im Gegenteil, die Situation hat sich trotzdem noch verschärft.
Über 2 000 deutsche Seeleute fahren unter fremder Flagge. Das bedeutet für sie, daß sie nicht krankenversichert, daß sie nicht rentenversichert, daß sie nicht arbeitslosenversichert, nicht unfallversichert sind. Die deutschen Sicherheitsstandards gelten an Bord nicht.
Bei all dem Lärm, den die Gewerkschaften im Vorfeld veranstaltet haben: Meine Damen und Herren, wer fragt eigentlich diese Seeleute, ob sie nicht lieber unter den Bedingungen eines deutschen Zusatzregisters fahren wollen?
Die Koalitionsfraktionen haben gehandelt. Sie legen einen Gesetzentwurf vor, der die deutschen Sicherheitsstandards und die deutschen Sozialstandards für die deutschen Seeleute an Bord erhält.
Dieses Gesetz ermöglicht es deutschen Reedern, die im internationalen Verkehr tätig sind, ausländische Seeleute zu den Heuerbedingungen ihrer Heimatländer an Bord zu nehmen. Damit wird beim drückendsten Kostenblock, den Heuerkosten, eine Erleichterung geschaffen. Dieser Schritt ist nicht einfach gewesen, denn sicherlich gehen auch deutsche Arbeitsplätze dabei verloren. Aber es ist der einzige Weg, um deutsche Bordarbeitsplätze überhaupt für die Zukunft zu sichern. Die Alternative wäre die Totalausflaggung
und damit der Verlust aller deutschen Arbeitsplätze an Bord unserer Schiffe.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist bei aller Kontroverse in der Diskussion einfach notwendig. Zu einigen rechtlichen Aspekten wird mein Kollege Funke im Verlaufe der Debatte noch Stellung nehmen.
Die Kritiker bieten als Alternative vor allem den im Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf der Freien Hansestadt Bremen an. Wenn man sich die Historie dieses Gesetzentwurfs anschaut, so wird man feststellen, daß Herr Senator Kunick zunächst das Prinzip der Heimatlohnheuer sehr wohl in seinen Gesetzentwurf hineingeschrieben hatte. Er wollte eine Ausländerquote zu den Bedingungen der Heimatländer einstellen. Das ist schon bemerkenswert, denn er hat damit anerkannt, daß ohne ein Herangehen an den Heuerkostenblock alle anderen Maßnahmen nicht greifen würden. Allerdings war die Heimatlohnheuer bei gleichzeitiger Quotierung mit einem Messer ohne Griff vergleichbar: Es nützt zwar etwas, aber es ist schlecht handhabbar. Senator Kunick hat sich damit nicht durchsetzen können. Die Heimatlohnheuer wurde ihm von seinen Genossen in Bremen herausgestrichen. Was jetzt übriggeblieben ist, meine Damen und Herren, gleicht einem Messer ohne Klinge, dem der Griff fehlt.
Die im Gesetzentwurf Bremens vorgeschlagenen Maßnahmen bleiben hinter denen zurück, die die Koalitionsfraktionen Ihnen in ihrem Gesetzentwurf vorstellen.
Sie mögen im einzelnen diskutabel sein; alleine lösen sie das Problem der deutschen Seeschiffahrt nicht. Sicherlich ist das zweite Register nicht alles. Unsere Schiffahrtspolitik erschöpft sich nicht in einem einzigen Gesetzeswerk. Es wird zu prüfen sein, ob Entlastungen bei den ertragsunabhängigen Steuern möglich sind oder ob man etwa den Montage-Erlaß auf Seeleute anwenden kann. Das Zusatzregister ist nicht alles, aber ohne das Zusatzregister ist alles nichts; denn diese übrigen Maßnahmen allein werden die weitere Ausflaggung nicht verhindern.
Wir wollen der deutschen Seeschiffahrt eine Zukunft erhalten. Es soll auch weiterhin deutsche Seeleute unter deutscher Flagge auf den Meeren geben; es soll vor allem weiterhin eine deutsche Seemannsausbildung geben. Aus diesem Grunde ist der nächste Schritt — dazu fordern wir die Bundesregierung jetzt schon auf — , durch eine Neufassung der Schiffsbesetzungsverordnung dafür Sorge zu tragen, daß eine deutsche Fahrbesatzung ihren Platz an Bord behält und daß eine deutsche seemännische Ausbildung auch durch Ausbildungsplätze an Bord gesichert bleibt.
Dies ist, meine Damen und Herren, auch im wohlverstandenen Interesse der deutschen Reeder.
Der Deutsche Bundestag freilich muß heute die Grundsatzentscheidung treffen. Es geht um nichts anderes als um die Frage, ob in Zukunft die einzigen deutschen Schiffe auf den Weltmeeren die grau gestrichenen Schiffe der deutschen Bundesmarine sein werden oder ob wir weiterhin Handelsschiffahrt betreiben können. Es geht um eine dauerhafte Sicherung qualifizierter Bordarbeitsplätze und damit im Zusammenhang stehender Arbeitsplätze an Land; Kollege Fischer hat auch darauf hingewiesen. Deshalb fordere ich Sie auf, meine Damen und Herren, diesem Gesetz Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort hat die Abgeordnete Rock.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der heute hier zur Verabschiedung anstehende Gesetzentwurf zur Einführung eines Zweitregisters ist ein weiterer Markstein in der Geschichte der unsozialen Gesetzeswerke dieser Bundesregierung.
8562 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
Frau Rock
Er paßt in eine Reihe mit der Novellierung des AFG, der Steuerreform und der Gesundheitsreform.
Er mißachtet in eklatanter Weise die Rechte und die Bedürfnisse von 17 000 Seeleuten und deren Familien, die mit Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs sozialpolitisches Freiwild werden.
Dieser Entwurf, dessen negative Folgen für die Arbeitnehmer weit über den Bereich der Schiffahrt hinausgehen, sollte und soll im Schnellverfahren ohne große Debatte über die Bühne geschafft werden. Die Oppositionsfraktionen haben eine Anhörung durchgesetzt, nach deren Ergebnis die Koalitionsfraktionen diesen Entwurf eigentlich zurückziehen müßten.
Dem Rechtsausschuß als mitberatendem Ausschuß lag bei seiner Beratung das Protokoll dieser Anhörung noch nicht einmal vor, ebensowenig wie bis heute das Protokoll der Sitzung des Rechtsausschusses vorliegt, so daß die dortige Beratung nicht nachvollzogen werden kann. Der Arbeits- und Sozialausschuß hat noch gar nicht darüber beraten, hat aber erheblichen sozialpolitischen Beratungsbedarf signalisiert.
Das alles stört Sie nicht, ebensowenig wie es Sie stört, daß eine Reihe von Verfassungsgrundsätzen wie das Diskriminierungsverbot, die Koalitionsfreiheit und die Berufsfreiheit verletzt werden. Darüber gehen Sie mit ungeheurer Leichtigkeit hinweg. Genauso gehen Sie über die Tatsache hinweg, daß Seeleute einen 20tägigen Hungerstreik auf sich genommen haben, um gegen das Zweitregister und damit gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze zu demonstrieren. Ich frage Sie: Was nehmen Sie eigentlich ernst? Was nehmen Sie überhaupt wahr? Was muß denn eigentlich passieren, damit Sie aufgerüttelt werden? Oder ist inzwischen das Wort Ihres Bundeskanzlers „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter" die politische Leitlinie der Koalition?
Daß mit diesem „Internationalen Schiffsregister" Arbeitsplätze bundesdeutscher Seeleute vernichtet werden, sagen Sie ja ganz offen. Sie tun so, als ob das eine notwendige Operation sei, damit der Patient Handelsschiffahrt überleben könne. Ich finde nur, es ist eine arg merkwürdige Operationsmethode, wenn zwei Drittel des Körpers amputiert werden, damit ein Drittel überleben kann.
Weniger offen und direkt sagen Sie, daß der Patient Handelsschiffahrt nach dieser Amputation auch nur am Tropf der Subvention überleben kann. Die Anhörung hat sehr deutlich gemacht, daß von der in der Begründung angeführten Ersparnis von 680 Millionen DM überhaupt keine Rede sein kann. Sie hätten gut daran getan, dieses Argument des Verbandes Deutscher Reeder nicht ungeprüft zu übernehmen.
Maximal 350 Millionen DM sind durch die Einführung eines Zweitregisters einzusparen. Das klingt nach einer ungeheuer großen Summe. Aber sie wird sehr klein, wenn. Sie eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufmachen. Wenn Sie einmal die Kosten für die Vernichtung von nur 10 000 Arbeitsplätzen, von denen ja auch Sie ausgehen, dagegenrechnen, ergeben Arbeitslosengeld, Steuerausfall und Sozialversicherungsausfall Kosten in Höhe von ca. 350 Millionen DM. Sie haben in der Beratung des Verkehrsausschusses und auch hier eben wieder flankierende Maßnahmen gefordert. Das heißt im Klartext: Subventionen. Es wird also nicht bei diesen 350 Millionen DM bleiben. Genausowenig wird es bei der Vernichtung von nur 10 000 Arbeitsplätzen bleiben. Das ist alles nur die erste Runde.
Sie haben ebenfalls eine Änderung der Schiffsbesetzungsordnung angekündigt. Da ist, finde ich, Vorsicht angeraten. Sie sagen zwar, damit solle sichergestellt werden, daß Kapitän und Offiziere Bundesbürger seien. Sie sagen aber auch, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die deutsche Handelsschifffahrt gerettet werde. Ich denke, diese Änderung der Schiffsbesetzungsordnung muß sehr genau geprüft werden.
Ich will nur kurz anreißen, welche Folgen es für die Sicherheit eines Schiffes hat, wenn der soziale Standard herabgesetzt wird, welche Folgen es auch für die Umwelt haben kann, wenn sich da Veränderungen ergeben. Die Kollegin Faße hat schon auf das Schicksal der Elmar Tres hingewiesen. Ich möchte des weiteren an das Schicksal der Amoco Cadiz und der betroffenen Bevölkerung in Bretagne erinnern. Das spricht für sich und bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Das alles nehmen Sie wohlwissend in Kauf. Ich frage mich: Wofür eigentlich? Ich werde den Verdacht nicht los, daß es Ihnen weniger um die deutsche Handelsflotte geht als vielmehr darum, mit diesem Gesetzentwurf die Tür für eine Schwächung der Gewerkschaften und der Tarifautonomie zu öffnen;
denn mit dem Ansatz der Heuerkosten setzen Sie am völlig falschen Hebel an. Zum einen liegt der Anteil der Heuern an den Gesamtkosten nach Angaben des Instituts für Schiffs- und Meerestechnik der Technischen Universität Berlin in der Linienschiffahrt bei 9 %, in der Trampschiffahrt bei 21 %. Der Kapitalkostenanteil liegt jedoch bei 41 %.
Zum anderen lassen Sie die Tatsache unberücksichtigt, daß es bereits heute in der Bundesrepublik möglich ist, Verträge außerhalb des Manteltarifvertrags abzuschließen, da die Mehrzahl der Reedereien nicht Mitglied in der Tarifgemeinschaft deutscher Reeder ist.
Das zeigt, daß der Gesetzentwurf eben keine Alternative zum Ausflaggen ist und erst recht keine Rückflaggungen stattfinden werden. Sie wollen unter dem Deckmäntelchen des freien Wettbewerbs zurück in die Zeiten des Manchestertums, in denen das Kapital nicht von so etwas Lästigem wie Gewerkschaften, Tarifverträgen und Arbeitszeitverordnungen gestört wurde.
Wie soll denn z. B. ein mauretanischer Seemann, der für Unterkunft und Verpflegung arbeitet, den freien Wettbewerb mit einem Reeder aufnehmen? Das sollten Sie vielleicht erst einmal klarmachen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8563
Frau Rock
Mit der Annahme des Gesetzentwurfes wird aber auch absehbar, daß in anderen Bereichen ausgeflaggt wird. Ein Indiz dafür ist die Pressemitteilung der DAG und der Pilotenvereinigung Cockpit vom 21. November diesen Jahres, in der sich gegen das Ausflaggen von fünf Maschinen der Lufthansa gewandt wird. Ich denke, weitere Bereiche des Transportgewerbes werden sich diese vermeintliche Chance des Ausflaggens nicht entgehen lassen. Sie werden versuchen, gewerkschaftlich erkämpfte Rechte zurückzunehmen.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich wegen der Kürze der Redezeit jetzt leider nicht mehr ausführen kann. In letzter Zeit wird nämlich über den Sinn eines internationalen Wirtschaftsgebietes diskutiert. Dabei geht es darum, nach dem Vorbild der Freizonen in Vigo, Barcelona und Cadiz sogenannte Industriezonen zu schaffen, die nicht nur steuerliche Vorteile bieten, sondern auch Vergünstigungen im Arbeits- und Sozialrecht wie etwa die Aufhebung der nationalen Vorschriften zur Arbeitszeit. Auch die Handelskammer Bremen hat vorgeschlagen, eine solche Zone für Bremen zu schaffen. In der Kürze der Zeit ist es mir leider nicht mehr möglich, auf diesen Bremer Vorschlag einzugehen. Ich möchte mich aber ganz nachdrücklich nicht gegen die Beschäftigung ausländischer Seeleute auf bundesdeutschen Schiffen aussprechen, möchte mich jedoch dagegen aussprechen, daß auf bundesdeutschen Schiffen ein Sozialdumping mit Hilfe ausländischer Seeleute gefahren wird.
Ich wollte jetzt noch einige Worte zu dem Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN sagen. Das ist mir leider nicht mehr möglich; hier blinkt das rote Licht auf.
Ich möchte einen Appell an die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion richten. Wenn dieser Entwurf der Koalitionsfraktionen — womit ja zu rechnen ist, weil Sie es einfach so durchziehen wollen — heute hier angenommen wird, möchte ich Sie bitten, sich bereitzufinden, gemeinsam mit den GRÜNEN eine Normenkontrollklage einzureichen. Ich weiß, daß es sicherlich nicht günstig ist, wenn letztendlich das Bundesverfassungsgericht Gesetze macht. Einen solchen Weg gehen alle mit gewissen Bauchschmerzen. Aber bei mangelnder Bereitschaft der Koalition, Sachargumente aufzunehmen, erscheint mir dies als der einzige Weg, betroffenen Seeleuten und ihren Familien zu helfen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Schulte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt keinen Zweifel, daß die heutigen Beratungen für die deutsche Seeschiffahrt, für die dort tätigen Unternehmen und für die dort arbeitenden Menschen besonders wichtig sind.
Ich verstehe die Sorgen der Kritiker des Gesetzentwurfs, muß aber sofort die Frage nach der Alternative stellen. Die Alternative heißt: Ausflaggung, Verlust
des deutschen Arbeitsrechts, Wegfall unserer Vorschriften für Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit.
Ausflaggung heißt Verlust unserer Bestimmungen für Schiffssicherheit. Ohne deutsche Flagge wird es auch keine Ausbildung zum Beruf des Seemanns in der Bundesrepublik Deutschland mehr geben.
Nur dann, wenn die Alternativen richtig gestellt sind, kann man entscheiden. In zehn Jahren wurde die Tonnage unter deutscher Flagge mehr als halbiert. Der Trend zur Ausflaggung ist ungebrochen, und auf den Weltmeeren stehen alle nur denkbaren Wirtschafts- und Sozialordnungen miteinander in Konkurrenz.
Hier bringt das neue Gesetz ein neues Angebot. Unter deutscher Flagge kann für Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit vorgesorgt werden. Die Sicherheit behält ihr hohes deutsches Niveau.
Mit einer zeitgleich in Kraft tretenden Schiffsbesetzungsordnung wird sichergestellt, daß Deutsche als Führungskräfte auf unseren Schiffen arbeiten oder z. B. als Schiffsmechaniker später die Qualifikation zum Offizier erlangen können.
Also auch in Zukunft wird es bei uns noch eine Ausbildung zum Seemann geben. Die Alternative „Ausflaggung" heißt überall Null.
Vieles, meine Damen und Herren, wurde in der Diskussion verzerrt; wir haben das auch soeben wieder gehört. Die neuen Vorschriften sollen nur für den internationalen Verkehr gelten und für Seeleute, die in der Bundesrepublik Deutschland keinen Wohnsitz haben. Ihnen bringt die deutsche Sozialversicherung und unsere Schiffssicherheit mehr als die Arbeit auf einem „Seelenverkäufer". Die Frage nach der Alternative ist es. Wer kann denn auf der Fahrt zwischen Manila und Rio die Bismarcksche Sozialversicherung erhalten?
Mit seinem neuen Register hat Norwegen den Weg aufgezeigt. Ein Staat nach dem anderen folgt. Überall gibt es Bewegung. Bei uns aber gibt es nur Ausflaggung.
Wir haben nicht mehr viel Zeit, weil wir nicht mehr viele Schiffe haben. Nutzen wir jetzt unsere Chance!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Straßmeir.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich eine Bemerkung dazu machen, daß hier der Beratungszeitraum nicht ausreichend gewährleistet gewesen sei.
— Herr Kollege, seit acht Monaten liegt dieses Gesetz dem Deutschen Bundestag vor, das in seinem Kern einen Paragraphen enthält. Ich meine schon, daß man ihn beraten konnte. Die mitberatenden Ausschüsse
— mit Ausnahme des A + S-Ausschusses — haben beraten und votiert. Es hat ein Hearing gegeben. Dabei
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Straßmeir
habe ich die Kollegen des Arbeitsausschusses nicht sonderlich bemerken können. Wo haben die da gesessen — vielleicht im Keller bei der ÖTV?
Jetzt möchte ich noch einmal sagen: Die Demokratie ist ein System von Chancen. Wer sie nicht nützt, bleibt am Spielfeldrand stehen.
Deswegen werden wir dieses Gesetz heute verabschieden, weil das Verzögern dieses Gesetzes heißt: weitergehende Ausflaggung und weitergehende Arbeitslosigkeit.
Wer das will, der ist gegenüber der Arbeitnehmerschaft lieblos, nachlässig und nicht für sie.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist notwendig für die deutsche Küste. Deswegen stehen im Kopf dieses Gesetzes auch die Namen von Abgeordneten an der Küste. Glauben Sie, die schreiben da oben ihre Namen rein, wenn sie sich in der Heimat damit nicht sehen lassen können?
Oh nein, meine Damen und Herren! Deswegen wird man auch in Zukunft die Namen unserer Kollegen Dirk Fischer und Manfred Richter an der Küste mit gutem Klang nennen können.
Wir werden hier jetzt unsere Pflicht tun. Es ist zum wiederholten Male dargelegt worden, daß dieses Gesetz helfen soll, Arbeitsplätze deutscher Seeleute zu erhalten. Ausbildung zu erhalten, landseitige Dienste zu erhalten, deutsches Sozialversicherungsrecht zu erhalten und auch dafür zu sorgen, daß die Ausflaggung nicht weitergeht.
Deswegen, meine Damen und Herren, sollten wir nicht zögern, heute hier unsere Pflicht zu tun. Dieses Gesetz ist kein Gesetz, das einem den Glanz in die Augen treibt. Aber es ist eine Notwendigkeit, um der deutschen Seeschiffahrt die Hilfen zu geben, die sie braucht. Wir werden weiter daran arbeiten.
Dieses Gesetz ist ein Gesetz in einer Perlenkette von Maßnahmen. Es wird nicht die letzte Maßnahme sein. Wir werden die RVO ändern. Wir werden die Schiffsbesetzungsordnung ändern. Wir werden eine Einrichtungsverordnung machen, und wir werden uns in der Zukunft auch bereit erklären, weiterhin Finanzbeihilfen zu gewähren und auf dem Sektor der steuerlichen Erleichterungen zu arbeiten. Das ist ein Paket, und Sie sitzen da und maulen.
Das Wort hat der Abgeordnete Ewen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gemault wird hier nicht, Kollege Straßmeir, sondern hier wird versucht, eine bessere Regelung vorzuschlagen.
Ich will auf einige Fragen eingehen, die Herr Fischer hier angeschnitten hat. Er hat davon gesprochen, daß wir die SPO lange Jahre nicht geändert haben. Er wird sich daran erinnern, daß bei der SPO-Änderung die Regierung nicht alleine handelt, sondern die Tarifpartner zu beteiligen sind. Das war ein sehr mühseliger Abstimmungsprozeß, der nicht so schnell zu einem Erfolg führte, wie wir uns das manchmal gewünscht haben. Sie werden sicherlich auch noch Erfahrungen sammeln, wenn Sie nun in die Abstimmung dieser Dinge hineingehen.
Sie haben gesagt, wir hätten keine Initiativen vorgebracht. Ich will erst einmal feststellen, daß ja wohl die Regierung und ihre Koalitionsfraktionen in erster Linie zum Handeln gefordert sind. Aber ich will auch darauf aufmerksam machen, daß in all den Jahren im Haushaltsausschuß Initiativen vorgebracht worden sind, und dies hat gute Tradition. In den 70er Jahren sind von den sachverständigen und sachkundigen Kollegen im Haushaltsausschuß wesentliche Anregungen zur Verbesserung der Situation gegeben worden.
— Sie schotten ja auch ab, 1991 ist Schluß. 1990, wenn wir wieder an der Regierung sind, werden wir sie wieder verlängern müssen. Da bin ich voll Ihrer Meinung, denn auch Sie wollen ja Subventionen abbauen. Das wollten wir auch. Beim Regierungswechsel kommt das alles in Ordnung.
Sie haben den UNCTAD-Code gelobt, Herr Kollege Fischer, aber gleichzeitig haben Sie die Ladungslenkung verteufelt und als verheerend dargestellt. Nun müssen Sie sich entscheiden, was Sie wollen. Entweder ist der UNCTAD-Code gut, oder er ist nicht so gut. Wenn er gut ist, dann muß man überlegen, ob man ihn auf andere Fahrtgebiete ausweiten kann. Wir haben diese Forderung nicht übernommen, denn wir wissen auch um die Problematik dieser Forderung. Wir wissen, daß viele deutsche Reeder im cross trade tätig sind.
Herr Staatssekretär Schulte hat die Ausflaggung als einzige Alternative dargestellt. Man kann die Rahmenbedingungen so stellen, daß sie als einzige Alternative erscheinen. Aber ich denke, wir werden auch andere Alternativen kennenlernen. Wenn denn die Ausflaggung so gut gewesen wäre, dann hätte man auch schon vor etwas längerer Zeit einen Regierungsentwurf erwarten dürfen und nicht warten müssen, bis die Koalitionfraktionen einen solchen Entwurf einbringen. Offensichtlich war die Regierung von diesem Instrument nicht ganz so überzeugt, zumal sie sich auch in den Debatten zurückgehalten hat.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zunächst noch einmal auf die Ursachen zurückblenden, die dazu geführt haben, daß wir uns heute mit diesem Gesetzentwurf befassen müssen. Seit vielen Jahren ist die deutsche Handelsflotte im internationalen Wett-
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Ewen
Bewerb nicht wettbewerbsfähig, weil andere Staaten andere Steuerbedingungen, andere arbeitsrechtliche und tarifrechtliche Bedingungen haben, als die deutsche Handelsflotte sie vorfindet.
Deshalb hat es schon seit 1969 immer wieder Hilfen für die Schiffahrt gegeben. Bis 1979 wurden sie in erster Linie als Werfthilfen gegeben, um auf diese Weise zu versuchen, die Kapitalkosten für ein neues Schiff zu senken. Da die Kapitalkosten einen hohen Anteil der Schiffsbetriebskosten ausmachen, war das sicherlich ein richtiger Ansatz. Später mußten zusätzlich Finanzbeiträge geleistet werden, weil auch die Verbilligung der Kapitalkosten durch das Werfthilfeprogramm nicht ausreichte, die Wettbewerbsfähigkeit einer deutschen Handelsflotte unter deutscher Flagge zu sichern. 1972 bis 1982 wurden dafür rund 2,6 Milliarden DM aufgewendet. Trotzdem sind 25 000 Seeleute aus ihrem Beruf ausgeschieden, teilweise wegen Rationalisierungsmaßnahmen und teilweise, weil sie in andere Berufe, Landberufe abgewandert sind.
Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Handelsflotte sichern. Und dies tun alle im Parlament vertretenen Gruppierungen, seit es die schiffahrtspolitischen Leitsätze von 1972 gibt. Allerdings verstand man damals unter „deutscher Handelsflotte" — und das unterscheidet die Handelsflotte des Jahres 1972 von der heutigen — selbstverständlich Schiffe, die deutschen Reedern gehörten, mit deutschen Besatzungen gefahren wurden und in einem hohen Maß Güter aus Deutschland in die Welt transportierten oder Waren für die Bundesrepublik aus der ganzen Welt nach Deutschland brachten. Heute sind viele Schiffe nicht mehr in diesen Fahrtgebieten tätig, sondern im cross trade. Damit stehen diese Schiffe natürlich auch in einem sehr viel schärferen Wettbewerb, nicht nur um Fracht, sondern auch um Frachtraten.
Damit sind wir beim eigentlichen Problem: Es ist nicht etwa so, daß deutsche Schiffe nicht genügend Ladung fänden, sondern sie kriegen nicht die Frachtraten, die erforderlich sind, um davon alle in Deutschland üblicherweise zu zahlenden Leistungen auch bezahlen zu können.
Nun passiert der merkwürdige Vorgang, daß deutsche Schiffe mit deutscher Flagge mit Schiffen konkurrieren, die ebenfalls deutschen Reedern gehören, manchmal sogar demselben — allerdings mit ausgeflaggten Schiffen. Sie sind aus dem deutschen Rechtssystem ausgegliedert. Und sie können dann natürlich auch wesentlich billiger betrieben werden. Dies hat in erheblichem Maße zu Arbeitslosigkeit von Seeleuten geführt und führt weiter dazu, daß der heute noch vorhandene Restbestand an deutschen Schiffen einen Wettbewerbsnachteil gegenüber ausgeflaggten Schiffen hat, der — einverständlich zwischen allen Beteiligten hier — mit rund 500 Millionen DM beziffert wird.
Ich denke, daß es in erster Linie darum geht, diese Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Damit wird es im wesentlichen ein Finanzproblem. In der Vergangenheit ist versucht worden, das mit Hilfe von Finanzbeiträgen zu tun, in diesem Jahr 180 Millionen DM, im nächsten 140 Millionen DM. Aber sie reichen nicht aus. Nun sollen zusätzlich Unternehmenssteuern gesenkt werden, es soll zusätzlich vom Montageerlaß Gebrauch gemacht werden, und in etwa 250 Millionen DM sollen über die Möglichkeit der Beschäftigung von Ausländern zu Bedingungen, die in deren Heimatländern gelten, hereingebracht werden. Damit stellt sich der Staat von einer Hilfe frei und bürdet in dieser Höhe den Arbeitnehmern, den Besatzungsmitgliedern, die Lasten auf. Dies führt dazu — das ist an anderer Stelle schon gesagt worden — , daß wir zunehmend Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu gewähren haben werden.
Wir haben hier etwas erlebt, was ein neues Element in die Tarifverhandlungen bringt, nämlich eine Lohnfindung, die davon ausgeht, daß nach Bedürfnissen bezahlt wird und nicht nach Leistung. Das lehnen wir ab.
Uns erscheint es so, daß dies der Versuch ist, in Zukunft dafür zu sorgen, daß Belastungen, die aus dem internationalen Wettbewerb entstehen, den Arbeitnehmern aufgebürdet werden. Die Gewerkschaften werden dabei als Tarifvertragsparteien weitgehend ausgeschaltet. Wenn Herr de La Trobe davon spricht, daß man ein Drittel der Arbeitsplätze an Bord sichern kann, dann heißt das im Umkehrschluß: Zwei Drittel müssen verschwinden. Da er noch rund 18 000 deutsche Arbeitsplätze angibt, müßten 12 000 arbeitslos werden. Das ist die bittere Kehrseite der Medaille Zusatzregister. Ich denke, daß es ehrlicher gewesen wäre, mit Hilfe der Finanzbeiträge die Leistungen auszugleichen.
Wir haben es hier mit einem Vorgang zu tun, der uns große Sorgen bereitet. Denn wenn man die Reden des Bundesverbandes der Deutschen Industrie oder des Deutschen Industrie- und Handelstages verfolgt, die in bezug auf den europäischen Binnenmarkt gehalten werden, dann stellt man fest, daß immer wieder auf den Industriestandort Bundesrepublik hingewiesen und verlangt wird, daß die Kosten in diesem Lande gesenkt werden, insbesondere die Lohnnebenkosten. Auch die Bundesregierung hat noch vor der Sommerpause im wesentlichen davon geredet, daß man vor einer Liberalisierung eine Harmonisierung durchführen müsse. Diese Töne sind deutlich leiser geworden. Ja, es mehren sich die Anzeichen dafür, daß unter Hinweis auf die hohe Flexibilität und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und auch der Dienstleistungswirtschaft davon abgeraten wird, zunächst auf die Harmonisierung zu vertrauen, sondern eher dem Wettbewerb, um dann noch Aussicht zu haben, im Wettbewerb zu bestehen.
Es geht hier darum, so meine ich, wie im Zusatzregister vorgesehen, dafür zu sorgen, daß der Wettbewerb der Arbeitnehmer aus den verschiedenen Staaten untereinander stattfindet, damit deutsche Arbeitskräfte keinen Startnachteil haben. Wenn der Herr Bundeskanzler ein Lohndumping verhindern will, so kann ich nicht erkennen, daß es darum gehen kann, hier im Bundestag über Harmonisierung von Arbeitsrecht und Arbeitnehmerschutzrechten zu diskutieren, weil man dann auf dem öffentlichen Markt möglicherweise beschließen müßte, Nachteile auszugleichen. Das könnte sich dann nur um Senkungen handeln. Deswegen ist es wohl vernünftiger, so vermute ich,
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Ewen
daß Sie die Arbeitnehmerinteressen den Arbeitgeberinteressen opfern.
Es mag zu denken geben, daß selbst Seefahrtschüler und Studenten des Fachbereichs Seefahrt an der Fachhochschule in Ostfriesland zu diesem Gesetzentwurf nein gesagt haben, obwohl sie doch eigentlich die Begünstigten sein sollten. Hier wird deutlich, daß eine Mogelpackung verkauft werden soll. Der werden wir nicht zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Wochen ist das Getöse um das Gesetz zur Einführung eines Internationalen Seeschiffahrtsregisters groß gewesen. Die Gewerkschaften haben uns mit einer Prozeßlawine bedroht. Soeben hat die Kollegin der GRÜNEN das Normenkontrollverfahren verlangt.
Diese Drohungen dienen weder der deutschen Seeschiffahrt noch den deutschen Seeleuten, noch sind sie in unseren Augen rechtlich haltbar. Wir wissen, daß wir uns mit der Einführung des Internationalen Seeschiffahrtsregisters sicherlich auf neuartigem Rechtsgebiet bewegen. Aus diesem Grunde haben wir diese Rechtsfragen auch besonders gründlich geprüft
und sind der Auffassung, daß sie voll mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung sind. Wir sehen insbesondere in § 21 Abs. 4 des Flaggenrechtsgesetzes keinen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes. Schließlich ist der Gesetzgeber nicht daran gehindert, Ausländern oder ausländischen juristischen Personen, also Gewerkschaften, Rechtspositionen einzuräumen, die auch Deutsche besitzen.
Im übrigen werden die internationalen Bestimmungen des ILO-Abkommens eingehalten. Auch der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG ist nicht verletzt. Eine mögliche Differenzierung der Heuern nach den Heimatländern erscheint uns nicht nur zweckmäßig, sondern in diesem Fall sogar geboten.
Auch bei Art. 12 des Grundgesetzes, der Berufsfreiheit, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach den jeweiligen Rechtsgütern abzuwägen. Wir wissen, daß wir eine deutsche leistungsfähige Handelsflotte unter deutscher Bundesflagge benötigen. Dies ist ein höherwertiges Recht.
Der Grundsatz der Einheitlichkeit der deutschen Handelsflotte ist im übrigen entsprechend Art. 27 GG ebenfalls nicht verletzt. Wir haben Differenzierungen hinsichtlich Art. 27 des Grundgesetzes — darauf hat der Kollege Fischer bereits hingewiesen — mit der Bear-Boat-Charter. Auch insoweit liegt keine Verletzung vor. Insgesamt wird dieses Gesetz vor dem Verfassungsgericht Bestand haben.
Vielen Dank.
Mein Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Einführung des Seeschiffahrtsregisters — Drucksachen 11/2161 und 11/3679 — Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind damit angenommen.
Wir treten in die
Dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt weiter auf Drucksache 11/3679 unter Ziffer 2 die Annahme einer Entschließung. Der Text dieser Entschließung ist wortgleich mit dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/3681. Ich lasse deshalb über beide Texte gemeinsam abstimmen. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit sind die Beschlußempfehlungen des Ausschusses und der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3699 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Punkt 26 der Tagesordnung auf:
Eidesleistung der Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
und
des Bundesministers für Wirtschaft
Meine Damen und Herren, der Herr Bundespräsident hat auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Frau Professor Dr. Ursula Lehr zur Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen, und Gesundheit sowie Herrn Dr. Helmut Haussmann zum Bundesminister für Wirtschaft ernannt.
Nach Art. 64 des Grundgesetzes leisten die Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Frau Bundesministerin, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten.
Ich bitte Sie, den vorgeschriebenen Eid zu leisten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8567
Bundesminister Frau Dr. Lehr
und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Frau Bundesministerin, Sie haben den vom Grundgesetz vorgeschriebenen Eid in Verbindung mit der Amtsübernahme vor dem Bundestag geleistet. Wir sprechen Ihnen für Ihr Amt im Namen dieses Hauses unsere besten Wünsche aus und wünschen Ihnen guten Erfolg. Darf ich Ihnen herzlich gratulieren.
Ich darf Sie, Herr Bundesminister Dr. Haussmann, zur Eidesleistung zu mir bitten. Ich darf auch Sie bitten, den vorgeschriebenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Dr. Haussmann, Sie haben den vorgeschriebenen Eid vor dem Deutschen Bundestag geleistet. Wir möchten Ihnen viel Erfolg für Ihr Amt wünschen und Ihnen herzlich gratulieren.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich darf Gelegenheit nehmen, Herrn Dr. Bangemann von dieser Stelle aus unseren ganz herzlichen Dank für seine Amtsführung zu sagen und ihm viel Erfolg für seine verantwortungsvolle Aufgabe in Brüssel zu wünschen.
Darf ich vielleicht darum bitten, daß die Gratulationscour draußen erfolgt, weil wir hier fortfahren müssen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 8 und 9 auf:
27. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernrath, Bindig, Duve, Ganseforth, Großmann, Koschnick, Luuk, Reimann, Schanz, Schmidt , Dr. Schmude, Schreiner, Sielaff, Dr. Timm, Wartenberg (Berlin), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Lage der Menschenrechte in der Türkei — Drucksache 11/2600 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Hinrichtung von politischen Häftlingen in Indonesien
— Drucksachen 10/6275, 11/3575 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Vogel Duve
Dr. Lippelt
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Menschenrechte in Kolumbien — Drucksache 11/2404 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
ZP9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude, Bulmahn, Dr. Däubler-Gmelin, Duve, Dr. Ehmke , Fischer (Homburg), Ganseforth, Gilges, Großmann, Ibrügger, Kuhlwein, Lambinus, Luuk, Schmidt (Nürnberg), Dr. Skarpelis-Sperk, Stiegler, Voigt (Frankfurt), Waltemathe, Westphal, Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (VN-GV-Res. 39/146)
— Drucksache 11/3668 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß
Die Regierungserklärung wird abgegeben aus Anlaß des 40. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948.
Zur Regierungserklärung liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/3659, 11/3660, 11/3677 und 11/3682 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte zweieinhalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort hat der Bundeskanzler.
8568 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute steht aus Anlaß des 40. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen der Mensch mit seiner Würde, mit seinen Rechten im Mittelpunkt unserer Beratungen.
Ich möchte mich jedoch zuvor menschlicher Trauer, aber auch menschlicher Hoffnung zuwenden, die in drei Ereignissen unserer Tage ganz besonders augenfällig zum Ausdruck kommen:
Gestern ist in Remscheid eine amerikanische Militärmaschine brennend abgestürzt. Der Absturz hat Menschenleben gefordert.
Zahlreiche Personen wurden zum Teil schwer verletzt, viele Häuser zerstört. Ich habe dem Oberbürgermeister der Stadt Remscheid meine tiefempfundene Anteilnahme ausgesprochen und ihn gebeten, diese auch den Angehörigen der Opfer zu übermitteln.
Am Mittwoch hat ein verheerendes Erdbeben den Kaukasus heimgesucht und insbesondere in Armenien eine erschreckende Zahl von Menschenleben gefordert und unermeßliche Schäden angerichtet. Uns alle hat die Nachricht von dieser Tragödie zutiefst getroffen. Ich habe Generalsekretär Gorbatschow und Ministerpräsident Ryschkow unser aufrichtiges Mitgefühl ausgesprochen und sie gebeten, den Hinterbliebenen unsere herzliche Anteilnahme zu übermitteln.
Die Bundesregierung wird — ich bin sicher: mit Unterstützung des ganzen Hauses — im Rahmen ihrer Möglichkeiten helfen, die Not der Betroffenen zu lindern.
Ebenfalls am Mittwoch hat Generalsekretär Gorbatschow vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen für die nächsten zwei Jahre die militärisch bedeutsame einseitige Verminderung der sowjetischen Streitkräfte in Europa und Asien um eine halbe Million Mann und erhebliche Mengen an Waffen und Gerät angekündigt. Ich will diese Ankündigung hier nachdrücklich begrüßen.
Die Ankündigung Generalsekretärs Gorbatschow ist ein wichtiger Schritt in eine von uns gemeinsam mit den Verbündeten seit langem geforderte Richtung: den Abbau der drastischen konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion und des Warschauer Pakts insgesamt.
Meine Damen und Herren, jedermann weiß, daß weder mit dieser Ankündigung noch mit ihrem späteren Vollzug diese Überlegenheit beseitigt und das von uns immer wieder geforderte Gleichgewicht der konventionellen Kräfte hergestellt sein wird. Der politische Wert der angekündigten sowjetischen Maßnahmen liegt für uns vor allem darin, daß — getreu dem Grundsatz „Wer mehr hat, muß mehr abrüsten" — der Prozeß der asymmetrischen Verminderung der Rüstungen fortgesetzt wird. Gerade hieran knüpfen die Menschen ihre Hoffnungen. Sie wollen eine Welt, in der die Sicherheit aller Länder und aller Völker auf
einem wesentlich niedrigeren Niveau der Rüstungen gewährleistet ist. Dies ist das Ziel, auf das wir auch in Zukunft konsequent hinarbeiten werden.
Meine Damen und Herren, wir wissen zu würdigen, daß Generalsekretär Gorbatschow die angekündigten Maßnahmen einseitig und ohne Verknüpfung mit den bevorstehenden Verhandlungen über konventionelle Stabilität in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural durchführen will. Die Wiener Mandatsgespräche müssen jetzt zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden. Die Verhandlungen selbst sollten gleich zu Anfang des kommenden Jahres beginnen. Diese Verhandlungen, das hoffen wir, dürften durch die vorgesehenen sowjetischen Maßnahmen zusätzlichen Auftrieb erhalten.
Die NATO-Außenminister haben gestern in Brüssel unser gemeinsames Verhandlungskonzept verabschiedet. Ich stelle mit Befriedigung fest, daß dieses Konzept noch sehr viel weitergehende Verminderungen von Truppen und Waffen vorsieht — mit dem Ziel, ein stabiles, ausgewogenes Kräfteverhältnis auf niedrigerem Niveau herzustellen und eine Lage in Europa zu schaffen, in der keine Seite über die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive und zum Überraschungsangriff verfügt, wie das für unser Bündnis schon immer der Fall war.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, morgen jährt sich zum 40. Mal eines der herausragenden Daten in der Geschichte unseres Jahrhunderts: Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die damals noch junge Weltorgansiation schuf damit ein Manifest menschlicher Würde und Freiheit, ein Dokument der Hoffnung, das zugleich fortdauernde Mahnung ist.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte reiht sich ein in die Tradition der großen Menschenrechtserklärungen der Geschichte. So knüpft sie an die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 an, ebenso an die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich, deren 200jähriges Jubiläum wir im nächsten Jahr feiern können.
Wir erkennen in der Erklärung der Vereinten Nationen die geistigen Wurzeln unserer eigenen Wertvorstellungen wieder: insbesondere die Überzeugung von der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen — eine Überzeugung, die neben vielem anderen Christen und Juden verbindet — sowie die Idee einer jedem Menschen eigenen Individualsphäre, die der Staat zu respektieren hat.
All dies zählt auch zu unserem unverwechselbaren europäischen Kulturerbe. Und doch geht die Erklärung von 1948 in Wahrheit darüber hinaus: Sie greift Grundsätze auf, die von den meisten der großen Religionen und Philosophien der Welt verfolgt werden.
Allerdings vermeidet es die Erklärung, ihre geistigen Grundlagen konkret offenzulegen. Ich sehe in diesem Verzicht, auch wenn er gelegentlich kritisiert wird, einen Akt vernünftiger Zurückhaltung; denn die weltweite Akzeptanz der Menschenrechte beruht
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Bundeskanzler Dr. Kohl
darauf, daß sie von keinem Kulturkreis ausschießlich für sich reklamiert werden dürfen.
Gerade wir in Europa sollten uns hier vor Herablassung hüten, etwa vor dem Vorurteil, daß man von den Entwicklungsländern die Verwirklichung der Menschenrechte nicht erwarten könne. Auch die Notleidenden in den ärmsten Regionen der Welt brauchen den Respekt vor ihrer menschlichen Würde so notwendig wie das tägliche Brot. Nicht selten findet man gerade unter ihnen ein ganz besonders ausgeprägtes Bewußtsein für diese Würde.
In Wirklichkeit sind die Menschenrechte das Gut der gesamten Menschheit. Sie sind weder ein Luxus noch ein Privileg noch ein Gnadenakt, der von irgendeiner Regierung gewährt oder zurückgenommen werden könnte. Sie sind im eigentlichen Sinne des Wortes Rechte, erworben mit dem Beginn des Lebens, erwachsen aus der unverwechselbaren Persönlichkeit jedes einzelnen und aus dem unverzichtbaren Anspruch auf Achtung seiner Würde.
Es waren vor allem die barbarischen Anschläge auf diese Würde unter der nationalsozialistischen Diktatur, die zur Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führten. Die schrecklichen Erfahrungen hatten den Blick dafür geschärft, daß ein effektiver Schutz der Einzelperson vor Übergriffen der Staatsgewalt allein über das nationale Recht nicht zu gewährleisten ist, daß es vielmehr erforderlich ist, der Allmacht des Staates auch wirkungsvolle völkerrechtliche Schranken zu setzen.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird von dem Ziel getragen, den Menschenrechtsgedanken universell zu stärken, im Bestreben, gemeinsame Grundwerte zu formulieren, die die Völkergemeinschaft über alle Grenzen und Unterschiede hinweg vereinen.
Mit der Erklärung von 1948 wurde von den Vereinten Nationen völkerrechtlich Neuland betreten. Sie unternahmen damit den ersten Schritt, um die ihnen bereits in der UN-Charta übertragene Aufgabe wahrzunehmen. So wurde zum erstenmal der Schutz der Menschenrechte aus seinem bisher ausschließlich nationalen Bezug gelöst und zu einer Angelegenheit der gesamten Staatengemeinschaft erklärt. Ein entscheidender, mehr noch: ein bahnbrechender Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden internationalen Menschenrechtsschutz war damit gelungen.
Der Völkerbund, meine Damen und Herren, hatte noch kein umfassendes Programm zum Schutz der Menschenrechte entwickelt. Damals lag der Schwerpunkt bei der internationalen Zusammenarbeit mehr auf dem Schutz der Minderheiten. Mit der Erklärung von 1948 aber wurde die Verantwortung der Staatengemeinschaft auch und gerade für die Menschenrechte in feierlicher Form proklamiert. Seither ist die Gewährleistung der Menschenrechte nicht mehr die Sache des einzelnen Staates allein. Vielmehr tritt neben staatliche Garantien von Menschenrechten nun auch deren völkerrechtliche Absicherung, die sie gleichzeitig überlagert.
Gewiß, meine Damen und Herren, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist für die UN-Mitgliedstaaten nicht in einer formalen Weise verbindlich, aber sie versteht sich, wie es dort ausdrücklich heißt, als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal" . Damit haben die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen akzeptiert, von der Völkergemeinschaft immer wieder an den Maßstäben gemessen zu werden, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte so eindringlich und überzeugend formuliert sind.
Wer sich jetzt noch in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten beruft, verrät nur sein schlechtes Gewissen. Es hat nichts mit „Einmischung" zu tun, wenn es um die Einforderung von Menschenrechten geht. Im Gegenteil: Wir alle, Regierungen, Kirchen, gesellschaftliche Gruppen, Journalisten, jeder einzelne von uns, sind ausdrücklich aufgerufen, überall dort unsere Stimme zu erheben, wo Völker unterdrückt, wo Menschen verfolgt, gefoltert oder ermordet werden.
Wir haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, unsere Stimme zu erheben: immer, wenn die Würde des Menschen verletzt wird; wenn in Bürgerkriegen Hunger und Entbehrung bewußt als Waffe eingesetzt werden, wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert werden, wenn eine Diktatur Menschen entwurzelt und aus ihren Heimatdörfern vertreibt, wenn Diktaturen ihre politischen Gegner foltern lassen, wenn jetzt wieder mehr und mehr Menschen Opfer religiöser Intoleranz werden, wenn mitten in Europa auf Menschen geschossen wird, deren einziges „Verbrechen" es ist, daß sie ihrem Staat den Rücken kehren wollen.
Diese wenigen Beispiele mahnen uns, in unserem Eintreten für die Menschenrechte nicht nachzulassen. Dabei, meine Damen und Herren, wollen wir auch die lautlosen Mittel der Diplomatie nutzen — aber als Ergänzung, nicht als Ersatz unserer offenen Solidarität mit den Verfolgten und Unterdrückten.
Es ist unser Gewissen, das uns bestimmt, offen zu sprechen. Die Gefährdung des Lebens sowie rassische, religiöse und politische Diskriminierung dürfen von niemandem verharmlost oder gar unterstützt werden, und sei es durch Schweigen. Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international hat recht, wenn sie sagt: Wer schweigt, wird mitschuldig.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um den Mitgliedern von amnesty international für ihr selbstloses Engagement zu danken,
ebenso der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und den vielen anderen, die überall auf der Welt für die Entrechteten und Unterdrückten wirken.
Dieser unermüdliche, von Idealen getragene Einsatz
so vieler — vor allem auch junger — Menschen, ist
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beeindruckend und beispielhaft. Er rüttelt uns gleichzeitig immer wieder auf: wissen wir doch, wie viele Hoffnungen verzweifelter Menschen sich damit verbinden.
Wir dürfen und werden nicht schweigen. Aber, meine Damen und Herren, es dient der Sache der Menschenrechte nicht, wenn wir uns mit wortgewaltigen Erklärungen oder wohlfeilen Sanktionsforderungen gegenseitig zu übertreffen suchen. Wer nach Boykott ruft, muß sich die Frage stellen, ob er den betroffenen Menschen damit wirklich nutzt oder ob er auf diese Weise nur das eigene Gewissen beruhigen will.
Auch die Unterstützung oppositioneller Kräfte steht unter diesem Vorbehalt. Nicht jede sogenannte „Befreiungsbewegung" trägt diesen Namen zu Recht.
Wir müssen uns davor hüten, Bestrebungen zu ermutigen oder aufzuwerten, die die Freiheit mit den gleichen oder gar schlimmeren Mitteln unterjochen würden wie das von ihnen bekämpfte Regime.
Wir wollen nicht Gewalt und nicht Blutvergießen fördern; wir wollen einen friedlichen Wandel zum Wohle der Menschen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, für uns darf auch keine Rolle spielen, ob Menschenrechte von einem autoritären Regime in Lateinamerika oder von einem kommunistischen System in Europa mißachtet werden.
Menschenrechte sind unteilbar, und ebenso unteilbar muß unser Einsatz für ihre Achtung sein.
Ebensowenig darf es einen Unterschied machen, ob ein kleiner Staat die Freiheit unterdrückt oder ein mächtiges Land.
Es gibt zu viele, die in dieser Frage auf einem Auge blind sind.
Aber einseitiges Engagement diskreditiert sich selbst.
Unsere Außenpolitik, meine Damen und Herren, darf weder von doppelter Moral bestimmt werden, noch darf sie wertfrei sein. Wir müssen überall auf der Welt auf eine stärkere Achtung der Menschenrechte hinwirken. Wahr ist aber auch, daß wir als Deutsche eine besondere Verantwortung für unsere Landsleute tragen. Noch immer wird in einem Teil unseres Vaterlandes Deutschen die Freiheit vorenthalten.
Ihnen vor allem gelten unsere Sorge und unser unermüdlicher Einsatz. Wir werden nicht darauf verzichten, Selbstbestimmung und Menschenrechte für alle
Deutschen immer wieder einzufordern. Die Freiheit ist und bleibt der Kern der deutschen Frage.
Auch aus diesem Grunde empfinden wir Deutsche eine besondere Verpflichtung, für Freiheit und Menschenwürde einzutreten — eine Verpflichtung, die uns vor allem durch die eigene Geschichte auferlegt ist. Unser Volk hat die Menschenverachtung des Totalitarismus leidvoll erfahren müssen. Wir dürfen diese Erfahrungen, so schmerzlich und schrecklich sie für uns sind, nie vergessen.
Dieses Wissen lehrt uns Dankbarkeit dafür, daß wir in einer freiheitlichen Demokratie leben dürfen. Es mahnt uns aber auch zu nie ermüdender Wachsamkeit gegenüber allem, was totalitärer Herrschaft den Weg ebnen könnte.
Die Väter und Mütter unserer Verfassung bestimmten im Grundgesetz ganz bewußt die Menschenwürde zum zentralen Begriff unserer politischen Ordnung. Der Art. 1 unserer Verfassung stellt fest:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Nicht zuletzt diese Formulierung ist wesentlich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beeinflußt worden, wie überhaupt diese Erklärung den Grundrechtsteil — jenen essentiellen Kern unserer Verfassung, der für uns Deutsche zu einer Quelle neuer moralischer Kraft geworden ist — mitgeprägt hat.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spricht in ihrer Präambel — auch diese Formulierung ist mit ins Grundgesetz eingeflossen — von den Menschenrechten als der „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt". Sie macht damit deutlich, daß der Schutz der Menschenrechte nicht allein das Verhältnis zwischen Staat und Bürger betrifft. Es geht ebenso um das Zusammenleben der Staaten untereinander, und beides steht in einem unauflösbaren Zusammenhang.
Auch deshalb ist der Schutz der Menschenrechte eine Frage, die die Völkergemeinschaft in ihrer Gesamtheit berührt. Das Bewußtsein über die enge Verbindung zwischen innerem Frieden und Beziehungen nach außen ist in letzter Zeit gewachsen, aber noch immer gibt es — auch in unserem Land — Stimmen, die sich dieser Einsicht verschließen. Es geht um nicht weniger als um eine dauerhafte Ordnung für ein friedliches Zusammenleben der Staaten — eine Ordnung, deren festes Fundament die Achtung vor der Würde des Menschen sein muß.
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte nennt die Stichworte: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, und der Schutz der Menschenrechte bildet den eigentlichen Schlüssel zur Verwirklichung dieser Ideale. Die Menschenrechte — so, wie sie von den Vereinten Nationen niedergelegt und in unserem Grundgesetz bekräftigt wurden — bezeichnen nicht nur den Kern dessen, was wir unter Freiheit verstehen, sie sind auch die Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit innerhalb der Staaten wie zwischen ihnen.
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Aber wir werden noch lange fechten müssen für unsere Idee vom freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei von Furcht und Not lebt. Ich sage ganz bewußt „frei von Furcht und Not" ; denn diese großartige Vision der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehört dazu, wenn wir von Menschenrechten und einem Leben in menschlicher Würde sprechen. Die Armut in den Ländern der Dritten Welt, Krankheiten, Hunger und Elend — sie dürfen uns schon aus mitmenschlicher Solidarität nicht gleichgültig lassen.
Doch hier steht auch der Frieden, der soziale Frieden der Völkergemeinschaft auf dem Spiel, und der ist letztlich stets ein Werk der Gerechtigkeit.
Darum werden wir auch in Zukunft eine Entwicklungspolitik fortsetzen, die den Ärmsten und Schwächsten tatkräftig zur Seite steht.
Aber wir dürfen notleidende Menschen — auch dies gebietet uns die Achtung vor ihrer Würde — damit nicht zu Almosenempfängern machen. Wir müssen ihnen vor allem helfen, sich selbst zu helfen.
Ich sage auch: Ohne die Einhaltung der Menschenrechte gibt es keinen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Menschenrechtsverletzungen — das zeigt uns die Geschichte gerade dieses Jahrhunderts — führen immer wieder zu Bürgerkriegen, zu sozialem Elend und Not. Sie können in kurzer Zeit zerstören, was jahrelange mühevolle Entwicklungsarbeit aufgebaut hat. Wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit können nur dort wachsen, wo Bürgerfreiheiten und Eigentum des arbeitenden Menschen garantiert sind und wo freie Gewerkschaften ungehindert für die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer eintreten können.
Das dritte Lomé-Abkommen zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den sogenannten AKP-Staaten hat zu Recht einen Zusammenhang von Entwicklungspolitik und Menschenrechten hergestellt. Auch bei den Verhandlungen über das Nachfolgeabkommen wird die Bundesregierung dies stets im Auge behalten.
Ohne die Achtung der Menschenrechte gibt es auch keinen Frieden, der diesen Namen wirklich verdient. Nur dort, wo Grenzen überschritten, wo Menschen einander begegnen und wo Meinungen frei geäußert werden dürfen, wachsen Vertrauen und Friedfertigkeit.
Deshalb, meine Damen und Herren, muß eine umfassende Internationale Friedensordnung immer auch eine Freiheitsordnung sein.
Der Weg zu einer solchen Friedens- und Freiheitsordnung wird schwierig und langwierig sein — in Europa und weltweit.
Dennoch können wir am heutigen Tag mit Befriedigung feststellen, daß seit Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Fortschritte erzielt wurden.
Der nordamerikanische Kontinent und ein Teil Europas bilden heute, verbunden in der atlantischen Wertegemeinschaft, eine Allianz für die Grundsätze — wie es im NATO-Vertrag heißt — der „Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts".
Vor allem auch die Europäische Gemeinschaft ist zu einem großartigen Kristallisationspunkt für das Europa der Freiheit geworden,
dessen Ausstrahlungskraft weit über seine Grenzen hinausreicht.
Immer mehr Völker werfen die drückende Last der Willkürherrschaft ab und bekennen sich zu den Grundsätzen freiheitlicher Demokratie. In letzter Zeit ist erfreulicherweise der Demokratisierungsprozeß vor allem in Lateinamerika und auch im asiatischen Raum weiter vorangeschritten. Wir stehen in der Pflicht, den Staaten dort auf ihrem schwierigen Weg zwischen Bürgerkrieg und Gewaltherrschaft nach Kräften zu helfen.
So habe ich am letzten Sonntag Präsident Alfonsin in einem kritischen Augenblick der argentinischen Demokratie unsere besondere Solidarität bekundet.
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt in den meisten Staaten des Warschauer Pakts gibt es heute Entwicklungen, die die Menschen in Ost und West mit Hoffnungen erfüllen. Diese Hoffnungen dürfen nicht enttäuscht werden. Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte bilden den entscheidenden Gradmesser für den Erfolg der Reformpolitik im Zeichen von Glasnost und Perestroika. Wenn immer diese Politik zu solchen Fortschritten beiträgt, kann Generalsekretär Gorbatschow dabei auf unsere Sympathie und unsere Unterstützung rechnen.
Gleichzeitig hat sich auch das internationale System zum Schutz der Menschenrechte fortentwickelt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bedeutete den entscheidenden ersten Schritt in diesem Zusammenhang. Ihre volle Bedeutung erschließt sich uns aber erst durch die Abkommen die später erarbeitet wurden und die dazu beigetragen haben, die Allgemeine Erklärung zu präzisieren und in die Form völkerrechtlich verbindlicher Instrumente zu gießen.
Ich würdige vor allem die beiden UN-Pakte von 1966 über die bürgerlichen und politischen Rechte einerseits sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits.
Gerade wir Deutschen, meine Damen und Herren, haben allen Anlaß, an diese wichtigen Dokumente zu erinnern. Ich erwähne nur Art. 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, in dem das Recht des einzelnen verankert ist, „jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen". Ich erwähne Art. 27 desselben Dokuments, der das Recht von Minderheiten garantiert — ich zitiere —, „ihr ei-
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genes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen".
Im freien Teil unseres Kontinents ist der internationale Schutz der Menschenrechte sogar schon erheblich weiter vorangekommen. Ich will bei dieser Gelegenheit vor allem die unverzichtbare Rolle des Europarats unterstreichen. Indem er die Staaten der Europäischen Gemeinschaft mit den anderen freiheitlichen Demokratien unseres Kontinents verbindet, erinnert er uns immer wieder daran — das können wir gar nicht oft genug aussprechen — , daß Europa eben größer ist als die Gemeinschaft der Zwölf, die so oft im Mittelpunkt des Interesses steht.
Der Europarat ist zu einem Symbol für die geistige Einheit Europas über alle Grenzen hinweg geworden. Er trägt dazu bei, unser gemeinsames kulturelles Erbe zu pflegen, und er bekräftigt die Idee, die der europäischen Einigung zugrunde liegt — die Idee einer Friedensordnung auf der Grundlage von Freiheit und Wahrung der Menschenrechte.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine besondere Bedeutung kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zu. Mit dieser Konvention — vor allem auch mit der Europäischen Menschenrechtskommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte — wurde ein Schutzsystem geschaffen, das in vielfacher Hinsicht vorbildlich ist. Die Dauer der Verfahren ist allerdings oft zu lang, und gemeinsam mit den anderen Partnerstaaten im Europarat werden wir uns darum bemühen, sie erheblich zu verkürzen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde von der Erklärung der Vereinten Nationen zweifellos beeinflußt. Aber ich will an dieser Stelle auch an ihre eigenen, an ihre europäischen Wurzeln erinnern. Bereits auf dem ersten Kongreß der Europäischen Bewegung im Mai 1948 wurde der Plan entworfen, die Menschenrechte mit einer internationalen Garantie zu versehen. Schon damals wurde die Forderung erhoben, in Europa einen Gerichtshof für Menschenrechte einzurichten.
Heute muß es uns darum gehen, das Netz für einen umfassenden und wirkungsvollen Schutz der Menschenrechte immer enger zu knüpfen. So ist z. B. ein Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter geschaffen worden. Die Bundesregierung hat an den Vorbereitungen zu dieser europäischen AntiFolter-Konvention aktiv mitgewirkt und sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt — im November 1987 — in Straßburg gezeichnet. Auch der Entwurf des Vertragsgesetzes ist kürzlich vom Bundeskabinett verabschiedet worden. Mit unserem Bekenntnis zu dieser Konvention bekräftigen wir unsere Abscheu gegenüber jeder Art der Folter. Wir beteiligen uns damit gleichzeitig an der Schaffung eines Kontrollsystems, das in anderen Regionen der Welt als Vorbild dienen soll.
Ein ähnliches Signal wollen wir auch durch die Ratifikation der Anti-Folter-Konvention der Vereinten
Nationen setzen. Die Bundesregierung hat diese Konvention bereits gezeichnet.
All diese Fortschritte bilden wichtige Bausteine im System eines internationalen Schutzes der Menschenrechte.
Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch: wir kommen noch zu langsam voran. Vor allem fehlt ein wirksames Instrumentarium der Vereinten Nationen, um die Achtung der Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Die Bundesregierung wird sich deshalb dafür einsetzen, die bestehenden Kontrollgremien zu stärken — vor allem den Menschenrechtsausschuß und den Ausschuß für Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung — sowie zusätzliche internationale Kontrollinstanzen zu schaffen. Dazu zählen insbesondere ein Hochkommissar für Menschenrechte und ein Internationaler Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Kompetenzen im Idealfall an diejenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranreichen sollten.
Letztlich werden wir aber auch hier nur vorankommen, wenn es gelingt, das Bewußtsein für die Bedeutung der Menschenrechte überall zu fördern sowie den Willen der einzelnen Staaten, sie als ein besonders kostbares Gut zu achten und zu schützen. So müssen wir z. B. dafür sorgen, daß Menschenrechtsverletzungen an Frauen mehr Aufmerksamkeit finden als bisher. Die Bundesregierung hat erst kürzlich in der Beantwortung einer Großen Anfrage ausführlich zu diesem Thema Stellung genommen.
Ich begrüße es, daß diese Große Anfrage auf Initiative der weiblichen Abgeordneten aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zustande gekommen ist.
Auch in diesem Augenblick werden in vielen Teilen der Welt Menschen willkürlich verhaftet, erniedrigt, gefoltert oder gar ermordet. Viele werden wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt und verfemt. In zahlreichen Ländern gibt es keine freie Presse, und den Menschen ist es dort nicht erlaubt, ihre Meinung frei zu sagen. All diesen Menschen gilt unsere Solidarität und unser Versprechen, auch weiterhin für ihre unveräußerlichen Rechte einzutreten.
Für uns in der Bundesrepublik Deutschland ist die Garantie dieser Rechte längst selbstverständlich geworden; für manche vielleicht sogar zu selbstverständlich. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch einmal an jene Bestimmungen unserer Verfassung erinnern, die der Einzelperson für gerichtliche Verfahren Schutz in Form von festen Garantien geben. Und ich füge im Hinblick auf eine anhaltende internationale Diskussion hinzu: Wir wollen, daß die Zahl der Länder immer größer wird, in denen — wie bei uns seit 1949 im Grundgesetz geregelt — die Todesstrafe nicht mehr verhängt werden darf.
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Auch in unserem Land muß — das schulden wir vor allem der jungen Generation — immer wieder daran erinnert werden: Freiheit ist ein Geschenk, das es zu pflegen gilt. Sie muß durch eigene Anstrengungen erhalten und jeden Tag neu verdient werden. Dabei geht es nicht nur darum, den Anfechtungen totalitären Denkens zu widerstehen. Uns erwachsen auch neue, bisher unbekannte Gefahren.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt birgt große Chancen, die wir verantwortungsvoll nutzen wollen. Aber die neuen Möglichkeiten bei Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie — um zwei Beispiele zu nennen — stellen uns vor neue Herausforderungen, die die Würde des Menschen zutiefst berühren können: sein Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf seine unverwechselbare Persönlichkeit. Hier werden wir Regelungen finden müssen, die diesen Gefahren wehren und die uns gleichzeitig erlauben, den Fortschritt in den Dienst der Menschen zu stellen.
Der Schutz der menschlichen Würde bleibt auch unter veränderten Bedingungen eine der großen und vornehmsten Zukunftsaufgaben. Wir werden uns dieser Aufgabe auch weiterhin stellen: im Bewußtsein unserer Verantwortung, aus der Erfahrung gerade unserer Geschichte und im Bekenntnis zu dem Ideal, das die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor 40 Jahren formuliert hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Brandt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre gut, wenn wir miteinander feststellen könnten, im Vorfeld dieses Tages seien weltweit ins Gewicht fallende und dauerhafte Veränderungen zugunsten der Menschenrechte zu verzeichnen, an diesem Tag, da wir uns der 40jährigen Wiederkehr jenes — —
Ich denke, es ist dem Gegenstand nicht angemessen, daß wir nicht aufmerksam zuhören.
Ich darf vielleicht noch einmal sagen, daß ich es gut fände, wir könnten miteinander feststellen, im Vorfeld dieses Tages seien weltweit ins Gewicht fallende und dauerhafte Veränderungen zugunsten der Menschenrechte zu verzeichnen, an diesem Tag, da wir uns der 40jährigen Wiederkehr jenes 10. Dezember 1948 erinnern, an dem durch die Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde.
Tatsächlich haben wir festzustellen, daß, wie es auch in der uns vorliegenden Entschließung heißt, in vielen Staaten der Erde Menschenwürde und Menschenrecht nach wie vor mit Füßen getreten werden. Gleichwohl, so denke ich, sollten wir nicht gering-
schätzen, daß in einer Reihe von Ländern Veränderungen zum Besseren zu verzeichnen sind.
In Chile beispielsweise, das in eine traurige Negativrolle geraten war, hat sich durch die Volksabstimmung vor wenigen Wochen eine gute Chance dafür ergeben, daß demokratische Verhältnisse einkehren und die Zeit der Mißhandlungen endlich zu Ende geht.
In Südkorea, um ein zweites Beispiel zu nennen, wird hart und, wie ich hoffe, erfolgreich darum gerungen, das Erbe böser Willkürherrschaft zu überwinden.
Aus mehreren Ländern in verschiedenen Teilen der Welt liegen Berichte darüber vor, daß sie Fortschritte erzielen auf dem Weg zum inneren Frieden und für die Völker zu menschlicheren Formen, in denen sie regiert werden.
Es ist klar, daß unser besonderes Interesse den teils ermutigenden, teils widersprüchlichen Entwicklungen im anderen Teil Europas gilt. Ich zögere nicht zu sagen, daß es epochale Bedeutung erlangen kann, wenn der Schutz des Individuellen und die Transparenz des Kollektiven, wenn persönliche Freiheit und gemeinsame Verantwortung dort neu bestimmt werden, wo es, woran wir uns gelegentlich erinnern sollten, eine Tradition westlicher Demokratie nicht gibt. Auch diese Erinnerung darf angebracht werden vor dem Hintergrund der schrecklichen Katastrophe, an die der Bundeskanzler einleitend erinnert hat.
Für einen Sozialdemokraten enthält es einen besonderen Reiz, aus Rußland und aus dem kommunistisch regierten Osteuropa bestätigt zu bekommen, daß es ein grundlegender Irrtum war, elementare Menschenrechte geringzuschätzen und mit Bürgern umzugehen, als gehörten sie der Staatsmacht.
Es läßt hoffen, wenn sich die Einsicht durchzusetzen beginnt, daß Sozialismus, wie man diesen im übrigen interpretiert, ohne Demokratie — und dazu gehören garantierte Menschenrechte — nicht funktioniert.
Ich hielte es für mehr als bedauerlich, wenn diese Logik auf deutschem Boden größeren Schwierigkeiten als weiter östlich begegnete.
Hier im Deutschen Bundestag und mit der überwältigenden Mehrheit unseres Volkes sind wir uns gewiß einig in der Hoffnung, daß die auf Schutz von Menschenrechten und auf Sicherung demokratischer Mitverantwortung zielenden Bemühungen dauerhaften Bodengewinn erzielen mögen, und es liegt auf der Hand, daß sich unser Interesse gerade auch auf den anderen deutschen Staat richtet. Entscheidungen zu-
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Brandt
gunsten von mehr Freizügigkeit sind Schritte in die richtige Richtung.
Die Entschließung, der hier zuzustimmen empfohlen wird, spricht jenen nichtstaatlichen Organisationen und den in ihnen tätigen und mit ihnen verbundenen Einzelpersonen Anerkennung aus, jenen, die, wie es wörtlich heißt, „sich unter teilweise hohem persönlichen Risiko für die Verwirklichung der Menschenrechte in aller Welt einsetzen". So weit das Zitat aus der Entschließung. Dies gilt dann nicht zuletzt für die an zahllosen Fällen abzulesende vorbildliche Arbeit von amnesty international, die auch ich hervorheben möchte.
Im diesjährigen Jahresbericht von amnesty international heißt es — ich darf zitieren — :
In über 80 Ländern
— das ist die Hälfte der Staaten der Erde —
sitzen Menschen hinter Gittern, weil sie gewaltlos ihre Meinung geäußert haben. In mehr als einem Drittel der Welt wird von Staats wegen gefoltert. In Dutzenden von Ländern entführen und ermorden Regierungen ihre eigenen Bürger. Mehr als 120 Nationen kennen noch die Todesstrafe.
— Und weiter:
Millionen von Menschen hungern, viele werden gefangen gehalten und nicht wenige gefoltert und getötet. Andere werden wegen ihrer Rasse, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens verfolgt.
Damit schließt mein Zitat.
Meine Damen und Herren, wir erleben, daß dort, wo ein brutaler Krieg zu Ende geht, wie der zwischen Irak und Iran, ganz ernst Menschenrechtsprobleme — vor allem von Gefangenen — bleiben. Wo unerklärter Kriegszustand herrscht, wie in Teilen des Nahen Ostens, sind es immer wieder Kinder, die Gewalthandlungen zum Opfer fallen. Wenn an mehr als einer Stelle Lateinamerikas — unbeschadet der anderen günstigeren Tendenzen, auf die der Bundeskanzler hingewiesen hat — staatlich tolerierte Todesschwadronen neu zu wüten beginnen, sind es immer wieder Verfechter der Bürgerrechte und Feinde der Drogenmafia, die sie mit Vorrang als zum Abschuß freigegeben betrachten.
Vor unseren Augen haben wir also das Bild einer unübersehbaren namenlosen Menge von Menschen, die um die einfachsten Ansprüche ihres Menschseins betrogen werden.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß der Bundeskanzler heute morgen in seiner Erklärung die Verflechtungen zwischen Menschenrechten, Entwicklung und Frieden hervorgehoben hat.
Ich will auch gerne ergänzend ein Wort zu der einleitenden Bemerkung über die Abrüstungsankündigungen des sowjetischen Präsidenten und Generalsekretärs sagen, und zwar möchte ich sagen: Es kommt, glaube ich, in diesen Wochen sehr darauf an, auf Gorbatschow nicht mäkelnd und rechthaberisch, nicht zögerlich und bürokratisch zu reagieren, sondern so, wie es einer Chance von historischer Bedeutung entspricht.
Wir machen uns nicht klar genug, was die andere Seite des Friedens und der Menschenrechte angeht; was es eben gerade unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte bedeutet, wenn 800 Millionen Mitmenschen in der sogenannten Dritten Welt in absoluter Armut vegetieren, wie der Terminus der internationalen Organisationen lautet. Durch die anhaltende Entwicklungskrise werden noch mehr Menschen unter das Existenzminimum gedrückt. Hieraus ergeben sich peinliche Fragen für die Industrieländer, also für uns mit, aber auch für die Eliten im Süden, wenn sie sich mancherorts der Verfolgung jener hingeben, die für nichts anderes als für elementare Lebens- und Bürgerrechte eintreten.
Nun, meine Damen und Herren, angesichts so vieler niederschmetternder Berichte könnte man resignieren. Es kann ja überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß viele Menschen längst abgestumpft sind. Aber unsereins muß sich dann sagen und versuchen, es auch anderen zu vermitteln, daß wir uns mit Resignation und Abstumpfung eben nicht abfinden dürfen. Deshalb ist auch der Nachweis wichtig, daß der Kampf für Menschenrechte nicht immer und überall vergeblich ist und daß es sogar Lichtblicke gibt.
Menschenrechte sind ja nicht nur eine Aufgabe, die Regierungen anvertraut ist, überhaupt nicht nur der Politik anvertraut ist; für eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen mit möchte ich sagen: Zahlreiche Petitionen, die von Betroffenen oder solchen, die sich für sie einsetzen, an uns gerichtet wurden, konnten auch im abgelaufenen Jahr im Dialog mit amtlichen Stellen anderer Staaten erledigt werden. Ich danke an dieser Stelle allen Amtspersonen, auch wenn deren Auffassungen von eigenen Überzeugungen manchmal erheblich abweichen, all denen, die unseren Bitten für ihrer Verantwortung unterstehende Menschen entsprochen haben.
Den Menschen und Organisationen, die sich in Zukunft an uns wenden werden, und den Regierungen, an die sich diese Bitten richten, möchte ich versichern — wieder für andere mit — : Wir kümmern uns so gut wir es können um jeden uns zur Kenntnis gebrachten Fall. Wir werden Regierungen unabhängig von deren Couleur nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die sie ergänzenden völkerrechtlichen Vereinbarungen mehr sein sollen als das geduldige Papier, auf das sie gedruckt wurden, ergibt sich aus ihnen geradezu — und hier treffe ich mich mit dem
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Bundeskanzler — eine Pflicht zur angemessenen Einmischung.
Albert Schweitzer hat gesagt: „Das Wenige, was zu tun ist, ist vieles. " Und das Wenige ist oft nur möglich, wenn es diskret und ohne Lautstärke betrieben wird;
denn Maßstab kann nicht sein: Wie kommst du möglichst leicht in die Nachrichten?
Er kann nur sein: Wie kannst du am wirksamsten helfen?
Ich füge hinzu: Jeder einzelne, jede einzelne ist es wert, daß man sich um ihn, um sie kümmert. Jeder Freigelassene, jede verhinderte Mißhandlung ist ein Erfolg.
Wir sollten doch vielleicht in schmerzlicher Erinnerung haben, daß nicht wenige in unserem Volk seinerzeit zugrunde gehen mußten, weil so viele wegschauten und sich keiner um sie kümmerte.
Das sollte uns zusätzliche Mahnung bleiben, uns um die zu kümmern, die heute anderswo Opfer von Unmenschlichkeit wurden oder werden. Eine Debatte wie die heutige sollte zusammenführen.
Sie sollte allen Beteiligten nachdrücklich nahebringen, daß sich die Menschenrechte für polemische Wettläufe nicht eignen.
Es bedeutet ja eine doppelte Mißhandlung, wenn Menschen, die anderswo bitter leiden, in unserem Teil der Welt auch noch für gruppenegoistische Zwecke oder billige Parteipolitik in Anspruch genommen werden.
Aber Ausdauer wird gewiß denen abverlangt, die sich um Menschenrechte kümmern. Dies wissen vor allem die engagierten Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen; die wissen das noch besser als andere. Sie sollten, wenn sie sich an unsereins wenden, bitte auch dies bedenken: Uns Ungeduld zu vermitteln kann nichts schaden. Es hilft manchmal sogar. Aber durchweg liegt es nicht an uns, wenn Bitten um Intervention nicht umgehend oder überhaupt nicht zu positiven Ergebnissen führen. Meine Akten weisen es aus — ich bin sicher, nicht nur meine — : Es sind oft viele Mahnungen voraufgegangen, ehe ein Fall, ist er denn von uns gar nicht zu lösen, letztlich doch weggelegt werden muß. Leichten Herzens tun wir das nicht, sage ich wieder für andere mit.
Ich weiß, daß sich die meisten Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland viel Mühe geben. Ich weiß auch, daß sich der Bundeskanzler vielerorts draußen für die Menschenrechte eingesetzt hat und weiterhin einsetzen wird. Ich wäre dankbar, er widerspräche zu Hause deutlich, wenn Hilfe mit Propaganda verwechselt wird oder wenn immer mal wieder versucht wird, von wem auch immer, aus den Nöten von Menschen, die vor der Verletzung ihrer elementaren Rechte haben fliehen müssen, politisches Kapital zu schlagen.
Ich füge hinzu: Wer sich andernorts für politische Gefangene einsetzt, darf hier zu Hause nicht durchgehen lassen, daß Verfolgte pauschal als Schwindler und Betrüger hingestellt werden.
Von den demokratischen Parteien, von uns allen wird gerade verlangt, aus gemeinsamer Verantwortung auch solcher Inhumanität zu widersprechen, die sich als Fremdenfeindlichkeit darstellt.
Etwas gewundert hat mich das Lob des Bundeskanzlers auf die Fortentwicklung des menschenrechtlichen Instrumentariums. Das paßt nicht ganz zum konkreten Verhalten der Regierung in den letzten Jahren. Deshalb sage ich behutsam: Die Bundesregierung sollte sich weniger schwer tun, wo es um die Unterstützung anderer Staaten geht, die das menschenrechtliche Instrumentarium weiterzuentwickeln bemüht sind. Die Regierung hat den Ruf, in den letzten Jahren auf der internationalen Ebene gelegentlich gebremst zu haben, sich zu lange bei Vorbehalten aufgehalten zu haben, das Inkrafttreten internationaler Vereinbarungen hinausgezögert zu haben. Erst jetzt haben wir — unsere Fraktion — , nachdem es die Bundesregierung nicht getan hatte, den Prozeß zur Ratifizierung der UN-Konvention gegen Folter — oder, um den vollen Namen zu nennen, wie er auch in unserer Tagesordnung ausgewiesen ist: gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe — eingeleitet. Im übrigen unterstütze ich natürlich mit meinen Freunden die Errichtung des Amtes eines Kommissars der Vereinten Nationen für die Menschenrechte.
Ich habe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, eben von Ausdauer gesprochen und füge jetzt noch das Wort Bescheidenheit hinzu. Wer weiß, wie es um die Menschenrechte steht, kann sich ihrem Schutz, ihrer Verteidigung, wo es konkret wird, nur demütig nähern. Die es hiermit ernst meinen, dürfen nicht auf öffentliches Lob warten und tun es hoffentlich auch nicht. Ihre Arbeit in der Stille, vielfach sogar im Verborgenen ist das, was zählt. Nur so hat auf unsere direkten und indirekten östlichen Nachbarn bezogen in den zurückliegenden Jahren ohne viel Aufhebens einiges bewirkt werden können. Die Dankbriefe von Betroffenen waren uns mehr wert als fernsehwirksames Eigenlob.
Ich darf es hier einmal sagen: Über eine Reihe von Jahren, ehe Glasnost großgeschrieben wurde, hatten
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wir einen nicht selten funktionierenden Weg, um Menschen zu helfen. Er funktionierte, weil wir ihn behutsam nutzten.
Im übrigen noch einmal: Wer für die Rechte von Menschen in Asien, Afrika oder Lateinamerika streitet, muß sich natürlich auch fragen lassen: Wie hälst du es mit den Menschenrechten daheim, wenn etwa Sinti und Roma mancherorts immer noch so behandelt werden, daß sie es als fortwirkende Verfolgung empfinden? Wo es um Hausnummern geht — über das eigene Land hinaus — , wo es um andere Länder geht, die sich mahnende Kritik gefallen lassen müssen, hat mich die Auswahl des Bundeskanzlers nicht voll überzeugt. Man kann dabei die Regierung von Südafrika ebensowenig aussparen wie Menschenrechtsverletzungen im NATO-Mitgliedsland Türkei.
Wo es um Befreiungsbewegungen geht, Herr Bundeskanzler, hätte ich es für angemessener gehalten, wenn bei aller Behutsamkeit, aller Kompliziertheit auch dieser Materie, die mir, denke ich, bewußt ist, doch eine etwas deutlichere Solidarisierung ausgesprochen worden wäre mit den Kräften, die sich, wie im südlichen und südwestlichen Afrika, für die gerechten Ansprüche der Mehrheit der Menschen in ihrem Land einsetzen
und dafür große Opfer auf sich nehmen.
Im unmittelbar vor uns liegenden Jahr wird viel von der großen Französischen Revolution die Rede sein und von der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die aus ihr hervorgingen als Ergebnis, wie wir wissen, einer längeren europäischen geistesgeschichtlichen Tradition. Der Gedanke war ja von Anfang an stärker als seine Verwirklichung. Und welch schreckliche Verschüttungen und Rückschläge hat es dann bis in die jüngste Vergangenheit gegeben! Doch eine anregende und aufrüttelnde Wirkung hat sich immer wieder durchgesetzt bis hin zu den Texten der Vereinten Nationen. Wenn nun Europa sich enger zusammenschließt, wird es gut daran tun, die Tradition der Menschenrechte nicht nur wachzuhalten, sondern auch als eine über Europa hinausreichende Verpflichtung zu begreifen.
Was uns in Deutschland angeht: Wer das Vermächtnis einer besonders schweren Vergangenheit zu tragen hat, braucht das nicht immer nur als Last zu empfinden. Wir können darin auch eine Chance sehen und sie nutzen,
nicht zuletzt menschenrechtlich nutzen, damit nicht noch aus kommenden Generationen Gefangene der Vergangenheit werden.
Danke.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die feierliche Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 war ein Ereignis, das Geschichte gemacht hat, das die Welt verändert hat, und zwar in einem guten Sinn. Zwar waren auch schon vor der Proklamation die Freiheitsrechte des einzelnen Menschen ein zentrales Thema in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die Wurzeln der Menschenrechte reichen schließlich bis in die christliche Lehre vom Naturrecht und in die Aufklärung zurück, und in vielen Verfassungen und Dokumenten waren die Menschenrechte bereits verankert. Aber nie zuvor standen sie offiziell auf der Tagesordnung der internationalen Staatengemeinschaft.
Aus den bitteren Erfahrungen des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs heraus konnten vor 40 Jahren die Menschenrechte zum erstenmal zu einem Maßstab für die Beziehungen der Staaten untereinander werden. Der einzelne Bürger war danach nicht mehr nur das schutzlose Objekt des jeweiligen Staates, sondern er konnte, um seine Persönlichkeitsrechte geltend zu machen, sich von nun an auch auf internationalen Schutz berufen.
Die Vereinten Nationen haben sich ihrer selbstgesetzten Aufgabe in der Folgezeit mit großem Ernst und Nachdruck angenommen. Allerdings ist das Instrumentarium der Vereinten Nationen zur Durchsetzung der Menschenrechte bis heute unvollkommen geblieben. Zum Beispiel sind die Menschenrechte auch heute noch nicht weltweit einklagbar. Auch sind die juristischen Möglichkeiten der UNO unterentwickelt. Der Bundeskanzler ist darauf bereits eingegangen.
Trotzdem sind die großen Verdienste der Vereinten Nationen um die Förderung der Menschenrechte unbestritten. Seit dem 10. Dezember 1948 hat die UNO ein umfassendes menschenrechtliches Kodifizierungswerk geschaffen: vom Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau von 1943 bis hin zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 1984. Als Kernstück sind die beiden internationalen Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen von 1966 zu nennen.
Heute gibt es ein weltweites Normensystem, an dem sich jeder Staat messen lassen muß. Dieses Normensystem gilt ohne Unterschied für alle Länder der Welt. Die Geltung der Menschenrechte kann deshalb auch nicht unter Berufung auf unterschiedliche Kulturtraditionen oder unterschiedliche Ideologien bestritten werden. Die Menschenrechte haben Vorrang vor jeder Ideologie und vor jeder Tradition.
Für alle Menschen dieser Welt haben die Menschenrechtspakte einen unschätzbaren Wert. Es ist deshalb eine unserer wichtigsten Aufgaben, ihre weltweite Geltung zu fördern. Zwar haben inzwischen an die 90 Staaten die Pakte ratifiziert. Aber ihre rechtliche und moralische Wirkung wäre noch stärker, wenn alle Staaten ihnen beiträten. Deshalb ist es sicherlich ein Manko, daß auch zwei ständige Sicherheitsrats-
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Frau Geiger
mitglieder — die Volksrepublik China und die USA — die Pakte noch nicht ratifiziert haben; wobei gerade die Vereinigten Staaten nichts zu befürchten haben; in den USA gelten die Menschenrechte uneingeschränkt.
Es ist ein großer Fortschritt, daß sich jede Regierung für ihr menschenrechtliches Verhalten gegenüber ihren eigenen Staatsbürgern und vor der UNO verantworten muß. Die Ausrede, das sei eine Einmischung in innere Angelegenheiten, konnten Hitler und Stalin noch benutzen. Für Idi Amin, Baby Doc, Bokassa — um nur einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzer der jüngsten Vergangenheit zu nennen — galt diese Ausrede rechtlich nicht mehr, ebensowenig wie sich heute Ceaueşcu oder die iranischen Mullahs dieser Diskussion entziehen können. Herr Brandt, Ihre Liste kann man leider noch erweitern.
Die Vereinten Nationen haben immer wieder den Versuch unternommen, ihr Instrumentarium zur Durchsetzung der Menschenrechte zu verbessern. So hat es durchaus positive Auswirkungen, daß in den Menschenrechtskommissionen der Vereinten Nationen ein Verfahren zur Behandlung von Mitteilungen über Verletzungen von Menschenrechten entwickelt wurde, daß dort Beschwerden von Menschenrechtsorganisationen und von einzelnen Bürgern entgegengenommen und bearbeitet werden und daß auch ein für die betroffenen Staaten gesichtwahrendes vertrauliches Verfahren besteht.
Gegenüber hartnäckigen und unbelehrbaren Menschenrechtsverletzern bleibt aber bis heute nur die Mobilisierung der Weltöffentlichkeit.
Auch unser Parlament muß tätig werden, wo es notwendig wird. Wir haben dies in der Vergangenheit oft und glücklicherweise mit großer Einmütigkeit getan, und wir werden unseren Einsatz für die Menschenrechte konsequent fortsetzen.
Zwei Aspekte haben für die Menschenrechtsthematik ganz entscheidende Bedeutung. Es ist dies zum einen der innere Zusammenhang zwischen der Achtung der Menschenrechte im Inneren eines Staates und seiner Friedensfähigkeit nach außen. Die Wahrung der Menschenrechte im Inneren ist eine Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Völker und Staaten in der Welt. Politische Systeme, die ihren Bürgern die Freiheit nehmen und fundamentale Menschenrechte verweigern, Staaten, in denen es keine Kontrolle der Staatsgewalt durch das Volk und durch unabhängige Gerichte gibt, in denen ein Klima der Angst, des Zwanges und der Bedrohung herrscht, solche Staaten besitzen auch nach außen hin nicht die Eigenschaften, die einen dauerhaften Frieden ermöglichen; im Gegenteil, sie stellen eine andauernde Bedrohung für ihre Nachbarn und damit für den Weltfrieden dar.
Umgekehrt gilt: Staaten, die die Menschenrechte achten, sind von Natur aus nicht in der Lage, durch expansives Machtstreben ihre Nachbarn zu verunsichern und zu bedrohen.
Die Durchsetzung der Menschenrechte ist deshalb ein nicht wegzudenkender Teil jeder Friedenspolitik. Es wäre auch völlig falsch, aus diplomatischen Rücksichten im Namen der Entspannung oder gar aus wirtschaftlichen Gründen Menschenrechtsverletzungen stillschweigend zu dulden. Interessen, die den Menschenrechten übergeordnet sind, darf es nicht geben.
Ich gebe ehrlich zu, daß ich tief betroffen darüber war, daß offenbar weder die vielen Appelle aus aller Welt noch der Einsatz des Bundesaußenministers die iranische Führung dazu bewegen konnten, die Hinrichtungen von zahlreichen politischen Häftlingen zu stoppen und die menschenrechtswidrigen Praktiken aufzugeben.
Bei aller Anerkennung der guten Beziehungen zum Iran, die zum Beispiel Geiselfreilassungen ermöglicht haben, hier ist ein deutliches Zeichen von unserer Seite notwendig!
Der andere Aspekt, den ich betonen möchte, ist die herausragende Stellung der Vereinten Nationen im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Beide Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen haben das Selbstbestimmungsrecht an die Spitze gestellt: Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung; so lautet der erste Satz von Artikel 1 beider Pakte.
Gerade für uns Deutsche, die wir gegen unseren Willen mit der Teilung unseres Vaterlandes leben müssen, haben diese Grundaussagen große Bedeutung. Sie geben uns die Hoffnung, daß eine Friedensordnung in Europa entstehen kann, in der auch das deutsche Volk wieder seine staatliche Einheit erhält.
Menschenrechte und Selbstbestimmung sind die unverzichtbaren Bausteine für jede dauerhafte und gerechte Friedensordnung. Deshalb werden sie auch im Ost-West-Dialog noch lange aktuelle Themen bleiben.
Sie sind die Grundlagen des KSZE-Prozesses. Was am KSZE-Prozef neben den schleppenden Fortschritten zu kritisieren ist, das sind nicht etwa die ausgehandelten Kompromisse, sondern die Tatsache, daß es nach wie vor eine Reihe von Staaten gibt, die eklatant gegen die KSZE-Beschlüsse verstoßen.
Als krassestes Beispiel aus jüngster Zeit muß ich hier erneut Rumänien nennen, dessen Regierung auf die menschenverachtende Zwangsumsiedlungspolitik und die sinnlose Zerstörung von Hunderten von Dörfern nicht verzichten will, auch wenn dieses Programm nun anders genannt wird. Wie im letzten Winter hungern und frieren die Bürger Rumäniens,
weil die Regierung unfähig ist, in diesem einst blühenden Agrarland die Versorgung mit dem Allernotwen-
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Frau Geiger
digsten sicherzustellen und darüber hinaus jede Hilfe aus dem Ausland ablehnt.
Hier muß der internationale Druck so groß werden, damit endlich Vernunft einkehrt.
Unser Grundgesetz, dessen 40. Jahrestag wir in einem halben Jahr feiern, hat uns aus den schlimmen Erfahrungen der Hitlerzeit heraus eine Rechtsordnung gegeben, in der Menschenwürde und Menschenrechte an erster Stelle stehen. Ich glaube, Herr Brand, das ist die Chance, die Sie gemeint haben. Die große Bedeutung, die das Grundgesetz der Verwirklichung der Menschenrechte beimißt, verpflichtet uns dazu, auch nach außen entschlossen für die Achtung der Menschenrechte einzutreten.
An erster Stelle unserer Bemühungen muß naturgemäß die Sorge stehen, daß die Menschenrechte für diejenigen deutschen Staatsbürger und Menschen deutscher Volkszugehörigkeit verwirklicht werden, die nicht unter dem Schutz unseres Grundgesetzes leben. Das hat nichts damit zu tun, daß wir, wie uns oft fälschlich vorgeworfen wird, Menschen deutscher Abstammung abwerben wollen. Wir wollen, daß in den Ländern, in denen deutsche Minderheiten leben, Lebensbedingungen hergestellt werden, die den Menschen das Bleiben ermöglichen. Mit Ungarn z. B. arbeiten wir auf diesem Gebiet erfolgreich zusammen; mit der Sowjetunion gibt es seit der Reise des Bundeskanzlers nach Moskau ermutigende Ansätze.
Wenn aber Deutsche in ihren jetzigen Aufenthaltsländern unter schlimmen Bedingungen leiden, wenn sie keine Zukunft mehr sehen wie z. B. in Rumänien, nehmen wir sie selbstverständlich bei uns mit offenen Armen auf. Auch das ist aktive Menschenrechtspolitik.
Leider gibt es auf der Welt immer noch so viele Menschenrechtsverletzungen, daß ihre Aufzählung den Rahmen dieser Debatte sprengen würde. Die Jahrbücher von amnesty international und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte enthalten dazu bedrückendes Anschauungsmaterial. An dieser Stelle auch meinen herzlichen Dank und den Dank meiner Fraktion allen Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisationen für ihren unermüdlichen Einsatz zugunsten gequälter, mißhandelter und entrechteter Menschen.
Zu Menschenrechtsverletzungen dürfen wir nicht schweigen, ganz gleich, ob sie sich nun vor unserer Tür oder im Sudan, in Burundi oder im Irak ereignen. Es darf keine Rolle spielen, welchem politischen System die jeweilige Regierung zuzurechnen ist; denn alle Menschenrechte sind weder rechts noch links; sie gehören allen Menschen.
Deshalb sollten wir im Bundestag die Menschenrechtsdebatte auch nicht durch innenpolitischen Streit belasten. Dies ist, wie gesagt, in der Vergangenheit glücklicherweise oft gelungen. Ich begrüße daher auch, daß der vorliegende Entschließungsantrag zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von der
Koalition und der SPD-Fraktion gemeinsam eingebracht worden ist.
Unser Parlament hat in dieser Legislaturperiode oft über Menschenrechtsprobleme debattiert, über Chile, über Rumänien, über Panama, über Afghanistan, über die Lage in den von Israel besetzten Gebieten, über den verabscheuungswürdigen Einsatz von chemischen Waffen im Krieg zwischen Iran und Irak. Wir haben über Nicaragua, El Salvador und mehrmals über Südafrika gesprochen.
Es gibt jedoch auch Länder, in denen schlimme Menschenrechtsverletzungen geschehen, ohne daß wir uns eingehend damit befaßt hätten. Ich nenne nur drei Beispiele, obwohl es viel mehr gäbe: In Kuba gibt es laut dem jüngsten Jahresbericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte ca. 15 000 politische Gefangene.
In Vietnam befinden sich der gleichen Quelle zufolge 50 000 bis 100 000 Personen in politischer Haft. In Burundi wurden blutige Stammesmassaker verübt. Auch um Länder, die unserem Blickfeld weiter entrückt sind, sollten wir uns in Zukunft stärker kümmern.
Am Schluß noch eine weitere Anregung für unsere parlamentarische Arbeit: Wir sollten nicht nur negative, sondern auch positive Menschenrechtsentwicklungen aufzeigen. Wir sollten alle die Staaten und Kräfte ermutigen, die entschlossen sind, den Menschenrechten einen größeren Platz einzuräumen. Dabei denke ich zunächst an die Reformbestrebungen in Osteuropa, vor allem in der Sowjetunion und in Ungarn. Wir hoffen, daß die Reformbestrebungen auf den ganzen Ostblock eine ansteckende Wirkung haben werden, vor allem in der DDR, wo die Schikanen für Andersdenkende anhalten.
Unsere tatkräftige Unterstützung verdienen aber auch diejenigen Länder der Dritten Welt, die sich nach Kräften bemühen, den Menschenrechten in ihren Ländern mehr Geltung zu verschaffen, obwohl dies dort aus der geschichtlichen Entwicklung heraus oft ganz besonders schwierig ist. Die Menschenrechtspolitik im Deutschen Bundestag sollte also nicht nur aus Anprangerung und Kritik bestehen, sondern durchaus auch aus Anerkennung und Ermutigung.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 40 Jahren, am 10. Dezember 1948 — ich war noch gar nicht geboren —, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese Verabschiedung folgte als Reaktion auf das nationalsozialistische Terror- und Vernichtungsregime, das weltweit ohne Vergleich steht für die systematische Vernichtung und Ermordung von Millionen Juden in Europa, für die Aussonderung und Ermordung der
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Frau Olms
von den Nazis als „unwertes Leben" definierten Roma und Sinti, Homosexuellen, der sogenannten „Asozialen" und der geistig und körperlich Behinderten, für die Zerschlagung der Deutschen Arbeiterbewegung und die Ermordung ihr Angehörender, für die Verfolgung und Ermordung der sich im Widerstand befundenen Menschen in Ost- und Westeuropa. Vor 40 Jahren versprach diese Erklärung allen Menschen gleiche bürgerliche und politische Rechte.
Die 1948 formulierten Artikel waren als ein internationales Dokument mit universaler Bedeutung ein Fortschritt in der Normsetzung der Würde des Menschen: das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, das Verbot der Sklaverei, das Verbot der Folter, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Asyl. Jedoch zeigten sich damals schon die Grenzen des durch die bürgerliche Aufklärung geprägten westeuropäischen Menschenrechtsbegriffs. Dieser Begriff geht von der Vorstellung aus, daß jedem Menschen mit der Geburt von Natur aus unveräußerliche, unteilbare und universell geltende Rechte zukommen. Diese Individualrechte werden als sogenannte „politische" definiert und den sogenannten „sozialen" gleichgestellt. Es wird aber hierbei die Realität der in kapitalistischen Staaten nach westlichem Demokratiemuster lebenden Menschen ausgeblendet. Es ist doch so, politische Freiheit kann nur in Anspruch genommen werden, wenn soziale Gleichheit gegeben ist. Massenhafte Armut und Verelendung, Menschen, die nicht lesen und schreiben gelernt haben, Wohnungsnot, Säuglings- und Kindersterblichkeit, Erwerbslosigkeit degradieren dieses sogenannte angeborene Menschenrecht auf Freiheit zu einem Recht der Privilegierten, der Reichen, der Besitzenden.
Allein, der Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte — „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" — , verbunden mit den Rechten auf soziale Sicherheit, Arbeit, Bildung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht verwirklicht.
Hier gibt es keine „von Natur" aus unveräußerlichen, unteilbaren und universell geltenden sozialen Rechte, höchstens Ansprüche auf eine vom Staat gewährte soziale Grundsicherung in Form von Sozialhilfe, die jederzeit gekürzt oder gestrichen werden kann, wenn sich die Empfänger und Empfängerinnen dieses Gnadenaktes nicht konform verhalten.
Die Verantwortung für das Leben, die bloße Existenzabsicherung wird an das Individuum abgegeben und das Scheitern in diesem Gesellschaftssystem als individuelle Schuld, als Versagen gebrandmarkt.
Das Verständnis vom westlichen Menschenrechtsbegriff zeigt sich jedoch auch in anderer Form: Die sogenannten westlichen „Garanten der Freiheit" und der Menschenrechte waren und sind gleichzeitig Kolonialmächte, die die aufkommenden Unabhängigkeitsbestrebungen in den „Kolonien" und „Hinterhöfen" ihrer Marktpolitik brutal unterdrückten und unterdrücken. Die Menschen Indiens, Algeriens, Vietnams — um nur einige Beispiele zu nennen — haben am eigenen Leib den Zynismus dieser „Gralshüter" kennengelernt.
In den 40 Jahren seit Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat es zwar keinen dritten Weltkrieg, aber über 140 Kriege in regionalen Gebieten dieser Welt gegeben, und sie werden weiter existieren. Gestern erst wurde hier in der Bundesrepublik wieder Krieg mit tödlichem Ausgang geübt.
Der Exekutivdirektor des UN-Hilfswerks UNICEF erhob anläßlich der Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank im September dieses Jahres in Berlin den Vorwurf, daß allein durch die Schuldenkrise in den letzten Jahren mehr als eine Million Kinder getötet wurden.
Die „Vernichtung von Menschenleben in gesetzlicher Form", die Todesstrafe, ist weltweit noch immer nicht abgeschafft. In einem Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika, von dem Präsident Reagan sagt: „Es ist die gottgewollte Bestimmung dieses großartigen Landes, den anderen Völkern das zu übermitteln, was wir mit Stolz als unsere größte Errungenschaft bezeichnen, die Segnungen der Menschenrechte", wird noch heute in 37 von 50 Staaten die Todesstrafe verhängt. 2 000 Menschen, hauptsächlich schwarze, sitzen in den Gefängnissen und warten — zum Teil schon seit Jahren — auf die Vollstreckung des Hinrichtungsurteils.
Nach 40 Jahren Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte ist diese Welt, dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, weit davon entfernt, Menschenrechte einzuhalten, einzuklagen oder durchzusetzen. 40 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stehen für 40 Jahre Instrumentalisierung des Menschenrechtsbegriffs und für 40 Jahre Verletzung der Menschenrechte.
Menschenrechte werden als Kalkül in der Außen- und Wirtschaftspolitik dieses Landes eingesetzt. Vorrang haben die politische Stabilität, die Zugehörigkeit zum westlichen politischen Lager und die ökonomischen Interessen der westlichen kapitalistischen Industrieländer gegenüber Staaten, die faschistisch sind, sich den Schein einer sogenannten politischen Neutralität und Blockfreiheit oder das Mäntelchen der formal-rechtsstaatlichen Demokratie umhängen.
Folterungen und brutale Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, in Chile, in El Salvador, in Guatemala und in Südafrika werden nicht sanktioniert, die Einhaltung der Menschenrechte höchstens angemahnt; Konsequenzen erfolgen nicht.
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Auf der anderen Seite wird die berechtigte Kritik an Menschenrechtsverletzungen in den osteuropäischen Ländern und die Einhaltung der Menschenrechte hier zum Gradmesser für weitere Gespräche und Abrüstungsverhandlungen gemacht. Richtig ist, daß in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion die elementarsten demokratischen Grundfreiheiten nicht gelten. Versammlungs-, Demonstrations-, Presse- und zum Teil auch die Religionsfreiheit waren in diesen Ländern weitgehend außer Kraft gesetzt.
Die osteuropäischen Länder und die Sowjetunion haben lange Zeit argumentiert, daß das Einklagen der Menschenrechte seitens der westlichen Industriestaaten eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten bedeutet. Seit Unterzeichnung der Schlußakte der KSZE in Helsinki haben unsere östlichen Nachbarstaaten die Menschenrechte faktisch auch für ihren eigenen Machtbereich anerkannt, ohne daß daraus jedoch schon weitreichende Konsequenzen gezogen wurden.
Erst die Reformentwicklungen in Ungarn und die Glasnost-Politik in der Sowjetunion haben dort Diskussionen freigesetzt, die Rechte, vor allem aber den Schutz der einzelnen Bürger vor staatlicher Willkür auch gesetzlich zu sichern. In Ungarn und der Sowjetunion ist — bei aller Unterschiedlichkeit des Verlaufs des Reformprozesses — die Notwendigkeit einer Rechtsstaatlichkeit erkannt worden. Es ist erkannt worden, daß die Diktatur des Proletariats zur Herausbildung despotischer Formen der Herrschaft unter Berufung auf das revolutionäre Subjekt geführt hat,
die das kulturelle, soziale Leben erstickte und die wirtschaftlichen Entwicklungen hemmte. In Ungarn und in der Sowjetunion sind daraus einschneidende Konsequenzen gezogen worden, die vor einem Jahrzehnt noch kaum vorstellbar waren.
Dieser Demokratisierungsprozeß vollzieht sich jedoch nicht in allen Ländern gleichzeitig. Besondere Barrieren existieren vor allem in Rumänien, auch in der DDR und der Tschechoslowakei, wo den Menschen nach wie vor die elementarsten Menschenrechte verwehrt werden.
Staaten, in denen durch soziale Revolutionen Gesellschafsformen entstanden sind, die sich in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem nicht einbinden lassen wollen, werden — wie wir es z. B. aus Nicaragua kennen — mit politischen, ökonomischen und militärischen Sanktionen belegt und die reaktionäre Elite als Freiheitskämpfer und -garanten unterstützt.
Meine Damen und Herren, die Menschenrechtspolitik dieser Bundesregierung, die sich auch als Garant der freiheitlichen Rechte ausgibt, zeichnet sich als einäugig und instrumentalisierend aus. Hierfür nur einige Beispiele: Im Golfkrieg wurden die ökonomischen Interessen der Bundesrepublik durch Waffenlieferungen an den Iran und Irak voll befriedigt. Nach dem Krieg reiste Bundesaußenminister Genscher mit einer Wirtschaftsdelegation in den Iran, vermittelte Geschäfte, schloß ein Kulturabkommen ab, leitete die Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in die Wege, obwohl sich seit Juli dieses Jahres und insbesondere seit dem Waffenstillstandsabkommen im Golf die Berichte über massenhafte Hinrichtungen im Iran häuften. Amnesty international hat diese Hinrichtungen aufgezeigt, und der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission hat im November, vor nicht einmal drei Wochen, einen Bericht hierüber vorgelegt. Noch am Mittwoch haben wir hier auf einer Pressekonferenz erschütternde Berichte von Menschen gehört, deren Familienangehörige in der Nacht zuvor hingerichtet wurden. Es wurden Hunderte, vielleicht auch Tausende von Menschen hingerichtet. Die iranischen Herrschenden geben wie auch sonstwo in der Welt keine öffentliche Rechenschaft ihrer Taten ab, und diese Taten müssen von uns mühsam ermittelt werden.
Nur knapp eine Woche später hat Bauminister Schneider im Gefolge namhafter Manager bundesdeutscher Baufirmen ein Memorandum über die beabsichtigte Beteiligung der bundesdeutschen Bauwirtschaft beim Wiederaufbau des Irans unterzeichnet.
Die Bundesregierung soll jetzt nach der Forderung der Bauwirtschaft positiv über Hermes-Bürgschaften entscheiden. Die massenhaften Hinrichtungen und andere eklatante Menschenrechtsverletzungen sind nicht Hauptgegenstand der Gespräche des Außenministers und seines Anhangs gewesen.
Meine Damen und Herren, am massenhaften Tod und Elend der Menschen im Iran und Irak wird durch den Krieg und beim Wiederaufbau Profit gemacht, die Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Dieser Zynismus ist nicht zu überbieten.
Folterländer, wie die Türkei, deren Staatspräsident Evren hier in der Bundesrepublik mit allen Ehren empfangen wird, das südafrikanische Apartheidregime, gegen das keine Sanktionen verhängt werden sollen, da dies angeblich die schwarze Bevölkerung am härtesten treffen würde, werden hofiert. Hier ließen sich noch unzählige Beispiele finden.
Die politischen und ökonomischen Interessen dieser Bundesregierung, der CDU/CSU/FDP-Koalition und die hinter ihnen stehende Lobby der Konzerne wollen und werden keine Einbußen in der Profitmaximierung in Kauf nehmen. Das ist das wahre Gesicht von Menschenrechtspolitik.
Die spektakulären Auftritte des CDU-Generalsekretärs Geißler 1986 und des Ministers für Arbeit und Sozialordnung, Blüm, 1987 in Chile, sind uns allen noch gut in Erinnerung. Sie „kämpften" angeblich, ausgehend von ihrer christlichen Leitidee der Menschenrechte, für die Menschenrechte in Chile, dies jedoch nur, um nach der Abwirtschaft Pinochets die desolate Situation in Chile aufzufangen und einen Stabilisierungsprozeß für eine christliche Regierung Chiles zu erreichen. Für Südafrika hat dann der
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Frau Olms
„kurze Atem für Menschenrechte" nicht mehr gereicht; in dieses Land reiste Strauß, um das rassistische Regime zu hofieren.
Meine Damen und Herren, Menschenrechte anzuklagen, Berichte über den Hungertod zigtausender Frauen, Kinder und Männer, Berichte über Gewaltübergriffe und Folterungen von Frauen, Kindern und Männern zu lesen, mit diesen Menschen zu reden, ist kaum zu ertragen, verfolgt mich — und sicher auch andere, die diese Berichte lesen und die Gespräche führen — noch in den Träumen. Aber es schärft auch den Blick und die grundsätzliche Haltung und Achtung gegenüber den Rechten des einzelnen Menschenlebens. Mit dem Recht auf Leben und dem Recht auf individuelle Freiheit ist für uns untrennbar das Recht auf Nahrung, das Recht auf eine intakte Umwelt, das Recht auf Wohnung, auf Existenzabsicherung verbunden.
Wie kann sich zum Beispiel ein Kind überhaupt entwickeln, wenn diese Grundvoraussetzungen nicht erfüllt sind, um auch alle anderen Rechte wahrnehmen zu können?
Bei meiner Teilnahme am achten Jahreskongreß des Lateinamerikanischen Verbandes der Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen FEDEFAM in Bogota habe ich Frauen kennengelernt, durch das „Verschwinden" ihrer Kinder, Ehemänner, Eltern und ihre eigene Verfolgung leidvoll geprägt, starke und mutige Frauen, die die Regime ihrer Länder, aber auch die westlichen Industrieländer, diese Bundesrepublik der Mitverantwortung anklagen. Diese Frauen grüße ich von hier aus und wünsche ihnen weiterhin diese Kraft und Stärke.
Es gibt in Lateinamerika 90 000 durch die unabhängigen Menschenrechtsorganisationen registrierte „Verschwundene"; eine für uns neue, aber seit langer Zeit praktizierte „Todesstrafe" in Lateinamerika. In den 10 Tagen, in denen ich in Kolumbien war, sind 55 Menschen erschossen worden, davon allein 43 in Segovia. Der Besuch der bundesdeutschen Delegation in Segovia wurde für uns zu einem traumatischen Erlebnis: Zu sehen, wie Paramilitärs, gedeckt durch das Militär, eine Kleinstadt in ihren Grundfesten zerstören. Die Frauen und Männer von Segovia und anderswo klagen die Militärs und die mit ihnen operierenden Todesschwadronen an, die auch für die Anklagenden bedrohlich sind, weil diese versuchen, eine internationale Öffentlichkeit für das „Verschwindenlassen" zu erreichen.
Beeindruckend war, wie präzise die Frauen die politische, ökonomische und soziale Situation ihres jeweiligen Landes analysierten, sich gegenseitig stützten und den Willen zur Weiterarbeit stärkten.
Auch bei meiner Zusammenarbeit mit Flüchtlingen und Flüchtlingsinitiativen treffe ich oft solche starken und mutigen Frauen. Gewalt, Unterdrückung und Folter von Frauen, die in die Bundesrepublik flüchten, werden in diesem Haus noch viel zu wenig wahrgenommen.
Frauen werden inhaftiert, gefoltert, hingerichtet. Sie werden verachtet, gedemütigt, bestraft, verstümmelt, sind männlicher und staatlicher Gewalt ausgesetzt, weil sie gegen die kulturellen Normen und Sitten — definiert von Männern ihrer jeweiligen Heimatländer — verstoßen und gegen den ihnen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft opponieren.
Frauen werden als Familienangehörige verfolgt, um Aussagen von Vätern, Brüdern, Ehemännern zu erpressen. Frauen werden wegen ihrer politischen Aktivitäten und ihres Widerstandes verfolgt. Die Verfolgung und sexistische Folter sind auch Strafe für sogenanntes „unfrauliches" Handeln und Verhalten.
Gelingt Frauen die Flucht, sind sie auf diesen Wegen ebenfalls Vergewaltigung und Bedrohung durch männliche Schlepper und Fluchthelfer ausgesetzt. Erreichen sie die Bundesrepublik, werden ihre Verfolgungs- und Fluchtgründe nicht anerkannt; ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wird ihnen verwehrt.
Die Flucht überhaupt erst anzutreten, setzt ein hohes Maß an Verzweiflung voraus und erfordert viel Mut und Stärke.
Bei einer dieser Frauen habe ich die Abschiebung bis Zürich verfolgen können. Sie, pakistanische Staatsangehörige, ist von ihrem Ehemann des Ehebruchs bezichtigt worden und befürchtete, gesteinigt zu werden. Die Flucht dieser Frau dauerte zwei Jahre. Danach lebte sie drei Jahre illegal, da ihr Asylantrag abgelehnt wurde, in Berlin. Ihre Fluchtgründe sind nicht anerkannt worden; nach einer Ausweiskontrolle wurde sie in Abschiebehaft genommen und unter Tabletteneinfluß in ein Flugzeug verfrachtet. Ich habe sie bis Zürich begleitet in der Hoffnung, ihr noch helfen zu können, leider vergebens. Ich hoffe, daß sie jetzt überhaupt noch lebt.
All diese Erfahrungen bestärken mich und viele andere, uns immer weiter für das Recht auf Asyl und die Einhaltung und Erweiterung der Menschenrechte und des Menschenrechtsbegriffs einzusetzen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 40. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1988 ist für uns alle ein gegebener Anlaß, über Vision und Wirklichkeit damals, heute und morgen einer Deklaration nachzudenken, die am Anfang einer Epoche verabschiedet wurde, die sich — noch unter den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges und den Untaten des Nationalsozialismus leidend — weltweit nach Frieden und Menschlichkeit sehnte, einer Epoche, die in der Folgezeit jedoch alsbald wieder von neuen Konfrontationen, grausamen Kriegen, von Völkermord und Menschenrechte verachtenden Regimen heimgesucht wurde.
Die in der Erklärung niedergelegte Vision von einer Welt, in der Menschenrechte für jeden Menschen erfahrbar sind, in der Konflikte zwischen Staaten fried-
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Frau Dr. Hamm-Brücher
lich gelöst werden und sich die Fortschritte an der Wirklichkeit messen lassen müssen, ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in diesen vier Jahrzehnten zu so etwas wie einem moralischen und politischen Lehrstück der Menschheit geworden, zu einem Lehrstück, an dem verantwortliche Politiker und viele Menschen in aller Welt zum Besseren, aber auch zum Schlechteren mitgewirkt haben, zu einem Lehrstück, für dessen Ausgang wir — ob wir wollen oder nicht — bewußt oder unbewußt Mitverantwortung tragen. Auch so möchte ich die Debatte und den Verlauf dieser Debatte heute verstehen: als eine Gelegenheit zum Nachdenken, zur nüchternen Bilanz und für einen Blick nach vorn.
Meine Damen und Herren, für die Realisierung von Menschenrechtspolitik im Sinne der Erklärung von 1948 — das wissen alle, die sich damit befassen — gilt die Maxime Max Webers vom „Bohren harter Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft" in ganz besonders eindringlicher Weise. Und weiter im Sinne von Max Weber: Immer von neuem müssen sich die für die Rechte ihrer Mitmenschen kämpfenden Politiker und Bürger mit jener Festigkeit des Herzens wappnen, die selbst beim Scheitern aller Hoffnungen dennoch sagt: Also weiterkämpfen! Wir schulden diesen Menschen auch in dieser Stunde unseren Dank.
Meine Damen und Herren, der Wille zum Bretterbohren begann mit der Einsetzung einer Menschenrechtskommission bei den Vereinten Nationen im Januar 1947, deren Auftrag bereits in der Präambel ihrer Gründungscharta niedergelegt worden war. Fast zwei Jahre waren nötig, um die Erklärung fertigzustellen. Daß dies überhaupt gelang, ist einer Frau, nämlich Eleanor Roosevelt, zu verdanken, an deren Lebenswerk zu erinnern mir im Rahmen dieser Debatte ein ganz besonderes Bedürfnis ist.
Ich bin Eleanor Roosevelt während meines Studienaufenthaltes in den USA 1949/50 begegnet und habe ihre Festigkeit des Herzens in Sachen Menschenrechte beispielgebend erfahren dürfen. Sie hat mir, der jungen, von Scham über das in unserem Namen geschehene Unheil tief erschütterten Deutschen, die Überzeugung vermittelt, daß die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen — jedes Menschen! — und die Bewahrung und Stärkung der Rechte hierfür die Voraussetzung für das Überleben der Menschheit sind.
Eleanor Roosevelt, die Witwe des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, die von 1946 bis 1952 die amerikanische UN-Delegation leitete, verstand diese Aufgabe als das Vermächtnis ihres Mannes, der ja bereits 1941 vor dem amerikanischen Kongreß die menschenrechtlichen Grundprinzipien einer friedenssichernden Nachkriegsentwicklung verkündet hatte. In der von ihr geleiteten Kommission wirkten bemerkenswerte Repräsentanten aus unterschiedlichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen mit, und es ist sehr lohnend, dies noch einmal nachzulesen.
Die Kommissionsmitglieder hatten demzufolge höchst unterschiedliche Verständnisse dafür, was Human Rights nun eigentlich seien. Allein der Persönlichkeit, der Überzeugungskraft und der Beharrlichkeit von Eleanor Roosevelt war es zu verdanken, daß man sich schließlich bei sieben Enthaltungen Ende 1948 — nun schon mitten im Kalten Krieg, meine Damen und Herren — auf den Entwurf dieser Erklärung verständigen konnte. Zu dem zunächst ja geplanten Vertragswerk eines, später von zwei Menschenrechtspakten konnte es damals nicht kommen. Dies dauerte dann noch bis 1966. Bis heute folgten etwa 30 Vereinbarungen. Die wohl wichtigste und folgenreichste ist die Schlußakte der KSZE von Helsinki.
Wenn ich also, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, an die Anfangszeit noch vor meiner Begegnung mit Eleanor Roosevelt zurückdenke, dann muß ich doch nachträglich gestehen, daß ich wie wohl die meisten Deutschen damals mit Erklärungen dieser Art, falls wir sie überhaupt zur Kenntnis nahmen, nicht viel anfangen konnte. Den Begriff „Menschenrechte" kannten wir ja allenfalls vom Hörensagen. Was eine Erklärung dieser Art angesichts der Abermillionen Opfer und der ausweglosen Lage von Abermillionen Überlebenden in Europa und Asien überhaupt bewirken könnte, dafür hatten wir damals kaum ein müdes Achselzucken.
Sicher, meine Damen und Herren, geht es heute Millionen Menschen in der Welt, die von Krieg, Verfolgung und Not heimgesucht sind, ganz ähnlich, wenn sie etwas von solchen Erklärungen hören. Aber eben deshalb wollte ich an diese Ausgangslage vor 40 Jahren erinnern: um damit deutlich zu machen, daß es diese eine Erklärung war, die seither trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen im Bewußtsein der Menschheit und im politischen Handeln von Staaten, Menschengruppen und einzelnen Menschen sehr viel mehr bewirkt hat, als wir es ursprünglich auch nur vorausahnen konnten. Deshalb ist dieser Tag, an dem wir uns dieses Ereignisses erinnern, keine Pflichtübung, sondern eine Verpflichtung für alle, deren Grund- und Menschenrechte so fest garantiert sind wie die unseren. Da stimme ich Ihnen vollständig zu, Herr Kollege Brandt.
Wir können heute feststellen: Das Thema Menschenrechte hat im Verlauf der letzten 40 Jahre eine politische Schubkraft entwickelt. Es ist von der Tagesordnung internationaler Konferenzen, bei Verträgen und in der Zusammenarbeit von Staaten überhaupt nicht mehr wegzudenken.
Im Entspannungsprozeß haben Menschenrechte sowohl innerstaatlich in kommunistischen Ländern als auch zwischenstaatlich in den Ost-West-Beziehungen schneeballartig sich fortsetzende Veränderungen bewirkt, die heute schon wiederholt angeführt wurden. Es gibt heute in freien, aber auch in unfreien Gesellschaften immer mehr Menschen, die sich auf Menschenrechtsvereinbarungen berufen können und sich für die Verwirklichung der Menschenrechte im eigenen Land und in ihren Regionen engagieren. Die Vision von Eleanor Roosevelt ist also doch ein Stück politische Wirklichkeit geworden. Manchmal liest man in der Literatur bereits sogar etwas von einem Völkergewohnheitsrecht, wenn wir auch leider noch
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Frau Dr. Hamm-Brücher
sehr weit von einer kopernikanischen Wende im Völkerrecht entfernt sind.
Damit bin ich bei der Wirklichkeit heute, wie sie sich auch in den vorliegenden Erklärungen und Entschließungen sowie in den verschiedenen Debattenbeiträgen widerspiegelt. In dieser Debatte dürfen wir es ja nicht bei dem Rückblick bewenden lassen. Wir müssen uns der Gegenwart und der Zukunft stellen. Ich möchte bereits Gesagtes gar nicht wiederholen. Ich möchte nur zusammenzufassen versuchen, wo nach unserer Überzeugung die gravierenden Defizite und Probleme liegen, mit denen wir es heute im Ringen um die Einhaltung und Verwirklichung der Menschenrechte zu tun haben. Ich nenne sechs.
Erstens. Obgleich im Verlauf der 40 Jahre seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung zu ihrer Durchsetzung Instrumente wie Kontrollgremien, Berichte, Verurteilungen durch politische Gremien entwickelt wurden, fehlt es doch nach wie vor an den entscheidenden Sanktionsmechanismen, die zur Durchsetzung erforderlich sind. Deshalb fordern wir Liberalen die Einrichtung eines Menschenrechtskommissariats mit einem Kommissar. Wir fordern einen UN-Menschenrechtsgerichtshof auch für Individualklagen. Wir fordern internationale Sanktionen gegen politische, rassische, religiöse, kulturelle Verfolgungen. Wir fordern die weltweite Ächtung der Todesstrafe.
Zweitens. Unterzeichnerstaaten von Menschenrechts- und anderen einschlägigen Vereinbarungen, die dauerhaft gegen Verpflichtungen, die sie mit ihrer Unterschrift übernommen haben, schuldhaft verstoßen, müssen aus der Gemeinschaft der Unterzeichner ausgeschlossen werden können.
Drittens. Viele Bemühungen scheitern, weil es noch kein von allen religiösen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen gemeinsam und verbindlich getragenes Menschenrechtsverständnis gibt. Viele Gespräche mit Frauen und Männern aus der Dritten Welt machen deutlich, daß es das auf absehbare Zeit auch nicht geben wird. Deshalb muß an diesem Verständnis intensiv weitergearbeitet werden. Es darf nicht einfach darüber hinweggegangen werden, daß sich nicht alle Welt an unseren westlichen Vorstellungen von Menschenrechten orientieren wird.
Viertens. Menschenrechtsverletzungen an Frauen: Ich bin dem Herrn Bundeskanzler sehr dankbar, daß er unsere Initiative erwähnt hat; denn diesen Verletzungen werden noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit und wirksame Bekämpfung zuteil. Frau Kollegin Olms hat dazu ein paar bewegende Beispiele gebracht. Wir hoffen, daß es im Zusammenhang mit der Antwort auf unsere Große Anfrage eine gesonderte Debatte über dieses spezielle Thema geben wird. Wir haben hierzu heute übrigens eine eigene Presseveröffentlichung herausgegeben.
Fünftens. Mögliche Fortschritte in einer weltweit verbesserten Menschenrechtspolitik werden häufig — und ganz gelegentlich war auch diese Debatte nicht völlig frei davon — durch Politisierung und Ideologisierung blockiert. Wir dürfen, meine Damen und Herren, diese Debatte auch in den innenpolitischen Auseinandersetzungen wirklich nicht als Schlagstock mißbrauchen. Gerade der Fortschritt in der Zusammenarbeit in den parlamentarischen Ausschüssen hat ja dazu geführt — Sie, Frau Geiger, haben das auch gewürdigt — , daß wir diesen innenpolitischen, parteipolitischen Schlagstock zu Hause lassen, wenn es um diese Fragen geht.
Sechstens. Die Kooperation zwischen Regierungen in allen Menschenrechtsbereichen wird meiner Überzeugung nach noch nicht ausreichend betrieben. Bei uns ist es besser geworden; aber in anderen Parlamenten wird sie doch noch nicht ausreichend durch parlamentarische Zuständigkeiten und vor allem durch interparlamentarische Zusammenarbeit ergänzt und unterstützt. Hier müssen wir wohl eine Art Frühwarnsystem zwischen europäischen Parlamenten und deren zuständigen Ausschüssen einrichten.
Schließlich, meine Damen und Herren, der Blick über die Wirklichkeit von heute hinaus auf die Vision von morgen!
Erstens. Menschenrechtspolitik — das wurde heute auch gesagt — ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Menschenrechtspolitik muß den Grundstein für eine Weltinnenpolitik legen, die der gemeinsamen Verantwortung für das Fortbestehen der Menschheit gerecht wird.
Zweitens. Hierzu müssen Grund- und Menschenrechte Eingang in die Verfassungen aller Staaten und Staatengemeinschaften finden. Diese Rechte müssen nachprüfbar und einklagbar sein und auch der gegenseitigen Nachprüfung offenstehen.
Drittens. Die Verhaltensregeln der Staaten untereinander und die Konfliktregelungen zwischen Staaten müssen völkerrechtsverbindliche Rechtsformen erhalten.
Viertens. Das Engagement von Gruppen und von einzelnen für den Schutz, die Einhaltung und die Stärkung der individuellen und der kollektiven Menschenrechte muß anerkannt, ermutigt und gefördert werden — noch mehr als bisher.
Zu den bereits genannten Beispielen möchte ich hier vor allem auch kirchliche Gruppen, das Komitee Notärzte, das erst in jüngster Zeit in vielen Menschenrechtsfällen in Afghanistan sich ungeheuer eingesetzt hat, zählen.
Schließlich, meine Damen und Herren, sehr wichtig: Menschenrechtsverletzungen beginnen im Kopf. Abneigung, Ablehnung oder gar Haß gegen Fremde im eigenen Land sind Beispiele hierfür, denen wir nicht nachdrücklich genug entgegentreten können und müssen.
Wie vor vierzig Jahren, meine Damen und Herren, und wie es das Beispiel von Eleanor Roosevelt zeigt, kommt es auch heute und morgen auf das an, was ich anfangs mit den Worten Max Webers zitierte: auf das geduldige Bretterbohren, aber auch auf die Festigkeit des Herzens und des Dennochsagens trotz vieler Enttäuschungen.
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Frau Dr. Hamm-Brücher
Vielen Dank.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren 40. Jahrestag wir heute begehen, konkretisiert eines der ganz großen Ziele der Vereinten Nationen. Gemäß Art. 1 Abs. 3 der Charta sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle, ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion, zu fördern und zu festigen. Somit besitzt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 trotz ihres deklaratorischen Charakters weltweite Verbindlichkeit. Daher können und müssen wir die Achtung der Menschenrechte fordern und Menschenrechtsverletzungen zur Sprache bringen, wo immer sie vorkommen. Keine Regierung kann Menschenrechte zur inneren Angelegenheit erklären, in die andere sich nicht einmischen dürfen. Seit 40 Jahren ist die Achtung der Menschenrechte ein universales Prinzip, von dem wir nirgendwo abweichen dürfen.
Der Deutsche Bundestag, der Bundespräsident und die Bundesregierung nutzen alle Wege und Möglichkeiten, auf der Wahrung der Menschenrechte zu bestehen. Es ist das unveräußerliche Recht des Deutschen Bundestages, den Entrechteten in allen Teilen der Welt seine Unterstützung auszudrücken.
Öffentlich geäußerte Empörung und internationaler Druck haben sehr oft zum Einlenken von Regierungen geführt. Sie haben einige Beispiele hier heute morgen genannt. Selbst in Südafrika haben unsere Interventionen und die Interventionen anderer Parlamente in bestimmten Fällen ein solches Einlenken hervorgerufen. In anderen Fällen können Erfolge nur durch stille Bemühungen, Frau Kollegin Olms, erzielt werden. Keine der Geiseln im Libanon wäre durch lautstarke Proteste freigelassen worden, wenn nicht höchste Diskretion bei den Verhandlungen bestanden hätte; das ist das, was Sie gelegentlich — auch im Zusammenhang mit der Reise des Bundesaußenministers — mit „Leisetreterei" verwechseln. Davon kann überhaupt keine Rede sein.
Welcher Weg jeweils der beste ist, muß stets neu beurteilt und entschieden werden. Einerlei, ob wir laut oder leise Menschenrechte einfordern, wir müssen es ohne Unterschiede überall und ohne falsche Rücksichten tun.
Der Bundestag hat auch in diesem Jahr mehrfach bewiesen, daß er bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigt. Er hat den Einsatz von Giftgas im Golfkrieg und gegen die Kurden verurteilt. Er hat auf die drohende Zerstörung rumänischer Dörfer aufmerksam gemacht. Er hat den Irak aufgefordert, den in Nachbarländer geflüchteten Kurden die Rückkehr zu ermöglichen. Er hat sich für die Sharpville-Six eingesetzt und zu ihrer Begnadigung beitragen können.
Wenn wir Menschenrechtsverletzungen in Ländern feststellen, die uns besonders eng verbunden sind,
mag es schwerfallen — und das fiel auch heute morgen auf — , die Dinge beim Namen zu nennen. Aber zur Freundschaft gehört Offenheit. So haben wir hier wiederholt unsere Sorgen über die immer wieder zu verzeichnenden Menschenrechtsverletzungen in türkischen Gefängnissen zum Ausdruck gebracht. Wir haben aber auch Verständnis für die trotz positiver Entwicklung der letzten Jahre immer noch vorhandenen Schwierigkeiten in der Türkei, die ja nicht vergleichbar ist mit einem Land, mit einer Geschichte wie sie etwa andere europäische Staaten aufweisen. Wir beobachten mit Genugtuung, daß dort zumindest das Bewußtsein dafür wächst, daß stärkere Integration in den europäischen Einigungprozeß die Beachtung europäischer Rechtsüberzeugungen voraussetzt.
Auch unsere engen freundschaftlichen Beziehungen zu Israel, meine Damen und Herren, das seinem Selbstverständnis nach an europäischen Maßstäben zu messen ist, hat uns nicht zu Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten schweigen lassen. Gestern vor genau einem Jahr begann im Westjordanland und im Gazastreifen der bis heute anhaltende Aufstand vorwiegend junger Palästinenser, die für ihre Zukunft in den von Israel besetzten Gebieten keine Perspektive mehr sehen. Das Aufbegehren der Bevölkerung hat nichts zu tun und nichts gemein — und darauf hat der Bundesminister des Auswärtigen vor diesem Hause bereits am 11. März dieses Jahres hingewiesen — mit den Kommando- und Terroraktionen extremistischer Gruppen, die sich gegen den Staat Israel und seine Bürger richten und die wir immer und stets verurteilt haben. Diese Erhebung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hat große Teile der palästinensischen Bevölkerung erfaßt. Sie hat mehrere hundert Tote und verletzte Jugendliche gefordert und andere sehr schlimme Folgen gehabt.
Wir unterstützen unsere Freunde in Israel, die sich um den Weg ihres Landes sorgen. Wir erwarten von der künftigen israelischen Regierung, daß sie den wiederholten Appellen der Europäischen Gemeinschaft und der Vollversammlung der Vereinten Nationen endlich Gehör schenkt und die Menschenrechte in den besetzten Gebieten respektiert.
Die Menschenrechtslage im Iran gibt uns Anlaß zu großer Sorge.
Herr Staatsminister, bevor Sie zum nächsten Thema kommen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Schmude, bitte schön.
Herr Staatsminister, sehe ich das richtig, daß Ihr Appell, den Sie an unsere israelischen Freunde gerichtet haben, voll übereinstimmt mit den Sorgen, die der Deutsche Bundestag in seiner Debatte im März hier ausgedrückt hat; Sorgen, die jetzt nach Ablauf eines ganzen Jahres noch dringlicher geworden sind?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Schmude, ich sehe das genauso wie Sie. Ich glaube, deshalb sollte man hier nicht eine Stellungnahme zu solchen schwerwiegenden Vorgängen mit einer anti-israeli-
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Staatsminister Schäfer
schen Einstellung verwechseln, wie das leider immer wieder versucht wird. Ich muß das hier einmal in aller Deutlichkeit sagen. Wir bemühen uns um die Herstellung der Menschenrechte überall. Die Bundesrepublik Deutschland hat auch bei der Verabschiedung der UN-Resolution mitgestimmt, die aus der Sorge der Weltgemeinschaft geboren ist, daß die Zustände so nicht andauern können. Ich glaube, dazu müssen wir auch hier in aller Deutlichkeit ein Wort sagen.
Wir lassen uns dafür hier nicht an den Pranger stellen, meine Damen und Herren.
Die Menschenrechtslage im Iran gibt uns Anlaß zu großer Sorge. Auch hier gilt, daß wir uns besonders betroffen fühlen, weil wir gute Beziehungen zum Iran haben und viele Iraner bei uns leben. Bundesminister Genscher hat Menschenrechtsfragen zu einem zentralen Thema seiner Gespräche in Teheran gemacht. Ich muß mich hier gegen Unterstellungen verwahren, als sei das nur am Rande geschehen, wie das von einigen Kollegen behauptet wurde. Dabei ist er auf die Berichte über vermehrte Hinrichtungen eingegangen, hat sich gegen die Verhängung der Todesstrafe ausgesprochen und sich mit großem Nachdruck für diejenigen Haftfälle eingesetzt, die ihm namentlich bekannt waren.
Ich darf in diesem Zusammenhang nochmals auf das hinweisen, was ich im Ausschuß bereits gesagt habe, daß der Bundesminister der iranischen Regierung dringend empfohlen hat, den Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen nach Iran einreisen zu lassen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Es ist ihm in Aussicht gestellt worden.
Das deutliche Eintreten des Bundesaußenministers für die Menschenrechte ist im übrigen in Teilen der iranischen Presse nach seinem Abflug mit erheblicher Kritik versehen worden.
Wo sollen die Schwerpunkte der künftigen Menschenrechtspolitik der Bundesregierung liegen? Wie können wir auf die stärkere Beachtung der Menschenrechte in aller Welt hinwirken? Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, religiöse Intoleranz und totalitäre Selbstherrlichkeit müssen wir überwinden. Sie sind Ursache zahlreicher Menschenrechtsverletzungen, die besonders bei Bürgerkriegen und inneren Unruhen in letzter Zeit in vielen Teilen der Welt gefährlich eskalieren. Es ist ein Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, aus dem die Menschheit herauskommen muß, wenn sie ihr Überleben langfristig sichern will. So verstanden ist Menschenrechtspolitik auch Sicherheitspolitik. Wer die Menschenrechte bei sich achtet, wird die Rechte anderer Staaten respektieren. Wer zu Hause Unterdrückung zur Maxime politischen Handelns erhebt, wird auch in der internationalen Gemeinschaft zum Störenfried werden.
Deutsche waren in diesem Jahrhundert mitverantwortlich für eine schreckliche Mißachtung der Menschenrechte in ihrem Land und in fast ganz Europa. Viele Deutsche haben damals geschwiegen. Schweigen dürfen und wollen wir heute nicht mehr, wenn Menschenrechte verletzt werden, einerlei, wo dies geschieht und durch wen dies geschieht.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt leider zahllose Gründe, schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen zu beklagen und über ihre Häufigkeit erschreckt zu sein. Darauf ist auch in dieser Debatte mehrfach und mit Recht hingewiesen worden. Aber, meine Damen und Herren, Hinweise und Appelle sind nur so viel wert, wie auch unsere eigenen Taten solchen Appellen entsprechen.
Von ganz besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie wir unsere Antwort auf Menschenrechtsverletzungen geben, wenn die Betroffenen als Asylsuchende in unser Land kommen.
Ich habe dankbar festgestellt, daß der Bundeskanzler vor kurzem jeder Änderung des Asylgrundrechts eine deutliche Absage erteilt hat. Aber
nun bitte ich ihn auch, der von seinen süddeutschen Parteifreunden quälend und immer wiederholt betriebenen Kampagne gegen dieses Grundrecht endlich Einhalt zu gebieten.
Das Ausmaß des Elends der Menschenrechte darf aber nicht dazu verleiten, die in vielen Ländern eingetretenen nachhaltigen Verbesserungen der menschenrechtlichen Lage zu übersehen. Menschenrechtserörterung darf nicht nur Problemschilderung sein, sie darf sich nicht in Klagen erschöpfen, und sie darf vor allen Dingen nicht in Resignation hineinführen. Das wäre nämlich eine andere Art der Einseitigkeit, die das ganze Bild verkürzt. Denn auch zur Ermutigung gibt es Anlaß, und das nicht nur vereinzelt. Meinen Redebeitrag möchte ich nutzen, um diesen Gesichtspunkt der Ermutigung zu betonen.
Entwicklung, Verwirklichung und Sicherung der Menschenrechte erfolgen in einem langwierigen Prozeß, der schmerzhafte Stadien abschließen und Hindernisse überwinden muß. Im ganzen gesehen ist dieser Prozeß seit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor vierzig Jahren und vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten erfreulich verlaufen. Ich bin Ihnen, Frau Hamm-Brücher, sehr dankbar, daß Sie unseren Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser allgemeinen Erklärung gelenkt haben.
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Dr. Schmude
Inzwischen befinden wir uns in einer Entwicklungsphase, die, so glaube ich, zu weiteren Hoffnungen auf einen erfreulichen Verlauf Anlaß gibt. Das gilt sogar für den Umgang mit der Todesstrafe. In Westeuropa ist sie praktisch abgeschafft, nachdem Frankreich diesen Schritt 1981 vollzogen hat und Versuche der Wiedereinführung in Großbritannien wiederholt gescheitert sind. Die Abschaffung in der DDR ist ein weiterer Fortschritt, der hoffen läßt, daß nach und nach in allen Ostblockstaaten die gesetzlich sanktionierte Vernichtung von Menschenleben aufhören wird. In diesem Zusammenhang kann man nur mit großer Freude die Ankündigung Generalsekretär Gorbatschows von vorgestern vor der UNO zur Kenntnis nehmen, man werde die Strafartikel über die Todesstrafe in der Sowjetunion überprüfen. Der weltweite Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe ist damit nicht gewonnen. Er findet aber zunehmend stärkere Ausgangspositionen.
Der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sind in den letzten Jahren zahlreiche völkerrechtliche Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte gefolgt, so die schon erwähnten internationalen Pakte, die Vereinbarungen für bestimmte Bereiche des Menschenrechtsschutzes, z. B. die Antifolterkonvention, und regionale Menschenrechtskonventionen, z. B. im Bereich des Europarats. Gewiß sind solche Rechtsnormen von unterschiedlicher Verbindlichkeit. Oft genug läßt die volle Verwirklichung auf sich warten. Aber sie schaffen ein internationales Einvernehmen der Verpflichtung auf die Menschenrechte, das in Erinnerung gebracht, das politisch und manchmal auch rechtlich zur Geltung gebracht werden kann.
Nutzen und Gewicht dieses Regelsystems lassen sich auch daran ablesen, daß der hier wiederholt mit Recht zurückgewiesene Einwand der Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Landes durch Geltendmachung der Menschenrechte schwächer geworden ist. Das wird den Staaten bewußt. Mehr und deutlicher als früher lassen sie sich heute ansprechen.
Dazu hat nicht zuletzt die KSZE-Schlußakte von 1975 beigetragen. Sie begründete keine völkerrechtlichen Verpflichtungen, sondern ist, wie man sagt, nur ein politisches Dokument. Und doch hat sie im Ostblock die Menschen ermutigt, die versprochenen Rechte und Möglichkeiten einzufordern. Die KSZE-Schlußakte hat das allgemeine Bewußtsein verändert und nicht nur die Freiheit der Aussprache über Menschenrechte ermöglicht, sondern mit dieser die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage selbst einhergehen lassen.
Sehr wesentlich ist, daß die Schlußakte von Helsinki nicht der Schluß, sondern der Beginn einer Entwicklung geworden ist, die im KSZE-Prozeß gehaltvolle Folgedokumente erbracht hat. Der Prozeß ist nicht abgeschlossen. Gerade jetzt wird auf der Wiener Folgekonferenz ein weiteres Dokument zum Abschluß gebracht, das u. a. die Reisefreiheit und die Informations- und Meinungsfreiheit stärken soll. Damit zeichnen sich bei aller Langwierigkeit des Prozesses und aller Schwierigkeit dieser Folgeverhandlungen Verbesserungen für die Menschenrechte ab, die auch die
früheren Kritiker dieser KSZE bei uns in der Bundesrepublik längst in hoffnungsvolle Anhänger dieses Vorhabens verwandelt haben.
Die Sowjetunion und die anderen Ostblockstaaten sind in den Prozeß nicht nur eingebunden, sie tragen ihn auch mit und befördern ihn. Es gibt neben zahlreichen Mängeln und Mißständen in den Staaten des Warschauer Pakts auch viele inzwischen verwirklichte Fortschritte und handfeste Anzeichen für eine weitere Wendung zum Guten. Man denke an die Entwicklung in der Sowjetunion mit ihrem Zuwachs an Meinungsfreiheit und weiteren bürgerlichen Freiheiten bis hin zur Religionsfreiheit.
Aus dem Menschenrechtsausschuß der UNO wird berichtet, daß die Sowjetunion erstmals aufgeschlossen an der Erstellung menschenrechtlicher Berichte mitarbeitet. Mehr noch, Generalsekretär Gorbatschow hat vorgestern in der UNO-Vollversammlung die erweiterte Teilnahme der Sowjetunion an den menschenrechtlichen Kontrollmechanismen der UNO angekündigt und die Verbindlichkeit von Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag zu den Menschenrechten für alle Staaten gefordert. Die in unserem heutigen Entschließungsantrag befürwortete Errichtung eines Internationalen Gerichtshofes für die Menschenrechte findet in Gorbatschows Äußerung eine interessante und verheißungsvolle Entsprechung.
Die Verwirklichung dieses Ziels ist nahegerückt. Um so wichtiger wird es freilich sein, daß auch der Westen den Gerichtshof in Den Haag vorbehaltlos respektiert und daß sich Fälle der Brüskierung und Mißachtung — wie beim Konflikt um Nicaragua — nicht wiederholen.
In den Ostblockstaaten geht die Entwicklung größerer Rechte und Freiheiten für die Menschen unterschiedlich schnell voran. Mit besonderer Anerkennung — das ist hier schon deutlich geworden — verfolgen wir den Fortschritt in Ungarn. Aber auch die DDR, sosehr wir sie immer wieder wegen der menschenrechtlichen Praxis kritisieren müssen, hat erfreuliche Verbesserungen aufzuweisen. Der Menschenrechtsbericht einer unabhängigen Wissenschaftlerkommission, den die Bundesregierung im November 1987 dem Bundestag vorgelegt hat, würdigt positiv, daß die DDR hinsichtlich der Ausreiseintensität in westlicher Richtung eine Spitzenstellung im Warschauer Pakt einnimmt und — trotz aller Ärgernisse — ein im Vergleich zu anderen kommunistischen Ländern hohes Maß an Religionsfreiheit gewährt.
Wenn jetzt eine Verordnung über Westreisen erlassen und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit eingerichtet werden soll, liegt darin die Chance eines weiteren Zugewinns an Menschenrechten. Gerade die Verweigerung jeglichen gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes hatte die Wissenschaftlerkommission als krassen Völkerrechtsverstoß gewürdigt und beanstandet.
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Dr. Schmude
Es gibt nach wie vor viele Gründe zur Beanstandung und zu weitergehenden Forderungen. Natürlich ist die Ungeduld derer verständlich, denen die ganze Entwicklung nicht schnell genug geht. Aber sie geht voran, und wir sollten das würdigen.
Mit alledem soll nicht von der immer noch vielfältigen Praxis der Mißachtung der Menschenrechte abgelenkt, sollen Not und Leid unterdrückter Menschen nicht verharmlost werden. Diese zeigen die ganze Notwendigkeit des weiteren Kampfes für die Menschenrechte. Die positiven Erfahrungen und hoffnungsvollen Anzeichen freilich — und es sind ja heute in der Debatte auch eine Reihe anderer solcher Anzeichen genannt worden — können und sollen auch den ermutigen, dem vor dem Ausmaß der Aufgabe die Kräfte schwinden wollen. Der energische Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte hat sich schon tausendfach gelohnt. Er lohnt sich weiter.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwarz?
Ja, bitte.
Herr Kollege Schmude, halten Sie die Informationsfreiheit auch für einen Teil der Menschenrechte?
Natürlich.
Wären Sie dann auch bereit, sich dafür einzusetzen, daß der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte auf dem Evangelischen Kirchentag mit ihrer Forderung nach Informationsfreiheit Gerechtigkeit widerfahren wird?
Herr Kollege Schwarz, Sie sprechen hier Vorgänge an, die man in dieser Kürze nur polemisch ansprechen kann. Das finde ich dem Stil dieser Debatte nicht angemessen.
Aber ich war sowieso bei den letzten Sätzen, mit denen ich ausdrücken wollte, daß sich der Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte gelohnt hat und sich weiter lohnt. Die menschliche Welt, in der alle Menschen in rechtlich gesicherter Freiheit leben können, liegt noch weit vor uns. Unsere Erfahrungen aber zeigen uns, daß wir die Chance haben, sie zu erreichen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit eineinhalb Jahren hat der Deutsche Bundestag einen Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe als Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses. Als Vorsitzender dieses Gremiums stelle ich fest, daß die Schaffung
eines eigenen Gremiums des Parlaments für Menschenrechte ein richtiger Schritt gewesen ist. Wir haben zwischen den Mitgliedern aller Fraktionen ein nach meiner Beurteilung gutes Arbeitsklima herstellen können, und zwar unbeschadet unterschiedlicher Bewertungen einzelner Vorgänge. Ich bedanke mich herzlich bei allen Mitgliedern für diesen guten Geist der Zusammenarbeit.
Die von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vorgelegte gemeinsame Entschließung für die heutige Beratung ist Ausdruck eines hohen Maßes an Übereinstimmung. Es gibt einen Schönheitsfehler, nämlich den, daß die Fraktion DIE GRÜNEN sich nicht hat bereit finden können, sich diesem Entschließungsantrag anzuschließen. Vielleicht können Sie ihm heute wenigstens zustimmen.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zur Art und Weise unseres Menschenrechtsengagements im Deutschen Bundestag machen. Wir haben den Unterausschuß für Menschenrechte nicht als Tribunal über andere Völker eingesetzt. Vielmehr müssen wir ihn seriös und behutsam als ein zusätzliches wichtiges Instrument für die mühselige Arbeit zur Durchsetzung des universellen Geltungsanspruchs der Menschenrechte sehen und handhaben.
Wir Deutschen tun gut daran, uns daran zu erinnern, daß wir nicht die Vorreiter des Menschenrechtsschutzes gewesen sind. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 war die Antwort der Völkergemeinschaft auf eine schreckliche Phase der Mißachtung der Würde des Menschen, für die wir Deutsche eine Hauptverantwortung tragen. Wir sollten deshalb die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und die beiden vor unserem Beitritt entstandenen grundlegenden Menschenrechtspakte von 1966 als ein Geschenk der Völkergemeinschaft auch an uns begreifen, das die Chance und die Aufforderung enthält, unseren Beitrag zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes zu leisten.
Wir können und dürfen uns nicht als die berufenen Lehrmeister anderer Völker in Sachen Menschenrechte und erst recht nicht als die Oberzensoren aufspielen. Es steht uns gut an, bei aller Bereitschaft, einen hilfreichen Beitrag zu leisten, bescheiden aufzutreten.
Ich bin dankbar, daß dies auch der Herr Kollege Brandt in der gleichen Weise zum Ausdruck gebracht hat. Was berechtigt uns eigentlich, uns den anderen Völkern sozusagen als das Mustermodell darzustellen?
Ein kluger Ausländer, der viele Jahre als Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik Deutschland gewesen ist, hat in einem jüngst erschienenen Büchlein zwei Sätze formuliert, die ich Ihnen gerne zitieren möchte:
Der Hang zum Extremen könnte die Deutschen vielleicht zu der Vermutung verleiten, der Anspruch auf ein allseits gültiges ,Modell Deutschland' sei legitim. Soll das alte Wort
8588 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
Vogel
— so fragt er —
vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, neue Wirkung erfahren?
Nein, wir haben nicht das „Modell Deutschland" in Sachen Menschenrechte zu vertreiben, sondern unseren Beitrag zur Durchsetzung dessen zu leisten, worauf die Völkergemeinschaft sich erfreulicherweise verständigt hat. Das gilt in Europa in besonderer Weise für die Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, der alle Mitgliedsländer des Europarates beigetreten sind.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einiges zur Türkei sagen. Das Thema wurde heute schon einige Male aufgegriffen, und wir haben einen Antrag der SPD-Fraktion zur Lage der Menschenrechte in der Türkei vorliegen. Ich stimme nachdrücklich der Auffassung zu, daß ein Land, das der westlichen Verteidigungsgemeinschaft angehört, die sich als Wertegemeinschaft begreift, und das Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden will, sich die Anlegung strengerer Maßstäbe gefallen lassen muß als viele andere Länder. Das berechtigt uns aber noch längst nicht zu einer Haltung der Selbstgerechtigkeit gegenüber der Türkei, und es entbindet uns auch nicht von der Verpflichtung, der Türkei Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Wir dürfen nicht vergessen, woher die Türkei kommt. Wir dürfen nicht unterschlagen, welchen Weg die Türkei in den letzten Jahren bei der inneren Demokratisierung und der Durchsetzung der Menschenrechte schon zurückgelegt hat. Die Verhältnisse haben sich doch nicht verschlechtert. Sie haben sich eindeutig verbessert.
Wenn die Türkei als erstes Mitgliedsland des Europarates das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter ratifiziert und inzwischen die Individualbeschwerde zugelassen hat, dann bezeugt das den Willen und die Bereitschaft, den europäischen Standard auch für die Türkei maßgeblich zu machen.
Allerdings — das füge ich hinzu — muß sich die Türkei dann auch gefallen lassen, daß wir uns gerade bei ihr mit Menschenrechtsverletzungen, so sie vorkommen, befassen.
Wenn Folterungen vorkommen, gehören sie an den Pranger. Wenn Menschen zu lange in Haft gehalten werden, bevor das Gerichtsverfahren stattfindet, muß das kritisiert werden. Wenn die Rechte von Minderheiten mißachtet werden, muß die Türkei sich darauf ansprechen lassen. Wir werden ja Gelegenheit haben, uns mit alledem eingehender zu befassen. Aber wir müssen es seriös tun.
Wir müssen vor allem auch nach der Wahrheit dessen forschen, was von dort berichtet wird. Auf keinen Fall dürfen wir uns von solchen Kräften mißbrauchen lassen, die die Menschenrechte als Agitationswaffe zur Durchsetzung ihrer manchmal alles andere als demokratischen politischen Ziele benutzen.
Meine Damen und Herren, für die Fraktion der CDU/CSU danke ich dem Bundeskanzler für die Regierungserklärung, die er heute aus Anlaß der 40. Wiederkehr der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 abgegeben hat. Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, daß der Schutz der Menschenrechte selbstverständlicher Bestandteil der Politik der Bundesrepublik Deutschland ist, daß er selbstverständlicher Bestandteil der Politik aller bisherigen Bundesregierungen gewesen ist, der bisherigen Bundesregierung ist und gewiß auch künftiger Bundesregierungen bleiben wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch dem Kollegen Brandt für die Rede, die er hier heute gehalten hat, danken, weil ich der Auffassung bin, daß sie einen Geist zum Ausdruck bringt, von dem ich hoffe, daß er der Geist in Sachen Menschenrechte bei allen hier im Hause ist.
Dann werden wir der Versuchung widerstehen, die Menschenrechte für den innenpolitischen Schlagabtausch zu nutzen.
Mit der Entschließung, um deren Annahme ich Sie bitte, bekundet der Deutsche Bundestag ebenfalls sein leidenschaftliches, aber an den Zielen orientiertes Engagement für die Menschenrechte.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bindig.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! So wichtig und richtig es ist, daß wir zum 40. Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung diese Debatte führen, so notwendig ist es, nicht nur mit dem Finger in der gesamten Welt herumzuzeigen, vielmehr gilt es vor allem auch, den Blick darauf zu werfen, ob wir denn, die Bundesrepublik Deutschland, überall da, wo es uns möglich ist und möglich war, unseren Beitrag zum Schutz der Menschenrechte erbringen und erbracht haben.
Was die Weiterentwicklung des internationalen Instrumentariums zum Schutz der Menschenrechte und ihrer Rechtsgarantien angeht, gibt es nun leider — durch die Säumigkeit der Bundesregierung veranlaßt — einige Defizite, die unserem Ansehen in diesen Fragen vor der Völkerfamilie abträglich sind.
Mehrere sehr wichtige Menschenrechtsverträge und -abkommen, die bereits seit einigen Jahren erarbeitet worden sind, sind noch immer nicht ratifiziert oder sogar noch nicht gezeichnet.
Auf der Herbsttagung der Interparlamentarischen Union in Sofia hat dieses Weltparlament alle Staaten aufgefordert, die erarbeiteten Konventionen zum Schutz der Menschenrechte zu ratifizieren, und hat, um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, die Zusammenstellung einer Liste gefordert, auf der die
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Bindig
Staaten aufgeführt sind, welche wichtigen Abkommen noch nicht beigetreten sind.
Obwohl die SPD-Bundestagsfraktion seit Jahren immer wieder gemahnt und gedrängt hat, die erforderlichen Ratifikationsgesetze vorzulegen, findet sich die Bundesrepublik auf dieser Liste der säumigen Staaten wieder. Wahrlich kein Ruhmesblatt zum 40jährigen Gedenktag der Menschenrechtserklärung.
Am weitesten zurück ist die Bundesrepublik in der Frage des Beitritts zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, welches auch Einzelpersonen einen Beschwerdeweg in Menschenrechtsfragen eröffnen soll.
Selbst wenn es richtig ist, daß die Europäische Menschenrechtskonvention einen ähnlichen Beschwerdeweg enthält, sind die Motive, welche die Bundesregierung veranlassen, dieses weltweit wirkende Instrument zu ignorieren, nicht nachvollziehbar.
Hinderlich wirkt diese Haltung deshalb, weil sich die Bundesregierung andererseits selbst um die Entwicklung eines weiteren — zweiten — Fakultativprotokolls zum Zivilpakt bemüht, welches die weltweite Zurückdrängung der Todesstrafe zum Inhalt haben soll. So löblich diese Initiative ist, so hinderlich ist der Umstand, daß dadurch Staaten, welche die Todesstrafe beibehalten wollen, das Argument an die Hand gegeben wird: Ratifiziert doch selbst erst einmal das erste Zusatzprotokoll!, ganz abgesehen von der Peinlichkeit, daß einer der wenigen deutschen Politiker, die sich öffentlich für die Todesstrafe ausgesprochen haben, weiterhin Vertreter der deutschen Delegation im Menschenrechtsausschuß der UN ist.
Im Hinblick auf Genf ist weiter zu kritisieren, daß die Bundesregierung nach wie vor den beiden Zusatzprotokollen zu dem Genfer Rote-Kreuz-Abkommen zum Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte nicht beizutreten gedenkt.
Unerledigt ist auf der Ebene des UN-Systems auch die Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Seit Jahren wird die Ratifizierung dieser UN-
Antifolterkonvention hingezogen. Immer wieder werden auf unser dringendes Mahnen hin neue Ratifikationsabsichten und -termine angekündigt.
Wir sind diese Nachlässigkeit nun leid und haben deshalb von der SPD-Fraktion aus ein eigenes Ratifikationsgesetz eingebracht, welches wir hier heute in erster Lesung behandeln. Erst im Frühjahr dieses Jahres hatte die Bundesregierung bei der Beantwortung unserer Großen Anfrage zur Bekämpfung und Ächtung der Folter angegeben, daß der federführende Minister der Justiz die Herbeiführung eines Kabinettsbeschlusses zur Einbringung des Vertragsgesetzes zur UN-Antifolterkonvention für 1988 anstrebe. Nun ist der bedeutsame Jubiläumstag da, aber Ihr Gesetzentwurf fehlt weiterhin.
Ergänzend zu unserem Gesetzentwurf möchten wir noch klarstellen, daß wir selbstverständlich von der Bundesregierung erwarten, daß sie von der Möglichkeit der Art. 22 und 23 der Konvention Gebrauch macht, zu erklären, daß sie bereit ist, Untersuchungen anzuerkennen, wenn von anderen Staaten oder Einzelpersonen geltend gemacht wird, die Verpflichtungen aus der Antifolterkonvention würden nicht eingehalten.
Wir wollen weder in diesem Punkte noch in der Frage der Abschiebung in einen Folterstaat irgendwelche zweifelhaften Vorbehalte. Gerade die Kontroll- und Überprüfungsmöglichkeiten in Folterfällen sind von besonderer Bedeutung. Da die UN-Antifolterkonvention hier nur sehr schwache Regelungen vorsieht, ist die europäische Antifolterkonvention so wichtig, weil sie vorsieht, daß in Verdachtfällen Nachprüfungen stattfinden können. Diese Konvention befindet sich nun endlich auf dem Gesetzgebungsweg.
Bei unserer Forderung nach dem Beitritt zu wichtigen Menschenrechtspakten übersehen wir natürlich keineswegs, daß der eigentliche Testfall für jeden Staat nicht der formale Beitritt zu den Antifolterkonventionen darstellt. Testfall ist vielmehr die alltägliche Praxis.
Bei der Türkei wird deutlich, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen können. Die Türkei ist zur Aufpolierung ihres ramponierten Ansehens im Menschenrechtsbereich sowohl der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen als auch der europäischen Antifolterkonvention frühzeitig beigetreten, und dennoch wird in der Türkei in furchtbarer Weise gefoltert.
Die Tatsache des Beitritts der Türkei zu diesen Abkommen bietet uns allerdings eine besonders berechtigte Möglichkeit und Verpflichtung, die Türkei wegen ihrer Folterpraxis anzuklagen. Zur moralischen Verwerflichkeit der Folterpraxis kommt jetzt noch der Vorwurf des Bruchs einer völkerrechtlichen Verbindlichkeit hinzu.
Zur Verurteilung der Folter in der Türkei, zur Verfolgung der Kurden und zu weiteren Menschenrechtsverletzungen haben wir einen Entschließungsantrag im Bundestag eingebracht, zu dessen Unterstützung wir Sie auffordern.
Der Entschließungsantrag der GRÜNEN zum 40. Jahrestag übernimmt in weiten Passagen wortgleich die Forderungen von amnesty international. Die meisten der Forderungen werden auch von uns unterstützt. Die GRÜNEN haben in der Eile der Zusammenstellung dieses Antrags aber wohl übersehen, daß amnesty international rund 10 % der Forderungen an diesen Bundestag richtet. Wir können doch hier nicht einen Text beschließen, in dem der Bundestag den Bundestag auffordert, etwas zu tun. Wegen dieser handwerklichen und weiterer Mängel werden wir diesen Antrag leider ablehnen müssen.
Es liegt dann weiter von den GRÜNEN ein Antrag zu Südafrika vor. Auch hier unterstützen wir den Inhalt sehr. Dennoch enthält er eine solche Ungenauigkeit — hier ist nämlich davon die Rede, daß eine Kornmission eingesetzt werden soll, ohne daß gesagt wird, was für eine Kommission es sein soll — , daß wir mei-
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Bindig
nen, dieser Antrag sollte besser in den Ausschüssen beraten werden; sonst ist er in dieser Form wohl nicht abstimmungsreif.
Die Informationen, die wir dieser Tage aus dem Iran erhalten, sind in erschreckender Weise gegensätzlich. Der Außenminister war zwei Tage lang mit Dutzenden von Wirtschaftsleuten im Iran, welche dort vielfältige Gespräche über eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit geführt haben, und es wurde ein neues Kulturabkommen geschlossen. Die Zeitungen berichteten groß: „Bonn hilft Teheran beim Wiederaufbau", „Im Iran winken große Bauaufträge". Zudem wird an neue, verlängerte Hermes-Bürgschaften gedacht. Andererseits wird bekannt, daß das Regime im Iran seine Gegner in erschreckender Weise mit politisch motiviertem Exekutionsterror verfolgt. Genscher hat in Teheran wiederholt nachhaltig die Menschenrechtslage angesprochen. Dies ist zu begrüßen. Es darf aber doch nicht zu einer Arbeitsteilung, wenn auch nicht gewollt, derart kommen: Der Außenminister spricht hartnäckig die Menschenrechte an, die Wirtschaft macht still im Hintergrund ihre Geschäfte.
Der Mammon darf nicht über die Moral siegen. Es muß unmißverständlich klar werden, daß eine Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran und die Menschenrechtslage inhaltlich zusammenhängen.
Ganz unerträglich ist es zudem, wenn zu hören ist, daß das Bundesland Rheinland-Pfalz dazu übergeht, abgelehnte Asylbewerber in den Iran abzuschieben. Glaubwürdigkeit beim Eintreten für die Menschenrechte beginnt hier in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb müssen solche Fälle hier in der Bundesrepublik Deutschland anders behandelt werden.
Auch dies gehört in eine Debatte zum 40. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen, die zur Regierungserklärung vorliegen. Ich rufe die Entschließungsanträge in der Reihenfolge der Drucksachen-Nummern auf.
Es wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3659 an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. — Ich stelle fest, daß das Haus damit einverstanden ist. Es ist so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3660 . Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? —
Besteht Einigkeit bei den Schriftführern über die
Mehrheit? — Wir wiederholen die Abstimmung, um
eindeutig feststellen zu können, wo die Mehrheit ist.
Darf ich bitten, daß sich, wer dafür ist, erhebt? — Wer ist dagegen? —
Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3677 ab. Sie haben den Wunsch, den Text zu ändern. Wollen Sie hier ganz kurz vortragen, welche Änderungen Sie in Ihrem Entschließungsantrag wünschen?
Es handelt sich um den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/3677, wo es um ein Moratorium, also um einen Aufschub, zur Vollstreckung der Todesurteile in Südafrika geht. Der zweite Satz in dem Antrag muß heißen:
Gleichzeitig wird eine von der südafrikanischen Regierung eingesetzte Kommission zur Abschaffung der Todesstrafe in Südafrika gefordert.
Der ursprüngliche Satz war nicht präzise. Ich denke, es ist damit klargeworden.
Meine Damen und Herren, ich darf also feststellen, daß die mündlich vorgetragene Änderung von allen Fraktionen in ihrer Auswirkung und Bedeutung erkannt worden ist. — Dann lasse ich über diesen geänderten Entschließungsantrag abstimmen. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen! — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Mehrheiten haben sich nicht verändert.
— Das bestätigen die Schriftführer. — Es besteht keine völlige Klarheit. Würden Sie sich bitte noch einmal erheben? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Präsidium ist der Meinung, das erste ist die Mehrheit.
Damit ist dieser Entschließungsantrag angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/3682. Wer diesem Entschließungsantrag zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen! — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zwei Enthaltungen ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/3708 ab. Dieser Entschließungsantrag ist während der Aussprache verteilt worden. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN.
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Vizepräsident Stücklen
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 27 b und zu den Zusatztagesordnungspunkten 8 und 9. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlagen zu diesen Tagesordnungspunkten an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall; dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu dem Tagesordnungspunkt 27 c, und zwar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/3575, Entschließung zur Hinrichtung von politischen Häftlingen in Indonesien. Wer für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Diese Entschließung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 10 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze
— Drucksachen 11/2421, 11/3697 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/3672 —
Berichterstatter: Abgeordnete Krey Lüder
Frau Dr. Vollmer
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/3673 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Deres Kühbacher
Frau Seiler-Albring Frau Rust
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung des Parteiengesetzes
— Drucksachen 11/3097, 11/3672, 11/3697 —
Berichterstatter: Abgeordnete Krey Lüder
Frau Dr. Vollmer
Für die gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte sind zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe Zustimmung. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spilker.
— Herr Berichterstatter, Sie wollen das Wort haben? — Entschuldigung, Herr Abgeordneter Spilker, der Berichterstatter möchte vorweg eine Ergänzung bringen. — Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß der Bericht, weil er etwas verspätet gekommen ist, hier mündlich vorgetragen werden müßte. Ich setze Ihr Einverständnis voraus, daß ich das ganz gerafft, ganz knapp tue, nicht nur aus zeitökonomischen Gründen, sondern weil er Ihnen nun jetzt auch schon einige Zeit vorliegt und sie ihn sicherlich zur Kenntnis genommen haben werden.
Die Beratungen haben sich erstreckt auf die Zeit zwischen dem 13. Oktober 1988, erste Lesung hier im Plenum, und dem 7. Dezember 1988, Schlußberatungen im federführenden Innenausschuß und beim mitberatenden Rechtsausschuß. Die Einzelabstimmung im Innenausschuß hat eine Mehrheit für den Antrag ergeben. Gegen diese Gesetzesvorlage hat die Fraktion DIE GRÜNEN gestimmt.
Zur Begründung ist im einzelnen noch auf folgendes hinzuweisen. Die Wahlkampfkostenerstattung für die Europawahl wird ausdrücklich nicht in die Sockelfinanzierung einbezogen. Bemessungsgrundlage für alle Erstattungen ist nicht, wie zunächst vorgesehen, die hinter uns liegende, sondern wie auch nach der bisherigen Rechtslage die zu erwartende Bundestagswahl. Dann sind einige Veränderungen in der Realisierung der Steuervergünstigungen, nicht zu den Steuervergünstigungen, materiell oder formell, selbst vorgenommen worden. Das war uns vom Finanzausschuß so empfohlen worden. Gegen diese Veränderungen hat die Fraktion DIE GRÜNEN Einspruch eingelegt.
In den Beratungen ist die Einrichtung einer unabhängigen Kommission hinzugekommen, die durch den Bundespräsidenten zu berufen ist und die vor Änderungen in der Struktur und in der Höhe der Wahlkampfkostenerstattungen Empfehlungen abzugeben hat. Auch das hat der Ausschuß gegen die Stimmen der GRÜNEN beschlossen. Hier wurden verfassungsrechtliche Bedenken etwa dahin gehend geäußert, daß wir unsere Gesetzgebungskompetenz auf diese Weise einschränken.
Die steuerliche Geschichte wurde bereits erwähnt. Der Begriff der Wahlkampfkosten ist neu definiert worden; er besteht aus der Wahlkampfkostenpauschale und dem Sockel. Beim Sockel ist das Quorum oder die Sperrklausel von 2,5 % auf 2,0 % abgesenkt worden. Hierzu hat es eine längere Debatte gegeben, bei der auch die Frage erörtert wurde, ob das verfassungsgerecht sei. Der Ausschuß hat sich mehrheitlich dazu entschieden, daß es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch verfassungsrechtlich unbedenklich sei.
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Bernrath
In den Beratungen hat die Fraktion der GRÜNEN moniert, daß der Chancenausgleich nur sehr kompliziert errechnet werden kann.
— Mit Rücksicht darauf, daß wir beide schlecht rechnen können, haben wir darauf verzichtet. Wir haben ausdrücklich darauf verzichtet, da es aus dem Wortlaut heraus sehr schwer ist; das ist in der Sache immer so. Wir geben aber eine Formel dafür vor, die in den nächsten Rechenschaftsbereicht des Bundestagspräsidenten aufgenommen werden kann, so daß sie dann rechtzeitig zur Anwendung zur Verfügung steht.
Die Fraktionen der SPD und der GRÜNEN haben Bedenken gegen eine Anhebung der Grenze der Publikationspflicht für Spenden von 20 000 DM auf 40 000 DM geäußert.
Auf einen entsprechenden Antrag hin hat sich die Mehrheit aber für die ursprüngliche Entwurfsfassung, also für die Beibehaltung der 40 000 DM-Veröffentlichungsgrenze ausgesprochen.
Es ist ausdrücklich sichergestellt worden, daß zur Europawahl kein zusätzlicher Sockelbetrag gezahlt wird.
Die übrigen Änderungen bezogen sich auf einkommensteuerrechtliche, körperschaftsteuerrechtliche Texte. Ich habe das inhaltlich angedeutet. Hier schlossen wir uns einer Empfehlung des Innenausschusses an.
Das zur Beschlußempfehlung und zum Bericht des Innenausschusses. — Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spilker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der ersten Lesung des vorliegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze am 13. Oktober dieses Jahres haben in den zuständigen Arbeitsgruppen der Fraktionen, im federführenden Innenausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen eingehende Beratungen stattgefunden, bei denen die hier geforderte und am 21. November erfolgte Sachverständigenanhörung in der Öffentlichkeit, in den Medien besonders beachtet wurde. An dieser Anhörung nahmen Vertreter der Wissenschaft und Vertreter der Sachverständigenkommission, die 1982 beim Bundespräsidenten gebildet worden ist, teil. Nach der Anhörung fanden erneut intensive Beratungen in den Ausschüssen statt. Wir haben heute hier in zweiter und dritter Lesung abschließend über den Gesetzentwurf zu entscheiden, der, wie zu erwarten war, in den Ausschußberatungen noch einige Änderungen erfahren hat.
Natürlich ist auch mir die kritische Begleitung der Beratungen in den Ausschüssen durch die Presse nicht verborgen geblieben. Diese veranlaßt mich zu einigen zusätzlichen Ausführungen, die endlich dazu beitragen mögen, Mißverständnisse auszuräumen.
In der ersten Lesung am 13. Oktober habe ich hier erklärt: „Es geht bei diesem Entwurf um einen, wenn auch wichtigen Beitrag zum Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie, die sich in der Verfassungswirklichkeit durch ihre politische Stabilität ausgezeichnet hat. " Diese Bemerkung erfolgte im Zusammenhang mit Art. 21 des Grundgesetzes, auf den ich gleich zurückkomme.
Zunächst darf ich noch einmal die Frage beantworten, wie es zu dem heute hier zur Abstimmung stehenden Entwurf gekommen ist, nachdem Veröffentlichungen in dieser Sache so ausgelegt werden könnten, als ob sich die Schatzmeister der im Bundestag vertretenen Parteien verabredet hätten, die Finanzen ihrer Parteien mit öffentlichen Mitteln aufzubessern.
— Das ist nicht richtig, und ich werde Ihnen den Verlauf schildern. Aber vielleicht sollten Sie zuhören, damit Sie es endlich einmal lernen.
Die Vorlage des Gesetzentwurfs, über den wir hier debattieren, war aus einem Grunde zwingend, aus einem anderen Grunde, den ich nennen werde, notwendig. Wir wissen, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 14. Juni 1986 einzelne Bestimmungen des Steuerrechts für verfassungswidrig erklärt hat, nämlich § 10b des Einkommensteuergesetzes und § 9 des Körperschaftsteuergesetzes. Es ging dabei um die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden, die in der zitierten Entscheidung des höchsten Gerichts auf 100 000 DM jährlich für jeden Steuerpflichtigen begrenzt wurde.
Die Gestaltung der zu ändernden Bestimmungen überließ das Gericht dem Gesetzgeber. Der ist heute tätig.
Nun zum zweiten Grund, der den 1984 erstmalig eingeführten Chancenausgleich betrifft. Der Bundestagspräsident hatte in seinem Bericht über die Entwicklung der Finanzen der Parteien vom 14. März dieses Jahres eine Benachteiligung der mitgliederstarken Parteien mit einem relativ hohen Beitragsaufkommen gegenüber Parteien mit relativ hohem Spendenaufkommen, aber geringen Beitragszuflüssen durch den bisher praktizierten Chancenausgleich festgestellt. Der Präsident hat im gleichen Zeitraum die Schatzmeister der im Bundestag vertretenen Parteien zu sich gebeten, um Fragen der Parteienfinanzierung und der Auswirkung des 1984 eingeführten Chancenausgleichs zu besprechen.
Nach einem langen Meinungsaustausch, an dem Sie — DIE GRÜNEN — im übrigen auch teilgenommen haben, hat er die Vertreter der Parteien eindringlich gebeten, um eine angemessene Neuregelung des Chancenausgleichs bemüht zu sein, die die Chancen-
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Bleichheit der sonst rivalisierenden Parteien in der Praxis sichert. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Frage gestellt, ob die politischen Parteien bei sparsamer Haushaltsführung unter anderem mit den öffentlichen Geldern, also mit der Wahlkampfkostenerstattung, auskommen, zumal diese sechs Jahre nicht geändert worden war. Es herrschte Übereinstimmung, daß die Parteien mit ihren Mitgliedsbeiträgen, Spenden, der Wahlkampfkostenerstattung und dem Chancenausgleich nach bisherigem Recht nicht imstande sind, die ihnen durch das Grundgesetz übertragenen Aufgaben zu erfüllen.
In diesem Zusammenhang möchte ich mir erlauben, noch einmal auf Art. 21 des Grundgesetzes zurückzukommen, der dem Gesetzgeber bekanntlich nach 1949 bei der Gestaltung schon größte Schwierigkeiten bereitet hat.
Erstmals in der deutschen Geschichte wurden die Parteien von Verfassungs wegen anerkannt und in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben. Damit zog der Parlamentarische Rat im Jahre 1949 den Schlußstrich unter eine unheilvolle hundertjährige Entwicklung des Partei(en)wesens, in deren Verlauf die politischen Parteien als überflüssig, Störfaktoren, bestenfalls noch als notwendiges Übel betrachtet und behandelt wurden. Die schlimmen Folgen, meine Damen und Herren, sind uns bekannt.
Daß die Parteien heute als unentbehrliche Mittler der politischen Willensbildung in unserer Demokratie betrachtet und akzeptiert werden, haben wir unseren Verfassungsvätern zu verdanken,
die mit Art. 21 unmittelbar geltendes Recht geschaffen haben. Noch 30 Jahre vorher hatte die Weimarer Reichsverfassung bei der Erwähnung der politischen Parteien in Art. 130 einen negativen Akzent gesetzt. Wir wissen, daß in einer Demokratie das Volk allein überhaupt nicht handlungsfähig ist.
Mit diesem Fragenkomplex hat sich auch die vom Bundespräsidenten 1983 berufene Sachverständigenkommission befaßt, die dazu in ihren Thesen sagte — ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident — :
Es bedarf der Parteien nicht nur zur Organisation von Wahlen, sondern auch zur Vorformung des politischen Willens, zur Einflußnahme auf Parlament und Regierung sowie zur Information über Ziele und Tragweite staatlicher Entscheidungen,
kurz: zu einer ständigen lebendigen Verbindung zwischen Bürgern und Staatsorganen. So gewiß es ist, daß die Parteien Anlaß zu Kritik geben und sich auch heftiger Kritik stellen müssen, verbirgt sich doch hinter jener gerade neuerdings wieder zunehmenden Abneigung gegen die Parteien .. . nicht selten eine bedenkliche Mischung aus privatistischer Politikabstinenz, romantisierenden Demokratievorstellungen und autoritärem Staatsverständnis — eine Mentalität, die den Parteien zweifellos auch eine befriedigende Regelung ihrer Finanzierung erschwert.
— Das paßt zu Ihnen.
Ich zitiere weiter:
Demgegenüber trägt das Grundgesetz mit Artikel 21 der Tatsache Rechnung, daß die politischen Parteien heute unbestreitbar zu den integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus gehören, ohne die eine freiheitliche Demokratie ebenso wenig existieren kann wie ohne eine dem Volk verantwortliche Regierung oder ohne politisch aktive Bürger. Hängt aber der Bestand des modernen Parteienstaates wie des demokratischen Lebens überhaupt vor allem von der Funktionsfähigkeit der politischen Parteien selbst ab, dann müssen diese auch finanziell so ausgestattet werden, daß sie ihre verfassungsmäßigen Aufgaben hinreichend zu erfüllen vermögen.
Das war ein Zitat der Sachverständigenkommission.
Hierzu gehören natürlich auch die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung zwischen den Parteien sowie im Verhältnis zwischen Parteien und Bürgern.
Um diese in der Praxis auch weitgehend sicherzustellen, wird der Chancenausgleich nunmehr novelliert — wir sprachen darüber — und damit nach meiner Überzeugung die Chancengleichheit zwischen großen, mitgliederstarken Parteien und kleineren und damit weniger mitgliederstarken Parteien sichergestellt.
Auch die Einführung des Sockelbetrags soll erwähnt werden, weil wir wissen und daher davon ausgehen, daß es bestimmte Kosten gibt, die alle sonst rivalisierenden Parteien im gleichen Ausmaße treffen. Ob man diese nun Vorhaltekosten, Fixkosten oder anders nennt, es sind in der Praxis Wahlkampfkosten, die bisher von der Wahlkampfkostenerstattung nicht gedeckt wurden. Diesen Preis haben nun die Wahlbürger, die Steuerpflichtigen zu zahlen als einen Anteil — so möchte ich sagen — für eine funktionierende freiheitliche Demokratie zu entrichten, in der es sich gewiß zu leben lohnt.
Das sollten sich endlich auch Kritiker vor Augen halten,
wenn sie sich mit der Arbeit, Organisation, Wirkungsweise, aber auch mit der Finanzierung der politischen Parteien befassen.
Ich komme noch einmal auf unseren Gesetzentwurf zurück, der, wie ich erwähnte, im federführenden Innenausschuß einige Änderungen erfahren hat. Lassen Sie mich diese kurz aufzeigen:
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Erstens. Der Sockelbetrag, über den es bisher die meisten Diskussionen gegeben hat, wird in die Wahlkampfkostenerstattung einbezogen. Er beträgt 6 der Wahlkampfkostenerstattung je Partei und Legislaturperiode. Für die laufende 11. Legislaturperiode beträgt er 3 %.
Zweitens. Der Sockelbetrag gilt nicht für die Europawahlen.
Drittens. Das Quorum für den Sockelbetrag wird von 2,5 % auf 2 % zurückgenommen.
Viertens. Als Bemessungsgrundlage für die Wahlkampfkostenerstattung dient nicht das Ergebnis der vorangegangenen, sondern der bevorstehenden Wahlen.
Schließlich wird fünftens — das begrüßen wir alle — eine unabhängige Sachverständigenkommission beim Bundespräsidenten berufen mit dem Ziel, dem Deutschen Bundestag vor einer Änderung der Struktur und Höhe der Wahlkampfkostenerstattung Empfehlungen zu geben.
Ich habe mich vorher mit den Aufgaben der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland befaßt. Diese Parteien haben ihre Vorsitzenden, ihre Präsidien und damit auch ihre Schatzmeister, die gerade im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf im Kreuzfeuer der Kritik standen.
— Vielleicht können Sie jetzt auch noch etwas lernen.
Wie ist das zu erklären, meine Damen und Herren? Der Gesetzgeber benötigte von 1949 bis 1967 18 Jahre, um den Art. 21 des Grundgesetzes zu gestalten. Fast zwei Jahrzehnte waren Parteiorganisation, Struktur und auch die Finanzierung somit gesetzlich nicht geregelt.
Als Normgeber fungierte in dieser Zeit de facto das Bundesverfassungsgericht, eben weil der Gesetzgeber nicht handelte oder auch nicht handeln konnte.
1967 kam endlich das Parteiengesetz, das in den Folgejahren mehrfach, zuletzt mit Wirkung vom 1. Januar 1984, geändert wurde. Das erwähne ich lediglich, um einmal aufzuzeigen, daß die Parteienfinanzierung im Sinne des Grundgesetzes offensichtlich schwierig zu normieren und ebenso schwierig zu handhaben war.
Diese nicht sehr erfreuliche Entwicklung fiel natürlich auch auf die Schatzmeister zurück, die sich über Jahrzehnte hinweg bemüht hatten, die für die Parteien notwendigen Mittel zu beschaffen.
Das waren Persönlichkeiten, die sich ihren Parteien
für wichtige und notwendige Arbeiten zur Verfügung
gestellt hatten, ohne eine Chance zu haben, mit diesen Arbeiten in ihren Parteien glänzen zu können. Ihnen ging es aber nicht um persönliche Pluspunkte in den Parteien, sondern um Erfolge f ü r die Parteien und deren Funktionsfähigkeit.
Ich darf in diesem Zusammenhang an eine Reihe von Persönlichkeiten erinnern, etwa an Prof. Burgbacher, an Hans Christoph Seebohm, an die Herren Nau und Dröscher, an meine Freunde Wolfgang Pohle und Heinz Herbert Karry. Wir werden diesen Menschen nicht gerecht, meine Damen und Herren, wenn wir zulassen, daß die Schatzmeister, die über viele Jahrzehnte eine schwierige und, wie ich meine, undankbare Aufgabe hatten, diffamiert werden.
Diese Schatzmeister waren und sind keine Angestellten in einem Selbstbedienungsladen, wie überhaupt Begriffe wie „Selbstbedienung der Parteien" oder ähnliche Formulierung nicht in eine sachliche Kritik gehören. Diese Schatzmeister waren und sind — wie Millionen von Mitgliedern von politischen Parteien — ehrenamtlich tätig, um für ihre Parteien die notwendigen finanziellen Grundlagen sicherzustellen. Damit standen sie wie jeder andere Bürger in der Pflicht des Grundgesetzes, speziell des Art. 21.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Benrath.
Das weiß er; er war mal mein Chef! Das waren schöne Zeiten, nicht?
Herr Abgeordneter, diesen Herrn kenne ich schon seit vielen Jahren.
— Doch, Herr Abgeordneter Vogel, Sie können sich darauf verlassen.
Er hat den Erlös der Briefmarken, die ich verkauft habe, anschließend ausgegeben.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der Gesetzentwurf der antragstellenden Fraktionen ist am 8. Juni eingebracht worden, der Antrag der Fraktionen DIE GRÜNEN am 12. Oktober. Anschließend haben wir das Ganze im Innenausschuß beraten, dort auch eine Anhörung gehabt. Wir haben es in den Fraktionen erörtert, und die Schlußabstimmung im Innenausschuß hat am Mittwoch dieser Woche stattgefunden. Das Gesetz wurde also eingehend und sorgfältig beraten, und es wurde der Rat der fachlich zuständigen Ministerien, von sachverständigen Ver-
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Bernrath
Fassungsrechtlern und anderen kenntnisreichen Leuten eingeholt.
An Notwendigkeit und Ergiebigkeit der Anhörung ändert auch die Tatsache nichts, daß einer der um Rat gebetenen Sachverständigen diese Bitte wohl mißverstanden hatte und — anstatt sachverständigen Rat zu geben — sozusagen zu einem persönlichen Generalangriff auf die Parteien blies. Dies hat sich übrigens diesertage noch einmal in einer Pressekonferenz wiederholt. Ich meine, daß den Parteien jedenfalls eine solche Attacke nicht angelastet werden sollte.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, daß die Anhörung sich natürlich nicht ausschließlich auf Verfassungs- und Rechtsnormen bezogen hat. In der Anhörung wurden auch verfassungspolitische und praktische Fragen erörtert. Auch in dieser Hinsicht sind wir den Sachverständigen dankbar, die uns damit in unserem Ermessen als Gesetzgeber nicht einschränken können — wahrscheinlich auch nicht wollten. Andernfalls würde es uns bald so gehen, wie es den Kommunen häufig vor den Verwaltungsgerichten geht, die sich angewöhnt haben, das den Kommunen nach den Gemeindeordnungen und anderen Gesetzen zustehende Ermessen vielfach lediglich durch ihr eigenes Ermessen zu ersetzen.
Immerhin wurde der ursprüngliche Entwurf dieses Gesetzes in sieben Punkten geändert und verbessert. Ich will diese Punkte im einzelnen nicht aufzählen. Ich möchte aber zu der einen oder anderen Einzelregelung noch folgendes sagen:
Erstens. Mit dem nun im Gesetz verankerten Sokkelbetrag und seiner Einbeziehung in die gesamte Wahlkampfkostenerstattung ist ein erster Schritt hin zu einer stärker funktionsorientierten Wahlkampfkostenerstattung getan. Dies rechtfertigt auch das auf 2 % abgesenkte Quorum. Diese Sperrklausel hat die Beratungen besonders schwierig gemacht, weil einerseits die Chancengleichheit auch für kleinere Parteien gesichert, die Staatsabhängigkeit für diese Parteien aber vermieden werden mußte. Ein wie enger Spielraum uns dafür zur Verfügung stand, ergibt sich daraus, daß bei allen Parteien, die bis zu 7,5 % der Stimmen erhalten, der Sockelbetrag immerhin 80 % der erfolgsabhängigen Wahlkampfkostenpauschale ausmacht. Das muß man wissen.
Auch praktisch gab es in der Vergangenheit - und das wird nach aller Einschätzung auch in naher Zukunft so sein — keine Notwendigkeit, diese Sperrklausel zu verändern. Dies wird daran deutlich, daß in den sechs Bundestagswahlen seit 1969 23 Parteien insgesamt 42mal angetreten sind, aber nicht in den Bundestag gewählt wurden. Nur fünfmal haben solche Parteien die 0,5-%-Grenze überschritten. Das war 1969 die NPD mit 4,3 % — sie wäre also im Sockel gewesen —, die ADF mit 0,6 %. Es war wiederum die
NPD 1972 und 1987 mit je 0,6 %, und es waren DIE GRÜNEN 1980 mit 1,5 % der Stimmen.
— Aber Sie wollen das Geld ja nicht, dann brauchen wir es auch nicht aufzustocken.
Es gab und gibt sehr unterschiedliche Betrachtungen zur sogenannten Vertrauensgrenze, also zu der Frage, ob die Pflicht zur Veröffentlichung von Einzelspenden bei 20 000 DM oder bei 40 000 DM liegen sollte. Uns steht hierfür lediglich ein Urteil aus dem Jahre 1967 zur Verfügung, das damals auf 20 000 DM bezogen war. Sinngemäß wird in diesem Urteil ausgeführt, daß wegen der geringen Höhe der Steuerermäßigung etwaige Prämierungseffekte für die politische Meinung von Beziehern größerer Einkommen und für die von diesen getragenen Parteien nicht ins Gewicht fallen. Diese Betrachtung wird man nach wie vor auf die Vertrauensgrenze von 20 000 DM beziehen müssen. Die gleiche Einschätzung wird natürlich schwieriger, wenn 40 000 DM als Vertrauensgrenze fixiert werden sollten. Dies ist auch Anlaß für meine Fraktion, dies in der zweiten Lesung noch einmal zu dokumentieren.
Häufig ist in den Debattenbeiträgen von „Selbstbedienung" und „Staatsfinanzierung" die Rede gewesen, dies aber insbesondere seitens derjenigen, die den höchsten Anteil an, wie sie oft sagen, „Staatsknete" bei ihren Einnahmen haben.
Es ist jedermann bekannt, daß beispielsweise die Partei DIE GRÜNEN fast 50 % ihrer Einnahmen aus Steuermitteln bezieht.
Dieser „Staatsquote" genannte Finanzierungsanteil spielt bei den anderen Parteien eine wesentlich geringere Rolle. Er liegt durchschnittlich zwischen nur 31 und 33 %.
Daran Anstoß zu nehmen, wie das auch die kritische Presse durchweg tut, wäre, meine ich, nicht fair; denn der Verfassungsauftrag der Parteien und ihre sich daraus ergebenden vielfältigen Aufgaben können nicht, auch nicht bei den mitgliederstärksten Parteien, ausschließlich aus Mitgliederbeiträgen finanziert werden. Ebensowenig, meine Damen und Herren, wäre es wünschenswert, die Parteien noch stärker von Spenden, schon gar nicht von Großspendern, abhängig zu machen. Das Finden also des rechten Anteils ist auch ein Grund dafür, daß der Innenausschuß, übrigens auf Vorschlag von Herrn Dr. Hirsch, empfiehlt, künftig Empfehlungen einer unabhängigen Sachverständigenkommission einzuholen. Dabei gehe ich davon aus, daß der Bundespräsident zu jedem ihm richtig oder notwendig erscheinenden Zeitpunkt unabhängige Sachverständige nach seiner Wahl berufen
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Bernrath
und um ihre Empfehlung zur Parteienfinanzierung bitten kann.
In der Anhörung und während der Beratungen hat sich erneut bestätigt, was Professor Dr. Friauf bereits in der Anhörung im Jahre 1983 gesagt hat, nämlich daß wir uns bei allen verfassungsrechtlichen Betrachtungen zum Parteiengesetz in einer schwierigen Lage befänden, weil wir in einer Scherensituation zwischen zwei Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stehen. Diese Schere ergibt sich auf der einen Seite aus der Spenden-Entscheidung, zum anderen aus dem Parteifinanz-Urteil. Beide Entscheidungen haben, meine ich, etwas apodiktisch in den Raum gestellt, was dann später auch kritisiert worden ist, nämlich daß es in der Tat schwierig ist, einerseits die Abhängigkeit der Parteien von Spenden zu verhindern oder zu mildern, andererseits unerwünscht, unzulässige Staatsnähe zu vermeiden.
Das Nebeneinander dieser beiden Entscheidungen, die nicht aufeinander bezogen sind, je für sich gefallen sind, hat dazu geführt, daß man bei einer sehr engen Betrachtung der Dinge möglicherweise zu dem formal abzuleitenden Schluß kommen kann, bei einer legitimen Parteienfinanzierung laufe — abgesehen von Mitgliederbeiträgen — beinahe gar nichts mehr. Dies aber kann nicht im Sinne der grundgesetzlichen Ordnung sein, die einen legitimen und auch verfassungsrechtlich korrekt finanzierbaren Parteienbedarf voraussetzt.
Wörtlich erklärte Herr Friauf damals:
Es scheint mir deshalb darum zu gehen, eine pragmatische Lösung zu finden, die von den Eingrenzungen her den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird, die aber wahrscheinlich nicht wird umhinkönnen, in dem einen oder anderen Punkt immerhin die Grenzen dessen auszuloten, was die verschiedenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnet haben.
Dies, meine Damen und Herren, ist exakt das, was auch das Bundesverfassungsgericht in einer seiner Entscheidungen angedeutet hat, als es die Zulässigkeit eines an einen Grundbetrag zu knüpfenden Quorums erörterte. Es heißt dort:
Eine andere Frage ist, ob nicht jedenfalls den Parteien, die die Sperrklausel des § 18 Abs. 2 Nr. 1 PartG
— gemeint ist die damalige Sperrklausel im Rahmen einer allgemeinen Parteifinanzierung —
übersprungen haben, ein Grundbetrag gewährt werden sollte, der ihnen nach § 18 Abs. 3 PartG nicht zusteht. Ob eine solche Regelung verfassungsnäher wäre als die gegenwärtige, ist jedoch vom Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden. Gibt es verschiedene Regelungen, die mit dem Grundsatz der Chancengleichheit vereinbar sind, so bleibt es Sache des Gesetzgebers, die ihm am zweckmäßigsten und am besten erscheinende Lösung zu finden.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung zu akzeptieren, selbst wenn eine andere Regelung nach seiner eigenen Auffassung vielleicht „verfassungsnäher" wäre.
Im übrigen wird auch im Kommissionsbericht die Berücksichtigung der Bedeutung einer Partei bei der Bemessung des von der Kommission befürworteten Grundbetrags, den wir jetzt Sockel nennen, vorgeschlagen, allerdings nach einem anderen, immerhin aber noch vergleichbaren Modell. Letztlich steht die Entscheidung dieser Frage also im pflichtgemäßen Ermessen des Gesetzgebers.
Schließlich möchte ich noch die vielen Hinweise auf eine Kostenminderung bei den Parteien, insbesondere während der Wahlkämpfe, aufnehmen. Was die Kostenminderung in den Geschäftsstellen der Parteien angeht, hören die Parteien nichts als gute Ratschläge. Konkrete Vorschläge werden nicht gemacht, auch aus der Mitgliedschaft heraus nicht. Nachdem die Parteien ihre Geschäftsstellen in den letzten Jahren — ich nenne das einmal so — rationalisiert haben, wird es dort nicht mehr viel Spielraum geben. Die Abhängigkeit von der allgemeinen Kosten-, besonders Personalkostenentwicklung ist damit auch offenkundig. Je enger Sie organisieren, je stärker werden Sie dann von der allgemeinen Kostenentwicklung abhängig.
Anders sieht es allerdings bei den Wahlkampfkosten aus. In der Rechtsprechung wird von den „notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfes" gesprochen. Hier stehen uns zweifellos noch Spielräume für Kostenminderungen und Kostenbegrenzungen zur Verfügung. Ich will das hier nicht im einzelnen populistisch darstellen, meine aber, daß die Parteien, so wie sie in der Vorbereitung dieses Gesetzes aus guten Gründen und verantwortungsbewußt zusammengearbeitet haben, auch Verständigungen über die — ich wiederhole das — notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfes finden werden.
Bürger und Wähler werden ihnen das danken.
Ich meinerseits danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und empfehle die Annahme des Gesetzentwurf es in der zweiten und dritten Lesung unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß es notwendig war, den jetzt erstmals eingeführten Sockelbetrag in dieser Wahlperiode um die zwei abgelaufenen Jahre, also um 3 Prozentpunkte, zu kürzen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der ersten Lesung dieses Gesetzes hat Burkhard Hirsch für meine Fraktion deutlich gemacht, daß gegen die damalige Fassung des Gesetzentwurfs insbesondere verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Fragen gestellt werden
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Lüder
mußten. Wir haben uns deswegen damals für eine Sachverständigenanhörung eingesetzt. Wir haben den Gesetzentwurf auf Grund dieser Anhörung in wesentlichen Punkten verändert, und ich sage: Wir haben ihn verbessert.
Somit komme ich heute zu dem Ergebnis, daß niemand im Hause, auch nicht, wenn er nachher vielleicht noch persönliche Erklärungen abgibt, sagen kann, hier stünden verfassungsrechtliche Bedenken im Raum, wenn er sie uns nicht dezidiert vorträgt.
Ich sage das hier auch, damit es ins Protokoll kommt. Ich glaube, diejenigen, die damit gemeint waren, werden das auch nachlesen.
Das allgemeine Genörgle darüber, daß möglicherweise verfassungsrechtliche Bedenken bestünden, wird dem Anspruch auf verfassungsrechtliche Prüfung nicht gerecht. Lassen Sie uns das einmal festhalten.
Ich nehme jeden ernst, auch von den Sachverständigen, der hier Argumente vorgebracht hat. Ich wäge die Argumente mit anderen Argumenten und komme dann zu einer Bewertung. Aber ohne Argumente nur allgemeine Behauptungen aufzustellen, das wird diesem Punkt nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, die FDP hätte es sich bei diesem Gesetzentwurf genauso leicht machen können wie die GRÜNEN. Es ist bekannt, daß die FDP durch die Veränderung der staatlichen Wahlkampfkostenfinanzierung keine Mark mehr aus dem Steuersäckel erhält. Im Gegenteil: Bei gleichbleibendem Beitrags- und Spendenaufkommen und bei einer Wiederholung des letzten Wahlergebnisses der Bundestagswahl bedeutet die jetzt gefundene Regelung, daß wir Freien Demokraten Jahr für Jahr gut 800 000 DM, fast eine Million DM, weniger Steuermittel erhalten als bisher.
— Die Sachverständigen, liebe Frau Vollmer! Nun sind wir einmal vorsichtig: Wenn Herr von Arnim meint, hier würden insgesamt 92 Millionen DM umverteilt — wie ich es einer Zeitung entnommen habe —, dann muß ich sagen, er mag vielleicht ein guter Jurist sein, aber er hat den Grundsatz „iudex non calculat" offenbar immer noch nicht beherzigt.
Wir werden das ja sehen. Das läuft ja Jahr für Jahr ab und wird veröffentlicht.
Ich wiederhole: Wir werden hier nicht begünstigt, sondern wir nehmen in Kauf, daß wir bei gleichem Spendenaufkommen, gleicher Mitgliedschaft und gleichem Wahlergebnis — das sind nun einmal die Prämissen, unter denen man nur rechnen kann — Jahr für Jahr knapp eine Million DM weniger Steuermittel erhalten werden. Ich hoffe, daß auch der Bund der Steuerzahler dies endlich zur Kenntnis nimmt, wenn er dem selbstgesetzten Anspruch auf Seriosität weiterhin gerecht werden will.
Wir Freien Demokraten hätten es uns leicht machen können, hätten uns abseits stellen und das schwierige Gesetzgebungsverfahren den beiden größeren Parteien überlassen können.
Es gibt aber auch eine Solidarität der Parteien, die diesen Staat Bundesrepublik Deutschland gegründet haben. Diese Solidarität veranlaßt uns, auch dann konstruktiv mit- und zusammenzuarbeiten, wenn Nachteile früherer Gesetzgebungen für andere ausgeglichen werden sollen, auch wenn wir davon keine Vorteile haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Sellin. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Lüder, wie steht es eigentlich um die Solidarität mit den unabhängigen Wählergemeinschaften, wenn denen ein Freibetrag von maximal 1 200 DM gegenüber dem der Parteien von 60 000 DM bzw. 120 000 DM bei Spenden eingeräumt wird?
Herr Sellin, das Haus hat erstens in diesem Sommer die Finanzierungsregelung für die freien Wählergemeinschaften verbessert, und zweitens ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so kurzfristig vor dieser heutigen Entscheidung gekommen, daß es hier noch keine Berücksichtigung finden konnte. Wir waren uns im Innenausschuß darüber einig, daß wir prüfen werden müssen, welche Auswirkungen dieses Urteil auf die kommunalen Wählergemeinschaften generell hat, aber auch welche Auswirkungen es auf die kommunalen Wählergemeinschaften hinsichtlich Rechenschaftslegung und anderem hat. Hier kann man nicht nur einfach in D-Mark arbeiten, hier muß man auch in Strukturen denken.
Meine Damen und Herren, wir stellen uns auch nicht hämisch beiseite und nutzen die nicht investierte Energie zur Präparierung einer Verfassungsklage, wie es die GRÜNEN offenbar machen, wohlwissend, daß man daraus allemal Kapital schlagen kann. Denn entweder hat man Erfolg in Karlsruhe und kann darüber jubeln — aber das wird hier nicht eintreten —, oder man hat Mißerfolg vor dem höchsten deutschen Gericht, weiß aber, daß damit zugleich die Staatsgel-
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der für die eigene Parteikasse gesichert sind. Ein Vorteil kommt auf jeden Fall heraus.
— Nein, wir halten uns an Gemeinsamkeiten, auch wenn es unpopulär ist. Dies unterscheidet uns — Herr Kollege Bernrath, das muß ich leider sagen — auch von der Effekthascherei mancher sozialdemokratischer Kollegen, die die Anpassung der Veröffentlichungsgrenze für Parteispenden an die Geldentwertung der letzten 21 Jahre nicht mitmachen wollen.
— Herr Präsident, darf ich bitten, daß Sie Herrn Sellin mal Taschentücher geben, wenn ihm die Tränen kommen. Er macht das bei jeder Rede, und deswegen war ich vorbereitet.
Da es die letzte Gelegenheit ist, weil Sie ja rotieren müssen, wollte ich heute auch die Möglichkeit nutzen, wenigstens etwas Weihnachtliches in die Debatte einbringen zu können.
Meine Damen und Herren, wir sollten bei dieser Gesetzgebung auch sehen, daß die Parteien nicht von sich aus darauf gekommen sind. Vielmehr hat die damals vom Bundespräsidenten eingesetzte Kommission 1983 gesagt — pikanterweise hat gerade Herr von Arnim in der Anhörung darauf hingewiesen —, daß nach fünf Jahren eine Überprüfung der Regelung vorgenommen werden soll. Von 1983 aus gerechnet sind wir nach fünf Jahren nun im Jahre 1988, also genau im Zeitpunkt.
Meine Damen und Herren, bei der Beratung des Gesetzentwurfes kam und kommt es darauf an, durch die Art des Gesetzgebungsverfahrens wie auch durch den Inhalt des Gesetzestextes den Nachweis zu erbringen, daß die deutschen Parteien, die vom Grundgesetz ein hohes Maß an Verantwortung auferlegt bekommen haben, dem sich daraus ergebenden Anspruch voll gerecht werden. Deswegen haben wir die Art der Einbringung des Gesetzes damals kritisiert. Deswegen haben wir uns für eine umfassende und öffentliche Anhörung von Sachverständigen eingesetzt. Und deswegen haben wir erst den Zeitpunkt abgewartet, zu dem wir das Protokoll der Anhörung lesen konnten, bevor Änderungen vorgenommen wurden.
Heute können wir feststellen, daß den Kritikpunkten, die auch von meiner Fraktion, auch von mir, gegen das Gesetzgebungsvorhaben vorgebracht wurden, vollauf entsprochen wurde. Das Parlament hat sich als lernfähig erwiesen.
Das Parlament hat auch bewiesen, daß es Sachverständige ernst nimmt. Ein Ernstnehmen von Sachverständigen kann aber nicht heißen, daß jeder kritische Satz des einen Professors für Gold gehalten und jeder zustimmende Satz eines anderen Wissenschaftlers als Gefälligkeit abqualifiziert wird.
Wir stehen in der Verantwortung, die Argumente, die vorgetragen wurden, zu wägen, nicht aber die Vortragenden zu würdigen. Daran haben wir uns gehalten.
Deshalb sagen wir: Wir stimmen zu.
Wir haben uns aber nicht nur um die Bedenken der Sachverständigen gekümmert. Wir sind einen wesentlichen, einen qualitativen Schritt weitergegangen. Auf liberale Anregung — Dr. Hirsch wurde hier genannt — ist in das Gesetz aufgenommen worden, daß über Struktur und Höhe künftiger Änderungen der staatlichen Parteienfinanzierung wie auch des Chancenausgleichs zunächst vom Bundespräsidenten eine Sachverständigenkommission eingesetzt wird, deren Vorschlag vorliegen muß, wenn das Parlament Änderungen vornehmen will.
Anders als bei der Sachverständigenanhörung eines Ausschusses wird es hier nicht einzelne und unterschiedliche Auffassungen der Fachwelt geben, so daß jener Sachverständige am meisten Gehör findet, der sich mit einer Organisation zusammentut, die ihm eine Pressekonferenz im Tulpenfeld ermöglicht. Der Gesetzentwurf zwingt die Sachverständigen der Präsidentenkommission, sich auf einen einheitlichen Vorschlag — eventuell mit Minderheitsvotum — zusammenzuraufen. Wir Freien Demokraten erwarten davon eine Versachlichung der Diskussion, einen Abbau von Emotionen und mehr Verständnis für die Bereitschaft und die Fähigkeit der Parteien zum sparsamen Umgang mit Mitgliederbeiträgen, Spenden und staatlichen Wahlkampfkostenerstattungen.
Ich glaube, diese Kommission wird auch daran festhalten, daß die goldene Finanzierungsregel eingehalten wird; das heißt, daß keine Partei mehr als 50 % öffentliche Finanzierung bekommen wird.
Ich hoffe und erwarte von den nachherigen Beiträgen der GRÜNEN, daß sie zu dem Stellung nehmen, was gestern nach der Pressekonferenz des Bundes der Steuerzahler veröffentlicht worden ist:
daß es in diesem Haus nur eine einzige Partei gibt, die gegen diese goldene Finanzierungsregel verstoßen soll — ich sage es vorsichtig, weil ich nicht jede Angabe des Bundes der Steuerzahler oder von Herrn von Arnim übernehme — , nämlich die Partei DIE GRÜNEN, die 55,7 % öffentliche Gelder bekommen soll, was der Bund der Steuerzahler behauptet. Das bedarf der Aufklärung, wenn es heißt, hier würden Staatsgelder im Überfluß in Anspruch genommen.
Herr Präsident, darf ich darauf hinweisen, daß mir meine Fraktion im Rahmen unseres Gesamtkontin-
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gents mehr Redezeit gewähren würde. Verzeihung, hier leuchtete es auf.
— Ja. Danke.
Vom ursprünglichen Gesetzentwurf ist eigentlich nur ein einziger Punkt unverändert geblieben.
Und den wollen nun die Sozialdemokraten kippen. Die Grenze der Pflicht zur Veröffentlichung von Spenden unserer Bürger an die Parteien wurde 1967 auf 20 000 DM festgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Grenze akzeptiert und ausgeführt, daß damit ein Betrag nach damaligen Preisen gewählt war, durch den die Unabhängigkeit der Parteien nicht beeinflußt werden könne.
Seit 21 Jahren ist diese Größe unverändert. Im gleichen Zeitraum hat sich das Volkseinkommen je Erwerbstätigen in etwa verdreifacht.
Im gleichen Zeitraum hat sich — das interessiert die SPD vielleicht ein wenig mehr — die Nettolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer mehr als verdoppelt. Es gibt keine nennenswerten Preis- und Kostenindikatoren, die in diesen 20 Jahren nicht mindestens eine Verdoppelung erfahren haben, wie es jetzt mit der Veröffentlichungspflichtgrenze vorgesehen ist. Selbst „Spiegel" -bildlich — ich habe das neulich einem Redakteur dieses Magazins gesagt — kann man hier argumentieren: Das Wochenmagazin, für das viele von uns 52mal im Jahr 4,30 DM ausgeben, war damals zu fast einem Drittel dieses Preises zu erhalten, nämlich für 1,50 DM pro Exemplar.
— Ich kann ja auch darauf hinweisen, daß die „Frankfurter Rundschau" falsch argumentiert, wenn sie mit einem Vierjahresbetrag kommt und dabei übersieht, daß die „Frankfurter Rundschau" in einem Vierjahresbetrag 1 512 DM kostet und nicht die Groschenbeträge, von denen sie meint, sie uns täglich nur abverlangen zu können.
Lassen Sie uns wieder ernsthaft werden. Die Steigerung von 20 000 auf 40 000 DM wäre nur dann zu kritisieren, wenn hier die Gefahr eines Einflusses auf die Parteien durch diese Spenden kommen könnte. Ich selbst habe, Herr Bernrath, zu erwägen gegeben und lange überlegt, ob man nicht den Gedanken der Sachverständigen aufnehmen könnte, für die Untergliederungen eine Grenze von 20 000 DM festzusetzen.
Ich habe mich davon überzeugen lassen müssen, daß dies letztlich zu leicht zu umgehen ist.
Ein weiteres Argument war für mich viel wichtiger,
weil es in der Sachverständigenanhörung vorgebracht wurde und ein bißchen unterbelichtet blieb. Wir haben gegenüber der Rechtsprechung von 1967 eine Verdeutlichung der Kontrollpflichten der Schatzmeister im Rechenschaftsbericht. Die Schatzmeister müssen sorgfältig zusammentragen, um sicherzugehen, daß Ihnen keine Spende — in Zukunft unter 40 000, jetzt unter 20 000 DM — entgeht. Dies bedeutet, daß sie jeden Betrag von mindestens 5 000 DM, bei uns sogar von 1 000 DM, einzeln aufgelistet bekommen. Damit haben wir eine Transparenz bei den Untergliederungen über die Landesorganisationen zu den Bundesorganisationen, die die Gefahr der Beeinflussung minimiert.
Deshalb sage ich: In Anbetracht einer Preisentwicklung, die weit über die Verdoppelung hinausgegangen ist, halte ich die Verdoppelung dieser Grenze für vertretbar und akzeptabel und mache noch darauf aufmerksam, daß ja wohl auf keinem anderen Gebiet sonst eine Veröffentlichungspflicht für die Spender gegeben war. Wir verdrehen manchmal die Argumentation und meinen, es sollte neugierig darauf gemacht werden, wer eigentlich Geld den Parteien gibt; nein, es soll gesagt werden, welche Partei welche Großspenden bekommt und in welche Abhängigkeitsrisiken sie käme.
Diese Gefahr ist nicht gegeben im Rahmen der Entwicklung; sie ist im gleichen Maße nicht gegeben wie im Jahre 1967 bei 20 000 DM.
Meine Damen und Herren, an diesem Punkt die kritische Sonde anzulegen, wie es die Sozialdemokraten heute offenbar tun wollen, ist für mich unverständlich. An diesem Punkt sehe ich allenfalls einen Schaueffekt zum Populismus hin. Den zu üben ist eine allzu leicht durchschaubare Aktion, die meines Erachtens — lassen Sie mich das ganz deutlich sagen — Sozialdemokraten schlecht ansteht, insbesondere weil niemand hier im Hause übersehen und verschweigen kann, daß es gerade die SPD war und ist, die sich beim Chancenausgleich bisher durchgehend so stark benachteiligt sieht, daß sie auf die Verabschiedung dieses Gesetzes drängen muß.
Meine Damen und Herren, von mehreren Vorrednern ist darauf hingewiesen worden, welche Änderungen wir vorgenommen haben. Es ist darauf hingewiesen worden, daß der Innenausschuß und der Rechtsausschuß nach sorgfältiger Prüfung keine rechtlichen oder gar verfassungsrechtlichen Bedenken mehr gegen den Gesetzentwurf haben.
Ich bin davon überzeugt, daß wir jedem Bürger und damit auch jedem Journalisten verständlich machen können, daß und warum dieses Gesetz akzeptabel ist.
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Lüder
Die Voraussetzung dafür aber ist, daß jedenfalls die Gründungsparteien unserer Republik in den sie selbst betreffenden Angelegenheiten miteinander den Nachweis führen, daß das Gesetz nach Verfahren und Inhalt korrekt und sowohl verfassungspolitisch als auch verfassungsrechtlich akzeptabel ist. Dazu sollte mein Beitrag hier dienen.
Daß das Gesetz verfassungsrechtlich akzeptabel und verfassungspolitisch unbedenklich ist, gilt insbesondere, nachdem die letzte Panne bei der Festlegung des Sockelbetrages für die Übergangszeit zügig und einvernehmlich ausgebügelt wurde. Es gelang, Einvernehmen darüber zu erzielen, daß auch der Wunsch nach gefüllten Kassen die Sauberkeit der Argumentation nicht bedrängen darf. Und so ehrt uns dieses Gesetz. Wir haben bei dem, was wir hier beschließen wollen, nichts zu verstecken.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vollmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Wort zu heute morgen vorweg: Lieber Herr Bernrath, ich kann mir vorstellen, daß es Sie sehr geärgert hat, heute morgen so früh aufzustehen. Aber daß Sie nun ausgerechnet der Fraktion der GRÜNEN vorgeworfen haben, wir kämen schlecht vorbereitet in die Ausschußsitzungen, war, wie Sie wissen, derbe gemogelt; da müssen Sie die beiden Oppositionsfraktionen verwechselt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir waren von Anfang an aus grundsätzlichen Erwägungen gegen Ihren Gesetzentwurf. Wir finden uns dabei in ungewöhnlicher Gesellschaft: Die FDP-Vorstandsmitglieder Irmgard Adam-Schwaetzer, Hildegard HammBrücher, Guido Westerwelle, Ingo von Münch und Robert Vogel stimmten ebenso gegen diese Vorlage wie offensichtlich eine ganze illustre Reihe von Sozialdemokraten, unter ihnen Ihr früherer Schatzmeister Wischnewski.
Wir finden auch, daß die FDP keine glückliche Hand bewiesen hat, als ausgerechnet Graf Lambsdorff aus Geldgründen am Nikolaustag eine Sondersitzung des FDP-Vorstands einberufen hat.
Das ist nicht ohne Pikanterie. In dem Sack steckt außer viel Geld auch ein Knüppel, der auf dem Rücken der Parteien tanzen könnte. Vielleicht hätte es sich Herr Lambsdorff noch einmal überlegen sollen, bevor er nach der Schlappe im Muskelspiel um die Fusion von Daimler-Benz und MBB nun zum zweitenmal sich als sehr willfähriger Koalitionspartner erwiesen hat.
Man fragt sich, ob Irmgard Adam-Schwaetzer in dieser Frage nicht doch eine höhere Standfestigkeit besessen hätte, wie das offensichtlich die Frauen in diesem Parlament immer mehr beweisen.
Als wesentlicher Fortschritt in der Überarbeitung der ursprünglichen Gesetzentwürfe wird die Einrichtung der Kommission beim Bundespräsidenten genannt.
Das ist wenig glaubwürdig. Wir hatten bereits eine Probe aufs Exempel: Die Sachverständigen in der Anhörung des Ausschusses waren genau identisch mit den Mitgliedern der Kommission beim Bundespräsidenten aus dem Jahre 1982/83.
Sie haben erhebliche und grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen den jetzigen Gesetzentwurf vorgetragen. Dem ist der Ausschuß zwar in einigen Punkten gefolgt, aber in den grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gerade nicht. Wir werden, wenn wir einen neuen Bundesvorstand haben,
alle rechtlichen Möglichkeiten prüfen, dagegen vorzugehen.
Da ist zum ersten die Einführung des Sockelbetrags. Er bleibt verfassungsrechtlich bedenklich, da er eine Dauerfinanzierung der Parteien mit staatlichen Geldern auch unabhängig vom Wahlkampf beinhaltet.
Dies wird dadurch verstärkt, daß er an ein Quorum von 2 % der Stimmen gebunden ist, das aus demokratietheoretischen Gründen nicht geduldet werden kann, bevorzugt es doch die etablierten Parteien und macht es doch neue Parteigründungen bewußt unmöglich.
Die an sich begrüßenswerte Streichung des Sockelbetrags für die Europawahlen birgt ein neues Problem: Kleinere oder neu gegründete Parteien könnten in den Europawahlen leichter das Quorum von 2 % erreichen als in den Bundestagswahlen. Aus Gründen der Chancengleichheit könnten sie sich genötigt sehen, dagegen zu klagen. Ich sehe nicht, wie Sie damit in Karlsruhe durchkommen wollen.
Erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen auch gegen die Bestimmung, daß nur Spenden über 40 000 DM veröffentlicht werden müssen. Durchweg waren fast alle Sachverständigen in der Anhörung der Meinung, daß das Verfassungsgericht darin einen erheblichen Verstoß gegen seine Ent-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8601
Frau Dr. Vollmer
scheidung, die Durchsichtigkeit der Großspenden zu gewährleisten, sehen dürfte.
Frau Abgeordnete Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Ja, bitte, wenn es nicht angerechnet wird.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, Sie werden in der Öffentlichkeit immer als die führende Kraft einer Gruppe innerhalb Ihrer Partei, „Aufbruch 1988", angesprochen. Ich frage Sie als solche führende Kraft, ob der „Aufbruch 1988" nach Ihren bisherigen Ausführungen bedeuten soll, daß Sie auf die finanziellen Mittel, die Ihnen dieses Gesetz zusätzlich zur Verfügung stellt — etwa über den Sockelbetrag —, in der Zukunft bei Ihrem „Aufbruch" verzichten wollen?
Der „Aufbruch 1988" hat sich mit anderen Kolleginnen und Kollegen meiner Partei erheblich dafür eingesetzt, daß die Partei der GRÜNEN diese Finanzfragen so ernst nimmt, daß wir darüber den ganzen Bundesvorstand gekippt haben, was uns nicht leichtgefallen ist. Von daher, denke ich, haben die GRÜNEN in dieser Frage sehr wohl das Recht, moralisch und auch politisch in der Weise Stellung zu nehmen, in der wir das tun.
Gute Erfolgsaussichten scheint ein Einspruch gegen die enorme Bevorzugung der CSU durch die jetzige Regelung zu haben.
Trotz ihres hohen Spendenaufkommens wird die CSU in den Jahren 1989 bis 1992 an Sockelbetrag und Chancenausgleich voraussichtlich 28 Millionen DM mehr bekommen.
Damit erhält sie allein 127 % mehr als bei ihrer letzten Wahlkampfkostenerstattung. Einer nur auf ein Teilgebiet der Bundesrepublik begrenzten Partei dürfte sinnvollerweise eigentlich überhaupt kein Sockelbetrag zukommen. Sie wird die Notwendigkeit auch schwerlich begründen können, warum sie nun mit Plakaten und Werbematerial die ganze Bundesrepublik überziehen müßte, was sie ja auch nicht tut.
Umgekehrt ist aber auch bei der CDU zu fragen, ob
nicht eine Kürzung des Sockelbetrags um den bayerischen Anteil angebracht sei. Darauf hatte die Kornmission bereits hingewiesen; ohne Konsequenzen, wie man sieht.
Wenn es meine Zeit erlaubte, würde ich dem Hohen Hause nicht ersparen, den ungeheuer erhellenden Satz zur Berechnung des Chancenausgleichs hier einmal im Wortlaut vorzutragen; es dauert aber zehn Minuten. Ich empfehle ihn deshalb für die Rubrik „Aufgespießt" in der „Frankfurter Allgemeinen" oder in der „Frankfurter Rundschau" und dem Hohen Hause zur Lektüre von Bürokratendeutsch in der Weihnachtspause.
Keiner der Sachverständigen sah sich in der Lage, danach eine Berechnung vorzunehmen. Außerdem ist es auch ein Hohn, in einem Fall, wo alle Parteien, mit Ausnahme der GRÜNEN, handfest ihre Chance ergreifen, sich mehr Geld zu genehmigen, nun ausgerechnet von Chancen a u s g 1 e i c h zu sprechen. Wäre es wirklich um eine Bereinigung der Ungerechtigkeiten der letzten Regelung gegangen, hätte die Rechnung unter dem Strich mit Null ausgehen müssen und nicht mit 68 Millionen DM mehr.
Dies macht die Bürger wütend, und zwar mit Recht.
Die einzig ernst zu nehmende Alternative als Denkmodell zu Ihren Entwürfen wäre die Einführung einer Einwirkungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger auf das Finanzgebaren der Parteien gewesen. Hiergegen, gegen den Bürgerbonus bestand kein einziges verfassungsrechtliches Bedenken von seiten der Sachverständigen; sie waren sich alle einig. Hiergegen gab es nur den politischen Widerstand aller anderen Parteien, die unseren Vorschlag zunächst als naiv und als lächerlich und dann als unpraktikabel bezeichnet hatten.
Er ist es nicht. Alle Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, er sei populistisch, er befördere Vorurteile und Neid gegenüber den Parteien, hielten nicht stand,
es sei denn, man würde sie insgesamt gegen die Tatsache ins Feld führen, daß es überhaupt Wahlen in der Demokratie gibt; denn auch hier gibt es Vorurteile, Populismus, Schüren von Emotionen. Ihre Ablehnung verfängt also nicht.
Für diesmal sind wir mit unserer Vorstellung nicht erfolgreich gewesen. Wir sind aber außerordentlich sicher, daß diese Idee nicht sterben wird.
Es hätte ja auch eine gute Kompromißmöglichkeit gegeben, indem Sie beispielsweise einen Teil der Wahlkampfkostenerstattung, ungefähr in Höhe des Sockelbetrags, für diesen Bürgerbonus freigegeben
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Frau Dr. Vollmer
hätten. Das hätte eine radikale Öffnung der Parteien für die Kritik der Bürger und Bürgerinnen bedeutet, und es wäre so etwas wie ein vertrauenschaffendes Signal gewesen, das die in den Fragen der politischen Kultur inzwischen sehr sensibel gewordene Öffentlichkeit
— das hat sich seit 1967 geändert — wenigstens mit Respekt hätte zur Kenntnis nehmen können.
Die Chance ist diesmal vertan.
Es bleibt uns nur die Möglichkeit, Sie aufzufordern, in namentlicher Abstimmung gegen den vorliegenden Gesetzentwurf zu stimmen.
— Ich sage: wir hätten einen Einstieg anstelle des Sokkelbetrags machen können. Das wäre genau die symbolische Wirkung gewesen.
— Nein. Es wäre sogar Geld gespart worden, Geld, das die Bürger den Parteien möglicherweise nicht zur Verfügung gestellt hätten. Aber dieses hätten wir sehr gerne zugunsten einer politischen Infrastruktur eingesetzt, die die Bürgerinnen und Bürger vor Ort benutzen könnten, z. B. Druckmöglichkeiten, Räume. Dann endlich hätten die Bürgerinnen und Bürger selbst ihren Anspruch auf die Besetzung des politischen Raums einlösen können.
Ein Wort zum Schluß. Es gibt im internationalen Bereich, soweit ich weiß, kein Land, das in ähnlicher Weise Parteien aus öffentlichen Mitteln subventioniert wie bei uns. England, das erste Land, in dem sich Parteien als politische Institutionen ausgeprägt haben, kennt überhaupt keine öffentliche Parteienfinanzierung.
Frankreich, das seit der Französischen Revolution den Parlamentarismus an die Oberfläche der Geschichte gebracht hat, kennt keine Parteienfinanzierung, jedenfalls nicht in dem Ausmaß wie bei uns.
Die Ursache, so scheint mir, liegt darin, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Sphäre der Politik auf der einen Seite und die Sphäre des Alltags auf der anderen Seite in extremer Weise auseinandergedriftet sind. Alltag hat nichts mit Politik zu tun, Politik ist separiert von Ökonomie, Kultur, Kunst und Wissenschaft. Der Gebrauchswert der Politiker sinkt, aber ihr Preis steigt. Sicherlich ist eine Gesellschaft, in der Alltag, Wissenschaft und Politik zusammenfallen, eine Illusion, vielleicht sogar eine gefährliche Illusion. Eine Gesellschaft aber, in der die Sphäre der Politik von anderen gesellschaftlichen Sphären derart extrem getrennt ist, beruht letztlich auf sehr brüchigem Fundament. Darüber selbstkritisch nachzudenken wäre in der Pause, die wir jetzt alle vor uns haben, vielleicht angebracht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist keinesfalls so, daß die CDU/CSU mit großem Enthusiasmus an dieses Gesetz herangegangen ist. Es ist aber doch festzustellen, daß wir nicht von uns aus darangegangen sind, dieses Gesetz mit den anderen Fraktionen zu beraten und zu verabschieden, sondern durch das Bundesverfassungsgericht dazu veranlaßt worden sind. Das muß einmal klar gesagt werden.
Es ist schon merkwürdig: Wenn uns das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung auf anderen Feldern der Politik einen Handlungsauftrag gibt — ich erinnere einmal an die Datenschutzgesetze —, können sich manche nicht genug beeilen, die Stoppuhr anzuwerfen, um uns kurze Zeit später an den Fristablauf zu erinnern.
Wenn uns das Bundesverfassungsgericht aber verpflichtet, die Parteienfinanzierung noch einmal zu überprüfen, dann wird das Ganze so dargestellt, als wollten wir aus bloßer Überheblichkeit und Raffgier einen tiefen Griff in die Staatskasse tun.
Festzuhalten ist folgendes: Nicht nur das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seinem Urteil von 1986 zu einer Überarbeitung verpflichtet, auch der Bundestagspräsident hat — ebenfalls auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung — darauf hingewiesen, daß der Chancenausgleich, der ja nicht von uns, sondern von einer Sachverständigenkommission entwickelt worden war, entgegen der ursprünglichen Absicht Parteien mit hohen Eigenanstrengungen nicht begünstigt, sondern bestraft. Oder, anders gesagt: Je geringer die Spenden- und Mitgliederwerbung, um so mehr Staatsknete — wie die GRÜNEN zu sagen belieben — winkt auf Grund der noch geltenden Regelung der Parteikasse der GRÜNEN.
So bekommt in diesem Jahr die CDU mit 750 000 Mitgliedern null DM aus dem Chancenausgleich. Und die GRÜNEN erhalten bei 40 000 Mitgliedern 5,9 Millionen DM.
Es gehört zu ihrem scheinheiligen Gehabe, daß sie letzten Endes, weil sie da im Verhältnis zu anderen Parteien ein Stück beschnitten werden, protestieren und dies in ein puritanisches Mäntelchen fassen.
Man kann es noch drastischer formulieren: Nach geltendem Recht finanziert ein privater Spender, der die großen Parteien unterstützen will, ungewollt, aber wirksam über den Chancenausgleich die kleinen Par-
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Gerster
teien mit. Das konnte nicht gewollt sein und kann daher so nicht bleiben.
Herr Abgeordneter Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Herr Schily, ich komme noch zu Ihrer Partei. Stellen Sie Ihre Frage ein bißchen zurück. Sie werden noch viel Gelegenheit haben, sich zu Zwischenfragen zu melden. Das verspreche ich Ihnen.
Beides, der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts und die Kritik des Bundestagspräsidenten, verpflichtet uns, mit der jetzigen Gesetzesvorlage die Schwachstellen in der Parteienfinanzierung auszuräumen und auf eine verfassungsrechtlich einwandfreie Grundlage zu stellen.
„Die Parteien sollen nicht zuviel Geld verschwenden mit Plakaten, Luftballons und anderen Werbematerialien" — auch dieses Argument hört man immer wieder. Richtig! Aber komisch ist: Man hört es nur, wenn es um die Parteien geht, nicht bezüglich anderer Organisationen und Verbände. So muß einfach einmal zur Kenntnis genommen werden: Die Öffentlichkeitsarbeit der Parteien findet ja nicht irgendwo, etwa in der Wüste Gobi, statt, sondern auf den Straßen und Plätzen der Bundesrepublik Deutschland. Da sind die Parteien nicht allein, sondern stehen in Konkurrenz zu vielen anderen, die ebenfalls sehr geschickt um Aufmerksamkeit werben.
Die Parteien haben vor der letzten Bundestagswahl für die Öffentlichkeitsarbeit rund 250 Millionen DM ausgegeben. Das macht pro Jahr etwa 63 Millionen DM aus. Allein die bundesdeutsche Zigarettenindustrie gibt in jedem Jahr rund 300 Millionen DM für Öffentlichkeitsarbeit aus, also das Fünffache. Auch sie ist nicht allein auf dem Markt.
Dazu kommen Waschmittelwerber, die Autowerber, die Süßigkeitenwerber, die Getränkewerber, die Zahnpastawerber, und ich weiß nicht welche Werber noch. Alle gehen mit riesigen Beträgen auf den Werbemarkt — dagegen will ich hier jetzt gar nichts sagen —, aber die Parteien sollen sich auf die Mundzu-Mund-Propaganda beschränken. Das kann doch nicht im Sinne von Art. 21 unseres Grundgesetzes sein, der die Parteien zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung verpflichtet.
Ich will noch einen Vergleich ziehen. Die Parteien erhalten pro Wähler 5 DM an Wahlkampfkosten erstattet. Nehme ich einmal die Bundestags-, Landtags- und Europawahlen zusammen, sind das in vier Jahren ungefähr 15 DM pro Wähler, pro Jahr also nicht einmal 4 DM. Manche derjenigen, die uns da so moralträchtig wegen überzogener staatlicher Parteienfinanzierung kritisieren, sitzen in Rundfunk- und Fernsehanstalten, die von jedem Bürger im Monat
16,60 DM oder — umgerechnet — fast 200 DM im Jahr erhalten.
Die Frage muß doch einmal erlaubt sein, ob die Parteien mit 4 DM im Jahr in ihrer Öffentlichkeitsarbeit zu hoch unterstützt werden gegenüber 200 DM an Quasi-Steuergeldern für Fernsehanstalten, die auch nicht ganz — ich will es einmal vorsichtig ausdrücken — auf die politische Einflußnahme verzichten.
Darüber hinaus hängen die gleichen Rundfunkanstalten auch noch kräftig am Tropf der Werbeeinnahmen.
Herr Abgeordneter Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schily?
Bitte schön, Herr Schily.
Berücksichtigen Sie bei Ihren Überlegungen, daß ein gewisser Zusammenhang zwischen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten und den Parteien besteht, auch die Tatsache, daß sich bestimmte Parteien dieses Hauses einen erheblichen Einfluß auf diese Fernsehanstalten verschafft haben?
— Wir ja wohl nicht.
Ich glaube, daß dieser Einfluß höher eingeschätzt wird, als er wirklich ist.
Im übrigen, Herr Kollege Schily, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie bei Ihrer nächsten Zwischenfrage die Ihnen gestellte Frage mitbeantworten würden, ob Sie, wenn Sie das Gesetz ablehnen, auf die Erhöhung und die Begünstigungen dieses Gesetzes für Sie verzichten werden.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Herr Präsident, ich möchte gern in meinem Konzept fortfahren.
Wir brauchen, meine Damen, meine Herren, bei diesem Thema — auch Sie, Herr Schily — etwas mehr Ehrlichkeit. Denn es ist nicht nur die Glaubwüdigkeit der Parteien, sondern auch die Glaubwürdigkeit von anderen berührt.
Damit bin ich bei Ihrer Partei, den GRÜNEN. Ihr Verhältnis zur sogenannten grünen Staatsknete
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Gerster
hat ein Delegierter auf Ihrem Parteitag am letzten Wochenende in Karlsruhe wörtlich so ausgedrückt — er hat dafür sehr viel Beifall bekommen — :
Ich kann nicht mit einer Partei Häuser besetzen, die Volkszählung boykottieren oder Blockaden veranstalten, mit der ich nicht einmal die Steuer bescheißen kann.
So läuft es bei den GRÜNEN.
Gelder verschwinden für — ich zitiere — „Fressen und Saufen in Funktionärstaschen, sozial Benachteiligten wird in Arbeitsverhältnissen die soziale Absicherung rechtswidrig vorenthalten, und braune Scheine gehen massenhaft ohne Belege und auf Nimmerwiedersehen verloren".
Einer von Ihnen — er hat auch einmal Ihrer Bundestagsfraktion angehört — hat Ihren Umgang mit Geld ganz richtig ausgedrückt. Wörtlich:
Wir sind angetreten, diese Gesellschaft grundlegend zu verändern, aber wir sind nicht einmal imstande, ein Haus umzubauen und eine Baustelle ordentlich zu führen.
Wie wahr!
Oder nehmen Sie die Beratung dieses Gesetzes vor zwei Tagen im Innenausschuß. Da beschreibt eine Abgeordnete der GRÜNEN wörtlich „Manipulationsmöglichkeiten, wie die Existenz ruhender Mitgliedschaften, das Umwidmen von Beiträgen in Spenden und umgekehrt oder die Zwangsabgaben von Bundestagsabgeordneten" , also Dinge, die sie nur aus dem Organisationschaos der GRÜNEN kennen kann, um dann nicht grün-, sondern blauäugig festzustellen: „Da sehen Sie, daß alles möglich ist."
Verehrte Frau Kollegin Vollmer, da liegt eben der kleine Unterschied: Bei ordnungsgemäß geführten Parteien — dazu zähle ich die Union z. B. — ist eben nicht alles möglich und schon gar nicht, was in grünen Gehirnen zur Umgehung geltender Gesetze alles ausgedacht werden kann.
Herr Abgeordneter Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Vollmer
und noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schily?
Nein, Herr Präsident, ich lasse nur eine Zwischenfrage zu; dabei will ich es bewenden lassen, denn die Kollegen wollen ja auch irgendwann einmal nach Hause kommen. — Bitte, Frau Kollegin Vollmer.
— Der Frau Kollegin Vollmer gestatte ich eine Zwischenfrage. Ich mag sie etwas mehr als Sie, Herr Schily.
Bitte schön, Frau Vollmer.
Es gibt Lobe, die einen nicht ehren. — Herr Gerster, würden Sie hinzufügen, daß der Bezugspunkt für den Satz, den Sie zitiert haben — „da sehen Sie, daß alles möglich ist" —, die Beschreibung des Umstandes war, daß bei den GRÜNEN Sozialhilfeempfänger keinen Beitrag bezahlen müssen und daß dieser Satz mit der Frage an Ihre Partei verbunden war, ob es das bei Ihnen nicht gibt, und wollten Sie grundsätzlich ausschließen, daß es Manipulationsmöglichkeiten in der Frage der Bestimmung der Anzahl der Mitglieder der Parteien gibt, die ja von den anderen Parteien, die davon negativ betroffen sind, nicht überprüft werden können?
Frau Vollmer, ich schließe bei unserer Partei aus — über andere Parteien erlaube ich mir kein Urteil —, daß bei uns mit Mitgliederzahlen oder mit Spenden manipuliert wird. Sie werden genau registriert, und aus gutem Grund kennen wir z. B. nicht das Institut der ruhenden Mitgliedschaft oder das Institut nichtzahlender Mitglieder, wie Sie, die GRÜNEN, es nach Ihren eigenen Worten handhaben. Das gibt es bei uns nicht.
Ich bin durchaus der Meinung, daß die Kontrolle der Parteien funktioniert. Wenn jemand meint, diese Kontrolle funktioniere nicht, dann bin ich sehr dafür, daß wir sie verschärfen und verstärken; denn hier ist absolute Transparenz notwendig, die meiner Auffassung nach auch gegeben ist.
So geht das eben bei den GRÜNEN. Es lohnt sich wirklich, ihre Worte und ihre Taten einmal unter die Lupe zu nehmen. Nein, mit einer Lupe kommt man hier gar nicht aus. Man braucht ein Radioteleskop. Zwischen ihren Worten und ihrem Handeln liegen nämlich Lichtjahre.
Die GRÜNEN hatten 1987 — Herr Kollege Bernrath, das sind die neuesten Zahlen — einen Staatsanteil an ihren Finanzmitteln von über 55 %. Zum Vergleich: CDU/CSU und SPD lagen bei etwas über 30 %, also 20 % niedriger.
Das ist kein Wunder. Den GRÜNEN geht es nämlich gar nicht darum, über Mitglieder oder Spendenwerbung Unterstützung zu finden. Ihnen geht es ausschließlich um möglichst staatsfinanzierte Öffentlichkeitsarbeit ohne eigene Anstrengungen. Darum geht es ihnen.
Sie haben 40 000 Mitglieder gegenüber knapp 1 Million jeweils bei CDU/CSU und SPD, wenn ich die Parteivereinigungen mitrechne. Wenn ich es auf die Wählerschaft umrechne, dann ergibt sich: Auf 80 Wähler bei Ihnen kommt etwa ein Mitglied; auf
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Gerster
80 Wähler bei SPD oder CDU/CSU kommen etwa fünf Mitglieder.
Ich fordere Sie auf: Krempeln Sie erst einmal die Ärmel hoch, und steigern Sie Ihre Beitragseinnahmen, bevor Sie anderen überhöhte Staatseinnahmen vorwerfen.
Die GRÜNEN ziehen vor das Verfassungsgericht, um den parteinahen Stiftungen den Garaus zu machen, weil diese angeblich unmoralischerweise Staatsmittel für die Parteiarbeit einsetzen. Und als das Bundesverfassungsgericht Ihre Klage, Herr Schily, abgewiesen hat, hatten Sie nichts Eiligeres zu tun, als Ihre eigene Stiftung zu gründen,
unter merkwürdigen Umständen und — der Kollege Langner hat bereits mehrfach darauf hingewiesen — zu dubiosen Zwecken.
Gestern dagegen protestieren, weil es angeblich unmoralisch ist, heute absahnen, weil es so schön ist, und morgen auf andere schimpfen, weil es ja doch keiner merkt: Das ist Ihre Devise in dieser Frage.
Erst wettern Sie gegen das neue Parteienfinanzierungsgesetz und wollen mit Ihrer Ablehnung Ihre jungfräuliche Unschuld dokumentieren, dann langen Sie aber voll zu.
Es steht ja nirgends, daß eine Partei gezwungen wäre, die volle Wahlkampfkostenerstattung oder den vollen Chancenausgleich in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil, jede Partei kann diese Mittel beantragen, sie kann es aber auch lassen oder sich auf einen Teilbetrag beschränken.
Aber nein, so weit geht die Jungfräulichkeit der GRÜNEN doch nicht. Wenn die anderen die Kartoffeln aus dem Feuer geholt haben, dann meinen Sie, voll zulangen zu dürfen. Ich fordere Sie auf: Wenn Sie die staatliche Parteienfinanzierung für überhöht halten, wenn Sie also heute gegen das Gesetz stimmen, dann bleiben Sie wenigstens einmal konsequent und beantragen Sie beim nächsten Mal nicht die volle Summe, sondern nur einen Teilbetrag.
Ihr langjähriger Bundesschatzmeister, der jetzt frustriert aus der Partei austritt, hat die GRÜNEN ganz richtig beurteilt: Früher waren wir Hoffnungsträger, heute nur noch Überweisungsträger.
Man kann es auch drastischer sagen: Wenn die GRÜNEN gegen die staatliche Parteienfinanzierung zu Felde ziehen, dann ist das genauso glaubwürdig, als wenn ein Zuhälter auf die Straße geht, um für das Zölibat zu demonstrieren.
Ich plädiere für Glaubwürdigkeit, für Ehrlichkeit, aber auch für Selbstbewußtsein der Parteien bei der Behandlung dieses Themas.
Ich fasse zusammen.
Erstens. Die Änderung des Gesetzes zur Parteienfinanzierung ist notwendig, weil das Bundesverfassungsgericht und der Bundestagspräsident uns entsprechend beauftragt haben.
Zweitens. Eine mit staatlichen Mitteln unterstützte Parteienfinanzierung ist moralisch und durch das Grundgesetz gerechtfertigt. Die Parteien müssen, um ihrer Aufgabe der politischen Willensbildung gerecht werden zu können, eine finanzielle Ausstattung haben, die ihnen genügend Aufmerksamkeitswert in der Konkurrenz mit anderen erlaubt.
Drittens. Denjenigen, die staatliche Mittel für die Parteienfinanzierung kritisieren, wird empfohlen, zunächst einmal in ihrem eigenen Haus für Sparsamkeit und Ehrlichkeit zu sorgen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hätte ich heute die Wahl, statt Bundestagsabgeordneter Journalist zu sein, würde ich mich für letzteres entscheiden; denn die bissigen Schlagzeilen und die Kommentare für heute abend und morgen liegen auch mir auf der Zunge: „Weihnachtsbescherung in Bonn", „Reicher Gabentisch für die Parteien". Man kann sich vorstellen, was alles geschrieben werden wird. Wir müssen sagen, daß unsere parlamentarischen Fuhrleute jedenfalls diesen Beratungstermin „hervorragend" hinbekommen haben.
Zur Parteienfinanzierung zu reden ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Ähnlich wie bei den Abgeordnetendiäten reden wir ja hier in eigener Sache; denn die Parteien, um die es geht, sind unsere Parteien, mit denen wir gemeinsam politische Programme entwikkeln, die sie dann mit uns dem Wähler zur Wahl stellen. Weil das Parlament hier anders als bei anderen Gesetzen befangen ist, ist besondere Sorgfalt notwendig.
Wir halten es für gut, daß die Öffentlichkeit hier wie bei den Diäten besonders kritisch ist, von einigen Stammtischen und Zeitungen, die der Meinung sind, jede Mark für die da oben und ihre Parteien sei hinausgeworfenes Geld, bis hin zu der wachsam-kritischen Haltung von Bürgern und Journalisten, die die parlamentarische Demokratie bejahen und eine vernünftige finanzielle Ausstattung von Parlamenten und Parteien für notwendig halten, die aber zu Recht hohe Maßstäbe an Inhalt und Verfahren der Parteienfinanzierung legen.
Das Verfahren dieser Gesetzgebung zur Änderung des Parteiengesetzes war nicht besonders gut. Es war wohl vernünftig, daß sich die Schatzmeister zusam-
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mengesetzt und versucht haben, eine gemeinsame Regelung auszuhandeln und in Gesetzesform zu bringen. Nicht so gut war es, daß sich die Schatzmeister während des parlamentarischen Beratungsverfahrens an die Öffentlichkeit wandten, um mitzuteilen, worauf sie sich geeinigt hatten; denn das Parlament ist kein Vollzugsorgan für Schatzmeister-Runden.
Es war auch vernünftig, daß der Innenausschuß auf Vorschlag der SPD-Fraktion eine Anhörung von Fachleuten veranstaltet hat. Unerfreulich war, daß von dieser Anhörung eigentlich ausschließlich die negativen Stimmen in den Medien berichtet wurden. Über die Zustimmung zu einzelnen Punkten, etwa zum Chancenausgleich, hat fast keine Zeitung berichtet.
Es war auch nicht in Ordnung, daß ein vom Parlament bestellter Gutachter, vier Tage bevor er uns mitteilte, was er mitzuteilen hatte, in die Öffentlichkeit ging und es uns per Fernsehen mitteilte, noch dazu im Auftrag des Bundes der Steuerzahler, der ja richtigerweise „Bund der Nichtsteuerzahler" heißen müßte;
eine Vereinigung, die nicht gerade von überschäumender Transparenz gekennzeichnet ist
und die als gemeinnützige Organisation auch aus Steuermitteln finanziert wird. Ich vermute, es ging hier möglicherweise darum, das karge Professorensalär um einen kleinen Chancenausgleich aufzubessern.
Ärgerlich im Verfahren war auch das Verhalten der GRÜNEN. Ich habe ja Verständnis dafür, daß sie diesen Gesetzentwurf ablehnen. Nach bisherigem Recht bekamen im Chancenausgleich im Mittel der drei Jahre 1984 bis 1986 — hören Sie gut zu — die GRÜNEN im Jahr 3,5 Millionen DM, FDP und CSU im Jahr 2,3 Millionen DM, die CDU 2,2 Millionen DM und die SPD 600 000 DM. Ich kann verstehen, Herr Schily, daß Sie das auch in Zukunft gerne so schön hätten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Bitte.
Herr Kollege Conradi, halten Sie es eigentlich wirklich für fair und für eine korrekte Unterrichtung der Öffentlichkeit, über den Chancenausgleich isoliert von der Frage zu diskutieren, welche Steuermittel den Parteien über die Privilegierung großer Spenden zufließen? Denn der Chancenausgleich dient nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ja gerade dazu, diese Privilegierung, die bei den Parteien liegt, die solche steuerbegünstigten Spenden erhalten, in etwa auszugleichen. Er schafft diesen Ausgleich ja nur bis zu einem gewissen Grade.
Herr Kollege Schily, da sind wir nicht im Streit. Ich habe das in der ersten Lesung ausgeführt. Nur, ich finde es nicht in Ordnung, daß Sie über diesen Chancenausgleich — Sie räumen ja wohl selbst ein, daß er ungerecht war — auf der einen Seite mehr als jede andere Partei bezogen haben
und auf der anderen Seite den krassen Eigennutz aus einer ungerechten Regelung mit moralischer Entrüstung über die anderen Parteien tarnen. Das, finde ich, ist ein starkes Stück.
— Bitte sehr.
Herr Conradi, ich räume ein, daß die alte Chancenausgleichsregelung, bezogen auf mitgliederstarke Parteien, problematisch war.
Aber würden Sie mir auch einräumen, daß man, wenn man solche Zahlen aus dem Chancenausgleich nennt, wie Sie es jetzt getan haben, daneben auch die Zahlen über die Begünstigung der Parteien stellen muß, die Großspenden mit steuerlicher Privilegierung erhalten? Nennen Sie mir doch einmal die Zahlen, damit deutlich wird, wie sie aussehen und wer da aus dem Steuersäckel was bekommt. Dann hätten Sie ein vollständiges Bild, das ein Urteil ermöglicht.
Diese Spendenzahlen, Herr Kollege Schily, sind ja in den Rechenschaftsberichten der Parteien ausgewiesen, für jeden nachprüfbar.
— Ich bin mit Zwischenfragen wirklich nicht kleinlich. Aber ich möchte das jetzt gerne weiterführen.
— Frau Kollegin Nickels, in den Rechenschaftsberichten der Parteien steht ja — ich weiß nicht, ob der Ihre auf Bierdeckeln abgegeben wird —,
wie viele Spenden jede Partei bekommen hat. Das können Sie sehr leicht mit 40 % multiplizieren und den Staatsanteil erkennen. Das ist nun wirklich eine einfache Rechenaufgabe.
Herr Abgeordneter Schily, Sie können nur eine Zwischenfrage und eine Zusatzfrage stellen. Dann müssen Sie mindestens einen Zwischenraum machen, sich einmal hinsetzen. Dann können Sie sich wieder melden.
Herr Präsident, mir ist es neu, daß es im Parlament zu Zwischenfragen während einer Rede auch Zusatzfragen gibt. Aber ich bitte doch, dem Red-
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ner jetzt die Möglichkeit zu geben, einige Gedanken auszuführen. Ich bin dann gerne wieder bereit, weitere Zwischenfragen zuzulassen.
Ich sage Ihnen nur, Frau Vollmer: Wer selbst so schlampig mit öffentlichem Geld umgeht, daß zuerst der grüne Landesvorstand von Nordrhein-Westfalen
— das ist wohl Ihr Landesverband, Frau Dr. Vollmer — und dann der ganze grüne Bundesvorstand zurücktreten muß, der sollte sich nicht selbstgerecht als fromme Helene aufspielen.
— Der Hinweis auf die Finanzpraktiken Ihrer Partei erregt Sie. Das verstehe ich. Ich hätte das nicht angeführt, wären Sie hier nicht so selbstgerecht gegenüber den anderen Parteien aufgetreten.
— Herr Schily, ich bin wirklich ein großzügiger Mensch.
Ich habe bisher weder die Zeit für die Zwischenfragen noch für die Antworten gestoppt. Sie hatten den Wunsch nicht geäußert, Herr Conradi.
Herr Kollege Conradi, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Großzügigkeit, Zwischenfragen zuzulassen.
Sie haben behauptet, wir würden, bezogen auf den Chancenausgleich, aus Eigennützigkeit handeln. Wenn ich Ihnen das Angebot machen würde, Sie verzichten auf die steuerliche Begünstigung von Großspenden und wir auf den Chancenausgleich, würden Sie es annehmen?
Herr Kollege Schily, darauf kann ich Ihnen eine ganz einfache Antwort geben. Wenn wir beide hier eine Mehrheit haben, dann machen wir das.
Nun komme ich zum Inhalt der Änderung des Parteiengesetzes.
Die Behauptung einer Wochenzeitung, das Parlament sei gegen Kritik immun, trifft nicht zu. Wir haben auf Grund der Anhörung und der öffentlichen Kritik eine ganze Reihe von Änderungen vorgenommen, wie meine Kollegen hier bereits berichtet haben. Damit sind nicht alle Einwände, damit ist nicht alle Kritik gegen dieses Gesetz ausgeräumt. Einige Einwände, einige Bedenken will ich hier nennen.
Viele von uns hätten lieber den Pauschalbetrag je Zweitstimme auf 6 DM oder 6,50 DM angehoben und die Sockelregelung eingearbeitet. Das war nicht möglich, weil eine Reihe von Bundesländern durch ihr Gesetz die Wahlkampfkostenerstattung von Landtagswahlen eingearbeitet und an die bundesgesetzliche Regelung angebunden hat. Dort wäre also automatisch mehr Geld ausgezahlt worden. Das wollten wir nicht.
Der Chancenausgleich, der bisher extrem ungerecht war, ist von allen Sachverständigen als verfassungsgemäß anerkannt worden. Ob die neue Regelung gerechter ist, wird sich zeigen. Der Verdacht einiger Professoren — Frau Dr. Vollmer, Sie haben den ja aufgenommen —, die Parteien könnten den Chancenausgleich manipulieren, ist wirklichkeitsfremd. Dann müßten Tausende von Ortsvereinskassierern und -kassiererinnen in einer großen streng geheimen Verschwörung zusammenarbeiten mit dem Ergebnis, daß sie entweder aus Beiträgen Spenden machen — dann verlieren sie Delegiertenstimmen — oder aus Spenden Beiträge machen; dann verlieren sie bares Geld. Ich finde, wir sollten einigen Professoren, die im Fach politische Wissenschaften über Parteien reden und schreiben, empfehlen, doch ab und zu einmal zu uns hereinzuschauen; das würde die Wirklichkeitsnähe stärken.
Gegen den Sockelbetrag gibt es nach wie vor Bedenken, einmal wegen seiner Höhe; darauf komme ich zurück. Zum anderen ist schwer zu erklären, warum die Notwendigkeit einer kleinen Partei, vor einer Wahl alle Wähler anzusprechen, eine kontinuierliche, vom Ergebnis unabhängige Sockelfinanzierung nur für die Bundestagswahl erfordert, nicht aber für die Europawahl. Wir haben zwar dieses Loch „Europawahl" ausdrücklich zugestopft, aber ich möchte hier sagen: Ich hätte es als sinnvoller empfunden, den Sockel auf Europawahl und Bundestagswahl aufzuteilen.
Wenn der Sockelbetrag nun aber einer kleinen Partei erlauben soll, vor einer Wahl im Bundesgebiet alle Wähler anzusprechen, dann ist überhaupt nicht einzusehen, daß Regionalparteien wie die CSU oder die CDU — die ja auch eine Regionalpartei ist, nämlich Bundesgebiet minus Bayern — diesen Sockelbetrag bekommen sollen.
— Sie müssen keine Angst haben, daß die SPD Baden-Württembergs sich als Sozialistische Partei der Badener und Schwaben konstituiert, nur um diesen Sockelbetrag einzukassieren.
Schließlich haben einige Mitglieder meiner Fraktion verfassungsrechtliche Bedenken wegen der Grenze von 2 % der Zweitstimmen, unterhalb derer der Sockelbetrag nicht gewährt wird. Das Problem ist dieses: Der Sockelbetrag begünstigt die kleinen Parteien. Sie bekommen je Wählerstimme durch den Sokkelbetrag deutlich mehr als die großen Parteien. Geht man mit dem Sockel sehr weit nach unten, etwa auf 0,5 %, dann bekäme eine solche Partei mit dem Sokkelbetrag je Wählerstimme mehr als das Doppelte dessen, was die großen Parteien je Wählerstimme be-
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kommen. Das wäre verfassungsrechtlich wohl auch nicht unproblematisch.
Für mich als juristischen Laien — und ich habe da sehr gut zugehört — ist ganz schwer zu beurteilen, ob das Verfassungsgericht bei einem Quorum von 0,5 %, von 1,5 % oder von 2,5 % nun auf Verfassungswidrigkeit erkennen wird. Auf hoher See, so habe ich gelernt, steht man in Gottes Hand. Ob man beim Bundesverfassungsgericht da steht, dessen bin ich nicht mehr so sicher. Aber wenn ich daran denke, daß die Karlsruher Richter die steuerliche Abzugsfähigkeit von Parteispenden ohne Not und im Widerspruch zu ihrer früheren Rechtsprechung von 1 800 DM im Jahr auf 100 000 DM, für Verheiratete von 3 600 DM auf 200 000 DM erhöht haben, dann ist von Karlsruhe möglicherweise auch eine überraschende Entscheidung zum Sockelbetrag zu erwarten.
Für uns Sozialdemokraten will ich hier erklären, daß wir eine Änderung des Chancenausgleichs wollten. Alle haben uns bestätigt, daß das berechtigt ist und daß die Änderung notwendig und verfassungsrechtlich in Ordnung ist.
Der Sockelbetrag kam dazu, weil die kleinen Parteien auf ihre Vorteile aus dem bisherigen ungerechten Chancenausgleich nicht verzichten wollten und weil die CDU auf die kleinen Parteien Rücksicht nehmen mußte. Allein — das ist ja wohl kein Geheimnis — hätten CDU und SPD diesen Sockelbetrag wohl kaum beschlossen. Sollte er wider alles Erwarten in Karlsruhe scheitern, dann werden — auch das ist kein Geheimnis — bei der SPD keine Trauerfeiern stattfinden.
Strittig bleibt die vorgeschlagene Erhöhung der Grenzen für die Offenlegung von Parteispenden von 20 000 DM auf 40 000 DM. Ich sehe keine sachliche Notwendigkeit für diese Anhebung, Herr Lüder. Man muß auch daran erinnern, daß das Verfassungsgericht bei der exorbitanten Erhöhung der Steuerabzugsfähigkeit von Parteispenden ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die Spenden über 20 000 DM offengelegt werden. Wenn Sie jetzt von 20 000 DM auf 40 000 DM verdoppeln, dann kommen Sie doch möglicherweise in die Gefahr, daß das Verfassungsgericht sagt, hier sei die Transparenz nicht mehr gegeben,
zumal 20 000 DM bei einem Stadtverband oder einem Kreisverband einer Partei doch eine wuchtige Spende ist. Für diesen Teil des Entwurfs — es ist die Nr. 8 im Art. 1, Herr Präsident — beantrage ich für meine Fraktion getrennte Abstimmung in der zweiten Lesung. Wir werden das ablehnen. Wir hoffen, daß möglichst viele Abgeordnete im Hause sich diesem Vorschlag anschließen.
Zum Schluß ein Wort zum Bürgerbonus. Im Normalfall, Frau Dr. Vollmer, wird doch jeder Wähler wollen, daß die Partei seiner oder ihrer Wahl auch finanziell in der Lage ist, die von ihm gewählte Politik gut und weit zu verbreiten und zu vertreten. Die dritte Stimme zielt also auf eine Minderheit. Entweder zielt
sie auf ganz schlaue Wähler, die zwar sagen, sie wollen die eine Partei wählen, also die GRÜNEN, und der anderen Partei, also vielleicht der CSU, das Geld gewähren; das halte ich nicht für ungeheuer schlüssig.
— Es könnte auch umgekehrt sein, beides ist nicht sehr wahrscheinlich, Frau Vollmer. — Oder die dritte Stimme zielt auf eine Minderheit, die sagt: Wir wollen zwar wählen, aber diese ganzen Parteien, das Parlament und die Abgeordneten sollen keine müde Mark bekommen. Das sind, Frau Vollmer, nicht die besten Demokraten.
Mit der Zweitstimme wird hier über gewichtige Ausgaben entschieden; über Milliardenbeträge für Sozialhilfe oder Steuersenkungen, über Wohnungsbau oder den Jäger 90, über Rentensicherung oder Autobahnbau. Es wäre außerhalb jeder Proportion, würden wir hier eine Drittstimme einführen, mit der über knapp 300 Millionen DM Wahlkampfkostenerstattung in vier Jahren zu entscheiden wäre, ganz abgesehen davon, daß ja viele Wähler gar nicht genau wissen, was der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme ist, und mancher vielleicht auf die Idee käme, mit der Drittstimme würde der Bundeskanzler gewählt.
Wir halten diesen Vorschlag eher für literarisch.
Ich will noch etwas zur Rechenschaft der Parteien sagen. Die Rechenschaftsberichte der Parteien sind ein großer Schritt zu mehr Transparenz. Die Parteien sollten freiwillig weiter gehen und ihre Betriebshaushalte und auch die Struktur und die Höhe ihrer Wahlkampfausgaben offenlegen. Wer öffentliche Mitfinanzierung will — und dazu bekenne ich mich — , der soll auch der Öffentlichkeit sagen, für was er das Geld ausgibt.
Ich habe nach fünf Bundestagswahlkämpfen öffentlich im einzelnen Rechenschaft abgelegt, woher das Geld für den Wahlkampf in meinem Wahlkreis kam und wofür wir es ausgegeben haben. Ich habe da viel Zustimmung und auch Verständnis gefunden. Mancher Spender hat auf Grund dieser Offenlegung gesagt: Ja, da gebe ich eine finanzielle Hilfe. Gläserne Parteien werden wir wahrscheinlich nicht bekommen, ebenso, Herr Geißler, wie wir gläserne Abgeordnete leider hier im Parlament nicht bekommen haben.
— Entschuldigung, die Formulierung ist ja ursprünglich von Herrn Geißler vertreten worden; nur, als dann hier abgestimmt wurde, war das nicht mehr durchsetzbar.
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Conradi
Aber etwas mehr Transparenz wäre hilfreich und würde vielleicht auch ein Abkommen über Wahlkampfkostenbegrenzungen der Parteien und Kandidaten möglich machen.
Meine Damen und Herren, wir werden mit diesem Gesetz keinen Blumentopf gewinnen —
der Jahreszeit angemessen wohl eher die Rute. Das ist bei dieser Materie so. Wenn wir Glück haben, wird wenigstens der eine oder andere Journalist uns einräumen, daß wir einen Teil der Einwände und Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf ausgeräumt haben. Das Ergebnis ist, wie das oft in der Politik ist, ein Kompromiß, kein besonders schöner, allenfalls ein erträglicher; aber wer nicht kompromißfähig ist, der ist auch nicht politikfähig.
Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.
— Herr Abgeordneter Wüppesahl, die Reihenfolge der Redner wird hier festgelegt. Da die Fraktion DIE GRÜNEN angesprochen worden ist, möchte ich der Fraktion DIE GRÜNEN die Möglichkeit geben, darauf zu antworten. Sie haben Ihre eigene Meinung, sind aber gar nicht angesprochen worden.
Herr Häfner, bitte sehr.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einige Schiefheiten zurechtrücken. Das gilt vor allen Dingen für die Rede des jetzt nicht besonders aufmerksamen Abgeordneten Gerster. Vielleicht kann ihn ein Kollege eben mal anstoßen? —
Die erste ist die Behauptung, die GRÜNEN würden beim Chancenausgleich bevorzugt.
Sie haben das Gesetz so gemacht, daß die GRÜNEN unter dem Strich von allen Parteien am schlechtesten abschneiden. Das wissen Sie. Aber das ist gar nicht der Punkt, sondern der Punkt, den Sie verschweigen, ist, daß sich der Chancenausgleich auf die Steuervorteile bei Parteispenden bezieht und Sie natürlich mitrechnen müssen, was Sie durch diese Steuervorteile an indirekten Subventionen genießen. Dann sieht die Rechnung völlig anders aus.
Der zweite Punkt: In meinen Augen — lassen Sie mich das deutlich sagen — gänzlich unseriös und fast
schon unverschämt für die Aufgabe eines Gesetzgebers
ist die wiederholt vorgetragene Aufforderung an die GRÜNEN, wir sollten das, was Sie hier beschließen, für uns nicht gelten lassen.
Ich sage Ihnen deutlich: Wenn es kein Grundgesetz gäbe und Sie irgendeine Möglichkeit gefunden hätten, ein Gesetz zu machen, das nur Ihnen, den Altparteien, Geld zuschreibt und den GRÜNEN nicht, Sie hätten es gemacht.
Von uns zu verlangen, daß wir auf das Geld verzichten, und Sie sich selbst bedienen, das ist schlicht unmöglich, unmoralisch und undemokratisch.
— Selbstverständlich: Wir werden mit diesem Geld so umgehen wie mit unseren Diäten. Viele unserer Abgeordneten behalten nämlich nur einen Teil der Diäten und führen den oft sogar überwiegenden Teil sinnvollen ökologischen, demokratischen usw. Zwekken zu.
Und eines lassen Sie mich zur Rede von Herrn Gerster noch sagen: Es kommt offenbar eine merkwürdige Wut auf, wenn bei den GRÜNEN noch Vorstände über Unregelmäßigkeiten stolpern. Ich sage das in tiefem Ernst. Für Politiker anderer Parteien muß das allerdings anmuten wie eine Provokation und ein Märchen aus längst vergangenen demokratischen Zeiten. In der FDP wurde der Großmeister im Steuerhinterziehen sogar Bundesvorsitzender. Bei diesem Ausmaß an politischer und moralischer Verkommenheit
muß Sie das Funktionieren innerparteilicher Demokratie bei den GRÜNEN natürlich wütend machen.
Schließlich: Ich habe den Eindruck, es gibt für diejenigen Abgeordneten, die sich hier so freigiebig aus Steuergeldern bedienen wollen, nichts Ärgerlicheres und Schlimmeres, als daß sich auch die Steuerzahler einmal zu Wort melden und ihre Interessen vertreten. Sie haben ein merkwürdiges Bild von Demokratie. Als gute Demokraten müßten Sie sich eigentlich freuen, statt hier ständig die deutlichen Äußerungen vom Bund der Steuerzahler in den Dreck zu ziehen. Das möchte ich sehr deutlich sagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD haben hier, in seltener Eintracht übrigens — denn wenn es ums Geld geht, ums Abkassieren, dann sind Sie sich ja auch einig — einen Gesetzentwurf vorgelegt, dem seine Verfassungswidrigkeit auf der Stirn geschrie-
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Häfner
ben steht. Da meine Kollegin Frau Vollmer auf diese Dinge schon eingegangen ist, will ich mich jetzt auf die politischen Fragen und auf die Landschaft, in der sich dieser Gesetzentwurf bewegt, beschränken.
Was hätte man unter einer Änderung des Parteiengesetzes nicht alles diskutieren können? Zum Beispiel die völlig überzogene Rolle der Parteien im demokratischen Staat, die oft schon — siehe z. B. Schleswig-Holstein — eher zu einer Bedrohung als zur Stärkung der Demokratie beitragen, oder Fragen der innerparteilichen Demokratie, der Listenaufstellung, aber auch die Frage, ob denn all die vielen Hochglanzbroschüren und Waschmittelplakate, ob all die in Wahlkampfzeiten den Bürgerinnen und Bürgern fast überfallartig aufgedrängten Plastiktüten mit Luftballons, Kugelschreibern, Spielkarten und anderem aus Steuermitteln finanziertem teuren Schnickschnack wirklich sein müssen.
Warum kommen Sie eigentlich nicht auf die Idee, hier einmal anzusetzen, statt sich immer mehr Geld aus den Steuermitteln einzuverleiben? Weniger grenzenloses Geldausgeben für die Parteien würde zu einem Mehr an inhaltlicher, argumentativer Auseinandersetzung statt Mundtotmachen des Bürgers mit unerbetenen Plastikgeschenken führen. Weniger Geld für die politischen Parteien bedeutet ein Mehr an politischer Kultur.
Ich bin übrigens keineswegs grundsätzlich gegen öffentliche Parteienfinanzierung. Der Grundgedanke dabei war ja, daß nicht nur diejenigen Parteien, die eher das Kapital, das große Geld vertreten, in der Lage sein sollen, ausreichend und angemessen über ihre Ziele zu informieren, sondern auch jene Parteien, die eher die Arbeitnehmer vertreten oder die, wie das bei den GRÜNEN der Fall ist, diejenigen vertreten, die am wenigsten Macht, Geld und Stimme haben, die Interessen der Pflanzen und Tiere nämlich, der Frauen, der Nachdenklichen, der Friedliebenden, der Minderheiten und vor allem derer, die nach uns leben und die heute noch gar nicht real mitreden und mitstimmen können. Das war einmal der Grundgedanke der Parteienfinanzierung.
Aber was ist daraus geworden? Erst einmal hat man die allgemeine Wahlkampfkostenerstattung eingeführt. Aber statt, wie der Name es nahelegt, tatsächliche Kosten aus Wahlkämpfen zu erstatten, ist man dazu übergegangen, sich das Geld schon im voraus, auf Jahre im voraus, durch sogenannte Abschlagszahlungen zu genehmigen. Jeder Arbeitnehmer wäre froh, wenn er so sein Einkommen bekäme: für Jahre im voraus, im Blick auf mögliche künftige Leistungen. Aber Arbeitnehmer machen ja die Gesetze bei uns nicht, sondern das tun die politischen Parteien.
Ich will Ihnen — aus Zeitgründen muß ich das tun — die ursprünglich vorbereitete Auflistung ersparen, wie dieses Abkassierungsmodell weiterentwikkelt wurde und bei welchem Stand wir heute angekommen sind.
Doch dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben, sieht man von A bis Z an, wie schludrig und mit welcher Begehrlichkeit er gemacht wurde.
Herr Conradi, da Sie das vorhin angesprochen haben: ich kann Ihnen schon sagen, wie diese zeitliche Koinzidenz kurz vor Weihnachten zustande kommt. Wir haben nämlich heute den letzten Sitzungstag in diesem Jahr. Es ist sehr deutlich, daß Sie nun schnellstmöglich noch in diesem Jahr trotz größter Bedenken auch der Sachverständigen die Entscheidung durchziehen wollen. Noch ein Wort zur Anhörung: fünf von sechs geladenen Sachverständigen haben diesem Gesetzentwurf widersprochen; es ist übrigens wohl deshalb zum erstenmal passiert, daß ich im Ausschuß vom Vorsitzenden gebeten wurde, die Sachverständigen nun nicht mehr Sachverständige zu nennen, sondern Anhörpersonen; offenbar hätte man den Sachverstand nachträglich dann doch lieber nicht im Bundestag gesehen.
— Ich war dabei, die ganze Zeit. Lügen Sie doch nicht hier!
— Herr Gerster, nur wenn Sie nicht da waren, können Sie so etwas behaupten. Wenn Sie ins Protokoll gukken, können Sie sich vergewissern. Ich stehe zu meiner Behauptung: Ich war die ganze Zeit dabei.
— Selbstverständlich, Herr Gerster. Fragen Sie den Vorsitzenden, fragen Sie die anderen Kollegen, die länger als Sie anwesend waren. — Herr Gerster, wir sollten in der politischen Auseinandersetzung bei der Wahrheit bleiben und nicht zu solchen primitiven Vorwürfen greifen.
— Alles in Ordnung.
Jedenfalls will man jetzt in größter Hektik, und zwar zu einer Zeit, in der sich in vielen Parteien die Nachdenklichen melden, in der sich auch in der SPD viele geäußert haben und gesagt haben, so hätten sie das nicht gewollt und sie hätten damit ihre Probleme,
diesen Gesetzentwurf in einer dem Thema weiß Gott nicht angemessenen Hektik hier über die Bühne bringen. Die Hektik ist natürlich nicht gesetzgeberisch gefordert, sondern die Hektik ist von der Begehrlichkeit der Schatzmeister gefordert, die schon im näch-
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Häfner
sten Jahr in den Genuß der gewaltigen Zuzahlungen kommen wollen. Das ist der Hintergrund.
Herr Abgeordneter Häfner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Conradi?
Ja, bitte, ich gestatte immer Zwischenfragen.
Herr Kollege Häfner, könnte Ihr Plädoyer dafür, die Gesetzgebung in das kommende Jahr zu verschieben, damit zusammenhängen, daß die GRÜNEN für 1989 zu Anfang des Jahres dann nochmals 3 Millionen DM mehr als die SPD bekommen würden?
Herr Conradi, wenn wir hier einen Gesetzentwurf beraten — ich sage das sehr deutlich; ich sage das auch, weil Ihr Schatzmeister in den Anhörung kritisch angemerkt hat, der Schatzmeister der GRÜNEN sei nicht dabei — , wenn wir hier als Verfassungsorgan Deutscher Bundestag einen Gesetzentwurf beraten, dann nicht aus der Sicht von Parteischatzmeistern, wieviel Geld in die Kasse kommt, sondern aus der Sicht, wieviel gerechtfertigt ist.
Das müssen Sie in einer Zeit, in der beispielsweise Minister Blüm davon predigt, man sollte Subventionen abbauen, man sollte den Bürgern das Anspruchsdenken austreiben usw., einmal berücksichtigen.
Sie müssen berücksichtigen, was hier den Bürgern zugemutet wird, wenn Taxifahrten zum Krankenhaus nicht mehr bezahlt werden sollen, aber den Parteien durch einen schmutzigen Griff in die Taschen der Bürgerinnen und Bürger Millionensummen nachgeschmissen werden sollen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu unserem Antrag sagen, der auf der einen Seite die Steuerbegünstigung von Großspenden minimieren und auf der anderen Seite einen Bürgerbonus einführen, d. h. ein Stück mehr Demokratie sicherstellen will.
Fünf der sechs Sachverständigen — ich sage das mit Nachdruck; ich sage nicht „Anhörpersonen" — haben sich positiv zu diesem Vorschlag geäußert. Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, was Herr Prof. von Arnim gesagt hat. Er hat gesagt:
Herr Häfner hat gefragt, ob verfassungsrechtliche Einwände gegen den Bürgerbonus bestehen. Sie bestehen meines Erachtens nicht. Die Kommission ist ja auch dieser Auffassung. Die Einwände, die bestehen, beruhen auf Sekuritätsbedürfnissen der Parteischatzmeister. Man kann das aus deren Sicht auch verstehen; denn es kommt ja eine große Unsicherheit. Es würde ja davon abhängen, wem der Wähler mit seiner „Drittstimme" die 5 DM gibt oder ob er gar kein Kreuzchen macht. Das ist ja auch möglich. Vielleicht ist das sogar die Mehrheit. Das hätte jedenfalls den außerordentlich förderlichen Effekt, daß sich die Parteien auch um die Finanzstimme und damit mehr um die Wähler, um die Bürger, kümmern müßten. Was gäbe es denn für ein besseres Instrument, das die Parteien aus eigenen finanziellen Interessen heraus geradezu zwingen würde, die Bürgerferne von sich aus abzubauen und sich mehr um die Wähler zu kümmern? Ich finde, das ist ein bestechendes Instrument.
Wenn es ernst gemeint war, was die SPD vor nunmehr 20 Jahren behauptet hat, sie wolle mehr Demokratie wagen, wenn Sie das hier versuchen wollen, dann stimmen Sie erstens — jetzt wende ich mich nicht an die Fraktionen, sondern an jedes einzelne Mitglied des Hauses, denn wir müssen das ja vor unserem Gewissen rechtfertigen, was wir hier tun — gegen diesen Griff in die Tasche der Bürgerinnen und Bürger, gegen diese Erhöhung der Parteienfinanzierung. Das ist ja überhaupt kein „Ausgleich", sondern eine Erhöhung auf ganzer Linie. Und dann stimmen Sie zweitens für diesen urdemokratischen Antrag des Bürgerbonus.
Lassen Sie mich abschließend sagen, was Herr Professor von Arnim ebenfalls in der Anhörung gesagt hat. Er hat gesagt:
Ein Abgeordneter hat vorhin, an Herrn Seifert gewandt, gefragt:
Herr Abgeordneter Häfner.
Ich bin im letzten Satz.
Warum regen Sie sich denn so auf? Meine Herren,
— hat er gesagt —
ich glaube, unser Problem ist, daß wir uns in dieser Angelegenheit zuwenig aufregen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Wüppesahl.
Eine kurze Vorbemerkung: Ich will in keinster Weise das Recht des Präsidenten in Abrede stellen, die Redereihenfolge zu bestimmen, aber ich denke doch, wenn ich als Redner gesetzt bin, daß ich es dann erfahren kann, wenn ich umgesetzt werde! U. a. deshalb, damit mir solche Situationen wie eben erspart bleiben können.
Meine Damen und Herren, klar ist doch, daß durch dieses Gesetz die Parteien mehr Geld bekommen werden. Auch mit der geplanten Änderung wird es den Parteien aber an Geld fehlen. Das werden wir sehr schnell feststellen. Sicherlich innerhalb von wenigen Jahren, vielleicht schon innerhalb von wenigen Monaten. Den Parteien wird es immer an Geld fehlen, weil sie aus ihrem augenblicklichen Geist heraus eine Ausgabenmentalität haben, die unerträglich ist ge-
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Wüppesahl
genüber den Ansprüchen, die sie gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen formulieren. Deshalb wird es auch immer verlockend sein, sich aus dem Steuersockel selbst reichlich — und ich denke, überreichlich — zu bedienen. Was sollen eigentlich die Rentner, Sozialhilfeempfänger und andere Benachteiligte in unserer Gesellschaft denken, wenn an diese Gruppen ständig Sparappelle gehen, die Parteien aber nicht eine solche Vorgehensweise praktizieren, sondern ständig ins Volle greifen?
Herr Spilker von der CDU/CSU hat als Gründe, weshalb das Gesetz aufgelegt wurde, den § 10b des Einkommensteuergesetzes und den § 9 des Körperschaftsteuergesetzes aufgeführt. Wir müssen aber feststellen, daß die Novellierung in diesem Gesetzentwurf sehr viel weitergeht, und zwar genau in dem Bereich, in dem es darum geht, daß die Parteien sich selbst besser finanziell ausstatten.
Genauso hat Herr Bernrath von der SPD lange Ausführungen darüber gemacht, daß die jetzt im Gesetz formulierten Passagen verfassungsgemäß sind.
Sie gucken gar nicht danach, was die optimale Lösung ist, sondern nach derjenigen, die gerade noch verfassungsgemäß ist und bei der Sie sich gleichzeitig übermäßig bedienen können.
Dann dröhnen Sie in die Öffentlichkeit — aber wirklich: Sie dröhnen — , um die Menschen draußen Glauben zu machen, wie stark Sie sich selbst bescheiden und wie bitter notwendig es ist, daß die armen Menschen in den Parteien, die angeblich so karg leben, eine solch große Finanzausstattung bekommen, wie Sie sie sich jetzt selbst genehmigen.
Die Chancengleichheit wird durch diesen Gesetzentwurf zudem nicht gewährleistet. Benachteiligt werden nicht nur kleinere Parteien oder solche mit weniger wohlhabenden Gönnern, sondern vor allem die Wählergemeinschaften, die auf kommunaler Ebene unverzichtbare, weil bürgernahe, politische Arbeit leisten. Sie werden ohne erkennbaren Grund vom Finanz- und Spendentopf abgekoppelt.
Der Vorschlag der GRÜNEN, den auch der Bund der Steuerzahler begrüßt hat, an Hand eines Bürgerbonus den Bürger bei der Wahl selber bestimmen zu lassen, welche Partei das Geld und welche die Stimme erhalten soll, ist unbedingt zu unterstützen.
Besonders am Herzen liegt mir aber, wie schon erwähnt, die Untersützung der unabhängigen Wählergemeinschaften durch die steuerliche Begünstigung von Zuwendungen und Spenden an sie. Während die großen Parteien durch das Parteienfinanzierungsgesetz und andere Geldquellen, nicht zuletzt durch die Möglichkeit der steuerlichen Absetzung der Beiträge und Spenden für ihre Gönner, umfangreiche Mittel erhalten, haben kleine Wählervereinigungen und -gruppen diese Finanzierungsmöglichkeit nicht. Dabei gebieten auch das Demokratieprinzip und der Minderheitenschutz, daß auch die kleinen, meist örtlichen Vereinigungen ohne Parteicharakter, die an der politischen Willensbildung teilnehmen, finanziell bezuschußt und unterstützt werden, selbst wenn für sie wegen der 5-%-Klausel relativ wenige Chancen bestehen, in den Bundestag oder die Landesvertretungen einzuziehen.
Unterstellen Sie doch nicht im Umkehrschluß mit Ihrer vorgetragenen Logik, daß sich irgendeine Gruppierung oder Partei an einem Wahlkampf beteiligt, nur um in den Genuß eines mit Steuergeldern finanzierten Wahlkampfs zu gelangen. Genauso wie Vereine, karitative Einrichtungen, Interessenverbände und ähnliche die Möglichkeit haben, ihren Spendern und Förderern Spendenbescheinigungen zur Vorlage beim Finanzamt auszustellen, muß dies auch für diese unabhängigen Wählervereinigungen gelten, und zwar im gleichen Umfang wie bei den Parteien; natürlich erheblich reduziert gegenüber der jetzt von Ihnen vorgelegten Fassung des Gesetzentwurfs.
Die Wählervereinigungen sind für diese Demokratie und Gesellschaft von eklatanter Bedeutung. Sie wissen, daß gerade dieser Bereich in dem Gesetzentwurf einer der größten Gefahrenpunkte für die Frage der Verfassungsgemäßheit ist.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 des Grundgesetzes, in der diese unabhängigen Gruppen insbesondere tätig werden, ebenso durch das Grundgesetz geschützt ist, wie es die Parteien durch Art. 21 des Grundgesetzes sind.
Daher ist es aus Gründen der Gleichbehandlung, der Demokratie und des Minderheitenschutzes zwingend geboten, diese unabhängigen Wählervereinigungen als Keimzellen politischer Betätigung wenigstens insofern zu unterstützen, als die steuerliche Absetzbarkeit ihrer Spenden und Mitgliedsbeiträge vergleichbar mit den Möglichkeiten der Parteien geregelt wird.
Abzulehnen ist auch der neue Sockelbetrag. Er ist eindeutig — da darf es im Grunde keine Frage geben — verfassungswidrig. Durch diese Regelung fallen wieder einmal die kleinen Gruppen und Parteien aus einer Förderung durch das Parteienfinanzierungsgesetz heraus. Durch die 5-%-Klausel — die übrigens an keiner Stelle unserer Verfassung steht und sich auch mit ihrer historischen Begründung aus den 50er Jahren in bezug auf Weimar längst überlebt hat — sind diese kleinen Parteien und Wählervereinigungen sowieso zum Großteil von der politischen Einflußnahme ausgenommen. Darum sollte wenigstens die finanzielle Ausstattung zur Unterstützung der Tätigkeit großzügig ausfallen.
Die Pflicht zur Veröffentlichung von Großspenden ab 40 000 DM ist nur noch als peinlich zu bezeichnen. Sie wissen ganz genau, daß bestimmte Großspender in Ihre Schatzmeisterschatullen kein Geld mehr gäben, wenn sie wüßten, daß eine Veröffentlichung stattfindet. Was sonst spricht denn dagegen, daß Großspender bereits ab einem Betrag von etwa 5 000 DM in den Rechenschaftsberichten auftauchen müssen? Ist es schlechtes Gewissen? Oder ist es den Spendern etwa peinlich, die Träger — so ist ja Ihre Logik — der parlamentarischen Demokratie, nämlich die sich den Staat zur Zeit immer mehr aneignenden Parteien, zu unterstützen? — Wie dem auch sei, die Pflicht, Großspender im Rechenschaftsbericht der Partei er-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8613
Wüppesahl
scheinen zu lassen, muß bei einer weit geringeren Summe von beispielsweise 5 000 DM einsetzen.
Abschließend bringe ich Ihnen kurz zu Gehör, was mir in diesen Tagen von einem die politischen Geschehnisse sehr interessiert verfolgenden Bürger unserer Republik erzählt wurde. Sie wissen, wie häufig gesagt wird, daß hier in Bonn die Bonzen herrschen. Und wie häufig gesagt wird: Das sind teilweise ja geradezu Ganoven, wie die mit uns Bürgern umgehen. Diese Person hat — Sie wissen, aus welcher Logik heraus ich Ihnen das sage — geäußert: So geschickt, wie sie sich dort Geld beschaffen — da ist mir ja ein „ehrlicher" Mafioso auf Sizilien lieber, der mit einer Pistole in die Bank geht und sich das Geld beschafft.
Sie wissen, daß Sie kriminologisch betrachtet, die Möglichkeit haben, Recht zu setzen. Das, was Sie in diesem Gesetz formulieren, ist in anderen Ländern als rechts- und verfassungswidrig ausgewiesen. Wie problematisch Ihre Vorgehensweise ist, zeigt nicht nur dieses Zitat, das ich gebracht habe. Es zeigt sich auch in dem Schwall an Gegenwind, den Sie durch die Medien in den Vortagen zu diesem Gesetz und zu dieser Diskussion heute erlebt haben und hoffentlich auch danach bekommen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der letzte Ausdruck, der auch in vielen Medien wiederkommt, kommt daher, daß zu viele meinen, hier werde ungerechtfertigt viel bewilligt. Viele gehen einfach über die Tatsache hinweg, daß die Beschneidung der Parteien politische Vakuen schafft, in die andere Verbände und Mächte einrücken, die über die Herkunft ihrer Mittel nicht Rechenschaft ablegen und die damit politische Macht ausüben. Das ist der Tatbestand.
Viele von denen, die heute meinen, das sei Übermaß, übersehen die politische Entwicklung, die es in den letzten Jahren und Jahrzehnten gegeben hat. Ich will nur einige Beispiele nennen:
Der Bundeshaushalt hat sich seit 1969 um den Faktor 3,29 erhöht. Die Erhöhung der Wahlkampfkostenerstattung liegt bei 2,32. Es hat sich der reine Kanzleretat im Bundeskanzleramt von 10,8 Millionen auf 50 Millionen DM erhöht, der vom Bundespresseamt von 111 Millionen auf 199 Millionen DM. Das sind alles höhere Zuwächse, als für die Parteienfinanzierung und für die Wahlkampfkostenerstattung zur Verfügung stehen.
Da andere mit uns an der politischen Willensbildung mitwirken, vor allem die Vertreter der Medien, die uns so liebevoll kritisieren, will ich einmal darlegen, wie denn die Arbeitskostenerstattung unserer Medien seit 1969 gestiegen ist.
Der „Spiegel" hat 1969 1,50 DM verlangt, Arbeitskostenerstattung heute: 4,30 DM; die „Süddeutsche Zeitung" : 0,60 DM, heute: 1,30 DM; die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" : 0,40 DM, heute: 1,90 DM; der „Stern" : 1,90 DM, heute: 3,50 DM. Ich sage noch gar nichts über die Anzeigenpreise pro Seite. Oh Herr, wer könnte da bestehen, wenn wir die Wahlkampfkostenerstattung danach ausrichten würden?
Meine Damen und Herren, Karlsruhe hat ganz deutlich gemacht: Es geht um das gesamte politische, soziale und gesellschaftliche Umfeld. Wir arbeiten nicht im luftleeren Raum, sondern wir erbringen eine wichtige Aufgabe. Wahlkampf heißt die Herausarbeitung von persönlichen, personellen und politischen Alternativen. Das ist nicht Selbstbedienung; das ist Dienst an der Demokratie. Deshalb können wir auch guten Gewissens zustimmen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze — Drucksachen 11/2421, 11/3672 und 11/3697.
Es ist von der Fraktion der SPD getrennte Abstimmung über Art. 1 Nr. 8 verlangt worden. Ich rufe Art. 1 Nr. 1 bis 7 auf: Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dann sind diese Nummern in Art. 1 mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 8 auf: Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. —
— Herr Abgeordneter Kleinert, die Toleranz des Präsidenten ist nicht zu überbieten, aber Sie müssen schon sagen, wie Sie abstimmen wollen.
Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit angenommen.
Wer Art. 1 Nr. 9 und 10 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine. Mit großer Mehrheit angenommen.
Wer Art. 2 bis 8, Einleitung und Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit großer Mehrheit angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein.
Es haben eine Reihe von Abgeordneten eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben, und zwar Frau Abgeordnete Hamm-Brücher, Frau Abgeordnete AdamSchwaetzer, Herr Abgeordneter Struck und Herr Ab-
8614 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
Vizepräsident Stücklen
geordneter de With *) sowie Herr Abgeordneter Catenhusen. Wir nehmen diese schriftlichen Erklärungen zu Protokoll.
Wir kommen zur Schlußabstimmung. Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung.
Ich eröffne die Abstimmung.
Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, daß wir noch eine Abstimmung vorzunehmen haben. Das Ergebnis der Auszählung der namentlichen Abstimmung werden wir noch in der Sitzung bekanntgeben. Dazu ist die Anwesenheit der Abgeordneten nicht mehr in so großer Zahl erforderlich, wohl aber zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung.
Meine Damen und Herren, haben alle Mitglieder des Hauses, die sich an der Abstimmung beteiligen wollen, ihre Stimme abgegeben? Darf ich die Parlamentarischen Geschäftsführer um ein Zeichen bitten, ob sie der Meinung sind, daß ich die Abstimmung schließen kann? Herr Bötsch, Herr Seiters, Herr Beckmann, Herr Kleinert?
Ich darf die Abstimmung schließen und bitte die Schriftführer um Auszählung.
Sie sind vermutlich damit einverstanden, daß ich die Beschlußempfehlung zur Abstimmung bringe. Ich darf bitten, Platz zu nehmen. Es ist nur noch eine einzige Abstimmung.
Wir kommen zur Abstimmung über Buchstabe b der Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/3672. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe b der Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zur Änderung des Parteiengesetzes auf Drucksache 11/3097 abzulehnen. Wer der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Gegen Stimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung gebe ich dann bekannt, wenn es vorliegt. Ich kann die Sitzung jetzt nicht schließen; ich muß das Ergebnis in dieser Sitzung bekanntgeben, da das Gesetz ja am 1. Januar in Kraft treten soll und wir nicht wissen, wie die namentliche Abstimmung ausgeht.
Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bei der Schlußabstimmung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze auf Drucksachen 11/2421 und 11/3672 bekannt. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 363 ihre Stimme abgegeben, ungültig keine, mit Ja haben gestimmt 321, mit Nein 31, und enthalten haben sich 11 Abgeordnete. 18 Berliner Abgeordnete haben an der Abstimmung teilgenommen, ungültig keine, mit Ja haben 15, mit Nein 2 gestimmt, 1 Enthaltung.
*) Die Erklärung des Abg. Dr. de With wird im Stenographischen Bericht der 118. Sitzung als Anlage abgedruckt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 363 und 18 Berliner Abgeordnete; davon
ja: 321 und 15 Berliner Abgeordnete
nein: 31 und 2 Berliner Abgeordnete
enthalten: 11 und 1 Berliner Abgeordneter
Ja
CDU/CSU
Dr. Abelein Austermann
Bauer
Bayha
Dr. Becker Dr. Blank
Dr. Blüm Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen Borchert Breuer
Carstens Carstensen (Nordstrand) Clemens
Dr. Czaja
Frau Dempwolf Dörflinger
Doss
Dr. Dregger
Echternach
Ehrbar
Eigen
Eylmann
Dr. Faltlhauser
Fellner
Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann
Dr. Friedrich
Fuchtel
Funk
Ganz
Geis
Dr. Geißler
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster
Glos
Dr. Göhner
Gröbl
Günther Dr. Häfele Harries
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser Hauser (Krefeld) Hedrich
Freiherr Heereman von
Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig Helmrich Herkenrath
Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Frau Hürland-Büning Dr. Hüsch
Graf Huyn Jäger
Dr. Jahn
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung
Jung
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Kiechle
Klein
Kolb
Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz
Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Frau Limbach
Link
Link
Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Maaß
Frau Männle
Magin Marschewski
Michels Dr. Möller
Müller
Müller
Nelle
Niegel
Dr. Olderog
Oswald Pesch
Pfeffermann
Pfeifer
Dr. Pinger
Dr. Pohlmeier
Dr. Probst
Rauen Reddemann
Repnik
Dr. Riedl
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch
Frau Roitzsch Rossmanith
Rühe
Dr. Rüttgers
Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Dr. Schäuble
Scharrenbroich
Schartz
Schemken
Scheu Schmidbauer
Schmitz
Dr. Schneider Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Dr. Schulte
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8615
Vizepräsident Stücklen
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Dr. Stoltenberg
Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer
Dr. Uelhoff Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski
Dr. Wittmann Würzbach
Dr. Wulff
Zeitlmann Zink
Berliner Abgeordnete
Buschbom Feilcke
Kalisch
Kittelmann Lummer
Dr. Mahlo Dr. Neuling Dr. Pfennig
Schulze Straßmeir
SPD
Frau Adler
Amling Andres
Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Dr. Böhme
Brandt Brück Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Buschfort
Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Diller Dreßler Dr. Ehmke
Dr. Emmerlich
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau Ganseforth
Dr. Gautier Gilges
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Grunenberg
Haack
Haar
Hasenfratz Dr. Hauchler Heistermann
Dr. Holtz Horn
Huonker
Jahn
Jaunich
Kirschner Klose
Kolbow
Koltzsch Koschnick Kretkowski Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart Lohmann
Lutz
Frau Dr. Martiny-Glotz Müller Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Dr. Niese Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oesinghaus Opel
Dr. Osswald Paterna
Pauli
Dr. Penner Peter
Reimann Frau Renger
Reuter
Roth
Schäfer Schanz
Scherrer Schluckebier
Frau Schmidt Schmidt (Salzgitter) Schreiner
Schröer
Schütz
Frau Seuster
Sieler
Singer
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Stahl
Frau Steinhauer
Stiegler
Frau Terborg
Tietjen
Frau Dr. Timm
Frau Traupe Urbaniak Vahlberg Waltemathe
Frau Dr. Wegner Weiermann Weisskirchen Westphal
Frau Weyel Dr. Wieczorek
von der Wiesche
Wittich Würtz
Zander Zeitler Zumkley
Berliner Abgeordnete
Heimann Stobbe
Dr. Vogel
FDP
Dr. Bangemann
Baum Beckmann
Bredehorn
Cronenberg Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus Genscher
Gries Grünbeck
Dr. Haussmann
Dr. Hitschler
Dr. Hoyer
Kleinert Kohn
Dr. Graf Lambsdorff Mischnick
Neuhausen
Nolting Richter Rind
Ronneburger
Schäfer
Frau Dr. Segall
Dr. Thomae
Timm
Dr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau Würfel
Zywietz
Berliner Abgeordnete
Hoppe Lüder
Nein
SPD Wischnewski
FDP
Frau Dr. Hamm-Brücher DIE GRÜNEN
Frau Beer
Brauer
Dr. Daniels Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe Häfner
Frau Hensel Frau Hillerich
Kleinert
Frau Krieger
Dr. Lippelt Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Rock
Frau Saibold Schily
Frau Schmidt-Bott
Frau Schoppe Stratmann
Frau Teubner Frau Unruh Frau Vennegerts
Frau Dr. Vollmer
Volmer
Weiss
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny
Berliner Abgeordnete
Frau Olms Sellin
Fraktionslos Wüppesahl
Enthalten
CDU/CSU Biehle
SPD
Bachmaier Catenhusen Kastning
Kißlinger
Frau Matthäus-Maier
Dr. Pick
Porzner
Dr. Struck Wiefelspütz Dr. de With
Berliner Abgeordneter Wartenberg
Damit ist das Gesetz angenommen.
Nun, meine Damen und Herren, kommen nur noch wenige in den Genuß meiner Weihnachtsglückwünsche und meiner Glückwünsche zum Jahreswechsel. Ich wünsche Ihnen geruhsame Weihnachtsfeiertage. Kommen Sie gut ins neue Jahr, kommen Sie gestärkt, frohen Mutes wieder. Wir werden dann 1989 in gewohnter Weise hier diese Arbeit wieder aufnehmen.
8616 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
Vizepräsident Stücklen
Hoffentlich wird dann auch in der Öffentlichkeit gewürdigt, wie sich die Abgeordneten für das Wohl unseres ganzen Volkes einsetzen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Januar 1989, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.