Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 40. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1988 ist für uns alle ein gegebener Anlaß, über Vision und Wirklichkeit damals, heute und morgen einer Deklaration nachzudenken, die am Anfang einer Epoche verabschiedet wurde, die sich — noch unter den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges und den Untaten des Nationalsozialismus leidend — weltweit nach Frieden und Menschlichkeit sehnte, einer Epoche, die in der Folgezeit jedoch alsbald wieder von neuen Konfrontationen, grausamen Kriegen, von Völkermord und Menschenrechte verachtenden Regimen heimgesucht wurde.
Die in der Erklärung niedergelegte Vision von einer Welt, in der Menschenrechte für jeden Menschen erfahrbar sind, in der Konflikte zwischen Staaten fried-
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Frau Dr. Hamm-Brücher
lich gelöst werden und sich die Fortschritte an der Wirklichkeit messen lassen müssen, ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in diesen vier Jahrzehnten zu so etwas wie einem moralischen und politischen Lehrstück der Menschheit geworden, zu einem Lehrstück, an dem verantwortliche Politiker und viele Menschen in aller Welt zum Besseren, aber auch zum Schlechteren mitgewirkt haben, zu einem Lehrstück, für dessen Ausgang wir — ob wir wollen oder nicht — bewußt oder unbewußt Mitverantwortung tragen. Auch so möchte ich die Debatte und den Verlauf dieser Debatte heute verstehen: als eine Gelegenheit zum Nachdenken, zur nüchternen Bilanz und für einen Blick nach vorn.
Meine Damen und Herren, für die Realisierung von Menschenrechtspolitik im Sinne der Erklärung von 1948 — das wissen alle, die sich damit befassen — gilt die Maxime Max Webers vom „Bohren harter Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft" in ganz besonders eindringlicher Weise. Und weiter im Sinne von Max Weber: Immer von neuem müssen sich die für die Rechte ihrer Mitmenschen kämpfenden Politiker und Bürger mit jener Festigkeit des Herzens wappnen, die selbst beim Scheitern aller Hoffnungen dennoch sagt: Also weiterkämpfen! Wir schulden diesen Menschen auch in dieser Stunde unseren Dank.
Meine Damen und Herren, der Wille zum Bretterbohren begann mit der Einsetzung einer Menschenrechtskommission bei den Vereinten Nationen im Januar 1947, deren Auftrag bereits in der Präambel ihrer Gründungscharta niedergelegt worden war. Fast zwei Jahre waren nötig, um die Erklärung fertigzustellen. Daß dies überhaupt gelang, ist einer Frau, nämlich Eleanor Roosevelt, zu verdanken, an deren Lebenswerk zu erinnern mir im Rahmen dieser Debatte ein ganz besonderes Bedürfnis ist.
Ich bin Eleanor Roosevelt während meines Studienaufenthaltes in den USA 1949/50 begegnet und habe ihre Festigkeit des Herzens in Sachen Menschenrechte beispielgebend erfahren dürfen. Sie hat mir, der jungen, von Scham über das in unserem Namen geschehene Unheil tief erschütterten Deutschen, die Überzeugung vermittelt, daß die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen — jedes Menschen! — und die Bewahrung und Stärkung der Rechte hierfür die Voraussetzung für das Überleben der Menschheit sind.
Eleanor Roosevelt, die Witwe des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, die von 1946 bis 1952 die amerikanische UN-Delegation leitete, verstand diese Aufgabe als das Vermächtnis ihres Mannes, der ja bereits 1941 vor dem amerikanischen Kongreß die menschenrechtlichen Grundprinzipien einer friedenssichernden Nachkriegsentwicklung verkündet hatte. In der von ihr geleiteten Kommission wirkten bemerkenswerte Repräsentanten aus unterschiedlichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen mit, und es ist sehr lohnend, dies noch einmal nachzulesen.
Die Kommissionsmitglieder hatten demzufolge höchst unterschiedliche Verständnisse dafür, was Human Rights nun eigentlich seien. Allein der Persönlichkeit, der Überzeugungskraft und der Beharrlichkeit von Eleanor Roosevelt war es zu verdanken, daß man sich schließlich bei sieben Enthaltungen Ende 1948 — nun schon mitten im Kalten Krieg, meine Damen und Herren — auf den Entwurf dieser Erklärung verständigen konnte. Zu dem zunächst ja geplanten Vertragswerk eines, später von zwei Menschenrechtspakten konnte es damals nicht kommen. Dies dauerte dann noch bis 1966. Bis heute folgten etwa 30 Vereinbarungen. Die wohl wichtigste und folgenreichste ist die Schlußakte der KSZE von Helsinki.
Wenn ich also, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, an die Anfangszeit noch vor meiner Begegnung mit Eleanor Roosevelt zurückdenke, dann muß ich doch nachträglich gestehen, daß ich wie wohl die meisten Deutschen damals mit Erklärungen dieser Art, falls wir sie überhaupt zur Kenntnis nahmen, nicht viel anfangen konnte. Den Begriff „Menschenrechte" kannten wir ja allenfalls vom Hörensagen. Was eine Erklärung dieser Art angesichts der Abermillionen Opfer und der ausweglosen Lage von Abermillionen Überlebenden in Europa und Asien überhaupt bewirken könnte, dafür hatten wir damals kaum ein müdes Achselzucken.
Sicher, meine Damen und Herren, geht es heute Millionen Menschen in der Welt, die von Krieg, Verfolgung und Not heimgesucht sind, ganz ähnlich, wenn sie etwas von solchen Erklärungen hören. Aber eben deshalb wollte ich an diese Ausgangslage vor 40 Jahren erinnern: um damit deutlich zu machen, daß es diese eine Erklärung war, die seither trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen im Bewußtsein der Menschheit und im politischen Handeln von Staaten, Menschengruppen und einzelnen Menschen sehr viel mehr bewirkt hat, als wir es ursprünglich auch nur vorausahnen konnten. Deshalb ist dieser Tag, an dem wir uns dieses Ereignisses erinnern, keine Pflichtübung, sondern eine Verpflichtung für alle, deren Grund- und Menschenrechte so fest garantiert sind wie die unseren. Da stimme ich Ihnen vollständig zu, Herr Kollege Brandt.
Wir können heute feststellen: Das Thema Menschenrechte hat im Verlauf der letzten 40 Jahre eine politische Schubkraft entwickelt. Es ist von der Tagesordnung internationaler Konferenzen, bei Verträgen und in der Zusammenarbeit von Staaten überhaupt nicht mehr wegzudenken.
Im Entspannungsprozeß haben Menschenrechte sowohl innerstaatlich in kommunistischen Ländern als auch zwischenstaatlich in den Ost-West-Beziehungen schneeballartig sich fortsetzende Veränderungen bewirkt, die heute schon wiederholt angeführt wurden. Es gibt heute in freien, aber auch in unfreien Gesellschaften immer mehr Menschen, die sich auf Menschenrechtsvereinbarungen berufen können und sich für die Verwirklichung der Menschenrechte im eigenen Land und in ihren Regionen engagieren. Die Vision von Eleanor Roosevelt ist also doch ein Stück politische Wirklichkeit geworden. Manchmal liest man in der Literatur bereits sogar etwas von einem Völkergewohnheitsrecht, wenn wir auch leider noch
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sehr weit von einer kopernikanischen Wende im Völkerrecht entfernt sind.
Damit bin ich bei der Wirklichkeit heute, wie sie sich auch in den vorliegenden Erklärungen und Entschließungen sowie in den verschiedenen Debattenbeiträgen widerspiegelt. In dieser Debatte dürfen wir es ja nicht bei dem Rückblick bewenden lassen. Wir müssen uns der Gegenwart und der Zukunft stellen. Ich möchte bereits Gesagtes gar nicht wiederholen. Ich möchte nur zusammenzufassen versuchen, wo nach unserer Überzeugung die gravierenden Defizite und Probleme liegen, mit denen wir es heute im Ringen um die Einhaltung und Verwirklichung der Menschenrechte zu tun haben. Ich nenne sechs.
Erstens. Obgleich im Verlauf der 40 Jahre seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung zu ihrer Durchsetzung Instrumente wie Kontrollgremien, Berichte, Verurteilungen durch politische Gremien entwickelt wurden, fehlt es doch nach wie vor an den entscheidenden Sanktionsmechanismen, die zur Durchsetzung erforderlich sind. Deshalb fordern wir Liberalen die Einrichtung eines Menschenrechtskommissariats mit einem Kommissar. Wir fordern einen UN-Menschenrechtsgerichtshof auch für Individualklagen. Wir fordern internationale Sanktionen gegen politische, rassische, religiöse, kulturelle Verfolgungen. Wir fordern die weltweite Ächtung der Todesstrafe.
Zweitens. Unterzeichnerstaaten von Menschenrechts- und anderen einschlägigen Vereinbarungen, die dauerhaft gegen Verpflichtungen, die sie mit ihrer Unterschrift übernommen haben, schuldhaft verstoßen, müssen aus der Gemeinschaft der Unterzeichner ausgeschlossen werden können.
Drittens. Viele Bemühungen scheitern, weil es noch kein von allen religiösen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen gemeinsam und verbindlich getragenes Menschenrechtsverständnis gibt. Viele Gespräche mit Frauen und Männern aus der Dritten Welt machen deutlich, daß es das auf absehbare Zeit auch nicht geben wird. Deshalb muß an diesem Verständnis intensiv weitergearbeitet werden. Es darf nicht einfach darüber hinweggegangen werden, daß sich nicht alle Welt an unseren westlichen Vorstellungen von Menschenrechten orientieren wird.
Viertens. Menschenrechtsverletzungen an Frauen: Ich bin dem Herrn Bundeskanzler sehr dankbar, daß er unsere Initiative erwähnt hat; denn diesen Verletzungen werden noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit und wirksame Bekämpfung zuteil. Frau Kollegin Olms hat dazu ein paar bewegende Beispiele gebracht. Wir hoffen, daß es im Zusammenhang mit der Antwort auf unsere Große Anfrage eine gesonderte Debatte über dieses spezielle Thema geben wird. Wir haben hierzu heute übrigens eine eigene Presseveröffentlichung herausgegeben.
Fünftens. Mögliche Fortschritte in einer weltweit verbesserten Menschenrechtspolitik werden häufig — und ganz gelegentlich war auch diese Debatte nicht völlig frei davon — durch Politisierung und Ideologisierung blockiert. Wir dürfen, meine Damen und Herren, diese Debatte auch in den innenpolitischen Auseinandersetzungen wirklich nicht als Schlagstock mißbrauchen. Gerade der Fortschritt in der Zusammenarbeit in den parlamentarischen Ausschüssen hat ja dazu geführt — Sie, Frau Geiger, haben das auch gewürdigt — , daß wir diesen innenpolitischen, parteipolitischen Schlagstock zu Hause lassen, wenn es um diese Fragen geht.
Sechstens. Die Kooperation zwischen Regierungen in allen Menschenrechtsbereichen wird meiner Überzeugung nach noch nicht ausreichend betrieben. Bei uns ist es besser geworden; aber in anderen Parlamenten wird sie doch noch nicht ausreichend durch parlamentarische Zuständigkeiten und vor allem durch interparlamentarische Zusammenarbeit ergänzt und unterstützt. Hier müssen wir wohl eine Art Frühwarnsystem zwischen europäischen Parlamenten und deren zuständigen Ausschüssen einrichten.
Schließlich, meine Damen und Herren, der Blick über die Wirklichkeit von heute hinaus auf die Vision von morgen!
Erstens. Menschenrechtspolitik — das wurde heute auch gesagt — ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Menschenrechtspolitik muß den Grundstein für eine Weltinnenpolitik legen, die der gemeinsamen Verantwortung für das Fortbestehen der Menschheit gerecht wird.
Zweitens. Hierzu müssen Grund- und Menschenrechte Eingang in die Verfassungen aller Staaten und Staatengemeinschaften finden. Diese Rechte müssen nachprüfbar und einklagbar sein und auch der gegenseitigen Nachprüfung offenstehen.
Drittens. Die Verhaltensregeln der Staaten untereinander und die Konfliktregelungen zwischen Staaten müssen völkerrechtsverbindliche Rechtsformen erhalten.
Viertens. Das Engagement von Gruppen und von einzelnen für den Schutz, die Einhaltung und die Stärkung der individuellen und der kollektiven Menschenrechte muß anerkannt, ermutigt und gefördert werden — noch mehr als bisher.
Zu den bereits genannten Beispielen möchte ich hier vor allem auch kirchliche Gruppen, das Komitee Notärzte, das erst in jüngster Zeit in vielen Menschenrechtsfällen in Afghanistan sich ungeheuer eingesetzt hat, zählen.
Schließlich, meine Damen und Herren, sehr wichtig: Menschenrechtsverletzungen beginnen im Kopf. Abneigung, Ablehnung oder gar Haß gegen Fremde im eigenen Land sind Beispiele hierfür, denen wir nicht nachdrücklich genug entgegentreten können und müssen.
Wie vor vierzig Jahren, meine Damen und Herren, und wie es das Beispiel von Eleanor Roosevelt zeigt, kommt es auch heute und morgen auf das an, was ich anfangs mit den Worten Max Webers zitierte: auf das geduldige Bretterbohren, aber auch auf die Festigkeit des Herzens und des Dennochsagens trotz vieler Enttäuschungen.
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Frau Dr. Hamm-Brücher
Vielen Dank.