Ich darf vielleicht noch einmal sagen, daß ich es gut fände, wir könnten miteinander feststellen, im Vorfeld dieses Tages seien weltweit ins Gewicht fallende und dauerhafte Veränderungen zugunsten der Menschenrechte zu verzeichnen, an diesem Tag, da wir uns der 40jährigen Wiederkehr jenes 10. Dezember 1948 erinnern, an dem durch die Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde.
Tatsächlich haben wir festzustellen, daß, wie es auch in der uns vorliegenden Entschließung heißt, in vielen Staaten der Erde Menschenwürde und Menschenrecht nach wie vor mit Füßen getreten werden. Gleichwohl, so denke ich, sollten wir nicht gering-
schätzen, daß in einer Reihe von Ländern Veränderungen zum Besseren zu verzeichnen sind.
In Chile beispielsweise, das in eine traurige Negativrolle geraten war, hat sich durch die Volksabstimmung vor wenigen Wochen eine gute Chance dafür ergeben, daß demokratische Verhältnisse einkehren und die Zeit der Mißhandlungen endlich zu Ende geht.
In Südkorea, um ein zweites Beispiel zu nennen, wird hart und, wie ich hoffe, erfolgreich darum gerungen, das Erbe böser Willkürherrschaft zu überwinden.
Aus mehreren Ländern in verschiedenen Teilen der Welt liegen Berichte darüber vor, daß sie Fortschritte erzielen auf dem Weg zum inneren Frieden und für die Völker zu menschlicheren Formen, in denen sie regiert werden.
Es ist klar, daß unser besonderes Interesse den teils ermutigenden, teils widersprüchlichen Entwicklungen im anderen Teil Europas gilt. Ich zögere nicht zu sagen, daß es epochale Bedeutung erlangen kann, wenn der Schutz des Individuellen und die Transparenz des Kollektiven, wenn persönliche Freiheit und gemeinsame Verantwortung dort neu bestimmt werden, wo es, woran wir uns gelegentlich erinnern sollten, eine Tradition westlicher Demokratie nicht gibt. Auch diese Erinnerung darf angebracht werden vor dem Hintergrund der schrecklichen Katastrophe, an die der Bundeskanzler einleitend erinnert hat.
Für einen Sozialdemokraten enthält es einen besonderen Reiz, aus Rußland und aus dem kommunistisch regierten Osteuropa bestätigt zu bekommen, daß es ein grundlegender Irrtum war, elementare Menschenrechte geringzuschätzen und mit Bürgern umzugehen, als gehörten sie der Staatsmacht.
Es läßt hoffen, wenn sich die Einsicht durchzusetzen beginnt, daß Sozialismus, wie man diesen im übrigen interpretiert, ohne Demokratie — und dazu gehören garantierte Menschenrechte — nicht funktioniert.
Ich hielte es für mehr als bedauerlich, wenn diese Logik auf deutschem Boden größeren Schwierigkeiten als weiter östlich begegnete.
Hier im Deutschen Bundestag und mit der überwältigenden Mehrheit unseres Volkes sind wir uns gewiß einig in der Hoffnung, daß die auf Schutz von Menschenrechten und auf Sicherung demokratischer Mitverantwortung zielenden Bemühungen dauerhaften Bodengewinn erzielen mögen, und es liegt auf der Hand, daß sich unser Interesse gerade auch auf den anderen deutschen Staat richtet. Entscheidungen zu-
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gunsten von mehr Freizügigkeit sind Schritte in die richtige Richtung.
Die Entschließung, der hier zuzustimmen empfohlen wird, spricht jenen nichtstaatlichen Organisationen und den in ihnen tätigen und mit ihnen verbundenen Einzelpersonen Anerkennung aus, jenen, die, wie es wörtlich heißt, „sich unter teilweise hohem persönlichen Risiko für die Verwirklichung der Menschenrechte in aller Welt einsetzen". So weit das Zitat aus der Entschließung. Dies gilt dann nicht zuletzt für die an zahllosen Fällen abzulesende vorbildliche Arbeit von amnesty international, die auch ich hervorheben möchte.
Im diesjährigen Jahresbericht von amnesty international heißt es — ich darf zitieren — :
In über 80 Ländern
— das ist die Hälfte der Staaten der Erde —
sitzen Menschen hinter Gittern, weil sie gewaltlos ihre Meinung geäußert haben. In mehr als einem Drittel der Welt wird von Staats wegen gefoltert. In Dutzenden von Ländern entführen und ermorden Regierungen ihre eigenen Bürger. Mehr als 120 Nationen kennen noch die Todesstrafe.
— Und weiter:
Millionen von Menschen hungern, viele werden gefangen gehalten und nicht wenige gefoltert und getötet. Andere werden wegen ihrer Rasse, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens verfolgt.
Damit schließt mein Zitat.
Meine Damen und Herren, wir erleben, daß dort, wo ein brutaler Krieg zu Ende geht, wie der zwischen Irak und Iran, ganz ernst Menschenrechtsprobleme — vor allem von Gefangenen — bleiben. Wo unerklärter Kriegszustand herrscht, wie in Teilen des Nahen Ostens, sind es immer wieder Kinder, die Gewalthandlungen zum Opfer fallen. Wenn an mehr als einer Stelle Lateinamerikas — unbeschadet der anderen günstigeren Tendenzen, auf die der Bundeskanzler hingewiesen hat — staatlich tolerierte Todesschwadronen neu zu wüten beginnen, sind es immer wieder Verfechter der Bürgerrechte und Feinde der Drogenmafia, die sie mit Vorrang als zum Abschuß freigegeben betrachten.
Vor unseren Augen haben wir also das Bild einer unübersehbaren namenlosen Menge von Menschen, die um die einfachsten Ansprüche ihres Menschseins betrogen werden.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß der Bundeskanzler heute morgen in seiner Erklärung die Verflechtungen zwischen Menschenrechten, Entwicklung und Frieden hervorgehoben hat.
Ich will auch gerne ergänzend ein Wort zu der einleitenden Bemerkung über die Abrüstungsankündigungen des sowjetischen Präsidenten und Generalsekretärs sagen, und zwar möchte ich sagen: Es kommt, glaube ich, in diesen Wochen sehr darauf an, auf Gorbatschow nicht mäkelnd und rechthaberisch, nicht zögerlich und bürokratisch zu reagieren, sondern so, wie es einer Chance von historischer Bedeutung entspricht.
Wir machen uns nicht klar genug, was die andere Seite des Friedens und der Menschenrechte angeht; was es eben gerade unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte bedeutet, wenn 800 Millionen Mitmenschen in der sogenannten Dritten Welt in absoluter Armut vegetieren, wie der Terminus der internationalen Organisationen lautet. Durch die anhaltende Entwicklungskrise werden noch mehr Menschen unter das Existenzminimum gedrückt. Hieraus ergeben sich peinliche Fragen für die Industrieländer, also für uns mit, aber auch für die Eliten im Süden, wenn sie sich mancherorts der Verfolgung jener hingeben, die für nichts anderes als für elementare Lebens- und Bürgerrechte eintreten.
Nun, meine Damen und Herren, angesichts so vieler niederschmetternder Berichte könnte man resignieren. Es kann ja überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß viele Menschen längst abgestumpft sind. Aber unsereins muß sich dann sagen und versuchen, es auch anderen zu vermitteln, daß wir uns mit Resignation und Abstumpfung eben nicht abfinden dürfen. Deshalb ist auch der Nachweis wichtig, daß der Kampf für Menschenrechte nicht immer und überall vergeblich ist und daß es sogar Lichtblicke gibt.
Menschenrechte sind ja nicht nur eine Aufgabe, die Regierungen anvertraut ist, überhaupt nicht nur der Politik anvertraut ist; für eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen mit möchte ich sagen: Zahlreiche Petitionen, die von Betroffenen oder solchen, die sich für sie einsetzen, an uns gerichtet wurden, konnten auch im abgelaufenen Jahr im Dialog mit amtlichen Stellen anderer Staaten erledigt werden. Ich danke an dieser Stelle allen Amtspersonen, auch wenn deren Auffassungen von eigenen Überzeugungen manchmal erheblich abweichen, all denen, die unseren Bitten für ihrer Verantwortung unterstehende Menschen entsprochen haben.
Den Menschen und Organisationen, die sich in Zukunft an uns wenden werden, und den Regierungen, an die sich diese Bitten richten, möchte ich versichern — wieder für andere mit — : Wir kümmern uns so gut wir es können um jeden uns zur Kenntnis gebrachten Fall. Wir werden Regierungen unabhängig von deren Couleur nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die sie ergänzenden völkerrechtlichen Vereinbarungen mehr sein sollen als das geduldige Papier, auf das sie gedruckt wurden, ergibt sich aus ihnen geradezu — und hier treffe ich mich mit dem
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Bundeskanzler — eine Pflicht zur angemessenen Einmischung.
Albert Schweitzer hat gesagt: „Das Wenige, was zu tun ist, ist vieles. " Und das Wenige ist oft nur möglich, wenn es diskret und ohne Lautstärke betrieben wird;
denn Maßstab kann nicht sein: Wie kommst du möglichst leicht in die Nachrichten?
Er kann nur sein: Wie kannst du am wirksamsten helfen?
Ich füge hinzu: Jeder einzelne, jede einzelne ist es wert, daß man sich um ihn, um sie kümmert. Jeder Freigelassene, jede verhinderte Mißhandlung ist ein Erfolg.
Wir sollten doch vielleicht in schmerzlicher Erinnerung haben, daß nicht wenige in unserem Volk seinerzeit zugrunde gehen mußten, weil so viele wegschauten und sich keiner um sie kümmerte.
Das sollte uns zusätzliche Mahnung bleiben, uns um die zu kümmern, die heute anderswo Opfer von Unmenschlichkeit wurden oder werden. Eine Debatte wie die heutige sollte zusammenführen.
Sie sollte allen Beteiligten nachdrücklich nahebringen, daß sich die Menschenrechte für polemische Wettläufe nicht eignen.
Es bedeutet ja eine doppelte Mißhandlung, wenn Menschen, die anderswo bitter leiden, in unserem Teil der Welt auch noch für gruppenegoistische Zwecke oder billige Parteipolitik in Anspruch genommen werden.
Aber Ausdauer wird gewiß denen abverlangt, die sich um Menschenrechte kümmern. Dies wissen vor allem die engagierten Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen; die wissen das noch besser als andere. Sie sollten, wenn sie sich an unsereins wenden, bitte auch dies bedenken: Uns Ungeduld zu vermitteln kann nichts schaden. Es hilft manchmal sogar. Aber durchweg liegt es nicht an uns, wenn Bitten um Intervention nicht umgehend oder überhaupt nicht zu positiven Ergebnissen führen. Meine Akten weisen es aus — ich bin sicher, nicht nur meine — : Es sind oft viele Mahnungen voraufgegangen, ehe ein Fall, ist er denn von uns gar nicht zu lösen, letztlich doch weggelegt werden muß. Leichten Herzens tun wir das nicht, sage ich wieder für andere mit.
Ich weiß, daß sich die meisten Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland viel Mühe geben. Ich weiß auch, daß sich der Bundeskanzler vielerorts draußen für die Menschenrechte eingesetzt hat und weiterhin einsetzen wird. Ich wäre dankbar, er widerspräche zu Hause deutlich, wenn Hilfe mit Propaganda verwechselt wird oder wenn immer mal wieder versucht wird, von wem auch immer, aus den Nöten von Menschen, die vor der Verletzung ihrer elementaren Rechte haben fliehen müssen, politisches Kapital zu schlagen.
Ich füge hinzu: Wer sich andernorts für politische Gefangene einsetzt, darf hier zu Hause nicht durchgehen lassen, daß Verfolgte pauschal als Schwindler und Betrüger hingestellt werden.
Von den demokratischen Parteien, von uns allen wird gerade verlangt, aus gemeinsamer Verantwortung auch solcher Inhumanität zu widersprechen, die sich als Fremdenfeindlichkeit darstellt.
Etwas gewundert hat mich das Lob des Bundeskanzlers auf die Fortentwicklung des menschenrechtlichen Instrumentariums. Das paßt nicht ganz zum konkreten Verhalten der Regierung in den letzten Jahren. Deshalb sage ich behutsam: Die Bundesregierung sollte sich weniger schwer tun, wo es um die Unterstützung anderer Staaten geht, die das menschenrechtliche Instrumentarium weiterzuentwickeln bemüht sind. Die Regierung hat den Ruf, in den letzten Jahren auf der internationalen Ebene gelegentlich gebremst zu haben, sich zu lange bei Vorbehalten aufgehalten zu haben, das Inkrafttreten internationaler Vereinbarungen hinausgezögert zu haben. Erst jetzt haben wir — unsere Fraktion — , nachdem es die Bundesregierung nicht getan hatte, den Prozeß zur Ratifizierung der UN-Konvention gegen Folter — oder, um den vollen Namen zu nennen, wie er auch in unserer Tagesordnung ausgewiesen ist: gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe — eingeleitet. Im übrigen unterstütze ich natürlich mit meinen Freunden die Errichtung des Amtes eines Kommissars der Vereinten Nationen für die Menschenrechte.
Ich habe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, eben von Ausdauer gesprochen und füge jetzt noch das Wort Bescheidenheit hinzu. Wer weiß, wie es um die Menschenrechte steht, kann sich ihrem Schutz, ihrer Verteidigung, wo es konkret wird, nur demütig nähern. Die es hiermit ernst meinen, dürfen nicht auf öffentliches Lob warten und tun es hoffentlich auch nicht. Ihre Arbeit in der Stille, vielfach sogar im Verborgenen ist das, was zählt. Nur so hat auf unsere direkten und indirekten östlichen Nachbarn bezogen in den zurückliegenden Jahren ohne viel Aufhebens einiges bewirkt werden können. Die Dankbriefe von Betroffenen waren uns mehr wert als fernsehwirksames Eigenlob.
Ich darf es hier einmal sagen: Über eine Reihe von Jahren, ehe Glasnost großgeschrieben wurde, hatten
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wir einen nicht selten funktionierenden Weg, um Menschen zu helfen. Er funktionierte, weil wir ihn behutsam nutzten.
Im übrigen noch einmal: Wer für die Rechte von Menschen in Asien, Afrika oder Lateinamerika streitet, muß sich natürlich auch fragen lassen: Wie hälst du es mit den Menschenrechten daheim, wenn etwa Sinti und Roma mancherorts immer noch so behandelt werden, daß sie es als fortwirkende Verfolgung empfinden? Wo es um Hausnummern geht — über das eigene Land hinaus — , wo es um andere Länder geht, die sich mahnende Kritik gefallen lassen müssen, hat mich die Auswahl des Bundeskanzlers nicht voll überzeugt. Man kann dabei die Regierung von Südafrika ebensowenig aussparen wie Menschenrechtsverletzungen im NATO-Mitgliedsland Türkei.
Wo es um Befreiungsbewegungen geht, Herr Bundeskanzler, hätte ich es für angemessener gehalten, wenn bei aller Behutsamkeit, aller Kompliziertheit auch dieser Materie, die mir, denke ich, bewußt ist, doch eine etwas deutlichere Solidarisierung ausgesprochen worden wäre mit den Kräften, die sich, wie im südlichen und südwestlichen Afrika, für die gerechten Ansprüche der Mehrheit der Menschen in ihrem Land einsetzen
und dafür große Opfer auf sich nehmen.
Im unmittelbar vor uns liegenden Jahr wird viel von der großen Französischen Revolution die Rede sein und von der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die aus ihr hervorgingen als Ergebnis, wie wir wissen, einer längeren europäischen geistesgeschichtlichen Tradition. Der Gedanke war ja von Anfang an stärker als seine Verwirklichung. Und welch schreckliche Verschüttungen und Rückschläge hat es dann bis in die jüngste Vergangenheit gegeben! Doch eine anregende und aufrüttelnde Wirkung hat sich immer wieder durchgesetzt bis hin zu den Texten der Vereinten Nationen. Wenn nun Europa sich enger zusammenschließt, wird es gut daran tun, die Tradition der Menschenrechte nicht nur wachzuhalten, sondern auch als eine über Europa hinausreichende Verpflichtung zu begreifen.
Was uns in Deutschland angeht: Wer das Vermächtnis einer besonders schweren Vergangenheit zu tragen hat, braucht das nicht immer nur als Last zu empfinden. Wir können darin auch eine Chance sehen und sie nutzen,
nicht zuletzt menschenrechtlich nutzen, damit nicht noch aus kommenden Generationen Gefangene der Vergangenheit werden.
Danke.