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ID1111704200

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    Plenarprotokoll 11/117 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 117. Sitzung Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 Inhalt: Anteilnahme am Schicksal der Opfer des Absturzes eines amerikanischen Kampfflugzeuges auf ein Wohngebiet in Remscheid 8553 A Erweiterung der Tagesordnung 8553 B Zur Geschäftsordnung Kleinert (Marburg) GRÜNE 8553 C Seiters CDU/CSU 8554 C Bernrath SPD 8555 B Wolfgramm (Göttingen) FDP 8555 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Straßmeir, Fischer (Hamburg), Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Richter, Gries, Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Seeschiffahrtsregisters für deutsche Handelsschiffe im internationalen Verkehr (Drucksachen 11/2161, 11/3679) Fischer (Hamburg) CDU/CSU 8556 B Frau Faße SPD 8559 A Richter FDP 8560 C Frau Rock GRÜNE 8561 D Dr. Schulte, Parl. Staatssekretär BMV 8563 B Straßmeir CDU/CSU 8563 D Ewen SPD 8564 B Funke FDP 8566 A Tagesordnungspunkt 26: Eidesleistung der Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und des Bundesministers für Wirtschaft Frau Dr. Lehr, Bundesminister BMJFFG 8566 D Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi 8567 A Tagesordnungspunkt 27: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernrath, Bindig, Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Lage der Menschenrechte in der Türkei (Drucksache 11/2600) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zur Hinrichtung von politischen Häftlingen in Indonesien (Drucksachen 10/6275, 11/3575) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Menschenrechte in Kolumbien (Drucksache 11/2404) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude, Frau Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (VN-GV- Res. 39/146) (Drucksache 11/3668) Dr. Kohl, Bundeskanzler 8568 A Brandt SPD 8573 B Frau Geiger CDU/CSU 8576 C Frau Olms GRÜNE 8578 D Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 8581 D Schäfer, Staatsminister AA 8584 A Dr. Schmude SPD 8585 C Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 8587 B Bindig SPD 8588 D Frau Eid GRÜNE 8590 C Zusatztagesordnungspunkt 10: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 11/2421, 11/3672, 11/3672 [neu], 11/3697) b) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung des Parteiengesetzes (Drucksachen 11/3097, 11/3672, 11/3697) Bernrath SPD 8591 C, 8594 D Spilker CDU/CSU 8592 B Lüder FDP 8596 D Frau Dr. Vollmer GRÜNE 8600 A Gerster (Mainz) CDU/CSU 8602 C Conradi SPD 8605 C Häfner GRÜNE 8609 B Wüppesahl fraktionslos 8611D Stiegler SPD 8613 A Namentliche Abstimmung 8614 A Ergebnis 8614 B Nächste Sitzung 8616A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 8617* A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Struck und Catenhusen (beide SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 11/2421, 11/3672, 11/3673) 8617* C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer und Frau Dr. Hamm-Brücher (beide FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 11/2421, 11/3672, 11/3673) 8617* D Anlage 4 Amtliche Mitteilungen 8618* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8553 117. Sitzung Bonn, den 9. Dezember 1988 Beginn: 8.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 9. 12. Antretter* 9. 12. Bangemann 9. 12. Frau Beck-Oberdorf 9. 12. Becker (Nienberge) 9. 12. Frau Berger (Berlin) 9. 12. Dr. Biedenkopf 9. 12. Dr. Blens 9. 12. Böhm 9. 12. Börnsen (Bönstrup) 9. 12. Dr. Briefs 9. 12. Bühler (Bruchsal) 9. 12. Frau Conrad 9. 12. Daweke 9. 12. Deres 9. 12. Duve 9. 12. Engelsberger 9. 12. Frau Fischer 9. 12. Gansel 9. 12. Gattermann 9. 12. Gautier 9. 12. Genscher 9. 12. Dr. Glotz 9. 12. Dr. Götz 9. 12. Dr. Grünewald 9. 12. Dr. Hauff 9. 12. Frau Hämmerle 9. 12. Heinrich 9. 12. Dr. Hennig 9. 12. Hiller (Lübeck) 9. 12. Frau Hoffmann (Soltau) 9. 12. Hoss 9. 12. Irmer 9. 12. Jens 9. 12. Jung 9. 12. Kalb 9. 12. Dr. Köhler 9. 12. Kossendey 9. 12. Kreuzeder 9. 12. Dr. Kronenberg 9. 12. Frau Luuk* 9. 12. Dr. Mertens (Bottrop) 9. 12. Möllemann 9. 12. Frau Pack 9. 12. Paintner 9. 12. Petersen 9. 12. Pfuhl 9. 12. Rappe (Hildesheim) 9. 12. Regenspurger 9. 12. Reuschenbach 9. 12. Frau Schilling 9. 12. Frau Schmidt-Bott 9. 12. von Schmude* 9. 12. Freiherr von Schorlemer 9. 12. Dr. Soell* 9. 12. Steiner* 9. 12. Frau Trenz 9. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Warnke 9. 12. Wetzel 9. 12. Wilz 9. 12. Wimmer 9. 12. Zierer* 9. 12. Dr. Zimmermann 9. 12. Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Struck und Catenhusen (beide SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 11/2421, 11/3672, 11/3673) Da nach meiner Überzeugung die Einführung eines Sockelbetrages und die Heraufsetzung der Publizitätspflicht für Spenden von DM 20 000 auf DM 40 000 auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt, werde ich mich der Stimme enthalten. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer und Frau Dr. Hamm-Brücher (beide FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 11/2421, 11/3672, 11/3673) Die Unterzeichner dieser Erklärung sehen sich (abgesehen von möglichen verfassungsrechtlichen Bedenken) aus folgenden Gründen nicht imstande, der Novelle des Parteienfinanzierungsgesetzes zuzustimmen: 1. Die Mehrkosten von jährlich 68 Millionen DM, die zur Parteienfinanzierung aus Steuermitteln zur Verfügung gestellt werden sollen und die eine Steigerung der Zuwendungen von 20 Prozent ausmachen, können im Hinblick auf notwendige Kosteneinsparungen bei anderen öffentlichen Aufgaben gegenüber dem Bürger nicht überzeugend vertreten werden. 2. Die Bürger erwarten zu Recht von den Parteien, daß Wahlkämpfe so sparsam wie möglich geführt werden. Dies ist immer wieder nachzuweisen und auch möglich. 3. Die Berufung einer unabhängigen Kommission zur Festlegung der Zuschüsse an die Parteien durch den Bundespräsidenten ist ein wichtiger Schritt, um den notwendigen Bedarf der Parteien für ihre Ausgaben transparenter zu machen. Deshalb sollte vor einer Erhöhung der Wahlkampfkostenerstattung auf jeden Fall erst das Votum dieser unabhängigen Kommission eingeholt und die Erhöhung der Zuschüsse bis dahin zurückgestellt werden. 8618* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 11/936 Drucksache 11/1301 Drucksache 11/1537 Drucksache 11/1676 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 10/4184 Nr. 3 Drucksache 11/138 Nr. 3.39, 3.40 Drucksache 11/973 Nr. 2.4 Drucksache 11/2465 Nr. 2.8, 2.10 Drucksache 11/2580 Nr. 22 Drucksache 11/2956 Nr. 2.4 Drucksache 11/3021 Nr. 2.5 Drucksache 11/3200 Nr. 2.4 — 2.9 Drucksache 11/3311 Nr. 2.3-2.5, 2.7, 2.9 Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Drucksache 11/2724 Nr. 24, 25 Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Drucksache 11/439 Nr. 2.12
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Ellen Olms


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 40 Jahren, am 10. Dezember 1948 — ich war noch gar nicht geboren —, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese Verabschiedung folgte als Reaktion auf das nationalsozialistische Terror- und Vernichtungsregime, das weltweit ohne Vergleich steht für die systematische Vernichtung und Ermordung von Millionen Juden in Europa, für die Aussonderung und Ermordung der
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8579
    Frau Olms
    von den Nazis als „unwertes Leben" definierten Roma und Sinti, Homosexuellen, der sogenannten „Asozialen" und der geistig und körperlich Behinderten, für die Zerschlagung der Deutschen Arbeiterbewegung und die Ermordung ihr Angehörender, für die Verfolgung und Ermordung der sich im Widerstand befundenen Menschen in Ost- und Westeuropa. Vor 40 Jahren versprach diese Erklärung allen Menschen gleiche bürgerliche und politische Rechte.
    Die 1948 formulierten Artikel waren als ein internationales Dokument mit universaler Bedeutung ein Fortschritt in der Normsetzung der Würde des Menschen: das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, das Verbot der Sklaverei, das Verbot der Folter, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Asyl. Jedoch zeigten sich damals schon die Grenzen des durch die bürgerliche Aufklärung geprägten westeuropäischen Menschenrechtsbegriffs. Dieser Begriff geht von der Vorstellung aus, daß jedem Menschen mit der Geburt von Natur aus unveräußerliche, unteilbare und universell geltende Rechte zukommen. Diese Individualrechte werden als sogenannte „politische" definiert und den sogenannten „sozialen" gleichgestellt. Es wird aber hierbei die Realität der in kapitalistischen Staaten nach westlichem Demokratiemuster lebenden Menschen ausgeblendet. Es ist doch so, politische Freiheit kann nur in Anspruch genommen werden, wenn soziale Gleichheit gegeben ist. Massenhafte Armut und Verelendung, Menschen, die nicht lesen und schreiben gelernt haben, Wohnungsnot, Säuglings- und Kindersterblichkeit, Erwerbslosigkeit degradieren dieses sogenannte angeborene Menschenrecht auf Freiheit zu einem Recht der Privilegierten, der Reichen, der Besitzenden.
    Allein, der Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte — „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" — , verbunden mit den Rechten auf soziale Sicherheit, Arbeit, Bildung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht verwirklicht.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Hier gibt es keine „von Natur" aus unveräußerlichen, unteilbaren und universell geltenden sozialen Rechte, höchstens Ansprüche auf eine vom Staat gewährte soziale Grundsicherung in Form von Sozialhilfe, die jederzeit gekürzt oder gestrichen werden kann, wenn sich die Empfänger und Empfängerinnen dieses Gnadenaktes nicht konform verhalten.

    (Repnik [CDU/CSU]: Das ist doch verlogen! — Frau Unruh [GRÜNE]: Das stimmt!)

    Die Verantwortung für das Leben, die bloße Existenzabsicherung wird an das Individuum abgegeben und das Scheitern in diesem Gesellschaftssystem als individuelle Schuld, als Versagen gebrandmarkt.

    (Repnik [CDU/CSU]: So eine miese Konstruktion hier!)

    Das Verständnis vom westlichen Menschenrechtsbegriff zeigt sich jedoch auch in anderer Form: Die sogenannten westlichen „Garanten der Freiheit" und der Menschenrechte waren und sind gleichzeitig Kolonialmächte, die die aufkommenden Unabhängigkeitsbestrebungen in den „Kolonien" und „Hinterhöfen" ihrer Marktpolitik brutal unterdrückten und unterdrücken. Die Menschen Indiens, Algeriens, Vietnams — um nur einige Beispiele zu nennen — haben am eigenen Leib den Zynismus dieser „Gralshüter" kennengelernt.
    In den 40 Jahren seit Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat es zwar keinen dritten Weltkrieg, aber über 140 Kriege in regionalen Gebieten dieser Welt gegeben, und sie werden weiter existieren. Gestern erst wurde hier in der Bundesrepublik wieder Krieg mit tödlichem Ausgang geübt.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Frau Unruh [GRÜNE]: Menschenrechtsverletzungen! — Repnik [CDU/CSU]: Unglaublich! Noch nicht einmal bei diesem Thema können Sie zur Sache reden! — Frau Unruh [GRÜNE]: Das ist zur Sache!)

    Der Exekutivdirektor des UN-Hilfswerks UNICEF erhob anläßlich der Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank im September dieses Jahres in Berlin den Vorwurf, daß allein durch die Schuldenkrise in den letzten Jahren mehr als eine Million Kinder getötet wurden.
    Die „Vernichtung von Menschenleben in gesetzlicher Form", die Todesstrafe, ist weltweit noch immer nicht abgeschafft. In einem Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika, von dem Präsident Reagan sagt: „Es ist die gottgewollte Bestimmung dieses großartigen Landes, den anderen Völkern das zu übermitteln, was wir mit Stolz als unsere größte Errungenschaft bezeichnen, die Segnungen der Menschenrechte", wird noch heute in 37 von 50 Staaten die Todesstrafe verhängt. 2 000 Menschen, hauptsächlich schwarze, sitzen in den Gefängnissen und warten — zum Teil schon seit Jahren — auf die Vollstreckung des Hinrichtungsurteils.
    Nach 40 Jahren Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte ist diese Welt, dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, weit davon entfernt, Menschenrechte einzuhalten, einzuklagen oder durchzusetzen. 40 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stehen für 40 Jahre Instrumentalisierung des Menschenrechtsbegriffs und für 40 Jahre Verletzung der Menschenrechte.
    Menschenrechte werden als Kalkül in der Außen- und Wirtschaftspolitik dieses Landes eingesetzt. Vorrang haben die politische Stabilität, die Zugehörigkeit zum westlichen politischen Lager und die ökonomischen Interessen der westlichen kapitalistischen Industrieländer gegenüber Staaten, die faschistisch sind, sich den Schein einer sogenannten politischen Neutralität und Blockfreiheit oder das Mäntelchen der formal-rechtsstaatlichen Demokratie umhängen.
    Folterungen und brutale Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, in Chile, in El Salvador, in Guatemala und in Südafrika werden nicht sanktioniert, die Einhaltung der Menschenrechte höchstens angemahnt; Konsequenzen erfolgen nicht.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    8580 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
    Frau Olms
    Auf der anderen Seite wird die berechtigte Kritik an Menschenrechtsverletzungen in den osteuropäischen Ländern und die Einhaltung der Menschenrechte hier zum Gradmesser für weitere Gespräche und Abrüstungsverhandlungen gemacht. Richtig ist, daß in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion die elementarsten demokratischen Grundfreiheiten nicht gelten. Versammlungs-, Demonstrations-, Presse- und zum Teil auch die Religionsfreiheit waren in diesen Ländern weitgehend außer Kraft gesetzt.
    Die osteuropäischen Länder und die Sowjetunion haben lange Zeit argumentiert, daß das Einklagen der Menschenrechte seitens der westlichen Industriestaaten eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten bedeutet. Seit Unterzeichnung der Schlußakte der KSZE in Helsinki haben unsere östlichen Nachbarstaaten die Menschenrechte faktisch auch für ihren eigenen Machtbereich anerkannt, ohne daß daraus jedoch schon weitreichende Konsequenzen gezogen wurden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Erst die Reformentwicklungen in Ungarn und die Glasnost-Politik in der Sowjetunion haben dort Diskussionen freigesetzt, die Rechte, vor allem aber den Schutz der einzelnen Bürger vor staatlicher Willkür auch gesetzlich zu sichern. In Ungarn und der Sowjetunion ist — bei aller Unterschiedlichkeit des Verlaufs des Reformprozesses — die Notwendigkeit einer Rechtsstaatlichkeit erkannt worden. Es ist erkannt worden, daß die Diktatur des Proletariats zur Herausbildung despotischer Formen der Herrschaft unter Berufung auf das revolutionäre Subjekt geführt hat,

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    die das kulturelle, soziale Leben erstickte und die wirtschaftlichen Entwicklungen hemmte. In Ungarn und in der Sowjetunion sind daraus einschneidende Konsequenzen gezogen worden, die vor einem Jahrzehnt noch kaum vorstellbar waren.
    Dieser Demokratisierungsprozeß vollzieht sich jedoch nicht in allen Ländern gleichzeitig. Besondere Barrieren existieren vor allem in Rumänien, auch in der DDR und der Tschechoslowakei, wo den Menschen nach wie vor die elementarsten Menschenrechte verwehrt werden.
    Staaten, in denen durch soziale Revolutionen Gesellschafsformen entstanden sind, die sich in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem nicht einbinden lassen wollen, werden — wie wir es z. B. aus Nicaragua kennen — mit politischen, ökonomischen und militärischen Sanktionen belegt und die reaktionäre Elite als Freiheitskämpfer und -garanten unterstützt.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, die Menschenrechtspolitik dieser Bundesregierung, die sich auch als Garant der freiheitlichen Rechte ausgibt, zeichnet sich als einäugig und instrumentalisierend aus. Hierfür nur einige Beispiele: Im Golfkrieg wurden die ökonomischen Interessen der Bundesrepublik durch Waffenlieferungen an den Iran und Irak voll befriedigt. Nach dem Krieg reiste Bundesaußenminister Genscher mit einer Wirtschaftsdelegation in den Iran, vermittelte Geschäfte, schloß ein Kulturabkommen ab, leitete die Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in die Wege, obwohl sich seit Juli dieses Jahres und insbesondere seit dem Waffenstillstandsabkommen im Golf die Berichte über massenhafte Hinrichtungen im Iran häuften. Amnesty international hat diese Hinrichtungen aufgezeigt, und der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission hat im November, vor nicht einmal drei Wochen, einen Bericht hierüber vorgelegt. Noch am Mittwoch haben wir hier auf einer Pressekonferenz erschütternde Berichte von Menschen gehört, deren Familienangehörige in der Nacht zuvor hingerichtet wurden. Es wurden Hunderte, vielleicht auch Tausende von Menschen hingerichtet. Die iranischen Herrschenden geben wie auch sonstwo in der Welt keine öffentliche Rechenschaft ihrer Taten ab, und diese Taten müssen von uns mühsam ermittelt werden.
    Nur knapp eine Woche später hat Bauminister Schneider im Gefolge namhafter Manager bundesdeutscher Baufirmen ein Memorandum über die beabsichtigte Beteiligung der bundesdeutschen Bauwirtschaft beim Wiederaufbau des Irans unterzeichnet.

    (Sellin [GRÜNE]: Ein Skandal!)

    Die Bundesregierung soll jetzt nach der Forderung der Bauwirtschaft positiv über Hermes-Bürgschaften entscheiden. Die massenhaften Hinrichtungen und andere eklatante Menschenrechtsverletzungen sind nicht Hauptgegenstand der Gespräche des Außenministers und seines Anhangs gewesen.
    Meine Damen und Herren, am massenhaften Tod und Elend der Menschen im Iran und Irak wird durch den Krieg und beim Wiederaufbau Profit gemacht, die Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Dieser Zynismus ist nicht zu überbieten.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Folterländer, wie die Türkei, deren Staatspräsident Evren hier in der Bundesrepublik mit allen Ehren empfangen wird, das südafrikanische Apartheidregime, gegen das keine Sanktionen verhängt werden sollen, da dies angeblich die schwarze Bevölkerung am härtesten treffen würde, werden hofiert. Hier ließen sich noch unzählige Beispiele finden.
    Die politischen und ökonomischen Interessen dieser Bundesregierung, der CDU/CSU/FDP-Koalition und die hinter ihnen stehende Lobby der Konzerne wollen und werden keine Einbußen in der Profitmaximierung in Kauf nehmen. Das ist das wahre Gesicht von Menschenrechtspolitik.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Repnik [CDU/ CSU]: Spärlich der Beifall, so spärlich wie die Aussage! Geradezu peinlich!)

    Die spektakulären Auftritte des CDU-Generalsekretärs Geißler 1986 und des Ministers für Arbeit und Sozialordnung, Blüm, 1987 in Chile, sind uns allen noch gut in Erinnerung. Sie „kämpften" angeblich, ausgehend von ihrer christlichen Leitidee der Menschenrechte, für die Menschenrechte in Chile, dies jedoch nur, um nach der Abwirtschaft Pinochets die desolate Situation in Chile aufzufangen und einen Stabilisierungsprozeß für eine christliche Regierung Chiles zu erreichen. Für Südafrika hat dann der
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8581
    Frau Olms
    „kurze Atem für Menschenrechte" nicht mehr gereicht; in dieses Land reiste Strauß, um das rassistische Regime zu hofieren.
    Meine Damen und Herren, Menschenrechte anzuklagen, Berichte über den Hungertod zigtausender Frauen, Kinder und Männer, Berichte über Gewaltübergriffe und Folterungen von Frauen, Kindern und Männern zu lesen, mit diesen Menschen zu reden, ist kaum zu ertragen, verfolgt mich — und sicher auch andere, die diese Berichte lesen und die Gespräche führen — noch in den Träumen. Aber es schärft auch den Blick und die grundsätzliche Haltung und Achtung gegenüber den Rechten des einzelnen Menschenlebens. Mit dem Recht auf Leben und dem Recht auf individuelle Freiheit ist für uns untrennbar das Recht auf Nahrung, das Recht auf eine intakte Umwelt, das Recht auf Wohnung, auf Existenzabsicherung verbunden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wie kann sich zum Beispiel ein Kind überhaupt entwickeln, wenn diese Grundvoraussetzungen nicht erfüllt sind, um auch alle anderen Rechte wahrnehmen zu können?
    Bei meiner Teilnahme am achten Jahreskongreß des Lateinamerikanischen Verbandes der Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen FEDEFAM in Bogota habe ich Frauen kennengelernt, durch das „Verschwinden" ihrer Kinder, Ehemänner, Eltern und ihre eigene Verfolgung leidvoll geprägt, starke und mutige Frauen, die die Regime ihrer Länder, aber auch die westlichen Industrieländer, diese Bundesrepublik der Mitverantwortung anklagen. Diese Frauen grüße ich von hier aus und wünsche ihnen weiterhin diese Kraft und Stärke.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Es gibt in Lateinamerika 90 000 durch die unabhängigen Menschenrechtsorganisationen registrierte „Verschwundene"; eine für uns neue, aber seit langer Zeit praktizierte „Todesstrafe" in Lateinamerika. In den 10 Tagen, in denen ich in Kolumbien war, sind 55 Menschen erschossen worden, davon allein 43 in Segovia. Der Besuch der bundesdeutschen Delegation in Segovia wurde für uns zu einem traumatischen Erlebnis: Zu sehen, wie Paramilitärs, gedeckt durch das Militär, eine Kleinstadt in ihren Grundfesten zerstören. Die Frauen und Männer von Segovia und anderswo klagen die Militärs und die mit ihnen operierenden Todesschwadronen an, die auch für die Anklagenden bedrohlich sind, weil diese versuchen, eine internationale Öffentlichkeit für das „Verschwindenlassen" zu erreichen.
    Beeindruckend war, wie präzise die Frauen die politische, ökonomische und soziale Situation ihres jeweiligen Landes analysierten, sich gegenseitig stützten und den Willen zur Weiterarbeit stärkten.
    Auch bei meiner Zusammenarbeit mit Flüchtlingen und Flüchtlingsinitiativen treffe ich oft solche starken und mutigen Frauen. Gewalt, Unterdrückung und Folter von Frauen, die in die Bundesrepublik flüchten, werden in diesem Haus noch viel zu wenig wahrgenommen.
    Frauen werden inhaftiert, gefoltert, hingerichtet. Sie werden verachtet, gedemütigt, bestraft, verstümmelt, sind männlicher und staatlicher Gewalt ausgesetzt, weil sie gegen die kulturellen Normen und Sitten — definiert von Männern ihrer jeweiligen Heimatländer — verstoßen und gegen den ihnen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft opponieren.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Frauen werden als Familienangehörige verfolgt, um Aussagen von Vätern, Brüdern, Ehemännern zu erpressen. Frauen werden wegen ihrer politischen Aktivitäten und ihres Widerstandes verfolgt. Die Verfolgung und sexistische Folter sind auch Strafe für sogenanntes „unfrauliches" Handeln und Verhalten.
    Gelingt Frauen die Flucht, sind sie auf diesen Wegen ebenfalls Vergewaltigung und Bedrohung durch männliche Schlepper und Fluchthelfer ausgesetzt. Erreichen sie die Bundesrepublik, werden ihre Verfolgungs- und Fluchtgründe nicht anerkannt; ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wird ihnen verwehrt.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Die Flucht überhaupt erst anzutreten, setzt ein hohes Maß an Verzweiflung voraus und erfordert viel Mut und Stärke.
    Bei einer dieser Frauen habe ich die Abschiebung bis Zürich verfolgen können. Sie, pakistanische Staatsangehörige, ist von ihrem Ehemann des Ehebruchs bezichtigt worden und befürchtete, gesteinigt zu werden. Die Flucht dieser Frau dauerte zwei Jahre. Danach lebte sie drei Jahre illegal, da ihr Asylantrag abgelehnt wurde, in Berlin. Ihre Fluchtgründe sind nicht anerkannt worden; nach einer Ausweiskontrolle wurde sie in Abschiebehaft genommen und unter Tabletteneinfluß in ein Flugzeug verfrachtet. Ich habe sie bis Zürich begleitet in der Hoffnung, ihr noch helfen zu können, leider vergebens. Ich hoffe, daß sie jetzt überhaupt noch lebt.
    All diese Erfahrungen bestärken mich und viele andere, uns immer weiter für das Recht auf Asyl und die Einhaltung und Erweiterung der Menschenrechte und des Menschenrechtsbegriffs einzusetzen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hildegard Hamm-Brücher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 40. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1988 ist für uns alle ein gegebener Anlaß, über Vision und Wirklichkeit damals, heute und morgen einer Deklaration nachzudenken, die am Anfang einer Epoche verabschiedet wurde, die sich — noch unter den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges und den Untaten des Nationalsozialismus leidend — weltweit nach Frieden und Menschlichkeit sehnte, einer Epoche, die in der Folgezeit jedoch alsbald wieder von neuen Konfrontationen, grausamen Kriegen, von Völkermord und Menschenrechte verachtenden Regimen heimgesucht wurde.
    Die in der Erklärung niedergelegte Vision von einer Welt, in der Menschenrechte für jeden Menschen erfahrbar sind, in der Konflikte zwischen Staaten fried-
    8582 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
    Frau Dr. Hamm-Brücher
    lich gelöst werden und sich die Fortschritte an der Wirklichkeit messen lassen müssen, ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in diesen vier Jahrzehnten zu so etwas wie einem moralischen und politischen Lehrstück der Menschheit geworden, zu einem Lehrstück, an dem verantwortliche Politiker und viele Menschen in aller Welt zum Besseren, aber auch zum Schlechteren mitgewirkt haben, zu einem Lehrstück, für dessen Ausgang wir — ob wir wollen oder nicht — bewußt oder unbewußt Mitverantwortung tragen. Auch so möchte ich die Debatte und den Verlauf dieser Debatte heute verstehen: als eine Gelegenheit zum Nachdenken, zur nüchternen Bilanz und für einen Blick nach vorn.
    Meine Damen und Herren, für die Realisierung von Menschenrechtspolitik im Sinne der Erklärung von 1948 — das wissen alle, die sich damit befassen — gilt die Maxime Max Webers vom „Bohren harter Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft" in ganz besonders eindringlicher Weise. Und weiter im Sinne von Max Weber: Immer von neuem müssen sich die für die Rechte ihrer Mitmenschen kämpfenden Politiker und Bürger mit jener Festigkeit des Herzens wappnen, die selbst beim Scheitern aller Hoffnungen dennoch sagt: Also weiterkämpfen! Wir schulden diesen Menschen auch in dieser Stunde unseren Dank.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Meine Damen und Herren, der Wille zum Bretterbohren begann mit der Einsetzung einer Menschenrechtskommission bei den Vereinten Nationen im Januar 1947, deren Auftrag bereits in der Präambel ihrer Gründungscharta niedergelegt worden war. Fast zwei Jahre waren nötig, um die Erklärung fertigzustellen. Daß dies überhaupt gelang, ist einer Frau, nämlich Eleanor Roosevelt, zu verdanken, an deren Lebenswerk zu erinnern mir im Rahmen dieser Debatte ein ganz besonderes Bedürfnis ist.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich bin Eleanor Roosevelt während meines Studienaufenthaltes in den USA 1949/50 begegnet und habe ihre Festigkeit des Herzens in Sachen Menschenrechte beispielgebend erfahren dürfen. Sie hat mir, der jungen, von Scham über das in unserem Namen geschehene Unheil tief erschütterten Deutschen, die Überzeugung vermittelt, daß die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen — jedes Menschen! — und die Bewahrung und Stärkung der Rechte hierfür die Voraussetzung für das Überleben der Menschheit sind.
    Eleanor Roosevelt, die Witwe des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, die von 1946 bis 1952 die amerikanische UN-Delegation leitete, verstand diese Aufgabe als das Vermächtnis ihres Mannes, der ja bereits 1941 vor dem amerikanischen Kongreß die menschenrechtlichen Grundprinzipien einer friedenssichernden Nachkriegsentwicklung verkündet hatte. In der von ihr geleiteten Kommission wirkten bemerkenswerte Repräsentanten aus unterschiedlichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen mit, und es ist sehr lohnend, dies noch einmal nachzulesen.
    Die Kommissionsmitglieder hatten demzufolge höchst unterschiedliche Verständnisse dafür, was Human Rights nun eigentlich seien. Allein der Persönlichkeit, der Überzeugungskraft und der Beharrlichkeit von Eleanor Roosevelt war es zu verdanken, daß man sich schließlich bei sieben Enthaltungen Ende 1948 — nun schon mitten im Kalten Krieg, meine Damen und Herren — auf den Entwurf dieser Erklärung verständigen konnte. Zu dem zunächst ja geplanten Vertragswerk eines, später von zwei Menschenrechtspakten konnte es damals nicht kommen. Dies dauerte dann noch bis 1966. Bis heute folgten etwa 30 Vereinbarungen. Die wohl wichtigste und folgenreichste ist die Schlußakte der KSZE von Helsinki.
    Wenn ich also, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, an die Anfangszeit noch vor meiner Begegnung mit Eleanor Roosevelt zurückdenke, dann muß ich doch nachträglich gestehen, daß ich wie wohl die meisten Deutschen damals mit Erklärungen dieser Art, falls wir sie überhaupt zur Kenntnis nahmen, nicht viel anfangen konnte. Den Begriff „Menschenrechte" kannten wir ja allenfalls vom Hörensagen. Was eine Erklärung dieser Art angesichts der Abermillionen Opfer und der ausweglosen Lage von Abermillionen Überlebenden in Europa und Asien überhaupt bewirken könnte, dafür hatten wir damals kaum ein müdes Achselzucken.
    Sicher, meine Damen und Herren, geht es heute Millionen Menschen in der Welt, die von Krieg, Verfolgung und Not heimgesucht sind, ganz ähnlich, wenn sie etwas von solchen Erklärungen hören. Aber eben deshalb wollte ich an diese Ausgangslage vor 40 Jahren erinnern: um damit deutlich zu machen, daß es diese eine Erklärung war, die seither trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen im Bewußtsein der Menschheit und im politischen Handeln von Staaten, Menschengruppen und einzelnen Menschen sehr viel mehr bewirkt hat, als wir es ursprünglich auch nur vorausahnen konnten. Deshalb ist dieser Tag, an dem wir uns dieses Ereignisses erinnern, keine Pflichtübung, sondern eine Verpflichtung für alle, deren Grund- und Menschenrechte so fest garantiert sind wie die unseren. Da stimme ich Ihnen vollständig zu, Herr Kollege Brandt.
    Wir können heute feststellen: Das Thema Menschenrechte hat im Verlauf der letzten 40 Jahre eine politische Schubkraft entwickelt. Es ist von der Tagesordnung internationaler Konferenzen, bei Verträgen und in der Zusammenarbeit von Staaten überhaupt nicht mehr wegzudenken.
    Im Entspannungsprozeß haben Menschenrechte sowohl innerstaatlich in kommunistischen Ländern als auch zwischenstaatlich in den Ost-West-Beziehungen schneeballartig sich fortsetzende Veränderungen bewirkt, die heute schon wiederholt angeführt wurden. Es gibt heute in freien, aber auch in unfreien Gesellschaften immer mehr Menschen, die sich auf Menschenrechtsvereinbarungen berufen können und sich für die Verwirklichung der Menschenrechte im eigenen Land und in ihren Regionen engagieren. Die Vision von Eleanor Roosevelt ist also doch ein Stück politische Wirklichkeit geworden. Manchmal liest man in der Literatur bereits sogar etwas von einem Völkergewohnheitsrecht, wenn wir auch leider noch
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8583
    Frau Dr. Hamm-Brücher
    sehr weit von einer kopernikanischen Wende im Völkerrecht entfernt sind.
    Damit bin ich bei der Wirklichkeit heute, wie sie sich auch in den vorliegenden Erklärungen und Entschließungen sowie in den verschiedenen Debattenbeiträgen widerspiegelt. In dieser Debatte dürfen wir es ja nicht bei dem Rückblick bewenden lassen. Wir müssen uns der Gegenwart und der Zukunft stellen. Ich möchte bereits Gesagtes gar nicht wiederholen. Ich möchte nur zusammenzufassen versuchen, wo nach unserer Überzeugung die gravierenden Defizite und Probleme liegen, mit denen wir es heute im Ringen um die Einhaltung und Verwirklichung der Menschenrechte zu tun haben. Ich nenne sechs.
    Erstens. Obgleich im Verlauf der 40 Jahre seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung zu ihrer Durchsetzung Instrumente wie Kontrollgremien, Berichte, Verurteilungen durch politische Gremien entwickelt wurden, fehlt es doch nach wie vor an den entscheidenden Sanktionsmechanismen, die zur Durchsetzung erforderlich sind. Deshalb fordern wir Liberalen die Einrichtung eines Menschenrechtskommissariats mit einem Kommissar. Wir fordern einen UN-Menschenrechtsgerichtshof auch für Individualklagen. Wir fordern internationale Sanktionen gegen politische, rassische, religiöse, kulturelle Verfolgungen. Wir fordern die weltweite Ächtung der Todesstrafe.

    (Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Zweitens. Unterzeichnerstaaten von Menschenrechts- und anderen einschlägigen Vereinbarungen, die dauerhaft gegen Verpflichtungen, die sie mit ihrer Unterschrift übernommen haben, schuldhaft verstoßen, müssen aus der Gemeinschaft der Unterzeichner ausgeschlossen werden können.
    Drittens. Viele Bemühungen scheitern, weil es noch kein von allen religiösen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Traditionen gemeinsam und verbindlich getragenes Menschenrechtsverständnis gibt. Viele Gespräche mit Frauen und Männern aus der Dritten Welt machen deutlich, daß es das auf absehbare Zeit auch nicht geben wird. Deshalb muß an diesem Verständnis intensiv weitergearbeitet werden. Es darf nicht einfach darüber hinweggegangen werden, daß sich nicht alle Welt an unseren westlichen Vorstellungen von Menschenrechten orientieren wird.
    Viertens. Menschenrechtsverletzungen an Frauen: Ich bin dem Herrn Bundeskanzler sehr dankbar, daß er unsere Initiative erwähnt hat; denn diesen Verletzungen werden noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit und wirksame Bekämpfung zuteil. Frau Kollegin Olms hat dazu ein paar bewegende Beispiele gebracht. Wir hoffen, daß es im Zusammenhang mit der Antwort auf unsere Große Anfrage eine gesonderte Debatte über dieses spezielle Thema geben wird. Wir haben hierzu heute übrigens eine eigene Presseveröffentlichung herausgegeben.
    Fünftens. Mögliche Fortschritte in einer weltweit verbesserten Menschenrechtspolitik werden häufig — und ganz gelegentlich war auch diese Debatte nicht völlig frei davon — durch Politisierung und Ideologisierung blockiert. Wir dürfen, meine Damen und Herren, diese Debatte auch in den innenpolitischen Auseinandersetzungen wirklich nicht als Schlagstock mißbrauchen. Gerade der Fortschritt in der Zusammenarbeit in den parlamentarischen Ausschüssen hat ja dazu geführt — Sie, Frau Geiger, haben das auch gewürdigt — , daß wir diesen innenpolitischen, parteipolitischen Schlagstock zu Hause lassen, wenn es um diese Fragen geht.
    Sechstens. Die Kooperation zwischen Regierungen in allen Menschenrechtsbereichen wird meiner Überzeugung nach noch nicht ausreichend betrieben. Bei uns ist es besser geworden; aber in anderen Parlamenten wird sie doch noch nicht ausreichend durch parlamentarische Zuständigkeiten und vor allem durch interparlamentarische Zusammenarbeit ergänzt und unterstützt. Hier müssen wir wohl eine Art Frühwarnsystem zwischen europäischen Parlamenten und deren zuständigen Ausschüssen einrichten.
    Schließlich, meine Damen und Herren, der Blick über die Wirklichkeit von heute hinaus auf die Vision von morgen!
    Erstens. Menschenrechtspolitik — das wurde heute auch gesagt — ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Menschenrechtspolitik muß den Grundstein für eine Weltinnenpolitik legen, die der gemeinsamen Verantwortung für das Fortbestehen der Menschheit gerecht wird.
    Zweitens. Hierzu müssen Grund- und Menschenrechte Eingang in die Verfassungen aller Staaten und Staatengemeinschaften finden. Diese Rechte müssen nachprüfbar und einklagbar sein und auch der gegenseitigen Nachprüfung offenstehen.
    Drittens. Die Verhaltensregeln der Staaten untereinander und die Konfliktregelungen zwischen Staaten müssen völkerrechtsverbindliche Rechtsformen erhalten.
    Viertens. Das Engagement von Gruppen und von einzelnen für den Schutz, die Einhaltung und die Stärkung der individuellen und der kollektiven Menschenrechte muß anerkannt, ermutigt und gefördert werden — noch mehr als bisher.
    Zu den bereits genannten Beispielen möchte ich hier vor allem auch kirchliche Gruppen, das Komitee Notärzte, das erst in jüngster Zeit in vielen Menschenrechtsfällen in Afghanistan sich ungeheuer eingesetzt hat, zählen.

    (Beifall)

    Schließlich, meine Damen und Herren, sehr wichtig: Menschenrechtsverletzungen beginnen im Kopf. Abneigung, Ablehnung oder gar Haß gegen Fremde im eigenen Land sind Beispiele hierfür, denen wir nicht nachdrücklich genug entgegentreten können und müssen.
    Wie vor vierzig Jahren, meine Damen und Herren, und wie es das Beispiel von Eleanor Roosevelt zeigt, kommt es auch heute und morgen auf das an, was ich anfangs mit den Worten Max Webers zitierte: auf das geduldige Bretterbohren, aber auch auf die Festigkeit des Herzens und des Dennochsagens trotz vieler Enttäuschungen.
    8584 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
    Frau Dr. Hamm-Brücher
    Vielen Dank.

    (Beifall bei allen Fraktionen)