Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute steht aus Anlaß des 40. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen der Mensch mit seiner Würde, mit seinen Rechten im Mittelpunkt unserer Beratungen.
Ich möchte mich jedoch zuvor menschlicher Trauer, aber auch menschlicher Hoffnung zuwenden, die in drei Ereignissen unserer Tage ganz besonders augenfällig zum Ausdruck kommen:
Gestern ist in Remscheid eine amerikanische Militärmaschine brennend abgestürzt. Der Absturz hat Menschenleben gefordert.
Zahlreiche Personen wurden zum Teil schwer verletzt, viele Häuser zerstört. Ich habe dem Oberbürgermeister der Stadt Remscheid meine tiefempfundene Anteilnahme ausgesprochen und ihn gebeten, diese auch den Angehörigen der Opfer zu übermitteln.
Am Mittwoch hat ein verheerendes Erdbeben den Kaukasus heimgesucht und insbesondere in Armenien eine erschreckende Zahl von Menschenleben gefordert und unermeßliche Schäden angerichtet. Uns alle hat die Nachricht von dieser Tragödie zutiefst getroffen. Ich habe Generalsekretär Gorbatschow und Ministerpräsident Ryschkow unser aufrichtiges Mitgefühl ausgesprochen und sie gebeten, den Hinterbliebenen unsere herzliche Anteilnahme zu übermitteln.
Die Bundesregierung wird — ich bin sicher: mit Unterstützung des ganzen Hauses — im Rahmen ihrer Möglichkeiten helfen, die Not der Betroffenen zu lindern.
Ebenfalls am Mittwoch hat Generalsekretär Gorbatschow vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen für die nächsten zwei Jahre die militärisch bedeutsame einseitige Verminderung der sowjetischen Streitkräfte in Europa und Asien um eine halbe Million Mann und erhebliche Mengen an Waffen und Gerät angekündigt. Ich will diese Ankündigung hier nachdrücklich begrüßen.
Die Ankündigung Generalsekretärs Gorbatschow ist ein wichtiger Schritt in eine von uns gemeinsam mit den Verbündeten seit langem geforderte Richtung: den Abbau der drastischen konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion und des Warschauer Pakts insgesamt.
Meine Damen und Herren, jedermann weiß, daß weder mit dieser Ankündigung noch mit ihrem späteren Vollzug diese Überlegenheit beseitigt und das von uns immer wieder geforderte Gleichgewicht der konventionellen Kräfte hergestellt sein wird. Der politische Wert der angekündigten sowjetischen Maßnahmen liegt für uns vor allem darin, daß — getreu dem Grundsatz „Wer mehr hat, muß mehr abrüsten" — der Prozeß der asymmetrischen Verminderung der Rüstungen fortgesetzt wird. Gerade hieran knüpfen die Menschen ihre Hoffnungen. Sie wollen eine Welt, in der die Sicherheit aller Länder und aller Völker auf
einem wesentlich niedrigeren Niveau der Rüstungen gewährleistet ist. Dies ist das Ziel, auf das wir auch in Zukunft konsequent hinarbeiten werden.
Meine Damen und Herren, wir wissen zu würdigen, daß Generalsekretär Gorbatschow die angekündigten Maßnahmen einseitig und ohne Verknüpfung mit den bevorstehenden Verhandlungen über konventionelle Stabilität in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural durchführen will. Die Wiener Mandatsgespräche müssen jetzt zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden. Die Verhandlungen selbst sollten gleich zu Anfang des kommenden Jahres beginnen. Diese Verhandlungen, das hoffen wir, dürften durch die vorgesehenen sowjetischen Maßnahmen zusätzlichen Auftrieb erhalten.
Die NATO-Außenminister haben gestern in Brüssel unser gemeinsames Verhandlungskonzept verabschiedet. Ich stelle mit Befriedigung fest, daß dieses Konzept noch sehr viel weitergehende Verminderungen von Truppen und Waffen vorsieht — mit dem Ziel, ein stabiles, ausgewogenes Kräfteverhältnis auf niedrigerem Niveau herzustellen und eine Lage in Europa zu schaffen, in der keine Seite über die Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive und zum Überraschungsangriff verfügt, wie das für unser Bündnis schon immer der Fall war.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, morgen jährt sich zum 40. Mal eines der herausragenden Daten in der Geschichte unseres Jahrhunderts: Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die damals noch junge Weltorgansiation schuf damit ein Manifest menschlicher Würde und Freiheit, ein Dokument der Hoffnung, das zugleich fortdauernde Mahnung ist.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte reiht sich ein in die Tradition der großen Menschenrechtserklärungen der Geschichte. So knüpft sie an die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 an, ebenso an die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich, deren 200jähriges Jubiläum wir im nächsten Jahr feiern können.
Wir erkennen in der Erklärung der Vereinten Nationen die geistigen Wurzeln unserer eigenen Wertvorstellungen wieder: insbesondere die Überzeugung von der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen — eine Überzeugung, die neben vielem anderen Christen und Juden verbindet — sowie die Idee einer jedem Menschen eigenen Individualsphäre, die der Staat zu respektieren hat.
All dies zählt auch zu unserem unverwechselbaren europäischen Kulturerbe. Und doch geht die Erklärung von 1948 in Wahrheit darüber hinaus: Sie greift Grundsätze auf, die von den meisten der großen Religionen und Philosophien der Welt verfolgt werden.
Allerdings vermeidet es die Erklärung, ihre geistigen Grundlagen konkret offenzulegen. Ich sehe in diesem Verzicht, auch wenn er gelegentlich kritisiert wird, einen Akt vernünftiger Zurückhaltung; denn die weltweite Akzeptanz der Menschenrechte beruht
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darauf, daß sie von keinem Kulturkreis ausschießlich für sich reklamiert werden dürfen.
Gerade wir in Europa sollten uns hier vor Herablassung hüten, etwa vor dem Vorurteil, daß man von den Entwicklungsländern die Verwirklichung der Menschenrechte nicht erwarten könne. Auch die Notleidenden in den ärmsten Regionen der Welt brauchen den Respekt vor ihrer menschlichen Würde so notwendig wie das tägliche Brot. Nicht selten findet man gerade unter ihnen ein ganz besonders ausgeprägtes Bewußtsein für diese Würde.
In Wirklichkeit sind die Menschenrechte das Gut der gesamten Menschheit. Sie sind weder ein Luxus noch ein Privileg noch ein Gnadenakt, der von irgendeiner Regierung gewährt oder zurückgenommen werden könnte. Sie sind im eigentlichen Sinne des Wortes Rechte, erworben mit dem Beginn des Lebens, erwachsen aus der unverwechselbaren Persönlichkeit jedes einzelnen und aus dem unverzichtbaren Anspruch auf Achtung seiner Würde.
Es waren vor allem die barbarischen Anschläge auf diese Würde unter der nationalsozialistischen Diktatur, die zur Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führten. Die schrecklichen Erfahrungen hatten den Blick dafür geschärft, daß ein effektiver Schutz der Einzelperson vor Übergriffen der Staatsgewalt allein über das nationale Recht nicht zu gewährleisten ist, daß es vielmehr erforderlich ist, der Allmacht des Staates auch wirkungsvolle völkerrechtliche Schranken zu setzen.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird von dem Ziel getragen, den Menschenrechtsgedanken universell zu stärken, im Bestreben, gemeinsame Grundwerte zu formulieren, die die Völkergemeinschaft über alle Grenzen und Unterschiede hinweg vereinen.
Mit der Erklärung von 1948 wurde von den Vereinten Nationen völkerrechtlich Neuland betreten. Sie unternahmen damit den ersten Schritt, um die ihnen bereits in der UN-Charta übertragene Aufgabe wahrzunehmen. So wurde zum erstenmal der Schutz der Menschenrechte aus seinem bisher ausschließlich nationalen Bezug gelöst und zu einer Angelegenheit der gesamten Staatengemeinschaft erklärt. Ein entscheidender, mehr noch: ein bahnbrechender Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden internationalen Menschenrechtsschutz war damit gelungen.
Der Völkerbund, meine Damen und Herren, hatte noch kein umfassendes Programm zum Schutz der Menschenrechte entwickelt. Damals lag der Schwerpunkt bei der internationalen Zusammenarbeit mehr auf dem Schutz der Minderheiten. Mit der Erklärung von 1948 aber wurde die Verantwortung der Staatengemeinschaft auch und gerade für die Menschenrechte in feierlicher Form proklamiert. Seither ist die Gewährleistung der Menschenrechte nicht mehr die Sache des einzelnen Staates allein. Vielmehr tritt neben staatliche Garantien von Menschenrechten nun auch deren völkerrechtliche Absicherung, die sie gleichzeitig überlagert.
Gewiß, meine Damen und Herren, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist für die UN-Mitgliedstaaten nicht in einer formalen Weise verbindlich, aber sie versteht sich, wie es dort ausdrücklich heißt, als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal" . Damit haben die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen akzeptiert, von der Völkergemeinschaft immer wieder an den Maßstäben gemessen zu werden, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte so eindringlich und überzeugend formuliert sind.
Wer sich jetzt noch in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten beruft, verrät nur sein schlechtes Gewissen. Es hat nichts mit „Einmischung" zu tun, wenn es um die Einforderung von Menschenrechten geht. Im Gegenteil: Wir alle, Regierungen, Kirchen, gesellschaftliche Gruppen, Journalisten, jeder einzelne von uns, sind ausdrücklich aufgerufen, überall dort unsere Stimme zu erheben, wo Völker unterdrückt, wo Menschen verfolgt, gefoltert oder ermordet werden.
Wir haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, unsere Stimme zu erheben: immer, wenn die Würde des Menschen verletzt wird; wenn in Bürgerkriegen Hunger und Entbehrung bewußt als Waffe eingesetzt werden, wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert werden, wenn eine Diktatur Menschen entwurzelt und aus ihren Heimatdörfern vertreibt, wenn Diktaturen ihre politischen Gegner foltern lassen, wenn jetzt wieder mehr und mehr Menschen Opfer religiöser Intoleranz werden, wenn mitten in Europa auf Menschen geschossen wird, deren einziges „Verbrechen" es ist, daß sie ihrem Staat den Rücken kehren wollen.
Diese wenigen Beispiele mahnen uns, in unserem Eintreten für die Menschenrechte nicht nachzulassen. Dabei, meine Damen und Herren, wollen wir auch die lautlosen Mittel der Diplomatie nutzen — aber als Ergänzung, nicht als Ersatz unserer offenen Solidarität mit den Verfolgten und Unterdrückten.
Es ist unser Gewissen, das uns bestimmt, offen zu sprechen. Die Gefährdung des Lebens sowie rassische, religiöse und politische Diskriminierung dürfen von niemandem verharmlost oder gar unterstützt werden, und sei es durch Schweigen. Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international hat recht, wenn sie sagt: Wer schweigt, wird mitschuldig.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um den Mitgliedern von amnesty international für ihr selbstloses Engagement zu danken,
ebenso der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und den vielen anderen, die überall auf der Welt für die Entrechteten und Unterdrückten wirken.
Dieser unermüdliche, von Idealen getragene Einsatz
so vieler — vor allem auch junger — Menschen, ist
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beeindruckend und beispielhaft. Er rüttelt uns gleichzeitig immer wieder auf: wissen wir doch, wie viele Hoffnungen verzweifelter Menschen sich damit verbinden.
Wir dürfen und werden nicht schweigen. Aber, meine Damen und Herren, es dient der Sache der Menschenrechte nicht, wenn wir uns mit wortgewaltigen Erklärungen oder wohlfeilen Sanktionsforderungen gegenseitig zu übertreffen suchen. Wer nach Boykott ruft, muß sich die Frage stellen, ob er den betroffenen Menschen damit wirklich nutzt oder ob er auf diese Weise nur das eigene Gewissen beruhigen will.
Auch die Unterstützung oppositioneller Kräfte steht unter diesem Vorbehalt. Nicht jede sogenannte „Befreiungsbewegung" trägt diesen Namen zu Recht.
Wir müssen uns davor hüten, Bestrebungen zu ermutigen oder aufzuwerten, die die Freiheit mit den gleichen oder gar schlimmeren Mitteln unterjochen würden wie das von ihnen bekämpfte Regime.
Wir wollen nicht Gewalt und nicht Blutvergießen fördern; wir wollen einen friedlichen Wandel zum Wohle der Menschen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, für uns darf auch keine Rolle spielen, ob Menschenrechte von einem autoritären Regime in Lateinamerika oder von einem kommunistischen System in Europa mißachtet werden.
Menschenrechte sind unteilbar, und ebenso unteilbar muß unser Einsatz für ihre Achtung sein.
Ebensowenig darf es einen Unterschied machen, ob ein kleiner Staat die Freiheit unterdrückt oder ein mächtiges Land.
Es gibt zu viele, die in dieser Frage auf einem Auge blind sind.
Aber einseitiges Engagement diskreditiert sich selbst.
Unsere Außenpolitik, meine Damen und Herren, darf weder von doppelter Moral bestimmt werden, noch darf sie wertfrei sein. Wir müssen überall auf der Welt auf eine stärkere Achtung der Menschenrechte hinwirken. Wahr ist aber auch, daß wir als Deutsche eine besondere Verantwortung für unsere Landsleute tragen. Noch immer wird in einem Teil unseres Vaterlandes Deutschen die Freiheit vorenthalten.
Ihnen vor allem gelten unsere Sorge und unser unermüdlicher Einsatz. Wir werden nicht darauf verzichten, Selbstbestimmung und Menschenrechte für alle
Deutschen immer wieder einzufordern. Die Freiheit ist und bleibt der Kern der deutschen Frage.
Auch aus diesem Grunde empfinden wir Deutsche eine besondere Verpflichtung, für Freiheit und Menschenwürde einzutreten — eine Verpflichtung, die uns vor allem durch die eigene Geschichte auferlegt ist. Unser Volk hat die Menschenverachtung des Totalitarismus leidvoll erfahren müssen. Wir dürfen diese Erfahrungen, so schmerzlich und schrecklich sie für uns sind, nie vergessen.
Dieses Wissen lehrt uns Dankbarkeit dafür, daß wir in einer freiheitlichen Demokratie leben dürfen. Es mahnt uns aber auch zu nie ermüdender Wachsamkeit gegenüber allem, was totalitärer Herrschaft den Weg ebnen könnte.
Die Väter und Mütter unserer Verfassung bestimmten im Grundgesetz ganz bewußt die Menschenwürde zum zentralen Begriff unserer politischen Ordnung. Der Art. 1 unserer Verfassung stellt fest:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Nicht zuletzt diese Formulierung ist wesentlich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beeinflußt worden, wie überhaupt diese Erklärung den Grundrechtsteil — jenen essentiellen Kern unserer Verfassung, der für uns Deutsche zu einer Quelle neuer moralischer Kraft geworden ist — mitgeprägt hat.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spricht in ihrer Präambel — auch diese Formulierung ist mit ins Grundgesetz eingeflossen — von den Menschenrechten als der „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt". Sie macht damit deutlich, daß der Schutz der Menschenrechte nicht allein das Verhältnis zwischen Staat und Bürger betrifft. Es geht ebenso um das Zusammenleben der Staaten untereinander, und beides steht in einem unauflösbaren Zusammenhang.
Auch deshalb ist der Schutz der Menschenrechte eine Frage, die die Völkergemeinschaft in ihrer Gesamtheit berührt. Das Bewußtsein über die enge Verbindung zwischen innerem Frieden und Beziehungen nach außen ist in letzter Zeit gewachsen, aber noch immer gibt es — auch in unserem Land — Stimmen, die sich dieser Einsicht verschließen. Es geht um nicht weniger als um eine dauerhafte Ordnung für ein friedliches Zusammenleben der Staaten — eine Ordnung, deren festes Fundament die Achtung vor der Würde des Menschen sein muß.
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte nennt die Stichworte: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, und der Schutz der Menschenrechte bildet den eigentlichen Schlüssel zur Verwirklichung dieser Ideale. Die Menschenrechte — so, wie sie von den Vereinten Nationen niedergelegt und in unserem Grundgesetz bekräftigt wurden — bezeichnen nicht nur den Kern dessen, was wir unter Freiheit verstehen, sie sind auch die Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit innerhalb der Staaten wie zwischen ihnen.
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Aber wir werden noch lange fechten müssen für unsere Idee vom freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei von Furcht und Not lebt. Ich sage ganz bewußt „frei von Furcht und Not" ; denn diese großartige Vision der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehört dazu, wenn wir von Menschenrechten und einem Leben in menschlicher Würde sprechen. Die Armut in den Ländern der Dritten Welt, Krankheiten, Hunger und Elend — sie dürfen uns schon aus mitmenschlicher Solidarität nicht gleichgültig lassen.
Doch hier steht auch der Frieden, der soziale Frieden der Völkergemeinschaft auf dem Spiel, und der ist letztlich stets ein Werk der Gerechtigkeit.
Darum werden wir auch in Zukunft eine Entwicklungspolitik fortsetzen, die den Ärmsten und Schwächsten tatkräftig zur Seite steht.
Aber wir dürfen notleidende Menschen — auch dies gebietet uns die Achtung vor ihrer Würde — damit nicht zu Almosenempfängern machen. Wir müssen ihnen vor allem helfen, sich selbst zu helfen.
Ich sage auch: Ohne die Einhaltung der Menschenrechte gibt es keinen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Menschenrechtsverletzungen — das zeigt uns die Geschichte gerade dieses Jahrhunderts — führen immer wieder zu Bürgerkriegen, zu sozialem Elend und Not. Sie können in kurzer Zeit zerstören, was jahrelange mühevolle Entwicklungsarbeit aufgebaut hat. Wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit können nur dort wachsen, wo Bürgerfreiheiten und Eigentum des arbeitenden Menschen garantiert sind und wo freie Gewerkschaften ungehindert für die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer eintreten können.
Das dritte Lomé-Abkommen zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den sogenannten AKP-Staaten hat zu Recht einen Zusammenhang von Entwicklungspolitik und Menschenrechten hergestellt. Auch bei den Verhandlungen über das Nachfolgeabkommen wird die Bundesregierung dies stets im Auge behalten.
Ohne die Achtung der Menschenrechte gibt es auch keinen Frieden, der diesen Namen wirklich verdient. Nur dort, wo Grenzen überschritten, wo Menschen einander begegnen und wo Meinungen frei geäußert werden dürfen, wachsen Vertrauen und Friedfertigkeit.
Deshalb, meine Damen und Herren, muß eine umfassende Internationale Friedensordnung immer auch eine Freiheitsordnung sein.
Der Weg zu einer solchen Friedens- und Freiheitsordnung wird schwierig und langwierig sein — in Europa und weltweit.
Dennoch können wir am heutigen Tag mit Befriedigung feststellen, daß seit Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Fortschritte erzielt wurden.
Der nordamerikanische Kontinent und ein Teil Europas bilden heute, verbunden in der atlantischen Wertegemeinschaft, eine Allianz für die Grundsätze — wie es im NATO-Vertrag heißt — der „Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts".
Vor allem auch die Europäische Gemeinschaft ist zu einem großartigen Kristallisationspunkt für das Europa der Freiheit geworden,
dessen Ausstrahlungskraft weit über seine Grenzen hinausreicht.
Immer mehr Völker werfen die drückende Last der Willkürherrschaft ab und bekennen sich zu den Grundsätzen freiheitlicher Demokratie. In letzter Zeit ist erfreulicherweise der Demokratisierungsprozeß vor allem in Lateinamerika und auch im asiatischen Raum weiter vorangeschritten. Wir stehen in der Pflicht, den Staaten dort auf ihrem schwierigen Weg zwischen Bürgerkrieg und Gewaltherrschaft nach Kräften zu helfen.
So habe ich am letzten Sonntag Präsident Alfonsin in einem kritischen Augenblick der argentinischen Demokratie unsere besondere Solidarität bekundet.
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt in den meisten Staaten des Warschauer Pakts gibt es heute Entwicklungen, die die Menschen in Ost und West mit Hoffnungen erfüllen. Diese Hoffnungen dürfen nicht enttäuscht werden. Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte bilden den entscheidenden Gradmesser für den Erfolg der Reformpolitik im Zeichen von Glasnost und Perestroika. Wenn immer diese Politik zu solchen Fortschritten beiträgt, kann Generalsekretär Gorbatschow dabei auf unsere Sympathie und unsere Unterstützung rechnen.
Gleichzeitig hat sich auch das internationale System zum Schutz der Menschenrechte fortentwickelt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bedeutete den entscheidenden ersten Schritt in diesem Zusammenhang. Ihre volle Bedeutung erschließt sich uns aber erst durch die Abkommen die später erarbeitet wurden und die dazu beigetragen haben, die Allgemeine Erklärung zu präzisieren und in die Form völkerrechtlich verbindlicher Instrumente zu gießen.
Ich würdige vor allem die beiden UN-Pakte von 1966 über die bürgerlichen und politischen Rechte einerseits sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits.
Gerade wir Deutschen, meine Damen und Herren, haben allen Anlaß, an diese wichtigen Dokumente zu erinnern. Ich erwähne nur Art. 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, in dem das Recht des einzelnen verankert ist, „jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen". Ich erwähne Art. 27 desselben Dokuments, der das Recht von Minderheiten garantiert — ich zitiere —, „ihr ei-
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genes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen".
Im freien Teil unseres Kontinents ist der internationale Schutz der Menschenrechte sogar schon erheblich weiter vorangekommen. Ich will bei dieser Gelegenheit vor allem die unverzichtbare Rolle des Europarats unterstreichen. Indem er die Staaten der Europäischen Gemeinschaft mit den anderen freiheitlichen Demokratien unseres Kontinents verbindet, erinnert er uns immer wieder daran — das können wir gar nicht oft genug aussprechen — , daß Europa eben größer ist als die Gemeinschaft der Zwölf, die so oft im Mittelpunkt des Interesses steht.
Der Europarat ist zu einem Symbol für die geistige Einheit Europas über alle Grenzen hinweg geworden. Er trägt dazu bei, unser gemeinsames kulturelles Erbe zu pflegen, und er bekräftigt die Idee, die der europäischen Einigung zugrunde liegt — die Idee einer Friedensordnung auf der Grundlage von Freiheit und Wahrung der Menschenrechte.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine besondere Bedeutung kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zu. Mit dieser Konvention — vor allem auch mit der Europäischen Menschenrechtskommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte — wurde ein Schutzsystem geschaffen, das in vielfacher Hinsicht vorbildlich ist. Die Dauer der Verfahren ist allerdings oft zu lang, und gemeinsam mit den anderen Partnerstaaten im Europarat werden wir uns darum bemühen, sie erheblich zu verkürzen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde von der Erklärung der Vereinten Nationen zweifellos beeinflußt. Aber ich will an dieser Stelle auch an ihre eigenen, an ihre europäischen Wurzeln erinnern. Bereits auf dem ersten Kongreß der Europäischen Bewegung im Mai 1948 wurde der Plan entworfen, die Menschenrechte mit einer internationalen Garantie zu versehen. Schon damals wurde die Forderung erhoben, in Europa einen Gerichtshof für Menschenrechte einzurichten.
Heute muß es uns darum gehen, das Netz für einen umfassenden und wirkungsvollen Schutz der Menschenrechte immer enger zu knüpfen. So ist z. B. ein Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter geschaffen worden. Die Bundesregierung hat an den Vorbereitungen zu dieser europäischen AntiFolter-Konvention aktiv mitgewirkt und sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt — im November 1987 — in Straßburg gezeichnet. Auch der Entwurf des Vertragsgesetzes ist kürzlich vom Bundeskabinett verabschiedet worden. Mit unserem Bekenntnis zu dieser Konvention bekräftigen wir unsere Abscheu gegenüber jeder Art der Folter. Wir beteiligen uns damit gleichzeitig an der Schaffung eines Kontrollsystems, das in anderen Regionen der Welt als Vorbild dienen soll.
Ein ähnliches Signal wollen wir auch durch die Ratifikation der Anti-Folter-Konvention der Vereinten
Nationen setzen. Die Bundesregierung hat diese Konvention bereits gezeichnet.
All diese Fortschritte bilden wichtige Bausteine im System eines internationalen Schutzes der Menschenrechte.
Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch: wir kommen noch zu langsam voran. Vor allem fehlt ein wirksames Instrumentarium der Vereinten Nationen, um die Achtung der Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Die Bundesregierung wird sich deshalb dafür einsetzen, die bestehenden Kontrollgremien zu stärken — vor allem den Menschenrechtsausschuß und den Ausschuß für Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung — sowie zusätzliche internationale Kontrollinstanzen zu schaffen. Dazu zählen insbesondere ein Hochkommissar für Menschenrechte und ein Internationaler Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Kompetenzen im Idealfall an diejenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranreichen sollten.
Letztlich werden wir aber auch hier nur vorankommen, wenn es gelingt, das Bewußtsein für die Bedeutung der Menschenrechte überall zu fördern sowie den Willen der einzelnen Staaten, sie als ein besonders kostbares Gut zu achten und zu schützen. So müssen wir z. B. dafür sorgen, daß Menschenrechtsverletzungen an Frauen mehr Aufmerksamkeit finden als bisher. Die Bundesregierung hat erst kürzlich in der Beantwortung einer Großen Anfrage ausführlich zu diesem Thema Stellung genommen.
Ich begrüße es, daß diese Große Anfrage auf Initiative der weiblichen Abgeordneten aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zustande gekommen ist.
Auch in diesem Augenblick werden in vielen Teilen der Welt Menschen willkürlich verhaftet, erniedrigt, gefoltert oder gar ermordet. Viele werden wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt und verfemt. In zahlreichen Ländern gibt es keine freie Presse, und den Menschen ist es dort nicht erlaubt, ihre Meinung frei zu sagen. All diesen Menschen gilt unsere Solidarität und unser Versprechen, auch weiterhin für ihre unveräußerlichen Rechte einzutreten.
Für uns in der Bundesrepublik Deutschland ist die Garantie dieser Rechte längst selbstverständlich geworden; für manche vielleicht sogar zu selbstverständlich. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch einmal an jene Bestimmungen unserer Verfassung erinnern, die der Einzelperson für gerichtliche Verfahren Schutz in Form von festen Garantien geben. Und ich füge im Hinblick auf eine anhaltende internationale Diskussion hinzu: Wir wollen, daß die Zahl der Länder immer größer wird, in denen — wie bei uns seit 1949 im Grundgesetz geregelt — die Todesstrafe nicht mehr verhängt werden darf.
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Auch in unserem Land muß — das schulden wir vor allem der jungen Generation — immer wieder daran erinnert werden: Freiheit ist ein Geschenk, das es zu pflegen gilt. Sie muß durch eigene Anstrengungen erhalten und jeden Tag neu verdient werden. Dabei geht es nicht nur darum, den Anfechtungen totalitären Denkens zu widerstehen. Uns erwachsen auch neue, bisher unbekannte Gefahren.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt birgt große Chancen, die wir verantwortungsvoll nutzen wollen. Aber die neuen Möglichkeiten bei Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie — um zwei Beispiele zu nennen — stellen uns vor neue Herausforderungen, die die Würde des Menschen zutiefst berühren können: sein Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf seine unverwechselbare Persönlichkeit. Hier werden wir Regelungen finden müssen, die diesen Gefahren wehren und die uns gleichzeitig erlauben, den Fortschritt in den Dienst der Menschen zu stellen.
Der Schutz der menschlichen Würde bleibt auch unter veränderten Bedingungen eine der großen und vornehmsten Zukunftsaufgaben. Wir werden uns dieser Aufgabe auch weiterhin stellen: im Bewußtsein unserer Verantwortung, aus der Erfahrung gerade unserer Geschichte und im Bekenntnis zu dem Ideal, das die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor 40 Jahren formuliert hat.