Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 40 Jahren, am 10. Dezember 1948 — ich war noch gar nicht geboren —, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Diese Verabschiedung folgte als Reaktion auf das nationalsozialistische Terror- und Vernichtungsregime, das weltweit ohne Vergleich steht für die systematische Vernichtung und Ermordung von Millionen Juden in Europa, für die Aussonderung und Ermordung der
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von den Nazis als „unwertes Leben" definierten Roma und Sinti, Homosexuellen, der sogenannten „Asozialen" und der geistig und körperlich Behinderten, für die Zerschlagung der Deutschen Arbeiterbewegung und die Ermordung ihr Angehörender, für die Verfolgung und Ermordung der sich im Widerstand befundenen Menschen in Ost- und Westeuropa. Vor 40 Jahren versprach diese Erklärung allen Menschen gleiche bürgerliche und politische Rechte.
Die 1948 formulierten Artikel waren als ein internationales Dokument mit universaler Bedeutung ein Fortschritt in der Normsetzung der Würde des Menschen: das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, das Verbot der Sklaverei, das Verbot der Folter, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Asyl. Jedoch zeigten sich damals schon die Grenzen des durch die bürgerliche Aufklärung geprägten westeuropäischen Menschenrechtsbegriffs. Dieser Begriff geht von der Vorstellung aus, daß jedem Menschen mit der Geburt von Natur aus unveräußerliche, unteilbare und universell geltende Rechte zukommen. Diese Individualrechte werden als sogenannte „politische" definiert und den sogenannten „sozialen" gleichgestellt. Es wird aber hierbei die Realität der in kapitalistischen Staaten nach westlichem Demokratiemuster lebenden Menschen ausgeblendet. Es ist doch so, politische Freiheit kann nur in Anspruch genommen werden, wenn soziale Gleichheit gegeben ist. Massenhafte Armut und Verelendung, Menschen, die nicht lesen und schreiben gelernt haben, Wohnungsnot, Säuglings- und Kindersterblichkeit, Erwerbslosigkeit degradieren dieses sogenannte angeborene Menschenrecht auf Freiheit zu einem Recht der Privilegierten, der Reichen, der Besitzenden.
Allein, der Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte — „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" — , verbunden mit den Rechten auf soziale Sicherheit, Arbeit, Bildung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht verwirklicht.
Hier gibt es keine „von Natur" aus unveräußerlichen, unteilbaren und universell geltenden sozialen Rechte, höchstens Ansprüche auf eine vom Staat gewährte soziale Grundsicherung in Form von Sozialhilfe, die jederzeit gekürzt oder gestrichen werden kann, wenn sich die Empfänger und Empfängerinnen dieses Gnadenaktes nicht konform verhalten.
Die Verantwortung für das Leben, die bloße Existenzabsicherung wird an das Individuum abgegeben und das Scheitern in diesem Gesellschaftssystem als individuelle Schuld, als Versagen gebrandmarkt.
Das Verständnis vom westlichen Menschenrechtsbegriff zeigt sich jedoch auch in anderer Form: Die sogenannten westlichen „Garanten der Freiheit" und der Menschenrechte waren und sind gleichzeitig Kolonialmächte, die die aufkommenden Unabhängigkeitsbestrebungen in den „Kolonien" und „Hinterhöfen" ihrer Marktpolitik brutal unterdrückten und unterdrücken. Die Menschen Indiens, Algeriens, Vietnams — um nur einige Beispiele zu nennen — haben am eigenen Leib den Zynismus dieser „Gralshüter" kennengelernt.
In den 40 Jahren seit Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat es zwar keinen dritten Weltkrieg, aber über 140 Kriege in regionalen Gebieten dieser Welt gegeben, und sie werden weiter existieren. Gestern erst wurde hier in der Bundesrepublik wieder Krieg mit tödlichem Ausgang geübt.
Der Exekutivdirektor des UN-Hilfswerks UNICEF erhob anläßlich der Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank im September dieses Jahres in Berlin den Vorwurf, daß allein durch die Schuldenkrise in den letzten Jahren mehr als eine Million Kinder getötet wurden.
Die „Vernichtung von Menschenleben in gesetzlicher Form", die Todesstrafe, ist weltweit noch immer nicht abgeschafft. In einem Land wie den Vereinigten Staaten von Amerika, von dem Präsident Reagan sagt: „Es ist die gottgewollte Bestimmung dieses großartigen Landes, den anderen Völkern das zu übermitteln, was wir mit Stolz als unsere größte Errungenschaft bezeichnen, die Segnungen der Menschenrechte", wird noch heute in 37 von 50 Staaten die Todesstrafe verhängt. 2 000 Menschen, hauptsächlich schwarze, sitzen in den Gefängnissen und warten — zum Teil schon seit Jahren — auf die Vollstreckung des Hinrichtungsurteils.
Nach 40 Jahren Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte ist diese Welt, dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, weit davon entfernt, Menschenrechte einzuhalten, einzuklagen oder durchzusetzen. 40 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stehen für 40 Jahre Instrumentalisierung des Menschenrechtsbegriffs und für 40 Jahre Verletzung der Menschenrechte.
Menschenrechte werden als Kalkül in der Außen- und Wirtschaftspolitik dieses Landes eingesetzt. Vorrang haben die politische Stabilität, die Zugehörigkeit zum westlichen politischen Lager und die ökonomischen Interessen der westlichen kapitalistischen Industrieländer gegenüber Staaten, die faschistisch sind, sich den Schein einer sogenannten politischen Neutralität und Blockfreiheit oder das Mäntelchen der formal-rechtsstaatlichen Demokratie umhängen.
Folterungen und brutale Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, in Chile, in El Salvador, in Guatemala und in Südafrika werden nicht sanktioniert, die Einhaltung der Menschenrechte höchstens angemahnt; Konsequenzen erfolgen nicht.
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Auf der anderen Seite wird die berechtigte Kritik an Menschenrechtsverletzungen in den osteuropäischen Ländern und die Einhaltung der Menschenrechte hier zum Gradmesser für weitere Gespräche und Abrüstungsverhandlungen gemacht. Richtig ist, daß in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion die elementarsten demokratischen Grundfreiheiten nicht gelten. Versammlungs-, Demonstrations-, Presse- und zum Teil auch die Religionsfreiheit waren in diesen Ländern weitgehend außer Kraft gesetzt.
Die osteuropäischen Länder und die Sowjetunion haben lange Zeit argumentiert, daß das Einklagen der Menschenrechte seitens der westlichen Industriestaaten eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten bedeutet. Seit Unterzeichnung der Schlußakte der KSZE in Helsinki haben unsere östlichen Nachbarstaaten die Menschenrechte faktisch auch für ihren eigenen Machtbereich anerkannt, ohne daß daraus jedoch schon weitreichende Konsequenzen gezogen wurden.
Erst die Reformentwicklungen in Ungarn und die Glasnost-Politik in der Sowjetunion haben dort Diskussionen freigesetzt, die Rechte, vor allem aber den Schutz der einzelnen Bürger vor staatlicher Willkür auch gesetzlich zu sichern. In Ungarn und der Sowjetunion ist — bei aller Unterschiedlichkeit des Verlaufs des Reformprozesses — die Notwendigkeit einer Rechtsstaatlichkeit erkannt worden. Es ist erkannt worden, daß die Diktatur des Proletariats zur Herausbildung despotischer Formen der Herrschaft unter Berufung auf das revolutionäre Subjekt geführt hat,
die das kulturelle, soziale Leben erstickte und die wirtschaftlichen Entwicklungen hemmte. In Ungarn und in der Sowjetunion sind daraus einschneidende Konsequenzen gezogen worden, die vor einem Jahrzehnt noch kaum vorstellbar waren.
Dieser Demokratisierungsprozeß vollzieht sich jedoch nicht in allen Ländern gleichzeitig. Besondere Barrieren existieren vor allem in Rumänien, auch in der DDR und der Tschechoslowakei, wo den Menschen nach wie vor die elementarsten Menschenrechte verwehrt werden.
Staaten, in denen durch soziale Revolutionen Gesellschafsformen entstanden sind, die sich in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem nicht einbinden lassen wollen, werden — wie wir es z. B. aus Nicaragua kennen — mit politischen, ökonomischen und militärischen Sanktionen belegt und die reaktionäre Elite als Freiheitskämpfer und -garanten unterstützt.
Meine Damen und Herren, die Menschenrechtspolitik dieser Bundesregierung, die sich auch als Garant der freiheitlichen Rechte ausgibt, zeichnet sich als einäugig und instrumentalisierend aus. Hierfür nur einige Beispiele: Im Golfkrieg wurden die ökonomischen Interessen der Bundesrepublik durch Waffenlieferungen an den Iran und Irak voll befriedigt. Nach dem Krieg reiste Bundesaußenminister Genscher mit einer Wirtschaftsdelegation in den Iran, vermittelte Geschäfte, schloß ein Kulturabkommen ab, leitete die Wiedereröffnung des Goethe-Instituts in die Wege, obwohl sich seit Juli dieses Jahres und insbesondere seit dem Waffenstillstandsabkommen im Golf die Berichte über massenhafte Hinrichtungen im Iran häuften. Amnesty international hat diese Hinrichtungen aufgezeigt, und der Sonderbeauftragte der UN-Menschenrechtskommission hat im November, vor nicht einmal drei Wochen, einen Bericht hierüber vorgelegt. Noch am Mittwoch haben wir hier auf einer Pressekonferenz erschütternde Berichte von Menschen gehört, deren Familienangehörige in der Nacht zuvor hingerichtet wurden. Es wurden Hunderte, vielleicht auch Tausende von Menschen hingerichtet. Die iranischen Herrschenden geben wie auch sonstwo in der Welt keine öffentliche Rechenschaft ihrer Taten ab, und diese Taten müssen von uns mühsam ermittelt werden.
Nur knapp eine Woche später hat Bauminister Schneider im Gefolge namhafter Manager bundesdeutscher Baufirmen ein Memorandum über die beabsichtigte Beteiligung der bundesdeutschen Bauwirtschaft beim Wiederaufbau des Irans unterzeichnet.
Die Bundesregierung soll jetzt nach der Forderung der Bauwirtschaft positiv über Hermes-Bürgschaften entscheiden. Die massenhaften Hinrichtungen und andere eklatante Menschenrechtsverletzungen sind nicht Hauptgegenstand der Gespräche des Außenministers und seines Anhangs gewesen.
Meine Damen und Herren, am massenhaften Tod und Elend der Menschen im Iran und Irak wird durch den Krieg und beim Wiederaufbau Profit gemacht, die Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Dieser Zynismus ist nicht zu überbieten.
Folterländer, wie die Türkei, deren Staatspräsident Evren hier in der Bundesrepublik mit allen Ehren empfangen wird, das südafrikanische Apartheidregime, gegen das keine Sanktionen verhängt werden sollen, da dies angeblich die schwarze Bevölkerung am härtesten treffen würde, werden hofiert. Hier ließen sich noch unzählige Beispiele finden.
Die politischen und ökonomischen Interessen dieser Bundesregierung, der CDU/CSU/FDP-Koalition und die hinter ihnen stehende Lobby der Konzerne wollen und werden keine Einbußen in der Profitmaximierung in Kauf nehmen. Das ist das wahre Gesicht von Menschenrechtspolitik.
Die spektakulären Auftritte des CDU-Generalsekretärs Geißler 1986 und des Ministers für Arbeit und Sozialordnung, Blüm, 1987 in Chile, sind uns allen noch gut in Erinnerung. Sie „kämpften" angeblich, ausgehend von ihrer christlichen Leitidee der Menschenrechte, für die Menschenrechte in Chile, dies jedoch nur, um nach der Abwirtschaft Pinochets die desolate Situation in Chile aufzufangen und einen Stabilisierungsprozeß für eine christliche Regierung Chiles zu erreichen. Für Südafrika hat dann der
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„kurze Atem für Menschenrechte" nicht mehr gereicht; in dieses Land reiste Strauß, um das rassistische Regime zu hofieren.
Meine Damen und Herren, Menschenrechte anzuklagen, Berichte über den Hungertod zigtausender Frauen, Kinder und Männer, Berichte über Gewaltübergriffe und Folterungen von Frauen, Kindern und Männern zu lesen, mit diesen Menschen zu reden, ist kaum zu ertragen, verfolgt mich — und sicher auch andere, die diese Berichte lesen und die Gespräche führen — noch in den Träumen. Aber es schärft auch den Blick und die grundsätzliche Haltung und Achtung gegenüber den Rechten des einzelnen Menschenlebens. Mit dem Recht auf Leben und dem Recht auf individuelle Freiheit ist für uns untrennbar das Recht auf Nahrung, das Recht auf eine intakte Umwelt, das Recht auf Wohnung, auf Existenzabsicherung verbunden.
Wie kann sich zum Beispiel ein Kind überhaupt entwickeln, wenn diese Grundvoraussetzungen nicht erfüllt sind, um auch alle anderen Rechte wahrnehmen zu können?
Bei meiner Teilnahme am achten Jahreskongreß des Lateinamerikanischen Verbandes der Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen FEDEFAM in Bogota habe ich Frauen kennengelernt, durch das „Verschwinden" ihrer Kinder, Ehemänner, Eltern und ihre eigene Verfolgung leidvoll geprägt, starke und mutige Frauen, die die Regime ihrer Länder, aber auch die westlichen Industrieländer, diese Bundesrepublik der Mitverantwortung anklagen. Diese Frauen grüße ich von hier aus und wünsche ihnen weiterhin diese Kraft und Stärke.
Es gibt in Lateinamerika 90 000 durch die unabhängigen Menschenrechtsorganisationen registrierte „Verschwundene"; eine für uns neue, aber seit langer Zeit praktizierte „Todesstrafe" in Lateinamerika. In den 10 Tagen, in denen ich in Kolumbien war, sind 55 Menschen erschossen worden, davon allein 43 in Segovia. Der Besuch der bundesdeutschen Delegation in Segovia wurde für uns zu einem traumatischen Erlebnis: Zu sehen, wie Paramilitärs, gedeckt durch das Militär, eine Kleinstadt in ihren Grundfesten zerstören. Die Frauen und Männer von Segovia und anderswo klagen die Militärs und die mit ihnen operierenden Todesschwadronen an, die auch für die Anklagenden bedrohlich sind, weil diese versuchen, eine internationale Öffentlichkeit für das „Verschwindenlassen" zu erreichen.
Beeindruckend war, wie präzise die Frauen die politische, ökonomische und soziale Situation ihres jeweiligen Landes analysierten, sich gegenseitig stützten und den Willen zur Weiterarbeit stärkten.
Auch bei meiner Zusammenarbeit mit Flüchtlingen und Flüchtlingsinitiativen treffe ich oft solche starken und mutigen Frauen. Gewalt, Unterdrückung und Folter von Frauen, die in die Bundesrepublik flüchten, werden in diesem Haus noch viel zu wenig wahrgenommen.
Frauen werden inhaftiert, gefoltert, hingerichtet. Sie werden verachtet, gedemütigt, bestraft, verstümmelt, sind männlicher und staatlicher Gewalt ausgesetzt, weil sie gegen die kulturellen Normen und Sitten — definiert von Männern ihrer jeweiligen Heimatländer — verstoßen und gegen den ihnen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft opponieren.
Frauen werden als Familienangehörige verfolgt, um Aussagen von Vätern, Brüdern, Ehemännern zu erpressen. Frauen werden wegen ihrer politischen Aktivitäten und ihres Widerstandes verfolgt. Die Verfolgung und sexistische Folter sind auch Strafe für sogenanntes „unfrauliches" Handeln und Verhalten.
Gelingt Frauen die Flucht, sind sie auf diesen Wegen ebenfalls Vergewaltigung und Bedrohung durch männliche Schlepper und Fluchthelfer ausgesetzt. Erreichen sie die Bundesrepublik, werden ihre Verfolgungs- und Fluchtgründe nicht anerkannt; ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wird ihnen verwehrt.
Die Flucht überhaupt erst anzutreten, setzt ein hohes Maß an Verzweiflung voraus und erfordert viel Mut und Stärke.
Bei einer dieser Frauen habe ich die Abschiebung bis Zürich verfolgen können. Sie, pakistanische Staatsangehörige, ist von ihrem Ehemann des Ehebruchs bezichtigt worden und befürchtete, gesteinigt zu werden. Die Flucht dieser Frau dauerte zwei Jahre. Danach lebte sie drei Jahre illegal, da ihr Asylantrag abgelehnt wurde, in Berlin. Ihre Fluchtgründe sind nicht anerkannt worden; nach einer Ausweiskontrolle wurde sie in Abschiebehaft genommen und unter Tabletteneinfluß in ein Flugzeug verfrachtet. Ich habe sie bis Zürich begleitet in der Hoffnung, ihr noch helfen zu können, leider vergebens. Ich hoffe, daß sie jetzt überhaupt noch lebt.
All diese Erfahrungen bestärken mich und viele andere, uns immer weiter für das Recht auf Asyl und die Einhaltung und Erweiterung der Menschenrechte und des Menschenrechtsbegriffs einzusetzen.