Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt leider zahllose Gründe, schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen zu beklagen und über ihre Häufigkeit erschreckt zu sein. Darauf ist auch in dieser Debatte mehrfach und mit Recht hingewiesen worden. Aber, meine Damen und Herren, Hinweise und Appelle sind nur so viel wert, wie auch unsere eigenen Taten solchen Appellen entsprechen.
Von ganz besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie wir unsere Antwort auf Menschenrechtsverletzungen geben, wenn die Betroffenen als Asylsuchende in unser Land kommen.
Ich habe dankbar festgestellt, daß der Bundeskanzler vor kurzem jeder Änderung des Asylgrundrechts eine deutliche Absage erteilt hat. Aber
nun bitte ich ihn auch, der von seinen süddeutschen Parteifreunden quälend und immer wiederholt betriebenen Kampagne gegen dieses Grundrecht endlich Einhalt zu gebieten.
Das Ausmaß des Elends der Menschenrechte darf aber nicht dazu verleiten, die in vielen Ländern eingetretenen nachhaltigen Verbesserungen der menschenrechtlichen Lage zu übersehen. Menschenrechtserörterung darf nicht nur Problemschilderung sein, sie darf sich nicht in Klagen erschöpfen, und sie darf vor allen Dingen nicht in Resignation hineinführen. Das wäre nämlich eine andere Art der Einseitigkeit, die das ganze Bild verkürzt. Denn auch zur Ermutigung gibt es Anlaß, und das nicht nur vereinzelt. Meinen Redebeitrag möchte ich nutzen, um diesen Gesichtspunkt der Ermutigung zu betonen.
Entwicklung, Verwirklichung und Sicherung der Menschenrechte erfolgen in einem langwierigen Prozeß, der schmerzhafte Stadien abschließen und Hindernisse überwinden muß. Im ganzen gesehen ist dieser Prozeß seit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor vierzig Jahren und vor allem in den beiden letzten Jahrzehnten erfreulich verlaufen. Ich bin Ihnen, Frau Hamm-Brücher, sehr dankbar, daß Sie unseren Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser allgemeinen Erklärung gelenkt haben.
8586 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988
Dr. Schmude
Inzwischen befinden wir uns in einer Entwicklungsphase, die, so glaube ich, zu weiteren Hoffnungen auf einen erfreulichen Verlauf Anlaß gibt. Das gilt sogar für den Umgang mit der Todesstrafe. In Westeuropa ist sie praktisch abgeschafft, nachdem Frankreich diesen Schritt 1981 vollzogen hat und Versuche der Wiedereinführung in Großbritannien wiederholt gescheitert sind. Die Abschaffung in der DDR ist ein weiterer Fortschritt, der hoffen läßt, daß nach und nach in allen Ostblockstaaten die gesetzlich sanktionierte Vernichtung von Menschenleben aufhören wird. In diesem Zusammenhang kann man nur mit großer Freude die Ankündigung Generalsekretär Gorbatschows von vorgestern vor der UNO zur Kenntnis nehmen, man werde die Strafartikel über die Todesstrafe in der Sowjetunion überprüfen. Der weltweite Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe ist damit nicht gewonnen. Er findet aber zunehmend stärkere Ausgangspositionen.
Der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sind in den letzten Jahren zahlreiche völkerrechtliche Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte gefolgt, so die schon erwähnten internationalen Pakte, die Vereinbarungen für bestimmte Bereiche des Menschenrechtsschutzes, z. B. die Antifolterkonvention, und regionale Menschenrechtskonventionen, z. B. im Bereich des Europarats. Gewiß sind solche Rechtsnormen von unterschiedlicher Verbindlichkeit. Oft genug läßt die volle Verwirklichung auf sich warten. Aber sie schaffen ein internationales Einvernehmen der Verpflichtung auf die Menschenrechte, das in Erinnerung gebracht, das politisch und manchmal auch rechtlich zur Geltung gebracht werden kann.
Nutzen und Gewicht dieses Regelsystems lassen sich auch daran ablesen, daß der hier wiederholt mit Recht zurückgewiesene Einwand der Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Landes durch Geltendmachung der Menschenrechte schwächer geworden ist. Das wird den Staaten bewußt. Mehr und deutlicher als früher lassen sie sich heute ansprechen.
Dazu hat nicht zuletzt die KSZE-Schlußakte von 1975 beigetragen. Sie begründete keine völkerrechtlichen Verpflichtungen, sondern ist, wie man sagt, nur ein politisches Dokument. Und doch hat sie im Ostblock die Menschen ermutigt, die versprochenen Rechte und Möglichkeiten einzufordern. Die KSZE-Schlußakte hat das allgemeine Bewußtsein verändert und nicht nur die Freiheit der Aussprache über Menschenrechte ermöglicht, sondern mit dieser die Verbesserung der menschenrechtlichen Lage selbst einhergehen lassen.
Sehr wesentlich ist, daß die Schlußakte von Helsinki nicht der Schluß, sondern der Beginn einer Entwicklung geworden ist, die im KSZE-Prozeß gehaltvolle Folgedokumente erbracht hat. Der Prozeß ist nicht abgeschlossen. Gerade jetzt wird auf der Wiener Folgekonferenz ein weiteres Dokument zum Abschluß gebracht, das u. a. die Reisefreiheit und die Informations- und Meinungsfreiheit stärken soll. Damit zeichnen sich bei aller Langwierigkeit des Prozesses und aller Schwierigkeit dieser Folgeverhandlungen Verbesserungen für die Menschenrechte ab, die auch die
früheren Kritiker dieser KSZE bei uns in der Bundesrepublik längst in hoffnungsvolle Anhänger dieses Vorhabens verwandelt haben.
Die Sowjetunion und die anderen Ostblockstaaten sind in den Prozeß nicht nur eingebunden, sie tragen ihn auch mit und befördern ihn. Es gibt neben zahlreichen Mängeln und Mißständen in den Staaten des Warschauer Pakts auch viele inzwischen verwirklichte Fortschritte und handfeste Anzeichen für eine weitere Wendung zum Guten. Man denke an die Entwicklung in der Sowjetunion mit ihrem Zuwachs an Meinungsfreiheit und weiteren bürgerlichen Freiheiten bis hin zur Religionsfreiheit.
Aus dem Menschenrechtsausschuß der UNO wird berichtet, daß die Sowjetunion erstmals aufgeschlossen an der Erstellung menschenrechtlicher Berichte mitarbeitet. Mehr noch, Generalsekretär Gorbatschow hat vorgestern in der UNO-Vollversammlung die erweiterte Teilnahme der Sowjetunion an den menschenrechtlichen Kontrollmechanismen der UNO angekündigt und die Verbindlichkeit von Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag zu den Menschenrechten für alle Staaten gefordert. Die in unserem heutigen Entschließungsantrag befürwortete Errichtung eines Internationalen Gerichtshofes für die Menschenrechte findet in Gorbatschows Äußerung eine interessante und verheißungsvolle Entsprechung.
Die Verwirklichung dieses Ziels ist nahegerückt. Um so wichtiger wird es freilich sein, daß auch der Westen den Gerichtshof in Den Haag vorbehaltlos respektiert und daß sich Fälle der Brüskierung und Mißachtung — wie beim Konflikt um Nicaragua — nicht wiederholen.
In den Ostblockstaaten geht die Entwicklung größerer Rechte und Freiheiten für die Menschen unterschiedlich schnell voran. Mit besonderer Anerkennung — das ist hier schon deutlich geworden — verfolgen wir den Fortschritt in Ungarn. Aber auch die DDR, sosehr wir sie immer wieder wegen der menschenrechtlichen Praxis kritisieren müssen, hat erfreuliche Verbesserungen aufzuweisen. Der Menschenrechtsbericht einer unabhängigen Wissenschaftlerkommission, den die Bundesregierung im November 1987 dem Bundestag vorgelegt hat, würdigt positiv, daß die DDR hinsichtlich der Ausreiseintensität in westlicher Richtung eine Spitzenstellung im Warschauer Pakt einnimmt und — trotz aller Ärgernisse — ein im Vergleich zu anderen kommunistischen Ländern hohes Maß an Religionsfreiheit gewährt.
Wenn jetzt eine Verordnung über Westreisen erlassen und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit eingerichtet werden soll, liegt darin die Chance eines weiteren Zugewinns an Menschenrechten. Gerade die Verweigerung jeglichen gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes hatte die Wissenschaftlerkommission als krassen Völkerrechtsverstoß gewürdigt und beanstandet.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 117. Sitzung. Bonn, Freitag, den 9. Dezember 1988 8587
Dr. Schmude
Es gibt nach wie vor viele Gründe zur Beanstandung und zu weitergehenden Forderungen. Natürlich ist die Ungeduld derer verständlich, denen die ganze Entwicklung nicht schnell genug geht. Aber sie geht voran, und wir sollten das würdigen.
Mit alledem soll nicht von der immer noch vielfältigen Praxis der Mißachtung der Menschenrechte abgelenkt, sollen Not und Leid unterdrückter Menschen nicht verharmlost werden. Diese zeigen die ganze Notwendigkeit des weiteren Kampfes für die Menschenrechte. Die positiven Erfahrungen und hoffnungsvollen Anzeichen freilich — und es sind ja heute in der Debatte auch eine Reihe anderer solcher Anzeichen genannt worden — können und sollen auch den ermutigen, dem vor dem Ausmaß der Aufgabe die Kräfte schwinden wollen. Der energische Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte hat sich schon tausendfach gelohnt. Er lohnt sich weiter.