Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich dem Hohen Hause bekanntzugeben, daß der Herr Bundestagspräsident dem Herrn Bundespräsidenten zu seinem heutigen Geburtstag im Namen des ganzen Hauses gratuliert hat.
Ferner darf ich dem Herrn Kollegen Raestrup zum 77. und Herrn Kollegen Schneider zum 65: Geburtstag herzlichst gratulieren.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die heutige Tagesordnung erweitert um die Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dr. h. c. Pünder, Dr. Mommer und Genossen betreffend Empfehlungen und Entschließungen der Beratenden Versammlung des Europarates und der Versammlung der Westeuropäischen Union und des Antrags der Fraktion der SPD betreffend Gemeinsamer Markt und Euratom, Drucksache 3138. — Widerspruch erfolgt nicht; das Haus ist damit einverstanden.
1 Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 25. Januar 1957 dem
Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und des Verfahrensrechts zugestimmt.
In der gleichen Sitzung hat der Bundesrat zum
Gesetz zum Protokoll vom 7. Juni 1955 über die Bedingungen für den Beitritt Japans zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen
verlangt, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird. Die Gründe hierfür sind in Drucksache 3133 niedergelegt.
Der Herr Bundesminister für Wirtschaft hat unter dem 29. Januar 1957 die Kleine Anfrage 300 der Fraktion der SPD betreffend Preisbindung der zweiten Hand beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 3144 verteilt.
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem 23. Januar 1957 die Kleine Anfrage 315 der Fraktion der FDP betreffend Auskünfte der Bundesregierung im Fall Dr. Strack beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 3134 verteilt.
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem 25. Januar 1957 die Kleine Anfrage 316 der Fraktion der FDP betreffend Verhalten der Bundesregierung in der Angelegenheit des Botschaftsrats Schlitter beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 3135 verteilt.
Der Herr Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte hat unter dem 23. Januar 1957 auf Grund des Beschlusses des Deutschen Bundestages in seiner 173. Sitzung einen Zwischenbescheid über die Evakulertenrückführung erstattet, der als Drucksache 3079 verteilt ist.
Wir kommen damit zum ersten Punkt der heutigen Tagesordnung:
Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt es, dem Bundestag heute einen Bericht über die außenpolitische Lage geben zu können. Gerade die Ereignisse der letzten Monate haben mit erschreckender Eindringlichkeit gezeigt, daß große Teile der Welt noch von einem Netz von Gegensätzlichkeiten und Spannungen überzogen sind. Diese stehen zum Teil innerlich und ursächlich miteinander in Beziehung. Aber auch dort, wo diese Wechselbeziehung fehlt, zeigt sich ein äußerer Zusammenhang, der in der zeitlichen Koinzidenz gewisser Ereignisse ebenso zum Ausdruck kam wie in der Beteiligung der gleichen subversiven oder ordnenden Kräfte.
Wir haben es alle miterlebt und empfunden, daß die Vorgänge in einem Bereich der Welt Reflexwirkungen in anderen Teilen ausgelöst haben. Und diese Erfahrung hat wohl überall und nicht zuletzt im deutschen Volk die Erkenntnis verstärkt, daß die einzelnen Probleme nicht isoliert gesehen und gelöst werden können. Es ist kein Ausdruck der Resignation, wenn dies ausgesprochen wird. Aber sicherlich ist doch diese Erkenntnis bedrückend und in gewissem Sinne entmutigend für ein Volk wie das deutsche, das heute noch auf die Lösung einer Frage hofft, von deren Beantwortung die Zukunft Deutschlands letztlich abhängt. Denn wenn wir uns klar sind, daß auch das deutsche Problem in dieser Weise mit anderen weltpolitischen Fragen zusammenhängt, dann führt dies zwangsläufig zu der Feststellung, daß unsere eigenen Möglichkeiten in gewissem Maße beschränkt sind und daß für uns wie für die anderen daran beteiligten Staaten die Antwort voraussichtlich nur gefunden werden kann im Rahmen einer weltpolitischen Entspannung und gleichzeitig mit der Antwort auf andere Fragen, an denen wir nicht unmittelbar beteiligt sind und auf deren Lösung wir demgemäß nur geringen Einfluß haben.
Seit den beiden letzten außenpolitischen Aussprachen im Bundestag am 28. Juni und am 8. November des vergangenen Jahres ist die weltpolitische Entwicklung nicht stehengeblieben. Das, was inzwischen geschehen ist, zu analysieren, ist in erster Linie Aufgabe der heutigen Aussprache. Eine solche Analyse wäre unvollkommen, wenn sie nicht auch die Frage einbezöge, ob die außenpolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre ihre Grundlage verloren haben und ob die politischen Tatsachen, denen wir uns heute gegenübersehen, eine Revision der Außenpolitik der Bundesregierung verlangen und, wenn wir diese Frage bejahen, in welchem Bereich und in welcher Richtung.
Die Bundesregierung glaubt allerdings allen Anlaß zu haben, zunächst auf die erfreulichen Erfolge hinzuweisen, die die Frucht einer beständigen und glaubwürdigen Politik im Bereich der freien Welt des Westens waren. Es ist heute das erstemal, daß der Bundesminister des Auswärtigen im Deutschen Bundestag auch für das Saarland sprechen kann,
das am 1. Januar dieses Jahres als zehntes Bundesland ein Teil der freien Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Nach elf Jahren der Trennung und Ungewißheit ist ein Gebiet zu uns zurückgekehrt, das — sehr gegen seinen Willen — Jahrzehnte hindurch die Rolle eines umstrittenen Grenzlandes spielen mußte. Ständige Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis waren die Folge. Wir können heute mit tiefer Genugtuung feststellen, daß zum erstenmal seit 1918 wieder saarländische Abgeordnete an der gesetzgeberischen Arbeit eines in demokratischer Freiheit gewählten deutschen Parlaments teilnehmen.
Das Saarland darf überzeugt sein, daß sich die Bundesregierung auch im Rahmen der Außenpolitik der besonderen Verpflichtungen bewußt ist, die sie mit der Rückkehr dieses Teils Deutschlands in die Bundesrepublik übernommen . hat. Und das französische Volk und seine Regierung, die diese welthistorische Entscheidung im Geiste wahrer Freundschaft und verständnisvoller Zusammenarbeit mit uns gemeinsam herbeigeführt haben, dürfen gewiß sein, daß die Bundesrepublik alles tun wird, was in ihrer Macht steht, um die engen, freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem französischen Volke zu vertiefen, zu einer engen politischen Zusammenarbeit beizutragen und die kulturellen, wirtschaftlichen und menschlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Völkern auszubauen.
Meine Damen und Herren, Frankreich und Deutschland haben in einer Welt, die unter der Unordnung leidet, in einer Zeit, die von Spannungen erfüllt ist, in einer Atmosphäre, die durch Mißtrauen und Angst vergiftet ist, einen überzeugenden Beweis dafür erbracht, daß es möglich ist, Interessengegensätze auszugleichen und die Zusammenarbeit von Völkern zu verwirklichen, wenn sie
sich nur zu den gemeinsamen Grundsätzen des
Friedens, der Freiheit und des Rechts bekennen.
Hier, im Herzen des europäischen Kontinents, vollzog sich also eine Entwicklung, die die ganze Welt sorgfältig hätte registrieren müssen. Statt dessen blieb dieses Geschehen leider beinahe unbeachtet. Die bedrohlichen Ereignisse in anderen Teilen der Welt überschatteten es.
Im Nahen Osten konnte — nicht zuletzt durch die Intervention der Vereinten Nationen — eine akute Gefahr ausgeräumt werden. Entscheidende Fragen in diesem Raum harren noch ihrer Lösung. Trotzdem scheint es, daß seit dem 8. November, dem Tag also, an dem die Bundesregierung letztmals zu diesem Fragenkomplex Stellung nahm, erfreulicherweise eine merkbare Beruhigung in diesem Raum eingetreten ist und daß darum heute die Gefahr der Auslösung eines weltweiten Konfliktes durch den gewaltsamen Austrag gegensätzlicher Interessen als gebannt angesehen werden kann.
Drei Ereignisse haben dazu in besonderer Weise beigetragen. Einmal war es den Ordnungskräften der Vereinten Nationen möglich, nach dem vollständigen Abzug der britischen und französischen Verbände aus dem Bereich des Sueskanals in diese Zone und auch in die Sinai-Halbinsel einzurücken. Ein Übereinkommen zwischen Ägypten und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen schuf die Voraussetzungen für den Beginn der Räumungsarbeiten im Sueskanal. Und letztlich hat die NahostErklärung des amerikanischen Präsidenten Eisenhower vom 5. Januar 1957 entscheidend zu einer Klärung der politischen Verhältnisse in diesem Bereich der Welt beigetragen.
Der Herr Bundeskanzler hat bereits in der letzten Regierungserklärung die Bereitschaft der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu der Beseitigung der Spannungen im Nahen Osten beizutragen. Die Bundesregierung steht darum auch in einem laufenden Meinungsaustausch mit den verbündeten und befreundeten Nationen, um an der Erreichung dieses Ziels mitzuwirken. Sie hat dieser Bereitschaft äußeren Ausdruck gegeben durch den Beschluß, dem Ersuchen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu entsprechen und für die Kosten der Räumung des Sueskanals dieser Organisation vorschußweise den Betrag von 1 Million Dollar zur Verfügung zu stellen.
Die Bundesregierung möchte auch heute und von dieser Stelle aus ihrer besonderen Genugtuung über die Erklärung Ausdruck geben, die der Präsident der Vereinigten Staaten am 5. Januar dem Kongreß unterbreitet hat. Wir haben heute in der Zeitung gelesen, daß das Parlament in Washington diese Erklärung mit überwältigender Mehrheit gebilligt hat, diese Erklärung, die in der Weltöffentlichkeit als „Eisenhower-Doktrin" bekannt wurde. Die Bundesregierung betrachtet diese Grundsätze als einen mutigen und entschlossenen Beitrag zur Erhaltung des Friedens im Nahen Osten ebenso wie zu einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung der Völker des Nahen Ostens und zu einer Befriedung ihrer gegenseitigen Verhältnisse. In der Tat wäre es für diese Völker und für die gesamte freie Welt eine unsagbare Tragödie, wenn sie das Opfer einer bewaffneten Aggression einer durch den internationalen Kommunismus kontrollierten Nation würden. Lauten Protest gegen diese Doktrin hörte man nur dort, wo man mit Recht befürchtet, daß die Befriedungsaktion der Verwirklichung subversiver machtpolitischer Ziele im Wege steht.
Die Bundesregierung ist darum auch entschlossen, die Politik der Vereinigten Staaten, wie sie in dieser Erklärung ihren Ausdruck fand, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen. Sie erkennt ohne Einschränkung an, daß diese Erklärung getragen war von einem tiefen Verantwortungsgefühl für den kulturell, wirtschaftlich und politisch gleichermaßen bedeutsamen nahöstlichen Raum. Die Verwirklichung der Ziele dieser Erklärung liegt sowohl in unserem eigenen Interesse als auch im Interesse der selbständigen Entwicklung der nahöstlichen Völker, mit denen das deutsche Volk die bestehenden guten freundschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten und auszubauen wünscht.
Demgegenüber hat die Entwicklung im Bereich des Ostblocks uns alle mit tiefer Sorge erfüllt. Das, was sich dort in den letzten Wochen und Monaten ereignet hat, hat auch den Ernst unserer eigenen Lage deutlich werden lassen. Als der Herr Bundeskanzler vor dem Hohen Hause die letzte Regierungserklärung abgab, standen wir alle noch unter dem frischen Eindruck der erschütternden Ereignisse in Ungarn. In den Monaten, die seitdem vergangen sind, ist es der Sowjetunion nur unter Einsatz ihrer ungeheuren militärischen Machtmittel gelungen, die äußere Ruhe in diesem unglücklichen Land wiederherzustellen. Sowjetrussische Truppen, ungarische Staatspolizei, Sondergerichte, Deportationen haben den Freiheitskampf des ungarischen Volkes offenbar vorläufig beendet. Aber wir alle wissen es, daß der Freiheitswille dieses Volkes noch ungebrochen ist, und die Bundesregierung bezeugt dem mutigen ungarischen Volk für diese Haltung ihre uneingeschränkte Achtung und Anerkennung;
sie hofft und wünscht, daß die schweren Opfer nicht vergeblich waren und am Ende dem ungarischen Volke doch das Recht zur freien Selbstbestimmung vermitteln werden.
Aber auch in anderen Teilen des sowjetrussischen Machtbereichs begannen sich freiheitliche Kräfte zu rühren. Die bescheidene Lockerung der Zügel nach dem XX. Parteikongreß hat dazu geführt, daß überall Risse im Sowjetimperium sichtbar wurden. Die schwere innere Krise hat dazu geführt, daß die Regierung der Sowjetunion im Bereich ihres Satellitensystems zu den Methoden zurückkehrte, die noch vor wenigen Monaten unter dem Schlagwort der sogenannten Entstalinisierung verurteilt worden waren. Die These, daß jedes Land seinen eigenen Weg zum Sozialismus beschreiten könne, eine These, die bekanntlich noch im Jahre 1956 die Grundlage für die Versöhnung zwischen Marschall Tito und den sowjetischen Führern bildete, gilt heute nicht mehr. Zwar will man noch gewisse Unterschiede in den Formen und Methoden des sozialistischen Aufbaus anerkennen, die grundlegenden Wege zum Sozialismus müssen aber für alle Länder identisch sein.
Von neuem erhebt die Kommunistische Partei der Sowjetunion den unbedingten und absoluten Führungsanspruch, dem sich alle anderen Länder des Sowjetblocks unterzuordnen haben. Zuletzt war es der rotchinesische Ministerpräsident Tschu En Lai, der den Auftrag übernahm und durchführte, den Stalinismus wieder zu Ehren zu bringen. Die Erklärungen, die dieser Staatsmann in Warschau, in Breslau und in Budapest abgab, sollten die ganze freie Welt mit ernster Sorge erfüllen.
Sie offenbaren eine echte oder erzwungene Solidarität mit der Gewaltpolitik der Sowjetunion, die in jedem Falle geeignet ist, die Gefahr aufzuzeigen, die der freien Welt des Westens auch heute noch vom Ostblock her droht.
Es macht keinen entscheidenden Unterschied, ob man annimmt, daß diese Haltung des chinesischen Regierungschefs dem eigenen gesteigerten Machtbewußtsein entspricht, oder ob man glaubt, daß sie eine gewisse innere Schwäche des Sowjetsystems verrät, das sich eine solche Unterstützung sichern mußte.
Als im vergangenen Herbst die ersten Krisenerscheinungen im sowjetischen Machtbereich sichtbar wurden, gab es Menschen in allen Teilen der Welt, die große Erwartungen an eine Entwicklung knüpften, die sie herbeisehnten. Zuweilen trat die nüchterne Erkenntnis hinter dem Wunschdenken zurück. Man war häufig geneigt, wohlformulierte Erklärungen ernst zu nehmen, die heute längst verklungen sind und keine Gültigkeit mehr haben. Wir müssen uns heute Rechenschaft darüber I geben, daß — leider — von allen diesen Wunschvorstellungen so gut wie nichts übriggeblieben ist.
Wer damals behutsam äußerte, daß es vielleicht die Methode, die Taktik sei, die sich geändert habe, daß aber das Ziel unverrückbar das gleiche bleibe, sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, daß er die Zeichen der Zeit nicht verstehe
und daß er nicht die nötige Phantasie aufbringe, um geänderten politischen Verhältnissen zu begegnen.
Zuweilen galt es schon als Zeichen unverantwortlicher Aggressivität, wenn man es wagte, die guten
Absichten der Sowjetunion in Zweifel zu ziehen.
Nur mit tiefem Bedauern stellt die Bundesregierung fest, daß die Hoffnungen und Wünsche der Gutwilligen und allzu Gutgläubigen nicht in Erfüllung gegangen sind. Schien es vorübergehend so, daß auch im Bereich des Sowjetblocks eine Entwicklung begonnen habe, die zu einer größeren Freiheit der unterdrückten Menschen führen werde, so müssen wir heute mit Trauer feststellen, daß die Sowjetunion das Rad dieser Entwicklung aufgehalten, ja zurückgedreht hat. Die Konferenz, zu der die folgsamsten Satelliten der Sowjetunion zu Beginn dieses Monats nach Budapest einberufen wurden, bot wahrhaftig ein makabres Schauspiel. Sollte vielleicht der Anblick dieser zerstörten Stadt ihnen klarmachen, wie schrecklich die Konsequenzen einer Auflehnung gegen den Willen der Machthaber im Kreml sind? Angesichts dieser Trümmer und inmitten des niedergeschlagenen ungarischen Volkes mußten sie feierliche Erklärungen abgeben, daß sie das Vorgehen der Sowjetunion in Ungarn gutheißen und sich zu der Einheit des sozialistischen Lagers unter sowjetrussischer Führung bekennen.
Es klingt wie eine Herausforderung, wenn man dann liest, wie von den Verfechtern der Einheit des Sowjetblocks immer wieder ein Argument ins Feld geführt wurde, das auch uns unmittelbar berührt: die Gefahr, die diesen Völkern angeblich von der westlichen Welt, von Amerika und von der Bundesrepublik Deutschland drohe. So wurde insbesondere dem polnischen Volk eingeredet, daß es durch die deutsche Aufrüstung, durch den deutschen Imperialismus und durch den deutschen Revisionismus bedroht sei. Alle die Stimmen, die einer Verständigung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volke das Wort redeten, wurden überhört.
Innerhalb und außerhalb Deutschlands wurde dabei auch die Frage der deutschen Ostgebiete in die öffentliche Diskussion einbezogen. Was dazu gesagt wurde, war nicht immer glücklich und beruhte nicht immer auf ausreichender Sachkunde.
Es gilt das auch, meine Damen und Herren, von einer Erklärung des Herrn Bundesratspräsidenten, die allerdings heute in einer Weise richtiggestellt ist, die wohl kaum mehr eine falsche Interpretation zuläßt.
— Ich glaube, wir haben nachher eine Aussprache, meine Damen und Herren.
Die Bundesregierung hat wiederholt in feierlichen Erklärungen ihren Standpunkt zu diesen Fragen dargelegt. Mit ihren Bündnispartnern ist sie darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu einer frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland aufgeschoben werden muß. Nur eine gesamtdeutsche Regierung und eine vom ganzen Volk gewählte Volksvertretung sind legitimiert, diese Entscheidung über die künftigen deutschen Ostgrenzen zu treffen.
Die Bundesregierung hält daran fest, daß die Verhandlungen hierüber keinen Zweifel daran lassen dürfen, daß für den völkerrechtlichen Gebietsstand Deutschlands die Grenzen des Deutschen Reiches am 31. Dezember 1937 maßgeblich sind und daß das deutsche Volk die Oder-Neiße-Linie nicht als gegenwärtige oder künftige Grenze Deutschlands akzeptieren kann.
Sie hält aber auch daran fest, meine Damen und Herren, daß eine Lösung der Grenzfrage nur auf dem Verhandlungswege denkbar ist und ohne jede Androhung oder gar Anwendung von Gewalt erfolgen muß. Die Bundesregierung hält es für nötig, diese Erklärung auch heute zu wiederholen. Sie weiß sich der Zustimmung des Deutschen Bundestages und des deutschen Volkes sicher, also auch der Deutschen, deren Heimat östlich der Oder-Neiße-Linie liegt und die sich in der Charta der Vertriebenen mit gleicher Eindringlichkeit zu einer
friedlichen Regelung der Grenzfrage und zum Gewaltverzicht bekannt haben.
Aber die Entwicklung im Osten, die neue, besorgniserregende Perspektiven erkennen läßt, veranlaßt die Bundesregierung, ihre Politik gegenüber diesen 'Bereichen immer wieder von neuem sorgsam zu überprüfen. Nach Auffassung der Bundesregierung würde es dem europäischen Frieden und dem gemeinsamen Interesse der Völker in Ost- und Mitteleuropa dienen, wenn die Grundsätze anerkannt würden, die ich namens der Bundesregierung am 13. Dezember 1956 vor dem Ministerrat der NATO entwickelt habe und die dort allgemeine Zustimmung gefunden haben. Ich möchte diese Grundsätze heute auch hier und vor Ihnen wiederholen.
1. Alle friedliebenden Völker sollten das Recht der osteuropäischen Völker auf Selbstbestimmung und Bestimmung ihrer eigenen Regierung in voller Freiheit unterstützen.
2. Die politische Ordnung in den osteuropäischen Staaten soll auf den Grundsätzen der nationalen Unabhängigkeit, der Souveränität und der Ausschaltung jeglicher imperialistischen Unterdrückung kleiner Lander begründet sein.
3. Alle osteuropäischen Staaten sollen das Recht haben, in voller Freiheit über die soziale Ordnung in ihrem Lande zu entscheiden.
4. Die innere Entwicklung in den osteuropäischen Ländern soll nicht durch militärische Gewalt, durch Drohungen oder durch politischen und wirtschaftlichen Druck beeinflußt werden.
Und 5. Es sollen keine Verstöße gegen die Menschenrechte der Bevölkerungen der osteuropäischen Länder geduldet werden.
Meine Damen und Herren! In ihrem Kommuniqué über die Ergebnisse der Dezembertagung haben die Mitglieder des Ministerrates der NATO ihrer Zustimmung zu diesen Grundsätzen Ausdruck verliehen mit den Worten:
Die Völker Osteuropas müssen das Recht haben, ihre Regierungen frei und unabhängig von äußerem Druck und von Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung zu wählen und nach eigenem freiem Willen über die politische und soziale Ordnung zu entscheiden, unter der sie leben wollen.
Das Verhältnis der Bundesrepublik zur Sowjetunion konnte von diesen Ereignissen, wie schon früher gesagt wurde, nicht unberührt bleiben. Sympathie und Mitgefühl verbinden uns wie alle Nationen der freien Welt mit den Völkern, die um ihre Freiheit kämpfen. Niemand wird ernstlich von dem deutschen Volk Verständnis oder gar Sympathie für diejenigen erwarten, die den Freiheitskampf blutig unterdrücken.
Hier handelt es sich nicht um gefühlsbedingte Erwägungen, die man aus dem Bereich des politischen Denkens und Handelns ausschalten könnte. Gerade für das deutsche Volk gibt es keinen mittleren Weg und kein Bekenntnis zur Wertneutralität. Wir wissen zu unterscheiden zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Recht und Unrecht, und wir müssen dieses Unterscheidungsvermögen auch behalten, wenn wir den Kampf um die Wiedervereinigung des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit tatsächlich bestehen wollen.
Es geht um absolute Wertbegriffe, die keine Ausdeutung vertragen. Die Bundesregierung verfolgt darum auch mit Sorge jede Äußerung, die ein Abweichen von dieser eindeutigen Haltung erkennen oder sich dahin ausdeuten läßt.
Wenn die Bundesregierung es als das Ziel bezeichnet hat, das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiederzuvereinigen, dem ganzen deutschen Volk den Segen einer rechtsstaatlichen Ordnung zu vermitteln und eine wirksame Sicherheitsgarantie dafür zu verlangen, daß Frieden, Freiheit und Recht im wiedervereinigten Deutschland nicht gefährdet sind, dann weiß sie wohl, daß sie angesichts der weltpolitischen Lage damit viel verlangt, aber nicht zuviel.
Es wird viel über den Preis diskutiert, den wir für die Wiedervereinigung entrichten sollen. Diese Formulierung ist nicht glücklich. Das Wort „Preis" wird hier in einem Zusammenhang gebracht, in dem es nicht auftauchen sollte.
Aber wie man auch die Konzessionen nennt, die Deutschland wohl machen muß, um das Ziel der Wiedervereinigung zu erreichen: sie dürfen nicht in einer Schmälerung oder Gefährdung der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit beruhen.
Wer es einmal zuläßt, daß man die Freiheit einschränkt, leugnet den absoluten Wert und degradiert den Freiheitsbegriff zum Gegenstand politischen Handels.
Wer glaubt, daß eine rechtsstaatliche Ordnung noch bestehen könne, wenn man Unrechtstatbestände legalisiert, leugnet die unverbrüchliche Gültigkeit des Rechts für alle.
Wer die Auffassung vertritt, daß die Wiedervereinigung auch um den Preis der Sicherheit des deutschen Volkes eingehandelt werden müsse, muß sich klar sein, daß er glaubt, sich auf einen Damm verlassen zu können, der schon gebrochen ist.
Gerade das Schicksal der Völker im Satellitenbereich zeigt, daß Konzessionen in diesen Gebieten ein Volk unweigerlich in den Abgrund der Abhängigkeit, der Rechtlosigkeit und der Friedlosigkeit führen.
Aus dieser Überzeugung ergeben sich aber auch die Konsequenzen für die Gestaltung unserer Außenpolitik. Es ist selbstverständlich — die Bundesregierung hat es oft genug betont —, daß sie immer bereit war und immer bereit sein wird, ihre politischen Entscheidungen den realen politischen Gegebenheiten anzupassen. Politik ist etwas Lebendiges. Sie kann in ihrer Ausdrucksform nicht starr sein; aber sie muß konsequent sein. Unentschlossen-
heit und Wankelmut sind nicht der Ausdruck bessere, sondern mangelnder Erkenntnis.
Sie sind kein Zeichen größerer, sondern ein Zeichen fehlender Verantwortungsbereitschaft.
Die Bundesregierung hält es darum auch für notwendig, gewisse mißverständliche Interpretationen und Kommentare richtigzustellen und eindeutig zu erklären, daß ihre Außenpolitik sich nicht gewandelt hat.
Die weltpolitische Lage kann sich zu jedem Zeitpunkt entscheidend ändern.
— Ist Ihnen das unbekannt?
Wir haben das in der Vergangenheit häufig erlebt, und es ist selbstverständlich, daß auch die Zukunft uns vor neue Aufgaben und vor neue Entscheidungen stellen wird. Wie in der Vergangenheit wird die Bundesregierung auch in Zukunft niemals zögern, dieser veränderten Lage Rechnung zu tragen. Sie wird aber dabei — und das ist eines der unabdingbaren Kriterien unserer Außenpolitik von gestern und von morgen — ihre außenpolitischen Entscheidungen immer mit ihren Verbündeten abstimmen.
Das ist nicht nur eine papierene Verpflichtung, die sich aus den Vertragssystemen ergibt, in die die Bundesrepublik aus freiem Entschluß eingetreten ist; es ist vielmehr die Konsequenz aus einer Erkenntnis, von der ich eingangs sprach, daß nämlich die Aufgaben und Probleme eines Volkes heute nicht mehr isoliert betrachtet und gelöst werden können
und daß gerade das deutsche Volk auf die vertrauensvolle und freundschaftliche Zusammenarbeit mit der freien Welt und auf die politische und moralische Unterstützung dieser Staaten angewiesen ist. Das ist keineswegs ein Eingeständnis eigenen Unvermögens und noch weniger der Ausdruck der Unentschlossenheit oder der Versuch, eigener Verantwortung mit dem Hinweis auf die Mitverantwortung anderer auszuweichen.
Manche Vorstellungen, die sich einmal an den Begriff der „Großmacht" geknüpft haben, besitzen heute keine Gültigkeit mehr. Keine europäische Nation, mag sie kleiner oder größer sein, ist heute noch in der Lage, ihre Zukunft allein und auf sich selbst gestellt zu bestimmen, ihre Sicherheit allein und aus eigener Kraft zu gewährleisten.
Die Bundesregierung kennt die kritischen Stimmen, die sich gegen eine Politik der Bündnisbindungen wenden. Es ist eine beliebte Formulierung geworden, zu erklären, daß die unerträgliche Teilung der Welt in sogenannte Machtblöcke nicht fortdauern dürfe. Und es gibt Stimmen in diesem Chor, die sagen, daß Deutschland den mutigen Entschluß fassen müsse, den Anfang zu machen, sich aus dieser Verstrickung in Machtblöcke und zwischen Machtblöcken zu lösen und eine eigenständige Politik zu treiben. Aber die Bundesregierung glaubt, mit aller Klarheit aussprechen zu müssen, daß diese Vorstellungen abwegig sind, daß sie einer irrealen Betrachtungsweise entstammen und daß ihre Befolgung tödliche Gefahren für das ganze deutsche Volk mit sich bringen würde.
Es ist eine Simplifizierung der weltpolitschen Lage, wenn man von den zwei hochgerüsteten Machtblöcken spricht, die sich gegenüberstehen und deren Existenz eine friedliche Koexistenz der Völker gefährde oder unmöglich mache. Die Wirklichkeit sieht anders ,aus. Die Bundesregierung weiß sich in voller Übereinstimmung mit der Feststellung, die der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner State of the Union Message am 10. Januar getroffen hat. Er hat darin ausgeführt, die Weltlage werde gekennzeichnet durch die Existenz einer hochgerüsteten imperialistischen Diktatur, die eine ständige Bedrohung der Sicherheit und des Friedens der freien Welt darstelle.
Mit tiefer Genugtuung hat die Bundesregierung auch die Feststellung zur Kenntnis genommen, daß für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten der Wohlstand und die Sicherheit Westeuropas sowie derjenigen Nationen entscheidend sei, die sich als zuverlässige Verteidiger der Freiheit erwiesen haben.
In der Tat ist es nicht so, daß sich zwei hochgerüstete Machtblöcke gegenüberstehen, deren Antagonismus den Weltfrieden bedrohe. Es ist schlechthin unrichtig, eine solche Feststellung zu treffen; denn man vergleicht damit in Wahrheit zwei inkommensurable Größen.
Richtig ist vielmehr, daß nach dem zweiten Weltkrieg die Sowjetunion eine Politik der Aggression, des Imperialismus und des Kolonialismus getrieben hat, die mit der Politik anderer, auch großer und mächtiger Lander überhaupt keinen Vergleich gestattet.
Das Entstehen dieses zwar von inneren Spannungen bedrohten, aber in seinem ungehemmten Streben nach Macht und Herrschaft unerschütterten Machtblocks hat überhaupt erst dazu geführt, daß die Völker der freien Welt sich zur Erhaltung und Sicherheit der ,eigenen Freiheit zusammenschlossen. Und man kann diese in ihrer inneren Form und in ihrer äußeren Zielsetzung so völlig unvergleichbaren Erscheinungen nicht einfach gegenüberstellen.
Der innere Widerspruch einer solchen gefährlich vereinfachenden Darstellung wird am klarsten sichtbar, wenn man etwa Konstruktion und Aufgaben der Westeuropäischen Union mit denen des Warschauer Paktes vergleicht.
In der Westeuropäischen Union haben sich freie Völker aus eigenem Entschluß zusammengefunden
mit dem Ziel, durch eine durch gemeinsame Vereinbarungen begrenzte und kontrollierte Rüstung das Mindestmögliche zu tun, um einer gemeinsamen Gefahr zu begegnen. Die innere Freiheit in diesen Ländern und die parlamentarische Kontrolle, die durch frei gewählte Parlamente ausgeübt wird, schließen den Mißbrauch dieses Instruments schlechthin aus. Oder glaubt wirklich jemand in der Welt, daß England, Frankreich, Holland, Belgien, Luxemburg, Italien und nicht zuletzt die Bundesrepublik die Absicht hätten, ihre Nachbarvölker anzugreifen, sie ihrer Freiheit zu berauben, sie zu unterjochen und sie auf den primitivsten Zustand eines längst verklungenen Kolonialismus herabzuwürdigen?
Oder zweifelt ernstlich noch jemand in der Welt, der die Ereignisse der letzten Jahre mit offenen Augen verfolgt hat, an der Zielsetzung des sogenannten Warschauer Paktes, einer Organisation, in der unfreie Völker unter die Herrschaft einer hochgerüsteten Diktatur gezwungen wurden, einer Diktatur, die bis in die jüngste Zeit hinein niemals einen Zweifel daran gelassen hat, daß die Unterwerfung der freien Völker und die Beherrschung der Welt im Weltkommunismus ihr letztes, unverhülltes Ziel ist?
Und wenntatsächlich jemand daran gezweifelt haben sollte, dann müßten die Ereignisse der letzten Monate, von denen ich schon sprach, auch einem Blinden die Augen geöffnet haben.
Die schauerliche Tragödie, die sich vor den Augen der Welt in Ungarn abgespielt hat und bis zur Stunde noch andauert, zeigt in letzter Eindringlichkeit den Unterschied zwischen den beiden Machtblöcken, die so gerne in einem Atemzug genannt und beschuldigt werden.
Ich tue es ohne jedes Gefühl der Genugtuung, wenn ich namens der Bundesregierung feststelle, daß die Ereignisse des letzten halben Jahres die gemeinsame Politik der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten in erschreckender Weise bestätigt haben.
Die Bundesregierung wird darum auch nicht in ihren Bemühungen nachlassen, den möglichen Gefahren mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu begegnen und zu diesem Zweck das innere Gefüge der westlichen Staatengemeinschaft zu stärken. Wir haben es erlebt, und wir sollten es nicht leugnen, daß auch das Bündnissystem des Westens gewisse Sprünge gezeigt hat.
Wir haben darüber nachzudenken, warum das möglich war, aber mehr noch, dafür zu sorgen, daß diese Gemeinschaft der freien Welt wieder zusammenwächst und aus der Krise gestärkt hervorgeht.
Das war auch die Aufgabe der Bundesregierung bei der letzten Sitzung des Ministerrates der Nordatlantischen Gemeinschaft.
Manche Kritiker, die nicht in der Regierungsverantwortung stehen, haben zuweilen mit der perversen Genugtuung des Selbstmörders ausgesprochen, daß die NATO durch die Ereignisse im Nahen Osten auseinandergefallen sei,
daß die 'westliche Gemeinschaft gespalten sei
— ja, das haben Sie gesagt, meine Damen und Herren —,
daß das Verteidigungsbündnis weitgehend aufgelöst oder mindestens in seinem Wesensgehalt ernstlich bedroht sei. Ich glaube, mit Genugtuung feststellen zu können, daß alle diese düsteren Prophezeiungen, die zuweilen auch unausgesprochene Wünsche enthielten, nicht in Erfüllung gegangen sind.
Im Gegenteil, diese Krise, von der ich sprach, hat die Erkenntnis der Notwendigkeit einer stärkeren politischen Koordinierung gerade auch im Rahmen der Nordatlantischen Gemeinschaft nur gestärkt. In einer Gemeinschaft freier und im guten Sinne des Wortes souveräner Völker kann es stets Differenzen geben. Das unterscheidet eben eine solche Gemeinschaft von Systemen, die nur der Gewalt und der Unterjochung Entstehen und Fortbestehen verdanken. Aber ich glaube, daß die Meinungsverschiedenheiten im Rahmen der Nordatlantischen Gemeinschaft ein Zeichen der inneren Freiheit und Unabhängigkeit sind, die wir uns für unsere Völker allerdings wünschen,
und daß es besser um uns bestellt ist, wenn wir diesem sogenannten Machtblock angehören als dem östlichen. Die Methode, in der Meinungsverschiedenheiten im östlichen Bereich gelöst werden, haben wir in Ungarn erlebt. Es wird wohl kaum einen Menschen geben, der so wahnwitzig wäre, angesichts dieser Entwicklung noch weiterhin diese beiden Machtblöcke in einem Atemzug zu nennen und ihre Existenz für den Unfrieden und die Unordnung in der Welt gleichermaßen verantwortlich zu machen.
Wenn sich solche Differenzen in einer auf Freiheit begründeten Gemeinschaft ergeben, dann besteht immer die Möglichkeit, im offenen und vertrauensvollen Meinungsaustausch mit den anderen Mitgliedstaaten zu einer Klärung zu gelangen. Das ist im Dezember im Ministerrat der Nordatlantisehen Gemeinschaft geschehen. Alle Mitglieder der Nordatlantischen Gemeinschaft haben zur Beseitigung der Spannungen und Mißverständnisse beigetragen, und alle waren und sind bereit, aus den Erfahrungen zu lernen. Die Tatsache, daß der Bericht der drei beauftragten Außenminister — Italiens, Norwegens und Kanadas — einstimmig angenommen wurde, ist der beste Beweis für meine Feststellung. Dieser Bericht, der übrigens weitgehend den deutschen Vorstellungen und Vorschlägen entsprach, soll einer engeren Zusammenarbeit dienen und soll diese enge Zusammenarbeit im Wege der laufenden Konsultation sicherstellen.
Ich könnte vieles anführen, um diese Feststellung zu bekräftigen. Ich begnüge mich, auf die Ausführungen zu verweisen, die gerade vor wenigen
Tagen der norwegische Außenminister Lange — Ihnen kein Unbekannter — in der Debatte zur Thronrede gemacht hat, und auf den Bericht, den der Präsident der auswärtigen Kornmission im norwegischen Storting, Fin Moe — auch vielen in diesem Hause bekannt —, im Storting erstattet hat. Ich möchte schon in Vorwegnahme einer späteren Feststellung unterstreichen, was er gesagt hat. Er bezeichnete es als besonders bedeutungsvoll, daß der Westen jetzt wieder eng zusammengeschweißt sei, und bezeichnete es als eine überaus gefährliche Illusion, zu glauben, daß eine eigene europäische Sicherheitsordnung ohne amerikanische Mitwirkung und außerhalb der Nordatlantischen Gemeinschaft überhaupt möglich sei.
— Der Sprecher gehört nicht der Regierungskoalition in Bonn an.
— Ja, wenn Sie es nicht hören wollen, meine Damen und Herren, — ich kann nichts dazu, daß er Sozialist ist.
Ich erinnere an die State of the Union Message mit der unzweideutigen Erklärung des Präsidenten, eine enge Zusammenarbeit mit den Alliierten sei unerläßlich, und zwar im System der Regionalpakte, die alle Zerreißproben überstanden hätten. In gleicher Weise ist die Bundesregierung bestrebt, die Westeuropäische Union weiterhin zu stärken und auszubauen. Diesem Ziel wird auch eine Tagung des Ministerrats dieser Union dienen, die 'auf Einladung des englischen Außenministers voraussichtlich noch im nächsten Monat in London stattfinden wird. Nach der Vorstellung der Bundesregierung gilt es — für die Westeuropäische Union ebenso wie für die Nordatlantische Gemeinschaft —, aus diesen Organisationen lebendige politische Instrumente zu machen, die nicht nur die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen unterstützen, sondern einer stärkeren Koordinierung aller politischen Entscheidungen dienen sollen.
Das gilt nicht minder für die Bemühungen der Bundesregierung um die Verwirklichung der europäischen Integration.
Meine Damen und Herren, die Sozialdemokratische Partei hat vor wenigen Tagen unter der Überschrift „Sicherheit für alle" die zentrale Wahlparole bekanntgegeben.
Es wird Sie vielleichtinteressieren, daß Sie die Parole einer Erklärung des Bundeskanzlers vom 4. September 1953 entnommen haben.
— Meine Damen und Herren, ich kann diese Erklärung verteilen lassen. —
Diese Erklärung vom 4. September 1953 trägt die Überschrift: „Sicherheit und Frieden für alle."
Aber in dieser Wahlparole ist die überraschende Feststellung zu finden, daß die Sozialdemokratische Partei jeden Versuch bekämpfen werde, der ein Europa mit antiamerikanischen Vorzeichen organisieren wolle.
Ich bin sehr glücklich, feststellen zu können, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung mit dieser Forderung der Sozialdemokratischen Partei ohne jede Einschränkung übereinstimmt.
Das, was der amerikanische Präsident Eisenhower über Europa gesagt hat — ich habe es oben schon zitiert —, stimmt voll überein mit der Auffassung der Bundesregierung. Die Bundesregierung geht noch weiter als Sie, meine Damen und Herren, und glaubt,ihre Übereinstimmung mit der amerikanischen Politik auch in der Zusammenarbeit mit der Nordatlantischen Gemeinschaft klar zum Ausdruck gebracht zu haben.
Ebenso weiß sich die Bundesregierung der politischen und moralischen Unterstützung der Vereinigten Staaten sicher bei ihren Bemühungen um die Schaffung des Gemeinsamen Marktes und der europäischen Atomorganisation. Die Verhandlungen über diese so entscheidend wichtigen Probleme sind noch im Gange. Vor wenigen Tagen nahm ich an der Außenministerkonferenz der sechs Länder der Montangemeinschaft in Brüssel teil. Am kommenden Montag werden die Verhandlungen dort weitergehen. Sie haben gute Fortschritte gemacht, und die erzielten Erfolgeberechtigen in der Tat zu der Hoffnung, daß die beiden Verträge bald unterzeichnet und den Parlamenten der Unterzeichnerstaaten zugeleitet werden.
Ich glaube, ich kann mich hier darauf beschränken, das Ziel und den Stand der Verhandlungen mit wenigen Worten zu umreißen.
— Sind das keine Tatsachen?
Nach der Überzeugung der Bundesregierung hängt die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung der westeuropäischen Völker entscheidend davon ab, ob es gelingt, die trennenden Barrieren abzubauen und den Gemeinsamen Markt zu errichten. Es ist nicht mehr und nichts anderes als die konsequente Weiterentwicklung der am 18. April 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Kernstück des Vertrags ist die Schaffung einer Zollunion unter den Mitgliedstaaten in drei Etappen mit einem gemeinsamen Außentarif in der Übergangszeit. Es ist klar, daß eine solche umwälzende Neuordnung auch eine gemeinsame Handelspolitik der Mitgliedstaaten erfordert sowie Vorschriften und Regeln für den Wettbewerb, die Beihilfen, die durch die strukturellen Änderungen notwendig werden, und den Ausgleich der Zahlungsbilanz.
Es ist heute noch nicht der Anlaß, .auf Einzelheiten dieses Plans näher einzugehen. Ich kann mich
darauf beschränken, einige wenige Fragen anzudeuten. Ich nenne dabei besonders das Problem der Einbeziehung der überseeischen Gebiete. Um Mißverständnissen zu begegnen, beschränke ich mich auf die Feststellung, daß alle Vertragspartner davon überzeugt sind, daß der Gemeinsame Markt auch auf die überseeischen Gebiete ausgedehnt werden sollte, die einen Teil des Wirtschaftsraums der Teilnehmerstaaten bilden, daß aber eine besondere Form gefunden werden muß, in der die Assoziierung mit diesen Gebieten vollzogen wird. Die Aufgabe der Gemeinschaft wird es sein, die Entwicklung der Gebiete in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zu fördern, wobei das Interesse der Gemeinschaft durchaus identisch sein wird mit den Interessen der Bevölkerung dieser Gebiete. Die Gemeinschaft wird die Aufgabe haben, eine besondere Form zu finden. Als Beispiel kann ich den Marshallplan oder den Kolomboplan nennen.
Parallel mit den Bemühungen um die Gründung des Gemeinsamen Marktes laufen die Verhandlungen über die Angliederung einer Freihandelszone. Eine Reihe von europäischen Staaten haben ihre Bereitschaft erklärt, sich in dieser Form dem Gemeinsamen Markt anzuschließen; ich verweise auf die Äußerungen der britischen Regierung und des britischen Parlaments. Die Bundesregierung zweifelt nicht, daß sich weitere kontinentaleuropäische Staaten in dieser Weise dem Gemeinsamen Markt anschließen werden. Diese Entwicklung wird eine verheißungsvolle Grundlage schaffen für einen Zusammenschluß Europas, der nach dem Willen der Vertragschließenden durchaus nicht auf die sechs Staaten der Montanunion beschränkt sein soll.
Das gleiche gilt für die geplante europäische Atomgemeinschaft. Der leitende Gedanke ist der, daß angesichts der fortgeschrittenen Entwicklung auf dem Gebiete der Atomenergie in anderen Ländern die unbedingte Notwendigkeit besteht, im europäischen Bereich gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Die Grundelemente der europäischen Atomgemeinschaft liegen in dem gemeinsamen Bemühen, die wissenschaftlichen Erfahrungen auszutauschen, die Forschung zu koordinieren und Forschungsaufgaben, die die Leistungsfähigkeit des einzelnen Staates überschreiten, gemeinsam durchzuführen. In welcher Weise dies geschehen soll, bleibt der Entscheidung des Ministerrats und der Kommission überlassen. Der Vertrag wird solche Entscheidungen nicht präjudizieren; er dient dem Zweck, eine sinnvolle Entwicklung zu ermöglichen, von der ich ausdrücklich betonen möchte, weil darüber manches Wort in der Öffentlichkeit erschienen ist, das nicht von Sachkenntnis zeugt, daß die Initiative des einzelnen nicht ausgeschlossen oder behindert, sondern befruchtet und gefördert werden soll.
Ich beschränke mich auf diese kurzen Ausführungen, um darzulegen, daß die Bundesregierung entschlossen ist, diese bestehenden Verträge nicht nur zu erfüllen, sondern auf dem begonnenen Wege fortzuschreiten. Sie ist überzeugt von der Notwendigkeit, die engen Beziehungen mit der freien Welt weiter auszubauen, und sie wird dazu jeden Beitrag leisten. Sie ist frei von dogmatischen Vorstellungen und wird jeden Weg prüfen, um gemeinsam mit den anderen Partnern jeden Schritt zu unternehmen, der diesem Ziele dient.
Jeder Weg, der zu einer engen Zusammenarbeit im Bereich der Außenpolitik, der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik und der geistigen und kulturellen Zusammenarbeit führt, wird gegangen werden. Ein Mindestmaß von Perfektionismus und ein Höchstmaß an Bereitschaft zur praktischen Verwirklichung dieses Zieles dienen nach der Überzeugung der Bundesrepublik am besten der Verwirklichung dieser Pläne.
Mit aller Klarheit möchte ich betonen, daß nach der Überzeugung der Bundesregierung diese Politik, die ich in ihren Grundzügen skizziert habe, einer erfolgreichen Bemühung um die Wiedervereinigung nicht im Wege steht, sondern sie fördert. Zuletzt hat die Bundesregierung ihre Vorstellungen über diese Frage, die mit Recht das ganze deutsche Volk und darüber hinaus die ganze freie Welt beschäftigt, in ihrem Memorandum vom 2. September 1956 an die Regierung der Sowjetunion dargelegt. Die Bundesregierung hat es nicht nötig, ihren Standpunkt in dieser Frage mit ihren Verbündeten kontrovers zu diskutieren. Seit Jahren bestehen über Weg und Ziel in dieser Frage keine Meinungsverschiedenheiten. Die Vorschläge der Außenminister auf der zweiten Genfer Konferenz wurden zusammen mit der Bundesregierung ausgearbeitet. Sie bilden auch heute noch die Grundlage der gemeinsamen Politik.
Die Bundesregierung bedauert es, daß die öffentliche Diskussion über diese Lebensfrage des deutschen Volkes nicht immer mit der Sachlichkeit geführt wurde, die sie erfordert. Es handelt sich nicht um eine Frage, die zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen gemacht werden sollte.
Das Anliegen berührt jeden Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenzen, jeden Deutschen, der sich zu den programmatischen Zielen der einen oder anderen deutschen Partei bekennt.
Eine Diskussion darüber, wem dieses Anliegen mehr am Herzen liegt, sollte von uns allen als unwürdig abgelehnt werden.
Vor wenigen Tagen hat ein deutscher Politiker erklärt, der Bundeskanzler müsse in der Frage der Wiedervereinigung „buchstäblich zum Jagen getragen werden".
Derselbe Politiker zitierte eine Äußerung von mir: die Wiedervereinigung sei eine vordringliche Aufgabe, aber nicht die vordringlichste,
mit dem Kommentar: „Das war die Stimme seines Herrn."
Es ist nicht meine Aufgabe und nicht meine Absicht
als Sprecher der Bundesregierung, zu polemisieren.
Aber es ist mein Recht als deutscher Bürger, als
Mitglied des Kabinetts und als Abgeordneter,
solche Äußerungen als das zu bezeichnen, was sie sind: als bewußte Verleumdungen.
Man mag mit der Bundesregierung diskutieren. Es ist das gute Recht der politischen Parteien und des Parlaments, Kritik zu üben. Aber es ist nicht das Recht irgendeines Politikers, die anständige Gesinnunganderer in Zweifel zu ziehen
und Äußerungen zu zitieren, — —
— Meine Damen und Herren, ich verstehe Sie nicht recht; vorhin haben Sie geklatscht als Zustimmung für diese Verleumdung, und jetzt klatschen Sie, wenn ich sie verurteile.
Ich wiederhole: es ist nicht das Recht irgendeines Politikers, die anständige Gesinnung anderer in Zweifel zu ziehen und Äußerungen zu zitieren, indem man sie aus dem Zusammenhang reißt
und ihnen eine Interpretation gibt, von der man selbst weiß, daß sie falsch ist.
Mit diesen unaufrichtigen Methoden dient man nicht der Wiedervereinigung, sondern man erschwert sie.
Solche Äußerungen sind kein Beitrag zu einer konstruktiven und sinnvollen Politik, sondern sie offenbaren — ich bedaure, es sagen zu müssen — einen beklagenswerten Tiefstand der geistigen Auseinandersetzung.
Die Bundesregierung nimmt für sich in Anspruch, für die Wiedervereinigung mehr getan und mehr erreicht zu haben als mancher — —
— Ich weiß gar nicht, warum Sie so nervös werden, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen vor, die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung nachher vorzunehmen.
Die Bundesregierung — ich wiederhole es, meine Damen und Herren — nimmt für sich in Anspruch, für die Wiedervereinigung mehr getan und mehr erreicht zu haben als mancher, der in den letzten Jahren abseits stand oder abseits stehen mußte und nun billige Wahlparolen sucht.
Mit Gemeinplätzen wäre eines nicht erreicht worden,
was die Bundesregierung heute erneut feststellen kann, ohne daß ein Widerspruch möglich wäre: Die gesamte freie Welt hat die Gefahr erkannt, die dem Weltfrieden droht, solange die Spaltung Deutschlands fortdauert. Die gesamte freie Welt respektiert die gesamtdeutsche Politik der Bundesregierung. Überzeugender Ausdruck dieser Feststellung ist die Tatsache, daß alle freien Nationen der Welt in der Bundesregierung den einzigen legitimierten Sprecher des deutschen Volkes sehen und die Anerkennung der sogenannten DDR abgelehnt haben.
Nur die Staaten des Sowjetblocks haben sich die These der Sowjetunion zu eigen gemacht, daß die Spaltung Deutschlands eine Realität sei, der man Rechnung tragen müsse.
Die Bundesregierung hat niemals eine Diskussion über die Wege gescheut, auf denen das Ziel der Wiedervereinigung erreicht werden kann.
In zahllosen Debatten hat sie ihren Standpunkt dargelegt und begründet. Sie tut es auch heute von neuem. Aber sie läßt auch keinen Zweifel daran — und ich verweise hier auf das, was ich zu Eingang der Regierungserklärung schon gesagt habe —, daß es nach ihrer Überzeugung Forderungen gibt, die unabdingbar sind. Wir wollen die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Über die Interpretation des Wortes Freiheit ist die Bundesregierung nicht bereit zu diskutieren.
Ebenso verlangt die Bundesregierung für das wiedervereinigte Deutschland eine wirksame und unverbrüchliche Garantie seiner Sicherheit. Das meinte auch die Äußerung, von der ich vorhin sprach und zu der ich heute noch stehe: Das oberste Ziel deutscher Politik muß die Wiedervereinigung sein; aber wir sind nicht bereit, dafür einen Preis zu zahlen, der auf eine Beschränkung der Freiheit und eine Gefährdung der Sicherheit hinauslaufen würde.
Wer dazu bereit wäre — und ich glaube nicht, daß es jemand in diesem Saale ist —, müßte sich sagen lassen, daß er die Wiedervereinigung mit der Freiheit bezahlen wolle. Das wäre ein Verbrechen am ganzen deutschen Volk, an denen, die heute die Segnungen der Freiheit genießen, und nicht minder an denen, die heute noch auf die Freiheit warten.
Meine Damen und Herren, ich sagte, daß sich die freie Welt diese Forderung zu eigen gemacht hat, und ich darf trotz des Widerspruchs noch einmal feststellen, daß das wohl der überzeugendste Erfolg der Außenpolitik der vergangenen Jahre gewesen ist.
Ich könnte unzählige Erklärungen zitieren, die diese Feststellung unterstreichen. Ich beschränke mich darauf, mit aufrichtiger Dankbarkeit auf die Erklärung des amerikanischen Präsidenten vom 22. Januar zu verweisen, in der es heißt:
Im Herzen Europas liegt Deutschland, das in tragischer Weise geteilt ist, und so ist der gesamte Kontinent, j a sogar die gesamte Welt geteilt. Die Kraft, die diese Teilung bewirkt, ist der internationale Kommunismus und die Macht, über die er gebietet.
Meine Damen und Herren, auch hier glaube ich feststellen zu können, daß keine Meinungsverschiedenheiten zwischen der amerikanischen und der deutschen Politik bestehen.
Diese Feststellung bedarf keines Kommentars. Daß sie von dem neu gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten in dieser unmißverständlichen Klarheit ausgesprochen wurde, erfüllt uns mit tiefer Befriedigung, macht aber auch klar, daß sie uns verpflichtet, nämlich dazu verpflichtet, mit der letzten Kraft und Entschlossenheit an der Erhaltung der Freiheit dort teilzunehmen, wo sie besteht, um sie denen zu vermitteln, die sie heute entbehren. Das mögen auch die Kritiker hören, die an diesem Erfolg deutscher Politik nicht mitgewirkt haben, die aber offenbar bereit sind, diesen Erfolg mit gefährlichen Parolen aufs Spiel zu setzen.
Ich sagte und wiederhole es, daß die Bundesregierung immer bereit war und sein wird, über die Wege zu diskutieren, die zur Wiedervereinigung führen.
Niemand von uns kann den Anspruch erheben, daß er allein im Besitze der letzten Erkenntnis sei. Und darum glaube ich auch, daß eine Diskussion, wie wir sie heute führen wollen, der deutschen Politik nur dienlich sein kann.
Die Bundesregierung glaubt aber nicht — und ich sage das ohne jede aggressive Absicht und ohne jede unangebrachte Polemik —, daß man Teile einer Gesamtkonzeption herausgreifen kann, indem man andere, wesentliche Elemente negiert oder verschweigt.
Wir haben auch in letzter Zeit von der Opposition gehört, das Ziel der deutschen Politik müsse sein, die Machtblöcke aufzulösen und an ihre Stelle ein europäisches Sicherheitssystem zu stellen.
Diese Forderung stimmt in ihrem letzten Teil durchaus überein mit den Vorschlägen, die die Bundesrepublik in ihrem Memorandum der Sowjetunion mitgeteilt hat.
Aber es ist, so meine ich, nicht zulässig, ein Teilproblem herauszugreifen und andere, wesentliche Elemente beiseite zu schieben. Gewiß, wir wünschen ein wirksames Sicherheitssystem; aber wir müssen auch Klarheit darüber geben, wo der Standort der Bundesrepublik heute und des wiedervereinigten Deutschlands morgen in einem solchen Sicherheitssystem sein wird.
Ein Sicherheitssystem, das nur auf papierenen Abmachungen beruhen würde, wäre in Wahrheit ein System der Unsicherheit. Wiedervereinigung, Sicherheit und kontrollierte Abrüstung stehen in einem unlösbaren Zusammenhang, und alle Modalitäten eines Sicherheitssystems können ernsthaft nur diskutiert werden, wenn man diesen Zusammenhang bejaht und bereit ist, ihm Rechnung zu tragen.
Die weltpolitische Lage ist nun einmal nicht so einfach, wie mancher sie zu sehen wünscht.
Wunschvorstellungen sind begreiflich; aber sie dürfen nicht die nüchterne Erkenntnis realer Tatsachen verdrängen. Ich bin überzeugt, daß ich keinen ernsthaften Widerspruch finde, wenn ich feststelle: eine Sicherheitsgarantie der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs hat einen anderen politischen und moralischen Wert als eine gleiche Garantie der Sowjetunion.
Die Methoden, mit denen in einem Teil der Welt die Sicherheit anderer Völker verwirklicht wird, sind nicht identisch mit denen des anderen Teiles der Welt.
Die Bundesregierung ist sich klar darüber, daß jede politische Entscheidung mit unvermeidlichen Risiken verbunden ist, und sie beabsichtigt auch nicht, einem erträglichen Risiko auszuweichen. Das haben die Reise des Bundeskanzlers nach Moskau und der vom Bundestag einmütig gebilligte Entschluß, die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen, bewiesen. Aber die Sowjetunion muß wissen, und auch das deutsche Volk und die Welt dürfen daran keinen Zweifel haben, daß Freiheit und Sicherheit keine Handelsobjekte sind.
Und weil wir uns darüber klar sind, wird die Bundesregierung auch in ihren Anstrengungen fortfahren, gemeinsam mit den anderen Nationen der freien Welt für das deutsche Volk das unerläßliche Mindestmaß an Sicherheit zu schaffen, das über-
haupt Voraussetzung einer jeden fruchtbaren Diskussion ist.
So zu handeln, ist nicht nur das Recht, sondern die moralische und politische Pflicht der Bundesregierung.
Das deutsche Volk hat einen Anspruch darauf, in Sicherheit zu leben und das Bewußtsein zu besitzen, daß seine Freiheit nicht heute und nicht morgen gefährdet werden kann.
Wir wissen wohl, daß wir allein das nicht zu erreichen vermögen. Wir wissen aber auch, daß andere bereit sind, uns in diesem Bemühen zu unterstützen. Ihre Mitarbeit wollen und werden wir nicht durch Experimente aufs Spiel setzen, die uns das Vertrauen und die Freundschaft der freien Welt kosten und die Verachtung derjenigen einbringen würden, die uns bedrohen und denen wir damit den Weg frei machen würden.
In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung keine Gelegenheit versäumt, um dieses gesamtdeutsche Anliegen in das Bewußtsein der gesamten Welt zu rücken. Es wurde kein Gespräch auf internationaler Ebene geführt, das dieses Thema nicht zum Gegenstand hatte. Es wurde keine Entscheidung getroffen, bei der wir nicht prüften, ob sie mit der Erreichung dieses Zieles vereinbar sei. Es liegt in der Natur der Sache, daß nicht jede Initiative zur öffentlichen Aussprache ) gestellt wurde. Die Bundesregierung glaubt sogar ernsthaft davor warnen zu sollen, diesem Problem eine unangebrachte Publizität zu geben und ernsthafte Anstrengungen mit Propaganda zu verwechseln.
Der Herr Bundeskanzler hat vor kurzem auch davon gesprochen, daß die Bundesregierung sich mit dem Gedanken trage, die Vereinten Nationen mit der deutschen Frage zu beschäftigen. Ich war überrascht, meine Damen und Herren, daß diese Absicht auch auf Kritik gestoßen ist, und ich vermag die Begründung — —
— Durchaus nicht!
— Aber meine verehrten Damen und Herren, wenn Sie wüßten, wie lange wir daran schon arbeiten, wären Sie ganz beruhigt.
Ich war über diese Kritik überrascht, und ich vermag die Begründung nicht anzuerkennen, daß man „Fremde" dann in einer Weise mit dem Problem beschäftige, die die Gefahr in sich berge, daß die Verantwortlichen sich der Verantwortung entziehen könnten. Es ist mir ganz unbegreiflich, daß ein solcher Vorwurf laut wurde von einer Seite, die gleichzeitig sagt, daß die Sicherheit Europas und damit auch Deutschlands von den Vereinten Nationen garantiert werden solle.
— Nein, ich habe eben nicht von mir gesprochen.
Die Bundesregierung kennt sehr wohl die beschränkten Möglichkeiten der Vereinten Nationen. Sie beklagt es aufs tiefste, daß diese Beschränkung in den vergangenen Wochen sichtbar wurde: Im nahöstlichen Konflikt haben sich die meisten Nationen der moralischen Autorität der Organisation der UNO unterworfen, weil ihre Unterschrift unter die Charta der Vereinten Nationen doch mehr war als ein Lippenbekenntnis.
In Ungarn, wo unzählige Tausende ihr Leben oder ihre Freiheit verloren und Hunderttausende die Flucht ergriffen, ging man über das Votum der Vereinten Nationen mit einem beispiellosen Zynismus hinweg.
Hier stellt sich allerdings die Frage, ob ein Sicherheitssystem unter alleiniger Garantie der Vereinten Nationen wirklich Sicherheit zu gewährleisten vermag.
Die Bundesregierung glaubt aber nicht, daß dieser Zweifel zur Resignation führen darf. Die moralische Unterstützung der Vereinten Nationen im Kampf um die Wiedervereinigung ist nach unserer Überzeugung von unschätzbarer Bedeutung. Für die sonderbare Auffassung, die hier geäußert wurde, daß man die Verantwortlichen aus der Verantwortung entlasse, habe ich kein Verständnis. Im Gegenteil, ich glaube, daß man die Verantwortung nicht besser schärfen kann als durch den moralischen Appell, ,der, in einem Beschluß der Vereinten Nationen liegen würde.
— Nein, nicht ich, sondern Sie! — Wann der Zeitpunkt gekommen sein wird, eine solche Initiative zu entfalten, und wie dies geschehen soll, darüber zu reden, erscheint heute verfrüht.
Man wird der Bundesregierung auch heute und morgen den Vorwurf machen, daß sie nicht das Mögliche und das Notwendige unternommen habe, um die Wiedervereinigung des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit durchzusetzen. Aber diejenigen, die diesen Vorwurf ernsthaft erheben, müssen ihn begründen, und sie müssen — das soll auch der Zweck 'dieser Aussprache sein — konkrete Vorschläge machen. Die Wiederholung der These, daß die von der Bundesregierung in den vergangenen Jahren getroffene Entscheidung, daß das Freundschaftsband, das die Bundesrepublik heute mit der freien Welt verbindet, der Wiedervereinigung im Wege stehe, reicht nicht aus.
Auch die Behauptung, daß die Bundesregierung echte Möglichkeiten ausgelassen habe, wird durch ihre Wiederholung nicht richtiger.
Diejenigen, die verlangen, daß man die Verträge umgestalten und ein europäisches Sicherheitssystem errichten soll, stellen damit keine überzeugende oder glaubwürdige Alternative auf. Sie begnügen sich damit, eine These vorzutragen, ohne sie zu konkretisieren.
Die Bundesregierung ist allerdings fest davon überzeugt, daß es für die bisher verfolgte Außenpolitik tatsächlich keine echte Alternative gibt.
— Nein, dafür sind Sie ja da! — Ich höre schon die Antwort auf diese Feststellung: Starrheit, Unbelehrbarkeit, mangelndes Anpassungsvermögen.
— Ich habe vorhin den Eindruck gehabt, Sie wollten jetzt schon die Debatte führen; aber ich kann mich geirrt haben.
Aber die Bundesregierung hält es — ich habe das schon einmal gesagt — nicht für richtig, Konsequenz mit Starrheit zu verwechseln.
Es fehlte in der Vergangenheit nicht an Initiative, weder seitens der Bundesregierung noch seitens ihrer Verbündeten. Nicht die Vorschläge, die gemacht wurden, waren unzureichend; die Reaktion der Sowjetunion war unbefriedigend, nämlich rein negativ.
Wenn es jemals eine Äußerung der Sowjetunion gab, aus der man auf ein wachsendes Verständnis, auf eine größere Bereitschaft schließen zu können glaubte, dann dauerte es nur sehr kurze Zeit, bis entgegengesetzte Erklärungen solche Hoffnungen zunichte machten. Das bedeutet nicht, daß wir in unseren Bemühungen nachlassen werden. Es bedeutet noch weniger, daß die Bundesregierung an dem Erfolg ihrer Politik zweifeln oder gar verzweifeln würde. Sie wird vielmehr auch in Zukunft jeden Versuch unternehmen, mit der Sowjetunion im Gespräch zu bleiben und eine klare Antwort auf die Frage zu fordern, die schlechthin die deutsche Frage ist: nämlich die Frage nach dem Schicksal und der Zukunft des deutschen Volkes, seine Einordnung in eine friedliche Welt und die Sicherheit seiner Existenz. Wir werden alles tun, um die Sowjetunion und alle unsere östlichen Nachbarn davon zu überzeugen, daß wir den Frieden wünschen, ja daß wir ihn als das höchste Gut betrachten, das wir den Völkern vermitteln können. Die Bundesregierung zweifelt auch nicht daran, daß wir dem gemeinsamen Ziele näher gekommen sind; nicht weil wir nicht bereit waren, Kompromisse zu schließen, die zur Selbstaufgabe führen müßten, sondern weil die Welt im Osten und im Westen keine Zweifel mehr daran hat, wo die Grenzen unserer Verhandlungsbereitschaft tatsächlich liegen.
Eine freiheitliche Ordnung für das ganze deutsche Volk gefährdet nicht die Sicherheit seiner Nachbarn, sondern stärkt sie. Deutschland will nicht mehr an Lebensrecht, als es anderen einzuräumen bereit ist. Die wahnwitzigen Vorstellungen, die das deutsche Volk unter der Herrschaft des „Dritten Reiches" ins Unglück geführt haben, besitzen keine Gültigkeit mehr. Aber ebensowenig sollten wir zulassen, daß gefährliche Spekulationen diese Entwicklung gefährden. Solange irgend jemand in der Welt glaubt, daß die Begriffe von Freiheit, Frieden und Sicherheit im deutschen Volke heute oder morgen einer verschiedenartigen Interpretation unterliegen, werden wir unser Ziel nicht erreichen.
Unsere Glaubwürdigkeit sinkt in dem Maße, in dem die Umwelt vermutet, daß wir uns mit weniger zufriedengeben würden, als wir heute verlangen.
Darum appelliert die Bundesregierung auch heute an die große gemeinsame Verantwortung, die auf uns allen ruht. Wir können sie nur gemeinsam meistern. Die Einheit des freien deutschen Volkes in der Bundesrepublik ist Garantie, aber auch Voraussetzung für Frieden, Freiheit und Sicherheit des ganzen deutschen Volkes in einem wiedervereinigten Deutschland.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, das Haus hat die Erklärung der Bundesregierung entgegengenommen. Nach den Vereinbarungen im Ältestenrat tritt jetzt eine Unterbrechung von einer Stunde ein.
Ich habe 'bekanntzugeben, daß die Fraktion der FVP Fraktionssitzung hält. Ist das auch bei anderen Fraktionen der Fall? —
Es ist jetzt 10 Uhr 20 Minuten. Die Sitzung wird um 11 Uhr 20 Minuten fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung wird um 11 Uhr 21 Minuten durch den Präsidenten D. Dr. Gerstenmaier wieder eröffnet.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir treten in die
Aussprache über die Erklärung der
Bundesregierung
ein.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kiesinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Außenminister hat bereits darauf hingewiesen, daß die neue Parole der Sozialdemokratischen Partei für den Wahlkampf „Sicherheit für alle" eine fröhliche Anleihe bei der CDU darstellt.
Wir wollen annehmen, daß diese Parole, meine Damen und Herren von der Opposition, auch für die Außenpolitik gemünzt ist.
— Dann hätten wir Christlich-Demokraten allerdings, verehrter Herr Metzger, Anlaß zur Freude über die Rückkehr eines verlorenen Sohnes.
Aber wenn man Sicherheit proklamiert, dann muß man auch bereit sein, die notwendigen Folgerungen zu ziehen.
Schöne Parolen lassen sich leicht formulieren; aber sie ändern die harten Tatsachen der Welt, in der wir leben müssen, nicht.
— Meine Herren, seien Sie doch nicht so nervös! Sie haben doch in Ihren Pressediensten geschrieben, w i r seien nervös und Sie würden diesen nervös gewordenen Leuten von der CDU nun hart zusetzen!
Lassen Sie uns doch einmal in aller Ruhe gegenseitig reden und anhören!
— Ach, Herr Kollege Wehner, dieses Urteil fällen nicht Sie! Das Urteil darüber, wer in diesem Hause vernünftig redet und wer schwätzt, wird einmal die Geschichte fällen.
Ich sagte: Parolen lassen sich leicht formulieren; aber die harten Tatsachen unserer Welt werden durch sie nicht geändert. Sicherlich wird die Menschheit einmal das Andenken jener Staatsmänner segnen, denen es gelingen wird, den Frieden zu bewahren, und denen es gelingen wird, die Freiheit zu bewahren. Diese Bemühungen werden aber nur dann Erfolg haben, wenn sie sich mitten in der rauhen Wirklichkeit und nicht in einem Wolkenkuckucksheim vollziehen.
Der Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika hat in seinen jüngsten Äußerungen seinen festen Willen zu einer solchen Politik bekundet und erklärt, Amerika sei bereit, für die Erhaltung des Friedens einen hohen Preis zu zahlen. Auch wir sind dazu bereit. Aber wir sind genauso-wenig wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika willens, jeden Preis, keinesfalls den Preis unserer Freiheit, zu entrichten.
Die Opposition wird uns auch bei dieser Feststellung natürlich folgen. Aber die Frage ist, ob die von ihr empfohlene Politik die Freiheit des deutschen Volkes bewahren und sichern könnte.
— Des ganzen deutschen Volkes, natürlich des ganzen! Glauben Sie, daß das, was wir hier tun, eine Politik ist, die nur an unsere Sicherheit in der Bundesrepublik denkt? Das verstehen die Leute in der Zone drüben viel besser. Sie wissen, daß, solange hier ein Hort der Freiheit ist, auch Freiheit für sie in Zukunft möglich sein wird.
Ich sprach von der Außenpolitik der Sozialdemokratischen Partei; und schon stocke ich. Wie ist sie denn, diese Außenpolitik? Wie sehen Ihre Pläne denn wirklich aus? Wenn wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, in den vergangenen Jahren des öfteren Ziellosigkeit und Unklarheit in Ihrer außenpolitischen Planung vorgeworfen haben, so haben Sie immer sehr empfindlich reagiert. Aber es bleibt doch wahr, daß wir von Ihnen bis heute nicht viel mehr als ein paar magische Beschwörungsformeln zu hören bekommen haben.
Es sind die Formeln über die Herauslösung der beiden Teile Deutschlands aus den von Ihnen so genannten Militärblöcken und die Schaffung eines europäischen kollektiven Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen.
Der Herr Kollege Ollenhauer wurde am 12. Dezember 1952 auf einer Pressekonferenz gebeten, doch etwas Genaueres über dieses System der kollektiven Sicherheit auszusagen. Er sagte damals, es solle natürlich ein internationales System sein, und er bat, in diesem Augenblick zu verstehen, daß es nicht möglich sei, in Einzelheiten einzutreten, daß man sich im Konkreten Tiber die Details noch nicht klargeworden sei, um schon einen im einzelnen fundierten Vorschlag machen zu können. Nun, meine Damen und Herren, seitdem sind vier Jahre verstrichen, und noch immer wartet jener Fragesteller, noch immer warten wir auf die Antwort, auf jenen angekündigten „im einzelnen fundierten" Plan.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Ich bitte, nur einen Satz noch sagen zu dürfen; dann bin ich bereit. — Aber vielleicht, meine Damen und Herren von der Opposition, werden wir diesen im einzelnen fundierten Plan — und das wäre allerdings die Sensation dieses Tages — nachher in der Rede des Herrn Kollegen Ollenhauer hören.
Einen Augenblick! Das geht doch nicht: „Schauspielerei". Wir sind hier nicht im Theater.
— Nein; wir sind hier nicht im Theater.
— Das ist nicht Theater!
Herr Abgeordneter Mommer, sprechen Sie bitte!
Herr Kiesinger, wie vereinbaren Sie Ihre Ausführungen mit der Tatsache, daß Sie ganz kürzlich im Europarat einer Entschließung zugestimmt haben, in der es heißt:
Die Versammlung fordert die Mitgliedstaaten auf, in Übereinstimmung mit den Vereinigten Staaten und Kanada die Sowjetunion darüber zu verständigen, daß der Westen stets bereit ist, Verhandlungen über die Aufstellung eines Sicherheitssystems aufzunehmen, das einerseits der Sowjetunion berechtigte Garantien gibt und an dem Gleichgewicht der Kräfte in Europa nichts ändert, zugleich aber den Abzug der sowjetischen Truppen aus Mittel- und Osteuropa und die Wiederherstellung der nationalen Souveränität aller Völker in diesen Gebieten vorsieht.
Wie kommen Sie dazu, dieser Entschließung zuzustimmen, wenn Sie jetzt so tun, als ob ein kollektives Sicherheitssystem Unsinn sei?
Wer sagt denn das?
Meine verehrten Damen und Herren, es ist eine merkwürdige Sache mit den Einwänden der Sozialdemokratie. Soeben hat der Bundesaußenminister davon gesprochen, daß auch wir ein kollektives Sicherheitssystem bejahen.
— Gar nicht „Hört! Hört!", Herr Erler! Ihnen muß ich doch nicht erzählen, daß das schon im Memorandum der Bundesregierung zur Frage der deutschen Wiedervereinigung steht!
— Weichen Sie der Frage, die entscheidend ist, nicht aus! •
Wir bejahen ein kollektives Sicherheitssystem,
das auf der realen Grundlage der Sicherheit errichtet ist. Sie aber wollen ein Sicherheitssystem, das nur auf dem Papier steht.
— Lassen Sie mich bitte zu Ende reden. — Meine Damen und Herren, wenn Sie es nicht wollen, — —
— Verleumdung? Das sind also die Gegenargumente! — Wenn Sie es nicht wollen, meine Damen und Herren, dann sagen Sie uns doch endlich, wie Sie sich die realen Garantien der europäischen Sicherheit außerhalb des Paktes denken!
Dazu haben Sie ja heute in diesem Hause Gelegenheit!
Herr Abgeordneter Kiesinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erler?
Bitte.
Herr Abgeordneter Erler!
Herr Abgeordneter Kiesinger, sind Sie bereit, im Rahmen einer Diskussion, die die Politik ,der Bundesregierung zum Gegenstand hat, jetzt nach Ihren Ausführungen zu erklären, wie sich I h r europäisches System kollektiver Sicherheit konkret in den Einzelheiten vom bestehenden Atlantikpakt unterscheidet?
Herr Kollege Erler, schon das Memorandum der Bundesregierung, das Sie viel zu wenig beachtet haben, zeigt klare Wege zu einem solchen System, bei dem allerdings die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft eine Rolle spielt, das aber mit der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft keineswegs identisch ist.
— Warten Sie meine Ausführungen ab! Sie sind ja viel zu ungeduldig. Ich will ja versuchen, Ihnen in meinen kommenden Ausführungen einiges dazu zu sagen.
— Diese „Primadonna" fällt Ihnen offenbar auf die Nerven!
Aber ich will gerecht sein. Einige Fortschritte auf dem Weg zu der nach unserer Meinung richtigen Außenpolitik scheinen Sie inallerjüngster Zeit immerhin gemacht zu haben.
Es führt ein langer Weg von jener denkwürdigen Erklärung des Herrn Kollegen Ollenhauer am 16. Dezember 1949 im Deutschen Bundestag: „Die sozialdemokratische Fraktion lehnt es ab, eine deutsche Wiederaufrüstung auch nur in Erwägung zu ziehen",
bis zu jener in der allerjüngsten Zeit ausgereiften Bereitschaft, wenigstens ein deutsches Freiwilligenheer anzuerkennen.
Meine Herren, es kann nur einer das Wort bekommen. — Herr Kollege Kiesinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Mellies!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Kiesinger, ist Ihnen bekannt, daß Herr Bundeskanzler Aden au er am 6. August 1950 gesagt hat: „Ich habe mich wiederholt gegen die Wiederaufrüstung Deutschlands ausgesprochen, weil ich vor allem dem tiefen Friedenswillen des deutschen Volkes und der deutschen Jugend Ausdruck geben wollte, die einen tiefen Abscheu vor Uniformen, vor Waffen und vor Krieg hat"?
Das ist mir bekannt, Herr Mellies,
und ich freue mich, daß Sie das hier feststellen, damit endlich einmal auch von sozialdemokratischer Seite bekundet wird, daß der Bundeskanzler, der in all diesen Jahren verleumdet worden Ist, daß er eine Politik des kalten Krieges treibe, den Gedanken der Wahrung des Friedens immer ernsthaft erwogen hat.
Ich habe gesagt, es sei ein langer Weg, der von jener Erklärung des Herrn Kollegen Ollenhauer im Deutschen Bundestag bis zu der neuerlichen Bereitschaft zur Anerkennung eines Freiwilligenheeres geführt habe. Dabei war mir der Ausgangspunkt nicht so wichtig wie alle die Etappen, die sich inzwischen hier vollzogen haben und bei denen Sie — leider Gottes — dazu beigetragen haben, daß wir in Westeuropa heute nicht jene Verteidigungsmacht haben, die uns schützen könnte.
Herr Abgeordneter, wollen Sie wieder eine Frage beantworten?
Nein, Herr Präsident, jetzt bitte ich um das Privileg, endlich ein paar Sätze sprechen zu dürfen.
Bitte, fahren Sie fort!
Ich glaube nicht, daß ich in diesem Hause den Ruf habe, Fragen auszuweichen,
aber ich lehne es ab, eine Rede, die eine geschlossene Konzeption verfolgt, durch dauernde Zwischenfragen zerfasern und zerstören zu lassen.
Tatsächlich scheint mir die neuerliche Erkenntnis, nämlich die Erklärung des Herrn Kollegen Erler und des Herrn Kollegen Ollenhauer, daß man keinen Austritt der Bundesrepublik aus der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft fordere, daß man hier nicht etwa eine Vorleistung geben wolle, bevor ein wirksames System der kollektiven Sicherheit gegründet sei, ein erheblicher Fortschritt zu sein. Und so ist es auch in der deutschen Öffentlichkeit empfunden worden. Dürfen wir,
Herr Kollege Ollenhauer, bei solchen Äußerungen vermuten, daß die Sozialdemokratische Partei in der Teilnahme der Bundesrepublik an der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft schließlich doch etwas Positives und Sinnvolles gefunden hat?
— Sonst stellen Sie es uns nachher dar!
Manche Leute glaubten angesichts dieser neuen Erkenntnisse schon an das Frühlingswehen einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik.
Wir wären froh, wenn es eine solche gemeinsame deutsche Außenpolitik gäbe.
Immer, wenn wir daran appelliert haben, ist uns entgegengehalten worden, wir würden nach einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik immer nur dann rufen, wenn wir uns in einer schwachen Position fühlten.
: Genau das ist
richtig!)
— Herr Kollege, Sie werden eine Nervosität und
ein Gefühl der Schwäche bei uns nicht provozieren.
Seien Sie überzeugt, wir verlassen uns darauf, daß es gerade diese unsere Außenpolitik sein wird, die uns erneut die Billigung des deutschen Volkes einbringen wird.
Nicht daß wir meinten, damit den Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der Innenpolitik ausweichen zu müssen. Auch da haben wir sehr gute Ergebnisse vorzuzeigen.
Nun, einige Zeitungen meinten schon, man müsse mit der Lupe nach Unterschieden zwischen beiden Auffassungen suchen. Das ist leider nicht der Fall. Es ist die wichtigste Aufgabe dieser Debatte — so sehen wir sie —, die Unterschiede der Auffassungen und die Begründungen für diese Unterschiede so klar und so deutlich wie möglich vor dem ganzen deutschen Volk und vor der Welt herauszuarbeiten.
Der deutsche Außenminister hat mit erfreulicher Klarheit das Geraune über einen grundsätzlichen Wandel der Außenpolitik der Bundesregierung widerlegt. Ich schließe mich für die Fraktion der Christlich-Demokratischen Union dieses Hauses seiner Feststellung vorbehaltlos und ausdrücklich an.
Vielleicht macht diese Tatsache einige Leute nachdenklich, denen das Wort von der angeblichen „Starrheit des alten Kanzlers" allzu leicht über die Zunge ging. Sie können versichert sein, daß wir, der Außenminister und seine Mitarbeiter ebenso wie die zuständigen Mitglieder der CDU-Fraktion und die Fraktion in ihrer Gänze, mit großer Sorg-
fait und mit großem Verantwortungsbewußtsein die Weltsituation und ihre Entwicklung während des vergangenen Jahres, insbesondere auch während der letzten Monate, geprüft und unsere bisherige Außenpolitik am Ergebnis dieser Prüfung gewertet und gemessen haben. Wir tragen in diesem, wie Präsident Eisenhower sagte, tragisch geteilten Deutschland schwer an der auf unsere Schultern gelegten Last einer Politik, die uns aufgibt, die beiden großen Aufgaben der Sicherung unserer Freiheit und der Wiedervereinigung des deutschen Volkes gemeinsam zu lösen.
Das alte Jahr ging unter schwersten Krisen zu Ende. Wer es vergessen hatte, wurde derb daran erinnert, daß wir in einer Epoche der Umwälzung, der Unruhe und der Unsicherheit leben. Man muß schon sehr tief in die Geschichte zurückgreifen, um eine vergleichbar bewegte Zeit zu finden. Wir leben eben seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und wahrscheinlich trotz aller Hoffnungen und aller Bemühungen noch immer im Spannungsfeld zwischen Westen und Osten. Das ist eine bittere Tatsache. Das sind nicht nur Spannungen rivalisierender Großmächte wie ehedem. Das neue erregende und gefährliche Element dieses Gegensatzes ist ein weltanschauliches Ringen völlig entgegengesetzter Wert- und Ordnungssysteme. In dieser weltanschaulichen Auseinandersetzung kann es für unser Land und Volk keine Neutralität geben.
Wir stehen, wie wir uns sonst immer methodisch außenpolitisch verhalten mögen, hier vor einem Entweder-Oder, das eine eindeutige Entscheidung verlangt.
In anderen Zonen unserer Erde, in Indien, das wir jüngst besucht haben — auch Sie, Herr Kollege Ollenhauer —, mag es anders liegen. Der großen Masse der fast 400 Millionen meist bitter armen, darbenden Menschen dort in ihrem wirren Geflecht alter religiöser Traditionen mag das westlichdemokratische System fast so fremd wie das bolschewistische System sein. Sie mögen sich weder vom Kommunismus bedroht noch von der westlichen liberalen Demokratie angezogen fühlen. Ihre politischen Führer versuchen darum, für ihr kaum der kolonialen Abhängigkeit entwachsenes Land eine eigene Ordnung zu finden. Man muß dafür Verständnis haben und sollte sie deswegen nicht tadeln. Aber man muß umgekehrt auch begreifen, daß das indische Rezept für uns nicht gilt. Denn wir stehen weltanschaulich, glaubens- und traditionsgemäß nicht an einem dritten Ort wie vielleicht sie, sondern gehören unlöslich zur westlichen Welt, zu ihrem Wert- und Ordnungssystem, es sei denn, wir wären entschlossen, mit unseren Überlieferungen zu brechen.
Die Krisen des letzten Vierteljahrs — darin werden Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mir zustimmen — haben mit furchtbarer Eindringlichkeit bewiesen, daß es in Europa keine der Sowjetunion ebenbürtige Macht mehr gibt. Selbst wenn jetzt alle Völker Westeuropas ihre Kräfte vereinigten, gäbe es eine solche Kraft nicht mehr. Wir können unsere Freiheit nicht mehr aus eigener Kraft verteidigen. Wir leben — es ist bitter zu sagen — von dem Interesse der Vereinigten
Staaten von Nordamerika am letzten freien Rest dieses Kontinents.
Wir können nur hoffen, daß sich die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten — von der ja auch dort die Regierung abhängt — dieses Interesses allezeit bewußt bleibt, daß sie weiß, was für die Neue Welt von der Erhaltung unserer Freiheit abhängt.
Der Präsident der Vereinigten Staaten gab uns in dieser Hinsicht erneut tröstliche Versicherungen — der Außenminister erwähnte sie schon —, aber auch er ist von der öffentlichen Meinung seines Landes abhängig, und niemand sollte uns länger mit dem leichtfertigen Argument kommen: Die Amerikaner könnten ja gar nicht anders, als für die Freiheit Westeuropas einzustehen und für sie im Notfall zu kämpfen. — Die Völker handeln ja leider keineswegs immer nach ihren wirklichen Interessen. Die Welt, insbesondere Europa, sähe sonst gewiß anders aus.
Irrtum, Fahrlässigkeit oder der Druck einer unvernünftigen öffentlichen Meinung steuern oft genug einen falschen und verhängnisvollen Kurs. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts strotzt von Beispielen für diese Feststellung.
Aus dieser Erkenntnis folgt eines: die lebenswichtige Forderung, daß wir von uns aus alles tun, um das Interesse nicht nur der Regierung Amerikas, sondern auch des Volkes der Vereinigten Staaten von Nordamerika an der Sicherung Westeuropas und unseres eigenen Landes zu erhalten und zu stärken.
Die meisten Menschen haben zu wenig Phantasie, um sich mögliche Entwicklungen vorstellen zu können.
— Werfen wir uns gegenseitig ein bißchen Phantasielosigkeit vor und strengen wir uns dann ein bißchen mehr an, Herr Kollege Erler! — Wenn sich die Amerikaner eines Tages uninteressiert auf ihren eigenen Kontinent zurückzögen, dann läge — niemand kann es leugnen — Europa wehrlos dem Zugriff des sowjetrussischen Riesen offen. Man braucht dabei nicht an kriegerische Eingriffe zu denken. Es gibt in Westeuropa viele Millionen Parteigänger Moskaus — Kommunisten, die sogar in einigen Ländern die stärksten und die schlagkräftigsten Parteien formiert haben. Wir kennen doch die Technik der „Machtübernahmen", der Staatsstreiche entschlossener Minderheiten in Ländern, die wehrlos dem Druck eines überlegenen Nachbarn ausgesetzt sind. Im Falle eines bewaffneten Angriffs aus dem Osten dürfte man auf einen Widerstand Amerikas hoffen. Auf Revolutionen und Staatsstreiche aber — so hat jemand jüngst klug bemerkt — wirft man keine Bomben.
Sicher würde diese absolute Abhängigkeit Westeuropas abnehmen und seine Eigenständigkeit in dem Maße wachsen, in dem es gelänge, seine Einigung zu beschleunigen. Aus dem Verbande vieler Schwacher wird aber leider noch lange keine starke Macht,
heute weniger denn je. Bis vor kurzer Zeit konnten selbst kleine Staaten Heere ausrüsten, die zwar
der Zahl, nicht aber der Qualität nach den Heeren
großer Mächte unterlegen waren. Heute ist der finanzielle Aufwand für gewisse Waffengattungen — von den atomaren Waffen ganz abgesehen, etwa für schwere Bomber — so riesenhaft, daß nur noch die größten Mächte dieser Erde diese Kosten aufbringen können.
Der Preis einer einzigen Division z. B. betrug nach den Beschlüssen der Lissabonner Konferenz vom Jahre 1951 ungefähr eine Milliarde DM.
Ein Zwischenruf auf den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion sagte eben: „Deshalb Abrüstung!" Herr Kollege, wir sind mit Ihnen einverstanden. Warum wir aber unsere Politik zusammen mit einer entschiedenen Befürwortung der Abrüstung betreiben müssen, will ich Ihnen, wenn Sie mir mit Geduld zuhören wollen, im weiteren Verlauf meiner Ausführungen darlegen.
Man sollte darum, wenn man dies erkennt, endlich aufhören, von der Streitmacht eines bündnislosen Deutschlands zu reden, die stark genug wäre, einen Angriff aus dem Osten abzuwehren. Zum Aufbau einer derartigen Streitmacht wären wir, wäre auch ein wiedervereinigtes Deutschland nicht imstande. Schon gar nicht könnte diese Aufgabe durch eine Armee von Freiwilligen erfüllt werden, die die Sozialdemokratie im Prinzip ja zugestehen will, über deren Zulänglichkeit für eine nationale Verteidigung sie aber schamhaft schweigt. Wir wären sehr dankbar, wenn Sie uns heute in der Debatte über diese Zulänglichkeit einer Freiwilligenarmee für die nationale Verteidigung etwas Genaueres sagten. Insbesondere schweigen Sie auch über das entscheidende Problem der Ausbildung von Reserven, ohne die unser Verteidigungsbeitrag eine Farce bleiben müßte.
Ganz gewiß stellt der Vorschlag des Herrn Kollegen Erler, der jüngst andeutete, man müsse dann eben Freiwillige mit verschiedener Dienstdauer einstellen, keine wirkliche, ernsthafte Lösung dieses Problems dar.
Die beiden neutralen oder bündnisfreien Staaten Europas, auf die man uns gerne als Musterbeispiele für unsere eigene Politik verweist, Schweden und die Schweiz, geben uns in diesem Zusammenhang eine gute Lehre. Schweden hat 7 Millionen Einwohner und kann im Falle der Bedrohung in kürzester Zeit ein Zehntel dieser Bevölkerung, etwa 700 000 Mann, mobilisieren. Jeder mit den Verhältnissen in Schweden Vertraute weiß überdies, daß die Qualität der Ausbildung und Ausrüstung den höchsten Anforderungen gerecht wird. Auch die Schweiz verfügt über eine der besten und stärksten Armeen Europas. Auch sie vermag im Ernstfall ein hochqualifiziertes Heer von etwa einem Zehntel ihrer Bevölkerung aufzustellen. Bei beiden Ländern kommt überdies als wichtiger Verteidigungsfaktor die Gunst der geographischen Lage und des heimatlichen Geländes hinzu.
Man kann an diesen beiden Beispielen schwerbewaffneter Neutralität leicht ermessen, wie eine deutsche Armee quantitativ und qualitativ beschaffen sein müßte, um allein, nicht im Bündnis mit anderen, eine ähnliche Funktion des Schutzes eines bündnislosen Landes ausüben zu können.
Nicht nur wären dazu Millionen bestausgebildeter
und bestausgerüsteter Soldaten erforderlich. Die
Ungunst unserer geographischen Lage und des heimatlichen Geländes, das uns keinen Schutz gibt, würde uns zwingen, unsere Verteidigungsanstrengungen im Vergleich zu Schweden und der Schweiz noch erheblich zu steigern. Da wir dazu nicht in der Lage sind, haben unsere Verteidigungsanstrengungen eben nur im integrierenden Bündnis mit anderen, und zwar mit Mächten ersten Ranges, Sinn und Wert; jedenfalls dann, wenn wir uns gegen die wirkliche Gefahr und nicht gegen einen theoretischen Gegner minderen Ranges schützen wollen.
Gegen diese Erkenntnis, meine Damen und Herren, hilft kein Programm der Herauslösung der beiden Teile Deutschlands aus den sogenannten militärischen Machtblöcken und nicht die Errichtung eines europäischen kollektiven Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen. Denn es kann gerade das nicht tun, was die Sozialdemokratie zugestehen will; es kann mancherlei tun, aber dieses eine nicht, nämlich dem deutschen Volk Schutz geben. Es kann die Krönung von vielfältigen Bemühungen sein, der Schlußstein eines mühselig zu errichtenden Baues, aber nicht die Grundlage für diesen Bau, denn dann hätten wir auf Sand gebaut.
Wer schützte uns denn in dem System der kollektiven Sicherheit, das Sie uns vorschlagen?! Wäre es nicht auch dann immer nur wieder die große Schutzmacht jenseits des Ozeans, die Vereinigten Staaten von Nordamerika?! Sie müßten voraussetzen, daß, obwohl das wiedervereinigte Deutschland dann an einem westlichen Verteidigungsbündnis nicht mehr teilnähme, die Regierung und die öffentliche Meinung der Vereinigten Staaten von Nordamerika ständig bereit und in der Lage wären, unsere Existenz zu schützen und zu sichern, notfalls durch Einsatzihres eigenen Gutes und Blutes. Ich glaube, etwas Derartiges zu erwarten, wäre lebensgefährlich.
— Ich komme darauf zurück. — Wer so etwas verlangt wie Sie, muß dann eben auch ehrlich zugestehen, was davon die Folge sein wird. Er muß ehrlich sagen, daß das im unwahrscheinlich besten Falle Ohnmacht zur eigenen Verteidigung bedeuten würde, Verlassen auf die allezeit sichere Hilfe einer nicht mehr verbündeten Macht, Verharren im Stande eines ewigen Protektorats sowjetrussischer Vormacht in Europa, vielleicht notdürftig in Schach gehalten durch eine viele Tausende Kilometer entfernte Großmacht — und dies alles unter der Voraussetzung, daß die öffentliche Meinung Amerikas unter solchen Umständen beständig bliebe. Und jetzt, Herr Mommer, antworte ich Ihnen: die Wiedervereinigung Deutschlands. Selbst dazu, nämlich die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit zu gewähren, erklären sich doch die Russen nicht bereit.
— Haben wir das jetzt noch nötig? Gibt es in diesem Lande, Herr Mommer, einen Menschen, der nicht begriffen hat, daß die Forderungen Sowjetrußlands, die es in Zusammenhang mit der Wiedervereinigung aufgestellt hat, blutig ernst ge-
meint sind, daß die Forderungen, wir dürften nur auf dem Wege über die beiden sogenannten deutschen Staaten verhandeln, ernst gemeint ist, daß die Beibehaltung der „sozialen und demokratischen Erzwungenschaften" — um mit Herrn Kollegen Brandt zu sprechen — drüben mehr bedeutet als die Aufrechterhaltung der volkseigenen Betriebe, nämlich die Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems,
daß die Sowjetrussen darüber hinaus einen politischen und gesellschaftlichen Strukturwandel in der Bundesrepublik fordern und daß sie endlich keine freien Wahlen zugestehen wollen, sondern, wie Herr Molotow es in Genf auszudrücken beliebte, „auf einem weniger mechanischen Wege", nämlich durch die Verbindung der beiden sogenannten deutschen Staaten das deutsche Problem läsen wollen?
Tag für Tag lese ich die Stimmen aus Moskau, immer wieder sehe ich, wie deutsche Politiker, die das Verlassen der NATO oder das von vornherein festzulegende Fernbleiben eines wiedervereinigten Deutschlands aus der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft fordern, von Moskau gelobt werden.
Aber niemals lese ich dabei, daß die Sowjetunion
sagt: wenn ihr dieser Politik folgt, dann werden
wir euch die Wiedervereinigung in Freiheit geben.
11m Gegenteil, erst gestern gab es wieder eine Fülle von Stimmen aus dem Osten, die ganz klipp und klar sagten: Wenn ihr diese — von der Sozialdemokratischen Partei vorgeschlagene — Politik mitmacht, dann wird eine bessere Atmosphäre hergestellt werden, damit endlich durch eine Annäherung der beiden deutschen Staaten, aber natürlich unter Beibehaltung des sozialistischen Systems in der Sowjetzone die deutsche Wiedervereinigung erreicht werden kann. — Ist das nicht deutlich genug? Braucht es da, Herr Mommer, wirklich noch eines Testes angesichts der nicht mehr wegzuleugnenden und auch von niemand Vernünftigem mehr weggeleugneten Wirklichkeit — —
— Die Wiedervereinigung, Herr Mommer, ist nach unserer Auffassung keine Chimäre; eine Chimäre ist der Glaube, mit Sowjetrußland durch Verlassen des Schutzverbandes der westlichen Welt zu einer Wiedervereinigung in Freiheit zu kommen.
— Herr Mommer, wir wollen keine Bedingungen diktieren; auch das werde ich Ihnen im Verlauf meiner Ausführungen noch sagen. Ich sage Ihnen
— ich habe es in diesem Hause schon mehrfach gesagt —: auch wir haben kein fertiges Rezept!
— Nein, nein, Herr Kollege, das verlange ich nicht. Ich verlange von Ihnen, so wie wir es hier getan
haben und wie ich es jetzt tue und tun werde, nur ein wenig mehr als die monotone Wiederholung der gleichen Beschwörungsformeln.
Könnten wir miteinander über diese Dinge in Ruhe reden, dann würde bald klargestellt werden, daß es so ist, wie ich sagte, daß Sie eben das Risiko eingehen wollen, für das uns die Voraussetzungen nicht gegeben scheinen, die wir, weil wir verantwortlich Politik machen müssen, nicht akzeptieren können. Dazu kommt noch die für Sie bedauerliche Feststellung, daß Ihnen, selbst wenn Sie dieses Risiko eingehen, dafür die Wiedervereinigung in Freiheit nicht gegeben wird.
Ich unterstelle bei diesen Überlegungen den gegenwärtigen sowjetrussischen Führern keine schlimmen Angriffsgelüste und keine unerwartete, plötzliche Friedensliebe. Eine gewissenhafte Außenpolitik spekuliert nicht, sie richtet sich auf Gutes wie auf Schlimmes ein. So wie die Sowjetunion nun einmal ist, haben wir allen Grund, auf der Hut zu sein und die bedrohte Einigkeit des Westens nach Kräften zu stärken, ohne dabei die Brücke zu einer künftigen Verständigung abzubrechen. Wir haben das nie getan. Wir haben es in den Verträgen nicht getan, wo wir alle Türen zu einer künftigen Verständigung offengelassen haben, und wir wollen es auch in unserer künftigen Politik nicht tun.
Der Herr Außenminister hat mit Recht das Gerede von den beiden angeblich militärischen Machtblöcken kritisiert. Wenn es sich hier nur um eine gedankenlose Formulierung handeln würde, brauchte man keine Sorgen zu haben. Aber es scheint mir sehr viel mehr als eine Gedankenlosigkeit, nämlich eine völlige Verkennung der weltpolitischen Situation dabei im Spiele zu sein. Ein fataler Irrtum, aus dem sich notwendig falsche außenpolitische Konsequenzen entwickeln müssen.
Herr Ollenhauer hat in seinen neuesten Ausführungen — ich glaube, es war vor den Führungsgremien seiner Partei — am 24. Januar diesen Irrtum, wie ich meine, erneut klar erkennen lassen. Er behauptet: 1. die Ereignisse in Ungarn und Ägypten hätten die Vorstellungen, daß der Frieden durch Militärblöcke gewahrt werden könne, erschüttert; 2. die Militärblöcke hätten weder für den Westen noch für den Osten wirkliche Sicherheit gebracht; 3. die These der Bundesregierung, daß die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Sicherheit gebe, habe sich im Falle von Sues als Fehlkalkulation erwiesen und dem deutschen Volk nur ein erhöhtes Risiko gebracht.
Ich will mich mit diesen drei Thesen auseinandersetzen. Hat der Führer der größten Oppositionspartei wirklich vergessen, wie es zu der Bildung der von ihm so genannten Militärblöcke kam? Hat er vergessen, daß nach dem zweiten Weltkrieg der Westen in gutem Glauben abgerüstet und die Massen seiner Truppen aus Europa zurückgezogen hat? Hat er vergessen, daß diese Tatsachen Stalin Gelegenheit gaben, die Sowjetrußland westlich benachbarten Völker gegen deren Willen kommunistischen Regimen zu unterwerfen und sie dem sowjetrussischen Machtbereich einzugliedern? Wollen Sie, Herr Ollenhauer, leugnen, daß dieses Unglück nicht geschehen wäre, wenn der freie Westen
zu jener Zeit in Europa militärisch stark genug vertreten gewesen wäre?
Hat man vergessen, daß erst im Kampf um die Freiheit Berlins, um Griechenland, die Türkei und um Korea jene verspätete Verteidigungsorganisation, jener Militärblock, wie Sie ihn nennen, geschaffen wurde, den Sie mit dem sowjetrussischen Militärblock so leichthin in einen Topf werfen? Will man behaupten, daß es ohne den Aufbau der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft gelungen wäre, die Freiheit Berlins, Griechenlands, der Türkei, Südkoreas und auch unsere Freiheit zu erhalten?
Oder will man uns sagen, das alles sei zu seiner Zeit einmal berechtigt und nötig gewesen, aber heute seien die Voraussetzungen für eine gemeinsame militärische Verteidigung des Westens weggefallen? Dann möchten wir allerdings für diese These eine sorgfältige Begründung hören.
Es ist doch ein merkwürdiges Argument, die Ereignisse in Ungarn hätten die Untauglichkeit der NATO — der NATO! — zur Sicherung des Friedens erwiesen.
Die NATO kam leider zu spät, um die Freiheit der Völker des Satellitenbereichs zu retten. Sie hatte sich, nachdem sie nun einmal leider zu spät gekommen war, nicht zum Ziele gesetzt, die Freiheit dieser Völker durch kriegerische Aktionen zurückzuerobern, sondern wenigstens den freien Rest der Anrainer des Atlantiks und des Mittelmeers vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.
Wären wir stärker gewesen, hätte es schon ein vereinigtes Europa im Schutzverband der NATO zur Zeit der ungarischen Krise gegeben, wer weiß, ob sich nicht einfach durch die Existenz eines solchen starken Europas die Dinge in Ungarn günstiger gestaltet hätten.
Jedenfalls hat schon der leider noch unvollkommene Ausbau der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft eine weitere Expansion des Kommunismus in den letzten Jahren verhindert. Und nur diese Institution ist es, die auch in absehbarer Zukunft, wenn nicht Wunder geschehen, dieselbe Funktion erfüllen kann.
Auch Ihr Hinweis, Herr Ollenhauer, auf Sues geht fehl. Daß die Existenz der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft die Krise in Ägypten nicht verhindert hat, ist leider wahr. Will man aber behaupten, daß diese Krise etwa ohne den Bestand der NATO vermieden worden wäre? Wenn es überhaupt eine Organisation gibt, die militärische Sonderaktionen ihrer Mitglieder erschwert und — wenn sie nach den bei der letzten Sitzung des Atlantikrats angenommenen Plänen ausgebaut wird — in Zukunft sogar verhindern kann, dann ist es doch die NATO. Im übrigen haben — und das einmal festzustellen ist mir doch wichtig —nicht die Vereinten Nationen trotz all ihrer Verdienste, die Herr Ollenhauer in diesem Zusammenhang lobt, die Krise in Ägypten beendet, sondern, wie immer man zu dieser Entscheidung Washingtons stehen mag, die eindeutige Intervention der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die mit ihrer 6. Amerikanischen Flotte im Rahmen der NATO im Mittelmeer zugegen waren.
Die Vereinten Nationen hätten sich sonst auch dort wie in Ungarn auf bloße formale Protestaktionen beschränken müssen.
Herr Ollenhauer meinte, die These der Bundesregierung, daß die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Sicherheit gebe, habe sich im Falle Sues als Fehlkalkulation erwiesen und dem deutschen Volk nur erhöhtes Risiko gebracht. Herr Ollenhauer, sind die Dinge damit nicht wirklich auf den Kopf gestellt? Was war denn die Gefahr der Sues-Krise für die Bundesrepublik und das ganze deutsche Volk? Die Gefahr war, daß sich der dortige Konflikt zu einem allgemeinen Weltbrand ausweiten konnte. Ein Mitglied der NATO, und zwar das mächtigste Mitglied der NATO, hat bewiesen, daß es in vollem Verantwortungsbewußtsein diese Gefahr erkannte und daß es, wie immer man auch zur Methode des Vorgehens Washingtons in diesen Zusammenhang stehen mag. jedenfalls die These Sowjetrußlands von den Vereinigten Staaten als einer aggressorischen Macht dabei widerlegt hat.
Aber ich muß noch ein Wort zu der These von den sogenannten Militärblöcken sagen. Die Krisen der vergangenen Monate haben leider bewiesen — und ich nehme an, daß Sie mir dabei zustimmen werden —, daß wir leider nicht erwarten können, im Schatten der großen Atommächte als Folge des sogenannten atomaren Gleichgewichts werde es in Zukunft keine bewaffneten Konflikte mehr geben. Was wir hoffen können, ist doch allenfalls, daß die allgemeine und nur zu berechtigte Furcht der Menschheit vor den schrecklichsten Vernichtungswaffen, die es heute gibt, eben einen solchen atomaren Krieg verhindern wird, weil jede Macht, die einen solchen Krieg beginnt, damit rechnen muß, daß ein verheerender und zerstörender Gegenschlag erfolgt.
Trotzdem lastet das Vorhandensein dieser schrecklichsten Vernichtungsmittel wie ein Alpdruck auf uns, auf der ganzen Menschheit, und nichts liegt näher, als ihre Achtung und ihre Vernichtung zu fordern. Wir erheben diese Forderung in aller Form. Aber leider liegen die Dinge nicht so einfach. Während der Westen sich zu seinem Schutz im wesentlichen auf seine atomaren Waffen verlassen muß, weil er, wie Sie wissen, nicht über genügend starke konventionelle Rüstung verfügt. besitzt Sowjetrußland beides. Eine einseitige Achtung der Atomwaffen würde daher Sowjetrußland in eine für den Westen lebensgefährliche überlegene Position rücken.
— Der Kanzler hat die Forderung nach Abschaffung der Atomwaffen — das können Sie glauben
— nie anders erhoben als in dem Zusammenhang, in dem ich sie hier vortrage.
— Ich komme darauf! — Daher kann die Abrüstung nur beide Rüstungsgebiete erfassen, und die Abrüstung muß unter eine wirksame Kontrolle gestellt werden. Darüber sind wir uns, glaube ich, weithin einig. Wir dürfen aber nicht annehmen, daß dies in naher Zukunft erreicht wird. Und eben darum bleibt uns nicht anders übrig, als auf diesem Kontinent, solange der gerüstete Titan drüben steht, zusätzlich zu den vorhandenen Verteidigungsmitteln der freien Welt einen Wall aus herkömmlichen Verteidigungsmitteln zu errichten, der den Westen vor einer furchtbaren Alternative bewahrt, nämlich der, im Falle eines Angriffs aus dem Osten entweder den Kontinent preiszugeben oder mit atomaren Waffen — da er ja andere nicht hat — zurückzuschlagen und dadurch das furchtbare Risiko eines atomaren Weltkrieges einzugehen.
Ich kann nicht dringend genug darum bitten, die Phantasie ein wenig anzustrengen und sich auszumalen, was in einer solchen Situation geschehen würde und wie der mögliche Angreifer mit dieser Zwangssituation des Westens spekulieren könnte. Ist es denn an den Haaren herbeigezogen, wenn man sich vorstellt, daß der mögliche Angreifer gerade deswegen das Risiko eines Angriffs mit konventionellen Waffen auf sich nehmen würde, weil er in dieser Situation eben mit einem Zurückweichen der westlichen Schutzmacht aus dem wehrlosen Kontinent eher rechnet als mit der Bereitschaft zu dem furchtbaren Entschluß, die eigene Heimat, die eigenen Großstädte durch atomare Angriffe zu gefährden?
Wenn wir also eine konventionelle Rüstung fordern und aufbauen im selben Augenblick, wo wir uns für die totale, kontrollierte Abrüstung einsetzen — eine Rüstung, an der wir naturgemäß beteiligt sein müssen —, so leisten wir damit nach unserer festen Überzeugung der Sache des Friedens einen sehr viel besseren Dienst als unsere Kritiker und Gegner.
Das törichte Argument, daß konventionelle Waffen im Atomkrieg keinen Sinn mehr hätten, sollte nach allem endlich aus der Diskussion verschwinden.
Die Schweden und die Schweizer wissen genau, warum sie einen so großen Teil ihres nationalen Budgets an die Unterhaltung eines kostspieligen konventionellen Rüstungsapparates wenden. Wenn wir zu einer solchen Verteidigung des Kontinents beitragen wollen, dann genügt eben ein Freiwilligenheer — ich wiederhole es — nicht, weil es an der notwendigen Reservenbildung mangelt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben uns lange genug vorgeworfen, daß diese unsere Politik der Mitwirkung an der Verteidigung des Kontinents die Lösung des deutschen Problems, die Wiedervereinigung, erschwere. Wir weichen Ihnen nicht aus. Sie haben uns sogar unterstellt, wir hätten behauptet, diese Politik würde uns im raschen Zuge zur Wiedervereinigung führen. Wir haben das nie behauptet. Was wir gesagt haben, ist dies: Es gibt keine Wiedervereinigung in Freiheit ohne unsere Politik der Sicherheit.
Wer sagt, daß in diesem geschichtlichen Augenblick eine Zustimmung der Sowjetrussen zu der Wiedervereinigung in Freiheit nicht zu erwarten sei, wenn das wiedervereinigte Deutschland einem westlichen Verteidigungssystem angehören werde oder wenn man es vor der Wiedervereinigung offenlasse, wohin sich ein wiedervereinigtes Deutschland schlage, hat vielleicht recht. Aber, meine Damen und Herren, das ist ja gar nicht die Frage! Die Sowjetrussen haben zwar immer den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und die militärische Bündnislosigkeit eines wiedervereinigten Deutschland gefordert, aber — ich wiederhole es — sie haben dafür niemals die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit angeboten!
Die Bedingungen, die Sowjetrußland für eine Wiedervereinigung Deutschlands stellt oder vorschützt — denn nach den Äußerungen des Herrn Chruschtschow müssen wir das hinzufügen: oder vorschützt —, sind Ihnen allen bekannt. Ich habe sie genannt: ein neutralisiertes und waffenloses Deutschland, die endgültige und unabänderliche Beibehaltung der sogenannten sozialen demokratischen Errungenschaften in der sogenannten DDR, gesellschaftlicher und politischer Strukturwandel in der Bundesrepublik und schließlich: keine freien Wahlen, sondern jene „nicht mechanische Lösung" des Herrn Molotow. Selbst dafür erklärt Herr Chruschtschow, daß ihm die Deutschen, die er in der Hand hat, lieber seien als ein neutrales waffenloses wiedervereinigtes Deutschland. Vielleicht ist die Interpretation, die man den Äußerungen des Herrn Chruschtschow gegeben hat, zulässig, nämlich daß er gesagt habe, die Millionen drüben in der Hand seien ihm lieber als ein wiedervereinigtes Deutschland von 70 Millionen, selbst wenn es neutralisiert und waffenlos sei, wenn er davon ausgeht, daß dieses wiedervereinigte Deutschland, das wiedervereinigte deutsche Volk gegen Sowjetrußland eingestellt sei. Aber selbst der schlimmste Kritiker kann unserer Politik nicht vorwerfen, daß sie dieses Ziel erstrebt.
— Gewiß, man kann einen solchen Ausdruck einmal gebrauchen, wenn man die beiden sich — und hier ist es vielleicht richtig zu sagen — fast tödlich gegenüberstehenden, total und radikal verschiedenen politischen Wert- und Ordnungssysteme darunter versteht.
Wir wissen genau zu unterscheiden zwischen der Herausforderung der Sowjetrussen zur Weltrevolution und Sowjetrußland als einer politischen Macht, die auch mit den realen Gegebenheiten dieser Welt zu rechnen hat. Und erst recht genau wissen wir zu unterscheiden zwischen dem kommunistischen System und dem russischen Volk, dem wir keinerlei feindliche Gefühle entgegenbringen.
Die Sowjetunion ist Tag um Tag hinter uns her mit ihrer Propaganda, um die deutsche Unruhe und
Ungeduld in Sachen Wiedervereinigung zu steigern und anzufachen.
Nichts leitet mehr Wasser auf die Mühlen dieser Moskauer Politik, als wenn wir uns tatsächlich in diese Unruhe und Ungeduld oder gar in eine Hysterie hineinsteigern lassen, in eine hektische Betriebsamkeit,
in eine abstrakte Streiterei, in das Verlangen nach Initiative um jeden Preis und nach Gesten, die eine solide Politik ersetzen sollen.
Gelänge den Sowjetrussen dieses Spiel wirklich, — —
— Ja, es ist eine lange Zeit. Aber daß es eine so lange Zeit dauert, das ist nicht unsere Schuld. Wenn Sie die politische Verantwortung in diesen Jahren gehabt hätten, meine Damen und Herren, dann hätten Sie zwar vielleicht unsere Sicherheit verspielt,
die Wiedervereinigung aber nicht gewonnen.
— Ich bitte um Ihren Schutz, Herr Präsident!
Einen Augenblick! — Herr Kollege Wehner, was haben Sie gesagt?
Wer ist ein Verleumder? Der Redner? — Herr Abgeordneter Wehner, ich rufe Sie zur Ordnung.
Meine Damen und Herren, ich habe folgenden Satz gesagt — ich wiederhole diesen Satz, weil ich dazu herausgefordert wurde —: Wenn die Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren die politische Verantwortung in Deutschland gehabt hätte, dann hätte sie vielleicht unsere Sicherheit verspielt, aber die Wiedervereinigung nicht errungen.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Erler. — Ich höre immer „Lügner".
Meine Herren, haben Sie gerufen: „Verleumder!"? Das ist eine persönliche Beleidigung; das steht unter Ordnungsstrafe.
Unsere These ist — —
Unsere These ist immer die gewesen,
daß die von uns eingeschlagene Politik — —
Diese These ist in all den Jahren von uns ununterbrochen aufrechterhalten worden. Sie haben sie bestritten, was Ihr gutes Recht ist, aber nicht mehr.
Sie können bestreiten, daß unsere Politik die nötigen Sicherheitsgarantien schafft. Wir können Ihnen sagen, daß nach unserer Auffassung Ihre Politik, die Sie in den vergangenen Jahren betrieben haben, diese Sicherheit vernachlässigt. Das ist eben die Wahrheit —
und in diesem Saal ist unter meinen politischen Freunden nicht ein einziger, der diese Feststellung nicht unterschreiben würde.
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat in unverdrossener Bemühung das Problem der Wiedervereinigung verfolgt.
Herr Abgeordneter Majonica, beruhigen Sie sich!
Sehen Sie, meine Damen und Herren: kaum habe ich diesen Satz ausgesprochen und gesagt, daß die Bundesregierung in unverdrossener Bemühung einige Jahre das Problem der Wiedervereinigung verfolgt hat, da kommen von drüben die Zurufe: „verhindert!" D a s ist aber in den Augen der Sozialdemokratie keine Verleumdung!
Die Bundesregierung hat sich als erstes die Hände frei gemacht für eine selbständige Außenpolitik. Sie erreichte die freiwillige Verpflichtung der westlichen Vertragspartner und aller Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft zu einer gemeinsamen Politik der Wiedervereinigung. Sie warb darüber hinaus in aller Welt um Verständnis und Sympathie für die deutsche Frage.
Sie allein — der Außenminister hat es schon betont — wurde als Vertreterin der deutschen Interessen anerkannt, und niemand außerhalb des kommunistischen Bereichs hat die sogenannte Deutsche Demokratische Republik anerkannt.
Auch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Sowjetrußland diente dann auch dem Ziel: der Wiedervereinigung. Daß über sie ebensowenig wie über die Berliner und die Genfer Konferenzen der vergangenen Jahre Erfolge erzielt wurden, lag nicht an uns und an unseren Verbündeten, sondern an der starren Haltung der Sowjetunion,
die sich in demselben Augenblick in neue Bedingungen und Vorwände flüchtete,
als ihr vom Westen wirksame Garantien für den Fall der deutschen Wiedervereinigung angeboten wurden.
Nun hat der Bundeskanzler die Absicht der Regierung angekündigt, die deutsche Frage vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen zu bringen. Wir wissen, daß die Vereinten Nationen keine Entscheidung in dieser Frage erzwingen können. Aber es wundert uns doch sehr — ich schließe mich der Kritik des Außenministers an —, daß gerade aus den Reihen der Opposition an diesem Plan Kritik geübt wird, indem darauf hingewiesen wird, wir überließen dann die Behandlung unserer nationalen Anliegen Fremden. Als ob es nicht darauf ankäme, möglichst viele dieser „Fremden" mit den großen nationalen Anliegen der Deutschen zu befassen!
Es ist selbstverständlich, daß die Bundesregierung auch weiterhin versuchen wird, das deutsche Problem als eine mit der allgemeinen Entspannung unlöslich verbundene Frage zu behandeln. Man sollte sie nicht, wie es auch von seiten der Opposition geschehen ist, deswegen tadeln.
Der Außenminister hat auf die Bedeutung des deutschen Memorandums zur Frage der Wiedervereinigung nachdrücklich hingewiesen. Die dort gemachten Vorschläge kommen dem sowjetrussischen Interesse sehr weit entgegen, viel weiter, als die meisten wahrhaben wollen: Gewaltverzicht, verdünnte Zone, die Versicherung des ernsten Willens, den Sicherheitswünschen der Sowjetunion soweit wie irgend möglich Rechnung zu tragen, ein auf der Basis realer Sicherheit aufgebautes europäisches Sicherheitssystem, keine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts durch die Wiedervereinigung und eine kontrollierte und gleichgewichtige Abrüstung —, das alles sind doch keine leeren Worte und keine Bagatellen! Aber die Sowjetunion hat in ihrer Antwortnote wenig Entgegenkommen gezeigt. Immerhin ist das Gespräch im Gange, und eine Antwort der Bundesregierung auf die letzte Note der Sowjetrussen wird vorbereitet.
Übrigens, wie leicht hätten es die Sowjetrussen, durch die Zustimmung zu einer wirksamen Abrüstungskontrolle sich und die Welt mit einem einzigen Schlag von quälenden Problemen zu befreien!
Denn dann könnten wirklich die Atombomben vernichtet und die Soldaten nach Hause geschickt werden. Dann gäbe es auch kein Problem der Sicherheitsgarantien für sie und uns mehr, und jeder militärische Vorwand gegen eine deutsche Wiedervereinigung fiele dahin. Warum verweigern die Sowjetrussen eine derartige Kontrolle? Bangen sie vielleicht um den Erfolg der Weltrevolution, oder fürchten sie nur den Zusammenbruch ihrer Herrschaft im Satellitenreich, weil sie dann nicht mehr über eine gewaltige Streitmacht verfügen?
Oder sollte nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, die Überlegung eine Rolle spielen, daß der gegenwärtige Stand der Verteidigungsanstrengungen des Westens eine derartige kontrollierte Abrüstung gar nicht lohne?
Manche Kritiker meinen, aus den Ereignissen um Ägypten, in Ungarn und in Polen neue Argumente gegen unsere Außenpolitik ziehen zu können. Herr Kollege Erler meinte jüngst, die Blöcke schmölzen dahin; der Sowjetblock habe in Ungarn und Polen eine Schwächung erlebt; die Schwächung des Atlantikpakts aber sei auch offenbar geworden. Darum — so meinte er etwas sibyllinisch — müßten wir die Stunde nützen und neue Wege beschreiten. Leicht gesagt, Herr Kollege Erler! Welches sind die neuen Wege? Ist der Sowjetblock wirklich geschwächt, oder ist durch die Krise nur seine Schwäche, die immer vorhanden war, offenbar geworden? Haben Sie früher wirklich im Ernst damit gerechnet, daß die unterdrückten Völker des Satellitenraumes sich im Krisenfall auf die Seite ihres Unterdrückers schlagen würden?
— Ich weiß, Herr Erler, was Sie sagen wollen. Das ist gelegentlich geschehen, verständlicherweise geschehen.
— Meine Ansicht ist es niemals gewesen. Aber das
ändert an der Feststellung nichts. Was heißt denn,
daß der östliche Block dahinschmelze? Ist für die-
sen Block der Satellitenraum wirklich etwas Entscheidendes und Wesentliches? Das ungeheure Reich Sowjetrußlands und China an seiner Seite, das heute die westlichen Grenzen des Machtraumes der Sowjetunion garantiert, sind doch der Bestandteil dieses Blocks, und ich kann keine Anzeichen sehen, daß dieser Block dahinschmölze.
Es gibt kühne Propheten, die behaupten, daß die Ereignisse in Ungarn und Polen der Anfang des Endes der Sowjetmacht darstellten. Es wäre schlimm, wenn wir unsere Politik auf eine solche These, eine solche Vermutung stützten. Niemand von uns vermag zu sagen, wie die Entwicklung in diesen beiden Ländern weitergehen wird. Es ist durchaus möglich, daß wir neue Überraschungen erleben. Sie können angenehm, sie können auch sehr unerfreulich sein. Wir können leider nicht viel mehr tun als zuwarten und unsere Augen offenhalten.
Aber merkwürdig berührt uns Ihre kaum verhüllte Genugtuung
über die im vergangenen Jahr deutlich gewordene Schwäche des Atlantikpakts.
— Nein, ich sage „kaum verhüllte".
Was kann der Westen, Herr Wehner, denn Klügeres tun, als seine Einigkeit gerade jetzt in jeder Beziehung zu stärken, seine Einigkeit, die er sich lange genug durch eine wohlkalkulierte und einfallsreiche Politik der Nachfolger Stalins schwächen ließ?
Ein Wort zu Ihnen, Herr Kollege Mellies. Ich hätte es heute vielleicht nicht gesagt, aber nach den Vorfällen, die sich in diesem Hause ereignet haben,
muß ich es sagen. — Ich habe nur auf den Einwand geantwortet, wir hätten acht Jahre lang gebraucht und die Wiedervereinigung noch nicht herbeigeführt.
— Bitte schön.
Darf ich fragen, Herr Kollege Kiesinger, ob das, was Sie über den Kollegen Mellies zu sagen angeblich nicht die Absicht hatten, nicht doch schon in Ihrem Manuskript stand?
Herr Erler, wenn Sie mein Manuskript nachlesen und es mit dem vergleichen, was ich gesagt habe, werden Sie sehr erhebliche Unterschiede finden; denn ich bin schließlich einer in diesem Hause, der es liebt, frei zu sprechen, und der ein Manuskript lediglich als Unterlage für die freie Rede benutzt.
Das kann man nicht von allen Kollegen dieses Hauses sagen.
Also ich muß es bringen; denn zwischen uns sei Klarheit. Der Herr Kollege Mellies hat laut dpa am 23. November 1956 folgendes gesagt:
Wer jetzt glaubt, weiter eine Politik der brüchig gewordenen Militärpakte treiben zu können, ist der wahre Frevler an der Sicherheit des deutschen Volkes.
Ich habe eine ganz sachliche Formel gebraucht, nämlich die, daß eine falsche Politik die Sicherheit vielleicht verspielt hätte.
Darüber ein Gebrüll des Protestes. Uns wirft man
Frevel an der Sicherheit des deutschen Volkes vor.
Wir sollen das schlucken.
Herr Mellies, einen solchen unglaublichen Satz werden Sie nicht stehen lassen dürfen, ohne daß wir von Ihnen eine Begründung fordern. Verteidigen Sie ihn hier von dieser Tribüne, vor diesem Haus, vor allem Volk!
Ich habe Verständnis dafür, daß mancher um die Einheit unseres Volkes tief besorgte Deutsche abwägt, was wir wohl an Unsicherheit und Gefahr für die Freiheit aller Deutschen wagen könnten und wagen müßten, um die Wiedervereinigung zu erlangen. Glaubt jemand ernstlich, daß wir dieses Problem nicht tausendmal durchdacht haben?
Wir sind, wie ein Blick auf das Memorandum zeigt, in dieser Richtung weit gegangen. Aber da nun die Dinge auf den Kopf zu stellen und zu behaupten, dieses geheimnisvolle kollektive System schenke dem deutschen Volk nicht nur eine vielleicht leichtere Lösung der Wiedervereinigung — wir haben diese These immer für falsch gehalten —, sondern überdies noch Sicherheit — wo es doch im besten Falle ein lebensgefährliches Wagnis unserer Freiheit sein könnte —, das ist allerdings eine Argumentation, die nicht mehr zu überbieten ist.
Nicht „UNO statt NATO" heißt die Parole — wie Sie sie uns empfehlen wollen —, sondern sie heißt „UNO und NATO", kollektives Sicherheitssystem u n d Sicherheit.
Die UNO hat gewiß große Verdienste, und niemand denkt daran, sie zu schmälern; der Außenminister hat sie gewürdigt. Aber die Wahrheit ist doch, daß sie auch in Korea nur formal beteiligt
war, daß aber in Wirklichkeit nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika die bewegende Kraft dort waren und daß der Einsatz ihres Gutes und Blutes den Süden der Halbinsel vor der roten Flut rettete.
Genauso spielten die Vereinigten Staaten in Ägypten die entscheidende Rolle.
Und nun gar Ungarn! Ich habe wieder ein Zitat. Ich bin gar nicht so reichlich damit versehen; aber dieses eine kann ich mir nicht versagen, da es die Verworrenheit Ihrer Politik bezeichnet. Der SPD-Pressedienst schreibt laut dpa vom 26. November — ich bitte den Herrn Präsidenten, die paar Sätze verlesen zu dürfen —.
Der opferreiche Kampf des ungarischen Volkes wird als leuchtendes Fanal eines unbesiegbaren Freiheitswillens in die Geschichte eingehen, ist aber doch gleichzeitig ein überzeugender Beweis für die Erfolglosigkeit einer Politik der Stärke als eines Mittels, den Sowjets gegenüber vollendete Tatsachen zu schaffen. Dies noch immer nicht erkannt zu haben, ist die Ursache für die fehlgeleitete Bonner Ostpolitik.
Wer war denn für die Krise in Ungarn zuständig? Nicht die NATO, sondern die Vereinten Nationen waren für diese Krise zuständig, in der eines ihrer Mitglieder das andere angriff. Warum haben die Vereinten Nationen dabei versagen müssen? Nicht, weil sie zu stark, sondern weil sie zu schwach sind,
weil der Angreifer, ihr gewaltig gerüstetes Mitglied, sich jede Einmischung verbat.
Den Ereignissen stand die UNO völlig machtlos gegenüber. Die NATO konnte nicht an eine kriegerische Intervention in diesem Konflikt zugunsten des Freiheitskampfes des ungarischen Volkes denken, denn — ich wiederhole es — sie wurde ja nicht für den Angriff, sie wurde nicht einmal für die Rückeroberung der Freiheit der unterworfenen Völker geschaffen, sondern sie soll den letzten an den äußersten Rand des eurasischen Kontinents gedrängten Rest des freien Europas davor schützen, das gleiche Schicksal wie Ungarn zu erleiden.
Eine andere Lehre aus diesen Ereignissen! Wo gegensätzliche Mächte in einem kollektiven Sicherheitssystem Ihrer Prägung — Völkerbund, UNO — zusammengespannt sind, läßt sich wohl manches ausgleichen und glätten. Aber die wirklichen Probleme werden durch ein solches System nicht gelöst, die großen Gegensätze nicht beseitigt. Die Sicherheit der Mitglieder eines solchen Systems beruht nach wie vor auf ihrer eigenen Verteidigungskraft und der Verteidigungskraft derjenigen, auf die sie als ihre Verbündeten zählen können. Das gilt jedenfalls, solange auf dieser Welt eine kontrollierte Abrüstung — die die Sowjetrussen verweigern — nicht durchgeführt ist. Wenn man wirklich den Frieden in dieser Welt sichern will. dann muß man anders vorgehen. Dann muß man entweder eine totale — und zwar eine kontrollierte — Abrüstung erzielen, und daran sollte man arbeiten. Oder aber man muß ein Gleichgewicht der politischen und der militärischen Kräfte herstellen, das die möglichen Gegner in Schach hält.
Hier ist allerdings eine wesentliche Einschränkung bei einer Ihrer Thesen, Herr Kollege Ollenhauer, zu machen: daß ein solches Gleichgewichtssystem problematisch wird, wenn eine Weltmacht ersten Ranges zugleich das Ziel verfolgt, in der ganzen Welt ihr eigenes politisches und gesellschaftliches System durchzusetzen.
Die UNO kann in manchen Dingen helfen; aber sie allein ist ganz gewiß kein verläßliches Mittel zur Sicherung des Friedens. Nicht sie — ich wiederhole —, sondern die NATO hat dem weiteren Vordringen des Kommunismus Einhalt geboten. Darum also: Festhalten an beiden Institutionen, darum also: Stärkung beider Institutionen!
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Wir haben die Schlagworte und Beschwörungsformeln und die schrecklichen Vereinfachungen in unseren Auseinandersetzungen satt.
Zu keiner Zeit mehr als jetzt galt es, mit unverdrossener Geduld und Ruhe die großen Probleme; die vor uns stehen: der Erhaltung des Friedens, der Sicherheit unserer Freiheit, der Wiedervereinigung, der Garantie des Heimatrechtes unserer aus dem Osten Vertriebenen, auf das wir nie verzichten werden,
der Lösung entgegenzuführen.
Die Erfolge dieser unserer Politik sind vom Außenminister dargelegt worden. Sie liegen vor aller Augen. Daß wir in der deutschen Frage die feierliche Verpflichtung aller Mitglieder des atlantischen Pakts zur Mitwirkung bei einer Wiedervereinigung in Frieden und in Freiheit und weiter die Sympathie und moralische Unterstützung der übrigen freien Welt erreicht haben, ist viel mehr, als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wahrhaben wollen. Mit Recht hat der Außenminister darauf hingewiesen, daß die ganze freie Welt nur uns als die Vertreterin der deutschen Interessen anerkennt, und wir werden nicht aufhören, diese politische, rechtliche und moralische Unterstützung in unserer Wiedervereinigungspolitik auszuwerten. Wir werden nicht aufhören — und das ist unser Weg —, an einer Besserung der Weltsituation, einer realen — nicht utopischen — Entspannung mitzuarbeiten, an der Beseitigung jener Voraussetzungen, die den Westen zur Gründung der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft und uns zum Eintritt in sie gezwungen haben. Wir bieten Sowjetrußland als Krönung dieses Bemühens nicht nur ein ausgeklügeltes Paktsystem — das auch nötig und schließlich auch von Nutzen sein mag —, wir bieten ihm unseren redlichen guten Willen zur Herbeiführung eines Verhältnisses friedlicher, ehrlicher und guter Nachbarschaft.
Die Sitzung wird bis 14 Uhr 20 unterbrochen.
Die Sitzung wird um 14 Uhr 21 Minuten durch
den Vizepräsidenten Dr. Schneider wieder eröffnet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort. Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Ollenhauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen eine protokollarische Bemerkung machen. Denn entgegen der Gepflogenheit in diesem Parlament
seit 1949, nach einer Regierungserklärung zuerst den Sprecher der Opposition zu Wort kommen zu lassen, hat die CDU/CSU-Fraktion diesmal darauf bestanden, daß ihr Sprecher an erster Stelle das Wort erhält. Die CDU/CSU-Fraktion hat damit eine gesunde und bedeutsame Tradition der parlamentarischen Demokratie ihren parteitaktischen Erwägungen geopfert.
Ich stelle das fest, nicht aus persönlichen Gründen; aber es kommt mir darauf an, die kleinliche Haltung der größten Fraktion dieses Hauses ausdrücklich festzuhalten.
Es wäre gerade nach der Rede des Herrn Kollegen Kiesinger auch von der Sache her zweckmäßiger gewesen, nach der Erklärung des Herrn Bundesaußenministers zunächst einmal den Standpunkt der sozialdemokratischen Opposition zu hören. Denn dann hätte sich Herr Kiesinger eine ganze Reihe von Fragen sparen können.
Aber im Grunde geht es gar nicht darum. Denn diese Debatte ist ja von der CDU nicht gewünscht worden, um hier im Plenum des Bundestages in einer sehr bedeutsamen internationalen Situation eine sachliche Auseinandersetzung über den besten Weg der Außenpolitik der Bundesregierung herbeizuführen. Ihr Ziel war nach den Erklärungen, die sie in den letzten Tagen immer wieder auch in der Presse bekanntgegeben hat, diese Gelegenheit zu benutzen, um eine Wahlkundgebung der CDU im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zu veranstalten.
— Meine Damen und Herren, Sie nehmen doch nicht an, daß wir jetzt von unserer Seite einfach auf Moll spielen, nachdem Sie hier stundenlang alles, was Sie glaubten gegen die SPD vorbringen zu können, vorgebracht haben.
Ich will schon jetzt noch etwas sagen. Morgen werden wir vor allem in Ihrer Presse wieder sehr trübsinnige Betrachtungen darüber finden, daß das deutsche Bundesparlament eine außenpolitische Debatte in dieser Atmosphäre geführt hat. Ich stelle dazu fest: Sie von der CDU haben mit Ihrem
Herrn Außenminister und mit Ihrem Sprecher heute morgen fast vier Stunden allein dieses Haus beherrscht. Ton und Niveau dieser Debatte sind von Ihnen bestimmt worden.
Wie Sie das gegenüber dem deutschen Volk verantworten wollen, ist Ihre Angelegenheit.
— Ja, es ist Ihre Angelegenheit. Wir werden darüber später noch zu reden haben.
Wir haben diesem Vorschlag der außenpolitischen Debatte im Zusammenhang mit den Anträgen über Berlin nicht widersprochen, weil wir glaubten, es liege ein sachliches Interesse vor, einmal durch eine zusammenfassende Darstellung der Bundesregierung Klarheit darüber zu bekommen, was denn heute überhaupt die Außenpolitik der Bundesregierung ist. Das war notwendig nach den verschiedenen und oft sich widersprechenden Erklärungen vor allen Dingen des Herrn Bundeskanzlers in der letzten Zeit. Ich muß allerdings sagen, soweit es darum ging — und das war die wirkliche Aufgabe der Diskussion heute —, einmal festzustellen, welche Vorstellungen unsere Regierung in bezug auf die Schlußfolgerungen hat, die aus der jetzt gegebenen internationalen Situation für die Außenpolitik der Bundesrepublik zu ziehen sind, sind wir durch diese Regierungserklärung in keiner Weise vorangekommen.
Ich will auf den „Rechenschaftsbericht" des Herrn Außenministers nicht in allen Einzelheiten eingehen.
— Na, also sicher nicht aus Furcht vor Ihnen!
Soweit es sich dabei um aktuelle Fragen handelt, werde ich das, was ich für nötig halte, sagen.
Der Herr Bundesaußenminister hat zu Beginn seiner Erklärung die Tatsache verzeichnet, daß wir mit Beginn dieses Jahres hier im Bundestag auch die Abgeordneten des Saargebiets als vollberechtigte Mitglieder des Bundestages begrüßen können, nachdem das Saargebiet ein Teil der Bundesrepublik geworden ist, und er hat diesen Erfolg in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands als einen Erfolg der Außenpolitik der Bundesregierung verbucht.
Selbstverständlich muß ein solches Ereignis verbucht werden, aber in bezug auf die Regierung
nicht auf der Kredit-, sondern auf der Debetseite.
Denn wenn wir heute zu unserer gemeinsamen Freude die Vertreter des Saargebiets als Mitglieder dieses Hauses in unserer Mitte sehen, dann ist dieses Resultat entgegen der Politik der Bundesregierung erreicht worden.
Wenn die Bevölkerung an der Saar z. B. der Bochumer Erklärung des Herrn Bundeskanzlers zwei Tage vor der Abstimmung an der Saar gefolgt wäre, wäre die Eingliederung des Saargebietes am Ende des vergangenen Jahres nicht zustande gekommen.
Erst die Ablehnung des vom Herrn Bundeskanzler und von der Regierung und der Koalition zur Annahme empfohlenen Statuts durch die Bevölkerung an der Saar hat doch die Voraussetzung dafür geschaffen, daß sich die Regierung entschließen mußte — —
— Die Ablehnung an der Saar ist jedenfalls gegen Ihre Propaganda und Ihre ausdrücklichen Willenskundgebungen zustande gekommen.
Jedenfalls schaffen Sie die Tatsache nicht aus der Welt, daß dieser erste Erfolg, der einzige konkrete Erfolg in der Wiedervereinigung gegen den Willen und die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung zustande gekommen ist.
— Meine Damen und Herren, daß das für Sie ein wunder Punkt ist, verstehe ich.
Wir brauchen die Sache nicht zu vertiefen.
Wir werden ja in Ruhe abwarten können, um zu erfahren, welche Auffassung die Menschen draußen im Lande von der wirklichen, entscheidenden Bedeutung der Haltung der Regierung in dieser Frage haben. Damit möchte ich dieses Kapitel verlassen.
Ich möchte jetzt einiges über die außenpolitischen Vorstellungen sagen, die die Regierung heute hier entwickelt hat und die der Herr Kollege Kiesinger in einer Mischung von sachlichen Argumenten und Wahlpropaganda noch zu unterstreichen versucht hat. Wir sind jedenfalls der Meinung, daß das, was Sie als Regierungsprogramm, als Regierungsvorstellung für die nächste Zeit haben, den Aufgaben nicht gerecht wird, vor die die Bundesrepublik gestellt wird, vor allem wenn wir daran festhalten, daß das vordringlichste Ziel jeder Außenpolitik der Bundesrepublik die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sein muß.
— Meine Damen und Herren, ich weiß und es ist ja bekannt, daß Sie verabredet haben, mit solchen Fragen die SPD in Schwierigkeiten zu bringen.
— Natürlich, natürlich! Daß Sie das nicht zugeben, verstehe ich. Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie das, bringen Sie hier nicht die Frage „Und in Freiheit" auf. Denn Sie alle in diesem Saale wissen, daß es in der sozialdemokratischen
Fraktion niemand gibt, der mit dem Begriff „Einheit" nicht den Begriff „Freiheit" verbindet.
Darum geht es überhaupt nicht; es geht um etwas anderes. Es geht einfach darum, daß wir eine Untersuchung anzustellen haben: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der internationalen Situation, die durch die Ereignisse im Oktober und November 1956 eine wesentliche Änderung erfahren hat? Denn diese Ereignisse, deren lokale oder, wenn Sie wollen, nationale Bedeutung ich gar nicht in erster Linie untersuchen will, haben Rückwirkungen auf die internationale Situation gehabt und haben solche heute noch, deren Tragweite noch gar nicht völlig zu übersehen ist, und zwar auf beiden Seiten der Machtkonstellation in der Welt. Ich meine mit diesen Ereignissen die einseitige, eigenmächtige militärische Intervention Frankreichs und Englands am Sueskanal und die Vorgänge in Polen und in Ungarn, wobei die Ereignisse in Ungarn selbstverständlich von besonderer dramatischer Wucht sind, denn einerseits gaben sie das leuchtende Beispiel des Freiheitskampfes des ungarischen Volkes, und andererseits wurden sie beherrscht von der brutalen militärischen Intervention der Sowjetunion.
Beide Ereignisse haben aber eine historische Bedeutung in der Nachkriegsentwicklung; sie werden auch national ihre fortdauernde Wirkung haben. Ich glaube, wir sind alle davon überzeugt, daß die Opfer, die das ungarische Volk im Kampf um seine Freiheit gebracht hat, nicht umsonst gewesen sein werden. Zum andern sind wir wohl auch alle darin einig, daß trotz der massiven, brutalen militärischen Intervention der Sowjetunion die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten noch nicht abgeschlossen ist, soweit ihre innere, eigene staatliche Ordnung in Frage kommt oder soweit es sich um ein größeres Maß von nationaler Unabhängigkeit handelt.
Die Frage, vor der wir stehen, ist: Welche Auswirkungen werden diese Ereignisse vom Herbst 1956 auf die bisherigen Vorstellungen der beiden entscheidenden Mächtegruppen haben, die den Frieden in der Welt zu erhalten und ein Höchstmaß von Sicherheit durch eine Politik der miltärischen Blockbildung zu erreichen suchten?
Herr Kiesinger hat diese Darstellung der Situation kritisiert. Er hat gemeint, das sei eine unzulässige Vereinfachung, und hat lang und breit auseinandergesetzt, man dürfe doch nicht vergessen, was z. B. der Bildung des Nordatlantikpakts an aggressiven Handlungen auf der russichen Seite bis zurück zum Jahre 1945 vorangegangen sei. Meine Damen und Herren, das ist überhaupt keine Frage; darum handelt es sich hier in diesem Zusammenhang gar nicht. Denn — bitte, Herr Kiesinger — folgendes ist doch zu sagen: Sie können ja, wenn Sie eine solche Beurteilung der Situation wünschen, auch nicht immer gerade mit dem Datum, in der Geschichte der Nachkriegszeit anfangen, das in Ihre Konzeption paßt!
Wenn wir den Dingen auf den Grund gehen, Herr Kiesinger, und uns fragen, wie es so kam, daß die Lage in der Welt so ist, müssen wir noch viel weiter zurückgehen.
Dann beginnt es zunächst einmal, was wir doch nicht vergessen sollten, bei der verbrecherischen Politik des Hitlerregimes, die uns in den Krieg gebracht hat.
— Wenn wir schon in die Vergangenheit gehen, wollen wir doch nicht gerade an dem Punkt stehenbleiben, den Herr Kollege Kiesinger für richtig hält, weil es in seine Vorstellungswelt paßt.
Zweitens ein anderer Punkt. Sie wissen doch genauso gut, Herr Kollege Kiesinger, wie jeder von uns im Saale, daß ursprünglich die Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und den Westmächten auf der Basis des Potsdamer Abkommens erfolgt ist — einschließlich der Spaltung Deutschlands!
Damit ist nicht das geringste zur Verteidigung oder zur Erklärung der sowjetischen Gewaltpolitik in ihrem Machtbereich gesagt. Aber, meine Damen und Herren, wenn Herr Kiesinger hier sagt: Wie wäre es vielleicht in Europa heute, wenn wir die NATO schon im Jahre 1947 gehabt hätten?, — das klingt sehr schön und steht mit allen Realitäten der Politik im Widerspruch.
Denn damals noch, Herr Kollege Kiesinger, haben uns Sozialdemokraten, als wir die Gewaltpolitik der Sowjets in Ostberlin und in der Zone kritisierten, bedeutsame Alliierte des Westens erklärt, wir sollten in dieser Kritik etwas zurückhaltender sein, denn schließlich sei die Sowjetunion der Verbündete der westlichen Alliierten.
Ich mache daraus niemandem, vor allem nicht den westlichen Alliierten einen Vorwurf.
Aber, Herr Kollege Kiesinger, jetzt zu sagen: Das ganze Problem der sogenannten Blockbildung ist damit gelöst, daß wir ja hier im Westen nichts anderes getan haben, als auf eine •Gewaltpolitik der Sowjetunion zu reagieren, und dann weiter die Schlußfolgerung zu ziehen: Da diese Gefahr immer noch besteht, sind keine Möglichkeiten für eine Änderung in der internationalen Politik gegeben, —
das ist eben nicht richtig.
Ich untersuche hier nicht die Schuldfrage. Wenn ich sie untersuchte, käme ich wahrscheinlich mit dem Kollegen Kiesinger zu einem großen Maß von Übereinstimmung in der Feststellung, daß die Verantwortung für die Zuspitzung in der Weltsituation in ungleich höherem Maße in der aggressiven Politik der Sowjets in der Stalinära liegt. Kein Wort brauche ich davon abzuschreiben. Aber die Lage seit der Bildung der NATO und so, wie sie im Herbst vorigen Jahres bestand, ist doch die, daß, aus welchen historischen Ursachen immer, die beiden entscheidenden Mächte der Welt sich entschlossen haben, ihre Interessensphären und ihre Sicherheiten dadurch zu gewährleisten, daß sie die Organisation der militärischen Blockbildung im
Warschauer Pakt und in der NATO geschaffen haben.
Das Problem, ob NATO nicht notwendig war, ob es nicht eine unvermeidliche Gegenwehr war, steht in diesem Augenblick hier nicht zur Debatte.
— Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie mich das ausführen, weil diese Frage trotz der Rede des Herrn Kollegen Kiesinger Sie in den nächsten Monaten auch noch beschäftigen wird. — Hier steht vielmehr die Frage zur Debatte: Ist diese Vorstellung, die — unter verschiedenen Ausgangspunkten — die beiden Hauptpartner der Weltpolitik gehabt haben, nämlich die Sicherheit der Welt, die Erhaltung ihrer Interessensphäre durch solche militärischen Zusammenschlüsse zu sichern, heute noch von derselben Schlüssigkeit wie etwa im Herbst 1956 vor den Ereignissen in Ägypten und in Ungarn? D a s ist das Problem, und dazu sollen wir Überlegungen anstellen und uns Gedanken machen. Tatsache ist — und es gibt keinen Grund, für niemanden, darüber Genugtuung zu empfinden —, daß z. B. die NATO ihre erste Bewährungsprobe im Herbst vorigen Jahres nicht bestanden hat, und zwar deshalb nicht, weil zwei ihrer wichtigsten Mitglieder eigenmächtig ohne Information und Konsultation ihrer übrigen Vertragspartner einschließlich der Bundesrepublik militärisch gehandelt haben und damit entgegen dem Wortlaut und dem Geist des Vertrages allen ihren Vertragspartnern das Risiko aufgeladen haben, in einen weltweiten Konflikt einbezogen zu werden.
Meine Damen und Herren, das ist ein sehr ernstes Problem, und zwar für uns, für die Demokratie. Denn ein Militärbündnis von freien demokratischen Staaten, wie die NATO es darstellt, kann nur wirksam sein, wenn es begründet ist auf dem vollen Vertrauen aller Partner, daß sie alle ohne Ausnahme rechtzeitig und in vollem Umfang informiert und gehört werden über jede Aktion eines einzelnen oder des Ganzen, die das Ingangsetzen von Verpflichtungen des Ganzen zur Folge haben kann.
Hier, meine Damen und Herren, liegt das Problem. Und täuschen wir uns doch nicht! Die starke Erschütterung, die das Vorgehen Frankreichs und Englands bei allen Völkern der Welt hervorgerufen hat, ist doch ein deutlicher Beweis dafür, welche gefährliche Krise hier bestand. Ich meine jetzt nicht einmal nur die Mitglieder der NATO. Ich denke z. B. an das Erlebnis, das einige von uns aus diesem Hause auf der anderen Seite des Sueskanals gehabt haben.
Es hat kein Ereignis seit 1945 gegeben, das bei den Völkern Asiens, die jetzt ihre Unabhängigkeit entwickeln, eine so schwere Vertrauenskrise gegenüber den Demokratien der westlichen Welt hervorgerufen hat wie der Schritt Englands und Frankreichs am Sueskanal.
Das ist doch ein Problem, über das wir, die wir dazu noch an einem der Brennpunkte der internationalen Spannungen stehen, uns ernsthaft unterhalten müssen, mit der Frage: Was können die Konsequenzen sein? Gewiß, der Ministerrat der NATO hat sich im Dezember ziemlich offenherzig mit dieser Sachebeschäftigt. Aber, meine Damen und Herren, Sie alle wissen: mit dieser Diskussion ist die Krise in NATO, soweit ihre innere Struktur in Frage kommt, nicht überwunden, und es ist die große Frage, ob der alte Zustand wiederhergestellt werden kann. Jedenfalls die Vereinigten Staaten haben sich jede Entscheidung in diesem Punkte ausdrücklich vorbehalten. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite erleben wir, daß, ich möchte sagen: fast durch einen Zufall der Geschichte die Sowjetunion unter ihren Aspekten, mit ihren Vorstellungen und Organisationen in bezug auf Sicherheit eine vielleicht noch schmerzlichere Erfahrung hat machen müssen, als wir hier im Westen. Denn hinter den Ereignissen in Polen und Ungarn steht doch für die Sowjetunion, wenn sie nüchtern ihre Interessen sieht — und das haben die führenden Männer der Sowjetunion immer getan —, die Erkenntnis, daß die Ereignisse in Polen und vor allem in Ungarn klargemacht haben, daß die von der Sowjetunion durch die Schaffung des Warschauer Paktes verfolgte Sicherheitspolitik in Europa zusammengebrochen ist,
weil sich herausgestellt hat, was wir im Grunde immer für wahrscheinlich gehalten haben: daß eine solche Paktpolitik nicht wirksam werden kann, wenn man in ein solches Paktverhältnis an-I) dere Völker mit Gewalt und Unterdrückung zwingt. Dieser Versuch ist gescheitert. Vielleicht wäre — meine Damen und Herren, auch das ist einen Satz wert — die dramatische Bedeutung dieses Ereignisses noch sichtbarer und weittragender gewesen, wenn nicht unglücklicherweise fast gleichzeitig die Intervention Frankreichs und Englands am Sueskanal erfolgt wäre.
Da stehen wir. Das ist die Lage: Wesentliche Erschütterungen in den bisherigen zentralen Vorstellungen ergaben die Frage, wie man in dieser Welt der Spannungen den Frieden erhalten und die beiderseitigen Interessensphären abgrenzen kann.
Es kommt noch ein anderer Umstand hinzu, der ebenfalls fortwirkt, nämlich die Tatsache, daß das Wettrüsten auf beiden Seiten und vor allem die atemberaubende Entwicklung der modernen Massenvernichtungswaffen eine Lage in der Welt geschaffen hat, in der das Risiko immer größer wird, daß ein sogenannter totaler Konflikt in irgendeinem Teil der Welt in einer weltumspannenden Katastrophe für die Menschheit endet.
Wie immer man zu der praktischen Politik hier im einzelnen steht, ich glaube, wir sollten uns doch darüber einig sein, daß dieser Zustand in der internationalen Politik unhaltbar ist, wenn die Völker nicht immer von neuem Gefahr laufen wollen, in das unermeßliche Unglück eines dritten Weltkrieges gerissen zu werden.
Und weiter. Man muß es sagen, ob Freund oder Gegner: Die Erfahrung dieses letzten Herbstes hat gelehrt, daß die Politik der militärischen Blockbildung kein geeignetes Mittel zur Erhaltung der Sicherheit und des Friedens für die Völker ist.
Wir müssen, meine Damen und Herren, neue Wege — —
— Würden Sie so freundlich sein, auf die Antwort .auf die Frage „Wie?" noch einen Augenblick zu warten. Ich bin bereit, sie zu geben. — Es müssen neue Methoden in der internationalen Politik gefunden werden, um .der neuen internationalen Situation gerecht zu werden.
Ich verzichte darauf, hier eine Sammlung von Zitaten aus der weiten Diskussion über diese Frage zu verlesen; ich halte nicht sehr viel von Reden aus dem Zettelkasten; man weiß nicht immer, ob sie wirklich dann zu einer Stärkung der Argumentation beitragen. Aber ich will Ihnen zunächst sagen, was wir Sozialdemokraten denken, heute, unter diesen Umständen, welche allgemeinen Schlußfolgerungen wir — ich meine „wir" sowohl im weiteren Sinne des Westens als auch, ich will es später erläutern, im engeren Sinne der Bundesrepublik — zu ziehen haben. Und da meine ich folgendes.
Erstens. Es wird eine Aufgabe der praktischen Politik der freien Welt sein müssen, die Vereinten Nationen zu stärken, bewußt und planmäßig und mit großen Anstrengungen. Sicher, die Vereinten Nationen haben ihre Schwächen und ihre Unzulänglichkeiten. Aber, Herr Kollege Kiesinger, die Vereinten Nationen haben sich in den kritischen Novembertagen als ein wirksames Instrument der internationalen Politik erwiesen.
— Meine Damen und Herren, ich bin schon zufrieden, wenn Sie bereit sind anzuerkennen, daß wir in den Vereinten Nationen den Ansatz zu einem Instrument zur Lösung internationaler Konflikte haben.
Daß wir alle die Meinung haben, daß dieses Instrument wirksam werden muß gegenüber jedem, der gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen verstößt, — müssen wir darüber reden?
—Ich rede noch gar nicht von Sicherheit — auf Ihr Lieblingsthema komme ich auch noch —; ich rede jetzt zunächst davon, welche allgemeinen Gesichtspunkte wir beachten und welche Schlußfolgerungen wir ziehen sollten. Ich meine, wir können feststellen, daß sich die Vereinten Nationen in den kritischen Novembertagen als ein wirksames Instrument der internationalen Politik erwiesen haben. Es ist zum Waffenstillstand am Sueskanal gekommen, und die Gefahr eines dritten Weltkrieges ist abgewendet worden.
Herr Kollege Kiesinger hat in sehr kritischen Bemerkungen über die Bedeutung der Aktion der Vereinten Nationen gesagt: „Natürlich haben die Vereinigten Staaten von Amerika ihr massives Interesse an der Lokalisierung und Beendigung der Feindseligkeiten am Sueskanal zum Ausdruck ge-
bracht." Einverstanden! Dennoch: es ist ein Glück für uns alle, daß die Durchführung des Waffenstillstands jetzt durch eine Polizeitruppe der Vereinten Nationen gesichert wird.
Diese Tatsache ist doch nicht einfach wegzuleugnen. Und, Herr Kollege Kiesinger, wenn wir schon in dieser Lage über dieses Thema sprechen, ich glaube, dann gehört es zur Klarstellung der damaligen Situation, hinzuzufügen: Wenn es am Sueskanal nicht zum Ausbruch eines weltweiten Konfliktes gekommen ist, dann deshalb, weil beide entscheidenden Großmächte an diesem Punkt, unter diesen Umständen, zu diesem Zeitpunkt eine solche Katastrophe nicht wollten. Wenn wir hier schon über solche Zusammenhänge reden, dann soll man, meine ich, die ganze Wahrheit an Tatsachen ausbreiten,
damit man darüber auf einer vernünftigen Basis diskutieren kann.
Was ich hier sagen will, ist nur folgendes:
Schlußfolgerung Nr. 1 sollte sein eine aktive Anstrengung, die Vereinten Nationen zu stärken, ihre Autorität wirksamer zu machen und unter Umständen auch die Schaffung einer ständigen internationalen Polizeitruppe der Vereinten Nationen ins Auge zu fassen.
Zweitens, glaube ich, sollten wir in der internationalen Ebene alle Bestrebungen sehen, zu einer schrittweisen, international kontrollierten Abrüstung zu kommen. Die Bestrebungen auf diesem Gebiet müssen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert werden, weil es, auch für das Gefühl der Sicherheit der Völker, wesentlich ist, daß ein erster sichtbarer und effektiver Schritt getan wird, um das militärische Gesamtpotential aller Mächte zu reduzieren und ein Kontrollsystem in Gang zu setzen, das die Innehaltung derartiger Abmachungen von Anfang an garantiert.
Als dritte allgemeine Schlußfolgerung möchte ich folgendes sagen: die westliche Welt sollte die Zusammenarbeit zwischen sich und den Völkern Asiens auf der Basis der vollen Partnerschaft und der Anerkennung ihres eigenen Lebensweges sowie ihrer eigenen Lebensvorstellungen viel umfassender und enger gestalten, als es bisher der Fall ist,
und zwar aus einem Grunde. Herr Kollege Kiesinger hat ja diesen Punkt, den ich hier doch nennen möchte, auch erwähnt. Herr Kollege Kiesinger, es geht nicht darum, daß wir hier im Westen, sagen wir, eine dritte Linie der internationalen Politik akzeptieren, wie sie vielleicht dort von dem einen oder anderen der maßgebenden Staatsmänner verkörpert wird. Das ist eine andere Sache; das erfordert eine Untersuchung von Fall zu Fall. Was uns hier allgemein in dieser für den Frieden der Welt gefährlichen Lage interessieren sollte, ist, daß bei aller Eigenart der Entwicklung in diesem Teil der Erde, bei aller Verschiedenartigkeit der Tradition, der Religion und der Vorstellungen dieser Völker über den Aufbau ihrer eigenen Ordnung und vielleicht auch bei aller Unterschiedlichkeit ihrer außenpolitischen Vorstellungen eine Tatsache von großer Bedeutung ist: daß in diesem Teil der
Welt Hunderte von Millionen, die am Anfang der selbständigen Gestaltung ihrer nationalen Existenz stehen, nur ein einziges primäres Interesse haben: den Frieden in der Welt zu erhalten.
Und wenn wir davon reden, daß es in dieser Welt noch aggressive Kräfte gibt, — was liegt denn näher, als daß wir mit denen enger zusammenrücken, für die die Erhaltung des Friedens gleichzeitig die Frage nach dem Gelingen oder Nichtgelingen ihres Aufstiegs zur nationalen Unabhängigkeit und Selbständigkeit ist?!
Hier finde ich, meine Damen und Herren, daß wir auf diesem Gebiete auch im Hinblick auf die Erfahrungen eine größere Anstrengung machen sollten, als es bisher der Fall war.
Und das Vierte, meine Damen und Herren, ist, glaube ich, die Notwendigkeit, eine neue und große Anstrengung zu machen, um die verschiedenen lokalen oder regionalen Spannungsherde der Welt auf friedliche Weise zu beseitigen.
— Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Ich finde nämlich, uns hier sollten der Spannungsherd Europas und das gespaltene Deutschland heute mehr am Herzen liegen als diese Frage.
Die Frage ist doch, welche praktischen Konsequenzen die Bundesrepublik aus den hier aufgezeigten Schlußfolgerungen und Aufgaben ziehen muß. Ich finde, die Regierungserklärung — und ich füge hinzu: auch die Rede des Herrn Kollegen Kiesinger
— hat darauf überhaupt keine Antwort gegeben.
Es ist nicht die Spur — es tut mir leid, das sagen zu müssen — einer Überlegung, wie die Bundesrepublik mit der sich jetzt entwickelnden neuen internationalen Situation fertig werden will und wie wir in diesem Zusammenhang Sicherheit und Einheit des deutschen Volkes zur Geltung bringen wollen. Wir haben hier schon einmal vor gar nicht so langer Zeit, im Juli vorigen Jahres, kurz vor den Parlamentsferien, eine Debatte gehabt. Da ging es um Wehrgesetze, und wir haben damals in unserer Argumentation gegen die Verabschiedung dieser Gesetze von dieser Stelle aus darauf hingewiesen, daß vielleicht etwas Vorsicht und Zurückhaltung zweckmäßig wäre, weil man doch aus Veröffentlichungen und Informationen wisse, daß man sich in Amerika und anderen westlichen Ländern mit anderen Vorstellungen beschäftige, die damals unter dem Begriff der Umrüstung bekanntgeworden sind. Der Herr Bundeskanzler hat seinerzeit alle Hinweise auf diese Entwicklung abgewiesen mit der Erklärung, er wisse von nichts, und darum könne es auch nicht so sein.
Später hat sich herausgestellt: es war doch so, und wir haben ja daraus einige Konsequenzen, spät und unvollkommen, ziehen müssen. Ich würde Ihnen empfehlen, einmal zu überlegen, ob es nicht Zeit ist, diesen Komplex in Ihre außenpolitische Betrachtung einzubeziehen, damit Sie nachher nicht wieder mit einer politischen Spätzündung auf eine
Situation reagieren müssen, die sich heute schon abzeichnet.
Denn mit diesem Festhalten an der alten Konzeption: Sicherheit durch NATO und Politik der Stärke — die ja immer noch hinter diesem Begriff steht — meistern Sie die Situation nicht. Ich finde es absolut unbefriedigend, und es ist keine Antwort auf unsere Fragen, wenn z. B. gesagt wird: „Aber warum diskutieren Sie alle diese Dinge? Im Grunde hat sich doch weder durch die Ereignisse am Sueskanal noch etwa durch die Ereignisse in Ungarn irgend etwas geändert.
Vor allem bei der Sowjetunion sind doch wohl nun alle Illusionen über eine andere Haltung der Sowjetunion endgültig widerlegt worden."
Nun, ich will Ihnen folgendes sagen, und ich bin bereit, zu jeder Zeit vom Herrn Kollegen Kiesinger in der Zukunft auf dieses Zitat festgelegt zu werden, wenn ich mich dann auch nicht in der Gesellschaft des Herrn Bundeskanzlers befinde wie damals in der Abrüstungsfrage.
Ich will Ihnen meine feste Überzeugung sagen: Die Lage in der internationalen Politik ist nicht mehr dieselbe, wie sie im vorigen Jahr gewesen ist.
Weder die eine noch die andere Seite wird zu den Positionen zurückgehen, die sie vor der Herbstkrise 1956 gehabt hat.
Außerdem eine andere Bemerkung, die Sie nicht gern hören, die ich aber trotzdem — zu meinem Leidwesen für Sie — nicht unterdrücken kann! Die Erfahrungen im vergangenen Spätherbst haben wohl auch gezeigt, daß die Mitgliedschaft des geteilten Deutschlands in NATO auf der einen Seite
oder dem Warschauer Pakt
auf der anderen Seite dem deutschen Volke keine effektive Sicherheit zu geben vermag.
Wie sehr dieses Bewußtsein in unserem eigenen Volke lebendig ist, beweist z. B. die Tatsache, daß im November 1956 die Erschütterung und das Gefühl der Unsicherheit und der Gefährdung in keinem Volke so groß gewesen ist wie im Volk in der Bundesrepublik.
Wenn Frieden und Sicherheit mit militärischen Mitteln in der jetzt gegebenen internationalen Situation nicht zu erreichen sind, dann muß doch die Bundesrepublik Anstrengungenmachen, um daran mitzuwirken, einen anderen Weg zu finden.
Wir haben aus unserer eigenen Situation heraus
das größte Interesse, uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich möchte deshalb dazu einiges sagen.
Ich meine nämlich, wenn es darauf ankommt, die lokalen oder regionalen Spannungsfelder und Gefahrenquellen in der internationalen Politik zu beseitigen, dann ist das unser eigenes Problem, weil eben die Spaltung Deutschlands einer der entscheidenden Gefahrenmomente in der internationalen Politik ist. Wir stehen vor folgender Frage, die von vornherein eine Selbstverständlichkeit ist; ich muß sie aber erwähnen, weil sie in der heutigen Erklärung der Regierung sehr kurz weggekommen ist. Die erste Notwendigkeit für eine aktive Politik der Bundesrepublik zur Lösung des Einheits- und Sicherheitsproblems ist, daß wir mit allen vier Mächten, die über das Schicksal Deutschlands zu entscheiden haben, möglichst enge diplomatische Beziehungen unterhalten.
Wir haben die Pflicht, darauf hinzuwirken und in der Richtung aktiv zu werden, daß das nicht nur für die drei Westmächte, sondern auch für die Sowjetunion gilt. Ich bin der Meinung: es ist keine ausreichende Haltung der Bundesregierung, wenn sie den Tatbestand der unbefriedigenden Art unserer Beziehungen feststellt, ohne darüber hinaus selber Vorschläge zu machen, wie man diesen Punkt überwinden kann.
Ich erinnere nur an die Debatten, ob man einen Handelsvertrag abschließen soll oder nicht.
Warum ist es denn möglich, ohne korrekte normale Beziehungen mit der Sowjetregierung alle möglichen Handelsgeschäfte zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu machen, und warum bringt man sie nicht in den Kanal einer legalen Abmachung mit dieser Regierung?
Wie kann man erwarten, daß eine Regierung über andere Lebensfragen der Deutschen spricht, wenn wir nicht mal in diesen ersten Schritten der Normalisierung der Beziehungen eine ernsthafte Anstrengung machen, die Dinge in Ordnung zu bringen?
Ein zweiter Punkt in diesem Zusammenhang! Die Normalisierung der Beziehungen gilt auch für unser Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern. Ich darf daran erinnern, daß ich hier im Auftrag meiner Fraktion im Juni 1956 diese Forderung bereits erhoben habe. Die Regierung hat nichts unternommen, und wir haben nichts vom Herrn Bundesaußenminister darüber gehört, daß sie in der nächsten Zukunft etwas tun will. Was ist das eigentlich für eine Politik?
Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn wir uns heute rückschauend überlegen, wie die Dinge gelaufen wären, wenn die Bundesregierung schon im Sommer vorigen Jahres solche normalen Beziehungen zu Polen und der Tschechoslowakei, dem einen oder anderen Land hergestellt hätte, — wäre das heute in der Situation, in der sich Osteuropa befindet, nicht eine doch bedeutungsvolle aktive Position der deutschen Außenpolitik?
Hier liegt doch einfach die Schwere des Versäumnisses auf der Hand, und die Tatenlosigkeit der Regierung ist doch wieder ein Beispiel dafür, daß sie da, wo sie handeln könnte,
wo sie die Möglichkeit hat, nach dieser Richtung hin eine eigene Aktivität zu entfalten, ebenfalls passiv bleibt ohne Rücksicht darauf, daß eine solche Politik auch ein Beitrag zur Auflockerung der politischen Verhältnisse in Europa sein könnte.
— Verehrter Herr Kollege Kiesinger, Sie wissen doch ganz genau, daß diese Überlegung den Herrn Bundeskanzler in Moskau nicht gehindert hat, die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen, obwohl die DDR lange vor uns da war.
— Meine Damen und Herren, Sie wissen doch so gut wie ich, daß es auch in Moskau Möglichkeiten gegeben hat, den deutschen Standpunkt ,klarzustellen, daß mit der Schaffung solcher diplomatischer Beziehungen keine Präzedenzfälle geschaffen werden. Ich finde 'also, hier sollte man mit diesem Argument nicht kommen. Ich halte es in der Sache nach den Schritten, die Ihre Regierung selbst in der Vergangenheit getan hat, nicht für stichhaltig.
Nun, meine Damen und Herren, das Wesentliche aber ist — und das ist die Frage, von der ich sagen muß, daß in dieser Beziehung beide Erklärungen und Reden geradezu bestürzend gewesen sind —, daß wir nichts über eine Initiative unserer Bundesregierung in bezug auf neue Schritte in der Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit gehört haben,
nicht einmal ein Wort darüber, ob denn die seit langem in der Presse immer wieder angekündigte neue Note überhaupt kommt.
Nur Schweigen, nur allgemeine Beteuerungen! —
Entschuldigen Sie, da müssen Sie auch sagen, was
Sie tun wollen; das ist wohl der Zweck der Übung.
— Sie haben hier Fragen zu beantworten, nicht in erster Linie wir; das ist nämlich der große Irrtum. Sie haben die Verantwortung, und Sie haben vor dem Parlament Rede und Antwort zu stehen.
Diese Methode der Nachhilfestunden, die Sie hier anzuwenden belieben, werden wir nicht akzeptieren.
Was ist denn heute geschehen? Nehmen wir einmal alles an rein referierenden Dingen im Bericht des Herrn Bundesaußenministers und all die anderen Arabesken, die Herr Kollege Kiesinger in seiner Rede hier mit anbringen zu müssen glaubte. Was ist denn geschehen? Die Quintessenz der Erklärung der Regierung, unterstützt durch den Hauptsprecher der stärksten Regierungsfraktion, ist doch die: In der Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit sehen wir keine Möglichkeit zu einer Initiative,
unser Interesse ist vornehmlich, daß wir die Sicherheit der 'Bundesrepublik in der NATO weiter erhalten.
Herr Kiesinger, es tut mir leid, es so sagen zu müssen: in diesem Moment ist mir eigentlich zum erstenmal in vollem Umfang bewußt geworden, in wie weitem Maße in Ihrem Bewußtsein und in Ihren politischen Vorstellungen die Frage nach einer baldigen Lösung der deutschen Wiedervereinigung schon entschwunden ist.
Was Sie hier beschäftigt hat, war eine Diskussion mit der SPD darüber, wie es sich denn die SPD vorstelle, ,auf dem Wege über ein europäisches Sicherheitssystem zur Wiedervereinigung Deutschlands kommen zu können. Lassen Sie mich dazu eine Vorbemerkung machen. Diese Diskussion hier hat nur einen Sinn, wenn wir nicht so vorgehen, wie Herr Kiesinger es getan hat, nämlich zunächst einmal das darzustellen, was er als die Haltung der SPD ansieht
— oder erfindet —, und dann gegen diese angenommene oder erfundene Position der SPD zu diskutieren.
Meine Damen und Herren, wir halten das eine ganze Weile aus. Wenn wir den Dingen auf den Grund gehen, gibt es für Ihre Argumentation, Herr Kollege Kiesinger, nur zwei Erklärungen. Entweder haben Sie vor ihrer Rede nicht sorgfältig gelesen, was die SPD in München und in der vorigen Woche beschlossen hat.
Das wäre schlecht. Oder aber 'Sie heben aus anderen Überlegungen etwas wider besseres Wissen gesagt. Das wäre noch schlechter.
Was hat der Kollege Kiesinger alles unterstellt? Er hat gesagt: Ihr wollt ein Phantasiegebilde von europäischem Sicherheitssystem. Er hat gesagt: Ihr wollt ein waffenloses wiedervereinigtes Deutschland.
Er hat gesagt: Ihr könnt doch überhaupt nicht annehmen, daß wir als wiedervereinigtes Deutschland unsere eigene Sicherheit garantieren können, etwa wie Schweden und die Schweiz es tun. Es waren eine ganze Reihe von Annahmen. Darüber könnte man diskutieren; aber bitte, dann diskutieren Sie mit den Leuten, die derartige Ideen vertreten, aber nicht mit den deutschen Sozialdemokraten!
Denn wir haben niemals in bezug auf die Ablösung der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in
NATO als ein denkbares Mittel für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine Politik des Abenteuers oder eine Politik des Vakuums vertreten. Ich habe es, ich weiß nicht wie oft, auch in diesem Hause gesagt, aber offensichtlich muß es noch einmal gesagt werden:
Wir sind, verehrter Herr Kollege Kiesinger — und Sie wissen es —, für die Wiedervereinigung Deutschlands mit dem Einbau eines wiedervereinigten Deutschland in ein europäisches Sicherheitssystem, in dem das wiedervereinigte Deutschland die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten übernimmt, in ein europäisches Sicherheitssystem, das sowohl von den Vereinigten Staaten wie von der Sowjetunion akzeptiert und garantiert werden kann.
— Bitte, Sie können ganz anderer Meinung sein, aber Sie können eines nicht sagen: das ist keine denkbare Lösung.
— Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, darüber einmal die Ausführungen zu lesen, die Ihre verehrte Bundesregierung in ihrem Memorandum vom 2. September gemacht hat. Da finden Sie sehr bemerkenswerte positive Ausführungen über die Effektivität eines europäischen Sicherheitssystems,
dem wir weitgehend zustimmen. Das einzige, was ich bedaure, ist, daß heute der Herr Bundesaußenminister und Herr Kiesinger von diesen damaligen sehr nützlichen ersten Erkenntnissen anscheinend wieder heruntergekommen sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
Bitte!
Herr Kollege Ollenhauer, haben Sie nicht gehört, daß ich in meinen Ausführungen ständig auf das Memorandum Bezug genommen
und erklärt habe, daß Sie das Memorandum nicht richtig einschätzen, daß es viel weiter gehe, als Sie es wahrhaben wollen? Eine zweite Frage — und die liegt mir wirklich am Herzen —: Herr Kollege Ollenhauer, wie denken Sie sich die militärische Sicherung des westlichen Europa im Rahmen eines solchen von Ihnen eben angesprochenen kollektiven Sicherheitssystems?
Aber verehrter Herr Kollege Kiesinger, seit wann ist denn das eine Frage?
— Entschuldigen Sie, haben wir nicht eine ganze Reihe von regionalen Sicherheitspakten? Ist z. B. die NATO nicht auch ein regionaler Sicherheitspakt? Ist der Bagdad-Pakt nicht ein regionaler Sicherheitspakt? Warum kann es nicht an Stelle der jetzigen Form in Europa im Rahmen der Vereinten Nationen einen effektiven regionalen Sicherheitspakt einer anderen Art geben? Diese Frage, Herr Kollege Kiesinger, stellen Sie doch nur, weil Sie der eigentlichen Kardinalfrage, vor der die Politik der Bundesregierung steht, damit ausweichen wollen.
Ich will sie Ihnen sagen; ich hätte sie sonst etwas später gebracht. Die Frage, die wir zu stellen haben — und darauf haben Sie zu antworten; denn es ist die Frage, die zu Ihrer Außenpolitik gestellt werden muß —, wenn es zu solchen Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem kommt und wenn in diesen Verhandlungen eine Lösung erreicht werden kann
— ich rede jetzt mit einigen der Herren, die vielleicht verstehen, welchen Gedankengang ich habe
—, diese Frage, die unvermeidlich ist und die Sie genauso kennen wie wir, heißt: Ist die Bundesrepublik einverstanden, daß die Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland in diesem Sicherheitssystem an die Stelle der Mitgliedschaft in NATO tritt, und sind Sie, meine Damen und Herren, bereit, in diesem Sinne die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in NATO bei solchen Verhandlungen zum Verhandlungsgegenstand zu machen? Das ist die Frage, vor der wir stehen.
Wenn ich Ihre Rede heute richtig verstanden habe, haben Sie auf diese Frage keine direkte Antwort gegeben. Aber ich vermute, sie hat darin gelegen, daß Sie gesagt haben: Zuerst Sicherheit durch NATO! Verehrter Herr Kollege Kiesinger, wenn das Ihre Politik und die Politik Ihrer Regierung ist, dann bedeutet das praktisch, daß Sie und die Regierung darauf verzichten, eine aktive Politik für die Wiedervereinigung zu treiben.
Meine Damen und Herren, wir können nach wie vor über viele Fragen miteinander reden, auch über Fragen der militärischen Organisation, die Sie ebenfalls angeschnitten haben. Sie kennen unseren Standpunkt. Wir sind nach wie vor der Auffassung, daß es ein falscher Schritt war, die Bundesrepublik militärisch in NATO einzugliedern. Wir haben die Verträge abgelehnt. Wir sind nach wie vor der Meinung, daß unsere Gründe dagegen richtig waren. Aber wir Sozialdemokraten haben nie und an keiner Stelle in der Praxis die Legalität reel und verfassungsmäßig zustande gekommener internationaler Verpflichtungen geleugnet oder sie etwa abgelehnt. Das gilt auch für diesen Fall. Wir kennen unsere Verantwortung. Lassen Sie mich das in Klammern einmal sagen.
Herr Kollege Kiesinger, Sie redeten hier davon: Wir haben die Verantwortung, und Sie sitzen ja bloß in der Opposition.
Dahinter, meine verehrten Kollegen von der CDU und CSU, steckt ja nicht nur eine Mißachtung der Opposition, darin liegt ja viel mehr.
Meine Damen und Herren, wir waren — das wissen Sie ganz genau — in lebenswichtigen Fragen unseres Volkes verschiedener Meinung. Das ist unser gutes Recht, das werden wir uns nicht nehmen lassen. Aber an Verantwortung für das Ganze der demokratischen Ordnung lassen wir uns von niemand übertreffen, vor allen Dingen nicht mit einer solchen Argumentation, wie Sie sie hier beliebt haben.
Ein anderes. Ich habe gesagt: wir sind gegen die Verträge. Ich habe gesagt: wir werden die Verpflichtungen, auch die militärischen, aus diesen Verträgen, solange sie unverändert sind, anerkennen. Aber, meine Damen und Herren, erwarten Sie von der Sozialdemokratie, wenn sie die Möglichkeit dazu haben sollte, etwas anderes, als daß sie im Sinne ihrer Politik eine Revision dieser Verträge anstrebt, um sie mit den Möglichkeiten einer Wiedervereinigung in Übereinstimmung zu bringen?
Wir sind gegen die allgemeine Wehrpflicht gewesen.
— In diesem Bundestag. Sie sind ja wahrscheinlich auch nicht genau auf derselben Linie, auf der Ihr Großvater gewesen ist.
— Ja, ich habe an August Bebel gedacht. Ich rede gar nicht um die Dinge herum. Das ist keine Schande. Wir gehen heute ja auch nicht mehr mit Feuerwehrspritzen und Heugabeln um. Es hat sich da auch etwas geändert. Also, lassen wir diese kindischen Einwürfe.
Die Sozialdemokratie hat aus politischen und militärtechnischen Gründen die allgemeine Wehrpflicht für falsch gehalten. Wir halten sie heute noch für falsch, und wenn wir die Möglichkeit bekommen, wird das Gesetz wieder aufgehoben ohne Wenn und Aber, meine Damen und Herren!
Das hat überhaupt nichts zu tun mit dem Sicherheitskomplex.
— Das hat genau getroffen.
Meine Damen und Herren, wollen wir hier einmal real reden, oder wollen wir bloß so eine Fernsehvorstellung machen?
— Das ist meine Hoffnung auch, Herr Kiesinger.
Sie sagen, die allgemeine Wehrpflicht sei unerläßlich. Na, wollen Sie denn nicht mal überlegen, was Sie in dieser Beziehung in dem letzten Jahr alles gelernt haben! Wie weit sind Sie schon herunter von den 500 000! Und wie sind Sie heruntergekommen von 18 Monaten auf 12 Monate, von einem Tag auf den anderen! Und da wollen Sie uns einreden, die allgemeine Wehrpflicht sei ein Stück Weltsicherheit? Das glaubt Ihnen doch niemand.
Ich will hier keine militärischen Geheimnisse ausplaudern; aber lassen Sie sich doch mal von Herrn Strauß die Meldungen von Freiwilligen geben, und fragen Sie mal nach, wieviel Monate es braucht, um auch nur die Freiwilligen in die Bundeswehr zu bringen und das zu erreichen, was man früher als notwendig bezeichnete.
Das sind doch Tatsachen.
Meine Damen und Herren, warum legen Sie sich so fest? Uns schadet es ja nicht, aber Ihnen. Sie haben doch überall in der Welt eine interessante, neue Diskussion über die zweckmäßige Form der Wehrorganisation; Sie haben sie in einem Land wie England, das im Prinzip entschlossen ist, auf die allgemeine Wehrpflicht zu verzichten, Sie haben dieselbe Diskussion in den Vereinigten Staaten, und Sie haben sie nicht, weil dort deutsche Sozialdemokraten „den Sicherheitswillen des Volkes untergraben", sondern weil sich die Leute mit den neuen, technischen Problemen der Ausrüstung und Ausbildung einer modernen Armee auseinandersetzen; darum geht es doch.
Ich will aber auf unser Thema zurückkommen. Es wurde gesprochen von einem Vakuum, einer Periode der Unsicherheit und davon, daß man jetzt genug habe von solchen Hirngespinsten. Herr Kollege Kiesinger, Sie und Ihre Freunde haben eine Möglichkeit: Sie können sagen, die außenpolitische Konzeption der Sozialdemokratie lehnen wir ab, ihre Vorstellung lehnen wir ab, die militärischen Verpflichtungen aus den Pariser Verträgen auf der Freiwilligenbasis zu erfüllen. Sie können aber nicht sagen, Sie hätten eine kristallklare Vorstellung und wir nur Hirngespinste; das ist nicht ein Mittel der sachlichen Auseinandersetzung.
— Entschuldigen Sie, das steht sogar in Ihrem Manuskript. Es tut mir leid, daß Sie erklären, Sie hätten das nicht gesagt. Ich habe es gehört, ich habe es gelesen. Aber wenn Sie es nicht gesagt haben wollen, die Grundvorstellung ist es doch.
— Nein, nein, das ist ganz anders. Sie können Ihre Vorstelungen in bestimmtem Umfange realisieren, und das sieht dann klarer aus. Daß es im Effekt klarer sei, das haben Sie noch zu beweisen,
jedenfalls in den Auswirkungen auf die Politik der Wiedervereinigung und der wirklichen Sicherheit.
Für uns ist die kardinale Problemstellung: Wie können wir in einer Situation, in der man nach neuen Wegen der internationalen Politik des Ausgleichs und — trotz allem! — der Vermeidung des Krieges sucht. das Problem der Wiedervereinigung ins Gespräch bringen? Hier sind wir der Meinung, daß unsere Bundesregierung die Verpflichtung hat,
bei allen vier Mächten mit einer solchen neuen
Lösung initiativ zu werden. Darauf kommt es an.
Wenn sie es nicht tut, dann haben Sie die Pflicht,
zu sagen, warum. Wenn Sie sagen, Sie wollen es
nicht, weil Sie das Risiko — wie Sie gesagt haben
— nicht eingehen wollen, daß wir die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden, wenn wir an Stelle von NATO in ein allgemeines Sicherheitssystem für ganz Deutschland gehen, dann müssen Sie auch wissen, daß Sie damit sagen, daß Sie keine Möglichkeit sehen, die Wiedervereinigung Deutschlands durch Verhandlungen herbeizuführen.
Meine Damen und Herren, ich denke, ich habe auf die Fragen, die Sie in der Sache gestellt haben, geantwortet.
-— Ja, ich habe ja gesagt, Sie können eine andere Meinung haben. Beantwortet habe ich sie jedenfalls.
— Sie haben fast vier Stunden gehabt. Sie werden ja vielleicht noch eine Viertelstunde aushalten!
Ich habe noch einen Punkt, den ich hier nicht untergehen lassen möchte. Ich möchte hier ein Wort über die jetzigen neuen Aktivitäten auf dem Gebiet weiterer europäischer Zusammenschlüsse gesagt haben. Hier hat sich der Herr Bundesaußenminister zu unserem Bedauern mit sehr allgemeinen Bemerkungen begnügt.
— Ich habe nicht gewußt, daß Herr Furler zur Regierung gehört.
Wir Sozialdemokraten haben die Bemühungen um die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und um die Schaffung einer europäischen Organisation für die friedliche Verwendung der Atomenergie von Anfang an unterstützt. Wir haben sehr aktiv mitgearbeitet an dem sogenannten Monnet-Komitee, und wir waren froh darüber, daß damals alle Mitglieder dieses Komitees einschließlich der Kollegen aus der CDU sich mit uns und allen anderen darüber einig waren, daß wir hier auf diesem Neuland wirtschaftlicher Betätigung eine große Möglichkeit haben, um frei von privaten und nationalen Interessen eine europäische Organisation zu schaffen, die das spaltbare Material in ihrem Bereich zusammenfassen und dadurch eine effektive Kontrolle über die friedliche Verwendung der Atomenergie garantieren kann.
Wir haben das für eine wichtige Sache gehalten, weil wir hier tatsächlich vor Neuland stehen und weil man auf diesem Neuland von vornherein auf einer breiteren Basis als auf der Basis nationaler oder privater Organisationen anfangen sollte. Zweitens waren wir der Meinung: die Gefahren, die in diesem Material liegen, können wir eher bannen, die friedliche Benutzung des Rohmaterials eher sicherstellen, wenn wir eine wirkliche europäische Kontrolle der Verwendung haben. Wir haben uns auch zu den Prinzipien des gemeinsamen Marktes bekannt, aus verschiedenen Gründen, aber auch weil wir durch die Entwicklung der Montanunion erfahren haben, daß auf die Dauer eine wirtschaftliche Teilintegration ohne gemeinsamen Markt nicht möglich ist.
Nun, wir stehen vor der Tatsache, daß es monatelange Verhandlungen über beide Verträge gibt, das letztemal am vergangenen Wochenende durch Besprechungen der Außenminister. Es ist gesagt worden, der Vertrag über Euratom sei inzwischen fast fertiggestellt. Aber wir haben auch gehört, daß seine jetzige Fassung wesentlich abgeschwächt sei, nicht zuletzt durch die intensive Einwirkung deutscher Interessentenvertreter,
und daß sehr wenig von dem übrigbleibe, was wir ursprünglich als die notwendige Aufgabe einer solchen Euratombehörde gemeinsam angesehen haben. Wir haben auch gehört, daß bei der Schaffung des gemeinsamen Marktes noch eine Menge ernster Fragen offen seien, so z. B. die Frage der Einbeziehung der Landwirtschaft und die Frage der Einbeziehung der überseeischen Gebiete.
Alles das erfahren wir aus der Presse, durch zufällige Informationen, außer wenn die Herren Außenminister einen so weittragenden Beschluß fassen — wie es am Sonntag angeblich geschehen ist —, für den gemeinsamen Markt und Euratom noch ein neues europäisches Parlament mit 200 Mitgliedern zu schaffen.
Das wird in aller Breite der Öffentlichkeit mitgeteilt. Man muß sich wirklich fragen, welcher Gegner einer ernsthaften europäischen Zusammenarbeit diese Idee den Außenministern beigebracht hat.
Denn, meine Damen und Herren, eine größere Diskreditierung der Bestrebungen europäischer Zusammenarbeit im Bewußtsein der europäischen Völker gibt es wohl kaum, als wenn man jetzt den bereits bestehenden drei europäischen Parlamenten noch ein viertes zur Seite stellt.
Ich habe sogar das Argument gehört — ein taktisches, wie mir gesagt wurde —, man habe sich auf eine so große Zahl wie 200 und auf ein Sonderparlament geeinigt, weil einzelne Verhandlungspartner die Verträge in ihren Parlamenten leichter durchkriegen, wenn eine größere Anzahl von Mitgliedern dieser Parlamente die Aussicht haben, dem neuen Europaparlament anzugehören.
Meine Damen und Herren, ich will dieses Thema gar nicht weiter vertiefen.
— Endlich einmal! — Aber ich will mich auch nicht mit Einzelheiten beschäftigen. Ich habe ein ganz anderes Anliegen, nämlich zunächst das — um das zu dieser, ich möchte sagen, Kateridee des vierten Parlaments zu sagen —
— ich wollte den Kollegen Kather damit nicht angesprochen haben, mein Kater schreibt sich ohne h —,
Ich habe zunächst das Anliegen, daß dieser Beschluß rückgängig gemacht wird und daß unsere Regierung sich dafür einsetzt.
Aber viel wichtiger ist folgende Tatsache: Wenn die beiden Verträge zustande kommen, bedeuten sie eine weitgehende, an Hand der jetzigen — „Unterlagen" wäre schon eine Übertreibung — Informationen noch nicht zu übersehende Einwirkung auf unser gesamtes wirtschaftliches Leben. Ich glaube außerdem, daß wir wahrscheinlich auch die Aufgabe haben, zu untersuchen, wie denn auch diese beiden Verträge in ihren Auswirkungen in Übereinstimmung zu bringen sind mit unseren Notwendigkeiten für eine aktive Wiedervereinigungspolitik. Auch das ist mindestens eine Frage.
In jedem Fall: wir halten es für undiskutabel und für unmöglich, daß diese Verträge zwischen Ministern, Staatssekretären und Interessentenvertretern ausgehandelt werden und das Parlament vor der Unterzeichnung nicht die Möglichkeit bekommt, sich eingehend mit den Entwürfen und den Konsequenzen zu beschäftigen.
Das französische Parlament hat eine volle Woche sich nur mit diesem Komplex beschäftigt, und heute sind wir in der paradoxen Lage: Wenn jemand von uns sich über Teilprobleme informieren will, sind die beste Informationsquelle die Protokolle der Verhandlungen des französischen Parlaments.
Das ist einfach ein unwürdiger Zustand für den Deutschen Bundestag.
Ich hätte gewünscht, daß die Regierung schon von sich aus erklärt hätte, daß sie selbstverständlich bereit ist, vor der Unterzeichnung uns hier zu informieren und in der Diskussion Rede und Antwort zu stehen. Wir bitten Sie, da auch diese Initiative der Regierung ausgeblieben ist, daß Sie unseren Antrag, den wir zu diesem Punkt der Tagesordnung vorgelegt haben, annehmen, damit wir die Sicherheit haben, daß tatsächlich das Parlament als die höchste Instanz unserer Bundesdepublik zu diesen Verträgen sprechen kann, ehe die Unterschrift unseres Außenministers gegeben wird.
Meine Damen und Herren! Ich möchte hiermit, um Ihre Zeit nicht länger in Anspruch zu nehmen, zum Abschluß kommen. Uns kam es darauf an, hier festzustellen: Ist die Regierung in der Lage, von sich aus bestimmte konkrete Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie sie sich die Konsequenzen in bezug auf ihre Außenpolitik aus der jetzt gegebenen internationalen Lage heraus vorstellt? Diese Information und diese Führung in der Außenpolitik, die die Regierung haben sollte, haben wir nicht erhalten. Abgesehen von allen Einzelheiten: das betrübliche Fazit der Reden, die wir heute vormittag hier gehört haben, ist, daß in diesen Erklärungen jede konkrete Angabe darüber fehlt, daß die Regierung in der nächsten Zukunft in der Frage der Wiedervereinigung zu Verhandlungen mit allen Vier über eine andere Form der Sicherheit und über eine Schaffung der Einheit im Rahmen eines effektiven Sicherheitssystems kommen will. Sie hat uns diese Auskunft nicht gegeben. Ich habe nicht die Hoffnung, daß sie es nach diesem Appell tun will oder auch tun kann.
Dann bleibt es unsere Aufgabe, über den nächsten Abschnitt der Außenpolitik der Bundesrepublik an anderer Stelle die Entscheidung herbeizuführen. Diese Entscheidung muß nach unserem Willen heißen, daß das deutsche Volk sich entschließt, eine Politik zu unterstützen und zu fordern, die auf der These basiert, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit das Höchstmaß von Sicherheit für Deutschland und für Europa darstellt, das erreicht werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige der Ausführungen und Feststellungen des Herrn Kollegen Ollenhauer möchte ich nicht unwidersprochen lassen, und zwar lege ich Wert darauf, dazu sogleich Stellung zu nehmen.
Zunächst einmal hat Herr Kollege Ollenhauer erneut das Streitgespräch darüber eröffnet, wem der Erfolg in der Saarpolitik zuzuschreiben ist.
Ich glaube, es ist hier im Parlament bekannt — denn wir haben diese Verträge damals diskutiert —, daß der Herr Bundeskanzler am 23. Oktober 1954 mit dem französischen Ministerpräsidenten ein Abkommen unterschrieben hat. Wir haben die Welt daran gewöhnt, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung Abkommen hält, und auch Sie werden sich daran gewöhnen müssen!
Der Vorwurf, daß der Bundeskanzler sich für das Abkommen ausgesprochen habe, enthält die Kritik daran, daß er nicht wortbrüchig geworden ist.
— Reden Sie von Ihren Rednern?
— Nein!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie eben formulierten: „Sie wissen, daß Sie lügen, deshalb verweigern Sie die Frage!"?
Da der Herr Bundesaußenminister es als Haltung der Vertragstreue
unterstellt, daß der Vertrag den Kanzler verpflichtet habe, die Annahme des Statuts zu empfehlen, habe ich gesagt, er wisse, daß er lüge, und darum antworte er nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf, Herr Abgeordneter!
Meine Damen und Herren! Ich möchte nicht auf dieses Niveau herabsteigen.
Deswegen empfehle ich dem Herrn Kollegen Arndt, den Vertrag vom 23. Oktober nachzulesen, den er offenbar vergessen hat.
Und es mag ein Irrtum sein, aber soweit ich mich erinnere, ist es richtig, daß ich den Vertrag über die Rückgliederung der Saar unterschrieben habe und kein Vertreter der Opposition.
Man hätte aus den Ausführungen des Herrn Kollegen 011enhauer tatsächlich entnehmen können, daß ich das gegen den Willen der Bundesregierung und gegen den Willen des Deutschen Bundestages getan hätte.
Meine Damen und Herren, ein paar Worte zu den Schlußbemerkungen des Herrn Kollegen Ollenhauer, die mich auch überrascht haben. Ich begrüße dankbar das Interesse für die westeuropäische Integration, das früher nicht in diesem Maße vorhanden war.
Ich verwahre mich aber dagegen, wenn Herr Kollege Ollenhauer sagt, die Verträge würden von den Ministern, den Staatssekretären und den Interessentenvertretern ausgehandelt. Meine Damen und Herren, das enthält eine Unterstellung, die nicht richtig ist und die man auch nicht aussprechen sollte, wenn man dazu keinen Anlaß hat, Herr Kollege Ollenhauer!
Herr Kollege Ollenhauer hat bedauert, daß die Informationen über den Verlauf der Vertragsverhandlungenausgeblieben sind. Meine Damen und Herren, ich darf darauf hinweisen — und ich glaube, nicht, daß das Widerspruch finden wird —, daß es wohl kein Parlament in der Welt gibt, in dem Verträge diskutiert werden, bevor sie unterzeichnet werden, außer in Frankreich.
Kein Land pflegt solche Diskussionen zu führen. Ich hätte mich aber niemals einer erschöpfenden Information etwa im Auswärtigen Ausschuß entzogen, und gestern nachmittag
— ich darf das wohl sagen — habe ich darüber im Rahmen dessen, was gewünscht worden ist, berichtet.
— Ich habe nicht gehört, daß Sie noch zusätzliche Fragen gestellt hätten.
— Meine Damen und Herren, da ja sonst die Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses vertraulich sind,
verzichte ich darauf, Ihnen zu antworten.
Herr Kollege Ollenhauer hat dann vier Punkte hervorgehoben und hat danach festgestellt, er habe diese vier Punkte in der Regierungserklärung vermißt.
Der erste Punkt war, man müsse die UNO stärken. Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, meine Rede nachzulesen — und dasselbe finden Sie in der Regierungserklärung vom 8. November —, in der 'ich der Tätigkeit der UNO gerade im Zusammenhang mit der Beilegung des Sues-Konflikts den Dank und die Anerkennung ausgesprochen und seitens der Bundesregierung die Bereitschaft erklärt habe, die Arbeiten der UNO zu fördern. Ich habe daran erinnert, daß wir
— ich glaube, wir waren die ersten — auf den Appell des Generalsekretärs 1 Million Dollar der UNO zur Verfügung gestellt haben, um die Räumungsarbeiten im Sues-Kanal auszuführen. Also dieser Punkt war enthalten.
Punkt 2 hieß: international kontrollierte Abrüstung. Meine Damen und Herren, auch davon habe ich gesprochen. Auch das steht in der letzten Regierungserklärung. Auch das wird im Memorandum behandelt.
Punkt 3: engere Gestaltung der Zusammenarbeit der westlichen Welt mit den asiatischen Völkern: Ich gestehe, daß davon in der Regierungserklärung nichts zu lesen war; aber ich glaubte, daß man nicht alle Selbstverständlichkeiten aussprechen müsse.
Und Punkt 4 war lediglich die Feststellung, es sei die Aufgabe, lokale und regionale Spannungstatbestände zu beseitigen, und das habe die Regierungserklärung nicht unternommen. Meine Damen und Herren, ich nehme an, daß ich auch dazu gesprochen habe.
Herr Kollege Ollenhauer hat dann erklärt, er vermisse die Ankündigung neuer Schritte zur Wie-
dervereinigung. Meine Damen und Herren, ich möchte nicht kritisch zu der Bemerkung Stellung nehmen, aus den Erklärungen der Bundesregierung und aus den Äußerungen meines Freundes Kiesinger sei erkennbar geworden, daß die Frage der Wiedervereinigung aus dem Bewußtsein entschwunden sei. Ich möchte annehmen, daß diese Erklärung nicht so gemeint war, wie sie hier ausgesprochen war.
— Ich rede eben mit Herrn Kollegen Ollenhauer, nicht mit den anderen!
Ich habe allerdings keine neuen Vorschläge gemacht. Ich habe allerdings keine neuen Initiativen angekündigt, ebensowenig wie mein verehrter Kollege Ollenhauer,
weil wir offenbar beide dazu im Augenblick nicht in der Lage waren.
Ich habe in meiner Rede gesagt und wiederhole es auch hier: man sollte Initiative nicht mit Publizität verwechseln.
Ich glaube nicht, daß ich der Sache dienen würde, wenn ich hier spektakuläre Vorschläge unterbreitete, an deren Verwirklichung Sie und wir zweifeln würden!
Ich bin vollkommen einverstanden mit der Formulierung, die Herr Kollege Ollenhauer dann vorgetragen hat. Er sprach vom europäischen Sicherheitssystem, das ja auch im Memorandum genannt ist, und sagte: Wir wollen ihm beitreten mit gleichen Rechten und Pflichten, mit der Mitgliedschaft der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und der wechselseitigen Garantie. In diesem Zusammenhang hat der Herr Kollege Ollenhauer erklärt, wir hätten uns niemals zum Schicksal der NATO geäußert. Ich habe in der von mir vorgetragenen Regierungserklärung gesagt, daß die Vorschläge der drei westlichen Außenminister auf der zweiten Genfer Konferenz noch heute die Grundlage der gemeinsamen Wiedervereinigungspolitik sind, und ich darf doch bitten, diese Vorschläge nachzulesen. Sie enthalten nämlich sehr klare Gedanken darüber, was mit der NATO und ihrem Verhältnis zum wiedervereinigten Deutschland geschehen kann oder nicht geschehen wird — drei Alternativen.
Dann hat Herr Kollege Ollenhauer kritisiert, daß ich nicht von den Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten gesprochen habe. Er sagte: Was ist das für eine Politik!, und stellte die Frage, ob es nicht sehr nützlich gewesen wäre, wenn wir etwa im vergangenen Juli Polen und Ungarn anerkannt hätten. Meine Damen und Herren, hätten Sie uns nicht vielleicht gesagt: Was ist das für eine Politik, daß ihr die Regierungen anerkennt, acht Tage bevor sie zum Teufel gejagt werden?!
Ich glaube, das wäre nicht gerade ein Zeichen einer sehr klugen Überlegung gewesen.
— Ich stelle hier eine Frage an den Herrn Kollegen Ollenhauer. Vielleicht hat er die Liebenswürdigkeit, darauf zu antworten. Er sagte, die Anerkennung der Ostblockstaaten stehe der Wiedervereinigungspolitik nicht im Wege; wir hätten ja auch die Sowjetunion anerkannt. Ich darf wohl daran erinnern, daß wir hier alle in der Debatte, die damals nach der Moskaureise geführt wurde, ganz besonders auch die Opposition, darauf hinwiesen, daß unser Verhältnis zur Sowjetunion ein anders geartetes ist als das zu den der sonstigen Ostblockstaaten, weil die Sowjetunion der vierte Staat ist, dessen Zustimmung zur Wiedervereinigung wir brauchen. Aber, Herr Kollege Ollenhauer
— auch darüber habe ich schon einmal im Auswärtigen Ausschuß gesprochen —: Sollten wir uns nicht Gedanken darüber machen — und die Bundesregierung macht sie sich allerdings —, ob nicht die Anerkennung der Ostblockstaaten durch die Bundesregierung dazu führt, die Unterstützung unseres Wiedervereinigungsanliegens durch die freie Welt zu schwächen?
Sollten wir uns nicht Gedanken darüber machen, ob nicht die Anerkennung der Ostblockstaaten durch die Bundesregierung zwangsläufig für viele andere Nationen der Welt den Weg eröffnen wird, die DDR anzuerkennen?
Denn wir haben ja dann an dem eigenen Standpunkt nicht mehr festgehalten. Glauben Sie nicht, daß es einer Diskussion — die wir demnächst im Auswärtigen Ausschuß führen wollen; wir haben es gestern vereinbart — wert wäre?
— Wir haben es gestern vereinbart. Sie waren ja dabei.
— Absetzen kann nur Ihr Vorsitzender, meine Damen und Herren!
— Er hat bisher alles abgesetzt oder angesetzt im Einvernehmen mit der Mehrheit des Ausschusses.
Ist es nicht doch richtig, sich darüber Gedanken zu machen, und ist es nicht zu einfach und zu billig, hier zu sagen: Weil die Bundesregierung sich noch nicht zur Anerkennung Polens entschlossen hat, treibt sie keine Politik; sie läßt es an der Initiative fehlen? Meine Damen und Herren, ich möchte die Bundesregierung nicht etwa dem Vorwurf aussetzen — denn er käme bestimmt dann von Ihrer Seite —: Habt ihr euch nicht rechtzeitig überlegt, was die Anerkennung dieser Staaten bedeutet, und was es dann bedeutet, wenn ein großer Teil der freien Welt, auf dessen politische und moralische Unterstützung wir innerhalb und außerhalb der UNO angewiesen sind, die DDR anerkennen würde? Es entstünde dann der Zustand der Gewöhnung, der Zustand, den wir am meisten scheuen und fürchten müssen.
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Herr Kollege Ollenhauer sagte, es sei erforderlich, mit allen vier Mächten möglichst enge diplomatische Beziehungen zu unterhalten. Ich stimme ihm zu.
Er sagte weiter, es fehlten Vorschläge — er habe sie auch bei mir vermißt — zur Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion, und verwies dann auf den Handelsvertrag und schloß mit der überraschenden Feststellung: Wenn die Bundesregierung schon einen Handelsvertrag nicht abschließt, ist das doch das beste Zeichen, daß sie nicht die Wiedervereinigung betreiben will.
— Doch, so ist es gesagt worden.
— Es wurde wörtlich gesagt: Man sieht doch daraus, daß die Lebensfrage vernachlässigt wird, wenn nicht einmal ein Handelsvertrag abgeschlossen wird. Ich darf Sie bitten, Ihr Konzept nachzulesen, ich habe es mir notiert.
Da kann ich nur sagen: ist das nicht eine peinliche Vereinfachung? Ist nicht vielleicht die Erwägung richtiger: weil wir die Lebensfrage vor den Handelsvertrag stellen, schließen wir einen Handelsvertrag erst dann ab, wenn die Beziehungen zur Sowjetunion so sind, daß wir wirklich von der Normalisierung sprechen können! Bis zur heutigen Stunde sind sie nicht so, Herr Kollege Ollenhauer, und Sie wissen das auch. Sie kennen die unerhörten und geradezu grausamen Schwierigkeiten, die die Sowjetunion bis zur Stunde in der Frage der
Repatriierung macht. Sie kennen die Willkür der Sowjetregierung, die unsere Listen prüft und dann sagt: Wer Russe und wer Deutscher ist, entscheide ich, und diejenigen, die nach meiner Meinung Russen sind, schicke ich nicht zurück. Hier spielen sich in der Sowjetunion namenlose Tragödien ab. An uns kommen die Briefe, an uns kommen die Telegramme; sie liegen zu Stapeln in der Botschaft in Moskau. Meinen Sie, daß wir nun den Anlaß hätten, zu sagen, wie wir unsere diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion verbessern wollen? Meinen Sie, daß ich Interesse daran habe, einen Handelsvertrag — wie Sie sagten: als Kanal legaler Abmachungen — abzuschließen? Ich habe zunächst einmal Interesse daran, daß die Sowjetunion sich bemüht, diese Beziehungen zu verbessern, und sie kann es beweisen, indem sie deutsche Menschen in die Heimat entläßt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Lenz .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Schuld, daß ich vor Ihnen stehe; schuld daran ist die Heiserkeit, die meinen Freund Max Becker befallen hat und die es ihm nicht erlaubt, Ihnen unsere Gedanken vorzutragen. Er ist im Zweifel bereit, für diese Heiserkeit den Wahrheitsbeweis anzutreten.
Ich darf deshalb seinen Gedanken meine Stimme leihen.
Meine Damen und Herren! Eine außenpolitische Debatte gleicht einer tour d'horizon. Derjenige, der den Horizont betrachtet und abtastet, dünkt sich im allgemeinen im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Er sollte aber bei dieser Betrachtung nicht vergessen, welche Rolle er wirklich machtpolitisch spielen kann.
Wir sind frei von der Einbildung, daß Deutschland der Mittelpunkt der Welt sei und daß um die deutschen Probleme die gesamte Weltpolitik zu kreisen habe. Wir Deutsche sind nicht in der Lage, Weltpolitik zu treiben. Wir haben nach unserer Sicht im Augenblick nur drei Ziele, nämlich erstens die Zerrissenheit unseres Volkes zu überwinden und wieder eine Nation zu werden. Verehrter Herr Außenminister, Sie haben heute vormittag in der Regierungserklärung die Kritik eines bekannten deutschen Politikers an einer Äußerung von Ihnen als bewußte Verleumdung bezeichnet.
Ich gebe zu, daß die Formulierungen dieses Politikers im allgemeinen sehr bildhaft und scharf sind, und man wird sich wahrscheinlich in diesem Hause in irgendeiner Form immer wieder mit diesen Äußerungen auseinanderzusetzen haben. Aber ihm bewußte Verleumdung zu unterstellen, weil er den Satz „Die Wiedervereinigung ist vordringlich, aber nicht die vordringlichste Aufgabe" kritisiert hat, muß ich auf das schärfste zurückweisen.
Dieser Satz hätte nicht gesprochen werden dürfen und wird sicher nicht unter die glücklichen Formulierungen von Politikern eingehen.
Wir setzen an den Beginn unserer politischen Ziele und Wünsche den Wunsch, wieder eine Nation zu werden. Zweitens: Dies soll in Frieden und Freiheit für die gesamte deutsche vereinigte Nation geschehen, und das Bewußtsein, ein Deutscher zu sein, soll erhalten werden. Drittens wünschen wir die Zusammenarbeit mit allen Völkern, die guten Willens sind, und in diese Zusammenarbeit soll die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa — und zwar möglichst von Gesamteuropa, also einschließlich der Völker des europäischen Ostens — einbegriffen sein.
Wir sind uns des Wandels der Zeiten vom Beginn dieses Jahrhunderts bis zu seiner Mitte für Deutschland durchaus bewußt, und wir müssen feststellen — und wir tun es mit Trauer —, daß keine der europäischen Mächte mehr als Weltmacht anzusehen ist.
Das haben für den, der es bisher noch nicht sehen wollte, die jüngsten Ereignisse in aller Deutlichkeit gezeigt. Das Schwergewicht der Macht konzentriert sich heute bei den Vereinigten Staaten und bei Sowjetrußland, darüber hinaus noch vielleicht bei China und Indien. Ich möchte aber doch in diesem Zusammenhang nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, namens meiner Freunde den Vereinigten Staaten dafür zu danken, daß sie ohne großes Aufsehen, aber mit Nachdruck in den ersten Novembertagen des vergangenen Jahres durch ihr tatkräftiges Eingreifen den Frieden der Welt gesichert haben.
Trotz der politisch schwachen Position Deutschlands darf nicht verkannt werden, daß aus unserer Mittellage mitten in Europa zunächst noch Probleme gestellt sind, die anderen Mächten erspart bleiben. Deutschlands Lage mitten in Europa war von jeher eine gefährliche Lage, aber auch eine politisch bedeutungsvolle, und zwar so bedeutungsvoll, daß nunmehr die Spaltung Deutschlands und der Zusammenprall der Machtbereiche der USA und der Sowjetunion in der Mitte Deutschlands eines der großen Spannungsmomente unserer Welt bilden und das große Problem darstellen, dessen Lösung eine wirklich friedliche Koexistenz überhaupt erst schaffen würde.
Diese Mittellage, politisch ohne Rückhalt bei der einen oder anderen Macht, in unheilvollen Kriegen noch besonders in Erscheinung getreten, hat zweimal zu unserer totalen Niederlage geführt. Schon nach dem ersten Weltkrieg schuf St r es e m a n n mit der Locarno-Politik die Verbindung mit dem Westen und untermauerte diese Verbindung durch den Eintritt in den Völkerbund. Aber er verstand es, gleichzeitig eine Verpflichtung, die der Völkerbund seinen Mitgliedern auferlegt hatte — nämlich gegebenenfalls den Durchmarsch von Streitkräften des Völkerbundes zu dulden —, zugunsten Deutschlands abzuschwächen, so daß dieser Durchmarsch nur geduldet zu werden brauchte, wenn auch nach Auffassung der deutschen Regierung von der Seite, gegen die sich die Völkerbundsaktion richten sollte, ein Angriff erfolgt war.
Diese Grundlage gab Stresemann die Möglichkeit, in dem Berliner Vertrag von 1926 mit Rußland einen gegenseitigen Nichtangriffspakt und Neutralitätspakt zu schließen. Der Westen hatte damals keinen Grund, auf diesen Vertrag mit Mißtrauen zu blicken; denn er war davon unterrichtet. Der Osten verlangte nicht, daß Deutschland aus dem Völkerbund und aus den Verpflichtungen der Locarno-Verträge ausscheiden solle. Das war ein Vertragswerk, das vielleicht auch für Gesamtdeutschland, vielleicht sogar für ein vereinigtes Europa noch einmal als Modell dienen könnte. Dieses System hat Hitler freventlich zerschlagen. Die Folgen dieses Wahnsinns tragen wir. Eine der schlimmsten Folgen ist die Spaltung Deutschlands und damit die Spaltung Europas. Die Welt, nicht nur die westliche Welt, auch die Staatsmänner in anderen Erdteilen haben erkannt, daß dieses Problem gelöst werden muß, und zwar friedlich. Wir danken all den Völkern, die mit uns der Meinung sind, daß eine solche Lösung gefunden werden kann.
Ich glaube, daß wir auch unsererseits klar und offen sagen müssen, welche Grundsätze uns für eine solche Lösung als geboten und zugleich als möglich erscheinen. Als erstes nenne ich die Aufrechterhaltung der Bindung mit dem Westen, vor allen Dingen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir stehen zu den Verträgen. Das soll nicht eine Politik der Stärke zum Ausdruck bringen, sondern soll nur die Grundlage unserer Sicherheit und der aller Teilnehmer bilden. Das hat zur Voraussetzung, daß nicht nur vollkommene Einigung unter den Staaten des NATO-Vertrages, auch über eine etwaige Abänderung, besteht, sondern daß die NATO-Staaten selber Vertrauen untereinander zeigen. Es sollte unmöglich sein, daß, wie Anfang November 1956, einige Staaten eine Aktion unternehmen, ohne die anderen Staaten unterrichtet und konsultiert zu haben, eine Aktion, die, wenn nicht die Vereinigten Staaten energisch eingegriffen hätten, andere Staaten des NATO-Paktes in Gefahr gebracht hätte. Die deutsche Bundesrepublik als der am weitesten östlich liegende Staat ist in dieser Beziehung besonders empfindlich.
Wir haben deshalb an die Bundesregierung die Frage, ob sie sich in jenen Tagen im Hinblick darauf, daß sie von England und Frankreich vorher nicht konsultiert worden war, ihrerseits alsbald mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika beraten hat. Wir möchten ferner gern wissen, welche Maßnahmen getroffen worden sind, um für die Zukunft derartige einseitige Maßnahmen der verbündeten NATO-Mächte unmöglich zu machen. Unter dieser Voraussetzung bejahen wir im Interesse unserer Sicherheit die Fortführung der Bündnispolitik. Pacta sunt servanda. In Erfüllung dieser Verträge haben wir im vergangenen Jahr der Wehrpolitik ihre gesetzlichen Grundlagen gegeben; wir werden die Verträge respektieren.
Andererseits liegt Deutschland geographisch in der Mitte unseres Kontinents. Daraus folgt, daß wir auch bei völliger Ablehnung kommunistischer Prinzipien in irgendeiner Form das Gespräch mit dein Osten suchen sollten. Wie soll das geschehen? Nicht Konferenzen, nicht Noten führen zum Ziel. Es mag sein, daß sich in einem Notenwechsel da und dort Anknüpfungspunkte ergeben. Aber mit Aussicht auf Erfolg sind Verhandlungen nur zu führen, wenn man zu persönlichen Besprechungen kommt. Besprechungen führen weiter, sie führen zur Klärung des Tatbestandes, sie führen zur Klärung der Motive auf beiden Seiten.
Wir haben doch jetzt einen Botschafter in Moskau. Hierzu habe ich eine Frage, Herr Außenminister. Es wäre gut, einmal etwas Näheres über seine Tätigkeit zu hören. Es wäre doch interessant, im Auswärtigen Ausschuß zu erfahren, was an Verhandlungen in Moskau bisher geschehen ist und, wenn nichts geschehen ist, warum nichts geschehen ist.
Dieser Botschafter muß aktiviert werden. Wir verkennen nicht, daß von seiten der führenden Männer der Sowjetunion Bemerkungen gefallen sind, die an Kühle — um nicht mehr zu sagen — nichts zu wünschen übrigließen. Die Voraussetzung — das Wort ist heute schon einmal gefallen — von Verhandlungen ist deshalb die Schaffung einer — ich weiß, daß es ein abgegriffenes Wort ist — Atmosphäre. Ich glaube, es sollte auf beiden Seiten, auch von seiten der Sowjetunion, wenn dort Verhandlungen gewünscht werden, etwas zur Schaffung einer guten Atmosphäre getan werden. Ein Zickzackkurs, Widersprüche, zwielichtige Erklärungen, manchmal auch von der Bundesregierung, sind weder geeignet, die Einleitung von Verhandlungen zu erleichtern, noch das Mittel, eine geeignete Atmosphäre zu schaffen. Es kann uns hin und wieder in eine schiefe Lage bringen.
Wir sagen deshalb offen, daß wir bei aller Verbindung mit dem Westen — dem wir, wir brauchen das nicht zu betonen, durch Tradition, durch unsere Art zu leben, ohnehin verbunden sind; hier sind die Wurzeln unserer Kraft — angesichts unserer Mittellage auch mit dem Osten verhandeln müssen. Wir sollten bereit sein, für solche Verhandlungen mit dem Osten die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen, wenn sie gegenseitig gewährt werden. Wir sollten — um ein Wort meines Freundes Mende zu gebrauchen — die Sowjetunion nicht hofieren; aber wir sollten sie auch nicht
brüskieren. Wir sollten vor allem eins tun: alle diese Verhandlungen, Besprechungen, Bemühungen um ein Klima sollten mit unseren westlichen Freunden abgesprochen werden.
In solchen Verhandlungen müßte geklärt werden, was die Sowjetunion mit der Sowjetzone nun wirklich vorhat: ob sie der Modellfall für ein einiges kommunistisches Deutschland sein soll, ob die Sowjetunion darin lediglich ein Pfand sieht, ob sie ihr Machtgebiet ausbreiten will. Wir hören und erleben: die Sowjetunion will gegenüber den Völkern Asiens und Afrikas die Rolle des großen Kolonialgegners, die Rolle des Beschützers gegen den angeblichen Imperialismus der westlichen Welt spielen. Sie kann aber dann nicht mitten in Europa fremdes Land besetzen oder durch die Schaffung einer Satellitenregierung wie die in Pankow ein Stück Deutschlands von Gesamtdeutschland abtrennen wollen. Wir müssen die Sowjetunion zwingen, klipp und klar zu erklären, was sie will. Gibt sie keine Erklärung ab, so wird die freie Welt den Völkern Asiens und Afrikas bekanntgeben, daß die Sowjetunion in Europa anders handelt, als sie in Asien und Afrika predigt. Sollte aber die Sowjetunion erklären, daß die Mittelzone nur als ein Pfand betrachtet wird, dann sind Verhandlungen darüber, wie das Pfand auszulösen wäre, möglich, und wir würden sicher zu solchen Verhandlungen bereit sein.
Die Sowjetunion verweist uns auf Verhandlungen mit Pankow. Dieser Hinweis ist nichts anderes als ein Ausweichen vor der klaren Beantwortung einer klar gestellten Frage. Pankow ist niemals bevollmächtigt, für Rußland abzuschließen. Man kann über Dinge des täglichen Lebens mit Pankow Abmachungen treffen. Die Endentscheidung aber wird immer bei Rußland liegen. Wir nehmen diesen Hinweis auf Verhandlungen mit Pankow nicht an. Sollte er aufrechterhalten werden, dann liegt darin die Erklärung, daß man die Sowjetzone nicht freizugeben beabsichtigt. Kommt es aber — wie wir hoffen möchten — zu Verhandlungen, dann ist die Richtschnur für diese Verhandlungen der Rechtsstandpunkt, niedergelegt in der Atlantik-Charta und im Potsdamer Abkommen. Er umfaßt das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit, das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das Recht, sich sein inneres Leben nach eigenem Willen einzurichten, und er umfaßt nicht zuletzt das Recht auf Heimat. Wir möchten hoffen, daß die Verhandlungen mit der Sowjetunion über eine Einlösung des Pfandes in diesen Weg des Rechtes einmünden.
Wir sind nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Bundesaußenminister, daß — wie Sie ein wenig überscharf formuliert haben und wie es jetzt von mir auch überscharf zitiert wird — die Freiheit nicht noch bezahlt werden darf. Wir haben ein erstes praktisches Stück Wiedervereinigung an der Saar erlebt. Sie wissen, wir sind dort Verpflichtungen eingegangen, um die Menschen an der Saar in Freiheit zurückzugewinnen. Die Politik, die dahin geführt hat, war gestützt auf den von den Freien Demokraten vertretenen Grundsatz, den einst schon Stresemann bei Abbruch des Ruhrkampfes proklamiert hatte, nämlich den Grundsatz, besetzte Pfänder auszulösen, um Land und Leute dem Vaterland zu erhalten.
Wir möchten hoffen, daß es gelingt, mit der Sowjetunion in Verhandlungen auf dieser Grundlage
zu kommen. Der Versuch sollte jedenfalls gemacht werden. Selbstverständlich wissen auch wir — ich darf ein Wort, das Kollege Erler vor einigen Tagen in der Öffentlichkeit zitiert hat, aufgreifen —, daß es Patentlösungen nicht gibt, und es wäre viel Schärfe an dem heutigen Tag vermieden worden, wenn man sich auf dieses Nichtwissen ein wenig besonnen hätte.
Es scheint mir eine andere Entwicklung zu sein, die uns hoffen läßt, daß wir vielleicht zu einer Wiedervereinigung in unserem Sinne kommen. Die Gesamtentwicklung in der Welt, insbesondere in den letzten Jahren, läßt weit entfernt am Horizont die Möglichkeit erscheinen, daß die Frage der Wiedervereinigung auch noch auf einem anderen Wege gelöst werden kann, ja, daß überhaupt die Spannungen in der Welt beseitigt werden können. Wir denken dabei nicht an die Bemühungen der Staatsmänner, von denen ich hier nur Eisenhower und Pandit Nehru nennen möchte, ohne damit andere zurückzusetzen, sondern wir denken dabei an die Gesamtsituation. Dadurch, daß die beiden Weltmächte, USA und Sowjetunion, jede für sich, im Besitz der stärksten atomaren Rüstung der Welt sind, halten sie sich, wenn diese Rüstung qualitativ und quantitativ ungefähr gleich ist, im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht, diese „balance of power", sichert, wenn nicht frivol gehandelt wird, nach menschlichem Ermessen den Frieden der Welt. Daraus folgt aber für jeden der beiden Staaten, daß mindestens dieses Gleichgewicht erhalten werden muß, so daß, wenn einer der Staaten einen Vorsprung zu erzielen in der Lage wäre, der andere diesen Vorsprung sofort wettmachen müßte. Das bedeutet einen Wettlauf in der Schaffung immer neuer Waffen, die nach kurzer Zeit wieder veraltet sind, und das bedeutet eine Finanzlast für die Völker, die entweder an einen guten Lebensstandard gewöhnt sind oder die endlich einmal auch die Verwirklichung des ihnen so oft versprochenen Paradieses auf Erden für ihren kleinen häuslichen Bereich erleben möchten. Das führt dann auch dahin, daß im politischen Wettlauf zwischen den beiden Atomgiganten jeweils versucht wird, nur einen kleinen Schritt, allerdings vielleicht einen kleinen Schritt nach dem anderen, in der Absicht zu tun, immer nur bis an die Grenze zu gehen, über die hinaus es zum Zusammenprall der beiden Mächte kommen müßte. Hierin kann auch für uns, für Deutschland, eine Gefahr liegen.
Da ich aber unterstellen möchte, daß alle, die es angeht, aus der Vergangenheit etwas gelernt haben, und da ich weiter unterstellen darf, daß man klüger 'handeln wird, als Hitler gehandelt hat, klüger auch dann, wenn der Versucher mit dem Gaukelbild des Präventivkriegs an die Politiker herantreten würde, wird mit immer größerer Wucht an beide Atomgiganten die Frage der Beschränkung der beiderseitigen Rüstung herantreten, und verbunden mit dieser Frage der Abgrenzung der Rüstung wird die Frage der Beseitigung der Spannungselemente auf dem gesamten Erdball akut werden. Denn nur die Beseitigung dieser Spannungselemente durch eine globale Vereinbarung entschärft die Lage, vorausgesetzt, daß eine solche Vereinbarung den Problemen nicht ausweicht, sondern die Probleme zu lösen versucht. Diese Probleme heißen: Korea, Formosa, Vietnam, Sues, Ägypten, Israel, Zypern, Nordafrika, schließlich die Spaltung Europas und nicht zuletzt die Spaltung unseres Vaterlandes.
Herr Chruschtschow hat — ich glaube, es war bei den Besprechungen in Moskau — dem Herrn Bun-
deskanzler einmal das russische Sprichwort entgegengehalten: „Der Wind bläst u n s nicht ins Gesicht".
Wir haben nach den letzten Ereignissen den Eindruck, daß sich der Wind zu drehen beginnt. Man könnte glauben, daß sich nach den eisigen Zeiten des Kalten Krieges so etwas wie ein Tauwind in der deutschen Mittelzone, in Polen und zumal in Ungarn erhoben hat. Gewiß, man hat Ungarn brutal unterdrückt, man hat den Entstalinisierungskurs wieder abzudrehen versucht und wird diesen Versuch erneuern; aber da, wo einmal der Wind der Freiheit zu wehen begonnen hat, wird er sich stärker und stärker entwickeln.
Wir befürworten, wissend, daß wir hier auf Widerspruch stoßen, als Ausdruck unseres Wunsches nach Frieden doch die Aufnahme wenigstens handelspolitischer Beziehungen mit allen Völkern des Ostens bis nach Peking hin. Ich weiß, daß wir uns in Widerspruch zu der Auffassung der Bundesregierung befinden. Wir haben aber wenigstens die Freude, uns teilweise in Übereinstimmung mit dem Herrn Bundesminister von Merkatz zu wissen.
Sehen wir in der eben gekennzeichneten Entwicklung, in dem Aufbrechen des Ostblocks nichts, was wir machtpolitisch auswerten wollen, so erkennen wir in diesen Ereignissen aber doch eine Entwicklung zu den Grundsätzen der Atlantikcharta hin. Wir glauben, daß diese Entwicklung weitergehen wird, und erlauben uns, für diese Entwicklung einige Grundsätze zu unterbreiten:
Erstens eine Mahnung an alle, die es angeht, insbesondere an die Deutschen in der Sowjetzone, zu Besonnenheit und Geduld.
Zweitens. Jedes Volk möge sich nach seiner Tradition, nach seiner geschichtlichen Entwicklung, nach den Grundsätzen und nach Maximen, die ihm sein Glaube auferlegt, seine innere Verfassung selbst schaffen. So wie wir niemals dulden werden, daß der Kommunismus bei uns Fuß faßt, so muß sich der freie Westen hüten, als unwillkommener Missionar Grundsätze, die er für die eigenen Völker erarbeitet hat, den anderen Völkern zu empfehlen oder gar vorzuschreiben.
Drittens. Wohl aber mag der freie Westen allen Völkern der Welt Hilfeleistung jeder Art gewähren, nicht als gönnerhaftes Geschenk, und ohne Bedingungen daran zu knüpfen, nur vom Grundsatz der brüderlichen Liebe her. Es hat mich tief beeindruckt, als vor einigen Monaten in Bonn bei einer Zusammenkunft mit sudanesischen Politikern der Minister des Äußeren dieses jungen Staates als einen der Grundsätze, nach denen dieser Staat seine Politik führen wolle, dem Sinne nach die Worte Goethes zitierte: „Hand wird nur von Hand gewaschen; wenn du nehmen willst, so gib."
Viertes. Damit ist das, was zur Schaffung einer gesamten deutschen Nation, zur Frage der Wiedervereinigung zu geschehen hat, noch nicht erschöpfend gesagt. Hinzukommen muß eine stetige, aktive deutsche Politik, die ihrerseits versucht, im Wege der eingangs vorgeschlagenen direkten Verhandlungen, im Wege der Konsultation mit anderen Ländern, in dem geschickten Einschmiegen in die Entwicklungsmöglichkeiten, welche der Gang der großen Politik bietet, diese Frage nie zum Stillstand kommen zu lassen. Darüber hinaus wird es nötig sein, die Verbindung mit den deutschen Menschen in der Sowjetzone zu erhalten. Der Herr
Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hat in vielen Beziehungen geholfen und gutes Verständnis bewiesen. Ich möchte ihm an dieser Stelle für die unbürokratische Art, mit der er alle diese Bestrebungen unterstützt, danken. Er darf es mir aber nicht übelnehmen, wenn ich hinzufüge, daß der Druck und die Verbreitung von großen Broschüren, die niemand liest, ebenso überflüssig ist wie etwa das Aufsteigenlassen von Luftballons an der Werra oder an der Leine.
Damit schafft man keine echte Verbindung zwischen den deutschen Menschen. Ich würde viel eher sagen, der Ausbau der kulturellen Beziehungen, Vorstellungen von Theatern, Reisen von Sportlern meinethalben bis zu den Gesangsvereinen hinüber und herüber, Besuche von Handwerkern und Bauern und der Austausch von Erfahrungen, das alles würde dazu beitragen, von jenem Klima etwas zu erreichen, das wir wünschen. Und vergessen wir doch nicht den gesamtdeutschen Raum, den uns die evangelische Kirche bis zum heutigen Tage erhalten hat!
Wir können uns nicht recht denken, daß jemand in Pankow auf den Gedanken kommen könnte, zwar die Parole „Deutsche an einen Tisch!" an alle Wände zu schreiben, Verzeihung, zu schmieren, dann aber solche Verbindungen etwa zu verbieten.
Trotzdem weiß ich, daß vor erweiterten Gesprächen auf beiden Seiten eine gewisse Scheu besteht, die Scheu, vielleicht nicht als dogmengläubig, nämlich nicht als Anhänger des Dogmas, daß man den „Kommunisten" meiden soll, oder des Dogmas, daß man den „Kapitalisten" meiden soll, angesehen zu werden. Diese Scheu wird noch genährt, wenn solche Versuche auf der einen Seite zu parteipolitischer Verleumdung benutzt, auf der anderen Seite mit List und Gewalt die Führung solcher Gespräche unterbunden wird. Kein Mensch glaubt daran, daß ein Gespräch mit führenden Menschen der SED diese zu überzeugen geeignet sei. Wohl aber wird ein Gespräch mit den Menschen der mittleren und unteren Schichten der Zone gesucht und sollte gesucht werden. Auch der Herr Bundeskanzler hat den Umweg über den Kreml nicht gescheut, um deutsche Kriegsgefangene heimzubringen. Es kann deshalb erst recht kein Verbrechen sein, wenn Deutsche zu Deutschen reden. Wer sollte uns dies verbieten?
Manchmal werden mit einem gewissen hämischen Lächeln diese Versuche von Gesprächen entwertet. Hierzu ist folgendes zu sagen: Wenn wir im Westen noch an die Kraft unserer Ideen von Freiheit, Selbstbestimmung, Menschenwürde, Duldsamkeit — der ganze Katalog, der im Grundgesetz steht — glauben, wenn wir die freie Marktwirtschaft für besser halten als eine Plan- und Zwangswirtschaft kommunistischer Prägung, sollten wir solche Gespräche nicht meiden, sondern suchen.
Wenn wir aber glauben, daß wir solchen Gesprächen nicht gewachsen sind, wenn wir nicht an die Durchschlagskraft unserer Gedanken glauben, ja dann kapitulieren wir.
Und wenn der Osten seinen Einwohnern solche Gespräche mit uns verbietet, gibt er vor der ganzen Welt die Unterlegenheit seiner Ideen zu.
Ich sprach eingangs von den drei Zielen deutscher Politik, der Schaffung eines wiedervereinigten Deutschlands, der Erhaltung von Frieden und Freiheit für das gesamte Deutschland und schließlich der Zusammenarbeit mit allen Völkern, insbesondere im Rahmen der vereinigten Staaten von Europa, und zwar von Gesamteuropa, als Endziel. Wir hängen dem Ideal der vereinigten Staaten von Europa nach wie vor an. Aber wir müssen klar aussprechen, daß nach aller Erfahrung solche Staatenverbindungen nur dann wirksam geschaffen werden können, wenn Erschütterungen tiefgreifender Art die in Frage kommenden Völker erfassen und wenn im Zuge solcher Erschütterungen alle entgegenstehenden Schwierigkeiten, die oft nur kleinlicher Art, oft traditioneller Herkunft sind und oft nur Interessenstandpunkte verraten, weggeschwemmt werden. Eine solche Erschütterung war etwa vorhanden, als der Überfall auf Korea die europäischen Völker ihrer unsicheren Lage und Zersplitterung bewußt werden ließ oder als nach Schluß des zweiten Weltkrieges der Europagedanke wie eine Woge die Jugend Europas durchflutete. England hat im Jahre 1950 eine historische Stunde verpaßt. Dann kamen ,;Experten", dann kamen die Staatskanzleien, dann kam die Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch Frankreich, und nunmehr ist der Europagedanke kaum noch aktuell. Unter Kommentaren, Memoranden, Expertisen, unter einem Stapel von Bogen bedruckten Papiers ist ein enormer Grabhügel errichtet worden, über dem die Inschrift steht: „Hier ruht Europa".
Man schaffe zunächst, da der Weg der institutionellen Errichtung Europas einstweilen nicht gangbar scheint, die Voraussetzung für eine wirtschaftliche Vereinigung Europas. Diese Voraussetzung heißt zunächst den Zustand wiederherstellen, wie er auf wirtschaftlichem, monetärem Gebiet vor dem ersten Weltkrieg bis 1914 bestanden hat. Ich meine die Freiheit der Währungen, die Konvertibilität der Währungen. Wir begrüßen dabei die Arbeit der OEEC, die von der vorhin ausgesprochenen herben Kritik ausgenommen sei. Wenn der wahre Wert einer jeden Währung im freien Verkehr festgestellt ist, läßt sich der Schaffung eines gemeinsamen Marktes nähertreten.
Die Schaffung eines vierten europäischen Parlaments ist, wie es hier in den Rednernotizen meines Freundes Becker steht, grober Unfug; wahrscheinlich hätte er auch noch mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Nachdem der Europarat und das Parlament der Westeuropäischen Union sich gegen ein solches viertes Parlament ausgesprochen haben, nimmt es wunder, daß auf der Stufe der Ministerbesprechungen ein solcher Gedanke immer noch spukt.
Solange es noch kein aus allgemeinen direkten Wahlen hervorgegangenes europäisches Parlament gibt und solange ein solches Parlament nicht das Recht eines jeden Parlaments hat, nämlich Träger der Souveränität — in diesem Falle — Europas zu sein, vollberechtigt an der Schaffung europäischer Vertragswerke mitzuwirken und ihre Einhaltung und Durchführung zu kontrollieren, so lange kann der europäische Gedanke schon deshalb nicht mehr zum rechten Leben wiedererweckt werden, weil die Völker Europas parlamentarisch ausgeschaltet werden. Wenn europäische Institutionen nur im Wege
internationaler Verträge geschaffen werden, Verträge, an denen die heimischen Parlamente nicht mitwirken, sondern zu denen sie nur ja oder nein und sonst nichts sagen dürfen, und solange kein europäisches Parlament der geschilderten Art seinerseits die Völker bei diesen Aufgaben vertritt, wird der europäische Gedanke nur zur Schaffung riesiger Bürokratien mißbraucht. Auch die Montanunion war leider kein Anfang, sondern ist zum Selbstzweck mit dirigistischer Tendenz geworden, so daß das deutsche Parlament z. B. über die Kohlenbewirtschaftung nur noch wenig zu sagen hat.
Wenn die Dinge so liegen, hat jede Regierung, die ihrem Parlament Respekt entgegenbringt, unbeschadet der Geschäftsordnung und Prärogativen die Verpflichtung, solche internationale Verträge wie z. B. jetzt den in Vorbereitung befindlichen Vertrag über den gemeinsamen Markt oder über Euratom schon vor Abschluß dem Bundestag zur Erörterung vorzulegen.
Ich weiß, daß es nicht üblich ist. Aber in Frankreich hat die Regierung anders gehandelt, sie hat das französische Parlament die Dinge prüfen und erörtern lassen und hat sich vom Parlament Richtlinien für die Verhandlungen mitgeben lassen. In Deutschland wird das Parlament einfach nicht gefragt.
Jede andere Regierung ist froh, wenn ihr durch Beschlüsse des Parlaments der Rücken gesteift und ihre Position für Verhandlungen auf der Ministerebene gestärkt wird. Wir bedauern, daß gerade im Rahmen der Europapolitik eine solche Kritik notwendig ist.
Ein paar Worte zum Schluß. Die Presse, insbesondere auch einige parteiamtliche Pressedienste haben die Regierungserklärung, die Stellungnahme der Parteien und die heutige Sitzung als den Beginn des Wahlkampfes auf dem Gebiete der auswärtigen Politik groß angekündigt. In der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses von gestern hat, obwohl auf der Tagesordnung ein Bericht des Herrn Außenministers über die politische Lage stand, der Außenminister den Bericht nicht erstattet mit der Begründung, daß es uninteressant sei, am Tage vorher im Ausschuß schon das gleiche zu sagen wie am Tage darauf in der öffentlichen Sitzung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein ernstes Wort! Nach Auffassung meiner politischen Freunde — wissend, daß sie ins Leere sprechen — sollte die Außenpolitik außerhalb des Wahlkampfes bleiben.
Wir können leider der Regierung den Vorwurf nicht ersparen, daß bestimmte Passagen der Regierungserklärung ebenfalls in diese Richtung deuten. Wir haben versucht und werden es weiter versuchen, unsere Auffassung über die außenpolitische Lage in sachlicher Form darzulegen. Auswärtige Politik ist eine Aufgabe auf Leben und Tod. Wir sollten versuchen, diese Aufgabe mit Ernst und fern von allem Wahlerfolgsdenken unseren Bürgern klarzumachen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenz .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, mich möglichst kurz zu fassen, und will ebenfalls mit einer protokollarischen Bemerkung beginnen. Wenn wir uns schon die Redezeiten gegenseitig vorrechnen, dann waren es aber nicht vier Stunden, sondern einschließlich der Regierungserklärung nur 2 Stunden und 45 Minuten, die wir in Anspruch genommen haben. Ich möchte das nur im Interesse der Korrektheit sagen.
Herr Kollege Ollenhauer hat es für richtig gehalten, mit der Saar zu beginnen. Offenbar hat er geglaubt, das wäre ein ganz besonders guter Ansatzpunkt, um die Regierungspolitik zu kritisieren.
— Er hat nur einen Satz dazu gesagt, Herr Kollege Mellies.
Aber ich will dieses Thema gar nicht mehr vertiefen. Wir sind davon überzeugt, Herr Kollege Mellies, daß das deutsche Volk sich über den Erfolg der Regierungspolitik an der Saar ein festes Urteil gebildet hat.
Nun zu den Betrachtungen des Herrn Kollegen Ollenhauer über die Ursache der Spannungen, mit denen wir heute in der Welt zu kämpfen haben. Selbstverständlich — das hat auch Herr Kollege Kiesinger sicherlich nicht sagen wollen — sind diese Spannungen nicht erst mit Korea usw. entstanden, und als als Gegengewicht die NATO gebildet wurde. Die Spannungen liegen natürlich sehr viel früher. Daß der Urgrund die Politik des Dritten Reichs war, darüber brauchen wir uns ja wohl nicht zu streiten. Aber ich möchte doch folgendes feststellen: Die NATO ist als Verteidigungsbündnis erst gebildet worden, als die ganze westliche Welt durch ständige sowjetische Angriffshandlungen bedroht war, und auch dann erst haben die Alliierten erkannt, daß eine Verteidigung Europas ohne Deutschland eben nicht möglich ist.
Nun hat Herr Kollege Ollenhauer gesagt, nach dem Verhalten Frankreichs und Englands habe die NATO bewiesen, daß sie nicht funktioniere. Ich gebe zu, daß das Verhalten Englands und Frankreichs eine sehr schwere Belastung für das Verteidigungsbündnis war. Das hat kein Mensch bestritten. Das haben wir, glaube ich, gemeinsam im Europarat schon zum Ausdruck gebracht. Aber wir wissen auch, daß alle menschlichen Einrichtungen erst einer gewissen Zeit bedürfen, bis sie konsolidiert sind und bis sie wirklich funktionieren.
Man soll aber nun nicht nur das Verhalten Frankreichs und Englands in den Vordergrund stellen, wenn man nicht gleichzeitig sagt, daß schließlich zunächst Herr Nasser damit angefangen hat, internationales Recht zu brechen,
unter dem sehr einseitigen Beifall von Staaten, die auch nachher bei dem Ungarnkonflikt nur sehr, ich möchte sagen, modifiziert reagiert haben.
Nun sagt Herr Kollege Ollenhauer — damit werden wir uns noch auseinandersetzen —: Blockbildung ist kein Mittel zur Verhinderung des Krieges. Sicherlich, ein Verteidigungsbündnis ist immer nur ein relatives Mittel. Aber was haben Sie denn an die Stelle zu setzen? Das ist doch die entscheidende Frage! Was gibt es denn Besseres als ein Verteidigungsbündnis?
In diesem Zusammenhang hätte es mich sehr interessiert, wenn wir sehr viel klarer gehört hätten, wie die SPD nun zu der Frage der NATO steht. Herr Kollege Ollenhauer hat gesagt: „Es ist nicht unsere Aufgabe, Ihre Fragen zu beantworten, sondern Sie stehen in der Regierungsverantwortung, also Sie müssen beantworten." Nun, meine Damen und Herren, Sie haben ja den Optimismus, daß Sie auch bald mal in der Regierungsverantwortung stehen könnten, und deshalb sind wir sehr daran interessiert, daß wir wissen und daß das deutsche Volk weiß, was dann Ihre Politik sein wird.
— Herr Kollege Mellies, vielleicht bin besonders unbegabt. Aber das können ja andere dann entscheiden.
— Verzeihung, ich komme darauf schon zu. Herr Kollege Ollenhauer hat gesagt: „Wir werden selbstverständlich die Verträge respektieren." Nun, das haben wir als eine Selbstverständlichkeit angenommen, daß rechtsgültig geschlossene Verträge auch von einer anderen Regierung respektiert werden. Aber es kommt ja nicht darauf an, d a B man einen Vertrag hält, sondern w i e man einen Vertrag hält.
Eins hat mich aber doch überrascht: daß Herr Kollege Ollenhauer am 14. Januar erklärt hat, niemals habe die SPD den Austritt aus der NATO gefordert, um einen Sicherheitspakt mit der Sowjet-'union abzuschließen. Ich habe ein bißchen — man muß ja leider manchmal die Zeitungsmappe in Bewegung setzen —, nur ein ganz kleines bißchen zurückgeblättert. Herr Kollege Mellies — wenn ich Sie noch öfter zitiere, so soll es kein persönlicher Antagonismus sein —, Sie haben in der UngarnDebatte gesagt: „Die Teilung Deutschlands kann nicht überwunden werden, wenn die Bundesrepublik Mitglied der NATO und der Westeuropäischen Union bleibt."
Und in Bombay hat Herr Kollege Ollenhauer — Auslandsreisen sind ja interessant —, und zwar apostrophiert als künftiger Bundeskanzler — nun gut! —, am 10. November erklärt, eine Lösung der Wiedervereinigung könne nur herbeigeführt werden, wenn die beiden deutschen Teilstaaten aus ihren vertraglichen militärischen Verpflichtungen entlassen würden. Aber Herr Kollege Mellies — der ja direkter ist — hat dann am 27. November noch erklärt, wenn die Bundesregierung und die Regierungskoalition an ihrem Standpunkt festhielten, in
der NATO zu verbleiben, dann laufe das deutsche Volk Gefahr, daß eines Tages von den Weltmächten vollendete Tatsachen geschaffen würden. Nun, wie ist das eigentlich mit der Erklärung in Einklang zu bringen, Sie hätten niemals den Austritt aus der NATO gefordert, und wie ist es zu werten, daß ein großer Teil Ihrer Fraktion auf die Frage des Herrn Außenministers: „Sehen Sie denn nicht jetzt doch vielleicht einen gewissen Vorteil in der NATO?" ein glattes Nein gesagt hat?
Sie tun jetzt so — das ist ja eben Ihre Taktik —, als wenn es sich immer nur um die Frage gehandelt hätte, ob ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO verbleiben soll oder nicht. Darüber ist überhaupt gar keine ernsthafte Diskussion gewesen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland die Freiheit hat, darin zu verbleiben oder herauszugehen oder einen anderen Vertrag zu machen.
Also das ist doch eine Verschiebung der Dinge.
Angesichts dieser widersprechenden Erklärungen — nehmen Sie es mir nicht übel — frage ich Sie: Was wollen Sie nun eigentlich? Heraus aus der NATO oder hinein in die NATO?
Sehen Sie, meine Damen und Herren — und das ist das Schlimmste —, in Wirklichkeit wollen Sie nämlich beides!
In Wirklichkeit möchten Sie nämlich — zum mindesten ein Teil von Ihnen — unter Respektierung der Verträge sagen: „Wir bleiben drin." Ich bin aber fest überzeugt, daß ein großer Teil von Ihnen es sehr viel lieber sehen würde, wenn Sie hinausgingen.
Meine Damen und Herren, ich warne vor einer zwiespältigen Politik zwischen West und Ost. Glauben Sie denn, man würde ein wertvoller Partner für die anderen sein, wenn man erklärt: „Nun, ich bleibe solange darin, bis ich herausgehen kann."?
Dann tritt nämlich genau das ein, Herr Kollege Mellies, was Sie in anderem Zusammenhang befürchtet haben: die anderen könnten sich sehr schnell auf unserem Rücken einigen, und dann sitzen wir zwischen sämtlichen Stühlen.
Aber ich gebe zu, daß es natürlich schwierig ist, Ihre früheren Parolen gegen die NATO, gegen die Wiederaufrüstung nun noch einigermaßen glaubwürdig zu machen, wenn man jetzt zumindest dem Ausland gegenüber auf eine wohlwollende Beurteilung rechnet.
Denn was soll das nun eigentlich heißen: „Die NATO ist für uns keine Vorleistung"? Dann hätten Sie uns auch genau sagen müssen, wann, wenn Sie sie preisgeben, dieser Zeitpunkt gegeben sein wird und wie dann die Situation von Ihnen präzise beurteilt wird.
Glauben Sie, meine Damen und Herren, Sie würden auf den Kreml mit einer derart unsicheren Politik Eindruck machen? Der Kreml sieht das sicher als ein Zeichen unserer Unsicherheit an, und der Westen könnte es als ein Zeichen unserer Unzuverlässigkeit ansehen.
Sie haben erklärt — und Herr Kollege Ollenhauer hat die These wiederholt —, daß ein europäisches Sicherheitssystem statt der NATO eine höhere Sicherheit geben würde. Den Beweis dafür ist er uns allerdings völlig schuldig geblieben.
Er hat uns auch nicht genau gesagt, wie ein solches System aussehen sollte. Er hat gesagt, man könnte ein wiedervereinigtes Deutschland in ein solches Sicherheitssystem einbauen. Schön, darüber hat auch die Bundesregierung in ihren Noten bereits etwas gesagt. Aber es handelt sich ja nicht um die Frage, was ein wiedervereinigtes Deutschland machen wird — das können wir heute nicht übersehen —, sondern es handelt sich um die Frage, was wir heute für eine Politik zu machen haben, und diese Frage haben Sie nicht beantwortet.
Ich meine, man sollte die Dinge doch einmal ganz klar sehen. Man kann den NATO-Pakt auflösen. Was hätte das zur Folge? Es hätte zur Folge, daß sich die europäischen Staaten in einem Sicherheitssystem isoliert nebeneinander befänden und daß eine gemeinsame Planung einer Verteidigung wohl nicht mehr möglich wäre. Und glauben Sie, meine Damen und Herren, daß eine Garantie dieses Sicherheitssystems durch die beiden Großstaaten, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, uns echte Sicherheit geben könnte? Wenn der Ernstfall eintreten sollte, dann wäre nur noch die Möglichkeit, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr rechtzeitig eingreifen könnten, und dann käme das, Herr Kollege Mellies, was Sie in anderem Zusammenhang gesagt haben: dann bliebe nur noch der Atomkrieg, den wir unbedingt vermeiden wollen.
— Aber in keiner Weise, Herr 'Kollege Mellies! Ich glaube, ich desavouiere nur das, was Herr Kollege Ollenhauer hier gesagt hat.
Herr Kollege Ollenhauer hat dann gesagt: „Wollen Sie denn nicht einsehen, daß sich durch die Vorgänge in Polen und Ungarn etwas geändert hat?" Wir sehen es sehr genau; denn es hat sich eins gezeigt: daß die Sowjetunion nicht bereit ist, auch nur einen Fußbreit Bodens aufzugeben.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie sehr ernst: Ist eigentlich die Politik ständiger Angebote nicht dieselbe Politik, wie sie der Westen Hitler gegenüber getrieben hat? Auch damals hat man geglaubt, durch Entgegenkommen, durch Konzessionen den Diktator freundlich stimmen zu können.
Und was hat man erreicht? Man hat seinen Appetit vergrößert!
Ich glaube, meine Damen und Herren, wir sind uns im Grunde genommen darüber einig, daß wohl ein Sicherheitspakt nur dann in Frage kommen könnte, wenn er durch ein lückenloses Kontrollsystem auch wirklichgarantiert würde. Davon hat Herr Kollege Ollenhauer aber nur sehr wenig gesagt, und in seiner Bemerkung, wir sollten doch nicht so tun, als wüßten wir nicht, was ein Sicherheitspakt sei, schließlich sei die NATO ja auch ein Sicherheitspakt, scheint er mir tatsächlich in etwas atemberaubender Weise ein Verteidigungsbündnis mit einem kollektiven Sicherheitspakt durcheinandergeworfen zu haben. Das sind allerdings zwei völlig verschiedene Dinge. Darüber kommen Sie auch nicht hinweg, und wir bedauern es im Grunde genauso wie Sie: Das Musterbeispiel eines kollektiven Sicherheitspaktes ist und bleibt die UNO, und gerade die UNO hat gezeigt, daß sie bei ihrer Konstruktion versagen muß, wenn eine der beiden großen Weltmächte nicht mitmacht, und daß sie sich gegenüber einem kleinen Staat wie Ungarn nicht durchsetzen kann, wenn er durch den großen Bruder im Osten gedeckt ist. Deshalb ist alles Gerede vom Ersatz der Militärbündnisse durch Sicherheitspakte eine Politik der projizierten Illusionen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Sie können nicht damit ausweichen, daß Sie sagen, solange die Voraussetzungen für ein Sicherheitssystem dieser Art nicht geschaffen seien, blieben Sie ja nolens volens in der NATO. Damit ist das Problem wirklich nicht durchdacht. Aber Ihr Kurs — ich würde sagen: Ihr Zick-Zack-Kurs —
geht ja noch weiter. Ich denke nicht nur an 1952, sondern, Herr Kollege Ollenhauer, ich zitiere die dpa-Meldung vom 17. November 1956 — dpa 101 a 1. Danach sollen Sie in Japan gesagt haben, die SPD lehne eine Wiederbewaffnung ihres Landes einfach ab, weil Deutschland ein gespaltenes Land sei. Wie ist denn nun diese Erklärung wieder mit Ihren anderen Erklärungen in Einklang zu bringen, daß Sie nunmehr für eine Berufsarmee wären?
— Ich zitiere, was dpa gemeldet hat. Wenn es nicht richtig ist, kann ich nicht dafür.
Im Bundestag haben Sie ja auch nicht gegen die Wehrpflicht allein Stellung genommen, sondern gegen die Wiederbewaffnung als solche. Glauben Sie, daß ein Berufsheer eine angemessene Beitragsleistung zum NATO-Pakt wäre, wenn alle anderen Staaten der NATO — und nicht nur alle anderen Staaten der NATO, sondern alle Staaten der Welt, die irgend etwas bedeuten — die allgemeine Wehrpflicht haben? Man kann Sie immer nur wieder an das erinnern, was Schumacher zu diesem Thema gesagt hat. Ich will es nicht wiederholen.
Ich glaube, bei der gegenwärtigen Situation sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Eine Politik der Halbheiten zu betreiben, ist mehr als gefährlich. Ich darf mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten das zitieren, was Marcel Schulte — weil es so ernst ist — vor wenigen Tagen schrieb:
Nach übereinstimmender Meinung der militärischen Sachverständigen ist der sowjetische militärische Aufmarsch eindeutig offensiv gegliedert. Daneben wird in aller Eile eine neue Kominform ins Leben gerufen, und sicherlich liegt nach der Sueskrise der Schwerpunkt der Kreml-Aggression im Vorderen Orient, aber der Westen und der Osten Europas sind genauso bedroht, und genügsame militärische sonstige Selbstverstümmelung des Westens könnte angesichts einer solchen Situation nur ein politischer Romantiker empfehlen, so schön die Rezepte auch klingen mögen.
Meine Damen und Herren, wir sind auch für Verhandlungen mit der Sowjetunion, wenn sie Erfolg versprechen.
Aber wir sind uns wohl angesichts der gegenwärtigen Situation darüber im klaren, daß die Erfolgschancen wirklich sehr gering sind. Wir sind für Abrüstung, wenn sie kontrollierbar ist. Aber es ist doch einfach eine Verkehrung der Tatsachen, wenn Herr Kollege Erler im Rundfunk behauptet hat — ich muß Sie jetzt zitieren, Herr Kollege Erler —, daß eine echte Chance für eine Abrüstung schon bestanden habe. Dafür werden Sie nie einen Beweis erbringen können. Es haben so viele Abrüstungsverhandlungen in der UNO-Kommission stattgefunden, und sie sind immer wieder an einem Punkt gescheitert — und ,das ist die Wahrheit —, nämlich an dem Punkt der Effektuierung einer echten Kontrolle.
— Lieber Herr Kollege Erler, Sie glauben doch wohl nicht, daß die Bundesregierung es hätte verhindern können, wenn die Großmächte der Welt zu einem wirklichen Abrüstungsabkommen hätten kommen wollen.
Das gehört eben zur Methode: Weil Verhandlungen
über die Abrüstung in der UNO geführt werden,
weil sogar gewisse Leute davon sprechen, man
müsse überlegen, was geschehen könnte, wenn die
Sowjets ihre Truppen aus den Satellitenstaaten
zurückziehen, wird atemberaubend die Situation so
dargestellt, als wenn man es schon mit Realitäten,
nicht mit rein hypothetischen Fällen zu tun hätte.
Ich habe gesagt, das ist eine Politik der projizierten Illusionen. Wir sind fest davon überzeugt, daß wir durch die Entwicklung im Satellitenraum einer Wiedervereinigung wirklich näherkommen können. Ich glaube, wir sind uns auch darüber einig, daß die Wiedervereinigung durch Verhandlungen erst dann erreicht werden kann, wenn die machtpolitischen Verhältnisse in Mitteleuropa sich geändert haben.
Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben Ihre Wahlparole „Sicherheit für alle" ausgegeben. Ich muß darauf noch einmal zurückkommen; denn Sie haben mir da einen persönlichen Tort angetan. Das war nämlich einer meiner ältesten Wahlschlager 1953.
Aber, Herr Kollege Ollenhauer, ich bin gar nicht gram darum. Denn was die Sicherheit anlangt, glaube ich, daß wir mehr zu bieten haben. Wir haben all die Jahre hindurch die Sicherheit als einen Grundsatz unserer Politik gehabt. Deshalb waren wir für die NATO, wir waren für die notwendig gewordene Wiederbewaffnung, deshalb sind wir für den Zusammenschluß Europas; sonst könnten wir nämlich nicht mehr leben. Nein, Herr Kollege Ollenhauer, diese Parole werden Sie uns nicht wegnehmen. Nur wenn wir diese Politik weiter verfolgen, kommen wir wirklich zu einer Wiedervereinigung in Freiheit.
Das Wort hat der Abgeordnete Ollenhauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Aber ich glaube, es liegt im Interesse dieser Verhandlungen, daß ich gleich einige Bemerkungen zu dem mache, was der Herr Kollege Lenz in bezug auf die Haltung der SPD gesagt hat.
Ich möchte ihn zunächst von der Sorge befreien, daß die SPD in innere Schwierigkeiten wegen der Vertretung der Politik kommt, die ich heute dargelegt habe. Die Sorge, es seien sehr viele unter uns, die im Grunde lieber heute als morgen aus der NATO herausgingen, auch wenn die offizielle Version heute anders laute, brauchen Sie, Herr Kollege Lenz, nicht zu haben.
Wir haben uns auf dieser Linie bereits auf dem Parteitag in München verständigt, und das, was wir in der vorigen Woche beschlossen haben, ist nicht mehr als eine Präzisierung der politischen Linie, die wir damals einmütig festgelegt haben.
Zweitens. Herr Kollege Lenz hat einige Fragen gestellt, von denen ich annehme, daß sie ihm selbst nicht so unklar sind. Aber er wollte vielleicht gewisse Empfindungen zum Ausdruck bringen, die nach seiner Meinung im allgemeinen in der Bevölkerung über den sogenannten Zickzackkurs der SPD vorhanden sein könnten, ungefähr so: Was sagt Tante Lieschen draußen dazu? Ich will darauf antworten, Herr Kollege Lenz. Tatsächlich hat die Sozialdemokratie niemals die Forderung vertreten, daß die Bundesrepublik ohne aussichtsvolle Verhandlungen über die Wiedervereinigung die Mitgliedschaft in der NATO aufgeben sollte.
Es gibt keinen solchen Antrag, und es gibt keine solche Erklärung.
Ich stelle das fest. Es steht Ihnen frei, zu Ihrem
Hausgebrauch andere Behauptungen zu verbreiten; aber sie stehen mit der Wahrheit in Widerspruch.
Herr Kollege Lenz hat dann eine dpa-Meldung über ein Interview zitiert, das ich in Tokio gehabt habe. Ich 'kenne den vollen Text dieser dpa-Meldung nicht. Ich nehme an, wegen der Kürze der Zeit hat Herr Kollege Lenz nur einige Sätze zitiert.
Sicher — soweit ich mich erinnern kann — habe ich in diesem Interview, in dem ich die Haltung der Sozialdemokratischen Partei erläutert habe, gesagt, daß es die Auffassung der Sozialdemokratischen Partei war und ist, daß die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik in NATO von uns abzulehnen war, weil wir in ihr eine Erschwerung der Wiedervereinigung Deutschlands gesehen haben und noch heute sehen.
Das ist doch für Sie nichts Neues; denn wir haben aus dieser Haltung nie ein Hehl gemacht. Das einzige, was man noch hätte hinzufügen können, wäre, daß die Erfahrungen seit dem Beitritt der Bundesrepublik zu NATO die Richtigkeit der sozialdemokratischen These bestätigt haben.
Denn, meine Damen und Herren, was ist von der Prophezeiung des Herrn Bundeskanzlers übriggeblieben, daß die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in NATO uns die Wiedervereinigung bringen wird? Nichts!
Weiter: Sie haben hier wieder die Frage gestellt, Herr Kollege Lenz, wie wir uns die Realität vorstellen in bezug auf unseren „illusionären" Vorschlag eines Sicherheitssystems. Sie haben sogar versucht, auseinanderzusetzen — aber das war nicht sehr überzeugend; das glauben Sie wohl auch —, daß man hier einen regionalen Pakt wie die NATO nicht mit einem kollektiven europäischen Sicherheitspakt verwechseln kann. Ich will das nicht vertiefen und will nur folgendes sagen. Es ist denkbar, daß man in Europa oder in einem anderen Teil der Welt andere Sicherheitsorganisationen schafft, als wir heute z. B. in der NATO haben, und daß sie in bezug auf die Effektivität der Sicherheit dieselbe Wirkung haben können wie NATO.
Das alles haben Sie ja im Grunde mindestens durch das Memorandum der Bundesregierung vom 2. September akzeptiert. Gehen Sie doch nicht hinter die Erkenntnisse Ihrer eigenen Regierung zurück, nur aus Spaß an der Polemik gegenüber einem Standpunkt der SPD, den sie nie gehabt hat!
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur um die Frage, welche Position NATO zu einem wiedervereinigten Deutschland haben soll, sondern es geht ganz konkret darum: Wir sind der Meinung, daß sich die Bundesregierung bei allen vier Mächten für Verhandlungen über die Möglichkeiten und die Chancen einer anderen Organisation der
Sicherheit in Europa auf der Basis eines solchen regionalen Sicherheitssystems mit der vollen Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands einsetzen sollte. Wenn diese Verhandlungen zu einem positiven Resultat führen, sollten und müßten wir bereit sein, die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in NATO durch die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in einem solchen Sicherheitssystem zu ersetzen. Das ist eine ganz konkrete, reale Vorstellung. Dazu können Sie sagen — wie ich schon gesagt habe —, Sie akzeptieren sie nicht. Aber damit kommen Sie nicht aus, daß Sie sagen: Uns paßt sie nicht, sie ist illusionär. Nein, der wirkliche Grund Ihres Widerstandes liegt viel tiefer, Sie wollen eine solche Verhandlung nicht,
weil Sie die Frage der Mitgliedschaft in der NATO in Verhandlungen über die Schaffung eines neuen Sicherheitssystems eben nicht zur Debatte stellen wollen. Diese Klarstellung, die jetzt durch die Ausführungen des Herrn Kollegen Lenz erfolgt ist, ist uns sehr wertvoll.
Ein letztes Wort. Sie haben gesagt, auch Sie wollten Verhandlungen mit der Sowjetunion, aber wohin man mit ständigen Angeboten an solche Mächte komme, das habe doch die Erfahrung der Westmächte mit Hitler gezeigt.
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch genausogut wie wir, daß bis zur heutigen Stunde diese Frage einer ernsthaften Diskussion über die Position eines wiedervereinigten Deutschlands in einem europäischen Sicherheitssystem nicht aufgeworfen worden ist, weder auf der Berliner Konferenz der Vier Mächte noch auf der Genfer Konferenz der Vier Mächte.
Es ist eine historische Tatsache, daß die drei Westmächte bzw. die Außenminister der drei Westmächte schon damals in Genf, als sie diese Frage ihrem sowjetischen Kollegen nicht stellten, in vollem Einvernehmen mit der Bundesregierung gehandelt haben.
Das sind die Tatsachen, und an diesem Punkt, wenn Sie wollen, scheiden sich die Geister.
Hier sollten wir nichts verschleiern und nichts verdecken. Diese Frage ist politisch so wichtig, daß wir sie austragen sollten. Aber ich meine, Herr Kollege Lenz — und deswegen habe ich noch einmal gesprochen —, wir sollten dann in der Sache diskutieren, und Sie sollten sich nicht damit helfen, daß Sie sagen: Wir sind nicht bereit, über illusionäre Vorstellungen der SPD zu reden.
Das Wort hat der Abgeordnete Kiesinger.
Ich möchte nur ein paar Bemerkungen machen, Herr Kollege Ollenhauer, damit wirklich die Klarheit hergestellt wird, die Sie soeben gefordert haben. Sie haben uns und der Regierung den Vorwurf gemacht, daß sie nicht bereit sei, mit den Vier Mächten Verhandlungen einzuleiten, die die Teilnahme Deutschlands an einem kollektiven Sicherheitssystem, wie Sie es sehen, betreffen. Herr Kollege 011enhauer, das ist nicht wahr. Das Memorandum der Bundesregierung — Sie haben es selber erwähnt — hat die Wege, die wir gehen wollen, klar gewiesen. Wir können allerdings nicht Ihre Forderung, jedenfalls Ihre bis jetzt erhobene Forderung, als richtig anerkennen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der NATO stehen müsse und daß man die Sicherheit unseres Landes durch ein Paktsystem, das Sie kollektives Sicherheitssystem nennen, begründen müsse. Wir haben von Ihnen gefordert, uns zu sagen, wie Sie die reale Sicherheit unseres Landes und Westeuropas in einem solchen Falle sehen. Die Antwort, die Sie darauf gegeben haben, ist durchaus unbefriedigend. Sie haben gesagt: Gibt es nicht anderswo regionale Sicherheitspakte? Ich hatte Ihnen in meinen Ausführungen gesagt: Wenn wir ein kollektives europäisches Sicherheitssystem mit der Teilnahme Sowjetrußlands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika begründen, ist noch nichts gelöst. Das kann, sagte ich, die Krönung, der Schlußstein eines sehr mühevollen Werkes sein. Aber die reale Sicherheit, die wir fordern, liegt in der Herstellung eines — ich wiederhole, was ich .gesagt habe — politischen und militärischen Gleichgewichts.
Wenn Sie also offen mit uns über dieses Problem diskutieren wollten, dann hätten Sie etwa sagen müssen: Ich denke mir die Sache so: Über den Status eines wiedervereinigten Deutschland wird vorher eine Festlegung getroffen, d. h. das wiedervereinigte Deutschland scheidet aus der NATO aus.
Ich nehme an, Sie gehen bei Ihren Gedankengängen davon aus, daß die NATO auch dann noch — vorläufig — existent bleibt, wenn wir uns auch beide vielleicht in dem Endziel einig sind, daß wir Bedingungen auf der Welt herbeiführen, die es schließlich unnötig machen, die NATO aufrechtzuerhalten, weil die Voraussetzungen, die den Westen zu ihrer Gründung gezwungen haben, weggefallen sind. Aber zunächst liegen diese Voraussetzungen noch vor. — Was dann, wenn die Bundesrepublik der NATO nicht mehr angehört? Dann erheben sich doch eine ganze Reihe schwerwiegendster Fragen. Es erhebt sich die Frage: Ist dann die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft überhaupt noch in der Lage, die Sicherheit Westeuropas und damit auch unseres eigenen Landes zu garantieren? Die Autoritäten der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft antworten darauf: nein!
Ich habe Sie zweitens auf die große Bedeutung der konventionellen Streitkräfte in diesem Zusammenhang hingewiesen. Ich habe Ihnen gesagt, daß die beiden kleinen Länder Schweden und die Schweiz zur Verteidigung ihrer Freiheit — die sie im Ernstfall doch auch nur in Anlehnung an die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft durchführen könnten — ein militärisches Aufgebot zur Verfügung halten, das etwa ein Zehntel ihrer Bevölkerung ausmacht. Wie also sollte die Verteidigungskraft eines wiedervereinigten Deutschland, das nicht der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft angehören würde, aussehen, damit die Sicherheit Europas nicht nur durch ein auf dem Papier stehendes Wort Sowjetrußlands garantiert wäre? Darüber, Herr Kollege Ollenhauer, haben wir auch heute nicht ein einziges Wort gehört.
Das Wort hat der Abgeordnete Feller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage, die nicht nur wir uns gestellt haben, sondern die auch in der Presse gestellt wurde: was eigentlich, wenn nicht der bevorstehende Wahlkampf, der akute Anlaß zu einer außenpolitischen Debatte am heutigen Tag gewesen ist, hat uns auch die Regierungserklärung leider nicht zu beantworten vermocht; denn sie hat in der Frage, die als Motiv der Forderung nach der heutigen Debatte zugrunde gelegt wurde, daß nämlich im Zusammenhang mit dem Komplex der Berlin-Anträge auch über das Problem der Wiedervereinigung Deutschlands gesprochen werden sollte, leider nichts Neues gebracht. Insofern halten wir das ganze heutige Geschehen, das mit so viel publizistischem Aufwand vorbereitet worden ist, für sehr wenig sinnvoll.
Wir sind zwar willens und durchaus bereit, bei jeder sich bietenden und geeigneten Gelegenheit von der uns bedrückenden Teilung Deutschlands und der Notwendigkeit ihrer Überwindung zu sprechen. Aber wir meinen, man sollte diese Frage, zumal sonst nicht immer allzuviel Bemühungen zu einer Fortentwicklung in dieser Hinsicht festzustellen sind, auf keinen Fall im Zeichen des Wahlkampfes strapazieren. Ich bin überzeugt davon, daß, wenn hier nicht Presse, Rundfunk und Fernsehen mit Zuschauenden und Zuhörenden vertreten wären, hier sicher alles in einer ganz anderen und dem Ziele der Wiedervereinigung vielleicht besser dienenden Weise vorgetragen worden wäre. Der Herr Bundesaußenminister weiß es wahrscheinlich selbst und hat auch das Empfinden dafür, daß manche Passagen in der Regierungserklärung nicht gerade in einer der Sache dienenden Tonart, weder außennoch innenpolitisch, gehalten waren. Und ich weiß nicht, ob man im Ausland ohne weiteres bereit sein wird, das alles unter dem Gesichtspunkt der Wahlkampfstimmung hinzunehmen. In der Regierungserklärung stehen eine Reihe von Sätzen, bei denen ich mir gedacht habe, daß sie sehr wohl etwa im amerikanischen Kongreß gesagt werden könnten. Mir stellte sich die Frage, ob uns in unserer Lage und in der augenblicklichen Situation eine solche Tonart wirklich ansteht.
Im Bulletin hat der Herr Bundesaußenminister vor einigen Tagen in einem Essay die Frage gestellt: Was ist eigentlich Außenpolitik? Nun, ich meine, Außenpolitik ist zum großen Teil auch das Bemühen um eine psychologische Einfühlung in die Mentalität der anderen, nicht, um mit der Sprache der Regierungserklärung zu sprechen, des Gegners. Ich fürchte, die anderen werden bei dieser Tonart der Regierungserklärung teilweise die Vermutung haben, daß die deutsche Hybris wieder einmal ausgebrochen sei.
Meine Freunde und ich sehen den Sinn einer außenpolitischen Parlamentsdebatte jedenfalls nicht darin, daß nun jeder zu beweisen sucht, daß er in der Vergangenheit immer recht gehabt habe, sondern darin, daß konstruktive Vorschläge darüber erörtert werden, wie es weitergehen soll. Das müßte doch in erster Linie eigentlich auch den Wähler interessieren; denn er sanktioniert mit seiner Stimmabgabe weniger die Vergangenheit, sondern glaubt, damit die Zukunft zu bestimmen. In der Regierungserklärung war von der Zukunft aber sehr wenig die Rede. Sie hat hier offenbar noch nicht begonnen, oder sie soll erst nach der Wahl beginnen.
Der Herr Bundesaußenminister und der Herr Kollege Kiesinger, die Sprecher der CDU/CSU, haben sich sehr gegen die Unterstellung verwahrt, die Bundesregierung habe ihre außenpolitische Konzeption überprüft und dabei festgestellt, daß gewisse Elemente darin unrichtig gewesen seien. Meine Damen und Herren, als ob in einer solchen Unterstellung etwas Bösartiges enthalten wäre, als ob die Gewinnung neuer Erkenntnisse etwas Verwerfliches wäre! Wir jedenfalls wären der Bundesregierung nur dankbar, wenn sie aus der weltpolitischen Lage und auch aus dieser Debatte vielleicht einige neue Erkenntnisse gewinnen und danach handeln würde.
— Sehr schön! Die Erkenntnis, die hier wohl zu gewinnen wäre oder die sich, wie ich glaube, hier gewinnen läßt, ist die, daß niemand in diesem Hause den Standpunkt vertritt, man könne die abgeschlossenen Verträge einfach einseitig aufkündigen oder zerreißen oder man müsse vertragliche Verpflichtungen nicht treulich einhalten. Die letzte Frage hat ja Herr Kollege Lenz gestellt. Er sagte, es komme nicht nur darauf an, daß, sondern auch darauf, wie Verträge eingehalten werden.
Ich darf für meine Freunde und mich sagen: wir nehmen durchaus diesen Standpunkt ein, daß die Verträge in einer ihrem Wortlaut und Sinn entsprechenden Weise eingehalten werden müssen. Und ich glaube, ich kann den Ausführungen des Herrn Kollegen Ollenhauer den gleichen Standpunkt entnehmen. Allerdings muß ich sagen, meine Damen und Herren von der SPD, daß wir an dieser Ihrer Auffassung manchmal zu gewissen Zweifeln Anlaß hatten. Als mein Kollege Seiboth vor einigen Wochen in einer Rede in Alsfeld diese unsere Meinung vortrug, war es Ihr Pressedienst, der ihn deshalb angriff und ihm unterstellte, er nehme nicht einen für die Wiedervereinigung günstigen politischen Standpunkt ein. Ich denke aber, daß da die linke Hand nicht wußte, was die rechte tat, und daß ich das, was Herr Kollege Ollenhauer heute hier ausgeführt hat, als die authentische Wiedergabe der Auffassung der SPD ansehen kann.
Nun, meine Damen und Herren, das, was ich wegen der Erfüllung der Verträge gesagt habe, ist eigentlich alles selbstverständlich. Wenn man vernünftig miteinander darüber spricht, kann es eigentlich keine echte Meinungsverschiedenheit geben. Trotzdem wird einem in politischen Gesprächen in diesen Monaten erstaunlicherweise immer wieder von sehr nüchtern rechnenden Leuten die Frage entgegengehalten: Sind Sie nun auch wirklich bereit, die Verträge aufrechtzuerhalten und zu erfüllen? Meine Damen und Herren, der Wille zur loyalen Erfüllung der Verträge, den wir, glaube ich, alle haben, kann doch, nachdem nun einmal die Verträge von der Mehrheit gebilligt worden sind, nicht davon abhängen, ob nun die einen ja und die anderen nein dazu gesagt haben. Beides darf gar nicht in Zusammenhang miteinander gebracht werden und dürfte deshalb auch nicht Thema von Wahlkampfauseinandersetzungen sein. Aber sehr wohl könnte und sollte die Frage diskutiert werden, die hier schon gestellt worden ist und die auch wir jetzt stellen möchten und auf die wir gern eine klarere Antwort hätten, als wir
sie bisher erhalten haben: Was hat die Außenpolitik der Bundesregierung aus der mit den Verträgen und der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur NATO geschaffenen Lage bisher im Hinblick auf die Wiedervereinigung gemacht, und was läßt sich ihrer Meinung nach noch daraus machen? Anders ausgedrückt: Ist im Hinblick auf das Ziel der Wiedervereinigung, dem ja unsere heutige Debatte eigentlich gelten soll, seit dem Abschluß der Verträge ein sichtbarer Fortschritt erzielt worden, oder wird er von der Bundesregierung in einer absehbaren Zeit erwartet?
Die Regierungserklärung sagt darüber sehr wenig. In den vorbereitenden Artikeln des Bulletins ist auch nur sehr vorsichtig darauf Bezug genommen worden. Ich denke dabei vor allen Dingen an den Aufsatz des Herrn Ministerialdirektors Professor Grewe unter der Überschrift „Diplomatie des Vordringens Schritt um Schritt" vom 26. Januar. Er hat nämlich in einer sehr nüchternen, sehr objektiven, sehr sachlichen, zur Verdeutlichung der Regierungspolitik vielleicht viel besser geeigneten Weise als die heutige Regierungserklärung die Dinge dargelegt. Er hat da acht Punkte über diese „Diplomatie des Vordringens Schritt um Schritt" aufgeführt. Davon wären einige zu diskutieren, z. B. die Frage, ob die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Moskau nun wirklich einer Initiative der Bundesregierung entsprungen ist; aber nur ein Punkt ist darin, der in die Zukunft weist, das ist der Gedanke, die deutsche Frage vor die Vereinten Nationen zu bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir glauben, daß das ein Plan ist, für den sich sehr viel Positives sagen läßt, denn er kann auf jeden Fall dazu dienen, die deutsche Frage wieder ins weltpolitische Gespräch zu bringen. aus dem sie seit dem ergebnislosen Ausgang der zweiten Genfer Konferenz leider fast völlig verschwunden ist. Aber wir sind uns wohl auch alle darin einig, daß ein Beschluß der UN, selbst wenn er mehrheitlich zustande kommt, in seiner praktischen Durchsetzbarkeit noch sehr wenig bedeutet. Mit diesem Plan allein ist, glaube ich, unsere Frage, die wir hier aus Verantwortung, aus Mitverantwortung gegenüber der Zukunft Gesamtdeutschlands glaubten stellen zu müssen, noch nicht ausreichend beantwortet.
Vielleicht kann in diesem Zusammenhang auch die Frage gestellt werden: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um bei den Mitgliedern der Vereinten Nationen zu erreichen, daß Beschlüsse, die dort im Hinblick auf die deutsche Frage gefaßt werden, auch so gestaltet werden, daß sie dem Osten akzeptabel oder zumindest attraktiv genug erscheinen, um darüber weiter zu verhandeln? Ich meine, das ist eine Aufgabe der Diplomatie des Schritt-um-Schritt-Vordringens, und das ist die Frage, die wir an die Bundesregierung zu stellen gezwungen sind.
Nach dem Inhalt der Regierungserklärung scheint es uns keineswegs gewiß, daß die Bundesregierung nun auch alle denkbaren Überlegungen angestellt hat, wie weiter Schritt um Schritt vorangekommen werden kann. Einige solcher Überlegungen sind allerdings in den Ausführungen meiner Vorredner schon angestellt und diskutiert worden. Wir teilen sie insofern, als wir zunächst der Auffassung sind, daß bei aller Entschlossenheit der Bundesregierung zur Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen und bei aller Klarheit darüber, daß die Bundesrepublik einen Austritt aus der NATO im Sinne einer Vorleistung für Verhandlungen mit dem Osten nicht in Betracht ziehen darf, damit keineswegs die Frage präjudiziert sein kann, wie der militärische Status eines wiedervereinigten Deutschlands aussehen wird. Wenn der Herr Kollege Kiesinger hier ausführt, das wiedervereinigte Deutschland könne unter keinen Umständen einem Sicherheitssystem überlassen bleiben, das ihm keine ausreichende Sicherheit biete, dann muß uns doch allen auf der anderen Seite die Gegenfrage bewußt sein: Gibt es unter der Voraussetzung, daß der militärische Status Gesamtdeutschlands nicht vorher vereinbart ist oder daß es von westlicher Seite als unabdingbar angesehen wird, daß das wiedervereinigte Deutschland auch der NATO angehören wird, überhaupt eine Möglichkeit, zur Wiedervereinigung zu kommen?
Das ist doch die Frage, vor die wir uns gestellt sehen, und ich glaube, diese Frage ist heute in den Kontroversen nicht in genügender Deutlichkeit und Klarheit gestellt worden. Gerade über diese Frage ist doch sehr viel aneinander vorbeigeredet worden.
Wir müssen dieses Dilemma erkennen, wenn wir in der Überlegung dessen, was zu tun ist und was von der Regierung getan werden muß, weiterkommen wollen. Es sind ja auch schon Ausdrücke gefallen wie der — ich glaube, es war der Herr Kollege Kiesinger, der es gesagt hat —: ,,Die NATO ist kein Dogma". Ich hoffe, daß man das so auffassen darf, daß man, wenn es die Notwendigkeiten der Wiedervereinigung erfordern, auch von dem allerdings heute wieder verunklarten Standpunkt ausgehen kann, ein die NATO ersetzendes Sicherheitssystem für das wiedervereinigte Deutschland erscheine denkbar und akzeptabel.
Selbstverständlich wird es — das ist heute wenigstens an einer Stelle schon einmal angeklungen, und wenn ich es richtig aufgefaßt habe, war es auch so gemeint, wie ich es meine — auch in einem solchen Sicherheitssystem keine hundertprozentige Sicherheitsgarantie geben, genauso wenig, wie es in der NATO eine hundertprozentige Sicherheitsgarantie gibt; das hat gerade Sues bewiesen. Einen Rest von Risiko — ich glaube, darüber sind wir uns alle einig — werden wir in jedem Falle auf uns zu nehmen haben.
Aber ich will die Frage Sicherheitssystem nicht weiter vertiefen. Es ist schon sehr viel davon gesprochen worden, und es hat sich dabei herausgestellt, daß niemand es in seinen Einzelheiten klar umreißen und darlegen kann. Infolgedessen wird auch niemand von uns erwarten, daß gerade wir ein Patentrezept dazu vorzutragen hätten. Aber etwas ist doch auf jeden Fall dazu zu sagen, wenn man darin übereinstimmt, daß unter Umständen ein solches Sicherheitssystem die Sicherheit für Gesamtdeutschland bieten kann, die die Bundesrepublik heute in der NATO hat: nämlich daß die Bereitschaft der Großmächte festgestellt werden müßte, entweder einem solchen Sicherheitssystem beizutreten oder es doch wenigstens zu garantieren. Das hat auch Herr Kiesinger hier ausgeführt, allerdings mit der Einschränkung, daß er gefragt hat, ob eine solche Garantie effektuiert werden könne. Trotzdem müßte es unseres Erachtens Aufgabe der Bundesregierung sein, zunächst einmal
eine solche Bereitschaft bei den Großmächten herbeizuführen bzw. einmal festzustellen, weiche Aussicht für ihre Herbeiführung besteht.
Ich wundere mich, daß von seiten der CDU/CSU die Frage, was in dieser Hinsicht zu tun ist und wie ein solches Sicherheitssystem im einzelnen entwickelt werden könnte, an die SPD gerichtet wird. Ich hatte eigentlich die Absicht, diese Frage an die Regierung zu richten, denn die Regierung hat in mehreren Verlautbarungen selbst erklärt, daß sie bereit sei, einem solchen europäischen Sicherheitssystem beizutreten, zuletzt in der Regierungserklärung vom 8. November 1956 und vorher, wie Sie wissen, in dem Memorandum, das die Bundesregierung am 2. September 1956 an die Sowjetunion gerichtet hat. In der Regierungserklärung vom 8. November heißt es u. a. — ich darf es kurz vorlesen —:
Die Bundesregierung hat niemals einen Zweifel gelassen, daß die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland bereit sein werden, sich in ein großes und wirksames Sicherheitssystem einzuordnen . . .
Wir vertreten aber die Auffassung — und wir glauben auch, daß diese Auffassung richtig ist —, daß vor dem Zustandekommen der Wiedervereinigung Deutschlands in jedem Falle eine Vereinbarung über seinen militärischen Status getroffen werden muß und daß man dabei sehr scharfe Unterscheidungen vornehmen muß, die dahin gehen, daß mit diesem militärischen Status in keiner Weise der völkerrechtliche oder territoriale oder gar der innenpolitische Status gemeint sein kann. Wir glauben — das ist auch von anderer Seite schon vertreten worden und ist vielleicht sogar die gemeinsame Auffassung dieses Hauses —, daß die Festlegung des innenpolitischen Status, der innenpolitischen Ordnung Sache einer frei gewählten Nationalversammlung, eines Parlaments sein müsse. Wir halten nach wie vor daran fest, daß der territoriale Status, auf den ich noch zurückkommen werde, nur in einem frei vereinbarten Friedensvertrag festgelegt werden kann.
Wir glauben, daß die Unterscheidung, wie ich sie soeben noch einmal ausdrücklich vorgenommen habe, nicht in ausreichender Weise allen, die zu diesen Fragen in den vergangenen Monaten Stellung genommen haben, bewußt gewesen ist. Es war Veranlassung, in Zusammenhang mit der heute auch hier schon erörterten Frage der Aufnahme wirtschaftlicher oder diplomatischer Beziehungen zu den Ostblockstaaten über die Regelung unseres Verhältnisses zu diesen Staaten zu diskutieren. Wir wollen noch einmal wiederholen, was wir von dieser Stelle schon mehrmals zum Ausdruck gebracht haben: daß wir bei allen Erörterungen, die im Zusammenhang mit dieser Frage gepflogen werden, geprüft sehen wollen, in welcher Weise dabei unser Rechtsvorbehalt hinsichtlich der offenen territorialen Fragen wirksam angebracht werden muß. Wir werden in dieser Sorge besonders bestärkt durch eine Reihe von Äußerungen, die auch von maßgeblichen Persönlichkeiten in der Bundesrepublik in den vergangenen Monaten gefallen sind.
Es begann leider mit der auch von mir bei anderer Gelegenheit schon vorgetragenen Angelegenheit des Interviews, das der Herr Bundesaußenminister im April des vergangenen Jahres in London gegeben hat, und dem späteren Interview, das er einem Vertreter der Yorkshire Post gegeben hat. Der Herr Bundesaußenminister hat damals hier die Erklärung abgegeben, die er inhaltlich heute in der Regierungserklärung wiederholt hat, daß der Standpunkt der Bundesregierung in der Frage der deutschen Ostgrenzen unverändert geblieben sei. Trotzdem müssen wir zu unserem Bedauern feststellen, daß der Herr Bundesaußenminister mit seinen damaligen Bemerkungen Schule gemacht und eine Reihe von Politikern der verschiedensten Parteirichtungen angeregt hat, sehr laut über diese Frage nachzudenken. Die Tendenz derartiger Auslassungen hat, wie Sie alle wissen, stärkste Beunruhigung in den Kreisen der Heimatvertriebenen hervorgerufen und eine Reaktion erzeugt, die eigentlich davor hätte warnen müssen, mit so leichtfertiger Behandlung der Ostfragen fortzufahren.
Wir haben aber immer wieder feststellen müssen, daß selbst der Herr Bundesaußenminister, dem wir diese Warnung schon einmal entgegengehalten haben, fortgesetzt hat, Ausdrücke zu gebrauchen, Ausdrücke wie „Opferbereitschaft" und ähnliche, die natürlich nach dem Vorangegangenen den Eindruck erwecken mußten, als ob hier der Standpunkt der Bundesregierung nicht ganz klar und einwandfrei festliege: um so mehr als ia auch gewisse Erscheinungen in den westlichen Ländern — ich nenne hier nur das Buch des früheren amerikanischen Hochkommissars McCloy und die bekannte Studie der Miss Elisabeth Wiskemann in England — Zeugnis geben von gewissen Aufweichungserscheinungen, die sich in diesen Ländern hinsichtlich der Haltung zu den deutschen Ostgebieten abspielen. Diesen Aufweichungserscheinungen kann nach unserer Auffassung nur durch einen ganz eindeutigen und festen Standpunkt in der Bundesrepublik entgegengewirkt werden.
Aber, meine Damen und Herren, das genaue Gegenteil davon geschieht doch dann, wenn eine so hochgestellte Persönlichkeit wie der Bürgermeister Hamburgs und Präsident des Bundesrates, Dr. Sieveking, in diesen Tagen einen Vortrag vor der Auslandspresse ausgerechnet dazu benutzt, ostpolitische Vorstellungen zu entwickeln, die auf nichts anderes hinauslaufen als auf einen Verzicht auf die polnisch verwalteten Gebiete. Trotz des Dementis, das uns heute zugegangen ist und das der Herr Bundesaußenminister als ausreichend bezeichnet hat, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, muß ich fragen: Was ist es denn anderes als eine Verzichterklärung, wenn Herr Dr. Sieveking davon spricht, daß das Bismarcksche Preußen den Verlust einer Provinz nicht habe ertragen können. daß aber Preußen ja nicht mehr existiere; oder wenn er meint, daß angesichts des Umstandes, daß die polnischen Ostgrenzen von der Sowjetunion gezogen seien, man bei einer deutsch-polnischen Regelung darauf Rücksicht zu nehmen hätte? Und dann werden im weiteren Verlauf seines Vortrages eine ganze Reihe von Fakten angeführt, die ich hier im einzelnen nicht aufzählen will. die aber ausnahmslos für den polnischen Standpunkt sprechen. Und schließlich hat Herr Dr. Sieveking die anwesende Presse noch aufgefordert, für diesen seinen Gedankenflug Propaganda zu machen.
Meine Damen und Herren, hier scheint uns ein Vorgang gegeben, der nicht mehr den Tatbestand
einer politischen Meinungsäußerung, sondern den des politischen Unfugs erfüllt;
und gegen solchen Unfug muß nach unserer Meinung schnellstens etwas geschehen.
Eine polnische Zeitung, die „Trybuna Ludu", berichtet nach dem „Hamburger Abendblatt", daß dem Vortrag von Herrn Dr. Sieveking eine Unterhaltung mit ihrem Chefredakteur vorausgegangen sei, in der Dr. Sieveking den Polen gefragt haben soll, ob er glaube, daß ein kühnerer Schritt von deutscher Seite nützlich sein könnte. Wir meinen, daß solche Kühnheiten dem Präsidenten des Bundesrates und Chef einer Landesregierung schlecht anstehen, auch wenn er eine Zeitlang im diplomatischen Dienst tätig war
und auch wenn er eingangs seines Vortrags versichert hat, er spreche nur als Privatmann.
Wir sind vielmehr der Ansicht, daß die Bundesregierung hier etwas unternehmen muß und daß auch die Partei, der Herr Dr. Sieveking angehört, klar erklären muß,
ob sie die Auffassung ihres prominenten Mitgliedes teilt oder nicht. Die Häufung derartiger Äußerungen, insbesondere vor internationalen Gremien, ist nach unserer Auffassung eine Gefahr für die deutsche Ostpolitik, die davon ausgehen muß, daß die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie nach wie vor völkerrechtlich zu Deutschland gehören und daß für das Heimatgebiet der Sudetendeutschen eine Entscheidung nur nach dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts erfolgen kann.
Im Potsdamer Abkommen und in nachträglichen Erklärungen der Westmächte ist festgelegt, daß die Grenzen Deutschlands einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten bleiben müssen. Was soll dann also das ganze Gerede zu einem Zeitpunkt, in dem überhaupt noch nicht abzusehen ist. wann es zu Verhandlungen über solche friedensvertraglichen Regelungen kommt!
Wir fordern die Bundesregierung nochmals auf, den deutschen Rechtsstandpunkt in dieser Frage unter allen Umständen zu wahren und dafür Sorge zu tragen, daß er nicht, auch nicht durch solche unverantwortlichen Diskussionen, aufgeweicht wird, bevor es überhaupt zu Verhandlungen mit unserem östlichen Nachbarn kommt. Wenn jemand glaubt, meine Damen und Herren, daß dies der einzige Weg sei, um bessere Beziehungen zu Polen herzustellen oder gar Einfluß auf innerpolitische Vorgänge dort zu nehmen, dann liegt ein Irrtum vor, der schon dadurch eine Korrektur erfährt, daß selbst polnische Pressestimmen erkennen lassen, daß auch die polnische Ostgrenze, von der Herr Dr. Sieveking gesprochen hat, dort keineswegs als endgültig angesehen wird.
Ich habe hier schon einmal — es war aus Anlaß des Aufstandes in Polen — erklärt, daß wir uns von jeglicher Einmischung in die inneren Verhältnisse unserer östlichen Nachbarn völlig frei halten sollten. Das korrekte Verhältnis, das wir zu ihnen herstellen wollen, wird aber verfälscht durch die Verleugnung eines Rechtsstandpunktes, den die Bundesrepublik bisher immer vertreten hat und dessen Aufgabe den schärfsten Widerstand eines großen Teils unseres Volkes, insbesondere seiner heimatvertriebenen Bevölkerungsteile, erwecken müßte. Es bedarf wohl kaum einer erneuten Beteuerung, daß dieser unser Standpunkt nichts mit irgendeiner Art von revanchistischen oder gewaltpolitischen Vorstellungen zu tun hat. Wir fordern die Bundesregierung also nochmals auf, entsprechend ihrer heutigen Erklärung dafür Sorge zu tragen, daß nicht — auch nicht in der westlichen Welt — der Eindruck entstehen kann, daß hier stillschweigende Zustimmung zu irgendwelchen Maßnahmen zu erwarten wäre, welche die deutschen Rechtsansprüche negieren oder vernachlässigen. Es gibt genügend Anzeichen, die uns mit solchen Maßnahmen rechnen lassen.
Wir nehmen an, daß diese Dinge im Auswärtigen Amt mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. Notfalls wiederholen wir nochmals unsere schon mehrmals erhobene Forderung nach einem Ausbau der Ostabteilung; denn dieser wird ja ohnehin notwendig werden, wenn zu einem absehbaren Zeitpunkt an eine Normalisierung unserer Beziehungen zu den Ostblockstaaten herangegangen werden soll, der auch wir grundsätzlich zustimmen, wenn dabei unsere Vorbehalte ausreichend Beachtung finden.
Wir sind der Meinung, daß die Forderungen nach einer aktiveren Ostpolitik auch durch die Ereignisse der letzten Monate an Berechtigung keineswegs eingebüßt haben. Sosehr wir es begrüßen, daß in den Verhandlungen über Euratom und den gemeinsamen europäischen Markt in den letzten Monaten entscheidende Fortschritte erzielt worden sind, so erschreckend bleibt für uns doch immer der Gedanke, daß der fortschreitenden Integration West- oder Klein-Europas eine fortschreitende Desintegration Deutschlands gegenübersteht. Ohne die deutsche Einheit kann es aber keine in sich selbst ruhende und gesicherte Ordnung der europäischen Mitte und damit ganz Europas geben.
Wir meinen deshalb, daß in Zukunft die Anstrengungen der Politik stärker als bisher darauf gerichtet sein müssen, Europa seine Mitte wieder finden zu lassen, ohne die es auf die Dauer nicht leben kann und die ein in Freiheit wiedervereinigtes Deutschland voraussetzt. Es wäre ein nicht wiedergutzumachendes Geschehen, wenn das Wahljahr dazu führen sollte, daß in der Auseinandersetzung über den besten Weg das Ziel entschwindet und Schritte, die in der Zwischenzeit zu unternehmen möglich wären, etwa deshalb unterbleiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Merkatz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, im Auftrage der Gemeinschaft der Fraktionen der Deutschen Partei und der Freien Volkspartei zu sprechen.
Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann hat man doch manchmal den Eindruck, daß hier in der Aussprache eine Art Außenpolitik für den inneren Gebrauch gemacht wird. Namens meiner politischen
Freunde möchte ich zum Ausdruck bringen, daß wir das für eine große Gefahr halten. Was nützt es uns, wenn der eine oder der andere den Wahlkampf gewinnt und darüber die Interessen des Landes verliert? Dies ist eine ernste Sorge. Wir sind der Auffassung, daß eine außenpolitische Debatte, die über Grund- und Kernfragen des nationalen Lebens in eine Polemik ausartet, eine große Gefahr, wie gesagt, darstellt. Allerdings, heute ist das Wort von den Illusionen gefallen. Möglicherweise ist auch unsere Anschauung eine Illusion, daß man solche Kern- und Existenzfragen einer Nation aus dem Kampf der Wahlen heraushalten könnte, was den Interessen unseres Landes an sich dienen müßte.
Grundsätzlich muß kritisch bemerkt werden, daß die Debatte im gegenwärtigen Zeitpunkt an einem Fehler leidet, nämlich daran, daß konkrete Informationen über das politische Verhältnis der großen Drei — darunter verstehen wir heute die Vereinigten Staaten, Rußland und die führenden Staaten der sogenannten non-committed nations — fehlen. Eine Einschaltung in die Gespräche, die man vermutet, ohne diese Informationen kann zu Fehlern verleiten. Wir betrachten es als eine Torheit und auch als einen Mangel an politischem Stil, wenn über die vermuteten Fühlungnahmen zwischen den großen Machtblöcken Spekulationen angestellt werden, die der Bestätigung durch Tatsachen und zuverlässige Informationen entbehren. Es ist ein schlechter Stil des Denkens, auch in der Politik, wenn in der Lust des Mißtrauens immer etwas hinter dem Busch vermutet wird, was in der Regel gar nicht hinter diesem Busch ist. Spekulatives Mißtrauen ist schwächliche Unsicherheit des eigenen Willens und zeigt einen Mangel an Selbstvertrauen. Darum warnen wir vor einem unfundierten Rätselraten hinsichtlich der Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika und unserer anderen Verbündeten in Europa und in der freien Welt. Versuchen wir vielmehr, ganz nüchtern eine Analyse der Interessen unserer Bündnispartner und auch unserer eigenen Interessen vorzunehmen und nach den Elementen der Übereinstimmung der eigenen mit den fremden Interessen zu suchen. Nur so kommt man zu einer konstruktiven Politik, die dem Frieden dient.
Mit Sorge betrachtet die Fraktionsgemeinschaft DP-FVP gewisse Rückfälle in ein nationalistisches Spießertum, das weder die geistige noch die seelische Kraft aufbringt, sich aus der Enge nationalstaatlichen Denkens zu lösen. Es ist nun einmal Aufgabe der Menschen in Gegenwart und Zukunft, sich aus dieser Enge und Engherzigkeit herauszulösen und sich in der Liebe zum eigenen Land, in der Achtung vor den Lebensbedürfnissen und der Wesensart anderer Völker in die größeren Zusammenhänge einer Gesellschaft von Nationen einzuordnen und gegenseitig zu fördern. Die größeren Gruppierungen der Völker wachsen nunmehr zu größeren Einheiten heran. Dieser Prozeß ist unausweichlich. Er kann gestört, er kann aufgehalten werden, verhindert wird er nicht. Gehen wir also lieber mit dem Strom der Geschichte; sonst werden wir in ihm ertrinken.
Ich möchte nun zu einer wichtigen Unterscheidung kommen. Es gibt in der Außenpolitik Grundziele, die über ein Säkulum oder sogar über noch weitere Zeiträume reichen, und es gibt daneben Tagesereignisse, denen eine elastische Diplomatie
Rechnung tragen muß. In dieser Festigkeit im Grundsatz und in der Elastizität in der Methode der Durchführung liegt nach unserer Auffassung der Unterschied zwischen einer politischen und einer diplomatischen Haltung. Politische Grundsatzfestigkeit und diplomatische Anpassung an die jeweils gegebene Lage sollten niemals verwechselt werden.
Es gehört nun heute fast zu den Allgemeinplätzen, wenn man feststellt, daß die Ordnung der Nationalstaaten, die bisher das Staatensystem der Welt bestimmt hat, so wie sie im 19. Jahrhundert vollendet worden ist, nicht mehr genügt, um das Leben der Völker und der Nationen zu gewährleisten. Großräumige Zusammenschlüsse, die zu gemeinschaftlichem Handeln auf dem Gebiet der Außenpolitik, der Verteidigung, der Wirtschaft und der sozialen Entwicklung befähigen, sind im Entstehen. Dieser grundsätzlichen Entwicklung muß Rechnung getragen werden, und in sie eingebettet verläuft die Bahn der Außenpolitik, auch Deutschlands, im Grundsätzlichen. Ich darf hier unsere Erklärung in der Aussprache zur Regierungserklärung vom 29. Oktober 1953 in Erinnerung rufen:
Der Schlüssel des Friedens in Europa ist die Überwindung der Spaltung Deutschlands. Mit diesem Schlüssel wird aber das Tor des Friedens nur dann aufgeschlossen, wenn das in seiner Einheit wiederhergestellte Deutschland ein Glied des vereinigten Europas wird und damit seine Freiheit, seine Substanz auch für die Zukunft gesichert bleibt. Das vereinigte Europa soll als ein selbständiger Faktor im Range der Souveränität einer Weltmacht — denn das vereinigte Europa würde den Rang einer Weltmacht haben — ein Glied der atlantischen Gemeinschaft sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Commonwealth und das vereinigte Europa sind die Hauptbestandteile dieser atlantischen Gemeinschaft, die allein in der Lage ist, mit dem Ostblock, der unter der Führung der Sowjetunion steht, ein friedliches Gleichgewicht und einen Ausgleich zu suchen.
Auf der Grundlage dieser unveränderlichen Position unserer Politik komme ich nun zu den Elementen, die die konkreten deutschen Ziele im engeren Sinne und die konkreten außenpolitischen Vorstellungen der Fraktionsgemeinschaft Deutsche Partei - Freie Volkspartei bestimmen, nämlich erstens die Festigung und Sicherung der Bundesrepublik als Ausgangsbasis für die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, zweitens die Erhaltung des Einheitsbewußtseins der Nation, drittens die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, viertens die Vorsorge für die Sicherung Deutschlands nach Beseitigung seiner Spaltung, fünftens die Lösung der deutschen Grenzprobleme im Osten, sechstens die Sicherung des Rechts der Vertriebenen auf ihre Heimat diesseits und jenseits der alten Reichsgrenzen, siebentens die Normalisierung der Beziehungen zu allen Staaten Osteuropas im Sinne des vom Grundgesetz genannten Zieles des friedlichen Zusammenlebens der Völker — gerade bei diesem Problem bedarf es besonderer Vorsicht und der besonderen Aufmerksamkeit unserer Politik — und schließlich achtens der auf der Basis der Gleichberechtigung zu unternehmende Versuch, das friedliche Zusammenleben auch mit den osteuropäischen Völkern im Rahmen eines vereinten Europas zu entwickeln.
Diese Ziele sind nach Ansicht der Fraktionsgemeinschaft in einer Regierung und Opposition bindenden Form bereits in unserem Grundgesetz niedergelegt. Die Präambel des Grundgesetzes drückt den Wunsch und den Willen des für die Gesamtnation in der Bundesrepublik handelnden deutschen Volkes aus, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Ferner wird das deutsche Volk aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Weiter bestimmt Art. 146 des Grundgesetzes, daß eine gesamtdeutsche Verfassung vom deutschen Volk in freier Entscheidung zu beschließen ist, erhebt also die Forderung nach Wiedervereinigung in Freiheit zu einem Regierung wie Opposition bindenden Verfassungsgrundsatz. Im übrigen weist die Vorschrift des Art. 24 des Grundgesetzes, die die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, den Beitritt zu einem System kollektiver Sicherheit, Vereinbarungen über eine obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeit gestattet, auf eine die internationale Zusammenarbeit fördernde Außenpolitik der Bundesrepublik hin. In dieselbe Richtung weist auch Art. 26 des Grundgesetzes, der Handlungen für verfassungswidrig erklärt, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben zwischen den Völkern zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten.
Kraft Verfassung hat die Außenpolitik der Bundesrepublik eine Friedenspolitik zu sein und jede Gewaltpolitik bei der Verfolgung ihrer Ziele auszuscheiden. Verzicht auf Gewaltanwendung bedeutet aber nicht Verzicht überhaupt, insbesondere nicht Verzicht auf Sicherheit und Abwehr, und nicht die Preisgabe von Zielen wesentlicher oder gar existentieller Art. Jedes politische Handeln steht unter dem Gesetz der Wechselwirkung von Ziel und Weg. Das wird sofort deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Ziel der Wiedervereinigung unter freiheitlichen Bedingungen ein wesentlich anderes Vorgehen vorschreibt, als wenn diese Bedingung nicht gestellt wäre. Hier liegt der Schlüssel zur bisherigen Politik der Wiedervereinigung und damit zum wichtigsten Teil auch unserer Außenpolitik.
Wenn man den mit dem Ruf nach einer neuen Außenpolitik auftretenden Kritikern der bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung Glauben schenken wollte, dann wäre diese Politik doktrinär, steril, zu einseitig nach dem Westen ausgerichtet, in vorwiegend militärischem Denken befangen, phantasielos usw., alles in allem hoffnungslos starr und bestürzend einsichtslos. — Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, die die Opposition vorgebracht hat. Man muß sie also, soweit sie aus echter Sorge um das deutsche Schicksal vorgebracht werden, ernst nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
Das setzt zunächst einen Blick auf die Zielsetzung und den Weg der lange Jahre auch von Kreisen der jetzigen Opposition mitgetragenen bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung voraus. Mit den Worten Freiheit, Frieden, Wiedervereinigung, Ostgrenzen, Heimatrecht, Vereintes Europa, friedliches Zusammenleben mit allen Völkern der Welt ist die allgemeine Zielsetzung der Außenpolitik der Bundesregierung angesprochen. Sie ist, wie erwähnt, nicht die willkürliche Erfindung einer bestimmten Regierung, sondern sie ergibt sich weitgehend aus dem Grundgesetz, darf daher auch im Falle eines Regierungswechsels im Grundsätzlichen keinen Wandel erfahren.
In wenigen Strichen gezeichnet: die bisherige Außenpolitik der Bundesregierung brachte die schrittweise Verbesserung 'der Beziehungen zu den drei westlichen Besatzungsmächten, die Aufnahme und den Ausbau diplomatischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zu einer Vielzahl von Staaten in allen Kontinenten, die Mitgliedschaft in zahlreichen internationalen Organisationen einschließlich der Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Im Rahmen der Europapolitik bestand diese Politik u. a. im Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsrat, zur Europäischen Zahlungsunion und zum Europarat, in der Mitbegründung der Montanunion, der Mitwirkung 'bei dem Versuch der Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft und im Rahmen dieser Bemühungen neuerdings in der Förderung der Pläne zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und der Euratom.
Diese auf eine möglichst weitgehende internationale Zusammenarbeit gerichtete Außenpolitik konnte nur nach Westen ausgerichtet sein; denn die aggressive Politik des Ostblocks machte die Anwendung der gleichen Prinzipien nach Osten hin unmöglich.
Den entscheidenden Schritt auf dem Wege zur Festigung dieser allgemeinen Richtung der Außenpolitik bildete die unter dem Schock der Koreakrise eingeleitete 'Politik der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und des Generalvertrags und nach deren Scheitern die Bündnisgemeinschaft mit dem Westen in den Pariser Verträgen, der Westeuropäischen Union und der Nordatlantischen Gemeinschaft. Diese Bündnisgemeinschaft bestimmt in entscheidender Weise den internationalen Standort der Bundesrepublik.
In seinem am 1. Dezember 1955 vor dem Bundestag abgegebenen Rechenschaftsbericht über die zwei Genfer iKonferenzen, die von der Bundesrepublik verfolgte Außenpolitik erklärte der Bundesaußenminister, die Bundesrepublik werde in loyaler Erfüllung der von der Bundesrepublik freiwillig eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen ihre Bemühungen fortsetzen, an der Verteidigung der freien Welt und damit an der Verteidigung der eigenen Freiheit mitzuwirken. Sie sei der festen Überzeugung, daß dies der einzige Weg sei, der ihr vorgeschrieben sei, wenn sie in wirksamer Weise die Interessen des ganzen deutschen Volkes wahrnehmen wolle. — Darin liegt eine klare Aussage, gewissermaßen das Kredo der amtlichen Außenpolitik. Das fordert die Frage heraus, worauf sich diese von der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition geteilte Überzeugung stützt. Nur die wichtigsten der die Außenpolitik der Bundesregierung bestimmenden Grundforderungen und Überlegungen können hier angeführt werden.
An erster Stelle steht die Forderung nach Freiheit und Sicherheit. Sie bestimmt in entscheidender Weise die außenpolitische Konzeption. Für die Freiheit gibt es keinen Preis. Dasselbe gilt für die äußere und innere Sicherheit; denn ohne die Sicherheit gibt es keine Freiheit. Man kann also nicht die Freiheit mit der Preisgabe der Sicher-
heit einhandeln. Selbst die Forderung nach Wiedervereinigung muß dem untergeordnet bleiben. Denn Wiedervereinigung um den Preis der Freiheit hieße mit dieser auch den Preis der Freiheit bezahlen und damit die Unfreiheit für alle schaffen. Dies kann nicht in Erwägung gezogen werden.
Freiheit bedeutet zunächst, daß das deutsche Volk in souveräner Selbstbestimmung ohne fremde Einmischung seine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung selbst bestimmt und mit den institutionellen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates sichert. Das setzt freie Wahlen als wichtigsten, unverzichtbaren Schritt zur Wiedervereinigung voraus. Freiheit bedeutet aber auch, daß das deutsche Volk nach der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit seinen Standort in der Staatenwelt in eigener freier Entscheidung bestimmt, d. h. frei darüber entscheidet, wie seine Freiheit nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gesichert werden soll. Das Westbündnis hält den Weg dafür offen. Die Bundesregierung ist weder gewillt noch hat sie das Recht, Gesamtdeutschland mit politischen Hypotheken zu belasten, die die Entscheidungsfreiheit des deutschen Volkes im Innern wie nach außen in einer Weise einschränken würden, daß von einer echten Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr die Rede sein könnte. Eine Neutralisierung oder Bündnislosigkeit würde ein ungesichert zwischen Osten und Westen stehendes Deutschland zum Spielball widerstreitender Interessen machen. In einer solchen Lage würde Deutschland dazu gezwungen sein, eine in sich unaufrichtige Politik mit dem Schielen nach Osten und Westen hin zu betreiben.
Demgegenüber würde die feste und unauflösliche Verankerung des wiedervereinigten Deutschlands in der Gemeinschaft der europäischen Völker und der freien Welt des Westens die sicherste Gewähr dafür bieten, daß Deutschland niemals mehr Mißbrauch mit seinen Kräften treiben könnte. Die Bedeutung dieser Tatsache ist deshalb der Sowjetunion ebenso zum Bewußtsein zu bringen wie der Wunsch des deutschen Volkes nach normalen und aufrichtigen Beziehungen zwischen einem in Freiheit wiedervereinigten Deutschland und dem russischen Volk. Solange die Sowjetunion von der Teilung Deutschlands und der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht, können keine wirklich normalen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, 'der Sowjetunion und Deutschland, bestehen.
Über den politischen Standort eines wiedervereinigten Deutschlands kann es ebensowenig eine Diskussion geben wie über den der Bundesrepublik selbst. Beide gehören untrennbar zur freien Welt des Westens. Sie werden sich aus dieser Gemeinschaft weder verdrängen lassen noch freiwillig darauf verzichten.
In dem Bekenntnis zur Freiheit liegt die innere Verbindung dieser Politik mit der Europapolitik der Bundesregierung. Das allgemeine Ziel dieser Politik ist jedoch nicht durch eine bestimmte internationale Konstellation bedingt, sondern auf die historische Entwicklung gegründet und entspricht einer wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeit sowie den kulturellen Bedürfnissen unseres Kontinents. Sie muß darum auch in Zukunft Richtschnur der deutschen Außenpolitik bleiben. Es ist falsch, einen Gegensatz zwischen der Europapolitik der Bundesregierung und der Wiedervereinigung zu konstruieren, da die die Europapolitik bestimmenden Gedanken und Triebkräfte, die für alle europäischen Völker die Freiheit und den Zusammenschluß herbeizuführen suchen, das Ziel, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu erlangen, notwendigerweise mit einschließen.
Die Bündnisgemeinschaft mit dem Westen hat nicht allein die Sicherheit der Bundesrepublik als Ausgangsbasis für die Erringung der Freiheit für ganz Deutschland gebracht, sondern auch die Rechtsverpflichtung sämtlicher NATO-Staaten, das Ziel der Wiedervereinigung in Freiheit zu unterstützen. Es wäre verhängnisvoll, wenn den NATO-Mächten und insbesondere den drei Westmächten auch nur durch den Schein mangelnder Bündnistreue oder illoyalen Verhaltens seitens der 'Bundesrepublik Anlaß gegeben würde, diese Verpflichtungen nicht mehr mit derselben Gewissenhaftigkeit und Konsequenz einzuhalten, mit der die drei Westmächteinsbesondere auf den beiden Genfer Konferenzen 'ihre Bündnistreue bewiesen haben, mit der sowohl diese Mächte wie andere NATO-Staaten seither der Forderung nach Wiedervereinigung in Freiheit wiederholt Ausdruck gegeben haben.
Man hat von großen Wandlungen in der Welt gesprochen, die eine neue Außenpolitik der Bundesregierung erforderlich machten. Nachdem ich eben den Standort unserer außenpolitischen Bestrebungen dargelegt habe, ist nun zu fragen: 1. Was hat sich geändert hinsichtlich unserer außenpolitischen Bestrebungen? 2. Welche andere Sicherheit gibt es außer durch die NATO und ihre Garantien hinsichtlich der Integrität und Sicherheit der Bundesrepublik und Berlins? Was hat sich zugunsten dieser Sicherheit überhaupt geändert? 3. Sind der Fall Ungarn und die Drohung, die über Polen schwebt, nicht ein Beweis dafür, daß die Gefahr der Gewaltanwendung nach wie vor und jetzt in verstärktem Maße von Osten her droht?
Wenn wir uns an der Schwelle des neuen Jahres ein Bild von der Lage machen wollen, dann müssen wir bekennen, daß die Ereignisse der letzten Monate deutlich gemacht haben, wie sehr der Friede und unsere eigene Sicherheit bedroht sind.
Wir müssen eine Wandlung zum Schlechteren f est-stellen, die die Welt an den Rand und an die Grenze des Atomkriegs gebracht hat. Osten und Westen stehen sich nach wie vor in einem unüberbrückbaren Kontrast gegenüber. Die Periode einer propagierten friedlichen Koexistenz ist vorüber. Während die beiden Machtblöcke des Ostens und des Westens in ihren Positionen erstarrt sind und nur die Furcht vor dem Atomkrieg die eiskalte Koexistenz aufrechterhält und vor einer Katastrophe bewahrt, hat sich allerdings eine dritte Mächtegruppierung gebildet, ohne die in der UNO keine Zweidrittelmehrheit mehr herzustellen ist, die Gruppe der sogenannten non-committed nations. Die Wandlungen in der Machtlage der Welt bringen es mit sich, daß wir nicht etwa die bisherige Sicherheitspolitik in Gemeinschaft mit dem freien Westen aufweichen dürfen. Vielmehr ist es ein Gebot der Stunde, diese Politik noch zu verstärken und etwa aufgetretene Risse wieder zu schließen.
Es gibt im westlichen Gefüge gewisse kritische Momente. Ich meine das Suez-Problem, die gefährliche Lage im Nahen Osten und die zahlreichen Krisenerscheinungen, die mit dem Ausgang und dem Ende des Kolonialismus verbunden sind. Hier muß Deutschland eine Politik des verständigen und verständnisvollen Ausgleichs führen, eine Politik, die unsere Solidarität mit Frankreich und England nicht aufs Spiel setzt, die aber auch nicht die Sympathien gefährdet, die das deutsche Volk in den sogenannten non-committed nations besitzt. Diese gewiß nicht leichte Politik wird dann ohne Fehltritt möglich sein, wenn wir uns streng an die moralischen Maßstäbe halten, die letzthin die überzeugendste Kraft einer politischen Linie darstellen.
Ich darf hierbei erwähnen, ,daß es ein besonderes Anliegen, eine Anschauung unserer Fraktionsgemeinschaft fist, unser Verhältnis zu diesen Staaten, die jetzt zur Selbständigkeit und Souveränität erwachsen, dadurch zu fördern, daß wir ihnen jede Hilfe zuteil werden lassen, die auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet irgend möglich ist, um diese Völker, die Sehnsucht nach dem Lebensstandard der Westeuropäer und Amerikaner haben, auf die Beine zu stellen.
Nicht ein System papierner Pakte, sondern nur solche Verträge, die ein tatsächlicher Ausdruck der Gewichtsverteilung in der Welt sind, bringen die Welt in ein gesundes Gleichgewicht. Zu den wesentlichsten moralischen Prinzipien, die den Frieden in der Welt zu erhalten vermögen, gehört auch das, Vertragstreue immer wieder neu zu realisieren.
Hier hat heute eine zum Teil polemische Aussprache und Auseinandersetzung stattgefunden. Dabei hat die Opposition zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung nach ihren und den Darlegungen der Sprecher der Koalition keine Möglichkeit der Initiative sehe. Ich möchte darauf antworten: die gesamte Außenpolitik der Bundesregierung ist eine ständige Initiative gewesen, die Wiedervereinigung zu erreichen.
Hier ist das Wort gefallen: Wir kennen kein Rezept. Daraus könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, als fehle es an Phantasie und Vorstellungsvermögen für den politischen Plan. Meine Damen und Herren, das Wort „Rezept" auf dem Gebiet der Außenpolitik ist eine große Gedankenlosigkeit.
„Rezept" stammt aus der Apothekersprache. Und so einfach ist Außenpolitik nicht, daß man eine Mischung verschiedener Ingredienzien zusammenstellen könnte, um danach den bekömmlichen Trank für den Frieden herauszudestillieren.
Wenn Sie mich fragen: Wo liegt die Initiative?, — bitte, es gibt ein Memorandum der Bundesregierung vom Herbst vorigen Jahres, das auf sehr gründlichen Überlegungen aufgebaut ist. Ich vermute, daß viele, die mir jetzt entgegenschreien möchten, dieses Memorandum niemals studiert haben. Es gehören nämlich gut und gerne 15 Stunden anständigen Studiums dazu, die Tragweite und Bedeutung dieses Memorandums wirklich zu verstehen. Wer dann noch sagt, es habe keine Initiative gegeben, dem muß man doch entgegenhalten, er sage das aus einer gewissen Unkenntnis.
Wenn Sie mich nun fragen: welche Vorstellung hat denn Ihre Fraktionsgemeinschaft davon, wie es werden könnte?, dann kann ich Ihnen darauf eine konkrete Antwort geben. Wir haben eine Vorstellung. Sehen Sie, in der Außenpolitik und im geschichtlichen Prozeß kann man mit den Gesetzen der einfachen Logik, der Mathematik und der logischen Berechnung doch sehr wenig anfangen. Denn erstens kommt es anders stets und zweitens als man denkt. Infolgedessen kommt es darauf an, zu erkennen, welche Entwicklungslinien sich andeuten.
Welches ist nun — das kann man real an den Tatsachen analysieren — die Machtlage zwischen Ost und West? Warum läßt die Sowjetunion die sogenannte Deutsche Demokratische Republik denn nicht aus ihren Händen gleiten? Deshalb, weil die Sowjetunion in diesem von ihr besetzten Gebiet zwei auch für uns erkennbare Funktionen sieht. Es ist einmal die Funktion des besetzten Gebiets, als eine Klammer gegenüber den osteuropäischen Satellitenstaaten zu wirken — bekanntlich ist ja keinerlei Tauwind in der DDR gewesen —, eine militärische und politische Klammerfunktion. Es ist zweitens eine wirtschaftliche Funktion; denn es handelt sich um ein wirtschaftlich und industriell hochentwickeltes Gebiet, das in die Wirtschaftspläne des Ostblocks eingearbeitet ist. In der Entwicklung dieser beiden machtmäßigen Faktoren muß meiner Ansicht nach eine Änderung eintreten, damit die Frage der Wiederherstellung der Einheit des deutschen Staates reifen kann. Ich persönlich habe den Optimismus — entschuldigen Sie, Optimismus gehört zur staatsbürgerlichen Pflicht und zur Pflicht eines Politikers —, daß diese Entwicklung viel rascher in Gang kommt, als wir überhaupt zu berechnen vermögen. Wahrscheinlich wird die Quelle dieser Entwicklung in Osteuropa, in den Verhältnissen der osteuropäischen Staaten, in ihrer inneren und äußeren Ordnung liegen.
Wir wollen hier nicht zuviel sagen, um nicht die Dinge zu stören; die soll man schweigend wachsen lassen. Von jeher sind in der Geschichte die großen Ereignisse schweigend und im Dunkel der Nacht gewachsen. Und Blut und Tränen sind schon genug geflossen.
— Was wollten Sie eben, Herr Kollege Wehner?
— Ich muß Ihnen sagen, daß mir Ihre Rede etwas dunkel ist.
— Lassen Sie, wir wollen die Zeit nicht damit vertun!
Der Herr Kollege Ollenhauer hat eine Kernfrage gestellt. Er hat gefragt: Was tut Ihr, Koalition und Regierung, wenn es zu Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem kommt? Ist dann die Bundesregierung bereit, ihre Mitgliedschaft in der NATO zur Diskussion zu stellen? Ich hoffe, daß ich seine Frage präzise wiedergegeben habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie kann man
auf etwas antworten, was nicht in der Welt ist und zu dem die Vorstellung, die Phantasie nicht reicht, nämlich wie es in der Welt sein könnte, wenn Verhandlungen über ein wirkliches Sicherheitssystem stattfinden könnten! Ich stehe nicht an, mit allem Freimut folgendes zu bekennen. Wenn eine Entwicklung zur Einheit Europas kommt, die vor allem auch zu einer Neuorientierung in Osteuropa führt, so daß sich diese Staaten in einer gewissen Selbständigkeit der europäischen Gemeinschaft anschließen können, etwa die Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn, wenn also eine wirkliche Entspannung eintritt, wenn man auf dem Gebiet einer kontrollierten Abrüstung — denn darauf kommt es an — weitergekommen ist, wenn also wirklich der Geist des Friedens einzieht und damit der Gegensatz zwischen den beiden Blöcken gemildert wird, wenn man überhaupt nicht mehr von zwei einander gegenüberstehenden Blöcken in diesem Sinne sprechen kann, dann kommen Möglichkeiten, ein Sicherheitssystem auf der Einheit Europas, worin Deutschland eingeschlossen ist, aufzubauen. Ich hoffe zuversichtlich, daß einmal dieser große Ausgleich kommt und daß dann, wenn die großen Drei und unsere Bündnispartner und wir mit ihnen konkrete Verhandlungen darüber führen können, eine Wandlung der Weltlage vor sich geht, die eine andere Antwort erfordert, als sie die gegenwärtige, reale Weltlage notwendig macht. Diese Überlegungen dürften doch eigentlich selbstverständlich sein. Aber wenn man unter diesem „ZurDiskussion-Stellen" als Vorleistung die Preisgabe der Sicherheitsgrundlage versteht, so sagen wir ein eindeutiges Nein.
Bei der gegenwärtigen Verteilung der Machtgewichte in der Welt wird sehr deutlich, wie das Ansehen Europas gesunken ist. Ist es zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß die Welt an der Schwäche Europas krankt? Nur die Erneuerung Europas, und zwar ganz Europas einschließlich Osteuropas, die Neuordnung Mittel- und Osteuropas zu einer Einheit des Handelns und einer Einheit des Daseinsgefühls, nur die Zusammenarbeit kann das Gleichgewicht und damit den Frieden wiederherstellen und die Spannungen in der Welt ausgleichen. Eine der Grundfragen dabei ist die Überwindung der Spaltung Deutschlands, die Verständigung zwischen Ost und West, um diesen Gefahrenherd in der Mitte unseres Kontinents zu beseitigen.
Ich komme damit zum Abschluß. Wir müssen aus dem Pragmatismus als Leitmotiv der Politik herauskommen und erkennen, daß weder eine Verrechtlichung der Politik — dazu hat Bismarck einiges gesagt — noch eine nur in diplomatische Taktik aufgelöste und zersplitterte Politik unserer Lage angemessen sein kann. Vom Pragmatismus ist es nur ein Schritt zum Opportunismus. Politik aber muß auf weite Sicht angelegt sein und auf Grundsätze aufgebaut werden. Diese müssen in eine überzeugende Form gebracht werden. Es ist ein Versäumnis, daß man in der angespannten Tätigkeit des materiellen Wiederaufbaus in Europa den seelisch notleidenden Menschen in der Wahrung ihrer religiösen und moralischen Substanz nicht genügend unter die Arme gegriffen hat.
Die Außenpolitik des deutschen Volkes muß sich bewußt bleiben, daß wir nur ein Teil eines größeren Ganzen sind. Es kommt darauf an, daß die Grundinteressen unseres Volkes mit den moralischen Grundsätzen, die in der Welt des Westens und innerhalb der „non-committed nations" ihre Gültigkeit haben, in Übereinstimmung gebracht und gehalten werden. Das muß überzeugend in aller Welt zum Ausdruck gebracht werden.
Ich möchte abschließend einige dieser wichtigsten moralischen Prinzipien in Wiederholung der Erklärung unserer Fraktionsgemeinschaft in der Aussprache vom 8. November des vorigen Jahres präzisieren:
Eine dauerhafte und friedliche Ordnung in der Welt ist nur gewährleistet, wenn erstens das Recht jedes Volkes auf seine eigene Existenz uneingeschränkt anerkannt und geachtet wird, zweitens Einmischungen in die inneren Verhältnisse eines Staates als ein Verbrechen gegen die internationale Gemeinschaft gewertet und geahndet werden, drittens auf jede Gewaltanwendung bei internationalen Konflikten verzichtet und deren Regelung durch ein internationales Gericht oder durch eine mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattete politische Weltorganisation sichergestellt wird, wenn viertens die staatliche Einheit, die innere und äußere Freiheit und Selbstbestimmung eines Volkes ein Grundrecht sind, dessen Achtung und dessen Schutz zu den obersten Pflichten der internationalen Gemeinschaft gehört, und wenn fünftens die Achtung und der Schutz der Menschenrechte und des Rechtes in der Heimat und auf die Heimat zu den Basisprinzipien der Völkerrechtsordnung gehören.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Fraktionsgemeinschaft billigt die Grundlinien der Regierungserklärung. Sie hat sich für verpflichtet gehalten, dem Hause bei dieser wichtigen Aussprache ihre außenpolitische Vorstellung darzulegen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäfer .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Indem ich meine weitgehende Übereinstimmung mit den Ausführungen meines Vorredners ausdrücklich bekunde, möchte ich ein paar ergänzende Bemerkungen machen.
Zunächst ein Wort an diejenigen, die uns hier zuhören oder zusehen. Ich könnte mir vorstellen, daß man bei einer naiven Betrachtung vielleicht dazu kommen kann, die alte Spielfrage zu wiederholen: Was ist paradox?, und dann zu sagen: Paradox ist, wenn sich der Bundestag über die Wiedervereinigung veruneinigt. Das wäre aber eine irrige Vorstellung. Weil solche Wertungen — nicht bei dem letzten, sondern bei einem früheren Vorredner — angeklungen sind, möchte ich hier im Interesse des Hauses und seiner Geltung, unbeschadet der parteipolitischen Stellung, ausdrücklich sagen: Man sollte aus dieser Debatte, aus dieser Auseinandersetzung doch nun nicht nur die äußerlichen Dinge und Gegensätzlichkeiten, sagen wir mal, die Bekundung dessen, was man beschönigend Temperament zu nennen pflegt, beachten, sondern man sollte sehen, mit welchem Ernst und mit welcher Gründlichkeit hier der Versuch gemacht wird, bei der Schicksalsfrage unseres Volkes Erkenntnisse zu gewinnen, Erkenntnisse zu vertiefen, Erkenntnisse zu verfeinern und zu verdichten. Denn das
ist der Sinn aller Zwiesprache zwischen Menschen und ist auch der Sinn der Zwiesprache in der Politik und der parteipolitischen Auseinandersetzung. So gesehen ist diese Diskussion schon wert, beachtet zu werden.
Wir sollten auch nicht allzuviel in das Moralisieren hineingeraten. Wenn der eine mal etwas pointiert sagt, dann wird das gleich wieder als Wahltaktik angeprangert. Du lieber Gott, warum immer dem andern irgendeine Sache andichten? Man vermutet sie eigentlich nur beim andern, weil man selber von solchen Erwägungen nicht ganz frei ist!
— Ja Gott, „moralisieren"! Ich meine, irgend etwas muß man ja gegen die Heuchelei tun.
Sonst kommt diese Sitzung in eine Wertung hinein, die dem ganzen Hause abträglich sein kann.
— Ja, Herr Wehner, nachdem ich einmal eine deutsche Republik untergehen sah, liegt mir nun einmal daran, daß jetzt unser neuer Staat eine Form gewinnt, eine Festigung erfährt und so im Bewußtsein der Menschen verwurzelt wird, daß sich etwas Derartiges nicht wiederholt.
— Sie können auch in diesem Punkt beruhigt ) sein; ich werde mich an das halten, was ich gesagt habe. Ich werde darum auch nicht mit einem Zitatenschatz kommen, den man so aus dem Kasten herausholt, um dem einen wie dem andern Stücke von auseinandergerissenen Sprüchen vorzuhalten.
Zwei Dinge sind es, auf die es im Grunde ankommt. Das ist einmal die Erhaltung des Friedens, die Möglichkeit, weltpolitische Kräfteverhältnisse und Kräftegruppierungen zu entwickeln, aus denen sich eine Statik der Freiheit zwischen den Völkern der Welt ergibt. Der Friede wird nicht durch Deklamationen, durch große Bekundungen und große Worte gewonnen; das ist bisher immer schiefgegangen. Er wird immer nur dadurch zu gewinnen sein, daß die Kräfte der Friedensbedrohung niedergehalten, ja angehalten werden, aus Selbstsucht friedlich zu sein. Das ist eine leider nicht zu vermeidende außenpolitische Anfangsbetrachtung, die auch für unsere Situation wesentlich und wichtig ist. Es ist ja das Schreckliche: wenn man meint, ein Gewaltherrscher ist weg, kommt schon wieder ein anderer, mit dem man nun wieder die Auseinandersetzungen führen muß. Und das zweite, was uns in diesen Rahmen der Friedenserhaltung fällt, ist die dynamische Aufgabe, dahin zu wirken, daß der zufällige Zustand von 1945 durch die weltpolitischen Machtverhältnisse überwunden wird und auf diese Weise auch die Spaltung unseres Volkes und Volksgebietes überwunden wird. Das sind die zwei Ziele, die in unseren heutigen Auseinandersetzungen miteinander verwoben und verkoppelt sind. Von da her kommen all die unterschiedlichen Vorstellungen, kommen auch all die Widersprüche in unsere Auseinandersetzungen.
Nun ist es so: wenn man eine Krankheit heilen will, muß man die Krankheitsursachen beseitigen. Es ist nicht damit getan, daß man an den Symptomen herumkuriert. Man darf darum eines nicht übersehen: daß die Frage der deutschen Wiedervereinigung keine Angelegenheit einer innergebietlichen Neuordnung ist. Wegen der Herkunft der deutschen Spaltung aus einer weltpolitischen Ursachenreihe kann die deutsche Wiedervereinigung nur weltpolitisch erreicht werden. Sie ist entstanden als Folge einer Außenpolitik des Diktaturstaates, der den Wahnsinn fertigbrachte, daß die entgegengesetzt geladenen Spannungsfelder der Welt, obgleich sie seit den dreißiger Jahren bereits sichtbar waren — auf der einen Seite das Gravitationszentrum um den moskowitischen Schwerpunkt und auf der andern Seite die Kräftegruppierung um den Atlantik — gegen uns zusammengebracht, sich trafen auf unserem Boden mit dem Ergebnis, daß heute der Graben zwischen zwei Welten unmittelbar durch unser Volksgebiet gezogen ist. Dieser Zusammenhang ist in seiner Schwere nicht einfach mit ein paar Redensarten zu überwinden. Hier sind ungeheure Gewichte der weltpolitischen Kräftegruppierung umzudenken, umzuformen und umzufügen, wenn das Ziel der Wiedervereinigung wirklich herbeigeführt werden soll.
Ich habe bei dieser Debatte hier manchmal den Eindruck gehabt, daß man es sich zu einfach macht, indem man sich mit Symptomen und mit Modalitäten beschäftigt, über die sich sehr leicht und sehr viel phantasieren läßt.
Eine Außenpolitik, die in diesem Rahmen und in diesem Bereich überhaupt wirksam sein will, muß das Ziel haben, kräftegruppierend zu sein, d. h. sie muß konstellativ sein, sie muß Konstellationen wandeln oder Konstellationen beeinflussen. Das bedeutet, daß man das Gewicht des eigenen Volkes und seine Möglichkeiten eingruppiert in Kräfteverhältnisse und in Kräftegruppen, die geeignet sind, jenen Wandel der Dinge herbeizuführen, von dem ich als der Riesenaufgabe unserer nationalpolitischen Entwicklung soeben gesprochen habe.
Das viele Machen und Fordern von sogenannten Initiativen scheint mir in diesem Zusammenhang sehr vorbeizugehen an der Erkenntnis der fürchterlichen historischen Tragweite und der geschichtlichen Voraussetzungen dieser Frage. Es ist viel zu oberflächlich an den äußeren Dingen gesehen. Man muß wirklich den verschlungenen Vorgang der weltgeschichtlichen Tragödie, in die wir noch immer verstrickt sind, sehen.
Das Allergefährlichste aber ist der Appell an die Ungeduld. Er mag Vulgäreffekt haben. „Das ist immer noch nicht da!" Ja, natürlich, auf so billige Emotionen reagieren die Menschen. Schon einmal war unser Volk in der Zeit der großen Krise der dreißiger Jahre ungeduldig; und aus lauter Ungeduld glitten wir dann in eine Entwicklung hinein, die die größte geschichtliche Katastrophe unseres Volkes überhaupt gebracht hat. Hier sollte man mehr auf Besonnenheit als auf die Pflege der Ungeduld hinwirken.
Meine Damen und Herren! Nun spielen natürlich viele Irrungen und Wirrungen in eine fehlgeleitete Betrachtungsweise mit hinein. Ich darf Sie einmal auf eine Erscheinung aufmerksam machen. Wir haben ein Bedürfnis, täglich aktuell zu sein. Das
gilt für die Zeitung, damit sie verkauft wird; das gilt für den Politiker, damit sein Name oder sein Bild möglichst abgedruckt wird. Zu jedem Geschehnis muß möglichst innerhalb von fünf Minuten irgendeine Stellungnahme kommen. Die Kommentatoren müssen, damit sie interessant sind, zu jeder Geschichte eine dramatisierende Würdigung oder Interpretation geben. So wird aus jedem Tagesereignis jedesmal ein „Wendepunkt"!
Ach, wenn Sie in den Blättern aus den letzten Jahren zurückblicken, meine Damen und Herren: wieviel Wendepunkte haben uns die Kommentatoren beschrieben, von denen der Anbruch, Aufbruch, Ausbruch, Durchbruch, oder was weiß ich, der neuen Zeit oder einer veränderten Welt kommen sollte!
Was haben die Prognosenmacher uns da alles vorgedichtet!
Das ist leider eine gefährliche Angelegenheit. Dadurch nämlich gehen bei uns die Maßstäbe verloren für die eigentlich dominanten Ströme und Kräfte, die das Geschichtsbild bestimmend verändern und die überhaupt politisch gestaltend wirken. Der Aktualismus in dieser Übersteigerung ist allmählich lebensgefährlich. Ich weiß, er kommt aus einem ganz natürlichen Bedürfnis des publizistischen Wettbewerbs. Ich verurteile ihn deswegen nicht. Aber man sollte dabei doch daran denken, daß es gefährlich ist, wenn einem Volk die Maßstäbe dafür verlorengehen, was entscheidend ist und was für nebensächlich gehalten werden muß.
Wenn man jeden Tag ein anderes Ereignis dramatisiert, dann wird es eben sehr bedenklich. Dann kommt nämlich sehr leicht die Gefahr hinzu, daß man Situationsbilder entwickelt und Voraussetzungen zu Hilfe nimmt, die auf Wunschvorstellungen beruhen. Was man sich als möglich wünscht, das legt man zugrunde, und dann folgert man. Daraus kommen dann all diese vielen Scheinalternativen, die so gepriesen werden und denen gegenüber nun der angebliche „Starrsinn" der stetigen, der kontinuierlichen oder stabilen Betrachtungsweise nichts gelten soll.
Darf ich mal ein paar Dinge in Erinnerung bringen, meine Damen und Herren! Ach, wie ist in diesem Hause — das war so Anno 1953, ehe wir damals in die Wahlen gingen - die Wunderwaffe der Viererkonferenz als Alternative angepriesen worden! Und was ist bei dieser Prognose herausgekommen?
Und dann war da der Tod des großen Tyrannen im Osten; und das war dann auch wieder „die große Wende".
— Ja, im Osten. Als ich mir damals erlaubte — ich darf daran erinnern —, die vorsichtige Berner-kung zu machen, man solle sich darüber klar sein, daß der Thronwechsel in einer Diktatur eine außerordentlich verwickelte Lage bedeute und eine rätselhafte Sache, von der man aber nie schon im voraus wissen kann, wie die Geschichte ausgeht, —ja, da ist mir von da drüben der Zwischenruf „Astrologie" gekommen. Ich meine, meine Damen und Herren, nach den Erfahrungen der letzten Jahre war es zwar keine Astrologie, sondern es
war nichts weiter als eine sehr einfache logische Ableitung nach der Überlegung: Wie ist eine Diktatur beschaffen, und wie vollziehen sich gewisse Umbesetzungen in einer Gewaltherrschaft?
Und wir haben diese „Offensive des Lächelns" gehabt. Ach, was haben wir da für niedliche Dinge zu hören bekommen! Wie war das alles so bieder und reizend da drüben! Die haben sich ja förmlich überschlagen, manche Leute, die so eine feuilletonistische Ader haben.
— Herr Wehner, ich möchte bald zu Ende kommen, infolgedessen kann ich mich mit Ihren Zwischenrufen nicht so lange aufhalten.
Es gibt noch andere Anlässe, sich ein bißchen scherzhaft zu unterhalten. Sehen Sie mal, es war doch eine merkwürdige Sache: als wir die Sache mit der EVG hatten,
da wurde gesagt: „Das ist eine sehr schlechte Sache; das ist doch eine dieser supranationalen Konstruktionen, und das dürfen wir doch nicht wünschen." Und dann wurde gleichzeitig ein Allianzsystem angepriesen. Ja, und dann kam die WEU. Leider Gottes ein Allianzsystem. Aber das Allianzsystem wurde dann auch wieder abgelehnt, nachdem man vorher die Methode der Allianz als den Ausweg angepriesen hatte.
Und dann kam schließlich die Sache mit Ungarn. Die hat nun wieder all die Deutungen der Verniedlichung und Verherrlichung beseitigt. Zugleich kam daraus die neue Erkenntnis. Sie ist wichtig, sie darf uns aber nicht wieder einmal zu falschen Folgerungen verleiten, zu einer falschen psychologischen Beurteilung eines Gewaltherrschaftssystems. Sehen Sie, es hat sich herausgestellt, was immer so ist, wenn einer seinen Gewaltherrschaftsbereich zu sehr ausdehnt: er nimmt nämlich nicht nur Anhänger, sondern auch Widerstandskräfte mehr in sich auf. Damit wird die ausgeweitete Gewaltherrschaft immer wieder auch brüchig. Diese Erscheinung haben wir gesehen. Aber, meine Damen und Herren, daraus eine wachsende Friedfertigkeit zu folgern wäre das Dümmste, was man tun kann.
Wir haben es doch erlebt, daß ein Tyrann, als er sich bedroht fühlte, deswegen um so besinnungsloser, unbesonnener, gewalttätiger wurde und gewalttätig vorging. Vielleicht haben wir in Ungarn schon die Kostprobe für diese Einsicht und diese Erkenntnis.
Ich muß in diesem Zusammenhang sagen: Wenn ich da von Herrn Ollenhauer gehört habe, da wäre eine so furchtbar neue Situation, — .also es tut mir leid; vielleicht liegt es daran, daß ich hier keine gute Brille habe;
ich sehe diese neue Situation beim besten Willen nicht. Ich kann immer wieder nur sagen: ich sehe nur ein Fortwirken der ungeheuer bedrohlichen Gewaltherrschaften, und ich sehe immer wieder neue Bedrohungen durch den Expansionsdrang,
der allen Gewaltherrschaften ihrer Natur und Wesensart nach nun einmal anhaftet.
Dann, meine Damen und Herren, darf ich noch auf eines aufmerksam machen: daß wir den Gewaltherrschaften natürlich auch nicht die Gelegenheit geben sollten, uns gegenüber eine falsche Psychologie zu betreiben. Sehen Sie, wenn wir hier einen Wettbewerb veranstalten, bei dem der eine den andern beschuldigt: „Du willst ja gar nicht richtig, daß wir diese Spaltung Deutschlands überwinden!", — was tun wir dann? Dann wecken wir an der Entschiedenheit dieser Überzeugung und dieses unseres allgemeinen Verlangens doch Zweifel bei den Völkern, die wir für unsere Entschiedenheit des Strebens nach deutscher Einheit gewinnen müssen.
Wir sollten mit dieser wechselseitigen Verdächtigung eigentlich nicht operieren. Sie schadet nämlich der Suggestivwirkung unseres Wiedervereinigungswillens.
Genauso schadet die Kontaktpsychose; denn die erweckt ja bei den Gewaltherrschern die Vorstellung, daß diese Leute in der Bundesrepublik so wenig Unterscheidungsvermögen besitzen, daß sie Handlanger der Gewaltherrschaft zu Gesprächen einladen und dann hinterher sagen, diese Gespräche mit Handlangern seien die Pflege von Kontakten mit der Bevölkerung, mit der mit von ihnen unterdrückten Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, ,das ist eine Art und Weise, mit der man unseren Willen zur Wiedervereinigung in Freiheit geradezu unglaubwürdig machen kann.
In diesem Zusammenhang auch noch eine Bemerkung über die schönen Wunschträume von der Handelspolitik. Sicherlich, Güteraustausch, ja, warum nicht? Aber darf ich nur — es ist heute nicht der Ort und die Zeit, das im einzelnen zu untersuchen — auf eines bei der Sache aufmerksam machen. Es ist ein Unterschied, ob ich handelspolitische Abmachungen mit Völkern treffe, bei denen es einen freien Handelsverkehr gibt, oder ob ich sie mit totalitären Staaten treffe, die ein staatliches Außenhandelsmonopol haben. Das letzte ist ein wesentlich anderer Sachverhalt und bedarf völlig anderer Überlegungen als ein Güteraustausch mit Ländern, die den freien Güteraustausch als eine selbstverständliche Angelegenheit ansehen. Es ist auch eine ungeheuer bedenkliche Angelegenheit, einen solchen Austausch bei Gütern durchzuführen, die Gegenstand .unseres allerdringendsten Eigenbedarfs sind, nämlich des täglichen Bedarfs der Massenversorgung.
Herr Abgeordneter Dr. Schäfer, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Erler?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen bekannt, daß es gerade bei wirtschaftlichen Beziehungen mit totalitären Staaten auf geordnete Abmachungen ankommt, weil hier die Gefahr besteht, daß das Außenhandelsmonopol auf der einen Seite den vielen Handelnden auf der andern, wenn sie nicht durch den Staat zu einer Zusammenarbeit gebracht werden, sehr große Nachteile — zum Nachteil aller Beteiligten — zufügt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mir an sich nicht bekannt.
Nein, das ist in dieser Verallgemeinerung eine völlig ungewöhnliche Feststellung. Beim Güteraustausch mit staatlichen Außenhandelsmonopolen besteht die Gefahr, daß unter machtpolitischen Aspekten jederzeit der Strom des wechselseitigen Güteraustauschs einseitig geschaltet werden kann.
Auf diese Besonderheit wollte ich aufmerksam machen.
Dann kommt nach etwas anderes hinzu. Es handelt sich darum, was man als Gegengabe und Gegenleistung nimmt. Dazu das Wort, das ich eben gesagt habe: man kann nie Gegenstände der dringenden Massenversorgung in eine solche gefährliche Regelung des Güteraustauschs bringen. Sonst ist die Möglichkeit des Güteraustauschs durchaus nicht abzulehnen. Immerhin sind diese Vorbehalte in dieser Situation und unter den Voraussetzungen, die gegenwärtig bestehen, nicht einfach beiseite zu schieben.
Meine Damen und Herren, das, was uns im Wege steht, ist der Status quo, ist die Kräfteverteilung, ist die zufällige Festsetzung und Bestimmung der Machtsphären, wie sie sich aus dem Krieg ergeben hat. Das ist immer gefährlich. Sehen Sie, im Grunde genommen entstehen Kriege eigentlich fast immer dadurch, daß der Sieger nach einem Siege bemüht ist, die zufälligen Machtverhältnisse am Tage des Waffenstillstands für alle Zeiten zu konservieren. Daraus entstehen neue Spannungen, da die Friedensverträge die betroffenen Völker in ihrer Entwicklung behindern. So entstehen immer neue Kriege aus falschen Friedenskonstruktionen. Aus dieser Überlegung gewinnen wir ein wesentliches Argument in unserm Kampf gegen den Status quo und damit gegen die Bemühungen, die deutsche Wiedervereinigung einfach beiseite zu rücken und sich mit dem Status quo zu begnügen.
Nein, wir müssen allen derartigen Regungen ein Ordnungsprinzip gegenüberstellen. Nun ist das Wort Freiheit heute schon so viel gebraucht worden. Ich meine — ich möchte es einmal ausdrücklich sagen —, sie ist nicht einfach die Schrankenlosigkeit der Ellbogengebraucher, sondern Freiheit ist ein Ordnungsprinzip im Miteinanderleben der Menschen. Im Grunde besteht da die größte Freiheit, wo die Freiheitsrechte des anderen wechselseitig geachtet werden. Das gilt aber auch für die Beziehungen der Völker zueinander und miteinander. Die Entwicklung dieser Friedensordnung der Freiheit gibt uns sehr wichtige und wesentlich moralische Möglichkeiten in der Auseinandersetzung um unser wichtigstes Gegenwartsziel. Diese Überlegung zeigt, daß wir den Status quo, der immerhin eine Versuchung zu einer Art von quietistischer Friedensbetrachtung darstellen könnte, um
des Friedens willen ablehnen müssen und daß der Kampf für die Wiedervereinigung tatsächlich auf einer absolut logischen Erwägung beruht, die gleichzeitig der Welt zum Vorteil gereicht.
Es ist von der NATO gesprochen worden. Ich muß doch sagen: wenn man sich überlegt, wie das so 1945 und 1946 war und wie wir 1949 anfingen, und wenn man sich vorstellt, was inzwischen in der NATO und durch die NATO und mit der NATO an politischem Rang, an Geltung und Ansehen auch für die Bundesrepublik erreicht worden ist, dann kann man doch nicht einfach sagen, alles das wäre für uns nutzlos gewesen.
Man muß noch einmal die Zeit vorher und nach-
her vergleichen, und dann muß man zugeben: der
Fortschritt, der sich ergeben hat, ist unbestreitbar.
Ich darf in diesem Zusammenhang noch auf eins aufmerksam machen. Wir sprechen, wenn wir von der Wiedervereinigung reden, durchaus in Vorstellungen, die sich zunächst aus nationalstaatlichen Gebietsvorstellungen ergeben. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß in der Lage, in der wir uns befinden, der Nationalstaat für eine wirksame Lebenssicherung der Nationen nicht mehr ausreicht. Die Nationen bedürfen, um zu leben und um sich gegen die Bedrohung von großen Machtblökken zu sichern, der Solidaritätsgemeinschaft der Nationen in supranationalen Einrichtungen.
Sie brauchen diesen Zusammenschluß. Haben wir in diesem noch freien Teil Europas nicht diese wechselseitige Sicherung gegen Freiheitsbedrohung, dann besteht die Gefahr, daß ein europäischer Staat immer gegen den anderen ausgespielt wird und am Ende die Gewaltherrscher des Ostens da-. bei ihr Geschäft machen. Sie haben doch ihre Einwirkungsmöglichkeiten gegen die supranationalen Vorstellungen schon genutzt. Sie liegen darin, daß man die überkommenen nationalistischen Vorstellungen kitzelt und dazu mit Fünften Kolonnen in die freiheitlichen Völker einzudringen versucht. Also die Gefahren sind groß. Deshalb dieser Zusammenschluß, diese Solidaritätsgemeinschaft, dieses Einmünden der noch freien europäischen Nationen oder Nationalstaaten in die kontinentale Gemeinschaft, zumindest zur gemeinsamen Verteidigung und Pflege ihrer eigentümlichen Lebensgrundlagen und damit auch zur Entfaltung ihres nationalen Lebens.
Noch eine Bemerkung ist in diesem Zusammenhang darüber zu machen, was hier über kollektive Sicherheitspakte usw. vorgetragen wurde. Eine sehr wohlklingende Sache! Da kann man natürlich auch vieles erfinden. Aber uns scheint dabei wesentlich zu sein, daß man nicht zu formalistisch denkt. Eine kollektive Form der Völkerverbindung an sich bedeutet noch gar nichts. Hinzukommen muß, eine Gewichtsverteilung in der Welt zu bewirken und zu beeinflussen, die die Kraft- und Mächteverhältnisse in der Welt in Bewegung hält, bis ein Verhältnis erreicht ist, auf dem man überhaupt erst eine Stabilität des Friedens und eine Weltfriedensordnung im Geiste der Freiheit aufzubauen vermag. Das gehört in diesen Zusammenhang hinein.
Zu dieser Überlegung gehört auch die Frage nach den Möglichkeiten diplomatischer Beziehungen zu den Satellitenstaaten. Meine Damen und Herren, diplomatische Beziehungen bedeuten keineswegs eine Allianz. Sie sind auch keine wechselseitige Anerkennung der inneren Verhältnisse, sondern sie sind an sich eine recht äußerliche Umgangs- und Verkehrsform der staatlichen Anerkennung. Aber immerhin möchte ich das eine für meine Freunde sagen: daß es für uns keine diplomatischen Beziehungen mit Völkern geben kann, die dann daraus nur Argumente herleiten würden, um den Status quo zu rechtfertigen und zu festigen.
Es ist also wesentlich, daß uns aus diplomatischer Beziehung und diplomatischer Anerkennung nicht Erstarrungen erwachsen, die unsere Schwierigkeiten für eine künftige Wandlung der territorialen Abgrenzung vergrößern.
Ja, meine Damen und Herren, jetzt kann ich mich hier langsam zurückziehen;
mein Redebedarf ist bald gedeckt.
— Ach, Herr Schoettle, an das Fernsehen habe ich überhaupt nicht gedacht;
das tun andere. Sollen wir mal einen Wettstreit machen oder eine Quizfrage veranstalten, wer wohl der größte Publizitätskomödiant im Deutschen Bundestag ist?
Ich glaube nicht, daß Gründe vorhanden sind, mir dann den silbernen Lorbeer zu verleihen.
— Ich kann Ihnen wirklich sagen, ich habe daran weder gedacht noch in dieser Hinsicht eine Spekulation gemacht. Aber wenn Sie neidisch sein sollten: ich mache sehr bald dem Nachfolger Platz, und wenn Sie mich nicht mit Zwischenrufen aufhalten, geht es schneller. Tun Sie etwas für den Nachfolger, indem Sie mich nicht aufhalten.
Die deutsche Außenpolitik hat relativ — das war eigentlich der Sinn meiner Ausführungen — eine sehr schmale Möglichkeit, sich zu bewegen. Die Bandbreite — um beim Fernsehen zu bleiben — für eine außenpolitische Inszenierung und für die Gestaltung der Außenpolitik ist außerordentlich begrenzt und außerordentlich beengt. Da ist es an sich gar nicht zu vermeiden, daß, wenn man in diesem schmalen Bewegungsraum, in dem man überhaupt noch deduzieren kann, anfängt, innerpolitische Rivalitäten zu entwickeln, dann aus der Erfindung von Alternativen manchmal etwas Krampfhaftes herauskommen muß. Meinen Sie nicht, daß manches von dem, was hier gesagt worden ist, um absolut die Politik der Bundesregierung zu verreißen, nicht doch sehr krampfhaft und
verkrampft gewesen ist im Hinblick auf die Bandbreite, die für außenpolitische Betrachtungen und Darstellungsweisen in unserer nationalen und internationalen Lebenslage gegeben ist?
Darf ich zum Schluß noch auf eins hinweisen! In dieser ganzen Auseinandersetzung spielen die Fragen der realen Verteidigungspolitik in militärischer Beziehung eine gewichtige Rolle. Aber in dieser Auseinandersetzung zwischen dem Osten und dem Westen geht es im letzten um die Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten Zivilisationsformen. Völlig andere Formen des Lebens, der staatlichen und gesellschaftlichen Struktur stehen sich hier gegenüber. So werden die nächsten Jahrzehnte, wenn der Frieden uns erhalten bleibt, bestimmt bleiben durch den Wettstreit zwischen diesen gegensätzlichen Ordnungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. Gewinnen wird in diesem Streit das Volk oder die Völkergruppe, die eine überlegene Schicht für die Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dinge fördert und erweitert. Hier wird nicht die Massenwirksamkeit entscheidend eine Rolle spielen, sondern es wird bei der Frage der Überlegenheit der verschiedenen Zivilisationsformen im wesentlichen auf die in den Völkern wirkenden intellektuellen, geistigen, künstlerischen und kulturellen Kräfte ankommen. Sie sind allmählich das tragende Element dieses Zivilisationsgegensatzes geworden. Vergessen wir das dabei bitte nicht, und überlegen wir uns, was es für den Rang eines Volkes zwischen den Völkern bedeutet, wenn es in allen Dingen seiner Administration, seiner Wirtschaft, seiner Wissenschaft und Kultur überlegene geistige Kräfte zu entwickeln vermag.
Hier ist Bildungspolitik ein Stück der Außenpolitik, der zwischenstaatlichen Begegnung und der zwischenstaatlichen Ranggeltung. Diese Dinge werden bei uns noch vielfach übersehen; sie sollten aber nicht weiter übersehen werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte zu dem, was seitens der Bundesregierung bekundet worden ist, feststellen: Die Bundesregierung hat in ihren ganzen Darlegungen zum Ausdruck kommen lassen, daß sie die wesentlichen Gefahren unserer Zeit sieht, die entscheidenden Richtungen der Bedrohung, die für uns besteht. Sie macht eine Politik, die von der Absicht ausgeht, eine solche Verlagerung der gesellschaftlichen und politischen Gewichte auf diesem Erdball zu bewirken, die imstande ist, die Kräfte der Wiedervereinigung zu fördern und gleichzeitig dabei dem Frieden zwischen den Völkern zu dienen. Weil sie sich auch heute wieder dazu bekannt hat, das innere Gefüge der freien Welt des Westens zu stärken, sind wir mit den vom Herrn Bundesminister des Auswärtigen gegebenen Darlegungen zur gegenwärtigen Lage einverstanden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja nun sicher noch nicht der Zeitpunkt gekommen, ein Fazit dieser großen Debatte zu ziehen, und es kommt mir auch gar nicht zu. Aber immerhin, wir debattieren nun schon seit dem frühen Morgen, und da erlauben Sie mir bitte — ohne daß ich Ihnen zu nahe treten will —, auch wenn es Ihnen schwerfällt, mir das zu erlauben, einen nachdenklichen Gedanken vorauszuschicken.
Wenn Sie sich einmal — nicht heute abend, aber in absehbarer Zeit — nicht nur in der Gruppe Ihrer Strategen, sondern auch in der Gruppe derer, die politisch nachdenklicher als Ihre Strategen sind, Gedanken über den Sinn dieser Debatte machen werden, dann werden Sie finden: Die Sache war — obwohl sie Ihnen von Ihren Strategen eingebrockt worden ist — doch nicht so gut, wie man es sich gedacht hatte.
Da will ich Sie gleich warnen: Schieben Sie die Schuld nicht auf die, die hier wacker in den Kampf gezogen sind.
Sie haben ja ihr Bestes getan — einschließlich des Ministers und dann des ehemaligen Ministers, der eben hier als Abgeordneter gesprochen hat ----, um zu zeigen, wie man die Sozialdemokraten in der Luft zerreißen, auf dem Boden zerstören kann.
Aber an ihnen hat es nicht gelegen, nein. Wissen Sie, das hatte einen sachlichen Grund, und wenn ich Ihnen den jetzt sage, so bitte, Herr Rasner und all die anderen vom Stabe der Strategen, glauben Sie nicht, ich wollte Ihnen für das nächste Mal einen Tip geben!
Aber ich wollte Ihnen sagen, warum solche Pläne schiefgehen müssen. Wissen Sie, warum? Das hat einen Grund, der in der Sache liegt und nicht in den Personen, die sich hier heute redlich gemüht, und nicht in den Zitatensammlern, die ganze Kartotheken gewälzt und wirklich im Archiv fleißige Arbeit geleistet haben.
Wissen Sie, woran das liegt? Das liegt daran, — —
— Oh Gott, sehr gern; aber da Sie wahrscheinlich weder zu den Strategen noch zu den politisch Nachdenklichen der Koalition gehören, interessiert Sie das nicht so sehr. Ich spreche nicht direkt die Haushaltsexperten in diesem Moment an, also bitte, entschuldigen Sie, wenn ich über Sie hinweggeredet haben sollte.
Daß es so gekommen ist und bei dieser Debatte nicht anders kommen konnte, meine Damen und Herren, das liegt hauptsächlich daran, daß man hier weder über einen konkreten Vorschlag noch über einen wirklichen Plan oder über einen Entwurf hat sprechen können, sondern die ganze Sache fing doch damit an, meine Damen und Herren, daß Sie sich Gedanken gemacht haben, wie man konkreten Forderungen, Vorschlägen, die mit einem sehr naheliegenden Fall zu tun haben, nämlich mit der Hauptstadt Berlin. durch eine solche Debatte einen Rahmen geben könnte — einen illustren Rahmen, das gebe ich zu. Und dann sind Sie in die Debatte hineingegangen, zwar mit einem strategischen Plan, aber nicht mit einem politischen Plan. Denn der Sozialdemokratie eins auszuwischen,
ist ja kein politischer Plan, das ist ja nur ein strategischer Plan, Herr Rasner.
Wir haben leider auch nicht Gelegenheit gehabt
— das wäre ein gewisser Ersatz gewesen —, darüber zu debattieren, was uns der Herr Bundesminister des Auswärtigen in einer Übersicht über die internationale Entwicklung, so wie er sie sieht, oder über die Lage in einer Reihe von Ländern, mit denen wir es zu tun haben, über die außenpolitische Auffassung der Bundesregierung hätte sagen können. Das alles lag dieser Debatte nicht zugrunde. So sind Sie in die unangenehme Lage gekommen, daß Sie hier während des ganzen Tages zu beweisen versucht und den Eindruck zu schaffen versucht haben, daß Sie in der Vergangenheit alles, aber auch alles getan haben, was zur Wiedervereinigung zu tun ist, und daß Sie, weil man Ihnen aus der Vergangenheit nichts nachsagen kann, in der Frage der Bemühungen um die Wiedervereinigung diejenigen sind, die für das, was morgen und übermorgen zu tun ist, prädestiniert sind, das Vertrauen aller zu haben, zu denen Sie heute — denn Sie haben gar nicht zu uns gesprochen — eigentlich gesprochen haben.
Wir sind dadurch in die auch nicht einfache Lage gekommen, hier darlegen zu müssen, was uns bewegt. Uns bewegt die Frage, ob Sie, die Sie die Regierung tragen — es ist manchmal mühselig, das glaube ich. sie zu tragen —,
mit dem, worüber Sie verfügen, ausreichend gerüstet sind für das, was heute, morgen und übermorgen in den Fragen der Wiedervereinigung und der Sicherheit geschehen muß. Ich sage hier noch einmal: Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, damit Sie nicht gleich wieder fragen, was für eine Wiedervereinigung wir meinen. Das gilt für jedesmal, wenn wir von Wiedervereinigung sprechen.
— Es mag sein, daß man bei Ihnen in der Frage, was das praktisch bedeutet, manchmal Fragezeichen setzen muß.
Aber selbst wenn es Ihnen gelungen wäre, hier darzutun, daß von der Regierung und ihren Parteien wirklich alles getan wurde, was möglich war — ich will nicht sagen: alles, was notwendig war —, oder wenn Sie hier hätten dartun können, daß das, was Sie getan haben, überhaupt das einzig Mögliche gewesen ist, dann — und da ist die schwache Seite Ihrer Debatte — wäre immer noch nicht bewiesen, daß Sie für das, was morgen und übermorgen auf uns zukommt, imstande sind, das zu tun, was Sie in der Vergangenheit zu verstehen behauptet haben.
Es sind schwierige Fragen. Wenn es bisher — und da haben Sie sich eben geirrt — zu solchen sogenannten großen Debatten kam, ging es immer um irgendwelche Verträge, die Ihnen vorlagen und von denen Sie meinten, sie müßten aus vielen, vielen Gründen, die Sie immer dargelegt haben, unbedingt durchgesetzt werden. Der Streitpunkt in diesen Debatten waren Verträge. Während dieser Auseinandersetzungen haben Sie sich selber — ich glaube, Sie waren dabei guten Glaubens in ihrer eigenen Sache — und denen, zu denen Sie gesprochen haben — wieder nicht zu uns, sondern zu denen draußen —, immer klarzumachen versucht, gerade diese Verträge und keine anderen Wege würden die Wiedervereinigung herbeiführen; sie seien das Mittel, sie seien der Schlüssel. Erinnern Sie sich noch, wie es damals etwas vorwitzig, aber doch frohlockend und etwas erleichtert hieß: Moskau kommt, gleich nachdem Sie die Verträge ratifiziert haben würden? Erinnern Sie sich noch, wie Sie damals gesagt haben, die ganzen brutalen Drohungen der Russen seien Bluff gewesen, man brauchte damit gar nicht zu rechnen, das sei ein Versuch, uns unsicher zu machen? War es nicht so? Aber das wird je nach den Umständen ausgelegt.
— Bitte!
Herr Wehner, wenn Sie uns das vorwerfen: glauben Sie daran, daß, wenn wir nicht in die NATO eingetreten wären, die Russen wirklich die Wiedervereinigung in Freiheit zugestanden hätten?
Da will ich Ihnen mit einer Gegenfeststellung antworten, Sie wissen, daß wir vor der Annahme Ihrer Verträge immer wieder darüber in die Auseinandersetzung gekommen sind, ob man nicht — und das war unser erklärter Wille — Verhandlungen über die Wiedervereinigung den Vorrang geben sollte vor diesen militärischen Bindungen.
Wir sind dabei unterlegen. Als Ihre EVG scheiterte, haben wir von der SPD versucht — und damals hat der Bundeskanzler sogar ein Versprechen gegeben, von dem einige Minister gemeint hatten, es wäre damit eine Möglichkeit eröffnet, nach dem Scheitern der EVG zunächst einmal die Lage in Ruhe neu zu überdenken, um zu prüfen, was man für die Wiedervereinigung tun kann. Doch Sie haben sich hineingestürzt in die Verhandlungen über die Ersatzverträge. Damals haben wir versucht, wenigstens zu erreichen, daß parallel zu den Verhandlungen in London und dann in Paris Verhandlungen über die Wiedervereinigung geführt würden. Wir waren für den Parallelismus dieser Verhandlungen und sind hier jedesmal unterlegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
jawohl, er sei bereit, unmittelbar nach der Ratifikation der Verträge der Sowjetregierung einen Katalog von Fragen vorzulegen, die im Hinblick auf die Wiedervereinigung der Klärung bedürften. Ich selbst habe damals einige dieser Fragen genannt. Darunter waren solche, die sich auf jene Erklärungen der Sowjetregierung vom November des Jahres 1954 bezogen, in denen, wenn auch noch mit Klauseln, freie Wahlen und eine Ordnungsfolge der Vorgänge zur Wiedervereinigung zugestanden zu werden schienen.
— Ich bin ja gerade dabei, das näher darzulegen. Es wird auch Ihnen gleich ein Mond aufgehen, daß eh da nicht geirrt habe. — Da ging es darum, festzustellen, was dahinter steckt. Hinzu kam jene Erklärung vom Januar, die freie Wahlen mit der Möglichkeit der internationalen Kontrolle in Aussicht zu stellen schien. War es nicht legitim, damals
zu fragen, was denn eigentlich dahinter steckt und was die Russen damit verbinden? Das war unsere Absicht. Sie keimen diese Fragen noch ganz genau; vielleicht ist einiges in der Erinnerung verwischt. Damals hat der Herr Bundeskanzler gesagt: jawohl, er sei bereit, unmittelbar nach der Ratifikation diesen Fragenkatalog mit diesen zu klärenden Dingen aus der Zeit des Streites um die Verträge dort drüben vorzulegen.
Nun, meine Damen und Herren, haben Sie Ihre Verträge, und das unterscheidet diese Debatte von den anderen Debatten, in denen es Ihnen noch um Ihre Verträge ging. Damals haben Sie immer gesagt: wenn wir sie erst haben — und nun wurde in Nuancen gedacht —, kommen entweder die Russen mit Verhandlungsangeboten oder wir werden sie schließlich in die Ecke bekommen, in der sie nicht anders können, als zu verhandeln. Nun, es ist so gekommen, wie es die Russen für ihren Teil brutal vorausgesagt haben. Sie haben gesagt: es gibt dann keine Grundlage mehr für Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung. Sie haben ja leider wahrgemacht, was sie damals brutal angedroht haben.
Und nun wollten Sie eine Debatte, diese hier. Da man nicht mehr über neue Verträge sprechen kann, müssen Sie nun sagen, was man mit den Verträgen, die Sie haben, machen kann. Und da brauchen Sie jetzt Schwarzmalerei, ja, eine Steigerung der Schwarzmalerei bis zur Panik, damit Sie beweisen können: man muß nach diesen Verträgen einfach rüsten; mehr steckt darin gar nicht.
— Das werden Sie gleich hören. „Schwarz" habe ich hier nicht politisch gemeint, sondern im Sinne von — na, Sie wissen schon.
Meine Damen und Herren, wir haben heute gehört, wir dürften uns durch russische Propaganda nicht in eine Wiedervereinigungshysterie hineintreiben lassen. Das Wort muß man ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen
und dann Vergleiche zu den Debatten ziehen, in denen es um die Verträge ging, um zu begreifen, wie sehr sich die Situation, auch Ihre Situtation, verändert hat.
Da werden wir plötzlich gewarnt, nicht einer Wiedervereinigungshysterie zum Opfer zu fallen. Und damit das auch richtig sitzt, wird die Zuverlässigkeit der Sozialdemokraten in puncto Sicherheit in Zweifel gestellt. Das ist nicht ganz neu. Wer regiert hier denn eigentlich? Sie haben doch Ihre Verträge, und Sie haben damit doch das Instrument in der Hand, in Fragen der Sicherheit zu tun, was Sie sich vorgestellt haben, oder nicht?
— Ja, das haben wir gemerkt. Wir haben auch gemerkt, wie es dabei auf und ab geht. Wenn man darüber klaren Bescheid wissen will, so kann man heute hier und da bei Pressekonferenzen des neuen
Verteidigungsministers darüber etwas erfahren, der etwas pressefreudiger, und ich sage: erheblich pressefreudiger zu sein scheint als der alte, — ich meine: der alte Minister.
Ich habe damit Herrn Blank gemeint.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen noch eines deutlich zu machen versuchen, gerade weil Sie mit diesem, ich möchte schon sagen: verunglückten Versuch einer sozusagen großen Debatte im Andenken an die Zeiten um die EVG und die Pariser Verträge an einem Punkt angekommen sind, an dem man so nicht weiterkommt. Wenn man weiterkommen will in den politischen Dingen, muß man es anders machen, auch in der Methode.
— Das möchte ich den Strategen sagen: Sie können hier nicht früh forsch anfangen und allerlei Kübel auf die Sozialdemokraten ausschütten und dann gegen Abend elegisch werden und sagen: Wir möchten gern gemeinsam. Das geht eben nicht.
Dann ging es um die Grundhaltung der Sozialdemokraten in den Fragen der Sicherheit und der Verträge. Diese Haltung bestand einfach darin, daß wir uns — so möchte ich es einmal sagen — für den Vorrang von Wiedervereinigungsverhandlungen vor militärischen Bindungen eingesetzt haben, und zwar bis zum letzten Moment, in dem es noch möglich war, mit einer Warnung, mit einer Mahnung Ihr Ohr zu erreichen. Umsonst! Wie sehr es in der Bevölkerung auch gewirkt haben mag, — bei Ihnen war es umsonst. Nun gut. Jetzt, nachdem die Sozialdemokratische Partei feststellen mußte, daß Sie Bindungen schwerwiegender Art eingegangen sind, haben wir uns dafür eingesetzt, das Thema über diese Bindungen in die Verhandlungen um die Wiedervereinigung und um ein Sicherheitssystem einzubringen. Und da beginnen wir uns schon wieder von Ihnen zu unterscheiden. Denn Sie haben ja von Ihrem Standpunkt aus allerlei gewichtige Argumente gegen das Hineinbringen dieser militärischen Bindungen in die Verhandlungen. Die Sozialdemokratische Partei hat sich nie für Schutzlosigkeit oder gegen Sicherheit ausgesprochen.
— Warum sagen Sie denn: „Na, na"?
— Weil Sie die Regierung bilden und weil Sie in diesen Fragen keine Möglichkeit lassen zu einer — —
— Das hat Ihnen heute schon Herr Ollenhauer gesagt, wie verantwortlich wir uns fühlen; aber vielleicht waren Sie gerade draußen, und deswegen sollten Sie das sein lassen.
Die Sozialdemokratische Partei hat in Frage gestellt, daß die Sicherheit, das, was Sie für Sicher-
heit halten, durch Ihre Abkommen gewährleistet sei.
— Sehen Sie, ich entziehe mich weder einer Arbeit noch einer Verantwortung; aber Sie können mir, solange Sie nicht noch andere Gesetze schaffen, was ich Ihnen durchaus zutraue, nicht das Recht entziehen, meine Meinung zu sagen.
Wir haben uns dagegen gewandt, daß von dieser Stelle aus gesagt worden ist, mit der Eingliederung in den Nordatlantikpakt habe die Bundesrepublik
— man hat sogar gesagt, Deutschland — aufgehört, vor der Gefahr zu stehen, Kriegsschauplatz zu werden. Ist das hier gesagt worden oder nicht? Ich habe es jedenfalls noch so in Erinnerung. Nun, seither bemühen wir uns.
Ja, wird gefragt, was hat aber denn die Opposition an die Stelle dieses Verteidigungsblockes zu setzen?
Herr Lenz, Sie haben, wenn ich mich nicht irre, diese Frage gestellt. Ich muß daran erinnern, daß wir z. B. zur Genfer Konferenz — sowohl zu der Konferenz der Regierungschefs als auch dann zu der Konferenz der vier Außenminister — mit präzisen Vorschlägen gekommen sind und versucht haben, sie bei der Regierung und den Regierungsparteien zur Diskussion zu stellen. Wir sind damit nicht durchgedrungen. Wir haben damals z. B. erklärt, die Bundesregierung müsse verlangen, daß die Sowjetregierung ihre Vorstellungen vom militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands klargelegt
und daß die Westmächte sich bereit erklären, in Verhandlungen über die Veränderung der in den Pariser Verträgen enthaltenen militärischen Bestimmungen einzutreten, um die gleichzeitige oder zeitlich aufeinander abgestimmte und voneinander abhängig gemachte Lösung der Probleme der europäischen Sicherheit und der staatlichen Einheit Deutschlands sicherzustellen. Und da fing es doch schon an. Sie waren doch nicht dafür. Vielleicht waren welche von den Damen und Herren, die hier sitzen, dafür; aber die Regierung, der Außenminister war nicht dafür, daß man die Frage stellte.
— Die Frage, Herr Lenz, ist nicht gestellt worden. Es gibt sogar eine Begründung der Regierung dafür. Ich will loyalerweise sagen: sie hat ihre Stellungnahme begründet. Da müssen Sie sich die Kartothek auch noch besorgen, wenn Sie mitreden wollen. Die Regierung hat erklärt — und das ist ein Standpunkt, gegen den ich mich wende —, sie meine, diese Frage könne erst gestellt werden, nachdem die Russen die Wiedervereinigung konzediert hätten. Das paßt also nicht zu Ihrem Schuh, den Sie hier offerieren wollen; entweder das eine oder das andere. Es ging um diese Frage nach den Vorstellungen der Russen über den militärischen Status, die ja nicht einmal gestellt wurde, weil Ihr zuständiger Minister sagte, man könne die Frage erst stellen, wenn man das Versprechen der Russen habe, daß sie der Wiedervereinigung zustimmten.
Nun, da haben wir den Punkt, an dem es eben so
schwierig geworden ist. Ich kann Ihnen nicht zumuten, die Beschlüsse und Vorschläge der Sozialdemokratischen Partei durchzulesen. Aber wenn man es Ihnen nicht zumuten kann, muß man Sie andererseits bitten dürfen, über die Stellungnahme der Sozialdemokratischen Partei nicht so bestimmt zu reden; dann müssen Sie sagen, soweit Sie sich eben hätten informieren wollen, könnten Sie etwas dazu sagen.
Wir haben leider auch erleben müssen, daß Versuche — ich gebe zu, es waren zum Teil problematische, zum Teil auch unausgegorene Versuche —, die auf internationaler Ebene angestellt worden sind, einen neuen Ansatz für die Wiedervereinigungsfrage zu finden, zunächst immer auf den Einwand der Bundesregierung gestoßen sind. Der Herr Bundeskanzler hat kürzlich gesagt, er habe sich schon 1953 für ein Sicherheitssystem ausgesprochen. Das geschah wohl in jenem Brief an den amerikanischen Staatssekretär Mister Dulles, von dem wir leider bisher vergeblich versucht haben, ihn wenigstens im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten vorgelegt zu bekommen.
Aber einige Sätze daraus sind uns vorgelesen worden, und da, meine Damen und Herren, ging es eben um etwas anderes als um das, was zu einem Sicherheitssystem gehört oder was als solches bezeichnet werden kann. Es ging um ein Angebot — das ich nicht geringachten will, das aber zunächst nicht den Namen „Sicherheitssystem" beanspruchen kann —, ein Gebiet, das die Russen heute in ihrer Hand haben, wenn sie es freigeben und sich mit uns vereinigen lassen, nicht von fremden Truppen besetzen zu lassen. Etwas dünn, muß ich sagen, um auszureichen für eine so schwierige Sache, aber immerhin ein Gedanke.
Als aber der entsprechende Gedanke z. B. auf der Viererkonferenz der Regierungschefs in Genf von dem damaligen Premierminister Eden in der Form eines Vorschlags über eine militärisch von beiden Seiten zu inspizierende Zone mit herabgesetzter Rüstung vorgelegt wurde, da kam die Bundesregierung zu der schweren Besorgnis: Ja, das dürfe nicht weitergehen, und bis zur nächsten Konferenz war der Vorschlag als solcher so weit verschoben, daß er uns dann nur noch in russischer Fassung entgegentreten konnte
— ja, bitte, Herr Bundeskanzler, lassen Sie sich orientieren! —, weil inzwischen jener Gedanke über eine Zone entlang der jetzigen Demarkationslinie
— von dem ich zugebe: er hat auch seine Schattenseiten — einfach an die jetzige Oder-Neiße-Linie hin verschoben worden war, womit er noch weniger diskussionsfähig wurde.
Nun gut, man kann sagen, Sie hätten da schwere Bedenken gehabt. Aber Sie haben sie auch gehabt, als z. B. der französische Regierungschef bei Antritt seines Amtes und dann kurze Zeit später in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitschrift den Gedanken ventilierte, ob man vielleicht von der Abrüstungsseite aus einmal einen neuen Ansatzpunkt für die deutsche Wiedervereinigungsfrage und ihre Aufnahme finden könne. Da hat das Auswärtige Amt in einer Form Einspruch dagegen
erhoben, die mir noch lange zu denken gegeben hat, wie entschieden unser Herr Bundesminister für Auswärtiges sein kann, wenn es um solche Vorstellungen und Vorschläge geht.
Oder nehmen wir etwas anderes. Als der Gedanke der Begrenzung der Zahl fremder Truppen auf deutschem Boden damals in einem Schreiben des russischen Ministerpräsidenten Bulganin aufkam, da war die erste Antwort, die leider gleich öffentlich in Amerika von unserem Bundeskanzler gegeben wurde, verbunden mit der Erklärung, an der NATO-Zugehörigkeit Deutschlands dürfe nicht gerüttelt werden.
Daß das alles sehr wenig zu der Förderung des Eindrucks — auch auf der internationalen Ebene — beitragen konnte, wir nähmen es besonders ernst mit dem immer wieder anzustellenden Versuch, unsere zentrale Frage, unsere Existenzfrage hineinzubringen in die internationalen Gespräche, das kann man wohl nicht bestreiten. Wir wissen — in dem Punkte, kann man sagen, haben wir wohl eine Übereinstimmung —, wie wenig mit fertigen Rezepten und mit Schablonen zur Wiedervereinigung zu erreichen ist. Sie werden bei uns solche Schablonen auch nicht finden, aber nicht, weil wir nicht, imstande wären, sie zu machen, sondern weil sie der Natur der Sache nach keinen Zweck hätten, weil es auf das Schaffen der Ausgangspunkte, der Ausgangspositionen und dann der Grundlinien für die Verhandlungen ankommt und nicht auf irgendein Rezept, auf irgendeine Schablone.
Aber wie nervös werden Sie schon, wenn — ich denke da an den vergangenen November — eine doch sicher der Regierung nicht feindlich gesonnene Einrichtung wie das unschuldige Kuratorium Unteilbares Deutschland unter dem Eindruck der internationalen Ereignisse erklärt, man müsse die Wiedervereinigungspolitik ernstlich überprüfen, um zu sehen, was man angesichts dieser Sachlage machen könne. Zu all diesem kommt es leider nicht, und nicht zuletzt aus folgendem Grunde. Entschuldigen Sie, ich muß hier ein Wort, das der Herr Bundesminister des Auswärtigen heute morgen in anderer Richtung angewandt hat, jetzt in einer m i r genehmen Richtung anwenden. Er hat von einem beklagenswerten Tiefstand der Kritik an der entsprechenden Politik seines Amtes oder der Regierung gesprochen. Ich möchte von einem beklagenswerten Tiefstand der Unterrichtung und der Rechenschaftslegung vor diesem Hause in dieser Frage sprechen.
Sie werden nicht umhinkönnen, zuzugeben, daß das leider ein beklagenswerter Tiefstand ist. In diesem Hause werden in dieser Frage kaum — kaum, sage ich — Tatsachen vorgebracht. Auch seinen zuständigen Ausschüssen wird kaum Gelegenheit gegeben, in einigermaßen entscheidenden Stadien der Vorbereitung von Schritten — wenn schon einmal ein Schritt erfolgt, in langen Intervallen — mitzuwirken. Ich denke an die Note, die im September übergeben worden ist, auf die dann geantwortet worden ist, nun müsse ja irgendwann wieder einmal eine Antwort kommen. Wir haben davon nichts gehört; das ist auch schon von anderer Seite hier gerügt worden. Aber in allen diesen Fragen geschieht praktisch mit diesem Hause nichts. Es mag sein, daß es mit den Koalitionsfraktionen anders gemacht wird. Nur, das ist, entschuldigen Sie, bis wir eine andere Verfassung haben, noch kein Ersatz
für die mangelhafte und schlechte Unterrichtung und Heranziehung des Hauses und seiner Ausschüsse zu diesen Arbeiten. Hier wird doch im Grunde genommen versucht, Propaganda zu treiben.
Zu diesem Versuch, den Sie heute gemacht haben, sollte man sagen: Das geht nicht.
— Ja, Propaganda machen Sie auf andere Weise, an anderer Stelle, Sie haben genug Mittel dazu. Aber schaden Sie nicht zusätzlich zu der Sache auch noch dem Parlament, wenn Sie die Dinge auf diese Weise handhaben!
Sie dürfen sich nicht darauf verlassen, daß unser Volk zuwenig zu unterscheiden verstünde. Es hat leider in der Vergangenheit — und wir alle haben davon irgend etwas gehabt — wenig Unterscheidungsvermögen, oft in sehr schwerwiegenden Dingen, gehabt, aber es hat wohl einiges dazugelernt. Sie sind doch — und da wird es eben tragisch — auf eine Politik festgelegt, die es zwar zuläßt, von der Wiedervereinigung zu sprechen, die aber noch keinen Raum läßt für einen einzigen entscheidenden konkreten Schritt.
Gewiß, wir haben in der zu Ende gehenden Periode dieses Bundestages zwei Viermächtekonferenzen gehabt. Viermächtekonferenzen können, wenn's gut geht, helfen zur Schaffung von Wiedervereinigungsbedingungen; sie müssen es nicht. Kam es in jenen im doppelten Sinne kalten Wochen des Jahres 1954 nicht im Grunde genommen einfach darauf an, durch den Verlauf der Konferenz festzulegen, wer der Alleinschuldige an der Aufrechterhaltung der Spaltung ist, und ihn abzustempeln? Das war leider damals die Quintessenz der Strategie für diese Konferenz. Würde man sich heute die Mühe machen, in den Archiven, in den Papieren, die vor dieser Konferenz zusammengeschrieben und erarbeitet worden sind, nachzublättern, dann würde man wohl feststellen müssen, z. B.: die Wiedervereinigung Deutschlands dürfe nicht unter Bedingungen erfolgen, die die Integration Deutschlands in die europäische Gemeinschaft — das hieß damals: in die EVG — unmöglich machen würden, und zweitens: die Einsetzung einer gesamtdeutschen Regierung dürfe nicht unter Bedingungen erfolgen, die auf die Schaffung einer österreichischen Situation hinausliefen. Wie makaber klingt das heute, nachdem inzwischen Österreich seinen Staatsvertrag bekommen hat! Damals schien es dem, der es verfaßt hat, als sei das der beste Begriff, um zu sagen, wie hoffnungslos eine solche Situation sei. Und drittens: es muß alles nur Mögliche getan werden, um hervortreten zu lassen, daß die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands bei der Sowjetunion und nicht bei den Westalliierten liegt. — Sehen Sie nach, Sie werden diese Sätze finden, meine Damen und Herren! Sie werden auch die taktischen Grundregeln finden. In der Annahme, daß die Sowjetregierung selbst vorschlagen werde, die Befugnisse der gesamtdeutschen Regierung zu begrenzen, wurde es damals als nicht vorteilhaft erachtet, wenn die Westmächte den ersten Schritt in Richtung einer Begrenzung der Befugnisse der gesamtdeutschen Regierung täten, und so wurde geschluß-
folgert, es liege im Interesse der Westmächte, den Schwerpunkt der Aussprache zunächst auf die Frage der freien Wahlen und der Bildung einer aus diesen Wahlen hervorgegangenen vorläufigen Regierung zu legen und nicht auf den Status dieser Regierung.
Da haben wir genau den wunden Punkt all dieser Verhandlungen: daß man im Widerspruch zu einer Note der Alliierten vom September 1953, war es wohl, wo die Verhandlungsbereitschaft über den Status Gesamtdeutschlands neben der Verhandlungsbereitschaft über freie Wahlen ausdrücklich zugesichert war, von der eigenen Zusicherung wieder stillschweigend heruntergegangen ist. Das hat die Lage nicht verbessert, sondern leider verschlechtert.
Meine Damen und Herren, erinnern Sie sich noch des Dokuments, das wir damals hier einstimmig beschlossen haben — einstimmig! — nach der erbitterten und ermüdenden Debatte der zweiten und der dritten Lesung der Pariser Verträge? Das war dann so der Balsam, der aufgelegt wurde. Da steht am Schluß:
Es soll eine ständige Kommission, bestehend aus je einem Vertreter der drei Westmächte und der Bundesrepublik Deutschland gebildet werden, deren Aufgabe es ist, alle zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands sich bietenden Gelegenheiten zu erörtern und Vorschläge auszuarbeiten, um aussichtsreiche Verhandlungen vorzubereiten.
Nicht einmal die Kommission ist gebildet worden!
So ernst geht es zu, wenn es um solche Beschlüsse geht! Und was ist damals alles zu diesem Ding gesagt worden, um die Besorgnisse, auch die Besorgnisse vieler aus Ihren eigenen Reihen, zu beschwichtigen, die gedacht haben, wenn sie trotz mancher Hemmungen den Verträgen zustimmen, daß sie dann, wenn man es so macht, doch zur Wiedervereinigung beitragen. Aber nicht einmal das haben Sie gemacht, sondern haben es einfach kalt liegenlassen.
Oder wollen Sie sagen — was ich sozusagen voraushöre —, Sie hätten das dann ja bei der Vorbereitung der Konferenz von Genf auf einer viel höheren Ebene zustande gebracht? Das war schon damals etwas, was Sinn gehabt hätte: eine solche ständige Kommission zu bilden. Wir haben damals keinen Unsinn beschlossen. Es war nicht viel. Aber was wir da beschlossen haben, hätte man durchführen müssen.
Und dann, meine Damen und Herren: Bei der Genfer Konferenz war die Bundesregierung zwar bei den Vorbesprechungen mit dabei. Aber die Frage, die sogenannte Gretchenfrage, an die Russen zu stellen: Was stellt Ihr Euch denn unter dem militärischen Status Deutschlands vor?, wurde vom Bundesminister des Auswärtigen, ich nehme an, im Einvernehmen mit dem übrigen Kabinett und vor allen Dingen mit dem Bundeskanzler damals abgelehnt. Diese Frage wäre die Grundlage gewesen — um es ganz bescheiden zu sagen —, um sich weiterzutasten.
Heute morgen hörte ich, daß einer der Kollegen Erwägungen darüber anstellte, was wohl — wer weiß — hätte sein können, wenn zur Zeit des Höhepunktes der Ungarnkrise wir stärker gewesen wären.
— Überhaupt!
Das ist eine Frage von unter Umständen unglaublicher Tragweite.
Eines aber — ich will mich da gar nicht in irgendwelchem Rätselraten ergehen — hätte ich doch gern gewußt: ob nicht feststand und noch feststeht, daß es keine Möglichkeit gegeben hat, vom Westen aus in der Ungarnkrise mit militärischen Mitteln Ordnung zu schaffen. Ich bin nämlich dieser Meinung, weil das An- und Einsetzen militärischer Mittel den dritten Weltkrieg bedeutet haben würde.
— Ja, sicher, die anderen haben militärische Mittel. Aber dieses Kannegießern, verehrter Herr Kollege Schütz, führt uns ja nicht weiter. Wir haben es dort mit einer Macht zu tun, die über sehr erhebliche Mittel verfügt, die sie heute zum Teil interessanterweise braucht, um Ordnung in ihrem eigenen Machtbereich zu halten, und sie hat allerlei mit sich selbst zu tun.
— Bitte sehr!
Darf ich Sie fragen, Herr Kollege Wehner, weil Sie von Ordnung im eigenen Machtbereich sprachen: Kennen Sie den Satz:
Niemand in der Welt kann von Rußland verlangen, daß es freiwillig ein Land preisgibt, das ein Adenauer-Regime bekommen soll.
Wissen Sie, daß dieser Satz in der Januarnummer der „Jungen Gemeinschaft", der Zeitung der sozialistischen „Falken", steht, und billigen Sie und Ihre Fraktiondiesen Satz?
Verehrter Herr Rasner! Ich kenne nicht ganz so genau, wie Sie es wohl zu tun scheinen, die inneren Verhältnisse, die hierarchischen Verhältnisse sozusagen, bei Ihnen. Wenn also irgendwo in einer Zeitung, die sich politisch zu Ihnen rechnet, etwas steht, —
— Sofort! Ich wollte ja ,auch nur, da ich etwas umständlich im Antworten bin, zeigen, wie ich an diese Sache herangehe.
— Es ist schade; aber manchem fliegt es so zu wie Ihren Herren, und mancher muß sich eben mühselig da heranarbeiten.
Ich weiß nicht so genau, wie das mit der hierarchischen Unterordnung bei Ihnen ist. Ich habe jedenfalls nichts zu sagen über irgendeine Zeitung irgendeines sozialistischen Jugendverbandes oder einer sozialistischen Jugendorganisation, und ich
weiß, daß auch der Vorstand der SPD als Ganzes nichts über sie und ihren Inhalt zu sagen hat.
— Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Wenn es Sie danach gelüstet, könnte ich Ihnen ganze Artikel vorlesen, in denen ich selbst in den schwierigsten Abschnitten dieser Krise nach beiden Seiten gesagt habe — und ich gebe zu, manchmal sehr mahnend und beschwörend, weil mir vor Augen stand, was es bedeutet, wenn man in dieser Frage Fehler macht —, wie verhängnisvoll diese Sache wird, wenn es zum militärischen Eingreifen, zur militärischen Intervention kommt.
— Hören Sie mal, Ihre Rolle in diesem Zirkus wird Sie doch am Ende nicht freuen!
Ich sage Ihnen in aller Redlichkeit, ich bin und meine Partei ist gegen die militärische Intervention in Ungarn, gegen die erste und gegen die zweite, und wir haben nichts daran zu deuteln und nichts daran zu beschönigen. Aber wenn man weiß, wie die Sowjets solche inneren Veränderungen in gewissen Grenzen halten wollen, und wenn man weiß, daß man militärisch unter keinen Umständen eingreifen kann, kommt man dahin, sich zu überlegen, in welchen Grenzen sich oder Versuch einer Einwirkung auf dieses Geschehen in osteuropäischen Ländern, einer Einwirkung, die keine Einmischung sein kann, bewegen muß und nur bewegen kann.
— Dann darf ich vielleicht die Sache noch einmal klar und deutlich mit Ja und Nein beantworten, wenn Sie sie mir noch einmal wiederholen. Ich habe jedenfalls den Versuch ,gemacht, mich heranzuarbeiten; nicht heranzurobben, aber heranzuarbeiten.
Ich will sie gern wiederholen. Herr Kollege Wehner, ich habe Sie gefragt: „Kennen Sie den Satz:
Niemand in der Welt kann von Rußland verlangen, daß es freiwillig ein Land preisgibt, das ein Adenauer-Regime bekommen soll.
Wissen Sie, daß dieser Satz" — und jetzt füge ich das Wort ,schamlos hinzu — „in der Januar-Nummer 1957 der „Jungen Gemeinschaft", der Zeitung der sozialistischen Jugend „Falken", steht, und billigen Sie und billigt Ihre Fraktion diesen Satz?"
Sie haben zuerst gefragt, ob ich ihn kenne. Da muß ich sagen: ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn jetzt durch Ihre Freundlichkeit kennengelernt, und ich sage: ich billige ihn nicht, ich lehne ihn ab. Ich kann ihn ja nicht billigen, weil wir für das Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes und jedes Staates sind
und weil ich für die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten jedes anderen Staates eintrete und es ernst damit meine, kann ich ihn nicht billigen.
— Ja, wollen Sie noch mehr hören? Vielleicht ist es dann schon wieder zuviel.
— Sie haben mich gefragt und nicht den Fraktionsvorsitzenden. Bei uns ist es nicht so, daß jeder so daherlabert, und wenn Sie es von ihm noch hören wollen, er wird es Ihnen, nehme ich an, auch noch geben.
Ich glaube, meine Damen ,und Herren, hier liegt der schwierige Punkt. Man kann, wenn man sich über die Grenzen klar ist, in denen eine Einwirkung auf jenes komplizierte Geschehen in osteuropäischen Ländern vor sich geht, nicht sorgfältig genug nachdenken und herauszufinden versuchen, in welcher Weise man das, was dann positiv sein kann — positiv sowohl für die Völker selbst als auch für das Verhältnis der Völker zu uns und von uns zu ihnen —, fördern und anbringen kann.
Nun, meine Damen und Herren, wollte ich zum Schluß noch eine Bemerkung zu den Fragen machen, die die westeuropäische Zusammenarbeit betreffen. Einer der Kollegen, die hier gesprochen haben — wenn ich mich nicht täusche, war es Herr Kollege Dr. Lenz, der ja solche Dinge genau kennen muß —, wunderte sich über unser jetziges Interesse an diesen Fragen. Daher möchte ich, weil ja wohl einige unter uns sind, die über die Rolle der Sozialdemokraten in diesen Dingen nicht im einzelnen informiert sind — ich kann es mir wenigstens vorstellen —, sagen, daß wir zu den Gründungsmitgliedern des von Präsident Monnet geführten Komitees für die Vereinigten Staaten von Europa gehören und daß wir dort in den verschiedenen Zeitläuften des Auf und Ab der Vorschläge um eine europäische Gemeinschaft für die ausschließlich friedliche Nutzung der Atomenergie und für einen gemeinsamen Markt, soweit es uns zukam, unsern Mann gestanden haben.
— Ja, aber hier werden wir behandelt, als sollten wir uns mit irgendeiner lapidaren Formel abgeben. So einfach geht das nicht. Wenn es der französischen Kammer erlaubt ist, zu fragen, was denn drin ist, obwohl die Verträge noch nicht vorliegen, und sich auf der Basis ausführlicher Berichte und Gutachten ihres Staatssekretärs usw. ein Bild zu machen, warum sollte es uns dann nicht auch erlaubt sein? Warum sollte es nicht schon längst zumindest in den Ausschüssen möglich gewesen sein? Bei der Beratung des Saarvertrages ist es doch auch gegangen, meine Damen und Herren,
als es um so viel Geld ging! Wir haben uns dieser informellen Methode der Mitarbeit gar nicht versagt, aus nationalpolitischen Gründen nicht versagt und nicht versagen wollen. Warum hier plötzlich diese Art, uns vor Tatsachen zu stellen, von denen Sie wissen müssen, daß sie unangenehm sind!? Sie werden auch für Sie nicht angenehm sein, wenn sie einmal in die Kreide gehen.
Zu einer Atomgemeinschaft, die ihrer wesentlichen Kerngedanken völlig entblößt ist, ja zu sagen, wird schwer sein. Ich könnte dann nur unter großen Bedenken ja sagen, wenn ich wüßte, daß mit dem Torso immerhin so viele Zwangsläufigkeiten in Gang gebracht würden, daß man sich sagen könnte: Es wird nun zwar viel länger dauern, als es sonst der Fall gewesen wäre; aber es wird kein Schaden dabei erwachsen. Wir mußten uns das holen, in Brüssel selbst und in Luxemburg, und wir mußten zu unseren sozialistischen Kollegen der anderen Länder gehen, um zu erfahren, was eigentlich darin steht; denn hier im Hause kriegt man ja keine Informationen über diese Fragen; wir werden dann ja wie Unmündige behandelt. Unter diesen Umständen muß ich sagen, daß die Bedenken auch beim Gemeinsamen Markt sehr groß sind. Wir sind ja für den Gemeinsamen Markt, weil wir meinen, daß das so anfällige und in mancher Beziehung auch fragwürdige Gebilde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl überhaupt nur dann eine Zukunftsmöglichkeit hat, wenn sie in den allgemeinen gemeinsamen Markt eingebettet werden kann, in eine in Übereinstimmung zu bringende Konjunkturpolitik und alles, was dazu gehört.
Aus dieser Einstellung heraus sind wir für diese Einrichtungen. Aber, meine Damen und Herren, nützen Sie doch die Gelegenheit, hier über das, was dort wirklich geschieht, zu sprechen, damit sich auch dieser Bundestag noch in der letzten Phase der Verhandlungen Gehör verschaffen kann, ebenso wie andere es versucht haben! Es ist auch keine Kleinigkeit, sozusagen über Nacht — noch ist die Gefahr nicht gebannt — auf diesem Umweg in eine im Konkurs befindliche französische Nordafrika-Politik einbezogen zu werden.
Wer kann denn das wollen? Das kann doch keiner wollen! Darüber muß man doch sachlich reden können. Wir können uns doch nicht in eine solche Lage gegenüber Tunis und Marokko versetzen lassen, von Algerien gar nicht zu reden, weil man denen in dieser Beziehung gar nicht helfen kann, denn die werden als Franzosen muselmanischen Glaubens reklamiert.
Aber die beiden inzwischen selbständig gewordenen Länder Tunis und Marokko sollen auch so mit eingebürgert werden, weil sie zum Frankenwährungsblock gehören.
Also darüber muß man reden. Wir können uns doch denen gegenüber nicht ,als Leute präsentieren, die sich einfach an die Seite eines Koloniallandes stellen und sagen: Jetzt sind wir Teilhaber; wir haben euch einige Dinge in Aussicht zu stellen, vieleicht werdet ihr in kürzerer Zeit die eine oder andere Vergünstigung haben. — Aber das löst doch nicht das verwickelter werdende politische Problem.
Aus all diesen Gründen sage ich noch einmal: Wir müssen hier ein Bild von dem bekommen, was in den Verträgen steht, bevor sie unabänderlich geworden sind. Denn wir möchten, daß es zum Gemeinsamen Markt kommt, und wir möchten, daß es zur Europäischen Gemeinschaft für die friedliche Nutzung der Atomenergie kommt, und weil wir das möchten, wünschen wir, vorher noch Gelegenheit zu haben, uns zu äußern, ehe es zu spät ist und man unter Umständen an Dingen nichts mehr
ändern kann, die noch zu ändern gewesen wären.
Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur einige Bemerkungen zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Wehner machen. Lassen Sie mich mit seinen Schlußausführungen beginnen.
Ich erlaube mir doch, meinem Erstaunen darüber Ausdruck zu geben, daß heute in dieser Debatte von der Opposition mit sehr bewegten Worten darüber Klage geführt wird, daß man das Parlament und insbesondere die Opposition an der Vorbereitung und Ausarbeitung der Verträge von Brüssel nicht beteiligt habe. Ich möchte doch eines einmal klar- und richtigstellen — und ich glaube, daß Sie mir nicht widersprechen können —: Es gibt — ich wiederhole es — in keinem Parlament die Praxis, daß zwischenstaatliche Verträge zunächst ins Parlament gehen und dann abgeschlossen werden, sondern in allen Parlamenten, in allen Staaten ist es umgekehrt. Deswegen hatte die Bundesregierung
— lassen Sie mich doch aussprechen— durchaus keinen Anlaß, von dieser Praxis abzuweichen, die in diesem Hause auch noch nie beanstandet worden ist.
— Nein, Herr Kollege, lassen Sie mich aussprechen.
— Nein, Herr Kollege!
— Verzeihen Sie, Sie wissen doch, daß die Brüsseler Verhandlungen seit der Konferenz von Venedig geführt worden sind. Ist — ich darf mir die Frage erlauben — von Ihrer Partei, von Ihrer Fraktion einmal der Wunsch an mich, an mein Ministerium herangetragen worden, wir möchten über diese Dinge im Ausschuß oder im Plenum berichten? Meine Damen und Herren, bis gestern noch nicht!
— Verzeihen Sie, es ist nicht selbstverständlich. Es
ist nämlich in keinem Land so, und wir haben es
früher auch nicht so gemacht. Ich halte den Weg
— erlauben Sie mir, das auch zu sagen — einer Plenardebatte für sehr wenig glücklich. Ich darf Ihnen auch verraten, daß die französische Regierung der gleichen Meinung war und daß man dort aus gewissen innenpolitischen Gründen die Debatte geführt hat. Ich wiederhole: ich halte es einfach für undenkbar — und ich bitte Sie, mir da zu folgen
- daß Parlamente vorher das diskutieren, was
sechs Staaten über Verträge verhandeln und was in den Verträgen stehen muß. Ich glaube, dann gibt es überhaupt keine Verhandlungsbasis mehr. Deswegen auch wohl die Praxis, von der ich sprach.
Aber ich wiederhole: ich hätte mich nie geweigert — ich möchte es klar feststellen —, etwa in
einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses oder einer Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Wirtschaftspolitischen Ausschusses einen erschöpfenden Bericht über den Stand der Verhandlungen zu geben. Aber soll ich das, wenn es nicht einmal der Praxis entspricht, auch ungefragt tun? Ich glaube sagen zu dürfen, daß die Vorwürfe, die Sie heute nach anderthalb Jahren erheben, doch etwas eigenartig anmuten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jawohl!
Herr Minister, ich wollte Sie nur fragen, ob Ihnen aus dem Gedächtnis entschwunden ist, daß ich im Namen der Sozialdemokraten im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten im September und Oktober eine solche Behandlung und ein Auf-dem-Laufenden-Halten erbeten hatte. Sie haben auch einmal — deswegen können Sie heute nicht sagen, wir hätten es nie verlangt — Anfang November einen Bericht erstatten lassen, der aber natürlich involvierte — so meine ich —, daß man über den sehr komplizierten weiteren Gang ebenso hätte informiert werden müssen wie seinerzeit über die Saarverträge. Ich wollte nur fragen, ob Ihnen das entgangen ist. Wenn ja, dann müssen Sie zugeben, daß Ihnen hier ein Irrtum unterlaufen ist.
Herr Kollege Wehner, Sie haben vollkommen recht. Es ist damals nach dem Stand der Verhandlungen gefragt worden, und Herr Staatssekretär Hallstein hat ausführlich berichtet. Dann ist keine Frage mehr an mich gekommen, und ich dachte, ich warte ab, bis die Verhandlungen abgeschlossen sind.
— Meine Damen und Herren, ich möchte doch ganz eindeutig feststellen: es ist nicht so, daß ich nun jede Frage an das Parlament und an die Opposition herantragen muß, sondern dafür haben Sie das Recht, Fragen an mich zu stellen, Wünsche zu äußern und Beschlüsse zu fassen.
Es gibt sogar die Möglichkeit, einen Brief an mich zu schreiben; das hat im allgemeinen genügt.
Dann möchte ich nur noch zu einigen Punkten Stellung nehmen, weil ich den Eindruck habe, daß entweder der Herr Kollege Wehner sich nicht mehr genau erinnert oder daß er annimmt, daß wir uns nicht mehr genau erinnern.
Der Herr Kollege Wehner hat vorhin ausgeführt, die Bundesregierung habe den ersten Edenplan abgelehnt. Herr Kollege Wehner, erinnern Sie sich denn nicht, daß wir diesen ersten Edenplan abgelehnt haben, weil er kein Wort von der Wiedervereinigung enthielt? Das war das Entscheidende.
Er enthielt einen Plan über den Beginn einer sogenannten Abrüstung, dem die Zonengrenze zugrunde gelegt worden war, ohne auch nur das Wort „Wiedervereinigung" zu erwähnen. Da haben wir allerdings — ich bin erstaunt, daß Sie uns darum schelten — sehr klar gesagt: wir wünschen nicht, daß die Abrüstung und die Verdünnung auf dem Rücken des deutschen Volkes erfolgt und von der Wiedervereinigung keine Rede ist. Wir wollen, daß diese Dinge gleichzeitig Hand in Hand und mit Deutschland gelöst werden.
Der zweite Edenplan, den Sie dann auch in meinem Memorandum vom letzten September wiederfinden, entspricht diesen Vorstellungen. Er enthält gleichzeitig einen Wiedervereinigungsvorschlag. Deswegen ist er von uns akzeptiert und unterstützt und in dem Memorandum wiederholt worden.
Sie haben dann gesagt, Herr Kollege Wehner, die Bundesregierung habe sich geweigert und habe verhindert, daß darüber gesprochen werde; sie habe sich geweigert, auch nur in eine Diskussion über das militärische Verhältnis, den militärischen Status des wiedervereinigten Deutschlands und die Beziehungen des wiedervereinigten Deutschlands zur NATO einzutreten. Es tut mir leid, Herr Kollege Wehner. Ich muß Ihnen auch hier widersprechen und muß sagen, daß das, was Sie gesagt haben, objektiv unrichtig ist Erinnern Sie sich nicht der Vorschläge, die zusammen mit den drei Alliierten in Washington, in New York und in Paris von uns ausgearbeitet worden sind, in denen Sie nachlesen können — vielleicht habe ich sie da —, daß die Wiedervereinigungsvorschläge drei Möglichkeiten enthielten? Das wiedervereinigte Deutschland konnte danach der NATO beitreten, das wiedervereinigte Deutschland konnte neutral bleiben, und das wiedervereinigte Deutschland konnte sich dem Ostblock anschließen. Für diese drei Möglichkeiten wurden dann jeweils von den drei Außenministern mit unserer vollen Billigung die nötigen Vorschläge und Garantien dargelegt. Es heißt doch wirklich die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man sagt, es habe bei uns an der Verhandlungsbereitschaft gefehlt und die guten Russen hätten nur darauf gewartet, daß wir ihnen ein Angebot gemacht hätten. So ist es nun leider nicht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gern.
Herr Minister, ich wollte Sie bitten, mir zu sagen, ob Sie bei mir das Wort von den „guten Russen" gehört haben; als erste Frage.
Nein.
Ja, ich habe Anlaß zu dieser Frage, weil Sie das schon zu einer Folge machen.
Nein.
Zweitens: Ich möchte Sie fragen, ob Sie nicht verstanden haben, daß es bei meinen Darlegungen darauf ankam, das, was an Verhandlungswert in den russischen Zusicherungen liegen
könnte, genau auszuloten und auszuforschen, und daß das nicht irgendwie das Ergebnis eines Vonvornherein-Glaubenschenkens war.
Herr Kollege Wehner, ich bedaure, auch auf die zweite Frage mit Nein antworten zu müssen. So habe ich Sie nicht verstanden. Sie haben nämlich in Ihren Ausführungen — vielleicht habe ich Sie da mißverstanden — ausschließlich der Bundesregierung den Vorwurf gemacht, daß sie die Wiedervereinigung entweder aus Dummheit oder aus Bosheit verhindert habe.
Nein, nein, daß der Herr Bundeskanzler den versprochenen Katalog nicht in Moskau unmittelbar nach der Ratifikation vorgelegt hat! Daran werden sich viele andere noch erinnern, daß er versprochen hat, den vorzulegen.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Es besteht — und ich kann nur unterstreichen, was einer der Redner vorhin sagte — in dieser Frage eine laufende Initiative.
Ich wiederhole, was ich heute morgen sagte, und ich unterstreiche es: Es gibt kein Gespräch und es gab kein Gespräch, das wir mit unseren Alliierten führten, das nicht um die Wiedervereinigung ging, und es gab keine Diskussion, die wir hier in Bonn hatten oder die der Botschafter in Moskau in der Verhandlung mit der Sowjetunion hatte, die nicht die Frage der Wiedervereinigung behandelte.
Aber es heißt doch die Dinge auf den Kopf stellen,wenn man an unserem guten Willen, an unserer Bereitschaft zweifelt. Haben Sie es nicht selbst verfolgen können, daß jeder Vorschlag, gleichgültig, wie er hieß, entweder von den Russen mit Nein beantwortet oder mit unerfüllbaren Bedingungen wiedergegeben wurde?
Erinnern Sie sich nicht daran, meine Damen und Herren, wie die erste Genfer Konferenz mit einem gemeinsamen Kommuniqué der vier Ministerpräsidenten geschlossen hat, einem Kommuniqué, das auch die Unterschrift des Ministerpräsidenten Bulganin trug? In diesem Kommuniqué hieß es, daß die vier Alliierten bereit seien — ich kann es nicht wörtlich zitieren —, die freien Wahlen in Deutschland als Weg zur Wiedervereinigung zu akzeptieren. Es dauerte so lange wie üblich bei der Sowjetunion: am Freitag wurde das Kommuniqué herausgegeben, am Samstagmorgen in der Schlußsitzung hat Herr Bulganin Verwahrung gegen seine Unterschrift eingelegt, und am übernächsten Tag war er in Pankow zu Gast und hat erklärt: Freie Wahlen kommen nicht in Frage. — Waren wir daran schuld, meine Damen und Herren, oder die Sowjetunion?
Noch zwei Bemerkungen, auf die ich auch Wert lege. Sie haben vorhin einige Feststellungen getroffen, über die wir damals sprachen, und Sie haben recht — wie wir sagten —: Die europäische Integration soll im Falle der Wiedervereinigung nicht ausgeschlossen sein. Sie haben aber nicht recht, wenn Sie sagen: Das war die EVG. — Das ist nicht richtig. Wir haben gesagt — und ich wiederhole es auch heute —: Wir wollen nicht, daß einem wiedervereinigten Deutschland der Weg zur europäischen Gemeinschaft verschlossen wird, weil wir nun mal der Überzeugung sind, daß dieses Deutschland — heute als Bundesrepublik, morgen als wiedervereinigtes Deutschland — nicht leben kann, wenn es nicht in den europäischen Raum hineingebaut wird.
Deswegen haben wir gesagt — und ich meine doch, das stimmt mit den Beschlüssen überein, die wir hier einstimmig gefaßt haben —, daß das wiedervereinigte Deutschland die Freiheit der Entscheidung haben müsse. Ist es zu viel verlangt, daß wir auch für die gesamtdeutsche Regierung die Freiheit der Entscheidung über die wirtschaftliche und soziale Zukunft des Volkes fordern?
Sie haben dann gesagt — und auch hier, glaube ich, rechnen Sie mit einem kurzen Gedächtnis —, damals habe man warnend auf die österreichische Situation verwiesen. Meine Damen und Herren, worum ging es denn damals? Es ging darum, daß uns von der Sowjetunion angetragen wurde und daß in den Vorschlägen von Pankow wiederholt wurde: Rückkehr zum Viermächtestatus! Und darauf haben wir allerdings geantwortet: Nein, keine Rückkehr zum Viermächtestatus. Ich glaube, diese Antwort war richtig.
Sie verweisen dann — und auch hier muß ich Ihnen widersprechen, Herr Kollege Wehner -- darauf, daß man hier die Kommission der drei Alliierten und der Bundesregierung beschlossen habe, aber man habe nicht einmal danach gehandelt. Herr Kollege Wehner, haben Sie vergessen, daß wir diesen Beschluß zu einer Zeit faßten, als die Bundesregierung überhaupt noch keine Außenpolitik hatte, als wir noch ein besetztes Land mit Hohen Kommissaren waren? Damals war es allerdings ein Ausweg, eine Kommission zu gründen. Ich versichere Ihnen, wenn ich heute auf den Gedanken käme, den drei Alliierten eine permanente Kommission vorzuschlagen, würden Sie mich mit Recht fragen, wofür wir eigentlich Botschafter haben. Wir sind in einem ständigen Kontakt, mehr und besser, als es ein besetztes Deutschland mit drei Kommissaren in einer ständigen Kommission sein könnte. Das hat die Vorbereitung der Genfer Konferenz bewiesen, wo wir nicht in einer Kornmission saßen, sondern wo wir an einem Tisch saßen, als die Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Bundesrepublik gemeinsam die Vorschläge ausgearbeitet haben. Ich glaube, daß wir damit etwas mehr erreicht haben als in einer Kommission.
Eine Zwischenfrage!
Herr Minister, ich darf Sie aber fragen, ob Sie sich vielleicht nicht doch im Zeitpunkt irren. Denn diese Resolution, aus der ich zitiert habe, ist nach der Annahme der Pariser Verträge beschlossen worden, und das heißt doch: nach dem Außerkrafttreten des Besatzungsregimes.
Ich glaube nicht, Herr Kollege. Sie haben
sie vorhin in der Hand gehabt, wenn ich mich recht
erinnere; können Sie nicht das Datum feststellen?
Ich habe verstanden, daß es sich um einen Entschließungsantrag handelt, der seinerzeit in Verbindung mit den Ratifikationsgesetzen angenommen worden ist. Haben Sie das sagen wollen, Herr Kollege Wehner?
Wir können ja diese Frage des Zeitpunktes noch gemeinsam klären; da stehen uns beiden ja die Akten zur Verfügung.
Der Bericht trägt das Datum vom 23. Februar
— 1955 — und wurde beschlossen nach der Annahme der Pariser Verträge durch das Haus. Er konnte selbstverständlich erst wirksam werden, nachdem das Besatzungsregime nicht mehr galt; es war doch nicht eine Resolution für zwei oder drei Wochen.
Herr Kollege, ich glaube, es ist doch ein Irrtum. Er wurde beschlossen, als wir noch Besatzungsregime hatten.
— Das ist doch eine Unterstellung, Herr Kollege.
— Wir können das Protokoll nachlesen. Aber ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, daß wir recht haben. Das Datum gibt mir zunächst recht.
Ich glaube also, daß von den Feststellungen und Vorwürfen, die Herr Kollege Wehner hier erhoben hat, nichts übriggeblieben ist.
Aber er ist uns eigentlich etwas schuldig geblieben: seinen Vorschlag zur Wiedervereinigung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Furler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Außenpolitik, die hier zur Debatte steht, hat ihre vielfältigen Aspekte. Meine Aufgabe — akut geworden durch den neuen Antrag, den die SPD hier vorgelegt hat — war es, zu den europäischen Dingen zu sprechen. Aber nachdem Herr Wehner eben eine sehr leidenschaftliche Anklagerede gehalten hat, muß ich dazu doch einige kurze Bemerkungen machen, obwohl ich nachher auch wieder auf verschiedene Gesichtspunkte der Wiedervereinigung zu sprechen kommen will.
Wer Herrn Wehner gehört hat, der muß sagen, das war eine ununterbrochene Anklage des Sinnes — so mußte man das verstehen —, daß bei den
Verhandlungen über die Wiedervereinigung und hinsichtlich der Möglichkeiten, die nach seiner Meinung bestanden, nicht alles getan wurde, um die Dinge zu realisieren, mindestens, ganz vorsichtig ausgedrückt, nicht alles getan wurde, um klarzustellen, daß Sowjetrußland die Schuld daran trage, daß die Wiedervereinigung bis heute nicht zustande gekommen ist.
Aber, Herr Wehner, es hat mich wenig angenehm berührt, daß Sie bei der Argumentation, wir hätten die Schuld deutlicher feststellen sollen, in Ihren Ausführungen sehr in den Vordergrund haben treten lassen, als hätte in diesen ganzen Notenwechseln und Verhandlungen doch irgendeine Möglichkeit gelegen, die zu einem positiven Ergebnis hätte führen können. Herr Wehner beanstandet, daß die Resolution, die damals im Anschluß an die Debatte über die Pariser Verträge gefaßt worden ist, in dem einen Punkte — ich habe die übrigen nicht alle im Kopf —, daß eine Kommission gebildet werden sollte, nicht durchgeführt worden sei. Ich kann im Augenblick nicht sagen, wie die Dinge formell gelaufen sind. Ich frage nur: glaubt jemand in diesem Haus, daß die Bildung einer solchen Kommission irgend etwas Positives zu den Erfolgschancen der Wiedervereinigung hätte beitragen können?
— Ich sage, wir wollen die Dinge einmal real miteinander besprechen, nicht formal. Vergessen Sie doch nicht, daß nachher die beiden großen Genfer Konferenzen stattgefunden haben, daß ständig ein Kontakt mit den anderen Vertragsmächten vorhanden war, die sich ja gerade in jenen Pariser Verträgen verpflichtet hatten, unsere Wiedervereinigungspolitik zu unterstützen. Ich frage: glauben Sie — Sie behaupten das wohl selbst nicht, aber ich muß diese These widerlegen, damit kein falscher Eindruck entsteht —, daß in einem Zeitpunkt, in dem Stalin noch persönlich bestimmte, oder aber in einem Zeitpunkt unmittelbar nach seinem Tode, als seine Politik noch absolut maßgeblich war, irgendwelche realen Chancen auch nur für ein fruchtbares Gespräch bestanden?
Das Äußerste, was in jener großen Gipfelkonferenz mit Hilfe unserer westlichen Verbündeten erreicht werden konnte, jene Erklärung über die Verpflichtung zur Wiedervereinigung auf Grund freier Wahlen, ist völlig auf dem Papier stehengeblieben. Denn sofort nachher haben die Widerstände eingesetzt, und die zweite Konferenz machte deutlich, daß wir auf diesem Wege nicht weiterkommen. Glauben Sie in einem Zeitpunkt, in dem wir die Ereignisse in Ungarn übersehen und erkennen, bei welcher Härte Sowjetrußland in seinem Machtbereich geblieben ist — und in einer Zeit, von der Sie glauben, daß in ihr ein Wandel eingetreten sei —, daß vorher irgend etwas Reales erreicht worden wäre?
Ich meine, wenn es bloß darum ginge, die Schuld Sowjetrußlands festzustellen, dann müßten wir in diesem Hause darüber einig sein, daß irgendein Zweifel darüber nicht bestehen kann, daß es die harte Machtpolitik der Russen nach innen und außen ist, die die Wiedervereinigung bis auf den heutigen Tag konsequent verhindert hat. Daß die Sowjetunion die DDR als kommunistischen Staat nach ihren Ideen aufbauen will, die These, daß dies
ein deutscher Staat sei, der neben uns stehe und mit dem wir uns in Vereinigungsgespräche einlassen sollten, die These von den zwei Staaten und den sozialistischen Errungenschaften oder vielmehr dem konsequenten Durchführen eines kommunistischen Wirtschaftssystems: dies sind doch die Dinge, an denen die Wiedervereinigung bis heute gescheitert ist und nicht daran, daß irgendwelche Verhandlungschancen nicht ausgenutzt worden wären.
Also ich glaube, daß wir über die Schuldfrage hier nicht zu debattieren brauchen. Dann war es aber nicht notwendig, eine lange Philippika zu halten, die den Eindruck entstehen lassen mußte, bei ruhiger Betrachtung könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß die Bundesregierung ein gewisses Maß an Schuld daran trage, wenn die Wiedervereinigung bisher nicht gekommen ist. Dagegen muß doch im Interesse der Wahrheit deutlich protestiert werden.
Nun aber zurück zu den Europadingen und zu bestimmten Fragen! Sie haben immer gesagt: wir wollen uns konkret über verschiedene Dinge unterhalten. Es hat mich, wenn ich die Verhandlungslage betrachte, nicht nur formell überrascht, daß von Ihrer Seite nun ein starker Vorwurf in der Richtung kommt, unser Parlament sei über die Verhandlungen über die Bildung der Euratom-Gemeinschaft und des Gemeinsamen Marktes nicht unterrichtet worden. Sie wissen, die Europapolitik der Bundesregierung wird seit längerer Zeit dahin geführt, daß wir versuchen, zu einem wirtschaftlichen Zusammenwachsen Europas zu kommen, und daß wir der Meinung sind: wir müssen hier Schritt für Schritt vorgehen und realisieren, was realisierbar ist. Und da waren wir eigentlich mit Ihnen, Herr Wehner, der Meinung, daß der einzige realisierbare Weg im Augenblick der ist, die Gemeinschaft der Sechs auszubauen. Ihre Kollegen, die Mitglieder im Montan-Parlament sind, haben die Entstehungsgeschichte dieser Pläne auf das genaueste gekannt und miterlebt. Sie wissen, daß wir der Meinung waren: wir müssen heraus aus dieser Teilintegration, wir müssen weiterkommen. Es wurde gearbeitet, und Sie haben kein Wort der Kritik an dieser Arbeit vorgebracht. Im Gegenteil, ich freue mich — wir wollen darüber gar nicht antithetisch streiten —, daß Sie in der konkreten Europapolitik, in der Montan-Union und im Europarat nach Ihrer anfänglichen Ablehnung nun doch positiv mitarbeiten.
— Das ist richtig, Herr Wehner, aber das beweist nichts. Ich glaube nicht, daß Sie damals, am Anfang, mitgemacht hätten, wenn ich dagewesen wäre.
Sie haben das damals abgelehnt. Ich freue mich darüber, daß wir wenigstens in dieser Richtung zu einer gemeinsamen Haltung gekommen sind, allerdings nicht dadurch, daß wir oder die Bundesregierung die Politik grundlegend geändert hätten, sondern dadurch, daß Sie die Fakten anerkannten und erkannten, welche Chancen für eine positive Entwicklung Europas in ihnen liegen.
Nun wissen Sie, daß die Verhandlungen nicht einfacher Natur waren und sind. Ich will mich gar nicht auf den formellen Standpunkt stellen, daß bis heute keine Anfrage hier im Parlament gekommen ist. Aber es gibt auch politische Zweckmäßigkeiten, und man hat bisher angenommen — beginnend mit dem Monnet-Komitee, beginnend mit der Mitarbeit im Montan-Parlament —, daß Sie in den Grundlinien, die die Regierung verfolgt, eigentlich mit uns einig gehen. Zu Beginn hat sich ja auch das Parlament damit befaßt. Ich darf daran erinnern, daß wir am 22. März vorigen Jahres eine große Europadebatte hatten. In ihr standen schon die Projekte Euratom und Gemeinsamer Markt zur Diskussion. Ja, es wurde sogar von uns allen, ich glaube: fast einstimmig eine Resolution gefaßt, in der die Grundlagen gewisser Entwürfe — damals des Monnet-Komitees — gebilligt wurden und in der die Regierung aufgefordert wurde, nicht nur diese Gemeinschaft zur friedlichen Auswertung der Atomkraft zu schaffen, sondern auch dafür zu sorgen, daß zugleich die Grundlegungen für die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes geschaffen werden. Wir haben uns hier also schon damit beschäftigt. Daß das französische Parlament inzwischen zwei Debatten hatte — einmal über Euratom und jetzt über den Gemeinsamen Markt —, hat ganz bestimmte innenpolitische Gründe, die bei uns, wie ich zu meiner Freude sagen möchte, wohl nicht vorliegen. Daß wir, Sie und wir alle, in den Grundlinien dieser Entwicklung einig sind, darüber besteht wohl gar kein Zweifel.
Herr Wehner, wenn Sie sagen, daß Euratom heute nicht so voll ausgestaltet wird, wie es z. B. den Entschließungen des Monnet-Komitees entspricht — wir waren ja zusammen dort —, dann darf ich sagen, daß wesentliche Stücke hier herausgebrochen wurden, nicht durch uns. Ich denke nur an die nichtfriedliche Verwertung der Atomkraft und die daraus folgenden Entwicklungen. Das wurde nicht durch uns herausgebrochen, sondern durch andere Partner.
— Nein, nicht Sie, durchaus nicht, sondern andere Staaten und andere Parlamente. Wir wollen uns nur darüber klar sein, daß Sie nicht den Vorwurf erheben können, die Euratom-Gemeinschaft habe durch ein starres Verhalten der Bundesregierung, die das Parlament nicht gefragt habe, gewissermaßen einen Wesenswandel erfahren.
Ich darf sagen, daß etwas gelungen ist, dessen Gelingen am Anfang nicht so ganz selbstverständlich war, daß nämlich mit der Euratom-Gemeinschaft zugleich der Gemeinsame Markt, also die größere Vereinigung, geschaffen wird. Dadurch werden manche Probleme beseitigt, die bestünden, wenn die Euratom-Gemeinschaft allein entstünde; und das ist in unserem Sinne, aber auch in Ihrem Sinne, Herr Wehner.
Wahrscheinlich wären die Verhandlungen durch große Debatten bei uns nicht gefördert worden. Es gab hier Dinge, über die man mit großer Diskretion verhandeln mußte. Es bedurfte erst einer Darstellung, welche grundlegenden Punkte während der Verhandlungen nun eigentlich zu unseren Ungunsten umgestaltet worden sind. Herr Wehner, es ist ja nicht so, daß wir darüber nicht orientiert wären. Man hat von uns gewisse Konzessionen ver-
langt — vor allem hat sie Frankreich gefordert. Wir waren aber der Auffassung, daß man Konzessionen, wenn sie noch getragen werden könnten, im Interesse Europas machen müsse. Ich darf daran erinnern — und das müßten Sie eigentlich als etwas Positives vorbringen —, daß die sozialen Fragen im Gemeinsamen Markt von uns und von der Regierung in einer Weise behandelt wurden, die unsere und Ihre Zustimmung finden muß. Wir haben immer den Standpunkt vertreten, daß der Gemeinsame Markt nicht als Selbstzweck oder aus irgendwelchen machtpolitischen Gründen oder damit wir eine Vorherrschaft darin erlangen, geschaffen wird, sondern daß wir diese Einrichtung und alle diese europäischen Gemeinschaften im Interesse der darin lebenden Menschen, zur Verbesserung ihrer sozialen Situation und ihres Lebensstandards schaffen. Wir sind uns darüber klar, daß wir nur in größeren wirtschaftlichen Gemeinschaften vorwärtskommen. Wir müßten mit der Zeit in soziale und wirtschaftliche Situationen zurückfallen, die unserem und Ihrem Streben nicht angemessen wären, wenn es nicht gelänge, zu einem größeren Wirtschaftsraum zu kommen.
Wir haben die unangenehme Situation, daß dieses große Geschehen in unserer Öffentlichkeit zeitweise nicht deutlich genug in Erscheinung trat und weiterhin, ich möchte sagen, unter Begriffen läuft, von denen der einfache Mensch noch keine konkrete Vorstellung hat. Was kann er sich schon unter dem Gemeinsamen Markt vorstellen? Es ist unsere Aufgabe, hier klarstellend zu wirken.
Ich möchte dazu nur einige Worte sagen. Es wird jedem einleuchten, daß es eine durchaus positive Politik ist, die uns auch in den allgemeinen deutschen und europäischen Fragen stärkt, wenn es gelingt, eine Zollunion zu schaffen, in der sechs Staaten mit 160 Millionen Menschen vereinigt sind. Daß das nicht leicht ist, bedarf wohl keiner Darlegung. Wenn es in einem Staat heißt: die Zölle müssen gesenkt werden und schließlich ganz fallen, kommen natürlich Hemmungen und Schwierigkeiten.
Hier ist die Politik der Bundesregierung, die sich dazu positiv bekannt hat, doch geradezu vorbildlich gewesen, auch in den Konzessionen, die sie auf diesem Gebiet zu machen bereit war.
Es wird bei Ihren Bemerkungen auch immer von dem „Klein-Europa" gesprochen und im Hintergrund immer so getan, als wolle man sich da abschließen.
— Nein, nein. Also wir wollen es in einer Weise gestalten, daß wir alle darin leben können, daß wir alle darin zufrieden leben können, alle hier im Hause.
Aber ich meine, das Gebiet, das sich zusammenschließen will, soll eine Art Ordnungsgebiet werden, an das sich andere europäische Staaten angliedern in einer Form, die ihnen möglich ist. Wir haben doch erlebt, daß die Politik der Bundesregierung und der sechs Staaten, die entschlossen sind, diesen Weg zu gehen, das übrige Europa tief beeinflußt hat. Die Haltung Großbritanniens schon vor der Suez-Krise, die in der Erklärung MacMillan's zum Ausdruck kam, war ein Beispiel dafür, wie man durch eine positive Politik, die Taten bringt, auch
Europa weiterentwickeln kann. Plötzlich hat England reagiert, und MacMillan, sein heutiger Premierminister, hat gesagt: „Wir können dieser Entwicklung nicht untätig zusehen, wir wollen uns darauf einstellen, wir können nicht beitreten" — gut, dafür hat man Verständnis —, „wir können aber nicht fernbleiben; wir wollen uns in Form einer Freihandelszone anschließen."
Und die Dinge haben noch einen viel stärkeren Auftrieb bekommen, seit die Suez-Situation gezeigt hat, wie schwach Europa geworden ist und wie ohnmächtig es auch wirtschaftlich gemacht werden kann, wenn wir uns nicht zusammenfinden. Also Sie sehen, es ist nichts falscher, als zu sagen, die Bundesregierung treibe keine positive Politik. Sie tut dies hier mit großem Mut und mit Entschlossenheit.
Aber auch andere Dinge, die heute so etwas kritisch behandelt warden sind, müssen anerkannt werden. Ich muß ganz offen darüber sprechen. Sie wissen, daß ein großes Problem für diesen Gemeinsamen Markt die Hereinnahme der sogenannten überseeischen Gebiete Frankreichs ist. Nun habe ich — eigentlich sehr zu meinem Bedauern — gehört, daß Herr Wehner sagte, man wolle uns übrigen Staaten hier eine im Konkurs befindliche französische Politik, eine Kolonialpolitik, anhängen. Ich glaube, so dürfen wir diese Dinge gerade im europäischen Denken nicht sehen.
Ich glaube nach dem Stand der Verhandlungen, daß die französische Regierung — ich will über die Frage Konkurs oder nicht Konkurs garkein Urteil fällen—uns solches gar nicht zumutet. Die Grundlagen des Ganzen sind ja völlig andere. Es stellt sich als eine Notwendigkeit dar, daß nicht nur die Mutterländer zusammenkommen, sondern auch die Gebiete, die zu ihnen gehören. Man war sich darüber im klaren, daß nach Möglichkeit die politischen Fragen ausgeschieden und daß die politischen Probleme, die vor allem in Nordafrika liegen, von Frankreich in eigener Verantwortung gelöst werden müssen. Daß wir aber, wenn wir schon zusammenkommen, in gewissen Gebieten, in denen diese Kolonialprobleme überhaupt noch keine Rolle spielen, an der Entwicklung der Gebiete mitwirken, ist doch selbstverständlich. Hat doch Kollege Carlo Schmid gesagt: Wir müssen einen europäischen Marshallplan entwickeln. Ich bin da sehr skeptisch, ob wir reich genug sind. Wenn wir aber schon in unterentwickelten oder nicht voll entwickelten Gebieten helfen, dann liegt es doch nahe, dies in solchen Gebieten zu tun, die nun einmal zu unseren Nachbarn gehören. Man kann da nicht auf der einen Seite sagen: wir zeigen möglichste Großzügigkeit, und auf der andern Seite nicht mitwirken wollen, wenn es darum geht, in einer gemeinschaftlich europäischen Verantwortung auch Verpflichtungen zu übernehmen. Ich bin auch der Meinung, daß die Bundesregierung in den Verhandlungen hier noch konkrete Entschließungen politischer Art fassen muß, die uns nicht belasten, die aber aus einer europäischen Solidarität, aus einer Verpflichtung, die wir auch für gewisse afrikanische Gebiete haben müssen, gefaßt werden.
Nun wurde hier gesagt, die Dinge seien doch zum Teil kritisch. Ich gebe zu: es gibt manche Punkte, über die man sich auseinandersetzen kann. Herr Ollenhauer hat erklärt, es sei eine kolossale Fehlentwicklung, ein viertes Parlament zu schaffen. Nun, ich habe mich sofort gegen dieses vierte Parlament gewendet. Aber wir müssen auch das ganz
offen sagen: es war nicht die Politik der Bundesregierung, die uns diesen Vorschlag und diesen Beschluß gebracht hat. Man hat vielmehr in dem Wunsch, das Werk nicht zu gefährden, und aus Rücksichtnahme auf gewisse parlamentarische Situationen in Ländern, die notwendig dazugehören, geglaubt, hier einen Kompromiß schließen zu müssen. Ich bin aber überzeugt, daß es uns gelingt, diese Dinge in eine klare Linie zu bringen, und ich bin weiter überzeugt, daß man nicht zu einem vierten Parlament kommt, sondern daß man, auch ohne daß hier im Hause allzuviel geschieht, dazu gelangen wird, e i n Wirtschaftsparlament für die drei Gemeinschaften zu schaffen, die sich hier bilden sollen.
Soviel zu diesen Dingen, die auch wesentlich sind für unsere Außenpolitik. Wir müssen dieses Europaproblem, auch das wirtschaftliche, und die Entwicklung der sechs Staaten und darüber hinausgreifend auch der anderen Länder immer in dem großen weltpolitischen Zusammenhang sehen.
Dazu will ich zwei Dinge sagen.
Ich sehe dieses Problem in einem doppelten weltpolitischen Zusammenhang, einmal im Zusammenhang mit den großen Auseinandersetzungen und mit den durch den riesigen wirtschaftlichen und militärischen Machtblock des Ostens für uns vorhandenen Gefahren. Seien wir uns darüber im klaren, daß auf die Bundesrepublik oder auch auf das wiedervereinigte Deutschland ein ungeheurer Druck ausgeübt werden wird, wenn sich die Lage wirtschaftlich einmal — wir haben ja schließlich trotz allem Optimismus keine Garantie für ewige Zeiten — rückwärts entwickelt. Wenn wir dann nicht in einer großen Wirtschaftsgemeinschaft stehen, wird es außerordentlich schwer sein, dem wirtschaftlichen und dem damit verbundenen politischen Druck des Ostens standzuhalten. Wenn wir dann getrennt — wir hier, da die Belgier, dort die Franzosen — diesem Block in einer Zeit gegenüberstehen, wo nicht eine solche Konjunktur herrscht, wie wir sie seit Jahren zu unserer Freude haben, dann werden Sie erst erkennen, wie schwer unsere Situation geworden ist. Also wir brauchen dieses Europa für unsere Haltung gegenüber dem Osten, für unsere Freiheit und auch für unsere Sicherheit im weiteren Sinne.
Wir waren uns immer auch darüber einig — ich habe mich gewundert, daß es in Zweifel gezogen wurde, nicht ernst, aber es wurde immerhin eine Frage gestellt —, daß diese wirtschaftlichen Verbindungen in keiner Weise die Wiedervereinigung hindern, sondern daß im Gegenteil die Kraft, der mögliche Wohlstand und das Blühen einer solchen Gemeinschaft die Wiedervereinigung fördern.
Es gab darüber bisher zwischen uns keinen Streit.
— Doch, es wurde so angedeutet, als könne man auch darüber Zweifel bekommen. Ich möchte hoffen, daß man sie nicht bekommt.
Aber noch in einem anderen Zusammenhang sehe ich das Europäische, nämlich in der Frage unserer Verbindung zu jener großen Macht über dem Atlantischen Ozean, zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich habe mit Erstaunen gehört, daß von Ihnen gesagt wurde, Sie würden jeden Versuch bekämpfen, ein Europa mit antiamerikanischen Vorzeichen zu organisieren. Es wurde schon gesagt, daß Sie bei uns hier eine volle Übereinstimmung finden, ja, daß wir immer erklärt haben: Wir wagten dieses Europa auch der Sechs, nicht um eine Autarkie daraus zu machen oder um eine dritte Kraft zu entwickeln, sondern wir waren immer der Meinung, daß dieses Europa uns stärken wird, daß wir aber die großen weltpolitischen Gefahren auch in einer solchen wirtschaftlichen und daraus folgenden politischen Verbindung nicht allein bestehen können, sondern daß dazu die ständige und enge Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika erforderlich ist, und zwar nicht nur wirtschaftlicher und politischer Art.
Damit komme ich zu den Fragen, die uns heute so stark beschäftigt haben, zur Frage der Sicherheit und zur Frage der Wiedervereinigung. Ich will dazu nur einige kurze, debattierende Bemerkungen machen.
Zunächst haben Sie vollständig recht, und das ist auch unsere Meinung: Wir betrachten die Sicherheit und die Freiheit nicht nur für uns allein, in unserer Politik für die Bundesrepublik, sondern immer unter dem Gesichtspunkt des ganzen Deutschlands und der Sicherung jener 18 Millionen, die uns auch anvertraut sind und die in ihrem Wiedervereinigungsbestreben auf uns hoffen.
Aber ich darf noch einmal, ohne nach dieser Vorbemerkung mißverstanden zu werden, die ganz reale Frage stellen: Ist es eigentlich gar nichts, daß die Politik der Bundesregierung dazu geführt hat, daß wir hier, diese 50 Millionen, in Sicherheit leben und uns entwickeln können? Ist es eigentlich völlig gleichgültig, daß dieses Ergebnis geschaffen wurde?
Sicher wollen wir nie die anderen vergessen, die noch unter fremder Herrschaft leben. Aber auch wir, die 50 Millionen, sind doch wert, daß sich unsere Sicherungspolitik ihrer annimmt, um so mehr, wenn wir darüber völlig im klaren sind, daß, wenn wir keine Sicherheit, keine Freiheit besitzen, die anderen sie erst recht nicht bekommen werden.
Das ist ein Grundproblem. Hat es sich nicht in jenen großen Krisentagen, bei jenen tragischen Ereignissen in Ungarn doch bewährt — damit komme ich zu einem Kernpunkt der Auseinandersetzungen —, daß die Bundesrepublik im Schutz der NATO stand? Wer hätte für uns garantiert, wenn die Vorgänge sich ereignet hätten in einem Zeitpunkt, wo man über irgendwelche Sicherheitspakte der realen Sicherheiten entblößt gewesen wäre, — wer hätte Ihnen garantiert, daß die Ereignisse nicht auf uns übergesprungen wären?
So aber war zumindest dieses ausgeschlossen, und es hat wohl niemand angenommen, daß von Ungarn aus unmittelbar die Bundesrepublik in dieser Situation gefährdet war, eine Gefahr, die bei einer grundsätzlich anderen Politik immerhin nicht ganz von der Hand zu weisen gewesen wäre.
Nehmen Sie an, es wären irgendwelche Abkommen getroffen gewesen, es wären die Truppen über die Grenzen zurückgenommen. Wir haben gesehen, Rußland hat eine unmittelbare Grenze mit Ungarn, und es ist von dort gar nicht so weit, wäh-
rend die anderen doch erhebliche Distanzen zurücklegen müssen und sofort vor der Alternative stehen, entweder sich mit solchen Erdrutschen abzufinden oder einen Atomkrieg zu führen, — eine Entscheidung, die von einem ungeheueren Ernst ist, von einem Risiko für uns, das wir einmal durchdenken müssen und beim Durchdenken überhaupt nicht groß genug einschätzen können.
Deshalb verstehe ich einiges nicht, was Herr Ollenhauer als Grundthese entwickelt hat. Herr Ollenhauer hat erklärt, er beurteile die militärische Verteidigungssituation heute anders als noch im Herbst 1956. Er hat geradezu emphatisch erklärt: „Die Lage ist nicht mehr dieselbe wie im Herbst 1956" und er hat daraus die Schlußfolgerung gezogen, wir müßten nun versuchen, durch eine Umbildung unserer militärischen Sicherheit in ein anderes Verhältnis zu Rußland und damit zu einer Möglichkeit der Wiedervereinigung zu kommen. An diese Feststellung sind zwei Fragen zu knüpfen.
Die eine ist die: Wenn Herr Ollenhauer meint — und optimistisch meint —, die Lage sei heute anders als im Herbst 1956, dann muß ich doch daraus schließen, daß er die Lage vor dem Herbst 1956 als noch ernster betrachtet als heute.
Dann aber muß er doch die Konsequenz ziehen, daß die Dinge, die er heute für möglich hält, damals eben noch nicht möglich waren. Andere logische Schlüsse gibt es nicht.
Die zweite Frage ist die folgende. Wir wissen ja nicht, wie die Entwicklungen weitergehen. Manche waren so optimistisch und nahmen an, es werde eine starke Umformung im Satellitenbereich erfolgen. Wir haben erlebt, daß die Dinge doch sehr machtpolitisch — ich will vom Ideologischen gar nicht sprechen — behandelt worden sind. Die Russen haben ihren Machtbereich in keiner Weise zurückgeführt. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie glauben, daß solche Entwicklungen im Gange sind, dann liegt doch eine Erwägung besonders nahe, eine Erwägung, die gerade in der amerikanischen Politik immer wieder geäußert wird, nämlich die Erwägung, daß Zeiträume der Umwandlung besonders gefährliche Zeiträume sind. Gerade da ist die Gefahr rascher Explosionen, rascher Fehlschlüsse sehr groß.
Wenn Sie bedenken und wenn Sie hoffen, daß die Russen an Machtposition bei den Satelliten verlieren, müssen Sie auch immer damit rechnen, daß die Russen — und sie haben es getan — Gegenzüge unternehmen, und dann sind Sie in einem völlig ungesicherten Randgebiet in der größeren Gefahr, mit unterzugehen.
Ich kann nur sagen: ich habe kein Verständnis dafür, daß man die Dinge immer so drängend behandelt,
zumal wenn man sieht, daß gewisse Entwicklungen im Gange sind, von denen auch ich hoffe, daß sie zu noch positiveren Ergebnissen führen können. Denn wir müssen uns doch darüber im klaren sein: Die Wiedervereinigung hängt nicht allein von unserer Haltung und von unseren Resolutionen und von unserem Willen ab — daß wir sie wollen, ist
gar keine Frage —; es haben auch unsere westlichen Verbündeten mitzureden. Daß sie sich uns gegenüber verpflichtet haben, uns abzudecken und zu unterstützen, darüber gibt es auch keine Diskussion. Aber entscheidend ist doch Sowjetrullland. Wir haben durch Jahre erlebt und durch Ungarn noch einmal zur Evidenz bewiesen bekommen, daß die Russen noch nicht reif sind, hier die Konsequenzen zu ziehen, die notwendig sind. Und die Konsequenz ist für die Zone, für dieses Stück Deutschlands, das sie unter ihre Herrschaft — direkt und indirekt — genommen haben, daß sie in die Freiheit und in die Selbstbestimmung entlassen wird. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß dieses Gebiet für das große russische Reich nicht lebenswichtig ist. Ich will gar nicht fragen, ob die Satelliten für Sowjetrußland lebenswichtig sind; das berührt uns im Augenblick nicht unmittelbar. Sicher ist die Zone für die Sowjetunion auf die Dauer gesehen nicht von existentieller Bedeutung. Aber die Dinge müssen sich doch so real entwickeln, daß eine Umstellung erfolgt, daß der Zeitpunkt kommt, wo die Russen von den harten grundsätzlichen Bedingungen der zwei Staaten, von der Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems, der Aufrechterhaltung ihrer Militärherrschaft abkommen könnten.
Wehe aber, wenn Sie auf solche Entwicklungen hoffen und zu früh Entscheidungen treffen, die nachher nicht mehr zu verändern sind! Das ist doch die Gefahr des ständigen Drängens, daß wir in einem Augenblick, in dem die Dinge noch nicht reif sind, in eine Situation gebracht werden, aus der wir dann gar nicht mehr herauskommen können.
Ich glaube, gerade die Europapolitik zeigt, daß man Geduld haben muß und daß man bei einer klaren Haltung und im Wissen dessen, was man will, auch warten können muß. Nehmen Sie die letzten Monate Europa! Viele von uns und viele von Ihnen waren der Meinung, gegen diese Entwicklung der Sechs, gegen diesen Gemeinsamen Markt würden sehr viele Widerstände bestehen. Wir haben zäh und konsequent weitergearbeitet, und plötzlich kamen uns Ereignisse zu Hilfe, mit denen niemand hatte rechnen können. Niemand konnte bei den Projekten in der Messina-Konferenz und in der Konferenz von Venedig damit rechnen, daß die Suez-Krise plötzlich eine so tödliche Gefahr werden könnte und daß aus ihr heraus neue Impulse, auch in Frankreich und bei uns, für das Weiterführen dieser Europa-Politik kämen. Aber sie sind gekommen, und ich hoffe, wir können sie im positiven Sinne realisieren und damit unsere Politik rechtfertigen.
Ich möchte Ihnen dieses Beispiel eigentlich auch für unsere Ostpolitik sagen. Es gilt doch, die Grundsätze aufrechtzuerhalten; denn wenn Sie davon abgehen, daß wir die Freiheit und die freien Wahlen verlangen — „wenn"; ich sage nicht, daß Sie das wollen —, wenn wir in eine Situation kämen, in der wir zu der These der zwei Staaten übergingen, wären unsere Rechtsposition und damit auch die Entwicklungsposition, wenn irgendwelche Veränderungen stattfänden, grundlegend verändert. Eine Wiedervereinigung in unser aller Sinn wäre selbst dann nicht mehr denkbar, wenn sich die Verhältnisse stark wandeln sollten.
Also ich sage: Die Entwicklung in Europa beweist auch die Richtigkeit des Grundansatzes i der Po-
litik der Sicherheit und in der Politik der Wiedervereinigung. Was man kaum mehr versteht, sind diese ständigen Auseinandersetzungen über den Sicherheitspakt. Wenn man hier im Plenum einander gegenübertritt, wenn Herr Ollenhauer und Herr Kiesinger ihre Thesen entwickeln, dann werden diese Fragen etwas klarer. Draußen im Lande aber bleiben sie undeutlich. Wenn Herr Ollenhauer formuliert: „Wenn wir einen Sicherheitspakt bekommen, der die gleichen Wirkungen hat", — ja, das ist nun etwas ganz anderes. Was heißt „Wirkungen"? Wirkungen heißt doch: wirksame Sicherheit. Wir finden, daß die Wirkung in der Verteidigungsgemeinschaft liegt, die wir mit anderen zusammen haben. Wir wissen, daß wir uns allein nicht verteidigen können, wenn wirklich einmal der Ernstfall eintreten sollte.
Wie kann man nach den Vorgängen in Ungarn glauben, durch diese Ereignisse sei nun bewiesen, daß eine kollektive Sicherheit ausreichend wäre? Es wurde ausdrücklich gesagt, daß die UNO das Beispiel höchster kollektiver Sicherheit sei. Wir haben doch zu unserm großen Schmerz erlebt, daß die UNO hinsichtlich Ungarns überhaupt nichts tun konnte, sondern daß in Ungarn zum Schaden des Volkes die Verbindung mit Rußland die Entscheidung gebracht hat, nämlich durch die dort stehenden Truppen. Unsere Sicherheit war dadurch gewährleistet, daß die Russen, wenn sie hätten ausweichen wollen, weil sie dies aus strategischen oder allgemeinen Grundsätzen gewollt hätten, am Bestehen der Verteidigungsgemeinschaft gescheitert wären. Sie konnten dieses Risiko nicht laufen. Also wenn Sie eine Situation schaffen, die genau so wirksam ist wie die NATO, — wer würde dann um eines Dogmas willen, wie Kollege Kiesinger immer gesagt hat, auf dieser NATO bestehen bleiben? Daran denkt doch auch bei der Bundesregierung niemand.
Aber die Wirksamkeit ist das Entscheidende, und diese Wirksamkeit fehlt, wenn Sie nur vertragliche Versprechungen in einem Pakt haben, dem die beiden immer noch größten Protagonisten angehören, in den die Spannungen hineinverlagert sind und in dem sich diese beiden Protagonisten am Schluß gegenseitig ausschalten. Dann können sich diejenigen, die zwischendrinsitzen, nicht wehren und sind herausgerissen aus der organischen Verteidigungsverbindung mit denen, die sie vor dem wirklich einzig in Betracht kommenden Gegner retten können.
Wenn wir also die Dinge real durchdenken, müssen wir erkennen, daß Ungarn die Wirksamkeit der Verteidigungsgemeinschaft für uns bewiesen hat. Es ist uns nichts passiert, und es hätte uns auch nichts passieren können; aber nicht wegen der UNO — wir sind ja nicht Mitglied — und nicht, wenn wir einen kollektiven Sicherheitspakt gehabt hätten, sondern nur durch die reale Tatsache der Verteidigungsgemeinschaft und die sich aus ihr ergebenden entscheidenden Risiken für Sowjetrußland, Risiken, die aber übernommen werden können, wenn ein in der Mentalität völlig anders geartetes Regierungssystem sich über Pakte nur hinwegzusetzen braucht.
Der tiefste Grund ist doch der, daß sich ein kollektives Sicherheitssystem wie auch die UNO deshalb nicht real durchsetzen kann, weil das Vertrauensverhältnis zu einem der stärksten Mitglieder fehlt und weil dieses Vertrauensverhältnis nicht geschaffen wird, solange das machtpolitisch so ungeheuer starke, völlig unübersichtliche Land jede Kontrolle ablehnt.
Warum aber wird eine Kontrolle abgelehnt? Da gibt es die verschiedensten Motive. Sicherlich aber schafft das nicht das Vertrauen, das notwendig ist,
wenn man die Kontrolle nicht will. Hätten wir eine Zeit wie im Jahre 1814 oder 1910, lägen die Dinge natürlich völlig anders, und wir würden hier wahrlich nicht daran zweifeln, daß solche Pakte ausreichen. Wir haben aber wegen des sowjetrussischen Systems eine machtpolitische Situation, in der nicht das Vertrauen besteht, daß allein durch juristische Positionen der Ausbruch aus diesem Machtbereich verhindert wird.
Deshalb sind wir der Meinung — und da liegt die Grunddifferenz —, daß die Wirksamkeit nicht in den Abmachungen liegen kann, die vielleicht sehr schön sind, sondern daß sie in den Realitäten liegt, und diese müssen geschaffen werden. In dem Augenblick, in dem sich die Dinge anders entwickeln und die Voraussetzungen für die Verteidigungsgemeinschaft wegfallen, werden, glaube ich, die Amerikaner die ersten sein, die sagen: Diese Vereinbarungen sind heute nicht mehr nötig. Aber sie sind noch erforderlich, sie bleiben erforderlich. Sie sind gerade wegen der jetzt in Gang befindlichen Entwicklungen noch wichtiger geworden. Es gäbe nichts Schlimmeres, als wenn wir in Optimismus und im Vertrauen auf Dinge, die sich noch gar nicht realisiert haben, von den entscheidenden Positionen sowohl hinsichtlich unserer Sicherheit wie hinsichtlich der Wiedervereinigungsmöglichkeit abgingen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Prinz zu Löwenstein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich fast zum Abschluß dieses Teils der Debatte noch auf ein Einzelproblem der deutschen Außenpolitik hinweise, nämlich auf die letzte im Westen noch offene Grenzfrage, die deutschholländische. Das ist nur scheinbar und nur äußerlich ein kleines Problem. In Wirklichkeit ist es ein Problem des Rechts und daher ein großes Problem, weil die Größe Europas und der freien Welt darin besteht, daß das Recht einen entscheidenden Platz einnimmt, und es ist ein Modellfall der Wiedervereinigung im Westen. Es geht mir also nicht um irgendwelche Polemik, sondern um ein überparteiliches Anliegen, ja um ein europäisches Anliegen.
Das Recht ist unteilbar. Wird es an einer Stelle der Welt wiederhergestellt, so ziehen daraus alle Völker ihren Nutzen, und damit wird Paroli geboten dem sowjetischen System totalitären Unrechts, das heute das Menschentum aller Nationen bedroht.
Ich habe zuletzt in der 94. Sitzung am 6. Juli 1955 diese Angelegenheit vorgetragen. Es handelt sich um die Verordnung Nr. 184 der britischen Militärregierung vom 23. April 1949. Dadurch ist eine Veränderung an einer der ruhigsten Staatsgrenzen Europas herbeigeführt worden, wie sie seit dem Wiener Kongreß von 1815 bestand. Betroffen wurden auch die sogenannten Traktatsländer, die garantiert waren durch die Verträge von Kleve mit
dem Königreich Preußen von 1815 und von Meppen mit dem Königreich Hannover von 1826.
Das größte Abtrennungsgebiet ist der sogenannte Selfkant, der Westzipfel des Kreises GeilenkirchenHeinsberg mit 41,5 qkm und einer Einwohnerzahl von 6500 Seelen. Er besteht aus sieben Landgemeinden und zwei Ortschaften; kirchlich gehört er zum Bistum Aachen. Dann die Stadt Elten im Kreise Rees mit 18,87 qkm und 3450 Einwohnern, weiterhin der Ortsteil Suderwick der Gemeinde Suderwick im westfälischen Kreis Borken mit 361 Einwohnern und der Ortsteil Wylerberg der Gemeinde Wyler mit 180 Einwohnern. Ein betrübliches Bild ergibt sich, wenn man daran denkt, daß diese Einwohner ohne demokratische Rechte sind, daß sie seit 1949 kein Wahlrecht besitzen, also auch nicht in ihren Gemeinde- und Stadträten vertreten sind.
Es sind nun Verhandlungen im Gange, was wir auf das lebhafteste begrüßen. Aber leider hört man, daß bestimmte Vorstellungen in diese Verhandlungen hineingekommen sind, die mit dem Gedanken von Europa nicht vereinbar wären. Wir wissen heute, daß unter Führung des zuständigen Landdrosten des Selfkant, Herrn Dassen, eine Bewegung im Gang ist, die auf die praktische Einverleibung des Selfkants hinzielt. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, ist der Bau einer Autostraße unternommen worden, die den Selfkant von Süden nach Norden durchquert. Man weiß aus der holländischen Presse, daß diese Straße die künftige Grenze präjudizieren soll. Das würde bedeuten, daß die sieben Landgemeinden — mit den großen Orten Tueddern und Hoengen — abgetrennt und Holland einverleibt würden und nur die beiden kleinen Ortschaften Mindergangelt und Heilder an ) Deutschland zurückkämen. Diese einschneidende Aktion, der Bau dieser Autostraße, ist ohne Rücksprache mit der Bundesregierung begonnen worden.
Es würde sich dabei also um die Abtrennung von über 6000 Menschen handeln. Der Deutsche Bundestag hat sich immer auf den Standpunkt gestellt, daß das Menschenrecht nicht nach der Zahl der Betroffenen und nicht nach den Quadratkilometern beurteilt werden kann. Das Menschenrecht wird in jedem einzelnen Menschen verkörpert und kann in jedem verletzt werden. Ich möchte gerade als ein Freund Hollands, der durch unendlich viele Bande des Blutes, der Freundschaft und der Geschichte mit ihm verbunden ist, die Ansicht ausdrücken, daß das Land von Hugo Grotius für dieses Anliegen volles Verständnis haben werde.
Wir können Lösungen vorschlagen, durch die keine Menschen betroffen werden. Da ist das Problem der holländischen Auslandsbonds. Ich würde gerne mit dem Herrn Bundesfinanzminister darüber sprechen, und ich würde den holländischen Standpunkt vor ihm vertreten, um ihn zu bitten, hier großzügig zu sein. Es ist auch die Möglichkeit gegeben, holländischen Wünschen im Dollart, in der Fahrrinne der Ems, entgegenzukommen. Ich meine, es kann hier eine Lösung gefunden werden, die für beide Länder das Beste herausholt und beiden Ländern die Gewißheit gibt, dem europäischen Geiste gedient zu haben.
Ich habe in der 94. Sitzung den Gedanken ausgedrückt, daß die Rückgabe der genannten deutschen Gebiete einen echten Prestigegewinn darstellen würde für das Land, das die Gebiete zurückgibt, und daß diese Rückgabe ein wahrer Beitrag zum europäischen Rechtsgedanken wäre. Herr Staatssekretär Hallstein hat mir zu meiner Freude geantwortet, daß die Bundesregierung diese Auffassung teile und sie in den Verhandlungen zum Ausdruck bringen werde.
Meine Damen und Herren, dieses scheinbar kleine Einzelproblem ist in seiner ganzen Bedeutung zu erkennen, wenn man sich noch einmal die Gefahr vor Augen hält, in der die Gemeinschaft aller freien Völker heute steht. Lassen Sie mich einige Worte dazu sagen.
Es ist von seiten des Sowjetismus die Gefahr einer Flucht nach vorne gegeben, gerade weil dieses System in Ungarn eine weltweite politische Niederlage erlitten hat. Wir sollten diese Gefahr klaren Blickes erkennen. Ich darf vielleicht — sozusagen als Klammersatz — Herrn Kollegen Wehner eine Auskunft geben. Er fragte, ob denn ein Eingreifen in Ungarn überhaupt denkbar gewesen wäre und nicht zum Kriege geführt hätte. Undenkbar ein solches Eingreifen von seiten der Westmächte! Es hat niemand so etwas im Sinne gehabt. Wohl aber müßte eins gesagt werden — und ich sage es nicht nur auf Grund meiner eigenen Erlebnisse, sondern alle ausländischen Beobachter, die mit mir in Ungarn waren, werden es bestätigen —: Es ist unserer Meinung nach eine große Unterlassung von seiten — ich spreche es ungern aus; aber es muß gesagt werden — der Vereinten Nationen begangen worden. Hätte der Generalsekretär der Vereinten Nationen in dem Augenblick, da Ministerpräsident Nagy die Neutralitätserklärung abgab, zum Ausdruck gebracht, daß er mit dem nächsten Flugzeug nach Budapest fliegen werde, — vielleicht wäre das Grauen vom 4. November und der folgenden Wochen und Monate vermieden worden.
Ich glaube, daß es unsere Aufgabe ist, gerade in einer solchen Diskussion durch die Erwähnung dieser Tatsache zu einer moralischen Stärkung der Vereinten Nationen für künftige Fälle beizutragen.
Es ergibt sich zweifellos aus der Weltlage, daß wir in diesem klein gewordenen freien Europa alles tun müssen, um die letzten Hindernisse, die noch da sein mögen, aus dem Weg zu räumen. Der Herr Bundesaußenminister hat heute morgen unter dem Beifall dieses Hohen Hauses darauf hingewiesen, daß durch die Rückkehr der Saar die deutsch-französische Freundschaft zur Wirklichkeit werden kann. Da auch die deutsch-belgischen Grenzprobleme bereinigt wurden, ist die Abwehrfront der freien und der um Freiheit und Einigkeit ringenden Völker gegen den aggressiven Sowjetismus erheblich gestärkt worden. Nun gilt es, im Westen die letzte Bresche zu schließen und hier zum Nutzen aller freien Völker die Wiedervereinigung zu vollenden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Ausführungen des Kollegen Furler zum Thema des Gemeinsamen Marktes und der europäischen Atomgemeinschaft war sehr deutlich zu entnehmen, wie notwendig es gerade ist, dieses Parlament und seine Ausschüsse von der Arbeit an derartigen Vertragswerken auch in den Einzelheiten zu unterrichten, bevor mit der Unterschrift der Regierung die Verträge eine Form gewonnen haben, daß man zu
ihnen nur noch ja oder nein sagen kann. Es ist von dem Kollegen Furler darauf aufmerksam gemacht worden, welch große Unterschiede erkennbar werden, wenn man etwa die Arbeit an den Plänen für den Gemeinsamen Markt und für die europäische Atomgemeinschaft, die aus dem Montan-Parlament heraus entwickelt worden sind, mit dem jetzigen Stand der Dinge vergleicht. Da haben wir alle Anlaß zur Sorge. Eine ganze Reihe wesentlicher Gedanken, die früher formuliert und festgehalten worden waren, sind im Laufe der Vertragsverhandlungen über Bord gegangen. Da wäre es nützlich, zu wissen, an wem das gelegen hat und ob die Angelegenheit im Laufe der künftigen Verhandlungen wieder in Ordnung gebracht werden kann.
Es ist verschiedentlich hier beschworen worden, wie gut es doch wäre, wenn man zu einer gemeinsamen Außenpolitik käme. Nun, die primitivste Voraussetzung auch nur für gemeinsame Schritte in solchen großen Problemen wie denen der künftigen Organisation Europas ist doch wohl, daß man gemeinsam an die Arbeit geht, wenn es gilt, die Grundlagen künftiger Vertragswerke zu entwikkeln, und nicht nur hinterher die Gemeinsamkeit beschwört, wenn man abstimmen muß.
Ich vermag auch nicht ganz einzusehen, weshalb ein einziger Staat durch den Hinweis auf die Beschlüsse seines Parlaments allein imstande sein soll, zusätzliche Vorteile auf Kosten der anderen Partner eines solchen Unternehmens herauszuholen.
Lassen Sie mich hier noch einmal etwas zu dem sehr diffizilen Problem der Verbindung der nordafrikanischen Gebiete mit dem gemeinsamen europäischen Markt sagen. Auch die Bevölkerung dieser Länder, etwa in Tunesien und Marokko, will sich nicht nur eines Tages in der Lage befinden, ja oder nein zum Ganzen sagen zu sollen. Es muß eine Aufgabe der Loyalität der europäischen Vertragspartner dieser künftigen Gemeinschaft sein, die legitimierten Vertreter der Bevölkerung schon zu den Verhandlungen hinzuzuziehen, damit sie imstande sind, auf den Rechtsstatus einzuwirken, den man ihnen künftig zur Annahme empfiehlt.
Mein Freund Herbert Wehner hat von der strategischen Anlage dieser Debatte, die in den heutigen Morgenstunden deutlich geworden ist, gesprochen. Zu diesem strategischen Plan scheint mir auch ein wohlüberlegter Sprachgebrauch zu gehören. Ich möchte zu diesem Sprachgebrauch etwas sagen. Wir sollten es uns abgewöhnen, immer dann die sowjetische Terminologie hier einzuführen, wenn sie geeignet erscheint, dem Gegner eins auszuwischen,
aber sonst peinlich von dieser sowjetischen Terminologie, und mit Recht, Abstand zu nehmen. So wurde also hier ganz ungeniert gesprochen vom „sozialistischen Lager", vom „sozialistischen System" in der Sowjetzone. Meine Damen und Herren, Sie sagen doch sonst auch nicht „das Friedenslager", oder „das demokratische Deutschland" oder „die DDR"; Sie sagen doch dann auch „die sogenannte DDR"! Das ist kein Zufall. Von diesem Versuch, die Sozialdemokratie durch den Sprachgebrauch im Bewußtsein der Bevölkerung in die Nähe der Kommunisten zu bringen,
führt ein direkte Linie zu dem schon einmal erlebten Unternehmen des Herrn Bundeskanzlers, das im Jahre 1953, wenige Tage vor der Wahl, mit der falschen Denunziation geendet hat, die sozialdemokratischen Kandidaten würden von der Sowjetzone mit Geld bezahlt.
— Wenn Sie das nicht wollen, dann möchte ich Sie dringend bitten, ein für allemal zur Kenntnis zu nehmen, daß die freiheitlichen Sozialisten zu den Freiheitsrechten stehen und daß es für uns keinerlei Nachbarschaft zu den Vertretern totalitärer Gewaltherrschaften gibt, von wo sie auch kommen mögen.
Wir stehen zur Freiheit der Persönlichkeit, zur Freiheit des politischen Lebens, zur Freiheit der Wahl und zur sozialen Gerechtigkeit. Aus diesen Postulaten ergibt sich der Kampf gegen jede Form der Unterdrückung, durch wen und auf welchen Gebieten des menschlichen Lebens sie auch ausgeübt werden mag.
Dieses Wort zur Methode der heutigen Debatte läßt mich auch zurückkommen zum Auftakt heute früh, einen sehr unglücklichen Auftakt, wie Sie inzwischen selber gespürt haben. Ihre Methode bestand darin, zunächst die Gegensätze auf das äußerste zuzuspitzen und dann zu sagen: Gemeinsamkeit können Sie ganz einfach haben, Sie brauchen sich nur hinten anzuschließen; dann haben wir die Gemeinsamkeit mit unseren Auffassungen hergestellt!
Die gleiche Methode, die hier innenpolitisch versucht wird, versucht man offenbar — das wurde aus einigen Äußerungen des Herrn Bundesaußenministers sichtbar — auch außenpolitisch, gegenüber der Sowjetunion, zu praktizieren. Aber ein sehr wichtiger Unterschied ist der, daß die Sowjetunion — leider — das Pfand in Händen hält, das es zu erlösen gilt, und daß ohne die Zustimmung der Sowjetunion die friedliche Erlösung unserer Landsleute aus der kommunistischen Knechtschaft eben beim besten Willen nicht zu bewerkstelligen ist. Deshalb war ich sehr betroffen, als der Herr Außenminister hier mit ein paar heftigen Worten sagte, die Sowjetunion solle zunächst einmal ihre Beziehungen zu uns verbessern. Sicher, das ist eine sehr nützliche Aufforderung; aber aus dem Tone. in dem das gesprochen wurde, klang doch nicht ganz das Bewußtsein für die Tatsache heraus: wer hat eigentlich die Deutschen, um deren Erlösung drüben in der Sowjetunion es geht, wer hat die Sowjetzone, um deren friedliche Wiedervereinigung wir uns bemühen, in der Hand, die Sowjetunion oder wir? Das ist doch die Frage, die es in diesem Zusammenhang zu stellen gibt.
Es ist selbstverständlich, und da sollte man mit keinerlei Unterstellungen von hüben wie drüben mehr arbeiten: es gibt keine Möglichkeit, die Wiedervereinigung Deutschlands um die Draufgabe der Freiheit ins Auge zu fassen. Daran denkt niemand in diesem Hause. Es ist aber eine unzulässige Vereinfachung, wenn Sie die Freiheit einfach gleichsetzen mit der, beschlagnahmen für die Mit-
gliedschaft im Atlantikpakt. Andere Formen der Freiheit gebe es überhaupt nicht, nur die Mitgliedschaft im Atlantikpakt verbürge sie.
— Das war aber der Tenor der ganzen Debatte, die wir heute hier gehört haben.
Meine Damen und Herren, das war der gleiche Trugschluß, dem eine Zeitlang z. B. auch die amerikanische Politik erlegen war, als sie geglaubt hatte, unter dem Begriff freier Völker könne man nur diejenigen zusammenziehen, die sich in bestimmten förmlichen Militärpakten mit den Vereinigten Staaten zusammengeschlossen hätten. Daran hat sich ja drüben einiges geändert. Nicht erst seit dem Nehru-Besuch, auch schon vorher hat man bei unserem wichtigsten außenpolitischen Freund, in den Vereingten Staaten von Amerika, begriffen, daß man von dieser Art Schwarzweißmalerei wegkommen muß, weil das Gebiet der Freiheit auf dem Erdball — erfreulicherweise — größer ist als die Zahl der Mitgliedstaaten des Atlantikpakts.
Meine Damen und Herren, die Eisenhower-Doktrin — so kritisch man zu manchen ihrer Einzelheiten auch stehen mag — hat doch ein Neues gebracht. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in dieser Doktrin klar zu verstehen gegeben, welches Interesse sie an der Aufrechterhaltung der politischen Unabhängigkeit auch bei denjenigen Ländern haben, die nicht durch Militärallianzen förmlich mit ihnen verbunden sind.
— Ach, und Sie meinen, ein Angriff auf Deutschland wäre auch nach der Wiedervereinigung keine akute Bedrohung für die Vereinigten Staaten?
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie lediglich um eins: diesen neuen Zügen der Außenpolitik des Landes, das Sie doch sonst so sorgsam beobachten, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es heute hier sichtbar wurde.
Nun zur Kernfrage! Mit der Forderung, daß das wiedervereinigte Deutschland dem Atlantikpakt
— das ist doch die Zielvorstellung — um seiner Sicherheit willen angehören soll, wird in Wahrheit die Wiedervereinigung Deutschlands blockiert. Das ist eine harte Tatsache, um deren Erkenntnis wir nicht herumkommen, wenn wir je eine fruchtbare Wiedervereinigungspolitik betreiben wollen.
— Sie sprachen davon, das war der Kern Ihrer Ausführungen. Es ist schade, daß Sie das selber nicht gemerkt haben. Ich werde nachher darauf zurückkommen.
Gewiß handelt es sich um die Sicherung der Freiheit. Aber eine weitere harte Tatsache ist die: ohne die Wiedervereinigung Deutschlands gibt es für unser Volk überhaupt keine Sicherheit; denn so lange bestehen die Risiken, auch die Kriegsrisiken, aus der Spaltung Deutschlands fort.
An eine sowjetische militärische Aggression gegen Westeuropa angesichts des jetzigen Kräfteverhältnisses in der Welt im allgemeinen und des Zustandes des sowjetischen Machtbereichs im besonderen glaubt doch von Ihnen selbst niemand.
— Meine Damen und Herren, warum malen Sie hier denn immer wieder diesen Kinderschreck an die Wand!
Sie tun es einfach nach dem alten Rezept: je dunkler die Lage beschrieben wird, desto heller heben sich davon die Köpfe des Herrn Bundeskanzlers und seiner Minister ab.
— Genau das will ich Ihnen sagen. Es ist ein Unterschied — und das sollten auch Sie endlich begriffen haben — zwischen der brutalen Niederschlagung der Revolution eines freiheitsdurstigen Volkes, das bisher zum sowjetischen Machtbereich gehört hat, und der Ausdehnung der Sowjetunion mit militärischen Mitteln über diesen Machtbereich hinaus. Das ist doch ein Unterschied!
Das ist ein Unterschied; natürlich ist das ein Unterschied.
Meine Damen und Herren, sprechen wir uns in Ruhe über das Problem aus, das der Herr Außenminister hier angesprochen hat. Er sagte: es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands, der Abrüstung und den Problemen der Sicherheit in Europa. Da sind wir uns vollkommen einig. Aber gerade wenn man diesen untrennbaren Zusammenhang sieht, muß man sich auch bemühen, die Wiedervereinigung Deutschlands in den weltpolitischen Zusammenhang so einzuordnen, daß man sie auch tatsächlich erreichen kann.
Ich wiederhole noch einmal den Satz, daß entgegen Ihren Illusionen wirkliche Sicherheit in Europa nur geschaffen werden kann, wenn das Risiko aus der Spaltung Deutschlands beseitigt wird. Gegen dieses Risiko nützt auch nicht die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum Atlantikpakt. Wenn wir das erkannt haben, müssen wir begreifen, daß es um der Sicherheit unseres Volkes willen erforderlich ist, alle Energien mit Vorrang auf die Wiedervereinigung zu konzentrieren, weil das die einzige Methode ist, unserem Volke Sicherheit von Dauer zu verschaffen.
Ich sage: alle Energien, und zwar deshalb alle Energien, weil wir beklagen müssen, daß die Bundesregierung dieser Frage nicht mit annähernd dem gleichen Ausmaß an Sorgfalt, an Fleiß, an Einsatz der Kraft nachgeht, wie sie es ja sonst bei anderen Problemen mit der Folge von Beratungen, Noten und Verhandlungen tut, z. B. wenn es sich
nur um die Bewaffnung des halben Deutschlands im Atlantikpakt handelt.
Es ist Klarheit darüber geschaffen: Niemand von uns denkt daran, daß es möglich sei, etwa im Alleingang der Bundesrepublik Deutschland die Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands zu erörtern, d. h. ohne Kontakt, ohne Aussprache, ohne Vereinbarungen mit unseren westlichen Vertragspartnern. Es denkt auch niemand daran, wie der Herr Außenminister angedeutet hat, daß es unbedingt eine Kontroverse mit unseren Vertragspartnern geben muß. Aber, meine Damen und Herren, wenn es so ist, daß unsere Vertragspartner — mancher von Ihnen wird es sogar bestätigt bekommen haben — gelegentlich auf Vorschläge gewartet haben, sollte uns das nachdenklich stimmen, und zwar auf Vorschläge, die realisierbar sein müssen, weil der einzige Vorschlag, der unter allen Umständen irreal ist, der ist, der davon ausgeht, daß das wiedervereinigte Deutschland Bestandteil des Atlantikpakts ist
— ich komme noch darauf —, weil sich hinter dieser Formel in Wahrheit doch das Ziel versteckt, das wiedervereinigte Deutschland solle Mitglied des Atlantikpakts sein; dann sind Sie wieder bei dem gleichen Problem.
— Meine Damen und Herren, nehmen wir gleich mal die Frage der Entscheidungsfreiheit. Derselbe Bundeskanzler, der aus der vorherigen Vereinbarung, daß das wiedervereinigte Deutschland keine einseitigen Militärbündnisse eingeht, ein weltanschauliches Problem der Entscheidungsfreiheit macht, derselbe 'Bundeskanzler war vorher bereit zu akzeptieren, daß es in diesem Deutschland entmilitarisierte Zonen gibt. Ist das keine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit?
Wenn das Prinzip gilt, gilt es überhaupt und nicht stückweise, wenn es Ihnen paßt.
— Na also, wenn Sie zu diesen Einschränkungen bereit sind, können Sie auch den Schritt weitergehen und sagen, Sie sind zu der Einschränkung bereit, daß das wiedervereinigte Deutschland einen anderen militärischen Status als den des Atlantikpakts hat, weil die ganzen anderen Einschränkungen nicht ausreichen.
Diese Frage ist von der Geschichte seit so vielen Jahren an uns gestellt worden und sie wird uns immer wieder gestellt werden, bis wir vereinigt sind. Wenn Sie nicht den Mut haben, sie endgültig zu beantworten, wird das deutsche Volk gespalten bleiben.
Meine Damen und Herren, Sie haben nun gesagt — und das hat bei Ihnen immer wieder großes Rätselraten hervorgerufen —: Was ist das eigentlich für ein Sicherheitssystem? Wir haben gesagt, daß selbstverständlich niemand bei uns daran denkt, das wiedervereinigte Deutschland schutzlos und ohne Knochen der Sowjetunion zum Fraß vorzuwerfen, sondern daß es eingebettet werden soll in ein effektives, wirksames Vertragssystem der Sicherheit hier in Europa.
— Da will ich Ihnen zunächst einmal sagen, daß wir bisher konkreter gewesen sind als der Herr Bundeskanzler zum gleichen Thema. Der sprach auch von „kollektivem Sicherheitssystem" und hat überhaupt nicht gesagt, was er sich im einzelnen darunter vorstellt. Und zweitens darf ich nun, wenn wir heute die ganze Debatte um dieses Thema geführt haben, darum bitten, daß Sie endlich einmal den Mut haben, in der Öffentlichkeit zuzugeben, daß Sie hier zugehört haben und es jetzt wissen, und nicht weiter draußen die Legende verbreiten, wir hätten uns darüber ausgeschwiegen.
Und nun will ich hier den Nachhilfeunterricht zum mindestens dritten Male erteilen.
Ein Vertragssystem in Europa als Möglichkeit, als Verhandlungsgrundlage. Dieses Vertragssystem kann umfassen Deutschland und seine Nachbarn in Ost und West; in diesem Vertragssystem jene Klausel, der auch die Bundesregierung schon im vorhinein zugestimmt hat: eine gegenseitige Verpflichtung zum Nichtangriff, eine Schiedsverabredung zur Regelung von Streitigkeiten auf friedlichem Wege, eigene Leistungen eines jeden Teilnehmerstaats in einem angemessenen, ausgewogenen Verhältnis der Teilnehmer zueinander, ein System der Rüstungsbegrenzung und -kontrolle innerhalb dieses Gebiets, eine Beistandspflicht, die nicht durch das Veto eines Teilnehmers blockiert werden kann, und darüber hinaus — dazu hat ja Herr Furler etwas sehr Interessantes gesagt —, weil sich nämlich die beiden Großen untereinander blokkieren, auch eine Garantie, die gegen die Großen schützt, eine Garantie der beiden Großen in der Welt, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, für den Bestand dieser europäischen Friedensordnung.
— Meine Damen und Herren, hat es jemals ein Land gegeben, das in dieser Lage wie unser Deutschland gespalten war?
Meine Damen und Herren, diese Situation — ein Land, aufgespalten zwischen zwei einander feindlich gegenüberstehenden aufgerüsteten Machtblökken — sollte uns anspornen, furchtbare Gedanken, mit denen wir diesen Zustand der Spaltung überwinden können, mit etwas mehr Ernst und Bereitschaft zur Verständigung zu diskutieren.
Nur der hat ein Recht, an einem solchen Gedanken Kritik zu üben, der bereit ist, die Andeutungen des Herrn Bundeskanzlers über sein System der kollektiven Sicherheit in Europa, die sich in einer Erklärung finden, die er selber mit dem Präsidenten Eisenhower unterzeichnet hat, nun von sich aus zu konkretisieren. Sie haben schließlich die Verantwortung für die Regierungsgeschäfte dieses Staates. Sie sind dem deutschen Volk Rechenschaft darüber schuldig, wie Sie in der Wiedervereinigungspolitik aus der Sackgasse herauskommen wollen, in der Sie sich befinden.
Es heißt hier in dem Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 16. Juni 1955 in der gemeinsamen Erklärung des Herrn Bundeskanzlers und des Präsidenten Eisenhower, daß Deutschland seine Unabhängigkeit nur durch ein kollektives — ich wiederhole: kollektives, weil das das Mißfallen des Kollegen Lenz hervorgerufen hat — Sicherheitssystem sicherstellen kann. Nach Ihrer Meinung, Kollege Lenz, muß das versagen. Dann hat der Herr Bundeskanzler diese Erklärung sehr leichtfertig unterschrieben. Wenden Sie sich dann an den Herrn Bundeskanzler, wenn auch er einer Politik der projizierten Illusionen nachjagt!
— Natürlich! Ist denn das nicht drin? Jetzt haben Sie wieder nicht zugehört! Ich habe von Rüstungsbegrenzung und -kontrolle gesprochen. Ich wiederhole es für den Nachhilfeschüler Lenz zum drittenmal: Rüstungsbegrenzung und -kontrolle.
Herr Abgeordneter Erler! Ich weiß nicht, ob sich der Abgeordnete Lenz dadurch beleidigt fühlt.
Auf keinen Fall aber kann ich diesen Ausdruck gegen einen Abgeordneten, gleich welcher Couleur, durchgehen lassen. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.
Meine Damen und Herren, wer hat heute früh diese Debatte eröffnet? Wenden Sie sich an den Herrn Außenminister und gegen seine
Art der Darstellung der Probleme. An die Probleme sind wir herangekommen nicht nach der Übung eines parlamentarisch regierten Staates durch eine ausgefeilte und die Probleme in den Einzelheiten darlegende Regierungserklärung, sondern wir haben es hier ertragen müssen, daß zwei Wahlreden von Sprechern der größten Partei hintereinander gehalten worden sind
und die sachliche Einführung in die Probleme dann dem Oppositionsführer Ollenhauer überlassen blieb, sonst wären wir in der Sache jetzt noch nicht weiter.
— Herr Kiesinger, ich bin gern bereit, mit Ihnen über die reinen Wahlkampfpassagen auch in Ihrer Rede einmal zu diskutieren. Vielleicht sind Sie morgen darüber selber besser im Bilde als heute in dieser vorgerückten Stunde.
Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, daß
die Erbitterung, die aus meinen Worten spricht
— die leugne ich gar nicht —,
darauf zurückzuführen ist, daß Sie dem deutschen Volke seit Wochen vorzugaukeln suchen,
Sie seien die einzigen, die sich Gedanken machten über praktikable Wege der deutschen Außenpolitik, während die Opposition demgegenüber nichts als Schimären anzubieten habe.
Das ist doch genau der Inhalt! Dann sollten Sie sich aber wenigstens Mühe geben, wenn oft und oft in diesem Hause um die Probleme gelegentlich hart, gelegentlich weniger hart gerungen wird, dabei das zur Kenntnis zu nehmen, was von der anderen Seite dargelegt wird, und nicht so zu tun, als hätten Sie es nie gehört, und es würde Ihnen erst heute als nachträgliches Weihnachtsgeschenk beschert.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, jetzt gibt man sich also Mühe, Ihnen hier die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung darzulegen, wie sie im internationalen Gespräch ist, wie sie in einer Reihe von ernsthaften Zeitschriften, Publikationen und wissenschaftlichen Arbeiten erörtert wird, damit wir einen Ausweg aus der Lage finden, in der wir uns augenblicklich befinden.
Dann wird hier einfach so getan, als sei das gar kein Beitrag, den man auch überhaupt nur zur Kenntnis nehmen könne. Dann wird weiter so getan, als gäbe es da überhaupt keinen Punkt der
Konkretisierung, weil der einzige Punkt fehlt, den Sie darin haben wollen und den es gar nicht darin geben darf, denn sonst wird Deutschland nicht wieder zusammenkommen; nämlich der Punkt, daß auch das wiedervereinigte Deutschland formell und mit Brief und Siegel Mitglied des Atlantikpaktes sein soll.
— Der Herr Bundestagspräsident war vorhin mit Ordnungsrufen sehr schnell bei der Hand. Aber offenbar geht es nur auf der einen Seite.
Ich bitte, den Unterschied zu beachten, Herr Abgeordneter Erler: wenn einer „Demagoge" gesagt hätte, aber nicht wenn eine bestimmte Äußerung anderer Art fällt.
Die Abgeordneten Kiesinger und Lenz haben heute als Kern ihrer Ausführungen — wenn man sie ganz nüchtern nachliest — herausgestellt, daß in Wahrheit aus strategischen Erwägungen die Wiedervereinigung Deutschlands praktisch gar nicht möglich ist. Das ist der Kern der Sache, und es kommt darauf an, das einmal herauszustellen. Das bedeutet die Kapitulation der Politik vor sehr vergänglichen strategischen Erwägungen der Stunde. Das deutsche Volk hat mit einer solchen Politik öfter bittere Erfahrungen gemacht, z. B. als man im Jahre 1914 den strategischen Erwägungen des Schlieffenplans die belgische Neutralität opferte. Das ist nur ein Beispiel für manches in unserer eigenen Geschichte, an das man Sie erinnern muß, damit Sie begreifen, welche Verantwortung auf uns liegt, wenn wir für die Lösungen zur Wiedervereinigung unseres Landes uns den Weg verbauen lassen durch militärtechnische Lösungen, die auch anders angepackt werden können, wenn man den Mut zu einer anderen Lösung hat.
Es ist doch einfach nicht wahr, daß Deutschland nur gesichert werden kann, wenn es auch in Friedenszeiten bereits — das ist ja einer der Kernpunkte, um den Sie heute mit verschiedenen Umwegen so energisch gerungen haben, und das scheint mir die einzige Sicherheitsgarantie zu sein, ,die bei Ihnen gilt — Aufmarschfeld einer bestimmten Militärkoalition ist. Das ist doch der Kern der Sache.
Dazu möchte ich Ihnen etwas sagen, was Sie schmerzlich berühren wird; aber das liegt im Verlauf der geschichtlichen Liquidation des vergangenen Jahrzehnts in relativ naher Zukunft: Das hört sowieso auf! Wer seine Hoffnung darauf gründet, daß entgegen den natürlichen Gewichtsverhältnissen in der Welt auf Jahrzehnte hinaus fremde Truppen in einem anderen Lande stationiert bleiben können, der übersieht, daß ein solcher unnatürlicher Zustand, so notwendig er in Anbetracht der Wirren dieses Jahrzehnts hier gewesen sein mag, unter gar keinen Umständen von Dauer sein kann und auch nicht von Dauer sein wird.
Damit schwimmen Sie sowieso gegen den Strom. — Gut, wenn wir uns also darüber schon einig sind, daß zur Wiedervereinigung Deutschlands in der Zukunft gar nicht mehr die Anwesenheit fremder Truppen auf deutschem Boden gehört, meine Damen und Herren, welche andere Sicherheit bietet dann der Atlantikpakt als ein Beistandsversprechen, das auch in dem anderen Sicherheitspakt enthalten sein kann? Dann gibt es doch überhaupt keinen Unterschied mehr!
Hier ist beklagt worden eine Phantasielosigkeit, die sich in den Ausführungen manches Oppositionssprechers gezeigt habe. Meine Damen und Herren, können Sie sich denn gar nicht vorstellen, welche Veränderungen zum Vorteil der Sicherheit unseres Volkes mit der Wiedervereinigung Deutschlands so verbunden sind, daß demgegenüber die aus der jetzigen Spaltung geborenen strategischen Überlegungen erheblich an Gewicht verlieren?
Meine Damen und Herren! Die Wiedervereinigung ist doch nur möglich, wenn es überhaupt zwischen den beiden Großen ein anderes Verhältnis hier auf dem Kontinent gibt. Solange die beiden zähnebleckend einander gegenüberstehen, gibt es auch keine Einheit.
Deswegen ist das Problem Entspannung und Abrüstung und Wiedervereinigung e i n Problem, und unsere Aufgabe ist es, auf diesem Wege niemand anderem in den Arm zu fallen, sondern rechtzeitig durch praktikable deutsche Vorschläge den Weg zur Entspannung und Wiedervereinigung offenzuhalten und gangbar zu machen.
Meine Damen und Herren, welche Bedeutung hatte z. B. für den Ablauf der ungarischen Tragödie die Anwesenheit sowjetischer Truppen in diesem Lande! Welche Bedeutung kommt der Lageveränderung zu, wenn die sowjetische Besatzungszone und unsere östlichen Nachbarnstaaten von dem Gewicht der sowjetischen Militärmaschinerie frei werden! Ist nicht für unsere Sicherheit hier in diesem Lande damit unendlich viel mehr gewonnen, als so mancher im kleinlichen Rechnen nach bestimmten Formeln des atlantischen Denkens sich heute auszumalen vermag?
Meine Damen und Herren, in Wahrheit ist doch mancher Kleingläubige von der Vorstellung besessen: „Die Sowjetunion stimmt ja sowieso überhaupt keiner Regelung zu, wie sie auch aussehen mag. Die Sowjetunion ist also günstigstenfalls bereit, der Wiedervereinigung Deutschlands zuzustimmen, wenn sie das andere Teil Deutschlands sich einverleiben kann, und zu gar nichts anderem ist sie zu 'bewegen."
— Ich höre hier eben ein begeistertes oder besser: ein zustimmendes „Jawohl".
— Begeistert ist es nicht, das gebe ich zu. Ich höre
hier eben ein zustimmendes „Jawohl". Dieses „Ja-
L) wohl" macht klar, daß es also keine andere Form der Einheit als die sowjetische gibt,
die wir selbstverständlich nicht zu akzeptieren bereit sind. Nach diesem „Jawohl" ist überhaupt keine Einheit für unser Volk abzusehen.
Wie will 'die Bundesregierung in dieser Situation weiterkommen? Was hat die Bundesregierung auf dem Wege zur Wiedervereinigung mit der sowjetischen Besatzungszone bisher erreicht?
— Wer war denn in der Regierung und hat die Verantwortung getragen — Sie oder wir? — Mit Wiederholung alter Erklärungen ist kein Fortschritt zu erzielen. Das Los unserer Landsleute hat sich nicht verbessert. Die Regierung hat auch die Aussichten nicht verbessert, daß eine Lösung mit der Sowjetunion gefunden werden kann. Eine Lösung g e g en die Sowjetunion, von der mancher früher einmal geredet hat, gibt es überhaupt nicht; denn das wäre die Lösung der Gewalt, die von Ihnen genauso abgelehnt wird wie von uns, denn sie würde uns nicht in Freiheit, sondern im Massengrab vereinigen, darüber sind wir uns alle einig.
Es führt also, da die Gewaltlösung ausscheidet, kein Weg an einer Vereinbarung auch mit der vierten Macht, mit der Sowjetunion, vorbei.
Die Bundesregierung hat uns auch heute wieder
— jetzt sind wir einmal am Fragen — nicht gesagt, wie sie konkret — und zwar sehr konkret — beabsichtigt, die Sowjetunion ohne Gewalt zur Zustimmung zu einer Lösung, die es hier noch darzulegen gilt, in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands zu bewegen. Hier ist vorhin vom ersten Eden-Plan die Rede gewesen. Die Bundesregierung hat ihn abgelehnt, weil er auf die Vorstellung des Nebeneinanderbestehens zweier deutscher Staaten gegründet war. Eine gefährliche Lösung! Es gab manches an diesem Plan auszusetzen. Aber es gab einen anderen Grundgedanken, den man im Bereich der praktischen Politik hätte stehen lassen können und müssen, nämlich den Gedanken, daß sich auch im Zuge von Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands zwangsläufig die Notwendigkeit ergibt, wie es der Eden-Plan unter anderen Voraussetzungen versucht hatte, zu einer Verständigung über den militärischen Status des betroffenen Gebietes zu gelangen. Dazu hätte man nicht nur mit einem Nein, sondern mit deutschen praktischen Änderungsvorschlägen aufwarten müssen.
Es ist uns hier gesagt worden, wir stellten die Dinge so dar, als sei man auf Ihrer Seite nur aus Bosheit oder Dummheit so festgefahren, daß man der Einheit nicht näher komme. Nein, meine Damen und Herren, ich sehe den Komplex viel tiefer. Wollen wir das ehrlich ansprechen! Es ist Ihr Bedürfnis nach einer so bestimmten Form der milltärischen Sicherheit, daß Sie ,an dieser Form so fest hängen, daß daran jeder politische Fortschritt scheitert.
Sie geben der militärischen 'Eingliederung in den Atlantikpakt so den politischen Vorrang, daß wegen dieser Frage kaum Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands mit Aussicht auf Erfolg weiterkommen können.
Herrn Kollegen Lenz möchte ich sagen: Die Bundesregierung und die Koalition sollen doch bei der Darlegung ihrer drei Alternativen nicht so tun, als wüßten nicht unsere westlichen Vertragspartner und die Sowjetunion, welche dieser drei Alternativen ihr politisches Ziel ist. Die beiden anderen stehen doch nur zur Wahrung des Prinzips da. Wenn das deutsche Volk wirklich die Freiheit hätte, sich nach der Wiedervereinigung für eine Form militärischer Zusammenarbeit mit dem Westen, für eine solche mit der Sowjetunion oder, wie Sie das meist darstellen, „freischwebend aufgehängt" zwischen den beiden für einen neutralen Status zu entscheiden, nun, wenn es nur diese drei Alternativen gäbe, würde ich keine Sekunde daran zweifeln, daß sich das deutsche Volk für die militärische Zusammenarbeit mit dem Westen entscheiden würde. Sie vergessen nur eins: solange jedermann in der Welt mit dieser Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit rechnen muß, so lange steht dieses ganze Gebäude in Wahrheit auf Sand; denn dieses wiedervereinigte Deutschland mit dieser Art Entscheidungsfreiheit wird es überhaupt nicht geben. Das ist die nackte Wahrheit!
— Was also nach menschlichem Ermessen, Ihren Gedanken zu Ende gedacht, dazu führt: Ergo müssen wir die Wiedervereinigung Deutschlands eben praktisch abschreiben.
— Weil weder der eine noch der andere Wegdenkbar ist.
Meine Damen und Herren! Ziel der Vorschläge der Genfer Konferenz war eindeutig, daß auch das wiedervereinigte Deutschland dem Atlantikpakt angehören sollte; denn eine Reihe von Zusagen — nicht alle, aber eine Reihe von Zusagen — an die Sowjetregierung für den Fall der Wiedervereinigung Deutschlands waren ausdrücklich an die Alternative der Entscheidung Deutschlands für die Zugehörigkeit zum Atlantikpakt geknüpft.
— Aber immerhin die wesentlichen, die, auf die es hier ankam. Das wissen Sie auch!
Nun ist hier gesagt worden, wenn man alle diese Fragen sehr ernsthaft mit unseren Vertragspartnern diskutieren wolle, dann genüge dazu der normale diplomatische Kontakt. Ich will gar nicht leugnen, welche Möglichkeiten die Ausnutzung der diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten bietet. Aber bis zur Stunde hat mich niemand davon überzeugt, was es eigentlich für einen Sinn hat, wenn der Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit der Verabschiedung von Verträgen am
23. Februar 1955 eine ganze Reihe zukunftsweisender Beschlüsse faßt und man dann sagt: Ja, der Punkt, der uns da besonders auffällt, gilt nur für die nächsten 14 Tage, nämlich bis wir normale diplomatische Beziehungen haben. Der Grundgedanke dessen, was hier festgelegt worden ist, lag in den Worten:
Es soll eine ständige Kommission, bestehend aus je einem Vertreter der drei Westmächte und der Bundesrepublik Deutschland, gebildet werden, deren Aufgabe es ist, alle zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands sich bietenden Gelegenheiten zu erörtern und Vorschläge auszuarbeiten, um aussichtsreiche Verhandlungen vorzubereiten.
Meine Damen und Herren, mir kann niemand sagen, daß irgend jemand in diesem Saal bei der Verabschiedung dieser Entschließung der Meinung gewesen sei, das werde 14 Tage später nur noch ein bedrucktes Stück Papier sein; denn daß man in 14 Tagen keine Kommission dieser Art mit anderen Regierungen auf die Beine bringt, das war doch völlig selbstverständlich. Hier handelte es sich um die Schaffung eines über den normalen diplomatischen Kontakt hinausgehenden ständigen Arbeitsgremiums, wie es die Bundesregierung für andere Zwecke auch geschaffen hatte.
Ich bin z. B. zweimal mit einer Anzahl von Damen und Herren dieses Hauses bei den Verhandlungen über den EVG-Vertrag in Paris gewesen und habe mir dort angesehen, wie über hundert deutsche Damen und Herren in einer Kommission, im Interimsausschuß für den EVG-Vertrag, gearbeitet haben, um mit den anderen vertragschließenden Mächten eine Reihe von Einzelheiten und Problemen zu beraten und ständig miteinander in Kontakt zu bleiben und Vereinbarungen vorzubereiten. Das macht doch auch wieder — leider! — sichtbar, daß man, vielleicht aus Hoffnungslosigkeit, vielleicht aus übertriebener Angst, eben diesen Weg der Beauftragung eines ständigen Arbeitsgremiums zwar für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft sogar mit guter Bestückung zu gehen bereit war, daß man es aber bei den sehr dornigen Problemen der Wiedervereinigung Deutschlands bei den normalen diplomatischen Kontakten bewenden ließ.
Herr Kollege Kiesinger hat gesagt, es sei fraglich, ob die Einheit Deutschlands erreicht werden könne, selbst wenn das wiedervereinigte Deutschland eben nicht dem Atlantikpakt angehören würde,
— außer Frage; gut, noch schlimmer — weil die Sowjets sogar noch eine ganze Reihe von anderen Bedingungen hätten.
Aber, meine Damen und Herren, eins ist sonnenklar: Welches auch das Schicksal anderer für uns um der Freiheit des Volkes, um unserer inneren Lebensordnung willen unannehmbarer sonstiger russischer Forderungen sein mag, die Frage der Zugehörigkeit zum Atlantikpakt ist in Wahrheit nie mit der Sowjetunion ausdiskutiert worden, und mir scheint festzustehen: mit dieser Vorstellung
gibt es die Wiedervereinigung Deutschlands auf gar keinen Fall.
— Auch da nicht. Das ist genau in der Form jener möglichen Alternativen und der Formel der Entscheidungsfreiheit geschehen, mit der ich mich eben schon auseinandergesetzt habe. Zutiefst liegt doch unserem Problem die Reflexsituation oder sagen wir richtiger: das Spiegelbild der beiden Auffassungen hüben wie drüben zur Lösung der Deutschlandfrage zugrunde. Die einen meinen, die Wiedervereinigung Deutschlands ist für uns nur in der Form erwünscht, denkbar, vorstellbar — es ist unser Ziel, wollen wir einmal sagen —, daß ganz Deutschland dem Atlantikpakt angehört. Die andere Seite, nämlich die Sowjetunion, sagt, sie will ein Deutschland — das sagt sie neuerdings mit besonderer Härte; das ergibt sich aus einer ganzen Reihe von Forderungen, die in dem Zusammenhang erhoben werden —, das eben im ganzen mit einer schweren kommunistischen Hypothek belastet ist. Aus diesem Teufelskreis kommen wir nur dann heraus, wenn wir die Bereitschaft der sowjetischen Seite zum Wegnehmen dieser Hypothek auf der Deutschlandfrage dadurch erreichen, daß wir uns bereit erklären — mehr verlangt doch gar keiner —, dann auch die westliche militärische atlantische Hypothek auf der Lösung der Deutschlandfrage wegzunehmen. Das ist eine der Kernfragen dieser ganzen Debatte gewesen.
Da ist es eigentlich ein magerer Trost, wenn der Kollege Lenz sagt: die Verhältnisse werden sich später schon ändern; dann kommen wir vielleicht ganz von selbst dazu.
--- Er hat gesagt: wenn die machtpolitischen Verhältnisse sich verändert haben. Da wurde ich etwas hellhörig. Was heißt das eigentlich? Wenn die Vorstellung bleibt, daß das wiedervereinigte Deutschland eben doch dem Atlantikpakt angehören solle und die machtpolitischen Voraussetzungen den Weg dahin ebnen sollen, dann läuft das doch praktisch auf die Kapitulation der Sowjetunion vor dieser westlichen Forderung hinaus.
Im Zusammenhang mit den machtpolitischen Veränderungen erinnert das etwas an die Politik der Stärke, an Ihren merkwürdig verschlungenen Zickzackweg, an den man Sie auch mal erinnern muß. Erst haben Sie den ganzen Wahlkampf damit bestritten, und dann ist der Bundeskanzler nach Moskau gereist. Dort hat er plötzlich gesagt: Politik der Stärke habe ich nie gemeint, das war nie meine Sache. Hier kommen jetzt wieder ähnliche Klänge wie in jener Zeit, „verändert durch die weltpolitischen Machtverhältnisse" — sprich: die auch durch die Aufrüstung der Bundesrepublik sich verändert haben —, zum Vorschein.
— Gut, ich nehme mit Befriedigung zur Kenntnis, daß nicht etwa die Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland die weltpolitischen Machtverhältnisse so mit ändern helfen soll, damit man etwa einen Druck in Richtung auf die Wiedervereinigung aus-
üben könne. Denn so hat man es auch draußen im Lande oft und oft gehört.
Diese Vorstellung ist so gefährlich, daß ich mit Befriedigung davon Kenntnis nehme, daß sie hier auf den Bänken der Regierungskoalition von niemandem mehr vertreten wird.
— Seien Sie vorsichtig, sonst schauen auch wir in unserem Zettelkasten einmal nach, Kollege Stücklen. Ich habe da noch einiges in Erinnerung.
Da wir gerade bei dem Zickzackkurs waren, möchte ich hier noch einmal an folgendes erinnern.
— Eben, der Herr Bundeskanzler hat die größte Erfahrung auf diesem Gebiet und geht uns da mit leuchtendem Beispiel voran. — Der Herr Bundeskanzler unterzeichnete mit Präsident Eisenhower eine Erklärung über ein Sicherheitssystem, und jetzt sagt er plötzlich auf einer Pressekonferenz, er weiß gar nicht, was das ist. Das war selbst für mich hartgesottenen Sünder ein reichlich starker Tobak. Erst will er eine verdünnte Zone, dann rückt er von der Idee der verdünnten Zone wieder ab. Erst wird Elastizität zum Ausdruck gebracht — ein bißchen für den Hausgebrauch —, dann kommt der markige Männerchor mit der Gesinnung aus dem Jahre 1950, um also doch wieder die Stärke vorzutäuschen. Meine Damen und Herren, die Elastizität nützt doch gar nichts, wenn man nur davon redet. Die Elastizität ist für uns nur von Wert, wenn sie auch zu praktischen Konsequenzen für unsere Politik führt. Das ist das, worauf es dabei ankommt, und da haben wir ja heute hier ein lehrreiches Beispiel etwa in bezug auf die Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten gehört. Da ist uns gesagt worden: „Man darf die DDR nicht stärken." Meine Damen und Herren, hängt es denn allein vom formellen Bestehen diplomatischer oder handelspolitischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und osteuropäischen Staaten ab, ob die Freundschaften, die es überall draußen in der Welt gibt, ins Wanken geraten? Wer nur dieses Vorwandes bedürfte, der hätte schon die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Moskau als Vorwand benutzen können,
um aus der Solidarität auszubrechen, zumal es sich ja bei den freien Staaten durchweg um Staaten handelt, die ihrerseits selbst Missionen in den osteuropäischen Staaten unterhalten.
— Eben, das verlange ich auch gar nicht.
Es ist die Rede davon, daß die Bundesrepublik endlich in den Stand gesetzt werden soll, daß auch die osteuropäischen Staaten ohne den Vormund Moskau mit uns reden können, und daß sie endlich in den Stand gesetzt werden — so sie das wünschen, und das gilt es zu ergründen, — —
— Ach, jetzt leugnen Sie plötzlich alles, was Sie ( vorhin über die Entwicklung in Polen selber gesagt haben. — Meine Damen und Herren, es ist die Rede davon, daß diese Staaten jetzt endlich in den Stand gesetzt werden, als Deutsche die Vertreter des einzigen aus freien Wahlen hervorgegangenen deutschen Parlaments und der deutschen Regierung kennenzulernen und nicht nur jene, die man ihnen aus Pankow dorthinschickt. Das ist doch das wirkliche Problem unserer Ostbeziehungen. Da hat es plötzlich einmal Ansätze zu elastischerem Verhalten gegeben, und dann hat die Regierung das selber wieder zurückgezogen. Mit einer solchen Form merkwürdiger Elastizität ist uns kaum gedient.
Noch weniger ist uns damit gedient, wenn etwa die Kollegen Schäfer und Furler hier vor Ungeduld warnen. Meine Damen und Herren, vor dieser Ungeduld zu warnen, ist hier am Rhein eine verhältnismäßig einfache Sache.
Der Kollege Schäfer hat darauf hingewiesen, daß schon vor 1933 das Volk in Deutschland aus Ungeduld in die nationale Katastrophe hineingerannt sei. Meinen Sie nicht, daß auch die Ungeduld damals — über deren verderbliche Konsequenzen wir uns wohl hoffentlich alle einig sind — ihre Ursache in der Not von 61/2 Millionen Arbeitslosen, in der Not von vielen anderen durch die Wirtschaftskrise schwer angeschlagenen Menschen hatte, mit der auch der demokratische Staat damals leider nicht fertig geworden ist? Meine Damen und Herren, die demokratischen Kräfte müssen immer wieder zeigen, daß sie, wenn es um die Beseitigung eines dringenden Notstandes geht, diejenigen sind, die darauf drängen, daß der Notstand behoben wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man soll den Deutschen dann das europäische Spielzeug in die Hand geben, damit sie endlich von der Wunde am Eisernen Vorhang abgelenkt werden.
Meine Damen und Herren, ich nehme an, daß wir aus anderem Anlaß uns noch ausführlich über den merkwürdigen Zickzackkurs der Bundesregierung in der Politik, die zum Verbot der Atomwaffen führen soll, unterhalten können. Da gab es ja auch Erklärungen, Ergänzungen, Dementis, und dann schließlich vom Kollegen Kiesinger das harte Urteil, daß ohne gleichzeitige Berücksichtigung konventioneller Waffen und Kontrolle natürlich ein einseitiges Verbot der Atomwaffen ein kindisches Unterfangen sei. — Absolut richtig: Ich teile völlig seine Meinung, und das ist das vernichtendste Urteil, das über die Pressekonferenz des Herrn Bundeskanzlers in diesem Hause gesprochen worden ist.
— Wenn der Regierungschef in die Pressekonferenz geht und die Fragen vorher schriftlich vorgelegt bekommt, muß er sich die Tragweite dieser Dinge sorgfältig überlegen.
— Ich unterstelle ihm gar nichts. Ich stelle lediglich fest, welchen Wirrwarr der Regierungschef auf diesem Gebiet im In- und Ausland vor einigen Tagen angerichtet hat.
— Es wird doch der Opposition wohl noch erlaubt sein, einmal festzustellen, daß auch der Herr Bundeskanzler auf Pressekonferenzen nicht immer der Weisheit letzten Schluß verkündet.
— Nicht immer, natürlich. Gelegentlich sagt auch der Herr Bundeskanzler Dinge, die völlig unsere Zustimmung finden, und wir stehen nicht an, ihm das dann auch zu bezeugen; warum denn nicht!
Man muß sich nicht immer so verhalten wie die Mehrheit dieses Hauses bei Anträgen, wo erst das Stichwort SPD fallen muß, damit man weiß, daß sie abgelehnt werden müssen.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige Worte zu den Darstellungen, die der Herr Außenminister zum Saarproblem hier abgegeben hat, weil es da eine heftige Kontroverse mit meinem Freund Dr. Arndt gegeben hat. Der Außenminister hat gesagt — —; nein, umgekehrt: wir haben ihm keinen Vorwurf — —
— Ich komme noch darauf. Ich wäge meine Worte in diesem Fall ganz besonders.
— In diesem Fall ganz besonders! Meine Damen und Herren, auch über die Wortwahl — das kann ich wieder nur sagen — bitte ich Sie sich mit denen zu unterhalten, die diese Debatte im Ton und Inhalt heute früh eingeleitet haben.
Wir haben dem Herrn Außenminister nicht vorgeworfen, daß etwa die Bundesregierung die Verträge nicht gehalten habe, ganz im Gegenteil. Wir haben der Bundesregierung in der Saarfrage erstens vorgeworfen, daß sie das Saarstatut überhaupt abgeschlossen hat.
— Nein, auch dann wären wir zu dieser Lösung gekommen,
genau zu der Lösung, die sich seit langem auch
durch die zähe Arbeit meiner sozialdemokratischen
Freunde in den Ausschüssen des Europarats abgezeichnet hat.
Zweitens haben wir dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen, daß er gegen die Bestimmungen des von der Regierung unterzeichneten Vertrages, gegen den Artikel 6, in den Abstimmungskampf eingegriffen hat.
Der Artikel 6 lautet nämlich: „Jede von außen kommende Einmischung, die zum Ziel hat, auf die öffentliche Meinung an der Saar einzuwirken, ... wird untersagt." Diese Einmischung hat er begangen in seiner Rede auf einer CDU-Kundgebung in Bochum am 2. September 1955, in der es hieß, daß er an die Bevölkerung an der Saar die herzliche Bitte richte, dieses Statut auch anzunehmen. Der dritte Punkt in dieser Kette ist, daß wir nach Unterzeichnung dieses Statuts, nach Verletzung des gleichen Statuts durch den Kanzler bei Befolgung dieser Empfehlung die Saar am 1. Januar dieses Jahres nicht hätten in diesem Hause begrüßen können.
Der Außenminister war sehr stolz darauf, diesen Vertrag gut zu kennen; natürlich. Dann aber waren seine Vorwürfe gegen die Sozialdemokraten, daß wir dem Bundeskanzler vorgeworfen hätten, er habe die Verträge nicht gehalten, nicht gerechtfertigt.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Lassen Sie mich Ihnen zum Schluß noch nachdrücklich sagen: Wenn von neuen Wegen, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führen können, weil sich die alten als ungangbar erwiesen haben, geredet wird — —
— Bitte, wie weit sind wir auf dem alten Weg zur
Wiedervereinigung gekommen? Keinen Zentimeter!
Dann kommt es darauf an, von diesen neuen Dingen nicht nur gelegentlich
in vagen Erklärungen wie der Abgeordnete Kiesinger, daß auch für ihn die NATO kein Dogma sei, zu reden — denn offenbar gehört er dann auch zu denen, von denen der Herr Hilbert behauptet, sie weichten die Front auf, nachdem er gesagt hat, die NATO sei kein Dogma —, sondern dann kommt es darauf an, diese neuen Wege auch zu beschreiten. Dann kommt es darauf an, zu begreifen, daß die Regierung uns dadurch gar keine Sicherheit verschafft, daß sie die Sicherheit für unser Volk allein in der Einschmelzung der Bundesrepublik in den Atlantikpakt sucht. Die Regierung hat uns dadurch weder Sicherheit geschaffen
noch uns der Einheit einen einzigen Zentimeter näher gebracht. Sicherheit für das deutsche Volk gibt es nur durch die Wiedervereinigung. Eine Politik, welche in der Sache die Wiedervereinigung blockiert, gefährdet die Sicherheit unseres Volkes.
Eine Politik, welche der Wiedervereinigung in gesicherter Freiheit den gebührenden Vorrang gibt, ist allein imstande, auch dauerhafte Sicherheit für unser Volk zu schaffen, für die Menschen unseres Volkes und für die, die neben unseren Grenzen leben.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren! Einige Ausführungen des Kollegen Erler können nicht ohne Widerspruch hingenommen werden. Bevor ich aber den Widerspruch anmelde, möchte ich im Gegensatz zu seiner Überzeugung ihm sagen, daß wir in einem Punkte einig sind: Die bestehenden politischen Schwierigkeiten, die bestehenden weltpolitischen Probleme können nicht durch militärische Aktionen, sondern nur durch politische Lösungen überwunden werden.
Er darf dabei nur einen Fehler nicht machen: zu unterstellen, daß strategische Angelegenheiten und strategische Überlegungen ein militärisches Monopol hätten.
Strategie ist Politik, und wenn Militär in dieser leider sehr unvollkommenen Welt leider noch notwendig ist, dann hat das Militär durch seine Präsenz der Politik und ihrer Strategie zu dienen. Das Militär hat nicht Ziel strategischer Überlegungen zu sein.
In keinem anderen Sinne, Kollege Erler, können Sie und ich Strategie als Mittel zur Überwindung politischerSchwierigkeiten oder zur Lösung politischer Aufgaben sehen.
Ich darf Sie in diem Zusammenhang auf einige fundamentale Irrtümer hinweisen, die sich bei einer solchen Debatte leicht einzuschleichen drohen. Der erste fundamentale Irrtum scheint nicht nur mir — es gibt Zeitgenossen mit einem bedeutenderen Namen — darin zu bestehen, wenn Kollege Erler eine sowjetische Angriffsdrohung als einen Kinderschreck hinstellt, bei dessen jeweils schwärzerer Ausmalung — ich habe Ihre Diktion nicht ganz verstanden — die Köpfe des Herrn Bundeskanzlers und seiner Paladine immer freundlicher leuchten, sozusagen als ob er die sowjetische Angriffsdrohung, sei es als Wirklichkeit, sei es als Fiktion, brauchte, um seine Politik rechtfertigen zu können.
Da sind, glaube ich, doch Ursache und Wirkung miteinander verwechselt worden.
Niemand — ich möchte das nicht auf uns beschränken, das gilt, glaube ich, für alle Vernünftigen in diesem Hause — wäre froher als wir, wenn es überhaupt keine sowjetische Angriffsdrohung gäbe. Dann wären wir so vieler innen- und außenpolitischer Überlegungen ledig, angefangen von der Verteilung unseres Sozialprodukts bis zur Regelung eines europäischen Sicherheitssystems. Aber darin
unterscheiden wir uns eben leider, daß wir uns bis heute noch nicht — aus sehr massiven und handfesten Gründen — entschließen können, unsere Politik darauf abzustellen und darauf zu begrenzen, daß es eine sowjetische Angriffsdrohung de facto nicht mehr gibt.
Sie haben vorhin verglichen und einen Unterschied zwischen Ungarn und Deutschland gemacht. Sie sagten, in einem Fall handelte es sich darum, ein zum sowjetischen Machtblock gehöriges Territorium notfalls unter Anwendung brutalster Gewalt bei der Stange zu halten. Richtig! Im anderen Fall handle es sich darum, die sowjetische Macht zu expandieren, und diese Expansion der sowjetischen Macht könne nicht stattfinden. Ja warum denn nicht, Herr Kollege Erler? Doch nicht deshalb, weil es von dem Expansionsfähigen aus moralischen Gründen nicht gewünscht wird, sondern weil ihm durch unser gemeinsames Bündnis oder Sicherheitssystem ein unüberwindliches Nein entgegengesetzt wird.
Ich habe mit großem Interesse, Herr Kollege Erler — ich möchte hier völlig unpolemisch und unpathetisch debattieren —
— ich glaube, daß dieser Zwischenruf unangebracht ist —, Ihren Aufsatz über Umrüstung und einige Auszüge daraus, die wahrscheinlich in verschiedenen Zeitungen zum selben Thema erschienen sind, gelesen. Ich war überrascht, daß Sie mit einer etwas freundlicheren Diktion, die Ihnen im Gegensatz zu mir eigen ist, genau dasselbe gesagt haben, was seinerzeit Kollege Mellies mir so übelgenommen hat. Sie haben gesagt: Wenn die Russen angreifen, ist das identisch mit ihrer Vernichtung und wird ein vernichtender Gegenschlag von seiten der USA erfolgen. Das zieht sich wie ein roter Faden mit Recht durch Ihre Ausführungen hindurch. Aber die Voraussetzung dafür, daß dieser Gegenschlag gestartet werden könnte, worauf wir gar keinen Wert legen — wir sind ja genauso wie Sie Anhänger der indirekten Verteidigung —, ist, die Aktion zu verhindern, damit keine Gegenaktion nötig wird. Aber man kann eine Aktion nur verhindern, wenn man von vornherein die Unabwendbarkeit einer Gegenaktion glaubhaft macht. Diese ist eben nicht mehr glaubhaft, wenn wir in Europa die einzelnen nationalen Staatssysteme und auch ihre Verteidigungssysteme isoliert regeln und uns nur auf den großen Onkel mit dem schweren Prügel verlassen, der uns im rechten Augenblick schützen wird. Das haut auf die Dauer nicht mehr hin, Kollege Erler. Das mag noch für einige Zeit gelten. Aber ich bin fest überzeugt, daß diese Rechnung auf die Dauer nicht aufgeht. Ob wir zu Lösungen kommen, bis diese Rechnung aufgeht, davon wird allerdings für uns und die folgende Generation einiges abhängen. — Das war der erste fundamentale Irrtum.
Es gibt heute noch zwei sehr konkrete Überlegungen hinsichtlich der Möglichkeit eines sowjetischen Angriffs. Sicherlich erfolgt kein sowjetischer Angriff bei nüchterner, vernünftiger Überlegung von seiten der Moskauer Machthaber, weil sie genau wissen, was ihnen blüht. Nicht ganz ausgeschlossen, wenn auch nicht wahrscheinlich — man kann sich ja gerade bei der Frage der Sicherheit nicht immer auf das Wahrscheinliche verlassen, man muß bis zu einem gewissen Risiko gehen, aber man darf das nicht zu sehr strapazieren —, war
immerhin in den letzten Monaten während einiger Tage die Möglichkeit einer Kurzschlußreaktion gegeben, der wir allerdings nur durch das Mittel entgangen sind, das Sie schriftlich dargelegt haben und dessen Notwendigkeit auch ich zustimme. Sie wissen, was ich damit meine.
— Kollege Schmidt, reden Sie nicht von den bayerischen Dörfern, dann brauche ich nicht von der Hamburger Reeperbahn zu reden!
Die Dinge sind sehr ernst und haben nichts mit bayerischen Dörfern oder sonstwas zu tun.
— Der Kollege Erler hat inhaltlich genau dasselbe schriftlich niedergelegt, was ich gesagt habe.
Aber deshalb besteht doch kein Grund, Kollege Schmidt, mich hier persönlich zu beleidigen.
Ich darf auf die zwei Möglichkeiten der sowjetischen Angriffsdrohung hinweisen. Ich muß das als Erwiderung auf Ihre ,Behauptung, Kollege Erler, daß das ein Kinderschreck gewesen sei, doch sagen. Die eine ist die immer noch nicht ganz ausgeschlossene Kurzschlußreaktion, die vor allen Dingen in Fällen einer von uns gar nicht verschuldeten politischen Krise immer wieder als Gefahrenmoment auftauchen kann. Die zweite ist auf lange Sicht nicht eine Invasion in dem üblichen Sinne einer Aggression, sondern ein ständig wachsender Druck auf die westlichen Nachbarn Moskaus, ihre Politik nach den Wünschen der Machthaber des Kreml zu orientieren, weil man infolge Machtlosigkeit nicht mehr anders kann.
Das ist die zweite Form der sowjetischen Aggression, der wir heute noch gegenüberstehen.
-- Polen ist kein Gegenbeweis, Kollege Mommer.
Ich darf auf einen zweiten fundamentalen Irrtum hinweisen; aber hier nützt auch der Nachhilfeunterricht nach der anderen Seite nichts; das ist nur die Gegenbemerkung. Niemand von der Fraktion der CDU/CSU, niemand von der Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, daß ein wiedervereinigtes Deutschland — ich erspare mir den Hinweis auf die Umstände „in Frieden und Freiheit", weil das unter uns allmählich selbstverständlich sein sollte —
automatisch Mitglied der NATO werden müßte. Niemand von uns steht auf diesem Standpunkt. Aber jedermann von uns steht auf dem Standpunkt, daß es sich nach seinen politischen Möglichkeiten und nach der politischen Räson frei entscheiden können muß.
— Bitte sehr.
Glauben Sie, daß unsere westlichen Verbündeten für diese Entscheidungsfreiheit wären, wenn sie einen Augenblick daran zweifelten, welches unsere Haltung wäre, wenn wir die Entscheidungsfreiheit hätten?
Da trauen Sie dem deutschen Volk, Kollege Mommer, weniger politische Vernunft zu, als es in diesem Falle haben würde.
— Darf ich Ihnen dann darauf jetzt die Antwort geben, wenn Sie den ersten Teil meiner Antwort nicht verstanden haben: wir leben doch nicht im Warschauer Paktsystem, in dem uns unsere westlichen Verbündeten dann etwa mit Waffengewalt daran hindern könnten, frei darüber zu entscheiden, was uns vertraglich zugestanden ist.
— Doch, doch, bestimmt, Kollege Arndt.
Es kann doch durchaus sein, daß unsere Neigung, daß auch unser Sicherheitswunsch darauf hinauslaufen würde, in ein integriertes militärisches Allianzsystem mit unseren westlichen Nachbarn einschließlich der USA einzutreten, daß aber harte politische Notwendigkeiten vorhanden wären und daß sich das deutsche Volk mit seiner Gott sei Dank vorhandenen politischen Vernunft in der freien Entscheidung dann für einen Weg entscheiden würde, wie ihn das österreichische Volk trotz anderer innerer Neigung auch gegangen ist. So etwas ist doch möglich, das ist doch drin.
Ich lege nur Wert auf eine Feststellung: daß wir nach dem bestehenden Vertragssystem die Freiheit der Entscheidung im Falle der Wiedervereinigung haben.
Und wenn der Kollege von Brentano heute sogar die drei Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht hat, wobei es hinsichtlich der dritten sicher keinem im Hause ganz wohl war — erste Möglichkeit: Anschluß an den Westblock, zweite Möglichkeit: Neutralität, dritte Möglichkeit: Anschluß an den Ostblock —, dann beweist das, daß die Entscheidungsfreiheit einen Umfang annehmen würde, der dann sehr wohl nicht nur nach der einen, sondern auch nach der anderen Seite hin gegen unsere Interessen angewendet werden könnte. — Bitte sehr, Kollege Erler!
Glauben Sie, Herr Minister, daß die sowjetischen Truppen Österreich verlassen hätten, bevor die Sowjetunion wußte, welchen militärischen Status das künftige Österreich nach Abzug der Truppen haben würde?
Kollege Erler, darüber läßt sich reden. Solche Dinge gehen immer pari passu.
Das gilt auch für Abrüstung und Wiedervereinigung, das gilt auch für Sicherheit, Abrüstung und all diese Dinge!
— Wir machen Gebrauch von der Entscheidungsfreiheit, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, daß das ganze deutsche Volk von dieser Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen kann! Und auf die Stunde warten wir in gemeinsamen Bemühungen.
Oder wollen Sie eine Vorwegbindung etwa von Pankow und Bonn in holder Zusammenkunft gegenüber Moskau?
— Ich sage: Wollen Sie das? Das ist ja nicht vorstellbar!
Jetzt Idarf ich auf den dritten fundamentalen Irrtum zu sprechen kommen, der einen, wenn man dieser Debatte mit innerer Anteilnahme zuhört, doch sehr beeindruckt, nämlich die Vorstellung, daß die Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems, in dem jeder innerhalb seiner Grenzen gemütlich und zufrieden leben kann — wobei für uns noch die Frage zu regeln wäre, was das bedeuten würde —, wo also „keinem von niemandem" eine Gefahr droht, daß die Ausarbeitung, die Diskussion und die Beratung eines solchen Systems — das habe ich Ihren Worten entnehmen müssen — identisch wäre mit der Wiedervereinigung Deutschlands und identisch wäre mit der Preisgabe oder Freigabe der mittel- und osteuropäischen Völker durch Moskau, daß also gewissermaßen Moskau nur darauf wartet, daß es unserem Ingenium gelingt, ein solches System vorzuschlagen, daß die Russen also darauf brennen, sich jenseits der ostpolnischen, der ostungarischen Grenze zurückziehen zu können. Das ist doch der fundamentale Irrtum. Wir können ihnen doch ein europäisches Sicherheitssystem anbieten, welches Sie wollen, — dafür zahlen sie nichts und geben keinen Quadratmillimeter preis!
Bis jetzt war doch die Frage „europäisches Sicherheitssystem" genauso eine „Optik" wie die Frage der Abschaffung und Ächtung der Atomwaffen. Da kam das Aber hinterher. Das erste war nur das Aushängeschild. Dann kamen die Voraussetzungen, daß aber selbstverständlich dann das ganze Deutschland 'demokratisch sein müsse — wobei wir uns angesichts der schauerlichen Sprachverwirrung zwischen freiheitlichen und totalitären Begriffen nicht darüber zu unterhalten brauchen, was dort „demokratisch" heißt —, daß es friedliebend sein müsse, daß es freiheitlich sein müsse, daß es gesäubert sein müsse von Militaristen, Nazis, Faschisten, Monopolkapitalisten, Junkern usw., wie diese ganze Litanei heißt, ferner daß die Errungenschaften oder Erzwungenschaften der anderen Seite auf keinen Fall angetastet werden dürften und daß dann unter diesen Voraussetzungen Bonn und Pankow sich miteinander einigen sollten, damit ihnen Moskau seinen Segen geben würde.
Das waren doch bisher die Forderungen, die von Moskau erhoben wurden. Nachdem man das schöne Wort „europäisches Sicherheitssystem", das auch in unseren Ohren gut klingt — wir sind gar nicht so dagegen —, vorausgeschickt hatte, kamen die kleinen Details. In denen steckt bekanntlich der Teufel, wie Kollege Gülich einmal in einer Rede über die EVG gesagt hat. Dann kamen die kleinen Bedingungen, und daran liegt es, daß weder Sie noch wir jemals diese Bedingungen annehmen können, weil auch Sie zwar die Freiheit des Bestehenden vielleicht noch bis zu einem gewissen Grade riskieren würden, aber sehenden Auges und bewußten Herzens zugunsten der Unfreiheit des vereinigten Ganzen die Freiheit aufgeben, — niemals!
Dann darf ich Sie auf zwei nicht fundamentale Irrtümer, aber sagen wir mißbräuchliche Definitionen hinweisen, die sich in unserem Sprachschatz sehr verwirrend auswirken. Das betrifft die Frage der Machtblöcke. Da werden zwei Machtblöcke einander gegenübergestellt. Der eine ist die NATO, der andere ist der Warschauer Pakt. Das Zentrum des einen ist Washington, das Zentrum des anderen ist Moskau, also so wie siamesische Zwillinge: verschwindet der eine, verschwindet der andere, so ungefähr.
— Gott sei Dank! 'Höchstens über unsere Köpfe hinweg, und dann könnte unsere Politik zum Teil daran schuld sein, und zwar dann, wenn wir mit 'beiden Füßen in den Wolken laufen,
über unseren eigenen Illusionen.
Aber wenn man diese beiden Blöcke vergleicht, dann muß man doch auch einmal fragen — und das ist ja seit der Ara Stalin in der praktischen Handhabung nicht viel anders geworden —: Warum ist es überhaupt zu dem Westblock gekommen? Die NATO ist doch nur deshalb gegründet worden, weil nach Kriegsende die konzentrierte Waffenmacht der Roten Armee als die integrierte Streitmacht eines ganzen Kontinents niemals aufgehört hat, im Sinne eines Blocks zu existieren. Der Block der Sowjetmacht war immer da, und dann kam der Gegenblock der NATO, denn das Ganze mit dem Warschauer Pakt war doch nur Fassade. Wenn es den Sowjets mit der Auflösung der Militärblöcke ernst wäre, dann brauchten sie den Angehörigen ihres Militärblocks nur einen Bruchteil der Entscheidungsfreiheit zu geben, die wir in vollem Umfang von der militärischen Hegemonialmacht unseres Militärblocks haben.
Das zweite ist weniger eine Sprachunschönheit als vielmehr in diesem Falle ein Stilfehler: Ist es richtig, in diesem Hause so zu tun, als ob der ehrliche, nackte, saubere Wille zur Wiedervereinigung zwischen den demokratischen Parteien der Bundesrepublik verschieden groß sei,
daß die einen die Firma Wiedervereinigung ,gepachtet haben für alle Zwecke und daß die ande-
ren die Todfeinde dieser Firma sind und nur am Rhein ihr gemütliches Leben auf Kosten der 17 Millionen, beschützt noch von den Amerikanern, sich möglichst lange angenehm gestalten wollen?
Das ist es doch nicht!
In demselben falschen Sinne wird immer wieder das Wort „Politik der Stärke" angewendet.
— Ja, wollen Sie es mich vielleicht interpretieren lassen? Dann werden Sie wohl einen anderen Zuruf machen.
—.Ja, er gehört nicht der Bundeswehr an und untersteht deshalb nicht meiner Kommando- und Befehlsgewalt.
Nur im Geiste!
Aber was heißt „Politik der Stärke"? Politik der Stärke heißt doch im Zeitalter der Atombombe, d. h. deutlicher gesagt, der Existenz der Wasserstoffbombe auf beiden Seiten, sowohl in den Händen der Machthaber des Kremls wie auch in den Händen der USA, niemals mehr, daß man durch einen militärischen Druck mit dem Risiko des dritten Weltkrieges irgendwelche territorialen Veränderungen und dann notfalls auf dem Wege der Gewalt herbeiführen will. Politik der Stärke heißt, so stark zu sein, daß die eigene Entscheidungsfreiheit nicht durch Druck von feindlicher oder unfreundlicher Seite 'beeinflußt oder ins Gegenteil verkehrt werden kann.
Herr Minister Strauß! Erinnern Sie sich, wie es historisch war? Das Wort von der „Politik der Stärke" fiel zum erstenmal aus dem Munde des verehrten Herrn Bundeskanzlers, und zwar 10 Tage nach Überreichung der russischen Note vom 10. März 1952. Das war in dem Zusammenhang, daß der Bundeskanzler seinen Zuhörern in einer öffentlichen Versammlung mitteilte: Seht einmal, allein schon die Drohung mit der EVG hat die Russen zu solchen Zugeständnissen gebracht! Wie weit werden deren Zugeständnisse erst gehen, wenn wir die Politik der Stärke wirklich durchführen! — Das ist die historische Quelle dieses Wortes.
Das war keine Frage, Herr Abgeordneter.
Ich kann im Augenblick nicht nachprüfen, wie die zeitliche Reihenfolge liegt. Ich habe in meinen Ausführungen gesagt, daß in einem Zeitalter, in dem die Wasserstoffbombe auf beiden Seiten vorhanden ist, und das gilt nach unseren Informationen erst ab Sommer/Herbst 1953, —
— Aber wenn Sie uns heute „Politik der Stärke" vorwerfen: ob damals etwas anderes damit gemeint war, möchte ich bezweifeln.
Aber ich sagte ausdrücklich: Wo die Wasserstoffbombe auf beiden Seiten einsatzbereit vorhanden ist, kann Politik der Stärke nicht mehr heißen, militärische Ultimaten zu setzen mit dem Risiko des dritten Weltkriegs darauf, wohl aber das militärische Risiko für den anderen so groß zu machen, daß die eigene Entscheidungsfreiheit unangetastet bleibt. Das ist dabei der entscheidende Gesichtspunkt.
— Ich mußte ja jetzt die Gesichtspunkte aufgreifen, die sich auf Grund der Rede des Herrn Kollegen Erler von meinem Aufgabengebiet aus als antwortbedürftig erwiesen haben.
Darf ich noch ein Wort zu dem schemenhaften Begriff „europäisches Sicherheitssystem" sagen, der vielfach verwendet wird, ohne daß man sich klare Vorstellungen davon macht, und der vor allen Dingen von Bedingungen abhängig gemacht wird, die zum Teil höchst irreal sind.
Doch vorher darf ich noch ein Wort zur NATO sagen. Auch die NATO ist kein Selbstzweck — das habe ich hier schon einmal gesagt —, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Die NATO wäre niemals gekommen, wenn es nicht eine Angriffsdrohung der Roten Armee gegeben hätte. Die NATO ist zu einem bestimmten Zweck gegründet worden. Wenn der Zweck wegfiele, zu dem die NATO gegründet worden ist, gäbe es auch keine NATO mehr. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Wir halten doch nicht deshalb an ihr fest, weil sie ein einmal gegründeter Verein ist, sondern weil ihre Existenz eine Lebensfrage für die Erhaltung unserer Entscheidungsfreiheit ist.
Wenn man im Zusammenhang mit dem europäischen Sicherheitssystem von der Auflösung der Militärblöcke spricht, heißt das — ich möchte jetzt nicht mehr die Wertung der Frage „Militärblöcke" wiederholen — einmal, daß die Amerikaner von sämtlichen Ländern und Stützpunkten auf dem europäischen Kontinent und dem afrikanischen Kontinent in ihren amerikanischen Kontinent zurückkehren. — Drücken wir es einmal so aus, was die Auflösung der Militärblöcke im Sinne der Minimalforderung Moskaus, neben den anderen kleinen Nebenforderungen, bedeutet. — Zweitens aber bedeutet — damit wird die Sache für uns schon wesentlich schwieriger — Auflösung des Militärblocks auf der westlichen Seite auch, daß den europäischen Staaten verboten wird oder verboten werden oder unmöglich gemacht werden soll, im Frieden integrierte Streitkräfte mit einer integrierten Führung, mit integrierten Stäben, mit integriertem Luftwarn- und Luftabwehrsystem usw. zu unterhalten.
Hier kommt nun — das darf ich jetzt rein als Ressortminister sagen — die ungeheure Sache. Auch wir bejahen ein Risiko für die Wiedervereinigung, aber man muß doch einmal folgendes zum Ausdruck bringen. Ich habe hier die Punkte, die Sie genannt haben, genau notiert: deutsche Nachbarn in Ost und West, Vertragssystem für Sicherheit; Deutschland gehört ihm an! die Nachbarn West und Ost gehören ihm an; Sie sagten nicht, daß die USA ihm angehören, aber eine Garantie der beiden Großmächte; gegenseitige Verpflichtung zum Nichtangriff — eine schöne Sache, hat es schon öfter in der Welt gegeben! —;
eine Schiedsregelung; und dann eigene Leistung der Teilnehmer, so sagten Sie.
Und jetzt kommt noch die Interpretation. Was heißt „eigene Leistung der Teilnehmer"? Heißt das, daß wir in Deutschland, in unserem dann Gott sei Dank wieder 67 Millionen Menschen umfassenden Staat — das wäre ein Potential — unser Abwehrsystem entwickeln dürfen? Dann darf es auch südlich von uns Österreich und Italien — die Schweiz ist neutral —, dann Frankreich für sich, Holland, Belgien, Luxemburg für sich usw. Im Osten haben wir dann Polen, die Tschechoslowakei usw. Alle diese Staaten — es tut mir leid, es sagen zu müssen, weil ich genauso Europäer bin wie Sie
— bedeuten in ihrem heutigen Zustand und noch in einigen Jahren militärisch gesehen nichts oder beinahe nichts gegenüber den verbleibenden integrierten Streitkräften der Sowjetmacht. Das ist doch die schwierige Frage.
Die Sowjetmacht hat demgegenüber 200 Millionen Menschen, eine riesige Luftarmee und eine integrierte Führung. Uns interessiert doch heute nicht mehr — das ist ein Fortschritt auf dem Wege
— die Volkspolizei oder die polnische Armee oder die ungarische Armee, die gar nicht mehr aufgebaut werden darf. Ich möchte niemandem von denen zu nahe treten. Aber der Traum, daß die Rote Armee plus Satelliten auf der einen Seite einen unlösbaren Block bilden, und die Furcht, daß es einmal so sein könnte, ist Gott sei Dank in den Hintergrund getreten. Aber allein die Sowjetstreitkräfte — auf dem Hintergrund des 200-MillionenSowjetreiches — sind wesentlich stärker als die Streitkräfte des gesamten Resteuropas mit seinen 300 Millionen Menschen; wesentlich stärker! Es gibt in diesem System — —
— Bitte sehr!
Herr Minister, würden Sie dieser Zeichnung einige freundlichere Töne abgewinnen, wenn Sie zu dem Ergebnis kämen, daß ein im Zusammenhang mit diesen Verhandlungen zustande gekommenes Abkommen über die Begrenzung der Streitkräfte und Bewaffnung, auch der beiden Großen, das Gewicht auch der Sowjetunion gegenüber den anderen europäischen Staaten fühlbar verminderte? Denn auf dieses Verhältnis kommt es an.
Herr Kollege Erler, ich fürchte, daß das, was Sie sagen, eine Utopie ist. Ich sage nur, „ich fürchte", weil ich mich höflich ausdrücken möchte. Denn der einheitliche Staatsblock, der einheitlich diktatorisch beherrschte Wirtschaftsraum bildet — auch wenn die konventionellen Waffen vermindert werden, wenn die normalen Mannschaftsstärken wesentlich herabgesetzt werden — allein in seiner Organisationsform eine vielfache Überlegenheit gegenüber den desintegrierten, voneinander isolierten, voneinander separierten europäischen Staaten. Sie wissen doch, wie schwer es für die Westmächte war, mit ihrer erdrückenden Überlegenheit gegen Deutschland eine Koalitionskriegsführung aufzubauen. Sie brauchten Monate, bis sie das Problem militärisch gelöst hatten. Im Falle einer russischen Aggression hätten wir kaum mehr Tage zur Verfügung, um eine Koalitionskriegsführung, ein Koalitionsverteidigungssystem aufzubauen, ganz abgesehen davon, daß es dann für Europa ein Luftwarnsystem und ein Luftabwehrsystem nicht mehr gäbe.
— Darauf wollte ich gerade kommen; ich danke Ihnen für den Hinweis; aber Sie sind ja immer sehr hilfreich, Kollege Mommer. Die polnische Beistandsverpflichtung für uns, oder die tschechische oder die ungarische hätten, wenn die Sowjets angriffen, einen sehr begrenzten Wert; ich glaube, darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Wichtiger wären schon die englische, die französische — wenn sie vorbereitet ist —, die der Benelux usw. Aber jetzt zu der amerikanischen Sicherheitsgarantie. Solange die Sowjets wissen,
— das ist jetzt die von Herrn Schmidt so oft gerügte und auch schriftlich schon zensierte Rede —, daß die Überschreitung ihrer Grenze — in diesem Falle der polnischen Grenze — den Abwurf der amerikanischen Wasserstoffbombe oder die Auslösung des ganzen amerikanischen Atompotentials bedeuten würde, werden sie das sicherlich im Normalfall nicht machen; da gebe ich Ihnen recht. Aber den Amerikanern zuzumuten, daß sie mit lauter Protektoratskindern, in diesem Falle mit lauter Atomsäuglingen, Atomschützlingen — jeder ein militärisches Baby — für jeden von ihnen eine Sicherheitsgarantie tragen sollen mit dem Risiko, daß der sowjetische Atomgegenschlag dann auf sie zurückfällt — diese Rolle werden die Amerikaner in diesem Sicherheitssystem nicht lange spielen,
und mit Recht nicht lange spielen.
Wenn Sie das wiedervereinigte Deutschland und einige andere beteiligte Länder Babys genannt haben — glauben Sie nicht, daß die arabischen Staaten noch kleinere „Babys" sind? Trotzdem wollen die Vereinigten Staaten in ihrem eigenen Interesse die Garantie übernehmen, und sie meinen es sicher ernst damit.
Es liegt mir fern, etwa die militärische Großmacht eines wiedervereinigten Deutschlands als „Baby" zu bezeichnen. Aber potentiell technisch — abgesehen davon —, wir hätten nicht die Freiheit der Rüstung in diesem Falle. Wir sind gar nicht scharf darauf. Aber wir wären sicher ein Baby, Kollege Mommer, wenn die Abrüstung nach Ihren Vorstellungen auf 'die 150 000-, 200 000-Mann-Ebene — darüber
können wir uns ein andermal unterhalten — das militärische Potential Deutschlands bedeuten würde. Aber man kann doch nicht von den Amerikanern verlangen, daß sie ganz Afrika, dem ganzen Nahen und Mittleren Osten, dem ganzen Fernen Osten und nunmehr auch noch nach Zerfall des europäischen Bündnisses jedem einzelnen europäischen Staate, wenn er sich bedroht fühlt, eine Sicherheitsgarantie geben.
„Europäisches Sicherheitssystem", Kollege Erler — und mit dem muß man sich auseinandersetzen, weil es wirklich nicht leicht ist —, ich habe keine Patentlösung, und Sie haben keine Patentlösung; aber „Sicherheitssystem" heißt immer, solange die Sowjetunion mit Europa auf einem Kontinent vereinigt ist, was sie immer sein wird, daß als Gegengewicht auf der andern Seite ein Sicherheitspakt vorhanden sein muß, damit das Sicherheitsgarantiesystem einen Sinn hat. Anders geht es nicht.
— Ich glaube, daß ich mit ihm einiger bin, als er es mit Ihnen ist, Kollege Mommer!
Das sind die Probleme, Kollege Erler, die uns bei der Frage der Teilnahme Amerikas und der Garantie der USA in bezug auf dieses Sicherheitssystem bewegen. Eines möchten wir nicht: eine amerikanische Sicherheitsgarantie — ich hoffe, jetzt niemand zu beleidigen — nach dem Muster der britischen Sicherheitsgarantie für Polen Anno 39,
so daß wir, wenn dann unsertwegen ein dritter Weltkrieg angefangen und vielleicht siegreich beendet wird, wieder befreit werden. Nein, von vornherein muß das Sicherheitssystem so gestaltet sein und muß das Gleichgewicht der militärischen Kräfte so ausgewogen sein — der Westen greift ja bestimmt nicht an; das liegt Gott sei Dank nicht in seiner Mentalität —, daß es ,dem Osten de facto, will er nicht Selbstmord begehen, unmöglich gemacht ist anzugreifen. Das ist Voraussetzung dafür, daß der Begriff „europäisches Sicherheitssystem" zu einer politischen Wirklichkeit werden kann.
Und wenn Sie mich fragen: „Ja, warum denn diese Angst vor der Sowjetunion? Sie garantiert doch die Freiheit aller Völker, sie verpflichtet sich doch in dem Vertrag, sie unterschreibt ja doch, ihre Angriffsdrohung ist ja nur ein Kinderschreck!", dann allerdings, Kollege Erler, hätten Sie in einem Falle recht: wenn diesseits und jenseits der traurigen Demarkationslinie, genannt Eiserner Vorhang, bei 'den Machthabern dieselben Maßstäbe des Gewissens, dieselben Maßstäbe der sittlichen Überzeugung, dieselben Maßstäbe der Weltanschauung im Grundsatz — ich meine es jetzt nicht im parteipolitischen oder ideologischen engeren Sinne des Wortes — gelten, wenn dort in demselben Violinschlüssel gedacht wird, hüben und drüben „Treue" Treue heißt, „Frieden" Frieden heißt, „Freiheit" Freiheit heißt, „Demokratie" Demokratie heißt, wenn dort das, was man „Recht und heilig" nennt, auch Recht und heilig ist, dann wäre die Frage ganz anders zu läsen.
Was uns aus der Vergangenheit heraus hier sehr stutzig macht, warum wir auch bei einer Frage der Abschaffung der Atomwaffen, der jedermann aus moralischen Gründen mit verständlichem Interesse zustimmen muß, nicht nur sagen: Abschaffung, sondern warum man sich heute technisch kaum lösbare Sorgen um das Problem der Kontrolle macht — Abschaffung mit einer Vollzugsmeldung nach beiden Seiten wäre für uns nackter Hohn auf unsere eigene Dummheit, nichts anderes! —:
Im Jahre 1948 hat Präsident Truman — 1948 war ja immerhin noch eine Zeit, wo wir noch nicht in der NATO waren und wo das Besatzungsstatut noch fröhlich angewendet wurde — dem amerikanischen Kongreß eine Liste von 37 Fällen vorgelegt, in denen die Sowjetunion Abkommen über Deutschland, Österreich, Ost- und Südost-Europa, Korea und die Mandschurei gebrochen hatte. Von einer Militärmacht, die bei dem Kampf um Ungarn am 30. Oktober 1956 feierlich erklärt: „Da das weitere Verbleiben sowjetischer Truppen Anlaß zu noch größerer Verschärfung der Lage sein kann, hat die sowjetische Regierung ihr Militärkommando angewiesen, die Truppen aus Budapest abzuziehen", um fünf Tage später, am 4. November, im Morgengrauen den konzentrierten Panzerangriff auf Budapest einsetzen zu lassen, von einer Regierung, die in der Nacht vom 3. zum 4. November eine Delegation der Regierung Nagy unter Führung des Kriegsministers Maleter zu Verhandlungen in das sowjetische Hauptquartier in Budapest beordert hat, sechs Stunden hat warten lassen, bis der Aufmarsch vollzogen war, sie dann kurzerhand verhaftet hat und seitdem in der Versenkung hat verschwinden lassen, die am 22. November 1956 unter Zusicherung des freien Geleits Ministerpräsident Nagy aus dem jugoslawischen Asyl herausgeholt hat, dann verhaftet hat, angeblich sogar hat fesseln lassen, auf Nimmerwiedersehen nach Rumänien hat verschwinden lassen, von dieser Regierung und von einem System mit diesem ideologischen Hintergrunde eine Unterschrift als Garantie für unsere Sicherheit hinzunehmen, wäre für uns nackter Irrsinn.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Minister, wir sind uns aber wohl darüber einig, daß Sie nicht etwa der SPD unterstellen wollten, wir wollten uns mit der sowjetischen Unterschrift begnügen? Uns kam es auf die amerikanische Unterschrift an.
Herr Kollege Erler, ich würde ein sacrificium intellectus um des Applauses willen begehen, wenn ich etwas anderes sagte als nein. So wirklichkeitsfremd können nicht einmal Sie sein!
Warum wir das, was ich jetzt an historischen Vorgängen genannt habe, glauben, möchte ich abschließend noch mit zwei Zitaten aus der bolschewistischen Vergangenheit belegen, und wir sollten Zitate aus der bolschewistischen Gründerzeit nicht so leicht nehmen, wie es das Ausland bei Hitlers „Mein Kampf" getan hat, um dann von einem wesentlich Kleineren überfallen zu werden. Einen Satz aus den Lehren Lenins. Es heißt dort:
Unsere Sittlichkeit ist den Interessen des Klassenkampfes vollständig untergeordnet. Es gibt kein objektives Gut und Böse; es gibt nur eine moralische Rechtfertigung, nämlich die durch die Interessen der Weltrevolution.
Es heißt dort weiter:
Es ist notwendig, jede List, jeden Kunstgriff, jede ungesetzliche Methode, jede Ausflucht, jede Verheimlichung der Wahrheit zu gebrauchen, um den kommunistischen Zielen zu dienen.
Und der Stratege und Theoretiker des Bürgerkrieges --
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr!
Herr Minister, ich habe nur eine Frage: Halten Sie — unter der Voraussetzung Ihres militärischen Denkens —: das ganze Gerede Ihrer Freunde von der Wiedervereinigung dann nicht für eine Phraseologie?
Sie meinten das Wort „militärisches Denken" ja nicht im negativen Sinne?
Ich meine, daß der Weg zur Wiedervereinigung viel mehr Geduld, viel mehr Härte, viel mehr Einigkeit, viel mehr Geschlossenheit und — entschuldigen Sie, wenn ich es sage; ziehen Sie bitte daraus keine falschen Rückschlüsse — viel mehr potentielle Macht auf unserer Seite verlangt, nicht um Politik der Stärke zu treiben, sondern aus einem ganz einfachen Grund, und was ich jetzt sage, bitte ich als Abgeordneter sagen zu dürfen.
Während der Tage der Ungarnkrise ist von einem uns sicherlich wohlwollenden benachbarten Land der Vorschlag gemacht worden, eine Konferenz auf europäischem Boden zur Behandlung auch der europäischen Fragen durchzuführen. Teilnehmer an der Konferenz: USA, Sowjetunion, Indien, England und Frankreich. Von den drei Teilnehnehmern zwei Teilnehmer einwandfrei europäische Mächte; die USA stark in Europa engagiert, aber keine europäische Macht ihrer Herkunft nach. Sowjetunion, Europa und Asien; Indien sicherlich eine große Potenz, eine asiatische Macht mit weltweiter Bedeutung. Aber — und das ist das, was uns bedrücken muß — man kann eine Konferenz
— Wollen Sie Ihre Frage unbedingt loswerden?
Erinnern Sie sich, daß es unserem Nachbarstaat Österreich gelungen ist, an diesen Verhandlungstisch zu kommen, ohne alles das zu tun? Herr Minister, glauben Sie, daß in dieser Atmosphäre die Sie schaffen wollen, die Sowjetunion dazu zu bewegen ist, das zu tun, was Sie wollen, nämlich sich aus einem Gebiet zurückzuziehen, in dem sie' ist, oder glauben Sie nicht, daß wir eher etwas aus dem Fall Rückgliederung — ich sage nicht: Saar — einiger Dörfer an der belgischen Grenze lernen könnten, daß man nur dann etwas freibekommt, wenn man mit dem anderen viel weniger diese harte Sprache als eine Sprache des Interessenausgleichs spricht?
Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal an mein Stichwort „Violinschlüssel" erinnern. Sowohl bei den Verhandlungen um die Saar wie bei den Verhandlungen um den Streifen an der belgischen Grenze handelte es sich bei aller Schärfe der nationalen Gegensätze, bei aller Verhärtung der Gemüter und bei aller Leidenschaft letzten Endes doch um Menschen, die denselben Violinschlüssel im Herzen hatten. Wenn das drüben auch der Fall wäre, wäre die Frage kein Problem.
Aber ich nehme Ihnen zuviel Zeit weg.
Die Voraussetzungen für Österreich lagen doch ganz anders. Es waren keine zwei „Österreicher" da.
— Da gab's verschiedene Violinschlüssel: aber da lagen die historischen und geschichtlichen Voraussetzungen ganz anders. Ich könnte darauf antworten. Ich bitte Sie, es Ihnen und mir zu ersparen.
Ich wollte als zweites Zitat ein Wort des Bürgerkriegstheoretikers, des Bürgerkriegsmeisters, des Altkommunisten Manuilsky aus dem Jahre 1931 zitieren:
Kampf bis aufs Messer zwischen Kommunismus und Kapitalismus ist unvermeidlich. Heute sind wir natürlich nicht in der Lage und stark genug, um anzugreifen. Unsere Zeit wird in zwanzig oder dreißig Jahren kommen. Um die Bourgeoisie einzuschläfern, werden wir die ein-
drucksvollste Friedensbewegung der Welt starten. Es wird sensationelle Angebote und Zugeständnisse geben. Die kapitalistischen Länder, stupid und dekadent wie sie sind, werden freudig an ihrer eigenen Vernichtung mitarbeiten. Sie werden jede Chance wahrnehmen wollen, um unsere Freunde zu werden. Sobald sie ihre Wachsamkeit verloren haben, werden wir sie mit unserer geballten Faust vernichten.
Daß hier zwischen Theorie und Ausführung in der Zwischenzeit viel Wasser die Donau hinuntergeflossen ist, darüber sind wir uns auch klar. Daß aber diese Mentalität latent und in der Potenz vorhanden ist, darüber gibt es hoffentlich für Sie und gibt es auch für uns nicht den geringsten Zweifel.
Wenn Sie deshalb uns mahnen, wir sollten von der Sowjetunion keine Kapitulation verlangen, dann ist darauf zu sagen, wir verlangen von ihr nichts anderes als das normale Verhalten eines jeden Volkes und eines jeden Staates, das einer großen Macht viel leichterfällt als einer kleinen Macht, den anderen die Freiheit zu lassen; sie braucht vor niemand zu kapitulieren. Die Sowjetrussen sollen begreifen, daß die Freundschaft mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei und die Freundschaft mit uns für sie viel mehr wert ist als die Kampfkraft der Roten Armee und das Atompotential, das dahintersteht. Das sollen sie begreifen, das ist doch der Weg, der zu gehen ist. Aber dafür bei den Freunden unentbehrlich und bei denen, die heute noch nicht diese Sprache sprechen, respektabel zu sein in dem, über was man zu verfügen hat, das ist der einzig reale Weg, auf dem wir an den Konferenztisch und dann, so Gott will, zur Wiedervereinigung kommen wollen.
Eines, Kollege Erler, bitte ich Sie als alten Europäer, nicht zu sagen. Sie würden auch nicht, wenn preußische Truppen in Bayern stationiert wären, von fremden Truppen sprechen.
Sie als alter Europäer sollten einsehen, daß, wenn englische und französiche Truppen — amerikanische Truppen brauchen wir zwar noch dringender — auf deutschem Boden stehen und Einheiten von uns auf ihrem Boden, das dann Freunde ein und desselben Kontinents, ein und desselben geistigen und hoffentlich bald auch staatlichen Vaterlandes sind.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte es für notwendig, noch auf einige der Ausführungen des Herrn Kollegen Erler einzugehen. Ich will nicht, Herr Kollege Erler, auf die massiven Unfreundlichkeiten eingehen, mit denen Ihre Rede reichlich versehen war. Aber ich halte es einfach nicht für möglich, daß wir die unrichtige Darstellung des Herrn Kollegen Erler unwidersprochen lassen.
Er hat eine Darstellung der Genfer Konferenz
gegeben, die objektiv unrichtig ist. Er hat eine
Darstellung gegeben, von der ich nur sagen kann, sie klang ungefähr so, als sei es die politische Pflicht und das moralische Recht der Sowjetunion gewesen, die unannehmbaren Vorschläge der Alliierten abzulehnen.
So war es nicht, meine Damen und Herren. — Es ist genau gesagt worden: Diese Vorschläge bedeuteten doch letztlich — das hat Herr Kollege Erler ausgeführt — die Beibehaltung der NATO-Mitgliedschaft für das wiedervereinigte Deutschland, und das ist doch für die Sowjetunion unannehmbar.
Auf den Zwischenruf, daß Garantien gegeben werden sollten, antwortete Herr Kollege Erler: Nun ja, aber die gelten ja nicht gleichermaßen für alle Fälle.
Darf ich an folgendes erinnern, meine Damen und Herren — ich bin es auch den drei Alliierten schuldig, die weiß Gott auf beiden Genfer Konferenzen das deutsche Anliegen mit einer Eindringlichkeit, mit einer Sorgfalt und mit einer Hingabe vertreten haben, daß man sie heute nicht dafür schelten, sondern ihnen auch heute noch dafür danken soll —:
Für den Fall der Wiedervereinigung lautete der Vorschlag — und es ist nicht ganz uninteressant, daß er sich recht weitgehend mit den Vorschlägen deckt, die Herr Kollege Erler gemacht hat —: Verzicht auf Anwendung von Gewalt, Versagung einer Unterstützung für den Angreifer, Begrenzung von Streitkräften und Rüstungen, Inspektion und Kontrolle, besonderes Warnsystem, Konsultation, individuelle und kollektive Selbstverteidigung, Verpflichtung, gegen einen jeden Angriff einzuschreiten. Und die Antwort der Sowjetunion war: Nein!
Darum ist es auch nicht so, wie es der Herr Kollege Erler darstellt — ,und ich widerspreche dieser Darstellung, weil sie einfach zu simpel ist —, es gebe eine russische Hypothek: die Russen wollten aus uns Kommunisten machen, und es gebe eine westliche Hypothek: die anderen wollten uns in die NATO pressen. — So sind die Dinge nicht. Darf ich daran erinnern, daß auf der Berliner Konferenz der französische Außenminister Bidault dem russischen Verhandlungspartner, Herrn Molotow, die klare Frage gestellt hat: „Werdet ihr die deutsche Wiedervereinigung konzedieren, wenn Deutschland aus der EVG austritt?" Die Antwort lautete: „Nein". Darf ich daran erinnern, daß nach der Ablehnung aller dieser Vorschläge die Sowjetunion nicht einmal, sondern zu wiederholten Malen sagte: „Freie Wahlen werden wir nicht zulassen."
Freie Wahlen wurden ja als eine undemokratische Methode bezeichnet. Darf ich daran erinnern, daß die Sowjetunion wiederholt erklärt hat: „Der Weg zur Wiedervereinigung führt nur über die Verhandlungen zwischen Bonn und Pankow", daß die Sowjetunion wiederholt erklärt hat: „Die sozialen Errungenschaften müssen nicht nur in der DDR beibehalten, sondern auf das wiedervereinigte Deutschland ausgedehnt werden." Meine Damen und Herren, haben Sie vergessen, was Herr Chruschtschow dem französischen Ministerpräsidenten Guy Mollet und dem französischen Außenminister Pineau auf die Frage antwortete: „Werdet ihr die Wiedervereinigung zulassen, wenn Deutschland
neutralisiert wird"? Die Antwort lautete: „Nein, auch dann nicht. Dann muß Deutschland in unserem Machtbereich sein."
Deswegen ist es eine Darstellung, von der ich bloß sagen kann: Ich bedauere, daß sie in dieser Weise hier vorgetragen wird. Ich widerspreche ihr, weil es eine objektive Unwahrheit ist, die Herr Kollege Erler hier vertreten wollte. Er wollte darlegen, daß Deutschland und seine Verbündeten es an der nötigen Sorgfalt in der Wahrung der deutschen Interessen hätten fehlen lassen. Er wollte darlegen und er hat gesagt: Die deutsche Bundesregierung hat nichts getan, weil sie nichts tun wollte, und sie wird nichts tun, weil sie nichts tun will. Meine Damen und Herren, das ist eine objektive, ja sogar eine subjektive Unwahrheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gille.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Sie in so vorgerückter Stunde um einige Minuten Aufmerksamkeit bitte, so tue ich das, weil ich etwas vorzutragen habe, was nach meiner Auffassung im Rahmen der heutigen Debatte nicht unausgesprochen bleiben darf. Ich hatte gehofft, wesentlich früher an die Reihe zu kommen, und ich bin mir auch durchaus bewußt, daß die sehr interessanten Ausführungen der letzten Stunden es mir nicht leicht machen werden, Ihre Aufmerksamkeit zu finden. Es handelt sich um einige wenige kurze Bemerkungen.
Ich möchte auf eine Frage zurückkommen, die heute nicht im Kern der Auseinandersetzungen gestanden hat, die aber berührt worden ist, auf die Frage der deutschen Ostgebiete. Es hat bis etwa von einem Jahr ein stillschweigendes Abkommen zwischen dem Deutschen Bundestag, der deutschen Bundesregierung und, ich möchte sagen, der deutschen Öffentlichkeit gegolten, die Probleme der Wiedervereinigung und die Probleme der Oder-Neiße-Linie als nur in zwei Phasen lösbar anzusehen. Seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres ist aus Gründen, die ich nicht im einzelnen untersuchen möchte, von dieser sehr verständigen Übung abgewichen worden. Ich bitte, mir zu glauben, daß Millionen Heimatvertriebene in der Bundesrepublik hierdurch aufs tiefste beunruhigt und besorgt sind.
Es handelt sich um Vorgänge im außerparlamentarischen Raum. Ich würde heute nicht zu Ihnen gesprochen haben, wenn nicht ein ganz akuter, besonders besorgniserregender Anlaß dazu vorhanden wäre. Es handelt sich um die Äußerungen des gegenwärtigen Präsidenten des Deutschen Bundesrats, dem Regierenden Bürgermeister der Stadt Hamburg, Dr. Sieveking.
— Ich habe die Erklärungen der Bundesregierung, die der Herr Außenminister uns bekanntgegeben hat, nicht überhört. Ich habe auch die Äußerung, die Herr Dr. Kiesinger dazu abgegeben hat, nicht überhört. Aber gerade 'die Tatsache, daß Sie, meine Damen und Herren, auf die Worte meines Fraktionsfreundes Feller bisher auch nicht die geringste
Resonanz haben erkennen lassen, veranlaßt mich doch, noch einige mahnende Worte zu sagen.
Ich leite die Legitimation dazu weniger aus meiner Eigenschaft als Vertriebener her. Die Frage der deutschen Ostgebiete ist eine deutsche Frage, und der Verlust der Ostgebiete hat nicht nur die Vertriebenen, sondern — so meinen wir, und wir hoffen, daß die Mehrheit unseres Volkes so denkt — Deutschland getroffen.
Deshalb glaube ich, hierzu noch etwas sagen zu sollen.
Es ist ein Glücksfall. daß die Äußerungen des Herrn Sieveking im Wortlaut unbestreitbar vorliegen. Ich teile deshalb nicht die Auffassung des Herrn Außenministers, daß das merkwürdige Dementi, das uns heute auf den Tisch flatterte, die Angelegenheit bereinigt habe. Dieser Wortlaut ist iederzeit nachprüfbar. Ich möchte es mir wegen der vorgerückten Stunde versagen, irgend etwas daraus vorzulesen. Aber bitte. nehmen Sie — Sie haben die Möglichkeit der Nachprüfung — das eine entgegen: Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Herr Sieveking allen Äußerungen der Verzichtspolitiker die Krone aufgesetzt hat. Er kann es nicht bestreiten. daß er in Äußerungen vor dem Verein auswärtige Presse es als möglich hingestellt hat, daß, ohne daß die Existenz Deutschlands :gefährdet würde, nicht nur eine, sondern mehrere preußische Provinzen hingegeben werden.
Ich habe mich darüber gefreut, daß der Herr Außenminister nicht von dem Privatmann gesprochen hat, sondern daß er nicht übersehen hat. daß dieser Privatmann mit dem Präsidenten des Deutschen Bundesrates identisch ist.
Heute hat Herr Dr. Schäfer in einem ganz anderen Zusammenhang ein Wort gesprochen, das ich mir zu eigen machen möchte. Er hat gesagt, wir sollten alle Wert darauf legen, daß kein Zweifel an der Entschiedenheit geweckt wird, mit der wir unseren gemeinsamen Willen schon oft ausgedrückt haben. Es kann doch kein Zweifel darüber sein, daß der Deutsche Bundestag in all seinen Parteien mehrfach in feierlichster Form zu den Rechtsansprüchen der Vertriebenen, zu den Rechtsansprüchen Deutschlands auf seine Ostgebiete sich eindeutig festgelegt hat. Wenn wir nun im Laufe der letzten sechs Monate erlebt haben, daß im außerparlamentarischen Raum nicht irgendwer, sondern sehr prominente Sprecher von Parteien und sogar der Herr Präsident des Deutschen Bundesrates von diesen feierlichen Erklärungen .abgerückt sind und Äußerungen getan haben, die in ihrer Verantwortungslosigkeit nicht zu übersehen sind, dann sollte das im Rahmen einer .außenpolitischen Debatte einmal deutlich zum Ausdruck kommen.
Es sind heute für das Ohr der Vertriebenen auch manche guten Worte gesprochen worden; das will ich gern zugeben. Aber wollen Sie es den Vertriebenen verübeln, wenn sie langsam an der Glaubwürdigkeit .auch feierlicher Erklärungen zu zweifeln beginnen, falls wir nicht Mittel und Wege finden, diesem Unfug zu steuern, der sich im Laufe der letzten sechs Monate im außerparlamentarischen Raum ergeben hat? Ich möchte meinen, daß alle Parteien, die sich in ihrem Bereich mit derartigen Meinungen auseinanderzusetzen haben, es nicht dabei bewenden lassen sollten, zu erklären, hier handle es sich um eine Privatmeinung. Meine
Herren von der CDU, ich sehe die Situation wohl nicht falsch, wenn ich glaube, daß die Äußerungen Ihres Parteifreundes Dr. Sieveking, ab Sie sie billigen oder nicht, noch lange an Ihren Rockschößen hängen bleiben werden, wenn Sie nicht deutlicher, als das bisher geschehen ist, von ihnen abrücken.
Es geht um einen Vertrauensfundus, den die deutsche Bundesrepublik in den Monaten und Jahren, die vor uns stehen, noch dringend brauchen wird. Die Vertriebenen haben den Eindruck, daß ihr maßvolles Verhalten, ihre positive Einstellung zu dem Aufbau dieses Staates schlecht belohnt werden, wenn in diesen ihren Fragen — um die sie sich nicht um ihrer selbst willen, sondern auch um Deutschlands willen bemühen — der Deutsche Bundestag gegenüber solchen Erscheinungen nicht deutlicher abrückt, als es bisher geschehen ist. Ich glaube, daß der Fall Sieveking auch mit diesen Erklärungen noch nicht seinen Abschluß gefunden haben wird, sondern daß hier für alle, ohne Unterschied der Parteien, eine Frage bestehenbleibt, die anders gelöst werden muß als mit Dementis und bedauerlichen Erklärungen hier in diesem Hause.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Mellies.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eins zur Klarstellung. Ich stehe hier nicht wegen der dramatisierten Aufforderung des Herrn Kiesinger von heute morgen, sondern stehe hier, weil ich nach den Vereinbarungen in der sozialdemokratischen Fraktion für die Debatte vorgesehen war. Ich möchte gleich mit allem Nachdruck sagen: Wer hier von der sozialdemokratischen Fraktion und für die sozialdemokratische Fraktion spricht, das wird von der Fraktion bestimmt, und wir lassen uns durch niemand auffordern oder drängen, daß bestimmte Personen hier ans Rednerpult kommen und reden sollen.
Herr Kiesinger hat auf die Verlautbarung Bezug genommen, die ich unter dem 23. November herausgegeben habe. Er hat nachher gesagt, eigentlich habe er diese Sache nicht bringen wollen, und ich glaube, damit hat er die ganze dramatische Darstellung schon von vornherein entwertet; denn wenn sie wirklich so entscheidend und wichtig gewesen wäre, hätte er letzten Endes nicht darauf verzichten können. Aber wahrscheinlich paßt es gerade sehr gut, Herr Kiesinger, in diesen Rahmen mit dem 'Blick auf den Bildschirm, und man hat sich gesagt, das werde draußen eine ausgezeichnete Wirkung haben.
Meine Damen und Herren, diese Äußerung habe ich als Antwort auf ein Kommuniqué getan, das über die Tagung des CDU-Vorstandes herausgekommen war. In diesem Kommuniqué 'ist, wenn ich das mit nüchternen Worten einmal feststellen darf, ausgeführt worden, daß sich an der ganzen Politik ja gar nichts zu ändern brauchte, daß sie voll bestätigt sei, daß auch hinsichtlich der Militärpakte eine Änderung nicht eingetreten sei. Nun kann aber doch nicht übersehen werden, daß in jenen Novembertagen die Brüchigkeit der Militärpakte klar und deutlich geworden war. Ich will wegen der vorgerückten Stunde darauf verzichten, das im einzelnen darzulegen. Aber es ist bei Ihnen, Herr Kiesinger, heute auch angeklungen, daß die NATO einen Schaden erlitten hat, der noch nicht wieder voll beseitigt ist. Gar nicht zu reden von der Tatsache, daß die kleineren Staaten, die dem Warschauer Pakt angehören, doch praktisch nicht mehr einem Pakt angehören, der voraussetzt, daß man Vertrauen zueinander hat, sondern sie sind doch lediglich Mitglieder aus Furcht und Zittern, wenn ich so sagen darf.
In diesem Zusammenhang habe ich das Wort gebraucht, daß derjenige, der die Dinge so darstellt, als wenn man diese Politik der brüchig gewordenen Militärpakte unverändert weitertreiben könne, ein Frevler an der Sicherheit des deutschen Volkes sei. Denn es kommt darauf an, Herr Kiesinger, daß in einer solchen Situation klar und deutlich ausgesprochen wird, wie die Dinge stehen.
Nun ein paar Bemerkungen zu einigen anderen Fragen. Ich habe keinen Zettelkasten mitgebracht. Aber ich muß Ihnen zunächst einmal ein Zitat verlesen. Es heißt:
Wenn die Sowietunion als Folge der Wiedervereinigung Deutschlands Beeinträchtigungen ihrer Sicherheit erwarten sollte, so sind wir durchaus bereit, das Unsrige dazu zu tun, an einem auch diese Besorgnis ausräumenden Sicherheitssystem mitzuarbeiten. Es erscheint mir wichtig, gleichzeitig mit den Beratungen, wie die Einheit Deutschlands wiederhergestellt wird, das Sicherheitssystem für Europa zu überlegen.
Meine Damen und Herren, das sagte nicht etwa ein Vertreter der Opposition, sondern das sagte der Herr Bundeskanzler am 9. September 1955 in Moskau. Ich möchte besonders auf den letzten Satz hinweisen, aus dem doch wohl hervorgeht, Herr Kiesinger, daß es der Herr Bundeskanzler auch für notwendig hielt, daß der militärische Status eines wiedervereinigten Deutschlands vorher geklärt würde. Denn sonst wäre diese Formulierung ja nicht zu erklären.
Nun, meine Damen und Herren, muß ich Ihnen leider — ich kann Ihnen das trotz der vorgerückten Stunde nicht ersparen — noch vorlesen, was die Bundesregierung in ihrem Memorandum, das sie nach Moskau geschickt hat, über das Sicherheitssystem gesagt hat. Sie ist ja auch dort konkret geworden. aber was sie konkret gesagt hat, ist doch aus den Debatten genommen, die in diesem Hause stattgefunden haben. Das ist im wesentlichen das, was die Redner der sozialdemokratischen Fraktion — Ollenhauer, Carlo Schmid, Wehner, Arndt, Erler, Mommer und wie sie sonst heißen mögen — zu dieser ganzen Frage beigetragen haben. Man hat sich heute hier hingestellt und so getan, als wenn man überhaupt keine Ahnung hätte, wie ein solches Sicherheitssystem wohl etwa aussehen könnte. Herr von Merkatz hat gesagt, das 'Studium dieses Memorandums sei eine außerordentlich schwierige Sache; es dauere 15 Stunden. Ich kann mir vorstellen, daß mancher vor diesen 15 Stunden zurückgeschreckt ist; aber ich habe auch bei Herrn von Merkatz den Eindruck gewonnen, daß er trotz dieses 15stündigen Studiums mindestens das, was über das kollektive Sicherheitssystem gesagt wird, nicht verstanden hat. Oder er hat es inzwischen vergessen und versucht jetzt eine neue Darstellung.
Meine Damen und Herren, in diesem Memorandum ist über das kollektive Sicherheitssystem ausgeführt:
Die Bundesregierung befürwortet ein europäisches Sicherheitssystem, das von einem feierlichen Verzicht aller Mitglieder ausgeht, in
ihren gegenseitigen Beziehungen Gewalt zur Lösung politischer Fragen anzuwenden. Im Rahmen eines solchen Sicherheitssystems sollte sich jeder Mitgliedstaat verpflichten, einem Angreifer jegliche Unterstützung zu verweigern. Die Bundesregierung steht diesem Gedanken grundsätzlich positiv gegenüber. Sie wird sich auch anderen geeigneten Vorschlägen für Elemente eines Sicherheitssystems nicht verschließen. So befürwortet sie auch eine gegenseitige Beistandsverpflichtung aller Mitglieder eines europäischen 'Sicherheitsvertrags für den Fall eines bewaffneten Angriffs in Europa durch ein NATO-Mitglied auf einen nicht der NATO angehörenden Staat und umgekehrt. Soweit es Befürchtungen für ihre eigene Sicherheit sein sollten, welche die Sowjetunion veranlassen, ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands zu verweigern, steht nichts im Wege, die bisherigen Überlegungen erneut auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen.
Angesichts dieser ausführlichen Darlegungen der Bundesregierung in ihrem Memorandum haben hier heute eine Reihe von Rednern gefragt: Wie soll denn das aussehen? Der Herr Minister Strauß redete von schemenhaften Vorstellungen. Es ist gesagt worden: das ist ein illusionäres System, das ist eine nebelhafte Vorstellung. Ja, es ist sogar gesagt worden, das sei ein gefährlicher Vorschlag. Aber, meine Damen und Herren, ein solcher Vorschlag ist hier doch von der Bundesregierung gemacht worden.
Der Bundesaußenminister — er ist im Augenblick anscheinend nicht im Saale — und die Koalitionsparteien haben heute doch den ganzen Tag versucht, dieses kollektive Sicherheitssystem, um es mit einem Wort zu sagen, madig zu machen. Wenn das, Herr Minister, Ihre Auffassung ist, sollten Sie im Interesse der Glaubwürdigkeit und des Ansehens der deutschen Politik einen solchen Vorschlag, wie Sie ihn 'hier gemacht haben, zurückziehen. Die heutige Debatte wird dazu führen, die Ernsthaftigkeit der Vorschläge der Bundesregierung in diesem Memorandum an die Sowjetregierung in großen Zweifel zu ziehen.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem Problem der Sicherheit in dem System der kollektiven Sicherheit sagen. Ich glaube, Herr Minister Strauß, auch bei Ihren Überlegungen müßte das mehr berücksichtigt werden. Man kann drei Dinge nicht übersehen, erstens einmal die Tatsache, daß mit der Schaffung eines solchen Sicherheitssystems eine ungeheure Entspannung nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt einträte, und das wäre doch schon eine wesentliche Vergrößerung der Sicherheit. Die Unsicherheit beruht doch darauf, daß heute so starke Spannungen in der Welt vorhanden sind. Die zweite Tatsache ist folgende. Darüber ist viel gesprochen worden. Sie haben eben, Herr Minister, Ihre Zweifel angemeldet, daß eine vernünftige Lösung gefunden werden könnte. Sie muß aber gefunden werden, wenn man nicht überhaupt das 'Sicherheitssystem ablehnen will, bei dem mit dem Beitrag der einzelnen Nationen die zur Sicherung notwendigen Kräfte einzusetzen sind. Und wenn dann drittens, wie es Herr Erler ausgeführt hat, mit der Garantie der beiden großen Mächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, praktisch deren Blockierung erfolgt, wird die Sicherheit ganz erheblich größer sein als gegenwärtig. Und nur mit einer solchen Lösung wird —
das ist ja doch auch in der Debatte heute zum sehr
großen Teil von Ihnen anerkannt worden — die
Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen sein.
Ich muß nun noch ein paar Worte zu Ihnen sagen, Herr Lenz. Man soll ja sein Licht nicht unter einen Scheffel stellen. Aber, Herr Lenz, man soll auch seine Intelligenz nicht unter einen Scheffel stellen. Es hat mir wirklich leid getan, daß Sie aus Ihrem Zettelkasten heute die Fragen herauszogen und versuchten, nun so einen Gegensatz etwa zwischen der Auffassung von Herrn Ollenhauer und meiner Auffassung zu konstruieren, obwohl Sie doch ganz genau wissen, verehrter Herr Kollege Lenz, wie der Ablauf der Dinge sein wird.
Wir haben festgestellt — und das ist das, was ja immer wieder am Anfang gestanden hat —: Wir werden keine Verträge zerreißen; wir werden versuchen, durch Verhandlungen, durch sehr nachdrückliche Verhandlungen eine Änderung der Verträge zu erreichen. Aber wenn man das auf dem Verhandlungswege erreichen will, dann kann man das natürlich nur durch eine Vereinbarung aller Teilnehmer erreichen. 'Eine solche Vereinbarung würde doch nur erreicht werden können, wenn die bisherigen Partner wüßten, daß ihre Sicherheit durch eine solche neue Lösung nicht beeinträchtigt wird. Das heißt, praktisch könnte doch das neue Sicherheitssystem und damit das Ausscheiden der Bundesrepublik aus der NATO nur mit Zustimmung der Partner erreicht werden. Ich glaube, das ist so einfach und so klar, daß Sie nicht lange philosophische Betrachtungen darüber anstellen sollten, wie nun wohl die Äußerung von Herrn Ollenhauer oder die Äußerung von mir zu werten ist. Wie gesagt, Sie wissen es ja auch ganz genau.
— Ja, ja, eben, das hoffe ich, daß Sie es tun, Herr Lenz. Aber ebenso sollten Sie auf Grund dieses Ablaufs der Dinge ganz genau wissen, wie das gemeint ist und daß man nicht dadurch, daß man die eine oder die andere Äußerung herauspickt oder die eine und die andere Äußerung nebeneinander-stellt, versuchen darf, hier Mißverständnisse, Schwierigkeiten oder Unstimmigkeiten zu konstruieren, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind.
Meine Damen und Herren, nach der langen und ausführlichen Debatte, die heute gewesen ist, möchte ich mich auf diese kurzen Bemerkungen beschränken. Aber 'ich glaube, die Debatte des heutigen Tages hat gezeigt, daß alle Überlegungen und alle Prüfungen letzten Endes doch darin münden: die Wiedervereinigung Deutschlands wird nicht zu erreichen sein, wenn man nicht zu neuen Lösungen kommt. Wenn wir diesen Weg gehen sollen und wollen, dann sollten wir uns alle der großen Aufgabe unterziehen und dafür sorgen, daß hier Lösungen gefunden werden, die eine wirkliche Sicherheit in Europa verbürgen, die aber gleichzeitig auch die Wiedervereinigung Deutschlands bringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Arndt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur noch einige Worte meinerseits, wie ich hoffe, zum Abschluß. Aber wenn Sie eine Fortsetzung der Debatte wünschen, so wird meine
Fraktion bereit sein, sie so lange zu führen, wie auch Sie sie zu führen gedenken.
Die Behauptungen des Herrn Bundesministers des Außeren, daß mein Freund Fritz Erler die Vorgänge auf den letzten Konferenzen nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv falsch dargestellt habe, muß ich mit aller Eindeutigkeit zurückweisen.
Sie sind nicht nur subjektiv, sondern nach meiner Überzeugung — und die Dokumente können vorgelegt werden — auch objektiv richtig. Wenn das bestritten wird, müßten wir uns hier erst als historischer Untersuchungsausschuß einsetzen, um das zu klären.
Aber noch ein anderes. Auch die verkürzte Darstellung, die der Herr Bundesaußenminister von der Berliner Konferenz gegeben hat, kann von uns nicht als richtig anerkannt werden. Wir wissen ja alle, wie unglücklich der Verlauf der Berliner Konferenz war, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil man dort vom Westen her sehr unvorbereitet in die Verhandlungen hineingegangen ist. Die Gespräche, die zwischen Herrn Bidault und Herrn Molotow stattgefunden haben sollen, die aber von den verschiedenen Seiten sehr verschieden dargestellt werden und die auch gar nicht zu den Dokumenten gehören, die teilweise überhaupt bestritten werden, sind ja nun wirklich kein historischer Beweis. Was wir heute ganz klar sehen und worüber auch schon damals niemand im ungewissen sein durfte, ist doch die einfache Lage in Berlin, daß beide Seiten der Verhandlungspartner eben gerne das ganze Deutschland gehabt hätten und daß sie damit nicht zu Rande kommen konnten. Es gibt aber ungefähr aus der Zeit der Berliner Konferenz eine Äußerung eines maßgebenden Politikers der Christlich-Demokratischen Union über die Gefahren eines Vertragsabschlusses mit dem Westen. Damals ging ja der Streit darum, ob die Sowjetunion vor oder nach einem Vertragsabschluß verhandlungsbereiter sein würde; ein Streit, der bis zum heutigen Tage dauert. Immer ist von der Bundesregierung gesagt worden — und das klang auch heute noch aus dem, was Herr Bundesminister Strauß ,gesagt hat; darauf komme ich noch —, nach Vertragsabschlüssen und nach Wiederbewaffnung werde die Sowjetunion verhandlungsbereiter sein, während die Sowjetunion — das mag uns unangenehm sein, mir ist es sehr unangenehm, sie ist überhaupt kein angenehmer Nachbar — immer gesagt hat: Wenn ihr solche Abschlüsse macht, wird meine Verhandlungsbereitschaft sinken.
Nun, am 20. April 1952 hat dieser, wie gesagt, maßgebliche Politiker der Christlich-Demokratischen Union sich dazu geäußert, und zwar in einem Sinne, der in diesem Zusammenhang doch immerhin bemerkenswert ist. Er hat folgendes gesagt:
Ich bin mir klar, daß in dem Abschluß der Verhandlungen mit dem Westen für eine europäische Verteidigung eine absolute Gefahr liegen kann, daß dadurch ein Faktum geschaffen wird, das unter Umständen die Verhandlungsbereitschaft der Russen, wenn sie ernst ist, auf ein Minimum reduzieren wird, weil dadurch, daß das Faktum geschaffen ist, ein Interesse an solchen Verhandlungen nicht mehr besteht.
Meine Damen und Herren, ich habe hier aus der
Rede zitiert, die ich selber gehört habe und die
nach Tonband mit Wissen des Sprechers übertragen ist. Es ist das Referat des Herrn Abgeordneten Dr. Heinrich von Brentano vor der Deutsch-Englischen Gesellschaft.
Also das wußte man vor dem Abschluß und hätte es wissen müssen, daß derartige Bindungen militärischer Art die Verhandlungsbereitschaft auf der östlichen Seite verringern und die Gefahr der deutschen Spaltung vertiefen. Alles aber, was zur Aufrechterhaltung, zur Verschärfung, zur Vertiefung der deutschen Spaltung beiträgt, ist auch eine Gefährdung der Sicherheit. Denn das, worüber Sie in Ihren Reden immer hinweggehen, worüber auch Herr Bundesminister Strauß 'in seinen sonst durchaus recht bemerkenswerten und interessanten Ausführungen hinweggegangen ist, ist das, was mein Freund Erler mit so unsäglicher Geduld klarzumachen versucht hat: der Zusammenhang von Abrüstung mit Sicherheit und Wiedervereinigung. Sie glauben immer, Sie könnten das Wiedervereinigungsproblem vom Sicherheitsproblem lösen und Sie könnten hier eine isolierte Sicherheit für Westdeutschland schaffen. Das ist der Punkt, wo wir auseinander sind.
Nun, meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, dieser Debatte heute mit Aufmerksamkeit zu folgen. Es besteht hier im Hause leider so wenig Neigung, auf den andern zu hören. Darum habe ich wirklich gespannt gewartet, was nun seitens der Bundesregierung, seitens der Abgeordneten der Koalition über den Weg und über die Aussichten zur Wiedervereinigung gesagt würde. Ich muß sagen: ich bin von dieser Ausbeute außerordentlich erschüttert.
Ich habe mir aus der Rede des Herrn Kiesinger vermerkt: Wiedervereinigung darf nicht sein ohne Sicherheit. — Völlig einig! Aber lesen Sie Ihre Rede von heute morgen nach, Herr Kiesinger! Sicherheit heißt bis auf weiteres, auf nicht absehbare Zeit, nur NATO. Infolgedessen kann auch die gesamtdeutsche Sicherheit nur durch die NATO gewährleistet sein. Aber Sie wissen genauso wie wir, daß das nicht erreichbar ist, und wenn wir es noch so wünschten. Dann aber kommt Ihre Auffassung darauf hinaus, daß es in unseren Tagen auf absehbare Zeit — ich will mich hier vorsichtig ausdrücken — um die Wiedervereinigung sehr schlecht bestellt Ist. Das habe ich auch dem Zwischenruf des Herrn Stücklen entnommen, der auf die sehr präzise gestellte Frage meines Freundes Fritz Erler, ob denn in der CDU angenommen werde, daß von der Sowjetunion gar keine andere Einheit als die durch ein kommunistisches Deutschland erreichbar sei, antwortete: Jawohl! — Meine Damen und Herren, sind Sie sich darüber klar, daß das der Offenbarungseid jedweder Wiedervereinigungspolitik ist und nichts anderes?
Dann kam Herr Lenz und sagte etwas was eigentlich noch beunruhigender ist als die Äußerung von Herrn Stücklen. — Übrigens sehr bemerkenswert, wie die einzelnen Sprecher sehr verschiedene Antworten geben! Die von Herrn Strauß weicht ab von Herrn Lenz. Herr Lenz weicht ab von Herrn Stücklen, Herr Stücklen weicht ab von Herrn Kiesinger. Das ist Ihre ..klare Linie"! — Herr Lenz sagte, die Änderung der Machtverhält-
nisse in Europa, von der er gesprochen habe und die erst die Wiedervereinigung erreichbar machen würde, sei eine Änderung im Bereich der östlichen „Satelliten". Nun, es kann keinen Zweifel geben, daß jeder demokratische Politiker und jedes Mitglied dieses Hauses von ganzem Herzen die Selbständigkeit, die Entscheidungsfreiheit für die Völker auch des Ostens und die Freundschaft mit ihnen, die seit mehr als 1000 Jahren zu Europa gehören, wünscht. Aber deshalb muß ich auch schon, Herr Lenz, Sie darauf aufmerksam machen, daß wir uns alle einmal überlegen müssen, ob es angebracht ist, den Ausdruck von den „Satelliten" in diesem Sinne noch weiter zu verwenden. Denn auch die Polen oder Tschechen, die keine Kommunisten sind, die Polen, die von der Sowjetunion als dem Untermieter sprechen, auf dessen Auszug sie warten, schätzen es gar nicht, von uns in dieser Weise als „Satelliten" diskriminiert zu werden. Wenn wir auf ein künftiges gutes Einvernehmen mit diesen Völkern Gewicht legen, sollten wir uns auch insoweit einer anderen Sprache befleißigen.
Die Gefahr solcher außenpolitischen Debatten, die hier dann als Marathondebatten durchgeführt werden, weil die größte Fraktion dieses Hauses glaubt, daraus irgendwelche Wahlerfolge erzielen zu können,
ist, daß dabei außenpolitisch unendlich mehr Schaden angerichtet wird, als diese Ausführungen hier Sinn haben.
— Ja, ja! Sie sollten sich einmal überlegen, was eine solche Bemerkung: „Wir warten hier auf die Änderung der Machtverhältnisse unter den sogenannten Satelliten" für Rückwirkungen zu Lasten jener Völker haben kann. Eisenhower, Dulles sind weise und politisch denkend genug, daß sie gerade auch noch nach Ungarn gesagt haben: Wir wünschen keine antisowjetische Haltung dieser Völker. Auch unser Bundesaußenminister hat, vielleicht nicht ohne daß ihm einige sehr freundliche Winke gegeben worden sind, in Paris nach der ungarischen Tragödie eine recht respektable Beruhigungsrede in diesem Sinne gehalten. Dann aber kommen Sie hierher, und weil Sie über die Wiedervereinigung sonst nichts zu sagen wissen, sagen Sie es auf Kosten dieser Völker im Osten, denen wir damit wahrlich keinen Gefallen tun, daß wir solche leichtfertigen Äußerungen machen.
Nun komme ich zu den Äußerungen des Herrn Bundesministers Strauß. Das macht mir deshalb eine Freude, weil es wirklich nicht erbaulich ist, hier mancherlei Reden zuzuhören, wo man dann mehr das Gefühl hat, daß es sich um Raketen, Knallfrösche und sogenannte Donnerschläge handelt, und wenn der Rauch sich verzogen hat, ist nicht viel mehr da als Widersprüche.
Über das, was Herr Minister Strauß gesagt hat,
kann man sich sachlich auseinandersetzen. Ich
glaube nur, daß doch auch auf Ihrer Seite eine
ganze Reihe von Irrtümern sind und es zuletzt auch sehr wenig positiv in der Frage der Wiedervereinigung endet.
Herr Bundesminister, wir sind uns einig darüber — und ich bin Ihnen dankbar für dieses Wort, das Sie gesagt haben —: eine Frage wie die Wiedervereinigung Deutschlands und eine Frage wie die Sicherheit erfordert politische Lösungen. Das ist doch das, was endlich einmal in Deutschland klarwerden muß: daß das eine politische Lösung erfordert
und nicht eine Sache der Divisionen und des militärischen Denkens ist.
Aber nun haben Sie gemeint, meinem Freunde Erler seien hier — so sagten Sie — drei „fundamentale Irrtümer" unterlaufen, denn es gebe drei Möglichkeiten einer sowjetischen Bedrohung des Friedens. Nun, Fritz Erler hat mit seiner Berner-kung, daß man die sowjetische Drohung der Kriegsgefahr zu einem Kinderschreck mache oder mißbrauche, ganz gewiß nicht sagen wollen, daß die Existenz einer so hochgerüsteten und in ihren inneren Verhältnissen uns so denk- und sittenfremden Macht wie der Sowjetunion sehr anheimelnd sei oder daß von ihr keine Gefahr ausgehe. Das hat noch niemals ein Sozialdemokrat gesagt. Ihre ständige Polemik. als ob wir so besonderes Vertrauen nach dem Osten hir hätten, ist ja so absolut kindisch und nicht ernst zu nehmen. —Also so war das ja nicht gemeint.
Aber nun komme ich zu Ihren drei Bedrohungen.
Das erste Argument war, eine Kurzschlußreaktion sei nicht ausgeschlossen. Gut, darüber sind wir einig. Wenn irgendwo Leute. noch dazu Leute. die eine Atom- oder Wasserstoffbombe in der Hand haben, verrückt werden. dann fliegt die Welt in die Luft. Aber auch Ihre NATO schließt eine Kurzschlußreaktion im Kreml doch nicht aus. Also diese Gefahr der Kurzschlußreaktion ist überhaupt nicht zu beseitigen: sie ist nun einmal da. solange sich in den Händen von Politikern Höllenwerkzeuge befinden, mit denen man den gesamten Erdball zu Asche machen kann. — Also damit können Sie es nicht begründen.
Es bleiben die beiden anderen: der ständige Druck und das Sicherheitssystem. Nun, das dürfen Sie nicht voneinander trennen. Denn das Sicherheitssvstem soll doch, wie mein Freund Wilhelm Mellies eben sehr klar gesagt hat, gerade auch dazu dasein, den ständigen Druck aufzuheben oder zu vermindern. Und wer sagt Ihnen denn. Herr Minister Strauß, daß Sie das Sicherheitssystem so einfach identifizieren dürfen mit isolierten Nationalstaaten. die Sie als .,Atom-Babies" bezeichnet haben?: Sie selber mußten es dann für Gesamtdeutschland zurücknehmen. Das alles ist doch dieses europäische Bündnis- und Paktsystem. das wir kollektive Sicherheit nennen. Wie das auszugestalten ist. um nicht nur eine Entspannung, sondern effektive Sicherheit zu gewähren, ist Gegenstand des Nachdenkens und der Verhandlung, worüber man sich klar sein muß. Ich kann Ihnen hier — es ist immer sehr leicht, den einen Bundesminister gegen den anderen zu zitieren — nach dieser Richtung hin auch eine Äußerung eines Ihrer Partei- und sogar Kabinettskollegen sagen.
—— Bitte schön, natürlich! Selbstverständlich!
Darf ich Sie fragen, Kollege Arndt, ob mit Ihren Vorstellungen von Auflösung der Militärblöcke und Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems — im Falle des Abzuges der amerikanischen Truppen — die Integrierung europäischer Streitkräfte diesseits einer bestimmten Linie vereinbar wäre oder ob Sie über diesem Sicherheitssystem nationale Verteidigungssysteme im Rahmen ihrer nationalen Grenzen sehen?
Herr Kollege Strauß, ich bin der Meinung — und das ist die Auffassung sicher aller meiner Freunde —, daß ein kollektives Sicherheitssystem auch seinem Namen Ehre machen muß und effektive Sicherheit zu bedeuten hat. Ist also bei einer europäischen Vereinigung, in der die Amerikaner nur noch als Garanten vorkommen, die Sicherheit größer, je mehr man die Streitkräfte integrieren kann, so wird das ein Verhandlungsgegenstand auch zwischen Amerika und der Sowjetunion sein müssen, wieweit man diesen neu zu schaffenden europäischen Raum auch durch eine Integrierung von Streitkräften sichert.
Sie machen ja dauernd das, was heute früh schon Herr Ollenhauer Ihnen zum Vorwurf gemacht hat: Sie bauen sich selbst Popanze auf,
und dann zerstören Sie sie und sagen: da war nichts drin.
Das alles ist doch Frage der Verhandlung, wieweit man darin kommt und ob man dann in dem, was man erreicht, eine hinreichende Sicherheit sieht. Aber man muß doch mit der konstruktiven Vorstellung eines solchen europäischen kollektiven Sicherheitssystems unter beiderseitiger Garantie der beiden Weltmächte an die Sache herangehen und darüber zu sprechen anfangen.
Ich komme jetzt zu der Stelle zurück, an der Sie ihre Frage anbrachten. Ich sagte: Das hat einer Ihrer Kabinetts- und Fraktionskollegen gesagt; denn ich meine folgende Äußerung, die auf einer internationalen Konferenz fiel:
Aus Ihren eigenen Worten, Herr Ministerpräsident, glaube ich herausgehört zu haben, daß Sie in einer Grundfrage mit uns übereinstimmen, daß es nämlich keine echte und beständige Ordnung gibt, wenn sie nicht durch ein umfassendes kollektives Sicherheitssystem gesichert ist.
Nun, das hat Herr Bundesaußenminister D r. von Brentano auf der zweiten Arbeitssitzung in Moskau am 10. September 1955 zu Herrn Ministerpräsident Bulganin gesagt. War das nun vielleicht eine „projizierte Chimäre", oder haben Sie sich etwas vorgestellt, als Sie in Moskau erklärten, nur ein kollektives Sicherheitssystem könne eine umfassende Ordnung in Europa schaffen?
Warum also dann mit Worten dort vielleicht her-
umwerfen, ohne sich hier den Dingen zu stellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Wir können ihnen" — der Sowjetunion — „doch anbieten, was wir wollen; die zahlen doch keinen Pfifferling dafür!" Damit wollten Sie doch nicht die Hände hochheben, bevor man überhaupt zu irgendwelchen vernünftigen Verhandlungen gekommen ist. Oder lag es Ihnen hier nahe, daß Sie da die Flinte ins Korn zu werfen beabsichtigten?
— Bitte schön, Sie können selbstverständlich Fragen stellen.
Ist Ihnen bewußt, Herr Kollege Arndt, daß damit von meiner Seite nur die Reaktionslosigkeit der Sowjetunion auf alle bisher gemachten Vorschläge und ferner die Tatsache gemeint war, daß die Sowjetunion. bisher ihrerseits noch niemals ein Anzeichen von sich gegeben hat, auf bestimmte Vorschläge hin etwa einer solchen Lösung zustimmen zu können?
Nein. Herr Kollege Strauß, das stimmt ja so gar nicht. Sie haben immer nur an der Sowjetunion vorbeigeredet, ohne sie je darauf zu stellen, was dahinter ist.
Die Sowjetunion hat im Jahre 1952 und später eine ganze Reihe von Noten geschrieben, und da haben Sie es hier in diesem Hause abgelehnt, zu verhandeln. Ich habe Ihnen eben schon vorgelesen, was Herr von Brentano in Königswinter dazu gesagt hat: er sei sich klar, daß darin unter Umständen die Gefahr liegen könne, die Verhandlungsbereitschaft der Russen, wenn sie ernst sei, auf ein Minimum zu reduzieren. Als dann die EVG gescheitert war und es um die Pariser Verträge ging, da hat man wiederum nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sondern Sie haben immer gesagt — und ich kann Ihnen sofort eine Fülle von Außerungen aller Bundesminister und aller Ihrer außenpolitischen Sprecher präsentieren —, daß, wenn man die EVG abschließe, die Sowjetunion verhandlungsbereit sein werde, und wenn man die Pariser Verträge schließe, dann werde sie verhandlungsbereit sein und dann werde sie 'bessere Bedingungen stellen. Es gibt darüber sogar einen Brief des Herrn Bundeskanzlers an Herrn Ollenhauer, der im Bulletin noch unmittelbar vor der Ratifikation der Pariser Verträge veröffentlicht worden ist. So haben Sie immer mit Prophezeiungen, mit KremlAstrologie gesagt: Wenn wir erst einmal Verträge machen und wenn wir hier erst einmal Rüstung machen, dann werden die kommen. Und die Sowjetunion hat ihrerseits stets gesagt: Wenn ihr EVG-Vertrag macht, dann ist mit uns über freie Wahlen und dies und jenes nicht zu reden; und wenn ihr Pariser Verträge macht, dann werden unsere Bedingungen teurer, soweit sie dann überhaupt noch erfüllbar sind. Die Zwei-Staaten-These ist ja erst nach Abschluß der Pariser Verträge, und nicht vorher, erfunden worden.
Sie müssen sich doch einmal ins Gedächtnis rufen, wie das gegangen ist. Deshalb kann man nicht sagen: „Wir können ihnen anbieten, was wir wollen, die zahlen doch keinen Pfifferling dafür!" Man hat ja nun leider Gottes auch von der westlichen Seite aus die Russen niemals im Ernst beim Wort genommen und auf die Probe gestellt.
An den Verhandlungstisch! Mit welchen konstruktiven Vorschlägen? Mit welchen politischen Gedanken? Denn wenn Sie selber sagen, daß die politische Frage der deutschen Einheit eine politische Lösung erfordere, so müssen Sie auch in der Lage sein, wenigstens in den Umrissen eine politische Lösung anzudeuten. Und gerade das ist Ihnen — ich bedaure das, denn ich hätte es gern gehört — in Ihren gesamten Vorstellungen und Ausführungen heute übend nicht gelungen.
Es bleibt also leider Gottes bei der Diskrepanz, daß uns die Einbeziehung Westdeutschlands in die NATO in eine Sackgasse geführt hat,
daß uns die Einbeziehung in die NATO keine Sicherheit bietet, weil sie die Ursache der Gefahren, nämlich die deutsche ,Spaltung, nicht beseitigt. Sicherheit kann nur das bieten, was die Ursache eines Konflikts im Herzen Europas ausräumt, und nur das könnte übrigens auch für die anderen Völker in Europa zur Sicherheit und zur Befriedung beitragen. Da kann allein der Weg liegen. Ich bitte Sie doch ganz offen und herzlich, sich die Sache auf Grund dieser sehr eingehenden Debatte noch einmal sehr gründlich zu überlegen; denn gegenwärtig sieht das Fazit dieser Debatte für die Sozialdemokratie, glaube ich, ganz gut, aber dadurch, daß von anderer Seite viel Porzellan zerschlagen worden ist, für uns alle, die wir ja gemeinsame nationalpolitische Interessen haben, nicht besonders gut aus. Es hat da einen Streit zwischen dem Herrn Bundesaußenminister und dem Herrn Reinhold Maier, der dem Hause zur Zeit nicht mehr angehört, gegeben, ob der Jagdherr „zur Jagd getragen" werden müsse. Ich will mich in diesen Streit nicht einmischen. Der Jagdherr ist gegenwärtig auch nicht mehr anwesend. Aber wenn zum Halali geblasen wird, so, glaube ich, findet die Strecke augenblicklich weder den Jagdherrn noch irgend etwas von der Ausbeute, die Sie sich versprochen haben. Aber Schaden ist mit dieser Debatte genug angerichtet worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Beratung zu Punkt b der heutigen Tagesordnung: Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung.
Ich erteile das Wort, weil es hier so notiert ist, dem Abgeordneten Brandt zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte namens der sozialdemokratischen Fraktion beantragen, daß die Punkte c, d und e als Punkt 1 auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung gesetzt werden. Der Punkt c wird kaum Zeit in Anspruch nehmen; dazu ist keine Debatte vorgesehen. Es würde sich also um die Punkte d und e handeln.
In vielen Fällen ist bisher so verfahren worden, daß man, wenn man an einem Tag nicht fertig wird, den Rest am nächsten Tag abwickelt. In diesem Falle spricht dafür, daß die Fraktionen der SPD, der FDP und des BHE vor Weihnachten einen Antrag zu einer Debatte eingebracht haben, die die deutsche Öffentlichkeit in den verschiedensten Kreisen beschäftigt hat. Dieser Antrag ist nach § 96 der Geschäftsordnung zunächst den Ausschüssen überwiesen worden. Der Haushaltsausschuß ist inzwischen der Meinung, das wäre nicht nötig gewesen. Eigentlich hätten wir diesen Antrag also schon Anfang Januar behandeln sollen. Er stand gestern auf der Tagesordnung. Das wurde als Aufhänger benutzt, um etwas anderes 'auf die Tagesordnung zu setzen. Das hat uns jetzt den ganzen Tag gekostet. Es ist nicht einzusehen, warum diejenigen, denen die konkrete Erörterung der Berlin-Frage am Herzen liegt, nun dafür, daß die Tagesordnung insoweit geändert wurde, damit bestraft werden sollen, daß ihre Sache noch einmal um eine Woche verschoben wird.
Mir ist unter der Hand gesagt worden — darum möchte ich das gleich mit erwähnen —, der Vor- schlag stoße auf die Schwierigkeit, daß der Herr Bundeskanzlerheute wegen der Eröffnung der Grünen Woche nicht zugegen sein könne. Es wäre natürlich sehr bedauerlich, wenn diese Debatte in Abwesenheit des Herrn Bundeskanzlers geführt werden müßte. Ich bin aber informiert, daß die Ankunft des Herrn Bundeskanzlers in Berlin für 16 Uhr vorgesehen ist. Ich hoffe, daß wir bis dahin längst mit der Erörterung dieses Punktes fertig sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Brandt, darf ich noch eine Frage an Sie richten. Der erste Punkt der heutigen Tagesordnung sollte die Fragestunde sein. Wollen Sie beantragen, daß die Punkte auch vor die Fragestunde gesetzt werden?
Herr Abgeordneter Rasner!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/CSU beantrage ich, daß es bei der Tagesordnung bleibt, die im Ältestenrat für Freitag, den 1. Februar, festgesetzt worden ist. Dieser Weg ist auch deswegen zweckmäßig, weil es nicht nur darauf ankommt, daß bei der Debatte über die Berliner Fragen der Herr Bundeskanzler anwesend ist, sondern vor allen Dingen auch die Berliner Bundestagsabgeordneten,
und eine Anzahl der Berliner Bundestagsabgeordneten ist jetzt schon nach Berlin gefahren. — Die Bedeutung der Grünen Woche für Berlin braucht hier in diesem Augenblick nicht erhärtet zu werden.
— Eine andere Gruppe fährt morgen früh. Wir verfahren zweckmäßiger, wenn wir dem von mir gestellten Antrag folgen. Ich schlage vor, daß wir die Berlinfragen dann am Mittwoch als ersten Punkt der Tagesordnung behandeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, es liegt der Antrag vor, die Punkte c bis e als ersten Punkt der Tagesordnung der nächsten Sitzung — heute — vorzusehen. Weiter ist der An-
I trag gestellt worden, diese Punkte auf die Tagesordnung der Sitzung am nächsten Mittwoch zu setzen.
Voraussetzung dafür ist aber doch, daß das Haus sich darüber einig ist - das möchte ich jetzt erst feststellen -, daß diese Punkte jetzt nicht mehr behandelt werden sollen. Ist das Haus damit einverstanden?
- Gut! Dann stelle ich das fest.
Dann lasse ich über den Antrag der SPD abstimmen, der dahin geht, diese Punkte als ersten Punkt der heutigen Tagesordnung noch vor die Fragestunde zu setzen. Wer diesem Antrag zustimmen will, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Meine Damen und Herren, ich muß die Abstimmung wiederholen. Wer dafür ist, erhebe sich bitte. -Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Wer ist dafür, daß diese Punkte auf die Tagesordnung der Sitzung am nächsten Mittwoch gesetzt
werden? Ich bitte um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Mit Mehrheit angenommen.
Damit sind wir jetzt am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf heute vormittag, 10 Uhr - statt 9 Uhr -, ein und schließe die 188. Sitzung.