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ID0218805700

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    2. Deutscher Bundestag — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1957 10639 188. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1957. Glückwünsche zum Geburtstag des Bundespräsidenten Prof. Dr. Heuss . . . . 10639 D Glückwünsche zu Geburtstagen der Abg. Raestrup und Schneider (Hamburg) . 10639 D Änderungen der Tagesordnung 10639 D, 10740 C, D Geschäftliche Mitteilungen 10651 C Beschlußfassung des Bundesrats zu Gesetzesbeschlüssen des Bundestags . . . 10640 A Mitteilung über Beantwortung der Kleinen Anfragen 300, 315 und 316 (Drucksachen 2872, 3144; 3046, 3134; 3045, 3135) . . . 10640 A Mitteilung über Vorlage eines Zwischenberichts des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte über die Evakuiertenrückführung (Drucksache 3079) 10640 A Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung (außenpolitische Lage, Wiedervereinigung Deutschlands, Sicherheitssysteme) 10640 A Dr. von Brentano, Bundesminister des Auswärtigen . . . . 10640 B, 10674 C, 10707 C, 10708 A, D, 10709 A, D, 10710 A, 10733 B Unterbrechung der Sitzung . . 10651 D Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung 10651 D Kiesinger (CDU/CSU) . . 10651 D, 10653 A, C, 10654 A, B, 10660 B, C, 10661 A, 10662 B, 10671 B, 10675 A, 10686 B, 10701 C Dr. Mommer (SPD') . . . . 10653 A, 10727 C, 10730 D, 10732 C Erler (SPD) .. . 10653 C, 10662 B, 10698 B, 10716 D, 10727 D, 10730 B, 10730 D Mellies (SPD) 10654 A, 10735 A Unterbrechung der Sitzung . . 10664 A Ollenhauer (SPD) 10664 A, 10671 B, 10685 A Dr. Arndt (SPD) 10675 A, 10736 D, 10739 A, C Lenz (Trossingen) (FDP) 10677 B Dr. Lenz (Godesberg) (CDU/CSU) . 10682 A Feller (GB/BHE) 10687 A Dr. von Merkatz (DP) 10690 D Dr. Schäfer (Hamburg) (FVP) . . . 10695 D, 10698 C Wehner (SPD) . . 10700 B, 10701 C, 10705 D, 10706 B, 10708 A, D, 10709 A, D, 10710 A Rasner (CDU/CSU) . . . . 10705 D, 10706 B Dr. Furler (CDU/CSU) 10710 B Dr. Dr. h. c. Prinz zu Löwenstein (FDP) 10715 D Strauß, Bundesminister für Verteidigung . . . . 10726 A, 10727 C, D, 10729 B, 10730 B, D, 10731 D, 10732 B, D, 10739 A, C Schmidt (Hamburg) (SPD) . . . 10729 B Mattick (SPD) 10732 A Dr. Gille (GB/BHE) 10734 A Zur Geschäftsordnung betr. Weiterberatung der Tagesordnung: Brandt (Berlin) (SPD) 10740 B Rasner (CDU/CSU) 10740 D Nächste Sitzung 10741 C Berichtigungen zum Stenographischen Be- richt der 184. Sitzung 10741 Anlage: Liste der beurlaubten Abgeordneten 10741 B Die Sitzung wird um 9 Uhr 2 Minuten durch den Vizepräsidenten Dr. Jaeger eröffnet.
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    Berichtigungen zum Stenographischen Bericht der 184. Sitzung Es ist zu lesen: Seite 10178 A letzte Zeile unten „Dr. Schellenberg (SPD), zur Sache" statt „10243 B": 10234 B; Seite 10182 D Zeile 21 von unten statt „angenommen": abgelehnt; Seite 10297 Zeile 12 von unten in den Abstimmungen 5, 6 und 7: Scheel: beurlaubt; Seite 10297 Zeile 3 von unten in Abstimmung 7: Dr. Schneider (Saarbrücken): enthalten; Seite 10231 sind die vorletzte Zeile von A und die zweite Zeile von B auszutauschen. Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten a) Beurlaubungen Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Arnholz 15.2. Dr. Bärsch 1.2. Berendsen 1. 2. Dr. Berg 31.1. Dr. Brühler 2. 2. Dr. Bürkel 31.1. Cillien 2.3. Corterier 1.2. Dr. Dehler 28. 2. Dr. Franz 31.1. Freidhof 1.2. Gedat 1.2. Geiger (München) 1. 2. Gockeln 2. 3. Dr. Gülich 1.2. Haasler 31.1. Dr. Hesberg 31.1. Heye 31.1. Dr. Köhler 2.3. Dr. Kreyssig 1.2. Dr. Mocker 31.1. Dr. Dr. h. c. Müller (Bonn) 31.1. Neumayer 16.3. Odenthal 15.2. Dr. Oesterle 1. 2. Op den Orth 31.1. Richter 31.1. Dr. Schmid (Frankfurt) 2. 3. Dr. Schmidt (Gellersen) 31.1. Schneider (Hamburg) 1.2. Frau Schroeder (Berlin) 15.4. Dr. Vogel 2.2. b) Urlaubsanträge bis einschließlich Frau Brauksiepe 16.2. Höfler 28.2. Diedrichsen 9.2. Meyer-Ronnenberg 23.2.
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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (GB/BHE)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage, die nicht nur wir uns gestellt haben, sondern die auch in der Presse gestellt wurde: was eigentlich, wenn nicht der bevorstehende Wahlkampf, der akute Anlaß zu einer außenpolitischen Debatte am heutigen Tag gewesen ist, hat uns auch die Regierungserklärung leider nicht zu beantworten vermocht; denn sie hat in der Frage, die als Motiv der Forderung nach der heutigen Debatte zugrunde gelegt wurde, daß nämlich im Zusammenhang mit dem Komplex der Berlin-Anträge auch über das Problem der Wiedervereinigung Deutschlands gesprochen werden sollte, leider nichts Neues gebracht. Insofern halten wir das ganze heutige Geschehen, das mit so viel publizistischem Aufwand vorbereitet worden ist, für sehr wenig sinnvoll.

    (Zustimmung bei der FDP.)

    Wir sind zwar willens und durchaus bereit, bei jeder sich bietenden und geeigneten Gelegenheit von der uns bedrückenden Teilung Deutschlands und der Notwendigkeit ihrer Überwindung zu sprechen. Aber wir meinen, man sollte diese Frage, zumal sonst nicht immer allzuviel Bemühungen zu einer Fortentwicklung in dieser Hinsicht festzustellen sind, auf keinen Fall im Zeichen des Wahlkampfes strapazieren. Ich bin überzeugt davon, daß, wenn hier nicht Presse, Rundfunk und Fernsehen mit Zuschauenden und Zuhörenden vertreten wären, hier sicher alles in einer ganz anderen und dem Ziele der Wiedervereinigung vielleicht besser dienenden Weise vorgetragen worden wäre. Der Herr Bundesaußenminister weiß es wahrscheinlich selbst und hat auch das Empfinden dafür, daß manche Passagen in der Regierungserklärung nicht gerade in einer der Sache dienenden Tonart, weder außennoch innenpolitisch, gehalten waren. Und ich weiß nicht, ob man im Ausland ohne weiteres bereit sein wird, das alles unter dem Gesichtspunkt der Wahlkampfstimmung hinzunehmen. In der Regierungserklärung stehen eine Reihe von Sätzen, bei denen ich mir gedacht habe, daß sie sehr wohl etwa im amerikanischen Kongreß gesagt werden könnten. Mir stellte sich die Frage, ob uns in unserer Lage und in der augenblicklichen Situation eine solche Tonart wirklich ansteht.
    Im Bulletin hat der Herr Bundesaußenminister vor einigen Tagen in einem Essay die Frage gestellt: Was ist eigentlich Außenpolitik? Nun, ich meine, Außenpolitik ist zum großen Teil auch das Bemühen um eine psychologische Einfühlung in die Mentalität der anderen, nicht, um mit der Sprache der Regierungserklärung zu sprechen, des Gegners. Ich fürchte, die anderen werden bei dieser Tonart der Regierungserklärung teilweise die Vermutung haben, daß die deutsche Hybris wieder einmal ausgebrochen sei.
    Meine Freunde und ich sehen den Sinn einer außenpolitischen Parlamentsdebatte jedenfalls nicht darin, daß nun jeder zu beweisen sucht, daß er in der Vergangenheit immer recht gehabt habe, sondern darin, daß konstruktive Vorschläge darüber erörtert werden, wie es weitergehen soll. Das müßte doch in erster Linie eigentlich auch den Wähler interessieren; denn er sanktioniert mit seiner Stimmabgabe weniger die Vergangenheit, sondern glaubt, damit die Zukunft zu bestimmen. In der Regierungserklärung war von der Zukunft aber sehr wenig die Rede. Sie hat hier offenbar noch nicht begonnen, oder sie soll erst nach der Wahl beginnen.
    Der Herr Bundesaußenminister und der Herr Kollege Kiesinger, die Sprecher der CDU/CSU, haben sich sehr gegen die Unterstellung verwahrt, die Bundesregierung habe ihre außenpolitische Konzeption überprüft und dabei festgestellt, daß gewisse Elemente darin unrichtig gewesen seien. Meine Damen und Herren, als ob in einer solchen Unterstellung etwas Bösartiges enthalten wäre, als ob die Gewinnung neuer Erkenntnisse etwas Verwerfliches wäre! Wir jedenfalls wären der Bundesregierung nur dankbar, wenn sie aus der weltpolitischen Lage und auch aus dieser Debatte vielleicht einige neue Erkenntnisse gewinnen und danach handeln würde.

    (Abg. Niederalt: Das tut sie ja auch, wenn es notwendig ist!)

    — Sehr schön! Die Erkenntnis, die hier wohl zu gewinnen wäre oder die sich, wie ich glaube, hier gewinnen läßt, ist die, daß niemand in diesem Hause den Standpunkt vertritt, man könne die abgeschlossenen Verträge einfach einseitig aufkündigen oder zerreißen oder man müsse vertragliche Verpflichtungen nicht treulich einhalten. Die letzte Frage hat ja Herr Kollege Lenz gestellt. Er sagte, es komme nicht nur darauf an, daß, sondern auch darauf, wie Verträge eingehalten werden.
    Ich darf für meine Freunde und mich sagen: wir nehmen durchaus diesen Standpunkt ein, daß die Verträge in einer ihrem Wortlaut und Sinn entsprechenden Weise eingehalten werden müssen. Und ich glaube, ich kann den Ausführungen des Herrn Kollegen Ollenhauer den gleichen Standpunkt entnehmen. Allerdings muß ich sagen, meine Damen und Herren von der SPD, daß wir an dieser Ihrer Auffassung manchmal zu gewissen Zweifeln Anlaß hatten. Als mein Kollege Seiboth vor einigen Wochen in einer Rede in Alsfeld diese unsere Meinung vortrug, war es Ihr Pressedienst, der ihn deshalb angriff und ihm unterstellte, er nehme nicht einen für die Wiedervereinigung günstigen politischen Standpunkt ein. Ich denke aber, daß da die linke Hand nicht wußte, was die rechte tat, und daß ich das, was Herr Kollege Ollenhauer heute hier ausgeführt hat, als die authentische Wiedergabe der Auffassung der SPD ansehen kann.
    Nun, meine Damen und Herren, das, was ich wegen der Erfüllung der Verträge gesagt habe, ist eigentlich alles selbstverständlich. Wenn man vernünftig miteinander darüber spricht, kann es eigentlich keine echte Meinungsverschiedenheit geben. Trotzdem wird einem in politischen Gesprächen in diesen Monaten erstaunlicherweise immer wieder von sehr nüchtern rechnenden Leuten die Frage entgegengehalten: Sind Sie nun auch wirklich bereit, die Verträge aufrechtzuerhalten und zu erfüllen? Meine Damen und Herren, der Wille zur loyalen Erfüllung der Verträge, den wir, glaube ich, alle haben, kann doch, nachdem nun einmal die Verträge von der Mehrheit gebilligt worden sind, nicht davon abhängen, ob nun die einen ja und die anderen nein dazu gesagt haben. Beides darf gar nicht in Zusammenhang miteinander gebracht werden und dürfte deshalb auch nicht Thema von Wahlkampfauseinandersetzungen sein. Aber sehr wohl könnte und sollte die Frage diskutiert werden, die hier schon gestellt worden ist und die auch wir jetzt stellen möchten und auf die wir gern eine klarere Antwort hätten, als wir


    (Feller)

    sie bisher erhalten haben: Was hat die Außenpolitik der Bundesregierung aus der mit den Verträgen und der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur NATO geschaffenen Lage bisher im Hinblick auf die Wiedervereinigung gemacht, und was läßt sich ihrer Meinung nach noch daraus machen? Anders ausgedrückt: Ist im Hinblick auf das Ziel der Wiedervereinigung, dem ja unsere heutige Debatte eigentlich gelten soll, seit dem Abschluß der Verträge ein sichtbarer Fortschritt erzielt worden, oder wird er von der Bundesregierung in einer absehbaren Zeit erwartet?
    Die Regierungserklärung sagt darüber sehr wenig. In den vorbereitenden Artikeln des Bulletins ist auch nur sehr vorsichtig darauf Bezug genommen worden. Ich denke dabei vor allen Dingen an den Aufsatz des Herrn Ministerialdirektors Professor Grewe unter der Überschrift „Diplomatie des Vordringens Schritt um Schritt" vom 26. Januar. Er hat nämlich in einer sehr nüchternen, sehr objektiven, sehr sachlichen, zur Verdeutlichung der Regierungspolitik vielleicht viel besser geeigneten Weise als die heutige Regierungserklärung die Dinge dargelegt. Er hat da acht Punkte über diese „Diplomatie des Vordringens Schritt um Schritt" aufgeführt. Davon wären einige zu diskutieren, z. B. die Frage, ob die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Moskau nun wirklich einer Initiative der Bundesregierung entsprungen ist; aber nur ein Punkt ist darin, der in die Zukunft weist, das ist der Gedanke, die deutsche Frage vor die Vereinten Nationen zu bringen.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir glauben, daß das ein Plan ist, für den sich sehr viel Positives sagen läßt, denn er kann auf jeden Fall dazu dienen, die deutsche Frage wieder ins weltpolitische Gespräch zu bringen. aus dem sie seit dem ergebnislosen Ausgang der zweiten Genfer Konferenz leider fast völlig verschwunden ist. Aber wir sind uns wohl auch alle darin einig, daß ein Beschluß der UN, selbst wenn er mehrheitlich zustande kommt, in seiner praktischen Durchsetzbarkeit noch sehr wenig bedeutet. Mit diesem Plan allein ist, glaube ich, unsere Frage, die wir hier aus Verantwortung, aus Mitverantwortung gegenüber der Zukunft Gesamtdeutschlands glaubten stellen zu müssen, noch nicht ausreichend beantwortet.
    Vielleicht kann in diesem Zusammenhang auch die Frage gestellt werden: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um bei den Mitgliedern der Vereinten Nationen zu erreichen, daß Beschlüsse, die dort im Hinblick auf die deutsche Frage gefaßt werden, auch so gestaltet werden, daß sie dem Osten akzeptabel oder zumindest attraktiv genug erscheinen, um darüber weiter zu verhandeln? Ich meine, das ist eine Aufgabe der Diplomatie des Schritt-um-Schritt-Vordringens, und das ist die Frage, die wir an die Bundesregierung zu stellen gezwungen sind.
    Nach dem Inhalt der Regierungserklärung scheint es uns keineswegs gewiß, daß die Bundesregierung nun auch alle denkbaren Überlegungen angestellt hat, wie weiter Schritt um Schritt vorangekommen werden kann. Einige solcher Überlegungen sind allerdings in den Ausführungen meiner Vorredner schon angestellt und diskutiert worden. Wir teilen sie insofern, als wir zunächst der Auffassung sind, daß bei aller Entschlossenheit der Bundesregierung zur Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen und bei aller Klarheit darüber, daß die Bundesrepublik einen Austritt aus der NATO im Sinne einer Vorleistung für Verhandlungen mit dem Osten nicht in Betracht ziehen darf, damit keineswegs die Frage präjudiziert sein kann, wie der militärische Status eines wiedervereinigten Deutschlands aussehen wird. Wenn der Herr Kollege Kiesinger hier ausführt, das wiedervereinigte Deutschland könne unter keinen Umständen einem Sicherheitssystem überlassen bleiben, das ihm keine ausreichende Sicherheit biete, dann muß uns doch allen auf der anderen Seite die Gegenfrage bewußt sein: Gibt es unter der Voraussetzung, daß der militärische Status Gesamtdeutschlands nicht vorher vereinbart ist oder daß es von westlicher Seite als unabdingbar angesehen wird, daß das wiedervereinigte Deutschland auch der NATO angehören wird, überhaupt eine Möglichkeit, zur Wiedervereinigung zu kommen?

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Das ist doch die Frage, vor die wir uns gestellt sehen, und ich glaube, diese Frage ist heute in den Kontroversen nicht in genügender Deutlichkeit und Klarheit gestellt worden. Gerade über diese Frage ist doch sehr viel aneinander vorbeigeredet worden.

    (Sehr richtig! beim GB/BHE.)

    Wir müssen dieses Dilemma erkennen, wenn wir in der Überlegung dessen, was zu tun ist und was von der Regierung getan werden muß, weiterkommen wollen. Es sind ja auch schon Ausdrücke gefallen wie der — ich glaube, es war der Herr Kollege Kiesinger, der es gesagt hat —: ,,Die NATO ist kein Dogma". Ich hoffe, daß man das so auffassen darf, daß man, wenn es die Notwendigkeiten der Wiedervereinigung erfordern, auch von dem allerdings heute wieder verunklarten Standpunkt ausgehen kann, ein die NATO ersetzendes Sicherheitssystem für das wiedervereinigte Deutschland erscheine denkbar und akzeptabel.
    Selbstverständlich wird es — das ist heute wenigstens an einer Stelle schon einmal angeklungen, und wenn ich es richtig aufgefaßt habe, war es auch so gemeint, wie ich es meine — auch in einem solchen Sicherheitssystem keine hundertprozentige Sicherheitsgarantie geben, genauso wenig, wie es in der NATO eine hundertprozentige Sicherheitsgarantie gibt; das hat gerade Sues bewiesen. Einen Rest von Risiko — ich glaube, darüber sind wir uns alle einig — werden wir in jedem Falle auf uns zu nehmen haben.
    Aber ich will die Frage Sicherheitssystem nicht weiter vertiefen. Es ist schon sehr viel davon gesprochen worden, und es hat sich dabei herausgestellt, daß niemand es in seinen Einzelheiten klar umreißen und darlegen kann. Infolgedessen wird auch niemand von uns erwarten, daß gerade wir ein Patentrezept dazu vorzutragen hätten. Aber etwas ist doch auf jeden Fall dazu zu sagen, wenn man darin übereinstimmt, daß unter Umständen ein solches Sicherheitssystem die Sicherheit für Gesamtdeutschland bieten kann, die die Bundesrepublik heute in der NATO hat: nämlich daß die Bereitschaft der Großmächte festgestellt werden müßte, entweder einem solchen Sicherheitssystem beizutreten oder es doch wenigstens zu garantieren. Das hat auch Herr Kiesinger hier ausgeführt, allerdings mit der Einschränkung, daß er gefragt hat, ob eine solche Garantie effektuiert werden könne. Trotzdem müßte es unseres Erachtens Aufgabe der Bundesregierung sein, zunächst einmal


    (Feller)

    eine solche Bereitschaft bei den Großmächten herbeizuführen bzw. einmal festzustellen, weiche Aussicht für ihre Herbeiführung besteht.
    Ich wundere mich, daß von seiten der CDU/CSU die Frage, was in dieser Hinsicht zu tun ist und wie ein solches Sicherheitssystem im einzelnen entwickelt werden könnte, an die SPD gerichtet wird. Ich hatte eigentlich die Absicht, diese Frage an die Regierung zu richten, denn die Regierung hat in mehreren Verlautbarungen selbst erklärt, daß sie bereit sei, einem solchen europäischen Sicherheitssystem beizutreten, zuletzt in der Regierungserklärung vom 8. November 1956 und vorher, wie Sie wissen, in dem Memorandum, das die Bundesregierung am 2. September 1956 an die Sowjetunion gerichtet hat. In der Regierungserklärung vom 8. November heißt es u. a. — ich darf es kurz vorlesen —:
    Die Bundesregierung hat niemals einen Zweifel gelassen, daß die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland bereit sein werden, sich in ein großes und wirksames Sicherheitssystem einzuordnen . . .
    Wir vertreten aber die Auffassung — und wir glauben auch, daß diese Auffassung richtig ist —, daß vor dem Zustandekommen der Wiedervereinigung Deutschlands in jedem Falle eine Vereinbarung über seinen militärischen Status getroffen werden muß und daß man dabei sehr scharfe Unterscheidungen vornehmen muß, die dahin gehen, daß mit diesem militärischen Status in keiner Weise der völkerrechtliche oder territoriale oder gar der innenpolitische Status gemeint sein kann. Wir glauben — das ist auch von anderer Seite schon vertreten worden und ist vielleicht sogar die gemeinsame Auffassung dieses Hauses —, daß die Festlegung des innenpolitischen Status, der innenpolitischen Ordnung Sache einer frei gewählten Nationalversammlung, eines Parlaments sein müsse. Wir halten nach wie vor daran fest, daß der territoriale Status, auf den ich noch zurückkommen werde, nur in einem frei vereinbarten Friedensvertrag festgelegt werden kann.
    Wir glauben, daß die Unterscheidung, wie ich sie soeben noch einmal ausdrücklich vorgenommen habe, nicht in ausreichender Weise allen, die zu diesen Fragen in den vergangenen Monaten Stellung genommen haben, bewußt gewesen ist. Es war Veranlassung, in Zusammenhang mit der heute auch hier schon erörterten Frage der Aufnahme wirtschaftlicher oder diplomatischer Beziehungen zu den Ostblockstaaten über die Regelung unseres Verhältnisses zu diesen Staaten zu diskutieren. Wir wollen noch einmal wiederholen, was wir von dieser Stelle schon mehrmals zum Ausdruck gebracht haben: daß wir bei allen Erörterungen, die im Zusammenhang mit dieser Frage gepflogen werden, geprüft sehen wollen, in welcher Weise dabei unser Rechtsvorbehalt hinsichtlich der offenen territorialen Fragen wirksam angebracht werden muß. Wir werden in dieser Sorge besonders bestärkt durch eine Reihe von Äußerungen, die auch von maßgeblichen Persönlichkeiten in der Bundesrepublik in den vergangenen Monaten gefallen sind.
    Es begann leider mit der auch von mir bei anderer Gelegenheit schon vorgetragenen Angelegenheit des Interviews, das der Herr Bundesaußenminister im April des vergangenen Jahres in London gegeben hat, und dem späteren Interview, das er einem Vertreter der Yorkshire Post gegeben hat. Der Herr Bundesaußenminister hat damals hier die Erklärung abgegeben, die er inhaltlich heute in der Regierungserklärung wiederholt hat, daß der Standpunkt der Bundesregierung in der Frage der deutschen Ostgrenzen unverändert geblieben sei. Trotzdem müssen wir zu unserem Bedauern feststellen, daß der Herr Bundesaußenminister mit seinen damaligen Bemerkungen Schule gemacht und eine Reihe von Politikern der verschiedensten Parteirichtungen angeregt hat, sehr laut über diese Frage nachzudenken. Die Tendenz derartiger Auslassungen hat, wie Sie alle wissen, stärkste Beunruhigung in den Kreisen der Heimatvertriebenen hervorgerufen und eine Reaktion erzeugt, die eigentlich davor hätte warnen müssen, mit so leichtfertiger Behandlung der Ostfragen fortzufahren.

    (Abg. Dr. Strosche: Sehr gut!)

    Wir haben aber immer wieder feststellen müssen, daß selbst der Herr Bundesaußenminister, dem wir diese Warnung schon einmal entgegengehalten haben, fortgesetzt hat, Ausdrücke zu gebrauchen, Ausdrücke wie „Opferbereitschaft" und ähnliche, die natürlich nach dem Vorangegangenen den Eindruck erwecken mußten, als ob hier der Standpunkt der Bundesregierung nicht ganz klar und einwandfrei festliege: um so mehr als ia auch gewisse Erscheinungen in den westlichen Ländern — ich nenne hier nur das Buch des früheren amerikanischen Hochkommissars McCloy und die bekannte Studie der Miss Elisabeth Wiskemann in England — Zeugnis geben von gewissen Aufweichungserscheinungen, die sich in diesen Ländern hinsichtlich der Haltung zu den deutschen Ostgebieten abspielen. Diesen Aufweichungserscheinungen kann nach unserer Auffassung nur durch einen ganz eindeutigen und festen Standpunkt in der Bundesrepublik entgegengewirkt werden.
    Aber, meine Damen und Herren, das genaue Gegenteil davon geschieht doch dann, wenn eine so hochgestellte Persönlichkeit wie der Bürgermeister Hamburgs und Präsident des Bundesrates, Dr. Sieveking, in diesen Tagen einen Vortrag vor der Auslandspresse ausgerechnet dazu benutzt, ostpolitische Vorstellungen zu entwickeln, die auf nichts anderes hinauslaufen als auf einen Verzicht auf die polnisch verwalteten Gebiete. Trotz des Dementis, das uns heute zugegangen ist und das der Herr Bundesaußenminister als ausreichend bezeichnet hat, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, muß ich fragen: Was ist es denn anderes als eine Verzichterklärung, wenn Herr Dr. Sieveking davon spricht, daß das Bismarcksche Preußen den Verlust einer Provinz nicht habe ertragen können. daß aber Preußen ja nicht mehr existiere; oder wenn er meint, daß angesichts des Umstandes, daß die polnischen Ostgrenzen von der Sowjetunion gezogen seien, man bei einer deutsch-polnischen Regelung darauf Rücksicht zu nehmen hätte? Und dann werden im weiteren Verlauf seines Vortrages eine ganze Reihe von Fakten angeführt, die ich hier im einzelnen nicht aufzählen will. die aber ausnahmslos für den polnischen Standpunkt sprechen. Und schließlich hat Herr Dr. Sieveking die anwesende Presse noch aufgefordert, für diesen seinen Gedankenflug Propaganda zu machen.
    Meine Damen und Herren, hier scheint uns ein Vorgang gegeben, der nicht mehr den Tatbestand


    (Feller)

    einer politischen Meinungsäußerung, sondern den des politischen Unfugs erfüllt;

    (Zustimmung beim GB/BHE)

    und gegen solchen Unfug muß nach unserer Meinung schnellstens etwas geschehen.
    Eine polnische Zeitung, die „Trybuna Ludu", berichtet nach dem „Hamburger Abendblatt", daß dem Vortrag von Herrn Dr. Sieveking eine Unterhaltung mit ihrem Chefredakteur vorausgegangen sei, in der Dr. Sieveking den Polen gefragt haben soll, ob er glaube, daß ein kühnerer Schritt von deutscher Seite nützlich sein könnte. Wir meinen, daß solche Kühnheiten dem Präsidenten des Bundesrates und Chef einer Landesregierung schlecht anstehen, auch wenn er eine Zeitlang im diplomatischen Dienst tätig war

    (Zuruf vom GB/BHE: Gerade dann!)

    und auch wenn er eingangs seines Vortrags versichert hat, er spreche nur als Privatmann.

    (Zuruf vom GB/BHE: Das kennen wir, den „Privatmann"!)

    Wir sind vielmehr der Ansicht, daß die Bundesregierung hier etwas unternehmen muß und daß auch die Partei, der Herr Dr. Sieveking angehört, klar erklären muß,

    (Sehr richtig! beim GB/BHE)

    ob sie die Auffassung ihres prominenten Mitgliedes teilt oder nicht. Die Häufung derartiger Äußerungen, insbesondere vor internationalen Gremien, ist nach unserer Auffassung eine Gefahr für die deutsche Ostpolitik, die davon ausgehen muß, daß die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie nach wie vor völkerrechtlich zu Deutschland gehören und daß für das Heimatgebiet der Sudetendeutschen eine Entscheidung nur nach dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts erfolgen kann.

    (Beifall beim GB/BHE.)

    Im Potsdamer Abkommen und in nachträglichen Erklärungen der Westmächte ist festgelegt, daß die Grenzen Deutschlands einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten bleiben müssen. Was soll dann also das ganze Gerede zu einem Zeitpunkt, in dem überhaupt noch nicht abzusehen ist. wann es zu Verhandlungen über solche friedensvertraglichen Regelungen kommt!
    Wir fordern die Bundesregierung nochmals auf, den deutschen Rechtsstandpunkt in dieser Frage unter allen Umständen zu wahren und dafür Sorge zu tragen, daß er nicht, auch nicht durch solche unverantwortlichen Diskussionen, aufgeweicht wird, bevor es überhaupt zu Verhandlungen mit unserem östlichen Nachbarn kommt. Wenn jemand glaubt, meine Damen und Herren, daß dies der einzige Weg sei, um bessere Beziehungen zu Polen herzustellen oder gar Einfluß auf innerpolitische Vorgänge dort zu nehmen, dann liegt ein Irrtum vor, der schon dadurch eine Korrektur erfährt, daß selbst polnische Pressestimmen erkennen lassen, daß auch die polnische Ostgrenze, von der Herr Dr. Sieveking gesprochen hat, dort keineswegs als endgültig angesehen wird.
    Ich habe hier schon einmal — es war aus Anlaß des Aufstandes in Polen — erklärt, daß wir uns von jeglicher Einmischung in die inneren Verhältnisse unserer östlichen Nachbarn völlig frei halten sollten. Das korrekte Verhältnis, das wir zu ihnen herstellen wollen, wird aber verfälscht durch die Verleugnung eines Rechtsstandpunktes, den die Bundesrepublik bisher immer vertreten hat und dessen Aufgabe den schärfsten Widerstand eines großen Teils unseres Volkes, insbesondere seiner heimatvertriebenen Bevölkerungsteile, erwecken müßte. Es bedarf wohl kaum einer erneuten Beteuerung, daß dieser unser Standpunkt nichts mit irgendeiner Art von revanchistischen oder gewaltpolitischen Vorstellungen zu tun hat. Wir fordern die Bundesregierung also nochmals auf, entsprechend ihrer heutigen Erklärung dafür Sorge zu tragen, daß nicht — auch nicht in der westlichen Welt — der Eindruck entstehen kann, daß hier stillschweigende Zustimmung zu irgendwelchen Maßnahmen zu erwarten wäre, welche die deutschen Rechtsansprüche negieren oder vernachlässigen. Es gibt genügend Anzeichen, die uns mit solchen Maßnahmen rechnen lassen.
    Wir nehmen an, daß diese Dinge im Auswärtigen Amt mit Aufmerksamkeit verfolgt werden. Notfalls wiederholen wir nochmals unsere schon mehrmals erhobene Forderung nach einem Ausbau der Ostabteilung; denn dieser wird ja ohnehin notwendig werden, wenn zu einem absehbaren Zeitpunkt an eine Normalisierung unserer Beziehungen zu den Ostblockstaaten herangegangen werden soll, der auch wir grundsätzlich zustimmen, wenn dabei unsere Vorbehalte ausreichend Beachtung finden.
    Wir sind der Meinung, daß die Forderungen nach einer aktiveren Ostpolitik auch durch die Ereignisse der letzten Monate an Berechtigung keineswegs eingebüßt haben. Sosehr wir es begrüßen, daß in den Verhandlungen über Euratom und den gemeinsamen europäischen Markt in den letzten Monaten entscheidende Fortschritte erzielt worden sind, so erschreckend bleibt für uns doch immer der Gedanke, daß der fortschreitenden Integration West- oder Klein-Europas eine fortschreitende Desintegration Deutschlands gegenübersteht. Ohne die deutsche Einheit kann es aber keine in sich selbst ruhende und gesicherte Ordnung der europäischen Mitte und damit ganz Europas geben.
    Wir meinen deshalb, daß in Zukunft die Anstrengungen der Politik stärker als bisher darauf gerichtet sein müssen, Europa seine Mitte wieder finden zu lassen, ohne die es auf die Dauer nicht leben kann und die ein in Freiheit wiedervereinigtes Deutschland voraussetzt. Es wäre ein nicht wiedergutzumachendes Geschehen, wenn das Wahljahr dazu führen sollte, daß in der Auseinandersetzung über den besten Weg das Ziel entschwindet und Schritte, die in der Zwischenzeit zu unternehmen möglich wären, etwa deshalb unterbleiben.

    (Beifall beim GB/BHE.)



Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Merkatz.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Joachim von Merkatz


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, im Auftrage der Gemeinschaft der Fraktionen der Deutschen Partei und der Freien Volkspartei zu sprechen.

    (Zurufe links und rechts.)

    Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann hat man doch manchmal den Eindruck, daß hier in der Aussprache eine Art Außenpolitik für den inneren Gebrauch gemacht wird. Namens meiner politischen


    (Dr. von Merkatz)

    Freunde möchte ich zum Ausdruck bringen, daß wir das für eine große Gefahr halten. Was nützt es uns, wenn der eine oder der andere den Wahlkampf gewinnt und darüber die Interessen des Landes verliert? Dies ist eine ernste Sorge. Wir sind der Auffassung, daß eine außenpolitische Debatte, die über Grund- und Kernfragen des nationalen Lebens in eine Polemik ausartet, eine große Gefahr, wie gesagt, darstellt. Allerdings, heute ist das Wort von den Illusionen gefallen. Möglicherweise ist auch unsere Anschauung eine Illusion, daß man solche Kern- und Existenzfragen einer Nation aus dem Kampf der Wahlen heraushalten könnte, was den Interessen unseres Landes an sich dienen müßte.
    Grundsätzlich muß kritisch bemerkt werden, daß die Debatte im gegenwärtigen Zeitpunkt an einem Fehler leidet, nämlich daran, daß konkrete Informationen über das politische Verhältnis der großen Drei — darunter verstehen wir heute die Vereinigten Staaten, Rußland und die führenden Staaten der sogenannten non-committed nations — fehlen. Eine Einschaltung in die Gespräche, die man vermutet, ohne diese Informationen kann zu Fehlern verleiten. Wir betrachten es als eine Torheit und auch als einen Mangel an politischem Stil, wenn über die vermuteten Fühlungnahmen zwischen den großen Machtblöcken Spekulationen angestellt werden, die der Bestätigung durch Tatsachen und zuverlässige Informationen entbehren. Es ist ein schlechter Stil des Denkens, auch in der Politik, wenn in der Lust des Mißtrauens immer etwas hinter dem Busch vermutet wird, was in der Regel gar nicht hinter diesem Busch ist. Spekulatives Mißtrauen ist schwächliche Unsicherheit des eigenen Willens und zeigt einen Mangel an Selbstvertrauen. Darum warnen wir vor einem unfundierten Rätselraten hinsichtlich der Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika und unserer anderen Verbündeten in Europa und in der freien Welt. Versuchen wir vielmehr, ganz nüchtern eine Analyse der Interessen unserer Bündnispartner und auch unserer eigenen Interessen vorzunehmen und nach den Elementen der Übereinstimmung der eigenen mit den fremden Interessen zu suchen. Nur so kommt man zu einer konstruktiven Politik, die dem Frieden dient.
    Mit Sorge betrachtet die Fraktionsgemeinschaft DP-FVP gewisse Rückfälle in ein nationalistisches Spießertum, das weder die geistige noch die seelische Kraft aufbringt, sich aus der Enge nationalstaatlichen Denkens zu lösen. Es ist nun einmal Aufgabe der Menschen in Gegenwart und Zukunft, sich aus dieser Enge und Engherzigkeit herauszulösen und sich in der Liebe zum eigenen Land, in der Achtung vor den Lebensbedürfnissen und der Wesensart anderer Völker in die größeren Zusammenhänge einer Gesellschaft von Nationen einzuordnen und gegenseitig zu fördern. Die größeren Gruppierungen der Völker wachsen nunmehr zu größeren Einheiten heran. Dieser Prozeß ist unausweichlich. Er kann gestört, er kann aufgehalten werden, verhindert wird er nicht. Gehen wir also lieber mit dem Strom der Geschichte; sonst werden wir in ihm ertrinken.
    Ich möchte nun zu einer wichtigen Unterscheidung kommen. Es gibt in der Außenpolitik Grundziele, die über ein Säkulum oder sogar über noch weitere Zeiträume reichen, und es gibt daneben Tagesereignisse, denen eine elastische Diplomatie
    Rechnung tragen muß. In dieser Festigkeit im Grundsatz und in der Elastizität in der Methode der Durchführung liegt nach unserer Auffassung der Unterschied zwischen einer politischen und einer diplomatischen Haltung. Politische Grundsatzfestigkeit und diplomatische Anpassung an die jeweils gegebene Lage sollten niemals verwechselt werden.
    Es gehört nun heute fast zu den Allgemeinplätzen, wenn man feststellt, daß die Ordnung der Nationalstaaten, die bisher das Staatensystem der Welt bestimmt hat, so wie sie im 19. Jahrhundert vollendet worden ist, nicht mehr genügt, um das Leben der Völker und der Nationen zu gewährleisten. Großräumige Zusammenschlüsse, die zu gemeinschaftlichem Handeln auf dem Gebiet der Außenpolitik, der Verteidigung, der Wirtschaft und der sozialen Entwicklung befähigen, sind im Entstehen. Dieser grundsätzlichen Entwicklung muß Rechnung getragen werden, und in sie eingebettet verläuft die Bahn der Außenpolitik, auch Deutschlands, im Grundsätzlichen. Ich darf hier unsere Erklärung in der Aussprache zur Regierungserklärung vom 29. Oktober 1953 in Erinnerung rufen:
    Der Schlüssel des Friedens in Europa ist die Überwindung der Spaltung Deutschlands. Mit diesem Schlüssel wird aber das Tor des Friedens nur dann aufgeschlossen, wenn das in seiner Einheit wiederhergestellte Deutschland ein Glied des vereinigten Europas wird und damit seine Freiheit, seine Substanz auch für die Zukunft gesichert bleibt. Das vereinigte Europa soll als ein selbständiger Faktor im Range der Souveränität einer Weltmacht — denn das vereinigte Europa würde den Rang einer Weltmacht haben — ein Glied der atlantischen Gemeinschaft sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Commonwealth und das vereinigte Europa sind die Hauptbestandteile dieser atlantischen Gemeinschaft, die allein in der Lage ist, mit dem Ostblock, der unter der Führung der Sowjetunion steht, ein friedliches Gleichgewicht und einen Ausgleich zu suchen.
    Auf der Grundlage dieser unveränderlichen Position unserer Politik komme ich nun zu den Elementen, die die konkreten deutschen Ziele im engeren Sinne und die konkreten außenpolitischen Vorstellungen der Fraktionsgemeinschaft Deutsche Partei - Freie Volkspartei bestimmen, nämlich erstens die Festigung und Sicherung der Bundesrepublik als Ausgangsbasis für die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, zweitens die Erhaltung des Einheitsbewußtseins der Nation, drittens die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, viertens die Vorsorge für die Sicherung Deutschlands nach Beseitigung seiner Spaltung, fünftens die Lösung der deutschen Grenzprobleme im Osten, sechstens die Sicherung des Rechts der Vertriebenen auf ihre Heimat diesseits und jenseits der alten Reichsgrenzen, siebentens die Normalisierung der Beziehungen zu allen Staaten Osteuropas im Sinne des vom Grundgesetz genannten Zieles des friedlichen Zusammenlebens der Völker — gerade bei diesem Problem bedarf es besonderer Vorsicht und der besonderen Aufmerksamkeit unserer Politik — und schließlich achtens der auf der Basis der Gleichberechtigung zu unternehmende Versuch, das friedliche Zusammenleben auch mit den osteuropäischen Völkern im Rahmen eines vereinten Europas zu entwickeln.


    (Dr. von Merkatz)

    Diese Ziele sind nach Ansicht der Fraktionsgemeinschaft in einer Regierung und Opposition bindenden Form bereits in unserem Grundgesetz niedergelegt. Die Präambel des Grundgesetzes drückt den Wunsch und den Willen des für die Gesamtnation in der Bundesrepublik handelnden deutschen Volkes aus, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Ferner wird das deutsche Volk aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Weiter bestimmt Art. 146 des Grundgesetzes, daß eine gesamtdeutsche Verfassung vom deutschen Volk in freier Entscheidung zu beschließen ist, erhebt also die Forderung nach Wiedervereinigung in Freiheit zu einem Regierung wie Opposition bindenden Verfassungsgrundsatz. Im übrigen weist die Vorschrift des Art. 24 des Grundgesetzes, die die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, den Beitritt zu einem System kollektiver Sicherheit, Vereinbarungen über eine obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeit gestattet, auf eine die internationale Zusammenarbeit fördernde Außenpolitik der Bundesrepublik hin. In dieselbe Richtung weist auch Art. 26 des Grundgesetzes, der Handlungen für verfassungswidrig erklärt, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben zwischen den Völkern zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten.
    Kraft Verfassung hat die Außenpolitik der Bundesrepublik eine Friedenspolitik zu sein und jede Gewaltpolitik bei der Verfolgung ihrer Ziele auszuscheiden. Verzicht auf Gewaltanwendung bedeutet aber nicht Verzicht überhaupt, insbesondere nicht Verzicht auf Sicherheit und Abwehr, und nicht die Preisgabe von Zielen wesentlicher oder gar existentieller Art. Jedes politische Handeln steht unter dem Gesetz der Wechselwirkung von Ziel und Weg. Das wird sofort deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Ziel der Wiedervereinigung unter freiheitlichen Bedingungen ein wesentlich anderes Vorgehen vorschreibt, als wenn diese Bedingung nicht gestellt wäre. Hier liegt der Schlüssel zur bisherigen Politik der Wiedervereinigung und damit zum wichtigsten Teil auch unserer Außenpolitik.
    Wenn man den mit dem Ruf nach einer neuen Außenpolitik auftretenden Kritikern der bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung Glauben schenken wollte, dann wäre diese Politik doktrinär, steril, zu einseitig nach dem Westen ausgerichtet, in vorwiegend militärischem Denken befangen, phantasielos usw., alles in allem hoffnungslos starr und bestürzend einsichtslos. — Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, die die Opposition vorgebracht hat. Man muß sie also, soweit sie aus echter Sorge um das deutsche Schicksal vorgebracht werden, ernst nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
    Das setzt zunächst einen Blick auf die Zielsetzung und den Weg der lange Jahre auch von Kreisen der jetzigen Opposition mitgetragenen bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung voraus. Mit den Worten Freiheit, Frieden, Wiedervereinigung, Ostgrenzen, Heimatrecht, Vereintes Europa, friedliches Zusammenleben mit allen Völkern der Welt ist die allgemeine Zielsetzung der Außenpolitik der Bundesregierung angesprochen. Sie ist, wie erwähnt, nicht die willkürliche Erfindung einer bestimmten Regierung, sondern sie ergibt sich weitgehend aus dem Grundgesetz, darf daher auch im Falle eines Regierungswechsels im Grundsätzlichen keinen Wandel erfahren.
    In wenigen Strichen gezeichnet: die bisherige Außenpolitik der Bundesregierung brachte die schrittweise Verbesserung 'der Beziehungen zu den drei westlichen Besatzungsmächten, die Aufnahme und den Ausbau diplomatischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zu einer Vielzahl von Staaten in allen Kontinenten, die Mitgliedschaft in zahlreichen internationalen Organisationen einschließlich der Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Im Rahmen der Europapolitik bestand diese Politik u. a. im Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsrat, zur Europäischen Zahlungsunion und zum Europarat, in der Mitbegründung der Montanunion, der Mitwirkung 'bei dem Versuch der Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft und im Rahmen dieser Bemühungen neuerdings in der Förderung der Pläne zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und der Euratom.
    Diese auf eine möglichst weitgehende internationale Zusammenarbeit gerichtete Außenpolitik konnte nur nach Westen ausgerichtet sein; denn die aggressive Politik des Ostblocks machte die Anwendung der gleichen Prinzipien nach Osten hin unmöglich.
    Den entscheidenden Schritt auf dem Wege zur Festigung dieser allgemeinen Richtung der Außenpolitik bildete die unter dem Schock der Koreakrise eingeleitete 'Politik der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und des Generalvertrags und nach deren Scheitern die Bündnisgemeinschaft mit dem Westen in den Pariser Verträgen, der Westeuropäischen Union und der Nordatlantischen Gemeinschaft. Diese Bündnisgemeinschaft bestimmt in entscheidender Weise den internationalen Standort der Bundesrepublik.
    In seinem am 1. Dezember 1955 vor dem Bundestag abgegebenen Rechenschaftsbericht über die zwei Genfer iKonferenzen, die von der Bundesrepublik verfolgte Außenpolitik erklärte der Bundesaußenminister, die Bundesrepublik werde in loyaler Erfüllung der von der Bundesrepublik freiwillig eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen ihre Bemühungen fortsetzen, an der Verteidigung der freien Welt und damit an der Verteidigung der eigenen Freiheit mitzuwirken. Sie sei der festen Überzeugung, daß dies der einzige Weg sei, der ihr vorgeschrieben sei, wenn sie in wirksamer Weise die Interessen des ganzen deutschen Volkes wahrnehmen wolle. — Darin liegt eine klare Aussage, gewissermaßen das Kredo der amtlichen Außenpolitik. Das fordert die Frage heraus, worauf sich diese von der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition geteilte Überzeugung stützt. Nur die wichtigsten der die Außenpolitik der Bundesregierung bestimmenden Grundforderungen und Überlegungen können hier angeführt werden.
    An erster Stelle steht die Forderung nach Freiheit und Sicherheit. Sie bestimmt in entscheidender Weise die außenpolitische Konzeption. Für die Freiheit gibt es keinen Preis. Dasselbe gilt für die äußere und innere Sicherheit; denn ohne die Sicherheit gibt es keine Freiheit. Man kann also nicht die Freiheit mit der Preisgabe der Sicher-


    (Dr. von Merkatz)

    heit einhandeln. Selbst die Forderung nach Wiedervereinigung muß dem untergeordnet bleiben. Denn Wiedervereinigung um den Preis der Freiheit hieße mit dieser auch den Preis der Freiheit bezahlen und damit die Unfreiheit für alle schaffen. Dies kann nicht in Erwägung gezogen werden.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Freiheit bedeutet zunächst, daß das deutsche Volk in souveräner Selbstbestimmung ohne fremde Einmischung seine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung selbst bestimmt und mit den institutionellen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates sichert. Das setzt freie Wahlen als wichtigsten, unverzichtbaren Schritt zur Wiedervereinigung voraus. Freiheit bedeutet aber auch, daß das deutsche Volk nach der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit seinen Standort in der Staatenwelt in eigener freier Entscheidung bestimmt, d. h. frei darüber entscheidet, wie seine Freiheit nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gesichert werden soll. Das Westbündnis hält den Weg dafür offen. Die Bundesregierung ist weder gewillt noch hat sie das Recht, Gesamtdeutschland mit politischen Hypotheken zu belasten, die die Entscheidungsfreiheit des deutschen Volkes im Innern wie nach außen in einer Weise einschränken würden, daß von einer echten Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr die Rede sein könnte. Eine Neutralisierung oder Bündnislosigkeit würde ein ungesichert zwischen Osten und Westen stehendes Deutschland zum Spielball widerstreitender Interessen machen. In einer solchen Lage würde Deutschland dazu gezwungen sein, eine in sich unaufrichtige Politik mit dem Schielen nach Osten und Westen hin zu betreiben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Demgegenüber würde die feste und unauflösliche Verankerung des wiedervereinigten Deutschlands in der Gemeinschaft der europäischen Völker und der freien Welt des Westens die sicherste Gewähr dafür bieten, daß Deutschland niemals mehr Mißbrauch mit seinen Kräften treiben könnte. Die Bedeutung dieser Tatsache ist deshalb der Sowjetunion ebenso zum Bewußtsein zu bringen wie der Wunsch des deutschen Volkes nach normalen und aufrichtigen Beziehungen zwischen einem in Freiheit wiedervereinigten Deutschland und dem russischen Volk. Solange die Sowjetunion von der Teilung Deutschlands und der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht, können keine wirklich normalen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, 'der Sowjetunion und Deutschland, bestehen.
    Über den politischen Standort eines wiedervereinigten Deutschlands kann es ebensowenig eine Diskussion geben wie über den der Bundesrepublik selbst. Beide gehören untrennbar zur freien Welt des Westens. Sie werden sich aus dieser Gemeinschaft weder verdrängen lassen noch freiwillig darauf verzichten.
    In dem Bekenntnis zur Freiheit liegt die innere Verbindung dieser Politik mit der Europapolitik der Bundesregierung. Das allgemeine Ziel dieser Politik ist jedoch nicht durch eine bestimmte internationale Konstellation bedingt, sondern auf die historische Entwicklung gegründet und entspricht einer wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeit sowie den kulturellen Bedürfnissen unseres Kontinents. Sie muß darum auch in Zukunft Richtschnur der deutschen Außenpolitik bleiben. Es ist falsch, einen Gegensatz zwischen der Europapolitik der Bundesregierung und der Wiedervereinigung zu konstruieren, da die die Europapolitik bestimmenden Gedanken und Triebkräfte, die für alle europäischen Völker die Freiheit und den Zusammenschluß herbeizuführen suchen, das Ziel, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu erlangen, notwendigerweise mit einschließen.
    Die Bündnisgemeinschaft mit dem Westen hat nicht allein die Sicherheit der Bundesrepublik als Ausgangsbasis für die Erringung der Freiheit für ganz Deutschland gebracht, sondern auch die Rechtsverpflichtung sämtlicher NATO-Staaten, das Ziel der Wiedervereinigung in Freiheit zu unterstützen. Es wäre verhängnisvoll, wenn den NATO-Mächten und insbesondere den drei Westmächten auch nur durch den Schein mangelnder Bündnistreue oder illoyalen Verhaltens seitens der 'Bundesrepublik Anlaß gegeben würde, diese Verpflichtungen nicht mehr mit derselben Gewissenhaftigkeit und Konsequenz einzuhalten, mit der die drei Westmächteinsbesondere auf den beiden Genfer Konferenzen 'ihre Bündnistreue bewiesen haben, mit der sowohl diese Mächte wie andere NATO-Staaten seither der Forderung nach Wiedervereinigung in Freiheit wiederholt Ausdruck gegeben haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Man hat von großen Wandlungen in der Welt gesprochen, die eine neue Außenpolitik der Bundesregierung erforderlich machten. Nachdem ich eben den Standort unserer außenpolitischen Bestrebungen dargelegt habe, ist nun zu fragen: 1. Was hat sich geändert hinsichtlich unserer außenpolitischen Bestrebungen? 2. Welche andere Sicherheit gibt es außer durch die NATO und ihre Garantien hinsichtlich der Integrität und Sicherheit der Bundesrepublik und Berlins? Was hat sich zugunsten dieser Sicherheit überhaupt geändert? 3. Sind der Fall Ungarn und die Drohung, die über Polen schwebt, nicht ein Beweis dafür, daß die Gefahr der Gewaltanwendung nach wie vor und jetzt in verstärktem Maße von Osten her droht?

    (Sehr richtig! bei der DP und FVP.)

    Wenn wir uns an der Schwelle des neuen Jahres ein Bild von der Lage machen wollen, dann müssen wir bekennen, daß die Ereignisse der letzten Monate deutlich gemacht haben, wie sehr der Friede und unsere eigene Sicherheit bedroht sind.

    (Sehr wahr! bei der DP und FVP.)

    Wir müssen eine Wandlung zum Schlechteren f est-stellen, die die Welt an den Rand und an die Grenze des Atomkriegs gebracht hat. Osten und Westen stehen sich nach wie vor in einem unüberbrückbaren Kontrast gegenüber. Die Periode einer propagierten friedlichen Koexistenz ist vorüber. Während die beiden Machtblöcke des Ostens und des Westens in ihren Positionen erstarrt sind und nur die Furcht vor dem Atomkrieg die eiskalte Koexistenz aufrechterhält und vor einer Katastrophe bewahrt, hat sich allerdings eine dritte Mächtegruppierung gebildet, ohne die in der UNO keine Zweidrittelmehrheit mehr herzustellen ist, die Gruppe der sogenannten non-committed nations. Die Wandlungen in der Machtlage der Welt bringen es mit sich, daß wir nicht etwa die bisherige Sicherheitspolitik in Gemeinschaft mit dem freien Westen aufweichen dürfen. Vielmehr ist es ein Gebot der Stunde, diese Politik noch zu verstärken und etwa aufgetretene Risse wieder zu schließen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



    (Dr. von Merkatz)

    Es gibt im westlichen Gefüge gewisse kritische Momente. Ich meine das Suez-Problem, die gefährliche Lage im Nahen Osten und die zahlreichen Krisenerscheinungen, die mit dem Ausgang und dem Ende des Kolonialismus verbunden sind. Hier muß Deutschland eine Politik des verständigen und verständnisvollen Ausgleichs führen, eine Politik, die unsere Solidarität mit Frankreich und England nicht aufs Spiel setzt, die aber auch nicht die Sympathien gefährdet, die das deutsche Volk in den sogenannten non-committed nations besitzt. Diese gewiß nicht leichte Politik wird dann ohne Fehltritt möglich sein, wenn wir uns streng an die moralischen Maßstäbe halten, die letzthin die überzeugendste Kraft einer politischen Linie darstellen.

    (Beifall rechts.)

    Ich darf hierbei erwähnen, ,daß es ein besonderes Anliegen, eine Anschauung unserer Fraktionsgemeinschaft fist, unser Verhältnis zu diesen Staaten, die jetzt zur Selbständigkeit und Souveränität erwachsen, dadurch zu fördern, daß wir ihnen jede Hilfe zuteil werden lassen, die auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet irgend möglich ist, um diese Völker, die Sehnsucht nach dem Lebensstandard der Westeuropäer und Amerikaner haben, auf die Beine zu stellen.

    (Beifall rechts und in der Mitte.)

    Nicht ein System papierner Pakte, sondern nur solche Verträge, die ein tatsächlicher Ausdruck der Gewichtsverteilung in der Welt sind, bringen die Welt in ein gesundes Gleichgewicht. Zu den wesentlichsten moralischen Prinzipien, die den Frieden in der Welt zu erhalten vermögen, gehört auch das, Vertragstreue immer wieder neu zu realisieren.
    Hier hat heute eine zum Teil polemische Aussprache und Auseinandersetzung stattgefunden. Dabei hat die Opposition zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung nach ihren und den Darlegungen der Sprecher der Koalition keine Möglichkeit der Initiative sehe. Ich möchte darauf antworten: die gesamte Außenpolitik der Bundesregierung ist eine ständige Initiative gewesen, die Wiedervereinigung zu erreichen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Hier ist das Wort gefallen: Wir kennen kein Rezept. Daraus könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, als fehle es an Phantasie und Vorstellungsvermögen für den politischen Plan. Meine Damen und Herren, das Wort „Rezept" auf dem Gebiet der Außenpolitik ist eine große Gedankenlosigkeit.

    (Sehr gut! bei der DP.)

    „Rezept" stammt aus der Apothekersprache. Und so einfach ist Außenpolitik nicht, daß man eine Mischung verschiedener Ingredienzien zusammenstellen könnte, um danach den bekömmlichen Trank für den Frieden herauszudestillieren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn Sie mich fragen: Wo liegt die Initiative?, — bitte, es gibt ein Memorandum der Bundesregierung vom Herbst vorigen Jahres, das auf sehr gründlichen Überlegungen aufgebaut ist. Ich vermute, daß viele, die mir jetzt entgegenschreien möchten, dieses Memorandum niemals studiert haben. Es gehören nämlich gut und gerne 15 Stunden anständigen Studiums dazu, die Tragweite und Bedeutung dieses Memorandums wirklich zu verstehen. Wer dann noch sagt, es habe keine Initiative gegeben, dem muß man doch entgegenhalten, er sage das aus einer gewissen Unkenntnis.
    Wenn Sie mich nun fragen: welche Vorstellung hat denn Ihre Fraktionsgemeinschaft davon, wie es werden könnte?, dann kann ich Ihnen darauf eine konkrete Antwort geben. Wir haben eine Vorstellung. Sehen Sie, in der Außenpolitik und im geschichtlichen Prozeß kann man mit den Gesetzen der einfachen Logik, der Mathematik und der logischen Berechnung doch sehr wenig anfangen. Denn erstens kommt es anders stets und zweitens als man denkt. Infolgedessen kommt es darauf an, zu erkennen, welche Entwicklungslinien sich andeuten.
    Welches ist nun — das kann man real an den Tatsachen analysieren — die Machtlage zwischen Ost und West? Warum läßt die Sowjetunion die sogenannte Deutsche Demokratische Republik denn nicht aus ihren Händen gleiten? Deshalb, weil die Sowjetunion in diesem von ihr besetzten Gebiet zwei auch für uns erkennbare Funktionen sieht. Es ist einmal die Funktion des besetzten Gebiets, als eine Klammer gegenüber den osteuropäischen Satellitenstaaten zu wirken — bekanntlich ist ja keinerlei Tauwind in der DDR gewesen —, eine militärische und politische Klammerfunktion. Es ist zweitens eine wirtschaftliche Funktion; denn es handelt sich um ein wirtschaftlich und industriell hochentwickeltes Gebiet, das in die Wirtschaftspläne des Ostblocks eingearbeitet ist. In der Entwicklung dieser beiden machtmäßigen Faktoren muß meiner Ansicht nach eine Änderung eintreten, damit die Frage der Wiederherstellung der Einheit des deutschen Staates reifen kann. Ich persönlich habe den Optimismus — entschuldigen Sie, Optimismus gehört zur staatsbürgerlichen Pflicht und zur Pflicht eines Politikers —, daß diese Entwicklung viel rascher in Gang kommt, als wir überhaupt zu berechnen vermögen. Wahrscheinlich wird die Quelle dieser Entwicklung in Osteuropa, in den Verhältnissen der osteuropäischen Staaten, in ihrer inneren und äußeren Ordnung liegen.
    Wir wollen hier nicht zuviel sagen, um nicht die Dinge zu stören; die soll man schweigend wachsen lassen. Von jeher sind in der Geschichte die großen Ereignisse schweigend und im Dunkel der Nacht gewachsen. Und Blut und Tränen sind schon genug geflossen.

    (Zuruf des Abg. Wehner.)

    — Was wollten Sie eben, Herr Kollege Wehner?

    (Abg. Wehner: Und frühmorgens um 5 hat dann der Rundfunk gesagt, daß in der Nacht etwas gewachsen sei!)

    — Ich muß Ihnen sagen, daß mir Ihre Rede etwas dunkel ist.

    (Zuruf des Abg. Wehner.)

    — Lassen Sie, wir wollen die Zeit nicht damit vertun!
    Der Herr Kollege Ollenhauer hat eine Kernfrage gestellt. Er hat gefragt: Was tut Ihr, Koalition und Regierung, wenn es zu Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem kommt? Ist dann die Bundesregierung bereit, ihre Mitgliedschaft in der NATO zur Diskussion zu stellen? Ich hoffe, daß ich seine Frage präzise wiedergegeben habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie kann man


    (Dr. von Merkatz)

    auf etwas antworten, was nicht in der Welt ist und zu dem die Vorstellung, die Phantasie nicht reicht, nämlich wie es in der Welt sein könnte, wenn Verhandlungen über ein wirkliches Sicherheitssystem stattfinden könnten! Ich stehe nicht an, mit allem Freimut folgendes zu bekennen. Wenn eine Entwicklung zur Einheit Europas kommt, die vor allem auch zu einer Neuorientierung in Osteuropa führt, so daß sich diese Staaten in einer gewissen Selbständigkeit der europäischen Gemeinschaft anschließen können, etwa die Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn, wenn also eine wirkliche Entspannung eintritt, wenn man auf dem Gebiet einer kontrollierten Abrüstung — denn darauf kommt es an — weitergekommen ist, wenn also wirklich der Geist des Friedens einzieht und damit der Gegensatz zwischen den beiden Blöcken gemildert wird, wenn man überhaupt nicht mehr von zwei einander gegenüberstehenden Blöcken in diesem Sinne sprechen kann, dann kommen Möglichkeiten, ein Sicherheitssystem auf der Einheit Europas, worin Deutschland eingeschlossen ist, aufzubauen. Ich hoffe zuversichtlich, daß einmal dieser große Ausgleich kommt und daß dann, wenn die großen Drei und unsere Bündnispartner und wir mit ihnen konkrete Verhandlungen darüber führen können, eine Wandlung der Weltlage vor sich geht, die eine andere Antwort erfordert, als sie die gegenwärtige, reale Weltlage notwendig macht. Diese Überlegungen dürften doch eigentlich selbstverständlich sein. Aber wenn man unter diesem „ZurDiskussion-Stellen" als Vorleistung die Preisgabe der Sicherheitsgrundlage versteht, so sagen wir ein eindeutiges Nein.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Bei der gegenwärtigen Verteilung der Machtgewichte in der Welt wird sehr deutlich, wie das Ansehen Europas gesunken ist. Ist es zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß die Welt an der Schwäche Europas krankt? Nur die Erneuerung Europas, und zwar ganz Europas einschließlich Osteuropas, die Neuordnung Mittel- und Osteuropas zu einer Einheit des Handelns und einer Einheit des Daseinsgefühls, nur die Zusammenarbeit kann das Gleichgewicht und damit den Frieden wiederherstellen und die Spannungen in der Welt ausgleichen. Eine der Grundfragen dabei ist die Überwindung der Spaltung Deutschlands, die Verständigung zwischen Ost und West, um diesen Gefahrenherd in der Mitte unseres Kontinents zu beseitigen.
    Ich komme damit zum Abschluß. Wir müssen aus dem Pragmatismus als Leitmotiv der Politik herauskommen und erkennen, daß weder eine Verrechtlichung der Politik — dazu hat Bismarck einiges gesagt — noch eine nur in diplomatische Taktik aufgelöste und zersplitterte Politik unserer Lage angemessen sein kann. Vom Pragmatismus ist es nur ein Schritt zum Opportunismus. Politik aber muß auf weite Sicht angelegt sein und auf Grundsätze aufgebaut werden. Diese müssen in eine überzeugende Form gebracht werden. Es ist ein Versäumnis, daß man in der angespannten Tätigkeit des materiellen Wiederaufbaus in Europa den seelisch notleidenden Menschen in der Wahrung ihrer religiösen und moralischen Substanz nicht genügend unter die Arme gegriffen hat.

    (Beifall rechts.)

    Die Außenpolitik des deutschen Volkes muß sich bewußt bleiben, daß wir nur ein Teil eines größeren Ganzen sind. Es kommt darauf an, daß die Grundinteressen unseres Volkes mit den moralischen Grundsätzen, die in der Welt des Westens und innerhalb der „non-committed nations" ihre Gültigkeit haben, in Übereinstimmung gebracht und gehalten werden. Das muß überzeugend in aller Welt zum Ausdruck gebracht werden.
    Ich möchte abschließend einige dieser wichtigsten moralischen Prinzipien in Wiederholung der Erklärung unserer Fraktionsgemeinschaft in der Aussprache vom 8. November des vorigen Jahres präzisieren:
    Eine dauerhafte und friedliche Ordnung in der Welt ist nur gewährleistet, wenn erstens das Recht jedes Volkes auf seine eigene Existenz uneingeschränkt anerkannt und geachtet wird, zweitens Einmischungen in die inneren Verhältnisse eines Staates als ein Verbrechen gegen die internationale Gemeinschaft gewertet und geahndet werden, drittens auf jede Gewaltanwendung bei internationalen Konflikten verzichtet und deren Regelung durch ein internationales Gericht oder durch eine mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattete politische Weltorganisation sichergestellt wird, wenn viertens die staatliche Einheit, die innere und äußere Freiheit und Selbstbestimmung eines Volkes ein Grundrecht sind, dessen Achtung und dessen Schutz zu den obersten Pflichten der internationalen Gemeinschaft gehört, und wenn fünftens die Achtung und der Schutz der Menschenrechte und des Rechtes in der Heimat und auf die Heimat zu den Basisprinzipien der Völkerrechtsordnung gehören.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Fraktionsgemeinschaft billigt die Grundlinien der Regierungserklärung. Sie hat sich für verpflichtet gehalten, dem Hause bei dieser wichtigen Aussprache ihre außenpolitische Vorstellung darzulegen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)