Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ehre, im Auftrage der Gemeinschaft der Fraktionen der Deutschen Partei und der Freien Volkspartei zu sprechen.
Wenn man die Debatte verfolgt hat, dann hat man doch manchmal den Eindruck, daß hier in der Aussprache eine Art Außenpolitik für den inneren Gebrauch gemacht wird. Namens meiner politischen
Freunde möchte ich zum Ausdruck bringen, daß wir das für eine große Gefahr halten. Was nützt es uns, wenn der eine oder der andere den Wahlkampf gewinnt und darüber die Interessen des Landes verliert? Dies ist eine ernste Sorge. Wir sind der Auffassung, daß eine außenpolitische Debatte, die über Grund- und Kernfragen des nationalen Lebens in eine Polemik ausartet, eine große Gefahr, wie gesagt, darstellt. Allerdings, heute ist das Wort von den Illusionen gefallen. Möglicherweise ist auch unsere Anschauung eine Illusion, daß man solche Kern- und Existenzfragen einer Nation aus dem Kampf der Wahlen heraushalten könnte, was den Interessen unseres Landes an sich dienen müßte.
Grundsätzlich muß kritisch bemerkt werden, daß die Debatte im gegenwärtigen Zeitpunkt an einem Fehler leidet, nämlich daran, daß konkrete Informationen über das politische Verhältnis der großen Drei — darunter verstehen wir heute die Vereinigten Staaten, Rußland und die führenden Staaten der sogenannten non-committed nations — fehlen. Eine Einschaltung in die Gespräche, die man vermutet, ohne diese Informationen kann zu Fehlern verleiten. Wir betrachten es als eine Torheit und auch als einen Mangel an politischem Stil, wenn über die vermuteten Fühlungnahmen zwischen den großen Machtblöcken Spekulationen angestellt werden, die der Bestätigung durch Tatsachen und zuverlässige Informationen entbehren. Es ist ein schlechter Stil des Denkens, auch in der Politik, wenn in der Lust des Mißtrauens immer etwas hinter dem Busch vermutet wird, was in der Regel gar nicht hinter diesem Busch ist. Spekulatives Mißtrauen ist schwächliche Unsicherheit des eigenen Willens und zeigt einen Mangel an Selbstvertrauen. Darum warnen wir vor einem unfundierten Rätselraten hinsichtlich der Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika und unserer anderen Verbündeten in Europa und in der freien Welt. Versuchen wir vielmehr, ganz nüchtern eine Analyse der Interessen unserer Bündnispartner und auch unserer eigenen Interessen vorzunehmen und nach den Elementen der Übereinstimmung der eigenen mit den fremden Interessen zu suchen. Nur so kommt man zu einer konstruktiven Politik, die dem Frieden dient.
Mit Sorge betrachtet die Fraktionsgemeinschaft DP-FVP gewisse Rückfälle in ein nationalistisches Spießertum, das weder die geistige noch die seelische Kraft aufbringt, sich aus der Enge nationalstaatlichen Denkens zu lösen. Es ist nun einmal Aufgabe der Menschen in Gegenwart und Zukunft, sich aus dieser Enge und Engherzigkeit herauszulösen und sich in der Liebe zum eigenen Land, in der Achtung vor den Lebensbedürfnissen und der Wesensart anderer Völker in die größeren Zusammenhänge einer Gesellschaft von Nationen einzuordnen und gegenseitig zu fördern. Die größeren Gruppierungen der Völker wachsen nunmehr zu größeren Einheiten heran. Dieser Prozeß ist unausweichlich. Er kann gestört, er kann aufgehalten werden, verhindert wird er nicht. Gehen wir also lieber mit dem Strom der Geschichte; sonst werden wir in ihm ertrinken.
Ich möchte nun zu einer wichtigen Unterscheidung kommen. Es gibt in der Außenpolitik Grundziele, die über ein Säkulum oder sogar über noch weitere Zeiträume reichen, und es gibt daneben Tagesereignisse, denen eine elastische Diplomatie
Rechnung tragen muß. In dieser Festigkeit im Grundsatz und in der Elastizität in der Methode der Durchführung liegt nach unserer Auffassung der Unterschied zwischen einer politischen und einer diplomatischen Haltung. Politische Grundsatzfestigkeit und diplomatische Anpassung an die jeweils gegebene Lage sollten niemals verwechselt werden.
Es gehört nun heute fast zu den Allgemeinplätzen, wenn man feststellt, daß die Ordnung der Nationalstaaten, die bisher das Staatensystem der Welt bestimmt hat, so wie sie im 19. Jahrhundert vollendet worden ist, nicht mehr genügt, um das Leben der Völker und der Nationen zu gewährleisten. Großräumige Zusammenschlüsse, die zu gemeinschaftlichem Handeln auf dem Gebiet der Außenpolitik, der Verteidigung, der Wirtschaft und der sozialen Entwicklung befähigen, sind im Entstehen. Dieser grundsätzlichen Entwicklung muß Rechnung getragen werden, und in sie eingebettet verläuft die Bahn der Außenpolitik, auch Deutschlands, im Grundsätzlichen. Ich darf hier unsere Erklärung in der Aussprache zur Regierungserklärung vom 29. Oktober 1953 in Erinnerung rufen:
Der Schlüssel des Friedens in Europa ist die Überwindung der Spaltung Deutschlands. Mit diesem Schlüssel wird aber das Tor des Friedens nur dann aufgeschlossen, wenn das in seiner Einheit wiederhergestellte Deutschland ein Glied des vereinigten Europas wird und damit seine Freiheit, seine Substanz auch für die Zukunft gesichert bleibt. Das vereinigte Europa soll als ein selbständiger Faktor im Range der Souveränität einer Weltmacht — denn das vereinigte Europa würde den Rang einer Weltmacht haben — ein Glied der atlantischen Gemeinschaft sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Commonwealth und das vereinigte Europa sind die Hauptbestandteile dieser atlantischen Gemeinschaft, die allein in der Lage ist, mit dem Ostblock, der unter der Führung der Sowjetunion steht, ein friedliches Gleichgewicht und einen Ausgleich zu suchen.
Auf der Grundlage dieser unveränderlichen Position unserer Politik komme ich nun zu den Elementen, die die konkreten deutschen Ziele im engeren Sinne und die konkreten außenpolitischen Vorstellungen der Fraktionsgemeinschaft Deutsche Partei - Freie Volkspartei bestimmen, nämlich erstens die Festigung und Sicherung der Bundesrepublik als Ausgangsbasis für die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, zweitens die Erhaltung des Einheitsbewußtseins der Nation, drittens die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, viertens die Vorsorge für die Sicherung Deutschlands nach Beseitigung seiner Spaltung, fünftens die Lösung der deutschen Grenzprobleme im Osten, sechstens die Sicherung des Rechts der Vertriebenen auf ihre Heimat diesseits und jenseits der alten Reichsgrenzen, siebentens die Normalisierung der Beziehungen zu allen Staaten Osteuropas im Sinne des vom Grundgesetz genannten Zieles des friedlichen Zusammenlebens der Völker — gerade bei diesem Problem bedarf es besonderer Vorsicht und der besonderen Aufmerksamkeit unserer Politik — und schließlich achtens der auf der Basis der Gleichberechtigung zu unternehmende Versuch, das friedliche Zusammenleben auch mit den osteuropäischen Völkern im Rahmen eines vereinten Europas zu entwickeln.
Diese Ziele sind nach Ansicht der Fraktionsgemeinschaft in einer Regierung und Opposition bindenden Form bereits in unserem Grundgesetz niedergelegt. Die Präambel des Grundgesetzes drückt den Wunsch und den Willen des für die Gesamtnation in der Bundesrepublik handelnden deutschen Volkes aus, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Ferner wird das deutsche Volk aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Weiter bestimmt Art. 146 des Grundgesetzes, daß eine gesamtdeutsche Verfassung vom deutschen Volk in freier Entscheidung zu beschließen ist, erhebt also die Forderung nach Wiedervereinigung in Freiheit zu einem Regierung wie Opposition bindenden Verfassungsgrundsatz. Im übrigen weist die Vorschrift des Art. 24 des Grundgesetzes, die die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, den Beitritt zu einem System kollektiver Sicherheit, Vereinbarungen über eine obligatorische internationale Schiedsgerichtsbarkeit gestattet, auf eine die internationale Zusammenarbeit fördernde Außenpolitik der Bundesrepublik hin. In dieselbe Richtung weist auch Art. 26 des Grundgesetzes, der Handlungen für verfassungswidrig erklärt, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben zwischen den Völkern zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten.
Kraft Verfassung hat die Außenpolitik der Bundesrepublik eine Friedenspolitik zu sein und jede Gewaltpolitik bei der Verfolgung ihrer Ziele auszuscheiden. Verzicht auf Gewaltanwendung bedeutet aber nicht Verzicht überhaupt, insbesondere nicht Verzicht auf Sicherheit und Abwehr, und nicht die Preisgabe von Zielen wesentlicher oder gar existentieller Art. Jedes politische Handeln steht unter dem Gesetz der Wechselwirkung von Ziel und Weg. Das wird sofort deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Ziel der Wiedervereinigung unter freiheitlichen Bedingungen ein wesentlich anderes Vorgehen vorschreibt, als wenn diese Bedingung nicht gestellt wäre. Hier liegt der Schlüssel zur bisherigen Politik der Wiedervereinigung und damit zum wichtigsten Teil auch unserer Außenpolitik.
Wenn man den mit dem Ruf nach einer neuen Außenpolitik auftretenden Kritikern der bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung Glauben schenken wollte, dann wäre diese Politik doktrinär, steril, zu einseitig nach dem Westen ausgerichtet, in vorwiegend militärischem Denken befangen, phantasielos usw., alles in allem hoffnungslos starr und bestürzend einsichtslos. — Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, die die Opposition vorgebracht hat. Man muß sie also, soweit sie aus echter Sorge um das deutsche Schicksal vorgebracht werden, ernst nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
Das setzt zunächst einen Blick auf die Zielsetzung und den Weg der lange Jahre auch von Kreisen der jetzigen Opposition mitgetragenen bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung voraus. Mit den Worten Freiheit, Frieden, Wiedervereinigung, Ostgrenzen, Heimatrecht, Vereintes Europa, friedliches Zusammenleben mit allen Völkern der Welt ist die allgemeine Zielsetzung der Außenpolitik der Bundesregierung angesprochen. Sie ist, wie erwähnt, nicht die willkürliche Erfindung einer bestimmten Regierung, sondern sie ergibt sich weitgehend aus dem Grundgesetz, darf daher auch im Falle eines Regierungswechsels im Grundsätzlichen keinen Wandel erfahren.
In wenigen Strichen gezeichnet: die bisherige Außenpolitik der Bundesregierung brachte die schrittweise Verbesserung 'der Beziehungen zu den drei westlichen Besatzungsmächten, die Aufnahme und den Ausbau diplomatischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zu einer Vielzahl von Staaten in allen Kontinenten, die Mitgliedschaft in zahlreichen internationalen Organisationen einschließlich der Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Im Rahmen der Europapolitik bestand diese Politik u. a. im Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsrat, zur Europäischen Zahlungsunion und zum Europarat, in der Mitbegründung der Montanunion, der Mitwirkung 'bei dem Versuch der Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft und im Rahmen dieser Bemühungen neuerdings in der Förderung der Pläne zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und der Euratom.
Diese auf eine möglichst weitgehende internationale Zusammenarbeit gerichtete Außenpolitik konnte nur nach Westen ausgerichtet sein; denn die aggressive Politik des Ostblocks machte die Anwendung der gleichen Prinzipien nach Osten hin unmöglich.
Den entscheidenden Schritt auf dem Wege zur Festigung dieser allgemeinen Richtung der Außenpolitik bildete die unter dem Schock der Koreakrise eingeleitete 'Politik der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und des Generalvertrags und nach deren Scheitern die Bündnisgemeinschaft mit dem Westen in den Pariser Verträgen, der Westeuropäischen Union und der Nordatlantischen Gemeinschaft. Diese Bündnisgemeinschaft bestimmt in entscheidender Weise den internationalen Standort der Bundesrepublik.
In seinem am 1. Dezember 1955 vor dem Bundestag abgegebenen Rechenschaftsbericht über die zwei Genfer iKonferenzen, die von der Bundesrepublik verfolgte Außenpolitik erklärte der Bundesaußenminister, die Bundesrepublik werde in loyaler Erfüllung der von der Bundesrepublik freiwillig eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen ihre Bemühungen fortsetzen, an der Verteidigung der freien Welt und damit an der Verteidigung der eigenen Freiheit mitzuwirken. Sie sei der festen Überzeugung, daß dies der einzige Weg sei, der ihr vorgeschrieben sei, wenn sie in wirksamer Weise die Interessen des ganzen deutschen Volkes wahrnehmen wolle. — Darin liegt eine klare Aussage, gewissermaßen das Kredo der amtlichen Außenpolitik. Das fordert die Frage heraus, worauf sich diese von der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition geteilte Überzeugung stützt. Nur die wichtigsten der die Außenpolitik der Bundesregierung bestimmenden Grundforderungen und Überlegungen können hier angeführt werden.
An erster Stelle steht die Forderung nach Freiheit und Sicherheit. Sie bestimmt in entscheidender Weise die außenpolitische Konzeption. Für die Freiheit gibt es keinen Preis. Dasselbe gilt für die äußere und innere Sicherheit; denn ohne die Sicherheit gibt es keine Freiheit. Man kann also nicht die Freiheit mit der Preisgabe der Sicher-
heit einhandeln. Selbst die Forderung nach Wiedervereinigung muß dem untergeordnet bleiben. Denn Wiedervereinigung um den Preis der Freiheit hieße mit dieser auch den Preis der Freiheit bezahlen und damit die Unfreiheit für alle schaffen. Dies kann nicht in Erwägung gezogen werden.
Freiheit bedeutet zunächst, daß das deutsche Volk in souveräner Selbstbestimmung ohne fremde Einmischung seine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung selbst bestimmt und mit den institutionellen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates sichert. Das setzt freie Wahlen als wichtigsten, unverzichtbaren Schritt zur Wiedervereinigung voraus. Freiheit bedeutet aber auch, daß das deutsche Volk nach der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit seinen Standort in der Staatenwelt in eigener freier Entscheidung bestimmt, d. h. frei darüber entscheidet, wie seine Freiheit nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gesichert werden soll. Das Westbündnis hält den Weg dafür offen. Die Bundesregierung ist weder gewillt noch hat sie das Recht, Gesamtdeutschland mit politischen Hypotheken zu belasten, die die Entscheidungsfreiheit des deutschen Volkes im Innern wie nach außen in einer Weise einschränken würden, daß von einer echten Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr die Rede sein könnte. Eine Neutralisierung oder Bündnislosigkeit würde ein ungesichert zwischen Osten und Westen stehendes Deutschland zum Spielball widerstreitender Interessen machen. In einer solchen Lage würde Deutschland dazu gezwungen sein, eine in sich unaufrichtige Politik mit dem Schielen nach Osten und Westen hin zu betreiben.
Demgegenüber würde die feste und unauflösliche Verankerung des wiedervereinigten Deutschlands in der Gemeinschaft der europäischen Völker und der freien Welt des Westens die sicherste Gewähr dafür bieten, daß Deutschland niemals mehr Mißbrauch mit seinen Kräften treiben könnte. Die Bedeutung dieser Tatsache ist deshalb der Sowjetunion ebenso zum Bewußtsein zu bringen wie der Wunsch des deutschen Volkes nach normalen und aufrichtigen Beziehungen zwischen einem in Freiheit wiedervereinigten Deutschland und dem russischen Volk. Solange die Sowjetunion von der Teilung Deutschlands und der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht, können keine wirklich normalen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, 'der Sowjetunion und Deutschland, bestehen.
Über den politischen Standort eines wiedervereinigten Deutschlands kann es ebensowenig eine Diskussion geben wie über den der Bundesrepublik selbst. Beide gehören untrennbar zur freien Welt des Westens. Sie werden sich aus dieser Gemeinschaft weder verdrängen lassen noch freiwillig darauf verzichten.
In dem Bekenntnis zur Freiheit liegt die innere Verbindung dieser Politik mit der Europapolitik der Bundesregierung. Das allgemeine Ziel dieser Politik ist jedoch nicht durch eine bestimmte internationale Konstellation bedingt, sondern auf die historische Entwicklung gegründet und entspricht einer wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeit sowie den kulturellen Bedürfnissen unseres Kontinents. Sie muß darum auch in Zukunft Richtschnur der deutschen Außenpolitik bleiben. Es ist falsch, einen Gegensatz zwischen der Europapolitik der Bundesregierung und der Wiedervereinigung zu konstruieren, da die die Europapolitik bestimmenden Gedanken und Triebkräfte, die für alle europäischen Völker die Freiheit und den Zusammenschluß herbeizuführen suchen, das Ziel, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu erlangen, notwendigerweise mit einschließen.
Die Bündnisgemeinschaft mit dem Westen hat nicht allein die Sicherheit der Bundesrepublik als Ausgangsbasis für die Erringung der Freiheit für ganz Deutschland gebracht, sondern auch die Rechtsverpflichtung sämtlicher NATO-Staaten, das Ziel der Wiedervereinigung in Freiheit zu unterstützen. Es wäre verhängnisvoll, wenn den NATO-Mächten und insbesondere den drei Westmächten auch nur durch den Schein mangelnder Bündnistreue oder illoyalen Verhaltens seitens der 'Bundesrepublik Anlaß gegeben würde, diese Verpflichtungen nicht mehr mit derselben Gewissenhaftigkeit und Konsequenz einzuhalten, mit der die drei Westmächteinsbesondere auf den beiden Genfer Konferenzen 'ihre Bündnistreue bewiesen haben, mit der sowohl diese Mächte wie andere NATO-Staaten seither der Forderung nach Wiedervereinigung in Freiheit wiederholt Ausdruck gegeben haben.
Man hat von großen Wandlungen in der Welt gesprochen, die eine neue Außenpolitik der Bundesregierung erforderlich machten. Nachdem ich eben den Standort unserer außenpolitischen Bestrebungen dargelegt habe, ist nun zu fragen: 1. Was hat sich geändert hinsichtlich unserer außenpolitischen Bestrebungen? 2. Welche andere Sicherheit gibt es außer durch die NATO und ihre Garantien hinsichtlich der Integrität und Sicherheit der Bundesrepublik und Berlins? Was hat sich zugunsten dieser Sicherheit überhaupt geändert? 3. Sind der Fall Ungarn und die Drohung, die über Polen schwebt, nicht ein Beweis dafür, daß die Gefahr der Gewaltanwendung nach wie vor und jetzt in verstärktem Maße von Osten her droht?
Wenn wir uns an der Schwelle des neuen Jahres ein Bild von der Lage machen wollen, dann müssen wir bekennen, daß die Ereignisse der letzten Monate deutlich gemacht haben, wie sehr der Friede und unsere eigene Sicherheit bedroht sind.
Wir müssen eine Wandlung zum Schlechteren f est-stellen, die die Welt an den Rand und an die Grenze des Atomkriegs gebracht hat. Osten und Westen stehen sich nach wie vor in einem unüberbrückbaren Kontrast gegenüber. Die Periode einer propagierten friedlichen Koexistenz ist vorüber. Während die beiden Machtblöcke des Ostens und des Westens in ihren Positionen erstarrt sind und nur die Furcht vor dem Atomkrieg die eiskalte Koexistenz aufrechterhält und vor einer Katastrophe bewahrt, hat sich allerdings eine dritte Mächtegruppierung gebildet, ohne die in der UNO keine Zweidrittelmehrheit mehr herzustellen ist, die Gruppe der sogenannten non-committed nations. Die Wandlungen in der Machtlage der Welt bringen es mit sich, daß wir nicht etwa die bisherige Sicherheitspolitik in Gemeinschaft mit dem freien Westen aufweichen dürfen. Vielmehr ist es ein Gebot der Stunde, diese Politik noch zu verstärken und etwa aufgetretene Risse wieder zu schließen.
Es gibt im westlichen Gefüge gewisse kritische Momente. Ich meine das Suez-Problem, die gefährliche Lage im Nahen Osten und die zahlreichen Krisenerscheinungen, die mit dem Ausgang und dem Ende des Kolonialismus verbunden sind. Hier muß Deutschland eine Politik des verständigen und verständnisvollen Ausgleichs führen, eine Politik, die unsere Solidarität mit Frankreich und England nicht aufs Spiel setzt, die aber auch nicht die Sympathien gefährdet, die das deutsche Volk in den sogenannten non-committed nations besitzt. Diese gewiß nicht leichte Politik wird dann ohne Fehltritt möglich sein, wenn wir uns streng an die moralischen Maßstäbe halten, die letzthin die überzeugendste Kraft einer politischen Linie darstellen.
Ich darf hierbei erwähnen, ,daß es ein besonderes Anliegen, eine Anschauung unserer Fraktionsgemeinschaft fist, unser Verhältnis zu diesen Staaten, die jetzt zur Selbständigkeit und Souveränität erwachsen, dadurch zu fördern, daß wir ihnen jede Hilfe zuteil werden lassen, die auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet irgend möglich ist, um diese Völker, die Sehnsucht nach dem Lebensstandard der Westeuropäer und Amerikaner haben, auf die Beine zu stellen.
Nicht ein System papierner Pakte, sondern nur solche Verträge, die ein tatsächlicher Ausdruck der Gewichtsverteilung in der Welt sind, bringen die Welt in ein gesundes Gleichgewicht. Zu den wesentlichsten moralischen Prinzipien, die den Frieden in der Welt zu erhalten vermögen, gehört auch das, Vertragstreue immer wieder neu zu realisieren.
Hier hat heute eine zum Teil polemische Aussprache und Auseinandersetzung stattgefunden. Dabei hat die Opposition zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesregierung nach ihren und den Darlegungen der Sprecher der Koalition keine Möglichkeit der Initiative sehe. Ich möchte darauf antworten: die gesamte Außenpolitik der Bundesregierung ist eine ständige Initiative gewesen, die Wiedervereinigung zu erreichen.
Hier ist das Wort gefallen: Wir kennen kein Rezept. Daraus könnte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, als fehle es an Phantasie und Vorstellungsvermögen für den politischen Plan. Meine Damen und Herren, das Wort „Rezept" auf dem Gebiet der Außenpolitik ist eine große Gedankenlosigkeit.
„Rezept" stammt aus der Apothekersprache. Und so einfach ist Außenpolitik nicht, daß man eine Mischung verschiedener Ingredienzien zusammenstellen könnte, um danach den bekömmlichen Trank für den Frieden herauszudestillieren.
Wenn Sie mich fragen: Wo liegt die Initiative?, — bitte, es gibt ein Memorandum der Bundesregierung vom Herbst vorigen Jahres, das auf sehr gründlichen Überlegungen aufgebaut ist. Ich vermute, daß viele, die mir jetzt entgegenschreien möchten, dieses Memorandum niemals studiert haben. Es gehören nämlich gut und gerne 15 Stunden anständigen Studiums dazu, die Tragweite und Bedeutung dieses Memorandums wirklich zu verstehen. Wer dann noch sagt, es habe keine Initiative gegeben, dem muß man doch entgegenhalten, er sage das aus einer gewissen Unkenntnis.
Wenn Sie mich nun fragen: welche Vorstellung hat denn Ihre Fraktionsgemeinschaft davon, wie es werden könnte?, dann kann ich Ihnen darauf eine konkrete Antwort geben. Wir haben eine Vorstellung. Sehen Sie, in der Außenpolitik und im geschichtlichen Prozeß kann man mit den Gesetzen der einfachen Logik, der Mathematik und der logischen Berechnung doch sehr wenig anfangen. Denn erstens kommt es anders stets und zweitens als man denkt. Infolgedessen kommt es darauf an, zu erkennen, welche Entwicklungslinien sich andeuten.
Welches ist nun — das kann man real an den Tatsachen analysieren — die Machtlage zwischen Ost und West? Warum läßt die Sowjetunion die sogenannte Deutsche Demokratische Republik denn nicht aus ihren Händen gleiten? Deshalb, weil die Sowjetunion in diesem von ihr besetzten Gebiet zwei auch für uns erkennbare Funktionen sieht. Es ist einmal die Funktion des besetzten Gebiets, als eine Klammer gegenüber den osteuropäischen Satellitenstaaten zu wirken — bekanntlich ist ja keinerlei Tauwind in der DDR gewesen —, eine militärische und politische Klammerfunktion. Es ist zweitens eine wirtschaftliche Funktion; denn es handelt sich um ein wirtschaftlich und industriell hochentwickeltes Gebiet, das in die Wirtschaftspläne des Ostblocks eingearbeitet ist. In der Entwicklung dieser beiden machtmäßigen Faktoren muß meiner Ansicht nach eine Änderung eintreten, damit die Frage der Wiederherstellung der Einheit des deutschen Staates reifen kann. Ich persönlich habe den Optimismus — entschuldigen Sie, Optimismus gehört zur staatsbürgerlichen Pflicht und zur Pflicht eines Politikers —, daß diese Entwicklung viel rascher in Gang kommt, als wir überhaupt zu berechnen vermögen. Wahrscheinlich wird die Quelle dieser Entwicklung in Osteuropa, in den Verhältnissen der osteuropäischen Staaten, in ihrer inneren und äußeren Ordnung liegen.
Wir wollen hier nicht zuviel sagen, um nicht die Dinge zu stören; die soll man schweigend wachsen lassen. Von jeher sind in der Geschichte die großen Ereignisse schweigend und im Dunkel der Nacht gewachsen. Und Blut und Tränen sind schon genug geflossen.
— Was wollten Sie eben, Herr Kollege Wehner?
— Ich muß Ihnen sagen, daß mir Ihre Rede etwas dunkel ist.
— Lassen Sie, wir wollen die Zeit nicht damit vertun!
Der Herr Kollege Ollenhauer hat eine Kernfrage gestellt. Er hat gefragt: Was tut Ihr, Koalition und Regierung, wenn es zu Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem kommt? Ist dann die Bundesregierung bereit, ihre Mitgliedschaft in der NATO zur Diskussion zu stellen? Ich hoffe, daß ich seine Frage präzise wiedergegeben habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie kann man
auf etwas antworten, was nicht in der Welt ist und zu dem die Vorstellung, die Phantasie nicht reicht, nämlich wie es in der Welt sein könnte, wenn Verhandlungen über ein wirkliches Sicherheitssystem stattfinden könnten! Ich stehe nicht an, mit allem Freimut folgendes zu bekennen. Wenn eine Entwicklung zur Einheit Europas kommt, die vor allem auch zu einer Neuorientierung in Osteuropa führt, so daß sich diese Staaten in einer gewissen Selbständigkeit der europäischen Gemeinschaft anschließen können, etwa die Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn, wenn also eine wirkliche Entspannung eintritt, wenn man auf dem Gebiet einer kontrollierten Abrüstung — denn darauf kommt es an — weitergekommen ist, wenn also wirklich der Geist des Friedens einzieht und damit der Gegensatz zwischen den beiden Blöcken gemildert wird, wenn man überhaupt nicht mehr von zwei einander gegenüberstehenden Blöcken in diesem Sinne sprechen kann, dann kommen Möglichkeiten, ein Sicherheitssystem auf der Einheit Europas, worin Deutschland eingeschlossen ist, aufzubauen. Ich hoffe zuversichtlich, daß einmal dieser große Ausgleich kommt und daß dann, wenn die großen Drei und unsere Bündnispartner und wir mit ihnen konkrete Verhandlungen darüber führen können, eine Wandlung der Weltlage vor sich geht, die eine andere Antwort erfordert, als sie die gegenwärtige, reale Weltlage notwendig macht. Diese Überlegungen dürften doch eigentlich selbstverständlich sein. Aber wenn man unter diesem „ZurDiskussion-Stellen" als Vorleistung die Preisgabe der Sicherheitsgrundlage versteht, so sagen wir ein eindeutiges Nein.
Bei der gegenwärtigen Verteilung der Machtgewichte in der Welt wird sehr deutlich, wie das Ansehen Europas gesunken ist. Ist es zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß die Welt an der Schwäche Europas krankt? Nur die Erneuerung Europas, und zwar ganz Europas einschließlich Osteuropas, die Neuordnung Mittel- und Osteuropas zu einer Einheit des Handelns und einer Einheit des Daseinsgefühls, nur die Zusammenarbeit kann das Gleichgewicht und damit den Frieden wiederherstellen und die Spannungen in der Welt ausgleichen. Eine der Grundfragen dabei ist die Überwindung der Spaltung Deutschlands, die Verständigung zwischen Ost und West, um diesen Gefahrenherd in der Mitte unseres Kontinents zu beseitigen.
Ich komme damit zum Abschluß. Wir müssen aus dem Pragmatismus als Leitmotiv der Politik herauskommen und erkennen, daß weder eine Verrechtlichung der Politik — dazu hat Bismarck einiges gesagt — noch eine nur in diplomatische Taktik aufgelöste und zersplitterte Politik unserer Lage angemessen sein kann. Vom Pragmatismus ist es nur ein Schritt zum Opportunismus. Politik aber muß auf weite Sicht angelegt sein und auf Grundsätze aufgebaut werden. Diese müssen in eine überzeugende Form gebracht werden. Es ist ein Versäumnis, daß man in der angespannten Tätigkeit des materiellen Wiederaufbaus in Europa den seelisch notleidenden Menschen in der Wahrung ihrer religiösen und moralischen Substanz nicht genügend unter die Arme gegriffen hat.
Die Außenpolitik des deutschen Volkes muß sich bewußt bleiben, daß wir nur ein Teil eines größeren Ganzen sind. Es kommt darauf an, daß die Grundinteressen unseres Volkes mit den moralischen Grundsätzen, die in der Welt des Westens und innerhalb der „non-committed nations" ihre Gültigkeit haben, in Übereinstimmung gebracht und gehalten werden. Das muß überzeugend in aller Welt zum Ausdruck gebracht werden.
Ich möchte abschließend einige dieser wichtigsten moralischen Prinzipien in Wiederholung der Erklärung unserer Fraktionsgemeinschaft in der Aussprache vom 8. November des vorigen Jahres präzisieren:
Eine dauerhafte und friedliche Ordnung in der Welt ist nur gewährleistet, wenn erstens das Recht jedes Volkes auf seine eigene Existenz uneingeschränkt anerkannt und geachtet wird, zweitens Einmischungen in die inneren Verhältnisse eines Staates als ein Verbrechen gegen die internationale Gemeinschaft gewertet und geahndet werden, drittens auf jede Gewaltanwendung bei internationalen Konflikten verzichtet und deren Regelung durch ein internationales Gericht oder durch eine mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattete politische Weltorganisation sichergestellt wird, wenn viertens die staatliche Einheit, die innere und äußere Freiheit und Selbstbestimmung eines Volkes ein Grundrecht sind, dessen Achtung und dessen Schutz zu den obersten Pflichten der internationalen Gemeinschaft gehört, und wenn fünftens die Achtung und der Schutz der Menschenrechte und des Rechtes in der Heimat und auf die Heimat zu den Basisprinzipien der Völkerrechtsordnung gehören.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Fraktionsgemeinschaft billigt die Grundlinien der Regierungserklärung. Sie hat sich für verpflichtet gehalten, dem Hause bei dieser wichtigen Aussprache ihre außenpolitische Vorstellung darzulegen.