Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Sie in so vorgerückter Stunde um einige Minuten Aufmerksamkeit bitte, so tue ich das, weil ich etwas vorzutragen habe, was nach meiner Auffassung im Rahmen der heutigen Debatte nicht unausgesprochen bleiben darf. Ich hatte gehofft, wesentlich früher an die Reihe zu kommen, und ich bin mir auch durchaus bewußt, daß die sehr interessanten Ausführungen der letzten Stunden es mir nicht leicht machen werden, Ihre Aufmerksamkeit zu finden. Es handelt sich um einige wenige kurze Bemerkungen.
Ich möchte auf eine Frage zurückkommen, die heute nicht im Kern der Auseinandersetzungen gestanden hat, die aber berührt worden ist, auf die Frage der deutschen Ostgebiete. Es hat bis etwa von einem Jahr ein stillschweigendes Abkommen zwischen dem Deutschen Bundestag, der deutschen Bundesregierung und, ich möchte sagen, der deutschen Öffentlichkeit gegolten, die Probleme der Wiedervereinigung und die Probleme der Oder-Neiße-Linie als nur in zwei Phasen lösbar anzusehen. Seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres ist aus Gründen, die ich nicht im einzelnen untersuchen möchte, von dieser sehr verständigen Übung abgewichen worden. Ich bitte, mir zu glauben, daß Millionen Heimatvertriebene in der Bundesrepublik hierdurch aufs tiefste beunruhigt und besorgt sind.
Es handelt sich um Vorgänge im außerparlamentarischen Raum. Ich würde heute nicht zu Ihnen gesprochen haben, wenn nicht ein ganz akuter, besonders besorgniserregender Anlaß dazu vorhanden wäre. Es handelt sich um die Äußerungen des gegenwärtigen Präsidenten des Deutschen Bundesrats, dem Regierenden Bürgermeister der Stadt Hamburg, Dr. Sieveking.
— Ich habe die Erklärungen der Bundesregierung, die der Herr Außenminister uns bekanntgegeben hat, nicht überhört. Ich habe auch die Äußerung, die Herr Dr. Kiesinger dazu abgegeben hat, nicht überhört. Aber gerade 'die Tatsache, daß Sie, meine Damen und Herren, auf die Worte meines Fraktionsfreundes Feller bisher auch nicht die geringste
Resonanz haben erkennen lassen, veranlaßt mich doch, noch einige mahnende Worte zu sagen.
Ich leite die Legitimation dazu weniger aus meiner Eigenschaft als Vertriebener her. Die Frage der deutschen Ostgebiete ist eine deutsche Frage, und der Verlust der Ostgebiete hat nicht nur die Vertriebenen, sondern — so meinen wir, und wir hoffen, daß die Mehrheit unseres Volkes so denkt — Deutschland getroffen.
Deshalb glaube ich, hierzu noch etwas sagen zu sollen.
Es ist ein Glücksfall. daß die Äußerungen des Herrn Sieveking im Wortlaut unbestreitbar vorliegen. Ich teile deshalb nicht die Auffassung des Herrn Außenministers, daß das merkwürdige Dementi, das uns heute auf den Tisch flatterte, die Angelegenheit bereinigt habe. Dieser Wortlaut ist iederzeit nachprüfbar. Ich möchte es mir wegen der vorgerückten Stunde versagen, irgend etwas daraus vorzulesen. Aber bitte. nehmen Sie — Sie haben die Möglichkeit der Nachprüfung — das eine entgegen: Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Herr Sieveking allen Äußerungen der Verzichtspolitiker die Krone aufgesetzt hat. Er kann es nicht bestreiten. daß er in Äußerungen vor dem Verein auswärtige Presse es als möglich hingestellt hat, daß, ohne daß die Existenz Deutschlands :gefährdet würde, nicht nur eine, sondern mehrere preußische Provinzen hingegeben werden.
Ich habe mich darüber gefreut, daß der Herr Außenminister nicht von dem Privatmann gesprochen hat, sondern daß er nicht übersehen hat. daß dieser Privatmann mit dem Präsidenten des Deutschen Bundesrates identisch ist.
Heute hat Herr Dr. Schäfer in einem ganz anderen Zusammenhang ein Wort gesprochen, das ich mir zu eigen machen möchte. Er hat gesagt, wir sollten alle Wert darauf legen, daß kein Zweifel an der Entschiedenheit geweckt wird, mit der wir unseren gemeinsamen Willen schon oft ausgedrückt haben. Es kann doch kein Zweifel darüber sein, daß der Deutsche Bundestag in all seinen Parteien mehrfach in feierlichster Form zu den Rechtsansprüchen der Vertriebenen, zu den Rechtsansprüchen Deutschlands auf seine Ostgebiete sich eindeutig festgelegt hat. Wenn wir nun im Laufe der letzten sechs Monate erlebt haben, daß im außerparlamentarischen Raum nicht irgendwer, sondern sehr prominente Sprecher von Parteien und sogar der Herr Präsident des Deutschen Bundesrates von diesen feierlichen Erklärungen .abgerückt sind und Äußerungen getan haben, die in ihrer Verantwortungslosigkeit nicht zu übersehen sind, dann sollte das im Rahmen einer .außenpolitischen Debatte einmal deutlich zum Ausdruck kommen.
Es sind heute für das Ohr der Vertriebenen auch manche guten Worte gesprochen worden; das will ich gern zugeben. Aber wollen Sie es den Vertriebenen verübeln, wenn sie langsam an der Glaubwürdigkeit .auch feierlicher Erklärungen zu zweifeln beginnen, falls wir nicht Mittel und Wege finden, diesem Unfug zu steuern, der sich im Laufe der letzten sechs Monate im außerparlamentarischen Raum ergeben hat? Ich möchte meinen, daß alle Parteien, die sich in ihrem Bereich mit derartigen Meinungen auseinanderzusetzen haben, es nicht dabei bewenden lassen sollten, zu erklären, hier handle es sich um eine Privatmeinung. Meine
Herren von der CDU, ich sehe die Situation wohl nicht falsch, wenn ich glaube, daß die Äußerungen Ihres Parteifreundes Dr. Sieveking, ab Sie sie billigen oder nicht, noch lange an Ihren Rockschößen hängen bleiben werden, wenn Sie nicht deutlicher, als das bisher geschehen ist, von ihnen abrücken.
Es geht um einen Vertrauensfundus, den die deutsche Bundesrepublik in den Monaten und Jahren, die vor uns stehen, noch dringend brauchen wird. Die Vertriebenen haben den Eindruck, daß ihr maßvolles Verhalten, ihre positive Einstellung zu dem Aufbau dieses Staates schlecht belohnt werden, wenn in diesen ihren Fragen — um die sie sich nicht um ihrer selbst willen, sondern auch um Deutschlands willen bemühen — der Deutsche Bundestag gegenüber solchen Erscheinungen nicht deutlicher abrückt, als es bisher geschehen ist. Ich glaube, daß der Fall Sieveking auch mit diesen Erklärungen noch nicht seinen Abschluß gefunden haben wird, sondern daß hier für alle, ohne Unterschied der Parteien, eine Frage bestehenbleibt, die anders gelöst werden muß als mit Dementis und bedauerlichen Erklärungen hier in diesem Hause.