Die Bundesregierung — ich wiederhole es, meine Damen und Herren — nimmt für sich in Anspruch, für die Wiedervereinigung mehr getan und mehr erreicht zu haben als mancher, der in den letzten Jahren abseits stand oder abseits stehen mußte und nun billige Wahlparolen sucht.
Mit Gemeinplätzen wäre eines nicht erreicht worden,
was die Bundesregierung heute erneut feststellen kann, ohne daß ein Widerspruch möglich wäre: Die gesamte freie Welt hat die Gefahr erkannt, die dem Weltfrieden droht, solange die Spaltung Deutschlands fortdauert. Die gesamte freie Welt respektiert die gesamtdeutsche Politik der Bundesregierung. Überzeugender Ausdruck dieser Feststellung ist die Tatsache, daß alle freien Nationen der Welt in der Bundesregierung den einzigen legitimierten Sprecher des deutschen Volkes sehen und die Anerkennung der sogenannten DDR abgelehnt haben.
Nur die Staaten des Sowjetblocks haben sich die These der Sowjetunion zu eigen gemacht, daß die Spaltung Deutschlands eine Realität sei, der man Rechnung tragen müsse.
Die Bundesregierung hat niemals eine Diskussion über die Wege gescheut, auf denen das Ziel der Wiedervereinigung erreicht werden kann.
In zahllosen Debatten hat sie ihren Standpunkt dargelegt und begründet. Sie tut es auch heute von neuem. Aber sie läßt auch keinen Zweifel daran — und ich verweise hier auf das, was ich zu Eingang der Regierungserklärung schon gesagt habe —, daß es nach ihrer Überzeugung Forderungen gibt, die unabdingbar sind. Wir wollen die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Über die Interpretation des Wortes Freiheit ist die Bundesregierung nicht bereit zu diskutieren.
Ebenso verlangt die Bundesregierung für das wiedervereinigte Deutschland eine wirksame und unverbrüchliche Garantie seiner Sicherheit. Das meinte auch die Äußerung, von der ich vorhin sprach und zu der ich heute noch stehe: Das oberste Ziel deutscher Politik muß die Wiedervereinigung sein; aber wir sind nicht bereit, dafür einen Preis zu zahlen, der auf eine Beschränkung der Freiheit und eine Gefährdung der Sicherheit hinauslaufen würde.
Wer dazu bereit wäre — und ich glaube nicht, daß es jemand in diesem Saale ist —, müßte sich sagen lassen, daß er die Wiedervereinigung mit der Freiheit bezahlen wolle. Das wäre ein Verbrechen am ganzen deutschen Volk, an denen, die heute die Segnungen der Freiheit genießen, und nicht minder an denen, die heute noch auf die Freiheit warten.
Meine Damen und Herren, ich sagte, daß sich die freie Welt diese Forderung zu eigen gemacht hat, und ich darf trotz des Widerspruchs noch einmal feststellen, daß das wohl der überzeugendste Erfolg der Außenpolitik der vergangenen Jahre gewesen ist.
Ich könnte unzählige Erklärungen zitieren, die diese Feststellung unterstreichen. Ich beschränke mich darauf, mit aufrichtiger Dankbarkeit auf die Erklärung des amerikanischen Präsidenten vom 22. Januar zu verweisen, in der es heißt:
Im Herzen Europas liegt Deutschland, das in tragischer Weise geteilt ist, und so ist der gesamte Kontinent, j a sogar die gesamte Welt geteilt. Die Kraft, die diese Teilung bewirkt, ist der internationale Kommunismus und die Macht, über die er gebietet.
Meine Damen und Herren, auch hier glaube ich feststellen zu können, daß keine Meinungsverschiedenheiten zwischen der amerikanischen und der deutschen Politik bestehen.
Diese Feststellung bedarf keines Kommentars. Daß sie von dem neu gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten in dieser unmißverständlichen Klarheit ausgesprochen wurde, erfüllt uns mit tiefer Befriedigung, macht aber auch klar, daß sie uns verpflichtet, nämlich dazu verpflichtet, mit der letzten Kraft und Entschlossenheit an der Erhaltung der Freiheit dort teilzunehmen, wo sie besteht, um sie denen zu vermitteln, die sie heute entbehren. Das mögen auch die Kritiker hören, die an diesem Erfolg deutscher Politik nicht mitgewirkt haben, die aber offenbar bereit sind, diesen Erfolg mit gefährlichen Parolen aufs Spiel zu setzen.
Ich sagte und wiederhole es, daß die Bundesregierung immer bereit war und sein wird, über die Wege zu diskutieren, die zur Wiedervereinigung führen.
Niemand von uns kann den Anspruch erheben, daß er allein im Besitze der letzten Erkenntnis sei. Und darum glaube ich auch, daß eine Diskussion, wie wir sie heute führen wollen, der deutschen Politik nur dienlich sein kann.
Die Bundesregierung glaubt aber nicht — und ich sage das ohne jede aggressive Absicht und ohne jede unangebrachte Polemik —, daß man Teile einer Gesamtkonzeption herausgreifen kann, indem man andere, wesentliche Elemente negiert oder verschweigt.
Wir haben auch in letzter Zeit von der Opposition gehört, das Ziel der deutschen Politik müsse sein, die Machtblöcke aufzulösen und an ihre Stelle ein europäisches Sicherheitssystem zu stellen.
Diese Forderung stimmt in ihrem letzten Teil durchaus überein mit den Vorschlägen, die die Bundesrepublik in ihrem Memorandum der Sowjetunion mitgeteilt hat.
Aber es ist, so meine ich, nicht zulässig, ein Teilproblem herauszugreifen und andere, wesentliche Elemente beiseite zu schieben. Gewiß, wir wünschen ein wirksames Sicherheitssystem; aber wir müssen auch Klarheit darüber geben, wo der Standort der Bundesrepublik heute und des wiedervereinigten Deutschlands morgen in einem solchen Sicherheitssystem sein wird.
Ein Sicherheitssystem, das nur auf papierenen Abmachungen beruhen würde, wäre in Wahrheit ein System der Unsicherheit. Wiedervereinigung, Sicherheit und kontrollierte Abrüstung stehen in einem unlösbaren Zusammenhang, und alle Modalitäten eines Sicherheitssystems können ernsthaft nur diskutiert werden, wenn man diesen Zusammenhang bejaht und bereit ist, ihm Rechnung zu tragen.
Die weltpolitische Lage ist nun einmal nicht so einfach, wie mancher sie zu sehen wünscht.
Wunschvorstellungen sind begreiflich; aber sie dürfen nicht die nüchterne Erkenntnis realer Tatsachen verdrängen. Ich bin überzeugt, daß ich keinen ernsthaften Widerspruch finde, wenn ich feststelle: eine Sicherheitsgarantie der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs hat einen anderen politischen und moralischen Wert als eine gleiche Garantie der Sowjetunion.
Die Methoden, mit denen in einem Teil der Welt die Sicherheit anderer Völker verwirklicht wird, sind nicht identisch mit denen des anderen Teiles der Welt.
Die Bundesregierung ist sich klar darüber, daß jede politische Entscheidung mit unvermeidlichen Risiken verbunden ist, und sie beabsichtigt auch nicht, einem erträglichen Risiko auszuweichen. Das haben die Reise des Bundeskanzlers nach Moskau und der vom Bundestag einmütig gebilligte Entschluß, die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen, bewiesen. Aber die Sowjetunion muß wissen, und auch das deutsche Volk und die Welt dürfen daran keinen Zweifel haben, daß Freiheit und Sicherheit keine Handelsobjekte sind.
Und weil wir uns darüber klar sind, wird die Bundesregierung auch in ihren Anstrengungen fortfahren, gemeinsam mit den anderen Nationen der freien Welt für das deutsche Volk das unerläßliche Mindestmaß an Sicherheit zu schaffen, das über-
haupt Voraussetzung einer jeden fruchtbaren Diskussion ist.
So zu handeln, ist nicht nur das Recht, sondern die moralische und politische Pflicht der Bundesregierung.
Das deutsche Volk hat einen Anspruch darauf, in Sicherheit zu leben und das Bewußtsein zu besitzen, daß seine Freiheit nicht heute und nicht morgen gefährdet werden kann.
Wir wissen wohl, daß wir allein das nicht zu erreichen vermögen. Wir wissen aber auch, daß andere bereit sind, uns in diesem Bemühen zu unterstützen. Ihre Mitarbeit wollen und werden wir nicht durch Experimente aufs Spiel setzen, die uns das Vertrauen und die Freundschaft der freien Welt kosten und die Verachtung derjenigen einbringen würden, die uns bedrohen und denen wir damit den Weg frei machen würden.
In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung keine Gelegenheit versäumt, um dieses gesamtdeutsche Anliegen in das Bewußtsein der gesamten Welt zu rücken. Es wurde kein Gespräch auf internationaler Ebene geführt, das dieses Thema nicht zum Gegenstand hatte. Es wurde keine Entscheidung getroffen, bei der wir nicht prüften, ob sie mit der Erreichung dieses Zieles vereinbar sei. Es liegt in der Natur der Sache, daß nicht jede Initiative zur öffentlichen Aussprache ) gestellt wurde. Die Bundesregierung glaubt sogar ernsthaft davor warnen zu sollen, diesem Problem eine unangebrachte Publizität zu geben und ernsthafte Anstrengungen mit Propaganda zu verwechseln.
Der Herr Bundeskanzler hat vor kurzem auch davon gesprochen, daß die Bundesregierung sich mit dem Gedanken trage, die Vereinten Nationen mit der deutschen Frage zu beschäftigen. Ich war überrascht, meine Damen und Herren, daß diese Absicht auch auf Kritik gestoßen ist, und ich vermag die Begründung — —
— Durchaus nicht!
— Aber meine verehrten Damen und Herren, wenn Sie wüßten, wie lange wir daran schon arbeiten, wären Sie ganz beruhigt.
Ich war über diese Kritik überrascht, und ich vermag die Begründung nicht anzuerkennen, daß man „Fremde" dann in einer Weise mit dem Problem beschäftige, die die Gefahr in sich berge, daß die Verantwortlichen sich der Verantwortung entziehen könnten. Es ist mir ganz unbegreiflich, daß ein solcher Vorwurf laut wurde von einer Seite, die gleichzeitig sagt, daß die Sicherheit Europas und damit auch Deutschlands von den Vereinten Nationen garantiert werden solle.
— Nein, ich habe eben nicht von mir gesprochen.
Die Bundesregierung kennt sehr wohl die beschränkten Möglichkeiten der Vereinten Nationen. Sie beklagt es aufs tiefste, daß diese Beschränkung in den vergangenen Wochen sichtbar wurde: Im nahöstlichen Konflikt haben sich die meisten Nationen der moralischen Autorität der Organisation der UNO unterworfen, weil ihre Unterschrift unter die Charta der Vereinten Nationen doch mehr war als ein Lippenbekenntnis.
In Ungarn, wo unzählige Tausende ihr Leben oder ihre Freiheit verloren und Hunderttausende die Flucht ergriffen, ging man über das Votum der Vereinten Nationen mit einem beispiellosen Zynismus hinweg.
Hier stellt sich allerdings die Frage, ob ein Sicherheitssystem unter alleiniger Garantie der Vereinten Nationen wirklich Sicherheit zu gewährleisten vermag.
Die Bundesregierung glaubt aber nicht, daß dieser Zweifel zur Resignation führen darf. Die moralische Unterstützung der Vereinten Nationen im Kampf um die Wiedervereinigung ist nach unserer Überzeugung von unschätzbarer Bedeutung. Für die sonderbare Auffassung, die hier geäußert wurde, daß man die Verantwortlichen aus der Verantwortung entlasse, habe ich kein Verständnis. Im Gegenteil, ich glaube, daß man die Verantwortung nicht besser schärfen kann als durch den moralischen Appell, ,der, in einem Beschluß der Vereinten Nationen liegen würde.
— Nein, nicht ich, sondern Sie! — Wann der Zeitpunkt gekommen sein wird, eine solche Initiative zu entfalten, und wie dies geschehen soll, darüber zu reden, erscheint heute verfrüht.
Man wird der Bundesregierung auch heute und morgen den Vorwurf machen, daß sie nicht das Mögliche und das Notwendige unternommen habe, um die Wiedervereinigung des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit durchzusetzen. Aber diejenigen, die diesen Vorwurf ernsthaft erheben, müssen ihn begründen, und sie müssen — das soll auch der Zweck 'dieser Aussprache sein — konkrete Vorschläge machen. Die Wiederholung der These, daß die von der Bundesregierung in den vergangenen Jahren getroffene Entscheidung, daß das Freundschaftsband, das die Bundesrepublik heute mit der freien Welt verbindet, der Wiedervereinigung im Wege stehe, reicht nicht aus.
Auch die Behauptung, daß die Bundesregierung echte Möglichkeiten ausgelassen habe, wird durch ihre Wiederholung nicht richtiger.
Diejenigen, die verlangen, daß man die Verträge umgestalten und ein europäisches Sicherheitssystem errichten soll, stellen damit keine überzeugende oder glaubwürdige Alternative auf. Sie begnügen sich damit, eine These vorzutragen, ohne sie zu konkretisieren.
Die Bundesregierung ist allerdings fest davon überzeugt, daß es für die bisher verfolgte Außenpolitik tatsächlich keine echte Alternative gibt.
— Nein, dafür sind Sie ja da! — Ich höre schon die Antwort auf diese Feststellung: Starrheit, Unbelehrbarkeit, mangelndes Anpassungsvermögen.
— Ich habe vorhin den Eindruck gehabt, Sie wollten jetzt schon die Debatte führen; aber ich kann mich geirrt haben.
Aber die Bundesregierung hält es — ich habe das schon einmal gesagt — nicht für richtig, Konsequenz mit Starrheit zu verwechseln.
Es fehlte in der Vergangenheit nicht an Initiative, weder seitens der Bundesregierung noch seitens ihrer Verbündeten. Nicht die Vorschläge, die gemacht wurden, waren unzureichend; die Reaktion der Sowjetunion war unbefriedigend, nämlich rein negativ.
Wenn es jemals eine Äußerung der Sowjetunion gab, aus der man auf ein wachsendes Verständnis, auf eine größere Bereitschaft schließen zu können glaubte, dann dauerte es nur sehr kurze Zeit, bis entgegengesetzte Erklärungen solche Hoffnungen zunichte machten. Das bedeutet nicht, daß wir in unseren Bemühungen nachlassen werden. Es bedeutet noch weniger, daß die Bundesregierung an dem Erfolg ihrer Politik zweifeln oder gar verzweifeln würde. Sie wird vielmehr auch in Zukunft jeden Versuch unternehmen, mit der Sowjetunion im Gespräch zu bleiben und eine klare Antwort auf die Frage zu fordern, die schlechthin die deutsche Frage ist: nämlich die Frage nach dem Schicksal und der Zukunft des deutschen Volkes, seine Einordnung in eine friedliche Welt und die Sicherheit seiner Existenz. Wir werden alles tun, um die Sowjetunion und alle unsere östlichen Nachbarn davon zu überzeugen, daß wir den Frieden wünschen, ja daß wir ihn als das höchste Gut betrachten, das wir den Völkern vermitteln können. Die Bundesregierung zweifelt auch nicht daran, daß wir dem gemeinsamen Ziele näher gekommen sind; nicht weil wir nicht bereit waren, Kompromisse zu schließen, die zur Selbstaufgabe führen müßten, sondern weil die Welt im Osten und im Westen keine Zweifel mehr daran hat, wo die Grenzen unserer Verhandlungsbereitschaft tatsächlich liegen.
Eine freiheitliche Ordnung für das ganze deutsche Volk gefährdet nicht die Sicherheit seiner Nachbarn, sondern stärkt sie. Deutschland will nicht mehr an Lebensrecht, als es anderen einzuräumen bereit ist. Die wahnwitzigen Vorstellungen, die das deutsche Volk unter der Herrschaft des „Dritten Reiches" ins Unglück geführt haben, besitzen keine Gültigkeit mehr. Aber ebensowenig sollten wir zulassen, daß gefährliche Spekulationen diese Entwicklung gefährden. Solange irgend jemand in der Welt glaubt, daß die Begriffe von Freiheit, Frieden und Sicherheit im deutschen Volke heute oder morgen einer verschiedenartigen Interpretation unterliegen, werden wir unser Ziel nicht erreichen.
Unsere Glaubwürdigkeit sinkt in dem Maße, in dem die Umwelt vermutet, daß wir uns mit weniger zufriedengeben würden, als wir heute verlangen.
Darum appelliert die Bundesregierung auch heute an die große gemeinsame Verantwortung, die auf uns allen ruht. Wir können sie nur gemeinsam meistern. Die Einheit des freien deutschen Volkes in der Bundesrepublik ist Garantie, aber auch Voraussetzung für Frieden, Freiheit und Sicherheit des ganzen deutschen Volkes in einem wiedervereinigten Deutschland.