Aber verehrter Herr Kollege Kiesinger, seit wann ist denn das eine Frage?
— Entschuldigen Sie, haben wir nicht eine ganze Reihe von regionalen Sicherheitspakten? Ist z. B. die NATO nicht auch ein regionaler Sicherheitspakt? Ist der Bagdad-Pakt nicht ein regionaler Sicherheitspakt? Warum kann es nicht an Stelle der jetzigen Form in Europa im Rahmen der Vereinten Nationen einen effektiven regionalen Sicherheitspakt einer anderen Art geben? Diese Frage, Herr Kollege Kiesinger, stellen Sie doch nur, weil Sie der eigentlichen Kardinalfrage, vor der die Politik der Bundesregierung steht, damit ausweichen wollen.
Ich will sie Ihnen sagen; ich hätte sie sonst etwas später gebracht. Die Frage, die wir zu stellen haben — und darauf haben Sie zu antworten; denn es ist die Frage, die zu Ihrer Außenpolitik gestellt werden muß —, wenn es zu solchen Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem kommt und wenn in diesen Verhandlungen eine Lösung erreicht werden kann
— ich rede jetzt mit einigen der Herren, die vielleicht verstehen, welchen Gedankengang ich habe
—, diese Frage, die unvermeidlich ist und die Sie genauso kennen wie wir, heißt: Ist die Bundesrepublik einverstanden, daß die Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland in diesem Sicherheitssystem an die Stelle der Mitgliedschaft in NATO tritt, und sind Sie, meine Damen und Herren, bereit, in diesem Sinne die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in NATO bei solchen Verhandlungen zum Verhandlungsgegenstand zu machen? Das ist die Frage, vor der wir stehen.
Wenn ich Ihre Rede heute richtig verstanden habe, haben Sie auf diese Frage keine direkte Antwort gegeben. Aber ich vermute, sie hat darin gelegen, daß Sie gesagt haben: Zuerst Sicherheit durch NATO! Verehrter Herr Kollege Kiesinger, wenn das Ihre Politik und die Politik Ihrer Regierung ist, dann bedeutet das praktisch, daß Sie und die Regierung darauf verzichten, eine aktive Politik für die Wiedervereinigung zu treiben.
Meine Damen und Herren, wir können nach wie vor über viele Fragen miteinander reden, auch über Fragen der militärischen Organisation, die Sie ebenfalls angeschnitten haben. Sie kennen unseren Standpunkt. Wir sind nach wie vor der Auffassung, daß es ein falscher Schritt war, die Bundesrepublik militärisch in NATO einzugliedern. Wir haben die Verträge abgelehnt. Wir sind nach wie vor der Meinung, daß unsere Gründe dagegen richtig waren. Aber wir Sozialdemokraten haben nie und an keiner Stelle in der Praxis die Legalität reel und verfassungsmäßig zustande gekommener internationaler Verpflichtungen geleugnet oder sie etwa abgelehnt. Das gilt auch für diesen Fall. Wir kennen unsere Verantwortung. Lassen Sie mich das in Klammern einmal sagen.
Herr Kollege Kiesinger, Sie redeten hier davon: Wir haben die Verantwortung, und Sie sitzen ja bloß in der Opposition.
Dahinter, meine verehrten Kollegen von der CDU und CSU, steckt ja nicht nur eine Mißachtung der Opposition, darin liegt ja viel mehr.
Meine Damen und Herren, wir waren — das wissen Sie ganz genau — in lebenswichtigen Fragen unseres Volkes verschiedener Meinung. Das ist unser gutes Recht, das werden wir uns nicht nehmen lassen. Aber an Verantwortung für das Ganze der demokratischen Ordnung lassen wir uns von niemand übertreffen, vor allen Dingen nicht mit einer solchen Argumentation, wie Sie sie hier beliebt haben.
Ein anderes. Ich habe gesagt: wir sind gegen die Verträge. Ich habe gesagt: wir werden die Verpflichtungen, auch die militärischen, aus diesen Verträgen, solange sie unverändert sind, anerkennen. Aber, meine Damen und Herren, erwarten Sie von der Sozialdemokratie, wenn sie die Möglichkeit dazu haben sollte, etwas anderes, als daß sie im Sinne ihrer Politik eine Revision dieser Verträge anstrebt, um sie mit den Möglichkeiten einer Wiedervereinigung in Übereinstimmung zu bringen?
Wir sind gegen die allgemeine Wehrpflicht gewesen.
— In diesem Bundestag. Sie sind ja wahrscheinlich auch nicht genau auf derselben Linie, auf der Ihr Großvater gewesen ist.
— Ja, ich habe an August Bebel gedacht. Ich rede gar nicht um die Dinge herum. Das ist keine Schande. Wir gehen heute ja auch nicht mehr mit Feuerwehrspritzen und Heugabeln um. Es hat sich da auch etwas geändert. Also, lassen wir diese kindischen Einwürfe.
Die Sozialdemokratie hat aus politischen und militärtechnischen Gründen die allgemeine Wehrpflicht für falsch gehalten. Wir halten sie heute noch für falsch, und wenn wir die Möglichkeit bekommen, wird das Gesetz wieder aufgehoben ohne Wenn und Aber, meine Damen und Herren!
Das hat überhaupt nichts zu tun mit dem Sicherheitskomplex.
— Das hat genau getroffen.
Meine Damen und Herren, wollen wir hier einmal real reden, oder wollen wir bloß so eine Fernsehvorstellung machen?
— Das ist meine Hoffnung auch, Herr Kiesinger.
Sie sagen, die allgemeine Wehrpflicht sei unerläßlich. Na, wollen Sie denn nicht mal überlegen, was Sie in dieser Beziehung in dem letzten Jahr alles gelernt haben! Wie weit sind Sie schon herunter von den 500 000! Und wie sind Sie heruntergekommen von 18 Monaten auf 12 Monate, von einem Tag auf den anderen! Und da wollen Sie uns einreden, die allgemeine Wehrpflicht sei ein Stück Weltsicherheit? Das glaubt Ihnen doch niemand.
Ich will hier keine militärischen Geheimnisse ausplaudern; aber lassen Sie sich doch mal von Herrn Strauß die Meldungen von Freiwilligen geben, und fragen Sie mal nach, wieviel Monate es braucht, um auch nur die Freiwilligen in die Bundeswehr zu bringen und das zu erreichen, was man früher als notwendig bezeichnete.
Das sind doch Tatsachen.
Meine Damen und Herren, warum legen Sie sich so fest? Uns schadet es ja nicht, aber Ihnen. Sie haben doch überall in der Welt eine interessante, neue Diskussion über die zweckmäßige Form der Wehrorganisation; Sie haben sie in einem Land wie England, das im Prinzip entschlossen ist, auf die allgemeine Wehrpflicht zu verzichten, Sie haben dieselbe Diskussion in den Vereinigten Staaten, und Sie haben sie nicht, weil dort deutsche Sozialdemokraten „den Sicherheitswillen des Volkes untergraben", sondern weil sich die Leute mit den neuen, technischen Problemen der Ausrüstung und Ausbildung einer modernen Armee auseinandersetzen; darum geht es doch.
Ich will aber auf unser Thema zurückkommen. Es wurde gesprochen von einem Vakuum, einer Periode der Unsicherheit und davon, daß man jetzt genug habe von solchen Hirngespinsten. Herr Kollege Kiesinger, Sie und Ihre Freunde haben eine Möglichkeit: Sie können sagen, die außenpolitische Konzeption der Sozialdemokratie lehnen wir ab, ihre Vorstellung lehnen wir ab, die militärischen Verpflichtungen aus den Pariser Verträgen auf der Freiwilligenbasis zu erfüllen. Sie können aber nicht sagen, Sie hätten eine kristallklare Vorstellung und wir nur Hirngespinste; das ist nicht ein Mittel der sachlichen Auseinandersetzung.
— Entschuldigen Sie, das steht sogar in Ihrem Manuskript. Es tut mir leid, daß Sie erklären, Sie hätten das nicht gesagt. Ich habe es gehört, ich habe es gelesen. Aber wenn Sie es nicht gesagt haben wollen, die Grundvorstellung ist es doch.
— Nein, nein, das ist ganz anders. Sie können Ihre Vorstelungen in bestimmtem Umfange realisieren, und das sieht dann klarer aus. Daß es im Effekt klarer sei, das haben Sie noch zu beweisen,
jedenfalls in den Auswirkungen auf die Politik der Wiedervereinigung und der wirklichen Sicherheit.
Für uns ist die kardinale Problemstellung: Wie können wir in einer Situation, in der man nach neuen Wegen der internationalen Politik des Ausgleichs und — trotz allem! — der Vermeidung des Krieges sucht. das Problem der Wiedervereinigung ins Gespräch bringen? Hier sind wir der Meinung, daß unsere Bundesregierung die Verpflichtung hat,
bei allen vier Mächten mit einer solchen neuen
Lösung initiativ zu werden. Darauf kommt es an.
Wenn sie es nicht tut, dann haben Sie die Pflicht,
zu sagen, warum. Wenn Sie sagen, Sie wollen es
nicht, weil Sie das Risiko — wie Sie gesagt haben
— nicht eingehen wollen, daß wir die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden, wenn wir an Stelle von NATO in ein allgemeines Sicherheitssystem für ganz Deutschland gehen, dann müssen Sie auch wissen, daß Sie damit sagen, daß Sie keine Möglichkeit sehen, die Wiedervereinigung Deutschlands durch Verhandlungen herbeizuführen.
Meine Damen und Herren, ich denke, ich habe auf die Fragen, die Sie in der Sache gestellt haben, geantwortet.
-— Ja, ich habe ja gesagt, Sie können eine andere Meinung haben. Beantwortet habe ich sie jedenfalls.
— Sie haben fast vier Stunden gehabt. Sie werden ja vielleicht noch eine Viertelstunde aushalten!
Ich habe noch einen Punkt, den ich hier nicht untergehen lassen möchte. Ich möchte hier ein Wort über die jetzigen neuen Aktivitäten auf dem Gebiet weiterer europäischer Zusammenschlüsse gesagt haben. Hier hat sich der Herr Bundesaußenminister zu unserem Bedauern mit sehr allgemeinen Bemerkungen begnügt.
— Ich habe nicht gewußt, daß Herr Furler zur Regierung gehört.
Wir Sozialdemokraten haben die Bemühungen um die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und um die Schaffung einer europäischen Organisation für die friedliche Verwendung der Atomenergie von Anfang an unterstützt. Wir haben sehr aktiv mitgearbeitet an dem sogenannten Monnet-Komitee, und wir waren froh darüber, daß damals alle Mitglieder dieses Komitees einschließlich der Kollegen aus der CDU sich mit uns und allen anderen darüber einig waren, daß wir hier auf diesem Neuland wirtschaftlicher Betätigung eine große Möglichkeit haben, um frei von privaten und nationalen Interessen eine europäische Organisation zu schaffen, die das spaltbare Material in ihrem Bereich zusammenfassen und dadurch eine effektive Kontrolle über die friedliche Verwendung der Atomenergie garantieren kann.
Wir haben das für eine wichtige Sache gehalten, weil wir hier tatsächlich vor Neuland stehen und weil man auf diesem Neuland von vornherein auf einer breiteren Basis als auf der Basis nationaler oder privater Organisationen anfangen sollte. Zweitens waren wir der Meinung: die Gefahren, die in diesem Material liegen, können wir eher bannen, die friedliche Benutzung des Rohmaterials eher sicherstellen, wenn wir eine wirkliche europäische Kontrolle der Verwendung haben. Wir haben uns auch zu den Prinzipien des gemeinsamen Marktes bekannt, aus verschiedenen Gründen, aber auch weil wir durch die Entwicklung der Montanunion erfahren haben, daß auf die Dauer eine wirtschaftliche Teilintegration ohne gemeinsamen Markt nicht möglich ist.
Nun, wir stehen vor der Tatsache, daß es monatelange Verhandlungen über beide Verträge gibt, das letztemal am vergangenen Wochenende durch Besprechungen der Außenminister. Es ist gesagt worden, der Vertrag über Euratom sei inzwischen fast fertiggestellt. Aber wir haben auch gehört, daß seine jetzige Fassung wesentlich abgeschwächt sei, nicht zuletzt durch die intensive Einwirkung deutscher Interessentenvertreter,
und daß sehr wenig von dem übrigbleibe, was wir ursprünglich als die notwendige Aufgabe einer solchen Euratombehörde gemeinsam angesehen haben. Wir haben auch gehört, daß bei der Schaffung des gemeinsamen Marktes noch eine Menge ernster Fragen offen seien, so z. B. die Frage der Einbeziehung der Landwirtschaft und die Frage der Einbeziehung der überseeischen Gebiete.
Alles das erfahren wir aus der Presse, durch zufällige Informationen, außer wenn die Herren Außenminister einen so weittragenden Beschluß fassen — wie es am Sonntag angeblich geschehen ist —, für den gemeinsamen Markt und Euratom noch ein neues europäisches Parlament mit 200 Mitgliedern zu schaffen.
Das wird in aller Breite der Öffentlichkeit mitgeteilt. Man muß sich wirklich fragen, welcher Gegner einer ernsthaften europäischen Zusammenarbeit diese Idee den Außenministern beigebracht hat.
Denn, meine Damen und Herren, eine größere Diskreditierung der Bestrebungen europäischer Zusammenarbeit im Bewußtsein der europäischen Völker gibt es wohl kaum, als wenn man jetzt den bereits bestehenden drei europäischen Parlamenten noch ein viertes zur Seite stellt.
Ich habe sogar das Argument gehört — ein taktisches, wie mir gesagt wurde —, man habe sich auf eine so große Zahl wie 200 und auf ein Sonderparlament geeinigt, weil einzelne Verhandlungspartner die Verträge in ihren Parlamenten leichter durchkriegen, wenn eine größere Anzahl von Mitgliedern dieser Parlamente die Aussicht haben, dem neuen Europaparlament anzugehören.
Meine Damen und Herren, ich will dieses Thema gar nicht weiter vertiefen.
— Endlich einmal! — Aber ich will mich auch nicht mit Einzelheiten beschäftigen. Ich habe ein ganz anderes Anliegen, nämlich zunächst das — um das zu dieser, ich möchte sagen, Kateridee des vierten Parlaments zu sagen —
— ich wollte den Kollegen Kather damit nicht angesprochen haben, mein Kater schreibt sich ohne h —,
Ich habe zunächst das Anliegen, daß dieser Beschluß rückgängig gemacht wird und daß unsere Regierung sich dafür einsetzt.
Aber viel wichtiger ist folgende Tatsache: Wenn die beiden Verträge zustande kommen, bedeuten sie eine weitgehende, an Hand der jetzigen — „Unterlagen" wäre schon eine Übertreibung — Informationen noch nicht zu übersehende Einwirkung auf unser gesamtes wirtschaftliches Leben. Ich glaube außerdem, daß wir wahrscheinlich auch die Aufgabe haben, zu untersuchen, wie denn auch diese beiden Verträge in ihren Auswirkungen in Übereinstimmung zu bringen sind mit unseren Notwendigkeiten für eine aktive Wiedervereinigungspolitik. Auch das ist mindestens eine Frage.
In jedem Fall: wir halten es für undiskutabel und für unmöglich, daß diese Verträge zwischen Ministern, Staatssekretären und Interessentenvertretern ausgehandelt werden und das Parlament vor der Unterzeichnung nicht die Möglichkeit bekommt, sich eingehend mit den Entwürfen und den Konsequenzen zu beschäftigen.
Das französische Parlament hat eine volle Woche sich nur mit diesem Komplex beschäftigt, und heute sind wir in der paradoxen Lage: Wenn jemand von uns sich über Teilprobleme informieren will, sind die beste Informationsquelle die Protokolle der Verhandlungen des französischen Parlaments.
Das ist einfach ein unwürdiger Zustand für den Deutschen Bundestag.
Ich hätte gewünscht, daß die Regierung schon von sich aus erklärt hätte, daß sie selbstverständlich bereit ist, vor der Unterzeichnung uns hier zu informieren und in der Diskussion Rede und Antwort zu stehen. Wir bitten Sie, da auch diese Initiative der Regierung ausgeblieben ist, daß Sie unseren Antrag, den wir zu diesem Punkt der Tagesordnung vorgelegt haben, annehmen, damit wir die Sicherheit haben, daß tatsächlich das Parlament als die höchste Instanz unserer Bundesdepublik zu diesen Verträgen sprechen kann, ehe die Unterschrift unseres Außenministers gegeben wird.
Meine Damen und Herren! Ich möchte hiermit, um Ihre Zeit nicht länger in Anspruch zu nehmen, zum Abschluß kommen. Uns kam es darauf an, hier festzustellen: Ist die Regierung in der Lage, von sich aus bestimmte konkrete Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie sie sich die Konsequenzen in bezug auf ihre Außenpolitik aus der jetzt gegebenen internationalen Lage heraus vorstellt? Diese Information und diese Führung in der Außenpolitik, die die Regierung haben sollte, haben wir nicht erhalten. Abgesehen von allen Einzelheiten: das betrübliche Fazit der Reden, die wir heute vormittag hier gehört haben, ist, daß in diesen Erklärungen jede konkrete Angabe darüber fehlt, daß die Regierung in der nächsten Zukunft in der Frage der Wiedervereinigung zu Verhandlungen mit allen Vier über eine andere Form der Sicherheit und über eine Schaffung der Einheit im Rahmen eines effektiven Sicherheitssystems kommen will. Sie hat uns diese Auskunft nicht gegeben. Ich habe nicht die Hoffnung, daß sie es nach diesem Appell tun will oder auch tun kann.
Dann bleibt es unsere Aufgabe, über den nächsten Abschnitt der Außenpolitik der Bundesrepublik an anderer Stelle die Entscheidung herbeizuführen. Diese Entscheidung muß nach unserem Willen heißen, daß das deutsche Volk sich entschließt, eine Politik zu unterstützen und zu fordern, die auf der These basiert, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit das Höchstmaß von Sicherheit für Deutschland und für Europa darstellt, das erreicht werden kann.