Rede von
Dr.
Kurt Georg
Kiesinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Sehen Sie, meine Damen und Herren: kaum habe ich diesen Satz ausgesprochen und gesagt, daß die Bundesregierung in unverdrossener Bemühung einige Jahre das Problem der Wiedervereinigung verfolgt hat, da kommen von drüben die Zurufe: „verhindert!" D a s ist aber in den Augen der Sozialdemokratie keine Verleumdung!
Die Bundesregierung hat sich als erstes die Hände frei gemacht für eine selbständige Außenpolitik. Sie erreichte die freiwillige Verpflichtung der westlichen Vertragspartner und aller Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft zu einer gemeinsamen Politik der Wiedervereinigung. Sie warb darüber hinaus in aller Welt um Verständnis und Sympathie für die deutsche Frage.
Sie allein — der Außenminister hat es schon betont — wurde als Vertreterin der deutschen Interessen anerkannt, und niemand außerhalb des kommunistischen Bereichs hat die sogenannte Deutsche Demokratische Republik anerkannt.
Auch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Sowjetrußland diente dann auch dem Ziel: der Wiedervereinigung. Daß über sie ebensowenig wie über die Berliner und die Genfer Konferenzen der vergangenen Jahre Erfolge erzielt wurden, lag nicht an uns und an unseren Verbündeten, sondern an der starren Haltung der Sowjetunion,
die sich in demselben Augenblick in neue Bedingungen und Vorwände flüchtete,
als ihr vom Westen wirksame Garantien für den Fall der deutschen Wiedervereinigung angeboten wurden.
Nun hat der Bundeskanzler die Absicht der Regierung angekündigt, die deutsche Frage vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen zu bringen. Wir wissen, daß die Vereinten Nationen keine Entscheidung in dieser Frage erzwingen können. Aber es wundert uns doch sehr — ich schließe mich der Kritik des Außenministers an —, daß gerade aus den Reihen der Opposition an diesem Plan Kritik geübt wird, indem darauf hingewiesen wird, wir überließen dann die Behandlung unserer nationalen Anliegen Fremden. Als ob es nicht darauf ankäme, möglichst viele dieser „Fremden" mit den großen nationalen Anliegen der Deutschen zu befassen!
Es ist selbstverständlich, daß die Bundesregierung auch weiterhin versuchen wird, das deutsche Problem als eine mit der allgemeinen Entspannung unlöslich verbundene Frage zu behandeln. Man sollte sie nicht, wie es auch von seiten der Opposition geschehen ist, deswegen tadeln.
Der Außenminister hat auf die Bedeutung des deutschen Memorandums zur Frage der Wiedervereinigung nachdrücklich hingewiesen. Die dort gemachten Vorschläge kommen dem sowjetrussischen Interesse sehr weit entgegen, viel weiter, als die meisten wahrhaben wollen: Gewaltverzicht, verdünnte Zone, die Versicherung des ernsten Willens, den Sicherheitswünschen der Sowjetunion soweit wie irgend möglich Rechnung zu tragen, ein auf der Basis realer Sicherheit aufgebautes europäisches Sicherheitssystem, keine Verschiebung des militärischen Gleichgewichts durch die Wiedervereinigung und eine kontrollierte und gleichgewichtige Abrüstung —, das alles sind doch keine leeren Worte und keine Bagatellen! Aber die Sowjetunion hat in ihrer Antwortnote wenig Entgegenkommen gezeigt. Immerhin ist das Gespräch im Gange, und eine Antwort der Bundesregierung auf die letzte Note der Sowjetrussen wird vorbereitet.
Übrigens, wie leicht hätten es die Sowjetrussen, durch die Zustimmung zu einer wirksamen Abrüstungskontrolle sich und die Welt mit einem einzigen Schlag von quälenden Problemen zu befreien!
Denn dann könnten wirklich die Atombomben vernichtet und die Soldaten nach Hause geschickt werden. Dann gäbe es auch kein Problem der Sicherheitsgarantien für sie und uns mehr, und jeder militärische Vorwand gegen eine deutsche Wiedervereinigung fiele dahin. Warum verweigern die Sowjetrussen eine derartige Kontrolle? Bangen sie vielleicht um den Erfolg der Weltrevolution, oder fürchten sie nur den Zusammenbruch ihrer Herrschaft im Satellitenreich, weil sie dann nicht mehr über eine gewaltige Streitmacht verfügen?
Oder sollte nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, die Überlegung eine Rolle spielen, daß der gegenwärtige Stand der Verteidigungsanstrengungen des Westens eine derartige kontrollierte Abrüstung gar nicht lohne?
Manche Kritiker meinen, aus den Ereignissen um Ägypten, in Ungarn und in Polen neue Argumente gegen unsere Außenpolitik ziehen zu können. Herr Kollege Erler meinte jüngst, die Blöcke schmölzen dahin; der Sowjetblock habe in Ungarn und Polen eine Schwächung erlebt; die Schwächung des Atlantikpakts aber sei auch offenbar geworden. Darum — so meinte er etwas sibyllinisch — müßten wir die Stunde nützen und neue Wege beschreiten. Leicht gesagt, Herr Kollege Erler! Welches sind die neuen Wege? Ist der Sowjetblock wirklich geschwächt, oder ist durch die Krise nur seine Schwäche, die immer vorhanden war, offenbar geworden? Haben Sie früher wirklich im Ernst damit gerechnet, daß die unterdrückten Völker des Satellitenraumes sich im Krisenfall auf die Seite ihres Unterdrückers schlagen würden?
— Ich weiß, Herr Erler, was Sie sagen wollen. Das ist gelegentlich geschehen, verständlicherweise geschehen.
— Meine Ansicht ist es niemals gewesen. Aber das
ändert an der Feststellung nichts. Was heißt denn,
daß der östliche Block dahinschmelze? Ist für die-
sen Block der Satellitenraum wirklich etwas Entscheidendes und Wesentliches? Das ungeheure Reich Sowjetrußlands und China an seiner Seite, das heute die westlichen Grenzen des Machtraumes der Sowjetunion garantiert, sind doch der Bestandteil dieses Blocks, und ich kann keine Anzeichen sehen, daß dieser Block dahinschmölze.
Es gibt kühne Propheten, die behaupten, daß die Ereignisse in Ungarn und Polen der Anfang des Endes der Sowjetmacht darstellten. Es wäre schlimm, wenn wir unsere Politik auf eine solche These, eine solche Vermutung stützten. Niemand von uns vermag zu sagen, wie die Entwicklung in diesen beiden Ländern weitergehen wird. Es ist durchaus möglich, daß wir neue Überraschungen erleben. Sie können angenehm, sie können auch sehr unerfreulich sein. Wir können leider nicht viel mehr tun als zuwarten und unsere Augen offenhalten.
Aber merkwürdig berührt uns Ihre kaum verhüllte Genugtuung
über die im vergangenen Jahr deutlich gewordene Schwäche des Atlantikpakts.
— Nein, ich sage „kaum verhüllte".
Was kann der Westen, Herr Wehner, denn Klügeres tun, als seine Einigkeit gerade jetzt in jeder Beziehung zu stärken, seine Einigkeit, die er sich lange genug durch eine wohlkalkulierte und einfallsreiche Politik der Nachfolger Stalins schwächen ließ?
Ein Wort zu Ihnen, Herr Kollege Mellies. Ich hätte es heute vielleicht nicht gesagt, aber nach den Vorfällen, die sich in diesem Hause ereignet haben,
muß ich es sagen. — Ich habe nur auf den Einwand geantwortet, wir hätten acht Jahre lang gebraucht und die Wiedervereinigung noch nicht herbeigeführt.
— Bitte schön.