Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich fast zum Abschluß dieses Teils der Debatte noch auf ein Einzelproblem der deutschen Außenpolitik hinweise, nämlich auf die letzte im Westen noch offene Grenzfrage, die deutschholländische. Das ist nur scheinbar und nur äußerlich ein kleines Problem. In Wirklichkeit ist es ein Problem des Rechts und daher ein großes Problem, weil die Größe Europas und der freien Welt darin besteht, daß das Recht einen entscheidenden Platz einnimmt, und es ist ein Modellfall der Wiedervereinigung im Westen. Es geht mir also nicht um irgendwelche Polemik, sondern um ein überparteiliches Anliegen, ja um ein europäisches Anliegen.
Das Recht ist unteilbar. Wird es an einer Stelle der Welt wiederhergestellt, so ziehen daraus alle Völker ihren Nutzen, und damit wird Paroli geboten dem sowjetischen System totalitären Unrechts, das heute das Menschentum aller Nationen bedroht.
Ich habe zuletzt in der 94. Sitzung am 6. Juli 1955 diese Angelegenheit vorgetragen. Es handelt sich um die Verordnung Nr. 184 der britischen Militärregierung vom 23. April 1949. Dadurch ist eine Veränderung an einer der ruhigsten Staatsgrenzen Europas herbeigeführt worden, wie sie seit dem Wiener Kongreß von 1815 bestand. Betroffen wurden auch die sogenannten Traktatsländer, die garantiert waren durch die Verträge von Kleve mit
dem Königreich Preußen von 1815 und von Meppen mit dem Königreich Hannover von 1826.
Das größte Abtrennungsgebiet ist der sogenannte Selfkant, der Westzipfel des Kreises GeilenkirchenHeinsberg mit 41,5 qkm und einer Einwohnerzahl von 6500 Seelen. Er besteht aus sieben Landgemeinden und zwei Ortschaften; kirchlich gehört er zum Bistum Aachen. Dann die Stadt Elten im Kreise Rees mit 18,87 qkm und 3450 Einwohnern, weiterhin der Ortsteil Suderwick der Gemeinde Suderwick im westfälischen Kreis Borken mit 361 Einwohnern und der Ortsteil Wylerberg der Gemeinde Wyler mit 180 Einwohnern. Ein betrübliches Bild ergibt sich, wenn man daran denkt, daß diese Einwohner ohne demokratische Rechte sind, daß sie seit 1949 kein Wahlrecht besitzen, also auch nicht in ihren Gemeinde- und Stadträten vertreten sind.
Es sind nun Verhandlungen im Gange, was wir auf das lebhafteste begrüßen. Aber leider hört man, daß bestimmte Vorstellungen in diese Verhandlungen hineingekommen sind, die mit dem Gedanken von Europa nicht vereinbar wären. Wir wissen heute, daß unter Führung des zuständigen Landdrosten des Selfkant, Herrn Dassen, eine Bewegung im Gang ist, die auf die praktische Einverleibung des Selfkants hinzielt. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, ist der Bau einer Autostraße unternommen worden, die den Selfkant von Süden nach Norden durchquert. Man weiß aus der holländischen Presse, daß diese Straße die künftige Grenze präjudizieren soll. Das würde bedeuten, daß die sieben Landgemeinden — mit den großen Orten Tueddern und Hoengen — abgetrennt und Holland einverleibt würden und nur die beiden kleinen Ortschaften Mindergangelt und Heilder an ) Deutschland zurückkämen. Diese einschneidende Aktion, der Bau dieser Autostraße, ist ohne Rücksprache mit der Bundesregierung begonnen worden.
Es würde sich dabei also um die Abtrennung von über 6000 Menschen handeln. Der Deutsche Bundestag hat sich immer auf den Standpunkt gestellt, daß das Menschenrecht nicht nach der Zahl der Betroffenen und nicht nach den Quadratkilometern beurteilt werden kann. Das Menschenrecht wird in jedem einzelnen Menschen verkörpert und kann in jedem verletzt werden. Ich möchte gerade als ein Freund Hollands, der durch unendlich viele Bande des Blutes, der Freundschaft und der Geschichte mit ihm verbunden ist, die Ansicht ausdrücken, daß das Land von Hugo Grotius für dieses Anliegen volles Verständnis haben werde.
Wir können Lösungen vorschlagen, durch die keine Menschen betroffen werden. Da ist das Problem der holländischen Auslandsbonds. Ich würde gerne mit dem Herrn Bundesfinanzminister darüber sprechen, und ich würde den holländischen Standpunkt vor ihm vertreten, um ihn zu bitten, hier großzügig zu sein. Es ist auch die Möglichkeit gegeben, holländischen Wünschen im Dollart, in der Fahrrinne der Ems, entgegenzukommen. Ich meine, es kann hier eine Lösung gefunden werden, die für beide Länder das Beste herausholt und beiden Ländern die Gewißheit gibt, dem europäischen Geiste gedient zu haben.
Ich habe in der 94. Sitzung den Gedanken ausgedrückt, daß die Rückgabe der genannten deutschen Gebiete einen echten Prestigegewinn darstellen würde für das Land, das die Gebiete zurückgibt, und daß diese Rückgabe ein wahrer Beitrag zum europäischen Rechtsgedanken wäre. Herr Staatssekretär Hallstein hat mir zu meiner Freude geantwortet, daß die Bundesregierung diese Auffassung teile und sie in den Verhandlungen zum Ausdruck bringen werde.
Meine Damen und Herren, dieses scheinbar kleine Einzelproblem ist in seiner ganzen Bedeutung zu erkennen, wenn man sich noch einmal die Gefahr vor Augen hält, in der die Gemeinschaft aller freien Völker heute steht. Lassen Sie mich einige Worte dazu sagen.
Es ist von seiten des Sowjetismus die Gefahr einer Flucht nach vorne gegeben, gerade weil dieses System in Ungarn eine weltweite politische Niederlage erlitten hat. Wir sollten diese Gefahr klaren Blickes erkennen. Ich darf vielleicht — sozusagen als Klammersatz — Herrn Kollegen Wehner eine Auskunft geben. Er fragte, ob denn ein Eingreifen in Ungarn überhaupt denkbar gewesen wäre und nicht zum Kriege geführt hätte. Undenkbar ein solches Eingreifen von seiten der Westmächte! Es hat niemand so etwas im Sinne gehabt. Wohl aber müßte eins gesagt werden — und ich sage es nicht nur auf Grund meiner eigenen Erlebnisse, sondern alle ausländischen Beobachter, die mit mir in Ungarn waren, werden es bestätigen —: Es ist unserer Meinung nach eine große Unterlassung von seiten — ich spreche es ungern aus; aber es muß gesagt werden — der Vereinten Nationen begangen worden. Hätte der Generalsekretär der Vereinten Nationen in dem Augenblick, da Ministerpräsident Nagy die Neutralitätserklärung abgab, zum Ausdruck gebracht, daß er mit dem nächsten Flugzeug nach Budapest fliegen werde, — vielleicht wäre das Grauen vom 4. November und der folgenden Wochen und Monate vermieden worden.
Ich glaube, daß es unsere Aufgabe ist, gerade in einer solchen Diskussion durch die Erwähnung dieser Tatsache zu einer moralischen Stärkung der Vereinten Nationen für künftige Fälle beizutragen.
Es ergibt sich zweifellos aus der Weltlage, daß wir in diesem klein gewordenen freien Europa alles tun müssen, um die letzten Hindernisse, die noch da sein mögen, aus dem Weg zu räumen. Der Herr Bundesaußenminister hat heute morgen unter dem Beifall dieses Hohen Hauses darauf hingewiesen, daß durch die Rückkehr der Saar die deutsch-französische Freundschaft zur Wirklichkeit werden kann. Da auch die deutsch-belgischen Grenzprobleme bereinigt wurden, ist die Abwehrfront der freien und der um Freiheit und Einigkeit ringenden Völker gegen den aggressiven Sowjetismus erheblich gestärkt worden. Nun gilt es, im Westen die letzte Bresche zu schließen und hier zum Nutzen aller freien Völker die Wiedervereinigung zu vollenden.