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ID0218810300

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Metadaten
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  • tocInhaltsverzeichnis
    2. Deutscher Bundestag — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1957 10639 188. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1957. Glückwünsche zum Geburtstag des Bundespräsidenten Prof. Dr. Heuss . . . . 10639 D Glückwünsche zu Geburtstagen der Abg. Raestrup und Schneider (Hamburg) . 10639 D Änderungen der Tagesordnung 10639 D, 10740 C, D Geschäftliche Mitteilungen 10651 C Beschlußfassung des Bundesrats zu Gesetzesbeschlüssen des Bundestags . . . 10640 A Mitteilung über Beantwortung der Kleinen Anfragen 300, 315 und 316 (Drucksachen 2872, 3144; 3046, 3134; 3045, 3135) . . . 10640 A Mitteilung über Vorlage eines Zwischenberichts des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte über die Evakuiertenrückführung (Drucksache 3079) 10640 A Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung (außenpolitische Lage, Wiedervereinigung Deutschlands, Sicherheitssysteme) 10640 A Dr. von Brentano, Bundesminister des Auswärtigen . . . . 10640 B, 10674 C, 10707 C, 10708 A, D, 10709 A, D, 10710 A, 10733 B Unterbrechung der Sitzung . . 10651 D Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung 10651 D Kiesinger (CDU/CSU) . . 10651 D, 10653 A, C, 10654 A, B, 10660 B, C, 10661 A, 10662 B, 10671 B, 10675 A, 10686 B, 10701 C Dr. Mommer (SPD') . . . . 10653 A, 10727 C, 10730 D, 10732 C Erler (SPD) .. . 10653 C, 10662 B, 10698 B, 10716 D, 10727 D, 10730 B, 10730 D Mellies (SPD) 10654 A, 10735 A Unterbrechung der Sitzung . . 10664 A Ollenhauer (SPD) 10664 A, 10671 B, 10685 A Dr. Arndt (SPD) 10675 A, 10736 D, 10739 A, C Lenz (Trossingen) (FDP) 10677 B Dr. Lenz (Godesberg) (CDU/CSU) . 10682 A Feller (GB/BHE) 10687 A Dr. von Merkatz (DP) 10690 D Dr. Schäfer (Hamburg) (FVP) . . . 10695 D, 10698 C Wehner (SPD) . . 10700 B, 10701 C, 10705 D, 10706 B, 10708 A, D, 10709 A, D, 10710 A Rasner (CDU/CSU) . . . . 10705 D, 10706 B Dr. Furler (CDU/CSU) 10710 B Dr. Dr. h. c. Prinz zu Löwenstein (FDP) 10715 D Strauß, Bundesminister für Verteidigung . . . . 10726 A, 10727 C, D, 10729 B, 10730 B, D, 10731 D, 10732 B, D, 10739 A, C Schmidt (Hamburg) (SPD) . . . 10729 B Mattick (SPD) 10732 A Dr. Gille (GB/BHE) 10734 A Zur Geschäftsordnung betr. Weiterberatung der Tagesordnung: Brandt (Berlin) (SPD) 10740 B Rasner (CDU/CSU) 10740 D Nächste Sitzung 10741 C Berichtigungen zum Stenographischen Be- richt der 184. Sitzung 10741 Anlage: Liste der beurlaubten Abgeordneten 10741 B Die Sitzung wird um 9 Uhr 2 Minuten durch den Vizepräsidenten Dr. Jaeger eröffnet.
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    Berichtigungen zum Stenographischen Bericht der 184. Sitzung Es ist zu lesen: Seite 10178 A letzte Zeile unten „Dr. Schellenberg (SPD), zur Sache" statt „10243 B": 10234 B; Seite 10182 D Zeile 21 von unten statt „angenommen": abgelehnt; Seite 10297 Zeile 12 von unten in den Abstimmungen 5, 6 und 7: Scheel: beurlaubt; Seite 10297 Zeile 3 von unten in Abstimmung 7: Dr. Schneider (Saarbrücken): enthalten; Seite 10231 sind die vorletzte Zeile von A und die zweite Zeile von B auszutauschen. Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten a) Beurlaubungen Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Arnholz 15.2. Dr. Bärsch 1.2. Berendsen 1. 2. Dr. Berg 31.1. Dr. Brühler 2. 2. Dr. Bürkel 31.1. Cillien 2.3. Corterier 1.2. Dr. Dehler 28. 2. Dr. Franz 31.1. Freidhof 1.2. Gedat 1.2. Geiger (München) 1. 2. Gockeln 2. 3. Dr. Gülich 1.2. Haasler 31.1. Dr. Hesberg 31.1. Heye 31.1. Dr. Köhler 2.3. Dr. Kreyssig 1.2. Dr. Mocker 31.1. Dr. Dr. h. c. Müller (Bonn) 31.1. Neumayer 16.3. Odenthal 15.2. Dr. Oesterle 1. 2. Op den Orth 31.1. Richter 31.1. Dr. Schmid (Frankfurt) 2. 3. Dr. Schmidt (Gellersen) 31.1. Schneider (Hamburg) 1.2. Frau Schroeder (Berlin) 15.4. Dr. Vogel 2.2. b) Urlaubsanträge bis einschließlich Frau Brauksiepe 16.2. Höfler 28.2. Diedrichsen 9.2. Meyer-Ronnenberg 23.2.
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    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Ausführungen des Kollegen Furler zum Thema des Gemeinsamen Marktes und der europäischen Atomgemeinschaft war sehr deutlich zu entnehmen, wie notwendig es gerade ist, dieses Parlament und seine Ausschüsse von der Arbeit an derartigen Vertragswerken auch in den Einzelheiten zu unterrichten, bevor mit der Unterschrift der Regierung die Verträge eine Form gewonnen haben, daß man zu


    (Erler)

    ihnen nur noch ja oder nein sagen kann. Es ist von dem Kollegen Furler darauf aufmerksam gemacht worden, welch große Unterschiede erkennbar werden, wenn man etwa die Arbeit an den Plänen für den Gemeinsamen Markt und für die europäische Atomgemeinschaft, die aus dem Montan-Parlament heraus entwickelt worden sind, mit dem jetzigen Stand der Dinge vergleicht. Da haben wir alle Anlaß zur Sorge. Eine ganze Reihe wesentlicher Gedanken, die früher formuliert und festgehalten worden waren, sind im Laufe der Vertragsverhandlungen über Bord gegangen. Da wäre es nützlich, zu wissen, an wem das gelegen hat und ob die Angelegenheit im Laufe der künftigen Verhandlungen wieder in Ordnung gebracht werden kann.
    Es ist verschiedentlich hier beschworen worden, wie gut es doch wäre, wenn man zu einer gemeinsamen Außenpolitik käme. Nun, die primitivste Voraussetzung auch nur für gemeinsame Schritte in solchen großen Problemen wie denen der künftigen Organisation Europas ist doch wohl, daß man gemeinsam an die Arbeit geht, wenn es gilt, die Grundlagen künftiger Vertragswerke zu entwikkeln, und nicht nur hinterher die Gemeinsamkeit beschwört, wenn man abstimmen muß.

    (Sehr gut! bei der SPD.)

    Ich vermag auch nicht ganz einzusehen, weshalb ein einziger Staat durch den Hinweis auf die Beschlüsse seines Parlaments allein imstande sein soll, zusätzliche Vorteile auf Kosten der anderen Partner eines solchen Unternehmens herauszuholen.
    Lassen Sie mich hier noch einmal etwas zu dem sehr diffizilen Problem der Verbindung der nordafrikanischen Gebiete mit dem gemeinsamen europäischen Markt sagen. Auch die Bevölkerung dieser Länder, etwa in Tunesien und Marokko, will sich nicht nur eines Tages in der Lage befinden, ja oder nein zum Ganzen sagen zu sollen. Es muß eine Aufgabe der Loyalität der europäischen Vertragspartner dieser künftigen Gemeinschaft sein, die legitimierten Vertreter der Bevölkerung schon zu den Verhandlungen hinzuzuziehen, damit sie imstande sind, auf den Rechtsstatus einzuwirken, den man ihnen künftig zur Annahme empfiehlt.

    (Abg. Dr. Arndt: Sehr richtig!)

    Mein Freund Herbert Wehner hat von der strategischen Anlage dieser Debatte, die in den heutigen Morgenstunden deutlich geworden ist, gesprochen. Zu diesem strategischen Plan scheint mir auch ein wohlüberlegter Sprachgebrauch zu gehören. Ich möchte zu diesem Sprachgebrauch etwas sagen. Wir sollten es uns abgewöhnen, immer dann die sowjetische Terminologie hier einzuführen, wenn sie geeignet erscheint, dem Gegner eins auszuwischen,

    (Abg. Dr. Arndt: Sehr richtig!)

    aber sonst peinlich von dieser sowjetischen Terminologie, und mit Recht, Abstand zu nehmen. So wurde also hier ganz ungeniert gesprochen vom „sozialistischen Lager", vom „sozialistischen System" in der Sowjetzone. Meine Damen und Herren, Sie sagen doch sonst auch nicht „das Friedenslager", oder „das demokratische Deutschland" oder „die DDR"; Sie sagen doch dann auch „die sogenannte DDR"! Das ist kein Zufall. Von diesem Versuch, die Sozialdemokratie durch den Sprachgebrauch im Bewußtsein der Bevölkerung in die Nähe der Kommunisten zu bringen,

    (Beifall bei der SPD)

    führt ein direkte Linie zu dem schon einmal erlebten Unternehmen des Herrn Bundeskanzlers, das im Jahre 1953, wenige Tage vor der Wahl, mit der falschen Denunziation geendet hat, die sozialdemokratischen Kandidaten würden von der Sowjetzone mit Geld bezahlt.

    (Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Dr. Lenz [Godesberg] : Das ist nun auch wieder so eine typische Art!)

    — Wenn Sie das nicht wollen, dann möchte ich Sie dringend bitten, ein für allemal zur Kenntnis zu nehmen, daß die freiheitlichen Sozialisten zu den Freiheitsrechten stehen und daß es für uns keinerlei Nachbarschaft zu den Vertretern totalitärer Gewaltherrschaften gibt, von wo sie auch kommen mögen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir stehen zur Freiheit der Persönlichkeit, zur Freiheit des politischen Lebens, zur Freiheit der Wahl und zur sozialen Gerechtigkeit. Aus diesen Postulaten ergibt sich der Kampf gegen jede Form der Unterdrückung, durch wen und auf welchen Gebieten des menschlichen Lebens sie auch ausgeübt werden mag.
    Dieses Wort zur Methode der heutigen Debatte läßt mich auch zurückkommen zum Auftakt heute früh, einen sehr unglücklichen Auftakt, wie Sie inzwischen selber gespürt haben. Ihre Methode bestand darin, zunächst die Gegensätze auf das äußerste zuzuspitzen und dann zu sagen: Gemeinsamkeit können Sie ganz einfach haben, Sie brauchen sich nur hinten anzuschließen; dann haben wir die Gemeinsamkeit mit unseren Auffassungen hergestellt!
    Die gleiche Methode, die hier innenpolitisch versucht wird, versucht man offenbar — das wurde aus einigen Äußerungen des Herrn Bundesaußenministers sichtbar — auch außenpolitisch, gegenüber der Sowjetunion, zu praktizieren. Aber ein sehr wichtiger Unterschied ist der, daß die Sowjetunion — leider — das Pfand in Händen hält, das es zu erlösen gilt, und daß ohne die Zustimmung der Sowjetunion die friedliche Erlösung unserer Landsleute aus der kommunistischen Knechtschaft eben beim besten Willen nicht zu bewerkstelligen ist. Deshalb war ich sehr betroffen, als der Herr Außenminister hier mit ein paar heftigen Worten sagte, die Sowjetunion solle zunächst einmal ihre Beziehungen zu uns verbessern. Sicher, das ist eine sehr nützliche Aufforderung; aber aus dem Tone. in dem das gesprochen wurde, klang doch nicht ganz das Bewußtsein für die Tatsache heraus: wer hat eigentlich die Deutschen, um deren Erlösung drüben in der Sowjetunion es geht, wer hat die Sowjetzone, um deren friedliche Wiedervereinigung wir uns bemühen, in der Hand, die Sowjetunion oder wir? Das ist doch die Frage, die es in diesem Zusammenhang zu stellen gibt.
    Es ist selbstverständlich, und da sollte man mit keinerlei Unterstellungen von hüben wie drüben mehr arbeiten: es gibt keine Möglichkeit, die Wiedervereinigung Deutschlands um die Draufgabe der Freiheit ins Auge zu fassen. Daran denkt niemand in diesem Hause. Es ist aber eine unzulässige Vereinfachung, wenn Sie die Freiheit einfach gleichsetzen mit der, beschlagnahmen für die Mit-


    (Erler)

    gliedschaft im Atlantikpakt. Andere Formen der Freiheit gebe es überhaupt nicht, nur die Mitgliedschaft im Atlantikpakt verbürge sie.

    (Abg. Kiesinger: Das haben wir nie behauptet!)

    — Das war aber der Tenor der ganzen Debatte, die wir heute hier gehört haben.

    (Beifall bei der SPD.)

    Meine Damen und Herren, das war der gleiche Trugschluß, dem eine Zeitlang z. B. auch die amerikanische Politik erlegen war, als sie geglaubt hatte, unter dem Begriff freier Völker könne man nur diejenigen zusammenziehen, die sich in bestimmten förmlichen Militärpakten mit den Vereinigten Staaten zusammengeschlossen hätten. Daran hat sich ja drüben einiges geändert. Nicht erst seit dem Nehru-Besuch, auch schon vorher hat man bei unserem wichtigsten außenpolitischen Freund, in den Vereingten Staaten von Amerika, begriffen, daß man von dieser Art Schwarzweißmalerei wegkommen muß, weil das Gebiet der Freiheit auf dem Erdball — erfreulicherweise — größer ist als die Zahl der Mitgliedstaaten des Atlantikpakts.
    Meine Damen und Herren, die Eisenhower-Doktrin — so kritisch man zu manchen ihrer Einzelheiten auch stehen mag — hat doch ein Neues gebracht. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in dieser Doktrin klar zu verstehen gegeben, welches Interesse sie an der Aufrechterhaltung der politischen Unabhängigkeit auch bei denjenigen Ländern haben, die nicht durch Militärallianzen förmlich mit ihnen verbunden sind.

    (Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Weil sie eine akute Bedrohung sehen!)

    — Ach, und Sie meinen, ein Angriff auf Deutschland wäre auch nach der Wiedervereinigung keine akute Bedrohung für die Vereinigten Staaten?

    (Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Herr Erler, machen Sie doch nicht solche Vereinfachungen!)

    Meine Damen und Herren, ich bitte Sie lediglich um eins: diesen neuen Zügen der Außenpolitik des Landes, das Sie doch sonst so sorgsam beobachten, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es heute hier sichtbar wurde.

    (Beifall bei der SPD.)

    Nun zur Kernfrage! Mit der Forderung, daß das wiedervereinigte Deutschland dem Atlantikpakt
    — das ist doch die Zielvorstellung — um seiner Sicherheit willen angehören soll, wird in Wahrheit die Wiedervereinigung Deutschlands blockiert. Das ist eine harte Tatsache, um deren Erkenntnis wir nicht herumkommen, wenn wir je eine fruchtbare Wiedervereinigungspolitik betreiben wollen.

    (Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Das hat keiner gesagt, Herr Erler!)

    — Sie sprachen davon, das war der Kern Ihrer Ausführungen. Es ist schade, daß Sie das selber nicht gemerkt haben. Ich werde nachher darauf zurückkommen.
    Gewiß handelt es sich um die Sicherung der Freiheit. Aber eine weitere harte Tatsache ist die: ohne die Wiedervereinigung Deutschlands gibt es für unser Volk überhaupt keine Sicherheit; denn so lange bestehen die Risiken, auch die Kriegsrisiken, aus der Spaltung Deutschlands fort.

    (Beifall bei der SPD.)

    An eine sowjetische militärische Aggression gegen Westeuropa angesichts des jetzigen Kräfteverhältnisses in der Welt im allgemeinen und des Zustandes des sowjetischen Machtbereichs im besonderen glaubt doch von Ihnen selbst niemand.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Angesichts der NATO! — Nur wegen der NATO!)

    — Meine Damen und Herren, warum malen Sie hier denn immer wieder diesen Kinderschreck an die Wand!

    (Zurufe von der Mitte: Na, na!)

    Sie tun es einfach nach dem alten Rezept: je dunkler die Lage beschrieben wird, desto heller heben sich davon die Köpfe des Herrn Bundeskanzlers und seiner Minister ab.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Stücklen: Ungarn ist kein Kinderschreck!)

    — Genau das will ich Ihnen sagen. Es ist ein Unterschied — und das sollten auch Sie endlich begriffen haben — zwischen der brutalen Niederschlagung der Revolution eines freiheitsdurstigen Volkes, das bisher zum sowjetischen Machtbereich gehört hat, und der Ausdehnung der Sowjetunion mit militärischen Mitteln über diesen Machtbereich hinaus. Das ist doch ein Unterschied!

    (Abg. Kiesinger: Wir wollten nur hören, daß der „Kinderschreck" wirklich Ihre Überzeugung ist!)

    Das ist ein Unterschied; natürlich ist das ein Unterschied.

    (Abg. Kiesinger: Nicht diesen Unterschied, sondern daß Sie überhaupt nicht daran glauben, daß eine solche Bedrohung besteht! — Abg. ,Stücklen: War Korea auch ein Kinderschreck?)

    Meine Damen und Herren, sprechen wir uns in Ruhe über das Problem aus, das der Herr Außenminister hier angesprochen hat. Er sagte: es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Wiedervereinigung Deutschlands, der Abrüstung und den Problemen der Sicherheit in Europa. Da sind wir uns vollkommen einig. Aber gerade wenn man diesen untrennbaren Zusammenhang sieht, muß man sich auch bemühen, die Wiedervereinigung Deutschlands in den weltpolitischen Zusammenhang so einzuordnen, daß man sie auch tatsächlich erreichen kann.
    Ich wiederhole noch einmal den Satz, daß entgegen Ihren Illusionen wirkliche Sicherheit in Europa nur geschaffen werden kann, wenn das Risiko aus der Spaltung Deutschlands beseitigt wird. Gegen dieses Risiko nützt auch nicht die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum Atlantikpakt. Wenn wir das erkannt haben, müssen wir begreifen, daß es um der Sicherheit unseres Volkes willen erforderlich ist, alle Energien mit Vorrang auf die Wiedervereinigung zu konzentrieren, weil das die einzige Methode ist, unserem Volke Sicherheit von Dauer zu verschaffen.

    (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der Mitte: Das ist eine Theorie!)

    Ich sage: alle Energien, und zwar deshalb alle Energien, weil wir beklagen müssen, daß die Bundesregierung dieser Frage nicht mit annähernd dem gleichen Ausmaß an Sorgfalt, an Fleiß, an Einsatz der Kraft nachgeht, wie sie es ja sonst bei anderen Problemen mit der Folge von Beratungen, Noten und Verhandlungen tut, z. B. wenn es sich


    (Erler)

    nur um die Bewaffnung des halben Deutschlands im Atlantikpakt handelt.

    (Zurufe von der Mitte.)

    Es ist Klarheit darüber geschaffen: Niemand von uns denkt daran, daß es möglich sei, etwa im Alleingang der Bundesrepublik Deutschland die Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands zu erörtern, d. h. ohne Kontakt, ohne Aussprache, ohne Vereinbarungen mit unseren westlichen Vertragspartnern. Es denkt auch niemand daran, wie der Herr Außenminister angedeutet hat, daß es unbedingt eine Kontroverse mit unseren Vertragspartnern geben muß. Aber, meine Damen und Herren, wenn es so ist, daß unsere Vertragspartner — mancher von Ihnen wird es sogar bestätigt bekommen haben — gelegentlich auf Vorschläge gewartet haben, sollte uns das nachdenklich stimmen, und zwar auf Vorschläge, die realisierbar sein müssen, weil der einzige Vorschlag, der unter allen Umständen irreal ist, der ist, der davon ausgeht, daß das wiedervereinigte Deutschland Bestandteil des Atlantikpakts ist

    (Abg. Kiesinger: Wir gehen davon aus, daß das wiedervereinigte Deutschland Entscheidungsfreiheit hat!)

    — ich komme noch darauf —, weil sich hinter dieser Formel in Wahrheit doch das Ziel versteckt, das wiedervereinigte Deutschland solle Mitglied des Atlantikpakts sein; dann sind Sie wieder bei dem gleichen Problem.

    (Zuruf von der Mitte: Das ist eine Entscheidungsfrage! —Weiterer Zuruf von der Mitte: Warum unterstellen Sie uns das?)

    — Meine Damen und Herren, nehmen wir gleich mal die Frage der Entscheidungsfreiheit. Derselbe Bundeskanzler, der aus der vorherigen Vereinbarung, daß das wiedervereinigte Deutschland keine einseitigen Militärbündnisse eingeht, ein weltanschauliches Problem der Entscheidungsfreiheit macht, derselbe 'Bundeskanzler war vorher bereit zu akzeptieren, daß es in diesem Deutschland entmilitarisierte Zonen gibt. Ist das keine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit?

    (Sehr wahr! bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

    Wenn das Prinzip gilt, gilt es überhaupt und nicht stückweise, wenn es Ihnen paßt.

    (Abg. Kiesinger: Wir sind ja zu Zugeständnissen bereit!)

    — Na also, wenn Sie zu diesen Einschränkungen bereit sind, können Sie auch den Schritt weitergehen und sagen, Sie sind zu der Einschränkung bereit, daß das wiedervereinigte Deutschland einen anderen militärischen Status als den des Atlantikpakts hat, weil die ganzen anderen Einschränkungen nicht ausreichen.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Warten Sie doch ab, wie die Situation sein wird! — Abg. Kiesinger: Wir können das im Prinzip, aber nicht jetzt! — Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Das können Sie doch heute nicht entscheiden!)

    Diese Frage ist von der Geschichte seit so vielen Jahren an uns gestellt worden und sie wird uns immer wieder gestellt werden, bis wir vereinigt sind. Wenn Sie nicht den Mut haben, sie endgültig zu beantworten, wird das deutsche Volk gespalten bleiben.

    (Abg. Dr. Lenz [Godesberg] : Das ist Ihre Auffassung!)

    Meine Damen und Herren, Sie haben nun gesagt — und das hat bei Ihnen immer wieder großes Rätselraten hervorgerufen —: Was ist das eigentlich für ein Sicherheitssystem? Wir haben gesagt, daß selbstverständlich niemand bei uns daran denkt, das wiedervereinigte Deutschland schutzlos und ohne Knochen der Sowjetunion zum Fraß vorzuwerfen, sondern daß es eingebettet werden soll in ein effektives, wirksames Vertragssystem der Sicherheit hier in Europa.

    (Abg. Stücklen: Wie soll das konkret aussehen, Herr Erler?)

    — Da will ich Ihnen zunächst einmal sagen, daß wir bisher konkreter gewesen sind als der Herr Bundeskanzler zum gleichen Thema. Der sprach auch von „kollektivem Sicherheitssystem" und hat überhaupt nicht gesagt, was er sich im einzelnen darunter vorstellt. Und zweitens darf ich nun, wenn wir heute die ganze Debatte um dieses Thema geführt haben, darum bitten, daß Sie endlich einmal den Mut haben, in der Öffentlichkeit zuzugeben, daß Sie hier zugehört haben und es jetzt wissen, und nicht weiter draußen die Legende verbreiten, wir hätten uns darüber ausgeschwiegen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Herr Erler, das ist doch keine Antwort!)

    Und nun will ich hier den Nachhilfeunterricht zum mindestens dritten Male erteilen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Seien Sie doch nicht so überheblich, Herr Erler! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.)

    Ein Vertragssystem in Europa als Möglichkeit, als Verhandlungsgrundlage. Dieses Vertragssystem kann umfassen Deutschland und seine Nachbarn in Ost und West; in diesem Vertragssystem jene Klausel, der auch die Bundesregierung schon im vorhinein zugestimmt hat: eine gegenseitige Verpflichtung zum Nichtangriff, eine Schiedsverabredung zur Regelung von Streitigkeiten auf friedlichem Wege, eigene Leistungen eines jeden Teilnehmerstaats in einem angemessenen, ausgewogenen Verhältnis der Teilnehmer zueinander, ein System der Rüstungsbegrenzung und -kontrolle innerhalb dieses Gebiets, eine Beistandspflicht, die nicht durch das Veto eines Teilnehmers blockiert werden kann, und darüber hinaus — dazu hat ja Herr Furler etwas sehr Interessantes gesagt —, weil sich nämlich die beiden Großen untereinander blokkieren, auch eine Garantie, die gegen die Großen schützt, eine Garantie der beiden Großen in der Welt, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, für den Bestand dieser europäischen Friedensordnung.

    (Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Hat es jemals so etwas in der Welt gegeben?)

    — Meine Damen und Herren, hat es jemals ein Land gegeben, das in dieser Lage wie unser Deutschland gespalten war?

    (Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: O ja, eine ganze Menge Beispiele gibt es in der Geschichte! — Gegenrufe von der SPD.)



    (Erler)

    Meine Damen und Herren, diese Situation — ein Land, aufgespalten zwischen zwei einander feindlich gegenüberstehenden aufgerüsteten Machtblökken — sollte uns anspornen, furchtbare Gedanken, mit denen wir diesen Zustand der Spaltung überwinden können, mit etwas mehr Ernst und Bereitschaft zur Verständigung zu diskutieren.

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Ich halte Ihren Gedanken nicht für fruchtbar, sondern für utopisch!)

    Nur der hat ein Recht, an einem solchen Gedanken Kritik zu üben, der bereit ist, die Andeutungen des Herrn Bundeskanzlers über sein System der kollektiven Sicherheit in Europa, die sich in einer Erklärung finden, die er selber mit dem Präsidenten Eisenhower unterzeichnet hat, nun von sich aus zu konkretisieren. Sie haben schließlich die Verantwortung für die Regierungsgeschäfte dieses Staates. Sie sind dem deutschen Volk Rechenschaft darüber schuldig, wie Sie in der Wiedervereinigungspolitik aus der Sackgasse herauskommen wollen, in der Sie sich befinden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es heißt hier in dem Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 16. Juni 1955 in der gemeinsamen Erklärung des Herrn Bundeskanzlers und des Präsidenten Eisenhower, daß Deutschland seine Unabhängigkeit nur durch ein kollektives — ich wiederhole: kollektives, weil das das Mißfallen des Kollegen Lenz hervorgerufen hat — Sicherheitssystem sicherstellen kann. Nach Ihrer Meinung, Kollege Lenz, muß das versagen. Dann hat der Herr Bundeskanzler diese Erklärung sehr leichtfertig unterschrieben. Wenden Sie sich dann an den Herrn Bundeskanzler, wenn auch er einer Politik der projizierten Illusionen nachjagt!

    (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Unter der Voraussetzung der Abrüstung! Unter der Voraussetzung der Kontrolle! Das steht ja davor!)

    — Natürlich! Ist denn das nicht drin? Jetzt haben Sie wieder nicht zugehört! Ich habe von Rüstungsbegrenzung und -kontrolle gesprochen. Ich wiederhole es für den Nachhilfeschüler Lenz zum drittenmal: Rüstungsbegrenzung und -kontrolle.

    (Lebhafter Beifall und Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe von der Mitte. — Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Herr Erler, Nachhilfestunden bei Ihnen nehme ich nicht! — Glocke des Präsidenten.)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Abgeordneter Erler! Ich weiß nicht, ob sich der Abgeordnete Lenz dadurch beleidigt fühlt.

(Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Nein, kann er gar nicht!)

Auf keinen Fall aber kann ich diesen Ausdruck gegen einen Abgeordneten, gleich welcher Couleur, durchgehen lassen. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.

(Lachen und Zurufe von der SPD. — Zuruf von der Mitte: Die Argumente werden durch Ihre Arroganz nicht besser, Herr Erler!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Fritz Erler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Meine Damen und Herren, wer hat heute früh diese Debatte eröffnet? Wenden Sie sich an den Herrn Außenminister und gegen seine
    Art der Darstellung der Probleme. An die Probleme sind wir herangekommen nicht nach der Übung eines parlamentarisch regierten Staates durch eine ausgefeilte und die Probleme in den Einzelheiten darlegende Regierungserklärung, sondern wir haben es hier ertragen müssen, daß zwei Wahlreden von Sprechern der größten Partei hintereinander gehalten worden sind

    (lebhafter Beifall bei der SPD)

    und die sachliche Einführung in die Probleme dann dem Oppositionsführer Ollenhauer überlassen blieb, sonst wären wir in der Sache jetzt noch nicht weiter.

    (Erneuter lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Kiesinger: Herr Erler, ich rate Ihnen aber gut, meine Rede einmal in Ruhe durchzulesen! Das ist einfach nicht fair! — Abg. Mellies: Sie haben Grund, von Fairneß zu reden! — Weitere Zurufe von der SPD: Sie haben es nötig!)

    — Herr Kiesinger, ich bin gern bereit, mit Ihnen über die reinen Wahlkampfpassagen auch in Ihrer Rede einmal zu diskutieren. Vielleicht sind Sie morgen darüber selber besser im Bilde als heute in dieser vorgerückten Stunde.

    (Zuruf von der Mitte: Das ist doch gar nicht mehr darzustellen! — Abg. Dr. Lenz [Godesberg]: Diese Arroganz!)

    Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, daß
    die Erbitterung, die aus meinen Worten spricht
    — die leugne ich gar nicht —,

    (Abg. Stücklen: Mäßige dich im Zorn!)

    darauf zurückzuführen ist, daß Sie dem deutschen Volke seit Wochen vorzugaukeln suchen,

    (Zurufe von der Mitte: Vorzugaukeln? — Wer gaukelt vor? — Gegenrufe von der SPD)

    Sie seien die einzigen, die sich Gedanken machten über praktikable Wege der deutschen Außenpolitik, während die Opposition demgegenüber nichts als Schimären anzubieten habe.

    (Zuruf von der Mitte: Stimmt ja auch!)

    Das ist doch genau der Inhalt! Dann sollten Sie sich aber wenigstens Mühe geben, wenn oft und oft in diesem Hause um die Probleme gelegentlich hart, gelegentlich weniger hart gerungen wird, dabei das zur Kenntnis zu nehmen, was von der anderen Seite dargelegt wird, und nicht so zu tun, als hätten Sie es nie gehört, und es würde Ihnen erst heute als nachträgliches Weihnachtsgeschenk beschert.

    (Zuruf von der Mitte: Aber Sie legen doch nichts dar! Was legen Sie denn dar? — Abg. Stücklen: Allgemeinplätze!)

    Sehen Sie, meine Damen und Herren, jetzt gibt man sich also Mühe, Ihnen hier die Grundzüge einer europäischen Friedensordnung darzulegen, wie sie im internationalen Gespräch ist, wie sie in einer Reihe von ernsthaften Zeitschriften, Publikationen und wissenschaftlichen Arbeiten erörtert wird, damit wir einen Ausweg aus der Lage finden, in der wir uns augenblicklich befinden.
    Dann wird hier einfach so getan, als sei das gar kein Beitrag, den man auch überhaupt nur zur Kenntnis nehmen könne. Dann wird weiter so getan, als gäbe es da überhaupt keinen Punkt der


    (Erler)

    Konkretisierung, weil der einzige Punkt fehlt, den Sie darin haben wollen und den es gar nicht darin geben darf, denn sonst wird Deutschland nicht wieder zusammenkommen; nämlich der Punkt, daß auch das wiedervereinigte Deutschland formell und mit Brief und Siegel Mitglied des Atlantikpaktes sein soll.

    (Lebhafter Widerspruch von der CDU/CSU.— Abg. Dr. Lenz [Godesberg] : Das haben wir schon ein paar Mal zurückgewiesen! Das hat mit Logik nichts zu tun, das ist Demagogie! — Abg. Kiesinger: Das ist reine Demagogie!)

    — Der Herr Bundestagspräsident war vorhin mit Ordnungsrufen sehr schnell bei der Hand. Aber offenbar geht es nur auf der einen Seite.