Rede von
Dr.
Hans
Furler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Außenpolitik, die hier zur Debatte steht, hat ihre vielfältigen Aspekte. Meine Aufgabe — akut geworden durch den neuen Antrag, den die SPD hier vorgelegt hat — war es, zu den europäischen Dingen zu sprechen. Aber nachdem Herr Wehner eben eine sehr leidenschaftliche Anklagerede gehalten hat, muß ich dazu doch einige kurze Bemerkungen machen, obwohl ich nachher auch wieder auf verschiedene Gesichtspunkte der Wiedervereinigung zu sprechen kommen will.
Wer Herrn Wehner gehört hat, der muß sagen, das war eine ununterbrochene Anklage des Sinnes — so mußte man das verstehen —, daß bei den
Verhandlungen über die Wiedervereinigung und hinsichtlich der Möglichkeiten, die nach seiner Meinung bestanden, nicht alles getan wurde, um die Dinge zu realisieren, mindestens, ganz vorsichtig ausgedrückt, nicht alles getan wurde, um klarzustellen, daß Sowjetrußland die Schuld daran trage, daß die Wiedervereinigung bis heute nicht zustande gekommen ist.
Aber, Herr Wehner, es hat mich wenig angenehm berührt, daß Sie bei der Argumentation, wir hätten die Schuld deutlicher feststellen sollen, in Ihren Ausführungen sehr in den Vordergrund haben treten lassen, als hätte in diesen ganzen Notenwechseln und Verhandlungen doch irgendeine Möglichkeit gelegen, die zu einem positiven Ergebnis hätte führen können. Herr Wehner beanstandet, daß die Resolution, die damals im Anschluß an die Debatte über die Pariser Verträge gefaßt worden ist, in dem einen Punkte — ich habe die übrigen nicht alle im Kopf —, daß eine Kommission gebildet werden sollte, nicht durchgeführt worden sei. Ich kann im Augenblick nicht sagen, wie die Dinge formell gelaufen sind. Ich frage nur: glaubt jemand in diesem Haus, daß die Bildung einer solchen Kommission irgend etwas Positives zu den Erfolgschancen der Wiedervereinigung hätte beitragen können?
— Ich sage, wir wollen die Dinge einmal real miteinander besprechen, nicht formal. Vergessen Sie doch nicht, daß nachher die beiden großen Genfer Konferenzen stattgefunden haben, daß ständig ein Kontakt mit den anderen Vertragsmächten vorhanden war, die sich ja gerade in jenen Pariser Verträgen verpflichtet hatten, unsere Wiedervereinigungspolitik zu unterstützen. Ich frage: glauben Sie — Sie behaupten das wohl selbst nicht, aber ich muß diese These widerlegen, damit kein falscher Eindruck entsteht —, daß in einem Zeitpunkt, in dem Stalin noch persönlich bestimmte, oder aber in einem Zeitpunkt unmittelbar nach seinem Tode, als seine Politik noch absolut maßgeblich war, irgendwelche realen Chancen auch nur für ein fruchtbares Gespräch bestanden?
Das Äußerste, was in jener großen Gipfelkonferenz mit Hilfe unserer westlichen Verbündeten erreicht werden konnte, jene Erklärung über die Verpflichtung zur Wiedervereinigung auf Grund freier Wahlen, ist völlig auf dem Papier stehengeblieben. Denn sofort nachher haben die Widerstände eingesetzt, und die zweite Konferenz machte deutlich, daß wir auf diesem Wege nicht weiterkommen. Glauben Sie in einem Zeitpunkt, in dem wir die Ereignisse in Ungarn übersehen und erkennen, bei welcher Härte Sowjetrußland in seinem Machtbereich geblieben ist — und in einer Zeit, von der Sie glauben, daß in ihr ein Wandel eingetreten sei —, daß vorher irgend etwas Reales erreicht worden wäre?
Ich meine, wenn es bloß darum ginge, die Schuld Sowjetrußlands festzustellen, dann müßten wir in diesem Hause darüber einig sein, daß irgendein Zweifel darüber nicht bestehen kann, daß es die harte Machtpolitik der Russen nach innen und außen ist, die die Wiedervereinigung bis auf den heutigen Tag konsequent verhindert hat. Daß die Sowjetunion die DDR als kommunistischen Staat nach ihren Ideen aufbauen will, die These, daß dies
ein deutscher Staat sei, der neben uns stehe und mit dem wir uns in Vereinigungsgespräche einlassen sollten, die These von den zwei Staaten und den sozialistischen Errungenschaften oder vielmehr dem konsequenten Durchführen eines kommunistischen Wirtschaftssystems: dies sind doch die Dinge, an denen die Wiedervereinigung bis heute gescheitert ist und nicht daran, daß irgendwelche Verhandlungschancen nicht ausgenutzt worden wären.
Also ich glaube, daß wir über die Schuldfrage hier nicht zu debattieren brauchen. Dann war es aber nicht notwendig, eine lange Philippika zu halten, die den Eindruck entstehen lassen mußte, bei ruhiger Betrachtung könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß die Bundesregierung ein gewisses Maß an Schuld daran trage, wenn die Wiedervereinigung bisher nicht gekommen ist. Dagegen muß doch im Interesse der Wahrheit deutlich protestiert werden.
Nun aber zurück zu den Europadingen und zu bestimmten Fragen! Sie haben immer gesagt: wir wollen uns konkret über verschiedene Dinge unterhalten. Es hat mich, wenn ich die Verhandlungslage betrachte, nicht nur formell überrascht, daß von Ihrer Seite nun ein starker Vorwurf in der Richtung kommt, unser Parlament sei über die Verhandlungen über die Bildung der Euratom-Gemeinschaft und des Gemeinsamen Marktes nicht unterrichtet worden. Sie wissen, die Europapolitik der Bundesregierung wird seit längerer Zeit dahin geführt, daß wir versuchen, zu einem wirtschaftlichen Zusammenwachsen Europas zu kommen, und daß wir der Meinung sind: wir müssen hier Schritt für Schritt vorgehen und realisieren, was realisierbar ist. Und da waren wir eigentlich mit Ihnen, Herr Wehner, der Meinung, daß der einzige realisierbare Weg im Augenblick der ist, die Gemeinschaft der Sechs auszubauen. Ihre Kollegen, die Mitglieder im Montan-Parlament sind, haben die Entstehungsgeschichte dieser Pläne auf das genaueste gekannt und miterlebt. Sie wissen, daß wir der Meinung waren: wir müssen heraus aus dieser Teilintegration, wir müssen weiterkommen. Es wurde gearbeitet, und Sie haben kein Wort der Kritik an dieser Arbeit vorgebracht. Im Gegenteil, ich freue mich — wir wollen darüber gar nicht antithetisch streiten —, daß Sie in der konkreten Europapolitik, in der Montan-Union und im Europarat nach Ihrer anfänglichen Ablehnung nun doch positiv mitarbeiten.
— Das ist richtig, Herr Wehner, aber das beweist nichts. Ich glaube nicht, daß Sie damals, am Anfang, mitgemacht hätten, wenn ich dagewesen wäre.
Sie haben das damals abgelehnt. Ich freue mich darüber, daß wir wenigstens in dieser Richtung zu einer gemeinsamen Haltung gekommen sind, allerdings nicht dadurch, daß wir oder die Bundesregierung die Politik grundlegend geändert hätten, sondern dadurch, daß Sie die Fakten anerkannten und erkannten, welche Chancen für eine positive Entwicklung Europas in ihnen liegen.
Nun wissen Sie, daß die Verhandlungen nicht einfacher Natur waren und sind. Ich will mich gar nicht auf den formellen Standpunkt stellen, daß bis heute keine Anfrage hier im Parlament gekommen ist. Aber es gibt auch politische Zweckmäßigkeiten, und man hat bisher angenommen — beginnend mit dem Monnet-Komitee, beginnend mit der Mitarbeit im Montan-Parlament —, daß Sie in den Grundlinien, die die Regierung verfolgt, eigentlich mit uns einig gehen. Zu Beginn hat sich ja auch das Parlament damit befaßt. Ich darf daran erinnern, daß wir am 22. März vorigen Jahres eine große Europadebatte hatten. In ihr standen schon die Projekte Euratom und Gemeinsamer Markt zur Diskussion. Ja, es wurde sogar von uns allen, ich glaube: fast einstimmig eine Resolution gefaßt, in der die Grundlagen gewisser Entwürfe — damals des Monnet-Komitees — gebilligt wurden und in der die Regierung aufgefordert wurde, nicht nur diese Gemeinschaft zur friedlichen Auswertung der Atomkraft zu schaffen, sondern auch dafür zu sorgen, daß zugleich die Grundlegungen für die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes geschaffen werden. Wir haben uns hier also schon damit beschäftigt. Daß das französische Parlament inzwischen zwei Debatten hatte — einmal über Euratom und jetzt über den Gemeinsamen Markt —, hat ganz bestimmte innenpolitische Gründe, die bei uns, wie ich zu meiner Freude sagen möchte, wohl nicht vorliegen. Daß wir, Sie und wir alle, in den Grundlinien dieser Entwicklung einig sind, darüber besteht wohl gar kein Zweifel.
Herr Wehner, wenn Sie sagen, daß Euratom heute nicht so voll ausgestaltet wird, wie es z. B. den Entschließungen des Monnet-Komitees entspricht — wir waren ja zusammen dort —, dann darf ich sagen, daß wesentliche Stücke hier herausgebrochen wurden, nicht durch uns. Ich denke nur an die nichtfriedliche Verwertung der Atomkraft und die daraus folgenden Entwicklungen. Das wurde nicht durch uns herausgebrochen, sondern durch andere Partner.
— Nein, nicht Sie, durchaus nicht, sondern andere Staaten und andere Parlamente. Wir wollen uns nur darüber klar sein, daß Sie nicht den Vorwurf erheben können, die Euratom-Gemeinschaft habe durch ein starres Verhalten der Bundesregierung, die das Parlament nicht gefragt habe, gewissermaßen einen Wesenswandel erfahren.
Ich darf sagen, daß etwas gelungen ist, dessen Gelingen am Anfang nicht so ganz selbstverständlich war, daß nämlich mit der Euratom-Gemeinschaft zugleich der Gemeinsame Markt, also die größere Vereinigung, geschaffen wird. Dadurch werden manche Probleme beseitigt, die bestünden, wenn die Euratom-Gemeinschaft allein entstünde; und das ist in unserem Sinne, aber auch in Ihrem Sinne, Herr Wehner.
Wahrscheinlich wären die Verhandlungen durch große Debatten bei uns nicht gefördert worden. Es gab hier Dinge, über die man mit großer Diskretion verhandeln mußte. Es bedurfte erst einer Darstellung, welche grundlegenden Punkte während der Verhandlungen nun eigentlich zu unseren Ungunsten umgestaltet worden sind. Herr Wehner, es ist ja nicht so, daß wir darüber nicht orientiert wären. Man hat von uns gewisse Konzessionen ver-
langt — vor allem hat sie Frankreich gefordert. Wir waren aber der Auffassung, daß man Konzessionen, wenn sie noch getragen werden könnten, im Interesse Europas machen müsse. Ich darf daran erinnern — und das müßten Sie eigentlich als etwas Positives vorbringen —, daß die sozialen Fragen im Gemeinsamen Markt von uns und von der Regierung in einer Weise behandelt wurden, die unsere und Ihre Zustimmung finden muß. Wir haben immer den Standpunkt vertreten, daß der Gemeinsame Markt nicht als Selbstzweck oder aus irgendwelchen machtpolitischen Gründen oder damit wir eine Vorherrschaft darin erlangen, geschaffen wird, sondern daß wir diese Einrichtung und alle diese europäischen Gemeinschaften im Interesse der darin lebenden Menschen, zur Verbesserung ihrer sozialen Situation und ihres Lebensstandards schaffen. Wir sind uns darüber klar, daß wir nur in größeren wirtschaftlichen Gemeinschaften vorwärtskommen. Wir müßten mit der Zeit in soziale und wirtschaftliche Situationen zurückfallen, die unserem und Ihrem Streben nicht angemessen wären, wenn es nicht gelänge, zu einem größeren Wirtschaftsraum zu kommen.
Wir haben die unangenehme Situation, daß dieses große Geschehen in unserer Öffentlichkeit zeitweise nicht deutlich genug in Erscheinung trat und weiterhin, ich möchte sagen, unter Begriffen läuft, von denen der einfache Mensch noch keine konkrete Vorstellung hat. Was kann er sich schon unter dem Gemeinsamen Markt vorstellen? Es ist unsere Aufgabe, hier klarstellend zu wirken.
Ich möchte dazu nur einige Worte sagen. Es wird jedem einleuchten, daß es eine durchaus positive Politik ist, die uns auch in den allgemeinen deutschen und europäischen Fragen stärkt, wenn es gelingt, eine Zollunion zu schaffen, in der sechs Staaten mit 160 Millionen Menschen vereinigt sind. Daß das nicht leicht ist, bedarf wohl keiner Darlegung. Wenn es in einem Staat heißt: die Zölle müssen gesenkt werden und schließlich ganz fallen, kommen natürlich Hemmungen und Schwierigkeiten.
Hier ist die Politik der Bundesregierung, die sich dazu positiv bekannt hat, doch geradezu vorbildlich gewesen, auch in den Konzessionen, die sie auf diesem Gebiet zu machen bereit war.
Es wird bei Ihren Bemerkungen auch immer von dem „Klein-Europa" gesprochen und im Hintergrund immer so getan, als wolle man sich da abschließen.
— Nein, nein. Also wir wollen es in einer Weise gestalten, daß wir alle darin leben können, daß wir alle darin zufrieden leben können, alle hier im Hause.
Aber ich meine, das Gebiet, das sich zusammenschließen will, soll eine Art Ordnungsgebiet werden, an das sich andere europäische Staaten angliedern in einer Form, die ihnen möglich ist. Wir haben doch erlebt, daß die Politik der Bundesregierung und der sechs Staaten, die entschlossen sind, diesen Weg zu gehen, das übrige Europa tief beeinflußt hat. Die Haltung Großbritanniens schon vor der Suez-Krise, die in der Erklärung MacMillan's zum Ausdruck kam, war ein Beispiel dafür, wie man durch eine positive Politik, die Taten bringt, auch
Europa weiterentwickeln kann. Plötzlich hat England reagiert, und MacMillan, sein heutiger Premierminister, hat gesagt: „Wir können dieser Entwicklung nicht untätig zusehen, wir wollen uns darauf einstellen, wir können nicht beitreten" — gut, dafür hat man Verständnis —, „wir können aber nicht fernbleiben; wir wollen uns in Form einer Freihandelszone anschließen."
Und die Dinge haben noch einen viel stärkeren Auftrieb bekommen, seit die Suez-Situation gezeigt hat, wie schwach Europa geworden ist und wie ohnmächtig es auch wirtschaftlich gemacht werden kann, wenn wir uns nicht zusammenfinden. Also Sie sehen, es ist nichts falscher, als zu sagen, die Bundesregierung treibe keine positive Politik. Sie tut dies hier mit großem Mut und mit Entschlossenheit.
Aber auch andere Dinge, die heute so etwas kritisch behandelt warden sind, müssen anerkannt werden. Ich muß ganz offen darüber sprechen. Sie wissen, daß ein großes Problem für diesen Gemeinsamen Markt die Hereinnahme der sogenannten überseeischen Gebiete Frankreichs ist. Nun habe ich — eigentlich sehr zu meinem Bedauern — gehört, daß Herr Wehner sagte, man wolle uns übrigen Staaten hier eine im Konkurs befindliche französische Politik, eine Kolonialpolitik, anhängen. Ich glaube, so dürfen wir diese Dinge gerade im europäischen Denken nicht sehen.
Ich glaube nach dem Stand der Verhandlungen, daß die französische Regierung — ich will über die Frage Konkurs oder nicht Konkurs garkein Urteil fällen—uns solches gar nicht zumutet. Die Grundlagen des Ganzen sind ja völlig andere. Es stellt sich als eine Notwendigkeit dar, daß nicht nur die Mutterländer zusammenkommen, sondern auch die Gebiete, die zu ihnen gehören. Man war sich darüber im klaren, daß nach Möglichkeit die politischen Fragen ausgeschieden und daß die politischen Probleme, die vor allem in Nordafrika liegen, von Frankreich in eigener Verantwortung gelöst werden müssen. Daß wir aber, wenn wir schon zusammenkommen, in gewissen Gebieten, in denen diese Kolonialprobleme überhaupt noch keine Rolle spielen, an der Entwicklung der Gebiete mitwirken, ist doch selbstverständlich. Hat doch Kollege Carlo Schmid gesagt: Wir müssen einen europäischen Marshallplan entwickeln. Ich bin da sehr skeptisch, ob wir reich genug sind. Wenn wir aber schon in unterentwickelten oder nicht voll entwickelten Gebieten helfen, dann liegt es doch nahe, dies in solchen Gebieten zu tun, die nun einmal zu unseren Nachbarn gehören. Man kann da nicht auf der einen Seite sagen: wir zeigen möglichste Großzügigkeit, und auf der andern Seite nicht mitwirken wollen, wenn es darum geht, in einer gemeinschaftlich europäischen Verantwortung auch Verpflichtungen zu übernehmen. Ich bin auch der Meinung, daß die Bundesregierung in den Verhandlungen hier noch konkrete Entschließungen politischer Art fassen muß, die uns nicht belasten, die aber aus einer europäischen Solidarität, aus einer Verpflichtung, die wir auch für gewisse afrikanische Gebiete haben müssen, gefaßt werden.
Nun wurde hier gesagt, die Dinge seien doch zum Teil kritisch. Ich gebe zu: es gibt manche Punkte, über die man sich auseinandersetzen kann. Herr Ollenhauer hat erklärt, es sei eine kolossale Fehlentwicklung, ein viertes Parlament zu schaffen. Nun, ich habe mich sofort gegen dieses vierte Parlament gewendet. Aber wir müssen auch das ganz
offen sagen: es war nicht die Politik der Bundesregierung, die uns diesen Vorschlag und diesen Beschluß gebracht hat. Man hat vielmehr in dem Wunsch, das Werk nicht zu gefährden, und aus Rücksichtnahme auf gewisse parlamentarische Situationen in Ländern, die notwendig dazugehören, geglaubt, hier einen Kompromiß schließen zu müssen. Ich bin aber überzeugt, daß es uns gelingt, diese Dinge in eine klare Linie zu bringen, und ich bin weiter überzeugt, daß man nicht zu einem vierten Parlament kommt, sondern daß man, auch ohne daß hier im Hause allzuviel geschieht, dazu gelangen wird, e i n Wirtschaftsparlament für die drei Gemeinschaften zu schaffen, die sich hier bilden sollen.
Soviel zu diesen Dingen, die auch wesentlich sind für unsere Außenpolitik. Wir müssen dieses Europaproblem, auch das wirtschaftliche, und die Entwicklung der sechs Staaten und darüber hinausgreifend auch der anderen Länder immer in dem großen weltpolitischen Zusammenhang sehen.
Dazu will ich zwei Dinge sagen.
Ich sehe dieses Problem in einem doppelten weltpolitischen Zusammenhang, einmal im Zusammenhang mit den großen Auseinandersetzungen und mit den durch den riesigen wirtschaftlichen und militärischen Machtblock des Ostens für uns vorhandenen Gefahren. Seien wir uns darüber im klaren, daß auf die Bundesrepublik oder auch auf das wiedervereinigte Deutschland ein ungeheurer Druck ausgeübt werden wird, wenn sich die Lage wirtschaftlich einmal — wir haben ja schließlich trotz allem Optimismus keine Garantie für ewige Zeiten — rückwärts entwickelt. Wenn wir dann nicht in einer großen Wirtschaftsgemeinschaft stehen, wird es außerordentlich schwer sein, dem wirtschaftlichen und dem damit verbundenen politischen Druck des Ostens standzuhalten. Wenn wir dann getrennt — wir hier, da die Belgier, dort die Franzosen — diesem Block in einer Zeit gegenüberstehen, wo nicht eine solche Konjunktur herrscht, wie wir sie seit Jahren zu unserer Freude haben, dann werden Sie erst erkennen, wie schwer unsere Situation geworden ist. Also wir brauchen dieses Europa für unsere Haltung gegenüber dem Osten, für unsere Freiheit und auch für unsere Sicherheit im weiteren Sinne.
Wir waren uns immer auch darüber einig — ich habe mich gewundert, daß es in Zweifel gezogen wurde, nicht ernst, aber es wurde immerhin eine Frage gestellt —, daß diese wirtschaftlichen Verbindungen in keiner Weise die Wiedervereinigung hindern, sondern daß im Gegenteil die Kraft, der mögliche Wohlstand und das Blühen einer solchen Gemeinschaft die Wiedervereinigung fördern.
Es gab darüber bisher zwischen uns keinen Streit.
— Doch, es wurde so angedeutet, als könne man auch darüber Zweifel bekommen. Ich möchte hoffen, daß man sie nicht bekommt.
Aber noch in einem anderen Zusammenhang sehe ich das Europäische, nämlich in der Frage unserer Verbindung zu jener großen Macht über dem Atlantischen Ozean, zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich habe mit Erstaunen gehört, daß von Ihnen gesagt wurde, Sie würden jeden Versuch bekämpfen, ein Europa mit antiamerikanischen Vorzeichen zu organisieren. Es wurde schon gesagt, daß Sie bei uns hier eine volle Übereinstimmung finden, ja, daß wir immer erklärt haben: Wir wagten dieses Europa auch der Sechs, nicht um eine Autarkie daraus zu machen oder um eine dritte Kraft zu entwickeln, sondern wir waren immer der Meinung, daß dieses Europa uns stärken wird, daß wir aber die großen weltpolitischen Gefahren auch in einer solchen wirtschaftlichen und daraus folgenden politischen Verbindung nicht allein bestehen können, sondern daß dazu die ständige und enge Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika erforderlich ist, und zwar nicht nur wirtschaftlicher und politischer Art.
Damit komme ich zu den Fragen, die uns heute so stark beschäftigt haben, zur Frage der Sicherheit und zur Frage der Wiedervereinigung. Ich will dazu nur einige kurze, debattierende Bemerkungen machen.
Zunächst haben Sie vollständig recht, und das ist auch unsere Meinung: Wir betrachten die Sicherheit und die Freiheit nicht nur für uns allein, in unserer Politik für die Bundesrepublik, sondern immer unter dem Gesichtspunkt des ganzen Deutschlands und der Sicherung jener 18 Millionen, die uns auch anvertraut sind und die in ihrem Wiedervereinigungsbestreben auf uns hoffen.
Aber ich darf noch einmal, ohne nach dieser Vorbemerkung mißverstanden zu werden, die ganz reale Frage stellen: Ist es eigentlich gar nichts, daß die Politik der Bundesregierung dazu geführt hat, daß wir hier, diese 50 Millionen, in Sicherheit leben und uns entwickeln können? Ist es eigentlich völlig gleichgültig, daß dieses Ergebnis geschaffen wurde?
Sicher wollen wir nie die anderen vergessen, die noch unter fremder Herrschaft leben. Aber auch wir, die 50 Millionen, sind doch wert, daß sich unsere Sicherungspolitik ihrer annimmt, um so mehr, wenn wir darüber völlig im klaren sind, daß, wenn wir keine Sicherheit, keine Freiheit besitzen, die anderen sie erst recht nicht bekommen werden.
Das ist ein Grundproblem. Hat es sich nicht in jenen großen Krisentagen, bei jenen tragischen Ereignissen in Ungarn doch bewährt — damit komme ich zu einem Kernpunkt der Auseinandersetzungen —, daß die Bundesrepublik im Schutz der NATO stand? Wer hätte für uns garantiert, wenn die Vorgänge sich ereignet hätten in einem Zeitpunkt, wo man über irgendwelche Sicherheitspakte der realen Sicherheiten entblößt gewesen wäre, — wer hätte Ihnen garantiert, daß die Ereignisse nicht auf uns übergesprungen wären?
So aber war zumindest dieses ausgeschlossen, und es hat wohl niemand angenommen, daß von Ungarn aus unmittelbar die Bundesrepublik in dieser Situation gefährdet war, eine Gefahr, die bei einer grundsätzlich anderen Politik immerhin nicht ganz von der Hand zu weisen gewesen wäre.
Nehmen Sie an, es wären irgendwelche Abkommen getroffen gewesen, es wären die Truppen über die Grenzen zurückgenommen. Wir haben gesehen, Rußland hat eine unmittelbare Grenze mit Ungarn, und es ist von dort gar nicht so weit, wäh-
rend die anderen doch erhebliche Distanzen zurücklegen müssen und sofort vor der Alternative stehen, entweder sich mit solchen Erdrutschen abzufinden oder einen Atomkrieg zu führen, — eine Entscheidung, die von einem ungeheueren Ernst ist, von einem Risiko für uns, das wir einmal durchdenken müssen und beim Durchdenken überhaupt nicht groß genug einschätzen können.
Deshalb verstehe ich einiges nicht, was Herr Ollenhauer als Grundthese entwickelt hat. Herr Ollenhauer hat erklärt, er beurteile die militärische Verteidigungssituation heute anders als noch im Herbst 1956. Er hat geradezu emphatisch erklärt: „Die Lage ist nicht mehr dieselbe wie im Herbst 1956" und er hat daraus die Schlußfolgerung gezogen, wir müßten nun versuchen, durch eine Umbildung unserer militärischen Sicherheit in ein anderes Verhältnis zu Rußland und damit zu einer Möglichkeit der Wiedervereinigung zu kommen. An diese Feststellung sind zwei Fragen zu knüpfen.
Die eine ist die: Wenn Herr Ollenhauer meint — und optimistisch meint —, die Lage sei heute anders als im Herbst 1956, dann muß ich doch daraus schließen, daß er die Lage vor dem Herbst 1956 als noch ernster betrachtet als heute.
Dann aber muß er doch die Konsequenz ziehen, daß die Dinge, die er heute für möglich hält, damals eben noch nicht möglich waren. Andere logische Schlüsse gibt es nicht.
Die zweite Frage ist die folgende. Wir wissen ja nicht, wie die Entwicklungen weitergehen. Manche waren so optimistisch und nahmen an, es werde eine starke Umformung im Satellitenbereich erfolgen. Wir haben erlebt, daß die Dinge doch sehr machtpolitisch — ich will vom Ideologischen gar nicht sprechen — behandelt worden sind. Die Russen haben ihren Machtbereich in keiner Weise zurückgeführt. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie glauben, daß solche Entwicklungen im Gange sind, dann liegt doch eine Erwägung besonders nahe, eine Erwägung, die gerade in der amerikanischen Politik immer wieder geäußert wird, nämlich die Erwägung, daß Zeiträume der Umwandlung besonders gefährliche Zeiträume sind. Gerade da ist die Gefahr rascher Explosionen, rascher Fehlschlüsse sehr groß.
Wenn Sie bedenken und wenn Sie hoffen, daß die Russen an Machtposition bei den Satelliten verlieren, müssen Sie auch immer damit rechnen, daß die Russen — und sie haben es getan — Gegenzüge unternehmen, und dann sind Sie in einem völlig ungesicherten Randgebiet in der größeren Gefahr, mit unterzugehen.
Ich kann nur sagen: ich habe kein Verständnis dafür, daß man die Dinge immer so drängend behandelt,
zumal wenn man sieht, daß gewisse Entwicklungen im Gange sind, von denen auch ich hoffe, daß sie zu noch positiveren Ergebnissen führen können. Denn wir müssen uns doch darüber im klaren sein: Die Wiedervereinigung hängt nicht allein von unserer Haltung und von unseren Resolutionen und von unserem Willen ab — daß wir sie wollen, ist
gar keine Frage —; es haben auch unsere westlichen Verbündeten mitzureden. Daß sie sich uns gegenüber verpflichtet haben, uns abzudecken und zu unterstützen, darüber gibt es auch keine Diskussion. Aber entscheidend ist doch Sowjetrullland. Wir haben durch Jahre erlebt und durch Ungarn noch einmal zur Evidenz bewiesen bekommen, daß die Russen noch nicht reif sind, hier die Konsequenzen zu ziehen, die notwendig sind. Und die Konsequenz ist für die Zone, für dieses Stück Deutschlands, das sie unter ihre Herrschaft — direkt und indirekt — genommen haben, daß sie in die Freiheit und in die Selbstbestimmung entlassen wird. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß dieses Gebiet für das große russische Reich nicht lebenswichtig ist. Ich will gar nicht fragen, ob die Satelliten für Sowjetrußland lebenswichtig sind; das berührt uns im Augenblick nicht unmittelbar. Sicher ist die Zone für die Sowjetunion auf die Dauer gesehen nicht von existentieller Bedeutung. Aber die Dinge müssen sich doch so real entwickeln, daß eine Umstellung erfolgt, daß der Zeitpunkt kommt, wo die Russen von den harten grundsätzlichen Bedingungen der zwei Staaten, von der Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems, der Aufrechterhaltung ihrer Militärherrschaft abkommen könnten.
Wehe aber, wenn Sie auf solche Entwicklungen hoffen und zu früh Entscheidungen treffen, die nachher nicht mehr zu verändern sind! Das ist doch die Gefahr des ständigen Drängens, daß wir in einem Augenblick, in dem die Dinge noch nicht reif sind, in eine Situation gebracht werden, aus der wir dann gar nicht mehr herauskommen können.
Ich glaube, gerade die Europapolitik zeigt, daß man Geduld haben muß und daß man bei einer klaren Haltung und im Wissen dessen, was man will, auch warten können muß. Nehmen Sie die letzten Monate Europa! Viele von uns und viele von Ihnen waren der Meinung, gegen diese Entwicklung der Sechs, gegen diesen Gemeinsamen Markt würden sehr viele Widerstände bestehen. Wir haben zäh und konsequent weitergearbeitet, und plötzlich kamen uns Ereignisse zu Hilfe, mit denen niemand hatte rechnen können. Niemand konnte bei den Projekten in der Messina-Konferenz und in der Konferenz von Venedig damit rechnen, daß die Suez-Krise plötzlich eine so tödliche Gefahr werden könnte und daß aus ihr heraus neue Impulse, auch in Frankreich und bei uns, für das Weiterführen dieser Europa-Politik kämen. Aber sie sind gekommen, und ich hoffe, wir können sie im positiven Sinne realisieren und damit unsere Politik rechtfertigen.
Ich möchte Ihnen dieses Beispiel eigentlich auch für unsere Ostpolitik sagen. Es gilt doch, die Grundsätze aufrechtzuerhalten; denn wenn Sie davon abgehen, daß wir die Freiheit und die freien Wahlen verlangen — „wenn"; ich sage nicht, daß Sie das wollen —, wenn wir in eine Situation kämen, in der wir zu der These der zwei Staaten übergingen, wären unsere Rechtsposition und damit auch die Entwicklungsposition, wenn irgendwelche Veränderungen stattfänden, grundlegend verändert. Eine Wiedervereinigung in unser aller Sinn wäre selbst dann nicht mehr denkbar, wenn sich die Verhältnisse stark wandeln sollten.
Also ich sage: Die Entwicklung in Europa beweist auch die Richtigkeit des Grundansatzes i der Po-
litik der Sicherheit und in der Politik der Wiedervereinigung. Was man kaum mehr versteht, sind diese ständigen Auseinandersetzungen über den Sicherheitspakt. Wenn man hier im Plenum einander gegenübertritt, wenn Herr Ollenhauer und Herr Kiesinger ihre Thesen entwickeln, dann werden diese Fragen etwas klarer. Draußen im Lande aber bleiben sie undeutlich. Wenn Herr Ollenhauer formuliert: „Wenn wir einen Sicherheitspakt bekommen, der die gleichen Wirkungen hat", — ja, das ist nun etwas ganz anderes. Was heißt „Wirkungen"? Wirkungen heißt doch: wirksame Sicherheit. Wir finden, daß die Wirkung in der Verteidigungsgemeinschaft liegt, die wir mit anderen zusammen haben. Wir wissen, daß wir uns allein nicht verteidigen können, wenn wirklich einmal der Ernstfall eintreten sollte.
Wie kann man nach den Vorgängen in Ungarn glauben, durch diese Ereignisse sei nun bewiesen, daß eine kollektive Sicherheit ausreichend wäre? Es wurde ausdrücklich gesagt, daß die UNO das Beispiel höchster kollektiver Sicherheit sei. Wir haben doch zu unserm großen Schmerz erlebt, daß die UNO hinsichtlich Ungarns überhaupt nichts tun konnte, sondern daß in Ungarn zum Schaden des Volkes die Verbindung mit Rußland die Entscheidung gebracht hat, nämlich durch die dort stehenden Truppen. Unsere Sicherheit war dadurch gewährleistet, daß die Russen, wenn sie hätten ausweichen wollen, weil sie dies aus strategischen oder allgemeinen Grundsätzen gewollt hätten, am Bestehen der Verteidigungsgemeinschaft gescheitert wären. Sie konnten dieses Risiko nicht laufen. Also wenn Sie eine Situation schaffen, die genau so wirksam ist wie die NATO, — wer würde dann um eines Dogmas willen, wie Kollege Kiesinger immer gesagt hat, auf dieser NATO bestehen bleiben? Daran denkt doch auch bei der Bundesregierung niemand.
Aber die Wirksamkeit ist das Entscheidende, und diese Wirksamkeit fehlt, wenn Sie nur vertragliche Versprechungen in einem Pakt haben, dem die beiden immer noch größten Protagonisten angehören, in den die Spannungen hineinverlagert sind und in dem sich diese beiden Protagonisten am Schluß gegenseitig ausschalten. Dann können sich diejenigen, die zwischendrinsitzen, nicht wehren und sind herausgerissen aus der organischen Verteidigungsverbindung mit denen, die sie vor dem wirklich einzig in Betracht kommenden Gegner retten können.
Wenn wir also die Dinge real durchdenken, müssen wir erkennen, daß Ungarn die Wirksamkeit der Verteidigungsgemeinschaft für uns bewiesen hat. Es ist uns nichts passiert, und es hätte uns auch nichts passieren können; aber nicht wegen der UNO — wir sind ja nicht Mitglied — und nicht, wenn wir einen kollektiven Sicherheitspakt gehabt hätten, sondern nur durch die reale Tatsache der Verteidigungsgemeinschaft und die sich aus ihr ergebenden entscheidenden Risiken für Sowjetrußland, Risiken, die aber übernommen werden können, wenn ein in der Mentalität völlig anders geartetes Regierungssystem sich über Pakte nur hinwegzusetzen braucht.
Der tiefste Grund ist doch der, daß sich ein kollektives Sicherheitssystem wie auch die UNO deshalb nicht real durchsetzen kann, weil das Vertrauensverhältnis zu einem der stärksten Mitglieder fehlt und weil dieses Vertrauensverhältnis nicht geschaffen wird, solange das machtpolitisch so ungeheuer starke, völlig unübersichtliche Land jede Kontrolle ablehnt.
Warum aber wird eine Kontrolle abgelehnt? Da gibt es die verschiedensten Motive. Sicherlich aber schafft das nicht das Vertrauen, das notwendig ist,
wenn man die Kontrolle nicht will. Hätten wir eine Zeit wie im Jahre 1814 oder 1910, lägen die Dinge natürlich völlig anders, und wir würden hier wahrlich nicht daran zweifeln, daß solche Pakte ausreichen. Wir haben aber wegen des sowjetrussischen Systems eine machtpolitische Situation, in der nicht das Vertrauen besteht, daß allein durch juristische Positionen der Ausbruch aus diesem Machtbereich verhindert wird.
Deshalb sind wir der Meinung — und da liegt die Grunddifferenz —, daß die Wirksamkeit nicht in den Abmachungen liegen kann, die vielleicht sehr schön sind, sondern daß sie in den Realitäten liegt, und diese müssen geschaffen werden. In dem Augenblick, in dem sich die Dinge anders entwickeln und die Voraussetzungen für die Verteidigungsgemeinschaft wegfallen, werden, glaube ich, die Amerikaner die ersten sein, die sagen: Diese Vereinbarungen sind heute nicht mehr nötig. Aber sie sind noch erforderlich, sie bleiben erforderlich. Sie sind gerade wegen der jetzt in Gang befindlichen Entwicklungen noch wichtiger geworden. Es gäbe nichts Schlimmeres, als wenn wir in Optimismus und im Vertrauen auf Dinge, die sich noch gar nicht realisiert haben, von den entscheidenden Positionen sowohl hinsichtlich unserer Sicherheit wie hinsichtlich der Wiedervereinigungsmöglichkeit abgingen.