Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren! Einige Ausführungen des Kollegen Erler können nicht ohne Widerspruch hingenommen werden. Bevor ich aber den Widerspruch anmelde, möchte ich im Gegensatz zu seiner Überzeugung ihm sagen, daß wir in einem Punkte einig sind: Die bestehenden politischen Schwierigkeiten, die bestehenden weltpolitischen Probleme können nicht durch militärische Aktionen, sondern nur durch politische Lösungen überwunden werden.
Er darf dabei nur einen Fehler nicht machen: zu unterstellen, daß strategische Angelegenheiten und strategische Überlegungen ein militärisches Monopol hätten.
Strategie ist Politik, und wenn Militär in dieser leider sehr unvollkommenen Welt leider noch notwendig ist, dann hat das Militär durch seine Präsenz der Politik und ihrer Strategie zu dienen. Das Militär hat nicht Ziel strategischer Überlegungen zu sein.
In keinem anderen Sinne, Kollege Erler, können Sie und ich Strategie als Mittel zur Überwindung politischerSchwierigkeiten oder zur Lösung politischer Aufgaben sehen.
Ich darf Sie in diem Zusammenhang auf einige fundamentale Irrtümer hinweisen, die sich bei einer solchen Debatte leicht einzuschleichen drohen. Der erste fundamentale Irrtum scheint nicht nur mir — es gibt Zeitgenossen mit einem bedeutenderen Namen — darin zu bestehen, wenn Kollege Erler eine sowjetische Angriffsdrohung als einen Kinderschreck hinstellt, bei dessen jeweils schwärzerer Ausmalung — ich habe Ihre Diktion nicht ganz verstanden — die Köpfe des Herrn Bundeskanzlers und seiner Paladine immer freundlicher leuchten, sozusagen als ob er die sowjetische Angriffsdrohung, sei es als Wirklichkeit, sei es als Fiktion, brauchte, um seine Politik rechtfertigen zu können.
Da sind, glaube ich, doch Ursache und Wirkung miteinander verwechselt worden.
Niemand — ich möchte das nicht auf uns beschränken, das gilt, glaube ich, für alle Vernünftigen in diesem Hause — wäre froher als wir, wenn es überhaupt keine sowjetische Angriffsdrohung gäbe. Dann wären wir so vieler innen- und außenpolitischer Überlegungen ledig, angefangen von der Verteilung unseres Sozialprodukts bis zur Regelung eines europäischen Sicherheitssystems. Aber darin
unterscheiden wir uns eben leider, daß wir uns bis heute noch nicht — aus sehr massiven und handfesten Gründen — entschließen können, unsere Politik darauf abzustellen und darauf zu begrenzen, daß es eine sowjetische Angriffsdrohung de facto nicht mehr gibt.
Sie haben vorhin verglichen und einen Unterschied zwischen Ungarn und Deutschland gemacht. Sie sagten, in einem Fall handelte es sich darum, ein zum sowjetischen Machtblock gehöriges Territorium notfalls unter Anwendung brutalster Gewalt bei der Stange zu halten. Richtig! Im anderen Fall handle es sich darum, die sowjetische Macht zu expandieren, und diese Expansion der sowjetischen Macht könne nicht stattfinden. Ja warum denn nicht, Herr Kollege Erler? Doch nicht deshalb, weil es von dem Expansionsfähigen aus moralischen Gründen nicht gewünscht wird, sondern weil ihm durch unser gemeinsames Bündnis oder Sicherheitssystem ein unüberwindliches Nein entgegengesetzt wird.
Ich habe mit großem Interesse, Herr Kollege Erler — ich möchte hier völlig unpolemisch und unpathetisch debattieren —
— ich glaube, daß dieser Zwischenruf unangebracht ist —, Ihren Aufsatz über Umrüstung und einige Auszüge daraus, die wahrscheinlich in verschiedenen Zeitungen zum selben Thema erschienen sind, gelesen. Ich war überrascht, daß Sie mit einer etwas freundlicheren Diktion, die Ihnen im Gegensatz zu mir eigen ist, genau dasselbe gesagt haben, was seinerzeit Kollege Mellies mir so übelgenommen hat. Sie haben gesagt: Wenn die Russen angreifen, ist das identisch mit ihrer Vernichtung und wird ein vernichtender Gegenschlag von seiten der USA erfolgen. Das zieht sich wie ein roter Faden mit Recht durch Ihre Ausführungen hindurch. Aber die Voraussetzung dafür, daß dieser Gegenschlag gestartet werden könnte, worauf wir gar keinen Wert legen — wir sind ja genauso wie Sie Anhänger der indirekten Verteidigung —, ist, die Aktion zu verhindern, damit keine Gegenaktion nötig wird. Aber man kann eine Aktion nur verhindern, wenn man von vornherein die Unabwendbarkeit einer Gegenaktion glaubhaft macht. Diese ist eben nicht mehr glaubhaft, wenn wir in Europa die einzelnen nationalen Staatssysteme und auch ihre Verteidigungssysteme isoliert regeln und uns nur auf den großen Onkel mit dem schweren Prügel verlassen, der uns im rechten Augenblick schützen wird. Das haut auf die Dauer nicht mehr hin, Kollege Erler. Das mag noch für einige Zeit gelten. Aber ich bin fest überzeugt, daß diese Rechnung auf die Dauer nicht aufgeht. Ob wir zu Lösungen kommen, bis diese Rechnung aufgeht, davon wird allerdings für uns und die folgende Generation einiges abhängen. — Das war der erste fundamentale Irrtum.
Es gibt heute noch zwei sehr konkrete Überlegungen hinsichtlich der Möglichkeit eines sowjetischen Angriffs. Sicherlich erfolgt kein sowjetischer Angriff bei nüchterner, vernünftiger Überlegung von seiten der Moskauer Machthaber, weil sie genau wissen, was ihnen blüht. Nicht ganz ausgeschlossen, wenn auch nicht wahrscheinlich — man kann sich ja gerade bei der Frage der Sicherheit nicht immer auf das Wahrscheinliche verlassen, man muß bis zu einem gewissen Risiko gehen, aber man darf das nicht zu sehr strapazieren —, war
immerhin in den letzten Monaten während einiger Tage die Möglichkeit einer Kurzschlußreaktion gegeben, der wir allerdings nur durch das Mittel entgangen sind, das Sie schriftlich dargelegt haben und dessen Notwendigkeit auch ich zustimme. Sie wissen, was ich damit meine.
— Kollege Schmidt, reden Sie nicht von den bayerischen Dörfern, dann brauche ich nicht von der Hamburger Reeperbahn zu reden!
Die Dinge sind sehr ernst und haben nichts mit bayerischen Dörfern oder sonstwas zu tun.
— Der Kollege Erler hat inhaltlich genau dasselbe schriftlich niedergelegt, was ich gesagt habe.
Aber deshalb besteht doch kein Grund, Kollege Schmidt, mich hier persönlich zu beleidigen.
Ich darf auf die zwei Möglichkeiten der sowjetischen Angriffsdrohung hinweisen. Ich muß das als Erwiderung auf Ihre ,Behauptung, Kollege Erler, daß das ein Kinderschreck gewesen sei, doch sagen. Die eine ist die immer noch nicht ganz ausgeschlossene Kurzschlußreaktion, die vor allen Dingen in Fällen einer von uns gar nicht verschuldeten politischen Krise immer wieder als Gefahrenmoment auftauchen kann. Die zweite ist auf lange Sicht nicht eine Invasion in dem üblichen Sinne einer Aggression, sondern ein ständig wachsender Druck auf die westlichen Nachbarn Moskaus, ihre Politik nach den Wünschen der Machthaber des Kreml zu orientieren, weil man infolge Machtlosigkeit nicht mehr anders kann.
Das ist die zweite Form der sowjetischen Aggression, der wir heute noch gegenüberstehen.
-- Polen ist kein Gegenbeweis, Kollege Mommer.
Ich darf auf einen zweiten fundamentalen Irrtum hinweisen; aber hier nützt auch der Nachhilfeunterricht nach der anderen Seite nichts; das ist nur die Gegenbemerkung. Niemand von der Fraktion der CDU/CSU, niemand von der Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, daß ein wiedervereinigtes Deutschland — ich erspare mir den Hinweis auf die Umstände „in Frieden und Freiheit", weil das unter uns allmählich selbstverständlich sein sollte —
automatisch Mitglied der NATO werden müßte. Niemand von uns steht auf diesem Standpunkt. Aber jedermann von uns steht auf dem Standpunkt, daß es sich nach seinen politischen Möglichkeiten und nach der politischen Räson frei entscheiden können muß.
— Bitte sehr.