Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht meine Schuld, daß ich vor Ihnen stehe; schuld daran ist die Heiserkeit, die meinen Freund Max Becker befallen hat und die es ihm nicht erlaubt, Ihnen unsere Gedanken vorzutragen. Er ist im Zweifel bereit, für diese Heiserkeit den Wahrheitsbeweis anzutreten.
Ich darf deshalb seinen Gedanken meine Stimme leihen.
Meine Damen und Herren! Eine außenpolitische Debatte gleicht einer tour d'horizon. Derjenige, der den Horizont betrachtet und abtastet, dünkt sich im allgemeinen im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Er sollte aber bei dieser Betrachtung nicht vergessen, welche Rolle er wirklich machtpolitisch spielen kann.
Wir sind frei von der Einbildung, daß Deutschland der Mittelpunkt der Welt sei und daß um die deutschen Probleme die gesamte Weltpolitik zu kreisen habe. Wir Deutsche sind nicht in der Lage, Weltpolitik zu treiben. Wir haben nach unserer Sicht im Augenblick nur drei Ziele, nämlich erstens die Zerrissenheit unseres Volkes zu überwinden und wieder eine Nation zu werden. Verehrter Herr Außenminister, Sie haben heute vormittag in der Regierungserklärung die Kritik eines bekannten deutschen Politikers an einer Äußerung von Ihnen als bewußte Verleumdung bezeichnet.
Ich gebe zu, daß die Formulierungen dieses Politikers im allgemeinen sehr bildhaft und scharf sind, und man wird sich wahrscheinlich in diesem Hause in irgendeiner Form immer wieder mit diesen Äußerungen auseinanderzusetzen haben. Aber ihm bewußte Verleumdung zu unterstellen, weil er den Satz „Die Wiedervereinigung ist vordringlich, aber nicht die vordringlichste Aufgabe" kritisiert hat, muß ich auf das schärfste zurückweisen.
Dieser Satz hätte nicht gesprochen werden dürfen und wird sicher nicht unter die glücklichen Formulierungen von Politikern eingehen.
Wir setzen an den Beginn unserer politischen Ziele und Wünsche den Wunsch, wieder eine Nation zu werden. Zweitens: Dies soll in Frieden und Freiheit für die gesamte deutsche vereinigte Nation geschehen, und das Bewußtsein, ein Deutscher zu sein, soll erhalten werden. Drittens wünschen wir die Zusammenarbeit mit allen Völkern, die guten Willens sind, und in diese Zusammenarbeit soll die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa — und zwar möglichst von Gesamteuropa, also einschließlich der Völker des europäischen Ostens — einbegriffen sein.
Wir sind uns des Wandels der Zeiten vom Beginn dieses Jahrhunderts bis zu seiner Mitte für Deutschland durchaus bewußt, und wir müssen feststellen — und wir tun es mit Trauer —, daß keine der europäischen Mächte mehr als Weltmacht anzusehen ist.
Das haben für den, der es bisher noch nicht sehen wollte, die jüngsten Ereignisse in aller Deutlichkeit gezeigt. Das Schwergewicht der Macht konzentriert sich heute bei den Vereinigten Staaten und bei Sowjetrußland, darüber hinaus noch vielleicht bei China und Indien. Ich möchte aber doch in diesem Zusammenhang nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, namens meiner Freunde den Vereinigten Staaten dafür zu danken, daß sie ohne großes Aufsehen, aber mit Nachdruck in den ersten Novembertagen des vergangenen Jahres durch ihr tatkräftiges Eingreifen den Frieden der Welt gesichert haben.
Trotz der politisch schwachen Position Deutschlands darf nicht verkannt werden, daß aus unserer Mittellage mitten in Europa zunächst noch Probleme gestellt sind, die anderen Mächten erspart bleiben. Deutschlands Lage mitten in Europa war von jeher eine gefährliche Lage, aber auch eine politisch bedeutungsvolle, und zwar so bedeutungsvoll, daß nunmehr die Spaltung Deutschlands und der Zusammenprall der Machtbereiche der USA und der Sowjetunion in der Mitte Deutschlands eines der großen Spannungsmomente unserer Welt bilden und das große Problem darstellen, dessen Lösung eine wirklich friedliche Koexistenz überhaupt erst schaffen würde.
Diese Mittellage, politisch ohne Rückhalt bei der einen oder anderen Macht, in unheilvollen Kriegen noch besonders in Erscheinung getreten, hat zweimal zu unserer totalen Niederlage geführt. Schon nach dem ersten Weltkrieg schuf St r es e m a n n mit der Locarno-Politik die Verbindung mit dem Westen und untermauerte diese Verbindung durch den Eintritt in den Völkerbund. Aber er verstand es, gleichzeitig eine Verpflichtung, die der Völkerbund seinen Mitgliedern auferlegt hatte — nämlich gegebenenfalls den Durchmarsch von Streitkräften des Völkerbundes zu dulden —, zugunsten Deutschlands abzuschwächen, so daß dieser Durchmarsch nur geduldet zu werden brauchte, wenn auch nach Auffassung der deutschen Regierung von der Seite, gegen die sich die Völkerbundsaktion richten sollte, ein Angriff erfolgt war.
Diese Grundlage gab Stresemann die Möglichkeit, in dem Berliner Vertrag von 1926 mit Rußland einen gegenseitigen Nichtangriffspakt und Neutralitätspakt zu schließen. Der Westen hatte damals keinen Grund, auf diesen Vertrag mit Mißtrauen zu blicken; denn er war davon unterrichtet. Der Osten verlangte nicht, daß Deutschland aus dem Völkerbund und aus den Verpflichtungen der Locarno-Verträge ausscheiden solle. Das war ein Vertragswerk, das vielleicht auch für Gesamtdeutschland, vielleicht sogar für ein vereinigtes Europa noch einmal als Modell dienen könnte. Dieses System hat Hitler freventlich zerschlagen. Die Folgen dieses Wahnsinns tragen wir. Eine der schlimmsten Folgen ist die Spaltung Deutschlands und damit die Spaltung Europas. Die Welt, nicht nur die westliche Welt, auch die Staatsmänner in anderen Erdteilen haben erkannt, daß dieses Problem gelöst werden muß, und zwar friedlich. Wir danken all den Völkern, die mit uns der Meinung sind, daß eine solche Lösung gefunden werden kann.
Ich glaube, daß wir auch unsererseits klar und offen sagen müssen, welche Grundsätze uns für eine solche Lösung als geboten und zugleich als möglich erscheinen. Als erstes nenne ich die Aufrechterhaltung der Bindung mit dem Westen, vor allen Dingen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir stehen zu den Verträgen. Das soll nicht eine Politik der Stärke zum Ausdruck bringen, sondern soll nur die Grundlage unserer Sicherheit und der aller Teilnehmer bilden. Das hat zur Voraussetzung, daß nicht nur vollkommene Einigung unter den Staaten des NATO-Vertrages, auch über eine etwaige Abänderung, besteht, sondern daß die NATO-Staaten selber Vertrauen untereinander zeigen. Es sollte unmöglich sein, daß, wie Anfang November 1956, einige Staaten eine Aktion unternehmen, ohne die anderen Staaten unterrichtet und konsultiert zu haben, eine Aktion, die, wenn nicht die Vereinigten Staaten energisch eingegriffen hätten, andere Staaten des NATO-Paktes in Gefahr gebracht hätte. Die deutsche Bundesrepublik als der am weitesten östlich liegende Staat ist in dieser Beziehung besonders empfindlich.
Wir haben deshalb an die Bundesregierung die Frage, ob sie sich in jenen Tagen im Hinblick darauf, daß sie von England und Frankreich vorher nicht konsultiert worden war, ihrerseits alsbald mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika beraten hat. Wir möchten ferner gern wissen, welche Maßnahmen getroffen worden sind, um für die Zukunft derartige einseitige Maßnahmen der verbündeten NATO-Mächte unmöglich zu machen. Unter dieser Voraussetzung bejahen wir im Interesse unserer Sicherheit die Fortführung der Bündnispolitik. Pacta sunt servanda. In Erfüllung dieser Verträge haben wir im vergangenen Jahr der Wehrpolitik ihre gesetzlichen Grundlagen gegeben; wir werden die Verträge respektieren.
Andererseits liegt Deutschland geographisch in der Mitte unseres Kontinents. Daraus folgt, daß wir auch bei völliger Ablehnung kommunistischer Prinzipien in irgendeiner Form das Gespräch mit dein Osten suchen sollten. Wie soll das geschehen? Nicht Konferenzen, nicht Noten führen zum Ziel. Es mag sein, daß sich in einem Notenwechsel da und dort Anknüpfungspunkte ergeben. Aber mit Aussicht auf Erfolg sind Verhandlungen nur zu führen, wenn man zu persönlichen Besprechungen kommt. Besprechungen führen weiter, sie führen zur Klärung des Tatbestandes, sie führen zur Klärung der Motive auf beiden Seiten.
Wir haben doch jetzt einen Botschafter in Moskau. Hierzu habe ich eine Frage, Herr Außenminister. Es wäre gut, einmal etwas Näheres über seine Tätigkeit zu hören. Es wäre doch interessant, im Auswärtigen Ausschuß zu erfahren, was an Verhandlungen in Moskau bisher geschehen ist und, wenn nichts geschehen ist, warum nichts geschehen ist.
Dieser Botschafter muß aktiviert werden. Wir verkennen nicht, daß von seiten der führenden Männer der Sowjetunion Bemerkungen gefallen sind, die an Kühle — um nicht mehr zu sagen — nichts zu wünschen übrigließen. Die Voraussetzung — das Wort ist heute schon einmal gefallen — von Verhandlungen ist deshalb die Schaffung einer — ich weiß, daß es ein abgegriffenes Wort ist — Atmosphäre. Ich glaube, es sollte auf beiden Seiten, auch von seiten der Sowjetunion, wenn dort Verhandlungen gewünscht werden, etwas zur Schaffung einer guten Atmosphäre getan werden. Ein Zickzackkurs, Widersprüche, zwielichtige Erklärungen, manchmal auch von der Bundesregierung, sind weder geeignet, die Einleitung von Verhandlungen zu erleichtern, noch das Mittel, eine geeignete Atmosphäre zu schaffen. Es kann uns hin und wieder in eine schiefe Lage bringen.
Wir sagen deshalb offen, daß wir bei aller Verbindung mit dem Westen — dem wir, wir brauchen das nicht zu betonen, durch Tradition, durch unsere Art zu leben, ohnehin verbunden sind; hier sind die Wurzeln unserer Kraft — angesichts unserer Mittellage auch mit dem Osten verhandeln müssen. Wir sollten bereit sein, für solche Verhandlungen mit dem Osten die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen, wenn sie gegenseitig gewährt werden. Wir sollten — um ein Wort meines Freundes Mende zu gebrauchen — die Sowjetunion nicht hofieren; aber wir sollten sie auch nicht
brüskieren. Wir sollten vor allem eins tun: alle diese Verhandlungen, Besprechungen, Bemühungen um ein Klima sollten mit unseren westlichen Freunden abgesprochen werden.
In solchen Verhandlungen müßte geklärt werden, was die Sowjetunion mit der Sowjetzone nun wirklich vorhat: ob sie der Modellfall für ein einiges kommunistisches Deutschland sein soll, ob die Sowjetunion darin lediglich ein Pfand sieht, ob sie ihr Machtgebiet ausbreiten will. Wir hören und erleben: die Sowjetunion will gegenüber den Völkern Asiens und Afrikas die Rolle des großen Kolonialgegners, die Rolle des Beschützers gegen den angeblichen Imperialismus der westlichen Welt spielen. Sie kann aber dann nicht mitten in Europa fremdes Land besetzen oder durch die Schaffung einer Satellitenregierung wie die in Pankow ein Stück Deutschlands von Gesamtdeutschland abtrennen wollen. Wir müssen die Sowjetunion zwingen, klipp und klar zu erklären, was sie will. Gibt sie keine Erklärung ab, so wird die freie Welt den Völkern Asiens und Afrikas bekanntgeben, daß die Sowjetunion in Europa anders handelt, als sie in Asien und Afrika predigt. Sollte aber die Sowjetunion erklären, daß die Mittelzone nur als ein Pfand betrachtet wird, dann sind Verhandlungen darüber, wie das Pfand auszulösen wäre, möglich, und wir würden sicher zu solchen Verhandlungen bereit sein.
Die Sowjetunion verweist uns auf Verhandlungen mit Pankow. Dieser Hinweis ist nichts anderes als ein Ausweichen vor der klaren Beantwortung einer klar gestellten Frage. Pankow ist niemals bevollmächtigt, für Rußland abzuschließen. Man kann über Dinge des täglichen Lebens mit Pankow Abmachungen treffen. Die Endentscheidung aber wird immer bei Rußland liegen. Wir nehmen diesen Hinweis auf Verhandlungen mit Pankow nicht an. Sollte er aufrechterhalten werden, dann liegt darin die Erklärung, daß man die Sowjetzone nicht freizugeben beabsichtigt. Kommt es aber — wie wir hoffen möchten — zu Verhandlungen, dann ist die Richtschnur für diese Verhandlungen der Rechtsstandpunkt, niedergelegt in der Atlantik-Charta und im Potsdamer Abkommen. Er umfaßt das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit, das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das Recht, sich sein inneres Leben nach eigenem Willen einzurichten, und er umfaßt nicht zuletzt das Recht auf Heimat. Wir möchten hoffen, daß die Verhandlungen mit der Sowjetunion über eine Einlösung des Pfandes in diesen Weg des Rechtes einmünden.
Wir sind nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Bundesaußenminister, daß — wie Sie ein wenig überscharf formuliert haben und wie es jetzt von mir auch überscharf zitiert wird — die Freiheit nicht noch bezahlt werden darf. Wir haben ein erstes praktisches Stück Wiedervereinigung an der Saar erlebt. Sie wissen, wir sind dort Verpflichtungen eingegangen, um die Menschen an der Saar in Freiheit zurückzugewinnen. Die Politik, die dahin geführt hat, war gestützt auf den von den Freien Demokraten vertretenen Grundsatz, den einst schon Stresemann bei Abbruch des Ruhrkampfes proklamiert hatte, nämlich den Grundsatz, besetzte Pfänder auszulösen, um Land und Leute dem Vaterland zu erhalten.
Wir möchten hoffen, daß es gelingt, mit der Sowjetunion in Verhandlungen auf dieser Grundlage
zu kommen. Der Versuch sollte jedenfalls gemacht werden. Selbstverständlich wissen auch wir — ich darf ein Wort, das Kollege Erler vor einigen Tagen in der Öffentlichkeit zitiert hat, aufgreifen —, daß es Patentlösungen nicht gibt, und es wäre viel Schärfe an dem heutigen Tag vermieden worden, wenn man sich auf dieses Nichtwissen ein wenig besonnen hätte.
Es scheint mir eine andere Entwicklung zu sein, die uns hoffen läßt, daß wir vielleicht zu einer Wiedervereinigung in unserem Sinne kommen. Die Gesamtentwicklung in der Welt, insbesondere in den letzten Jahren, läßt weit entfernt am Horizont die Möglichkeit erscheinen, daß die Frage der Wiedervereinigung auch noch auf einem anderen Wege gelöst werden kann, ja, daß überhaupt die Spannungen in der Welt beseitigt werden können. Wir denken dabei nicht an die Bemühungen der Staatsmänner, von denen ich hier nur Eisenhower und Pandit Nehru nennen möchte, ohne damit andere zurückzusetzen, sondern wir denken dabei an die Gesamtsituation. Dadurch, daß die beiden Weltmächte, USA und Sowjetunion, jede für sich, im Besitz der stärksten atomaren Rüstung der Welt sind, halten sie sich, wenn diese Rüstung qualitativ und quantitativ ungefähr gleich ist, im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht, diese „balance of power", sichert, wenn nicht frivol gehandelt wird, nach menschlichem Ermessen den Frieden der Welt. Daraus folgt aber für jeden der beiden Staaten, daß mindestens dieses Gleichgewicht erhalten werden muß, so daß, wenn einer der Staaten einen Vorsprung zu erzielen in der Lage wäre, der andere diesen Vorsprung sofort wettmachen müßte. Das bedeutet einen Wettlauf in der Schaffung immer neuer Waffen, die nach kurzer Zeit wieder veraltet sind, und das bedeutet eine Finanzlast für die Völker, die entweder an einen guten Lebensstandard gewöhnt sind oder die endlich einmal auch die Verwirklichung des ihnen so oft versprochenen Paradieses auf Erden für ihren kleinen häuslichen Bereich erleben möchten. Das führt dann auch dahin, daß im politischen Wettlauf zwischen den beiden Atomgiganten jeweils versucht wird, nur einen kleinen Schritt, allerdings vielleicht einen kleinen Schritt nach dem anderen, in der Absicht zu tun, immer nur bis an die Grenze zu gehen, über die hinaus es zum Zusammenprall der beiden Mächte kommen müßte. Hierin kann auch für uns, für Deutschland, eine Gefahr liegen.
Da ich aber unterstellen möchte, daß alle, die es angeht, aus der Vergangenheit etwas gelernt haben, und da ich weiter unterstellen darf, daß man klüger 'handeln wird, als Hitler gehandelt hat, klüger auch dann, wenn der Versucher mit dem Gaukelbild des Präventivkriegs an die Politiker herantreten würde, wird mit immer größerer Wucht an beide Atomgiganten die Frage der Beschränkung der beiderseitigen Rüstung herantreten, und verbunden mit dieser Frage der Abgrenzung der Rüstung wird die Frage der Beseitigung der Spannungselemente auf dem gesamten Erdball akut werden. Denn nur die Beseitigung dieser Spannungselemente durch eine globale Vereinbarung entschärft die Lage, vorausgesetzt, daß eine solche Vereinbarung den Problemen nicht ausweicht, sondern die Probleme zu lösen versucht. Diese Probleme heißen: Korea, Formosa, Vietnam, Sues, Ägypten, Israel, Zypern, Nordafrika, schließlich die Spaltung Europas und nicht zuletzt die Spaltung unseres Vaterlandes.
Herr Chruschtschow hat — ich glaube, es war bei den Besprechungen in Moskau — dem Herrn Bun-
deskanzler einmal das russische Sprichwort entgegengehalten: „Der Wind bläst u n s nicht ins Gesicht".
Wir haben nach den letzten Ereignissen den Eindruck, daß sich der Wind zu drehen beginnt. Man könnte glauben, daß sich nach den eisigen Zeiten des Kalten Krieges so etwas wie ein Tauwind in der deutschen Mittelzone, in Polen und zumal in Ungarn erhoben hat. Gewiß, man hat Ungarn brutal unterdrückt, man hat den Entstalinisierungskurs wieder abzudrehen versucht und wird diesen Versuch erneuern; aber da, wo einmal der Wind der Freiheit zu wehen begonnen hat, wird er sich stärker und stärker entwickeln.
Wir befürworten, wissend, daß wir hier auf Widerspruch stoßen, als Ausdruck unseres Wunsches nach Frieden doch die Aufnahme wenigstens handelspolitischer Beziehungen mit allen Völkern des Ostens bis nach Peking hin. Ich weiß, daß wir uns in Widerspruch zu der Auffassung der Bundesregierung befinden. Wir haben aber wenigstens die Freude, uns teilweise in Übereinstimmung mit dem Herrn Bundesminister von Merkatz zu wissen.
Sehen wir in der eben gekennzeichneten Entwicklung, in dem Aufbrechen des Ostblocks nichts, was wir machtpolitisch auswerten wollen, so erkennen wir in diesen Ereignissen aber doch eine Entwicklung zu den Grundsätzen der Atlantikcharta hin. Wir glauben, daß diese Entwicklung weitergehen wird, und erlauben uns, für diese Entwicklung einige Grundsätze zu unterbreiten:
Erstens eine Mahnung an alle, die es angeht, insbesondere an die Deutschen in der Sowjetzone, zu Besonnenheit und Geduld.
Zweitens. Jedes Volk möge sich nach seiner Tradition, nach seiner geschichtlichen Entwicklung, nach den Grundsätzen und nach Maximen, die ihm sein Glaube auferlegt, seine innere Verfassung selbst schaffen. So wie wir niemals dulden werden, daß der Kommunismus bei uns Fuß faßt, so muß sich der freie Westen hüten, als unwillkommener Missionar Grundsätze, die er für die eigenen Völker erarbeitet hat, den anderen Völkern zu empfehlen oder gar vorzuschreiben.
Drittens. Wohl aber mag der freie Westen allen Völkern der Welt Hilfeleistung jeder Art gewähren, nicht als gönnerhaftes Geschenk, und ohne Bedingungen daran zu knüpfen, nur vom Grundsatz der brüderlichen Liebe her. Es hat mich tief beeindruckt, als vor einigen Monaten in Bonn bei einer Zusammenkunft mit sudanesischen Politikern der Minister des Äußeren dieses jungen Staates als einen der Grundsätze, nach denen dieser Staat seine Politik führen wolle, dem Sinne nach die Worte Goethes zitierte: „Hand wird nur von Hand gewaschen; wenn du nehmen willst, so gib."
Viertes. Damit ist das, was zur Schaffung einer gesamten deutschen Nation, zur Frage der Wiedervereinigung zu geschehen hat, noch nicht erschöpfend gesagt. Hinzukommen muß eine stetige, aktive deutsche Politik, die ihrerseits versucht, im Wege der eingangs vorgeschlagenen direkten Verhandlungen, im Wege der Konsultation mit anderen Ländern, in dem geschickten Einschmiegen in die Entwicklungsmöglichkeiten, welche der Gang der großen Politik bietet, diese Frage nie zum Stillstand kommen zu lassen. Darüber hinaus wird es nötig sein, die Verbindung mit den deutschen Menschen in der Sowjetzone zu erhalten. Der Herr
Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hat in vielen Beziehungen geholfen und gutes Verständnis bewiesen. Ich möchte ihm an dieser Stelle für die unbürokratische Art, mit der er alle diese Bestrebungen unterstützt, danken. Er darf es mir aber nicht übelnehmen, wenn ich hinzufüge, daß der Druck und die Verbreitung von großen Broschüren, die niemand liest, ebenso überflüssig ist wie etwa das Aufsteigenlassen von Luftballons an der Werra oder an der Leine.
Damit schafft man keine echte Verbindung zwischen den deutschen Menschen. Ich würde viel eher sagen, der Ausbau der kulturellen Beziehungen, Vorstellungen von Theatern, Reisen von Sportlern meinethalben bis zu den Gesangsvereinen hinüber und herüber, Besuche von Handwerkern und Bauern und der Austausch von Erfahrungen, das alles würde dazu beitragen, von jenem Klima etwas zu erreichen, das wir wünschen. Und vergessen wir doch nicht den gesamtdeutschen Raum, den uns die evangelische Kirche bis zum heutigen Tage erhalten hat!
Wir können uns nicht recht denken, daß jemand in Pankow auf den Gedanken kommen könnte, zwar die Parole „Deutsche an einen Tisch!" an alle Wände zu schreiben, Verzeihung, zu schmieren, dann aber solche Verbindungen etwa zu verbieten.
Trotzdem weiß ich, daß vor erweiterten Gesprächen auf beiden Seiten eine gewisse Scheu besteht, die Scheu, vielleicht nicht als dogmengläubig, nämlich nicht als Anhänger des Dogmas, daß man den „Kommunisten" meiden soll, oder des Dogmas, daß man den „Kapitalisten" meiden soll, angesehen zu werden. Diese Scheu wird noch genährt, wenn solche Versuche auf der einen Seite zu parteipolitischer Verleumdung benutzt, auf der anderen Seite mit List und Gewalt die Führung solcher Gespräche unterbunden wird. Kein Mensch glaubt daran, daß ein Gespräch mit führenden Menschen der SED diese zu überzeugen geeignet sei. Wohl aber wird ein Gespräch mit den Menschen der mittleren und unteren Schichten der Zone gesucht und sollte gesucht werden. Auch der Herr Bundeskanzler hat den Umweg über den Kreml nicht gescheut, um deutsche Kriegsgefangene heimzubringen. Es kann deshalb erst recht kein Verbrechen sein, wenn Deutsche zu Deutschen reden. Wer sollte uns dies verbieten?
Manchmal werden mit einem gewissen hämischen Lächeln diese Versuche von Gesprächen entwertet. Hierzu ist folgendes zu sagen: Wenn wir im Westen noch an die Kraft unserer Ideen von Freiheit, Selbstbestimmung, Menschenwürde, Duldsamkeit — der ganze Katalog, der im Grundgesetz steht — glauben, wenn wir die freie Marktwirtschaft für besser halten als eine Plan- und Zwangswirtschaft kommunistischer Prägung, sollten wir solche Gespräche nicht meiden, sondern suchen.
Wenn wir aber glauben, daß wir solchen Gesprächen nicht gewachsen sind, wenn wir nicht an die Durchschlagskraft unserer Gedanken glauben, ja dann kapitulieren wir.
Und wenn der Osten seinen Einwohnern solche Gespräche mit uns verbietet, gibt er vor der ganzen Welt die Unterlegenheit seiner Ideen zu.
Ich sprach eingangs von den drei Zielen deutscher Politik, der Schaffung eines wiedervereinigten Deutschlands, der Erhaltung von Frieden und Freiheit für das gesamte Deutschland und schließlich der Zusammenarbeit mit allen Völkern, insbesondere im Rahmen der vereinigten Staaten von Europa, und zwar von Gesamteuropa, als Endziel. Wir hängen dem Ideal der vereinigten Staaten von Europa nach wie vor an. Aber wir müssen klar aussprechen, daß nach aller Erfahrung solche Staatenverbindungen nur dann wirksam geschaffen werden können, wenn Erschütterungen tiefgreifender Art die in Frage kommenden Völker erfassen und wenn im Zuge solcher Erschütterungen alle entgegenstehenden Schwierigkeiten, die oft nur kleinlicher Art, oft traditioneller Herkunft sind und oft nur Interessenstandpunkte verraten, weggeschwemmt werden. Eine solche Erschütterung war etwa vorhanden, als der Überfall auf Korea die europäischen Völker ihrer unsicheren Lage und Zersplitterung bewußt werden ließ oder als nach Schluß des zweiten Weltkrieges der Europagedanke wie eine Woge die Jugend Europas durchflutete. England hat im Jahre 1950 eine historische Stunde verpaßt. Dann kamen ,;Experten", dann kamen die Staatskanzleien, dann kam die Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch Frankreich, und nunmehr ist der Europagedanke kaum noch aktuell. Unter Kommentaren, Memoranden, Expertisen, unter einem Stapel von Bogen bedruckten Papiers ist ein enormer Grabhügel errichtet worden, über dem die Inschrift steht: „Hier ruht Europa".
Man schaffe zunächst, da der Weg der institutionellen Errichtung Europas einstweilen nicht gangbar scheint, die Voraussetzung für eine wirtschaftliche Vereinigung Europas. Diese Voraussetzung heißt zunächst den Zustand wiederherstellen, wie er auf wirtschaftlichem, monetärem Gebiet vor dem ersten Weltkrieg bis 1914 bestanden hat. Ich meine die Freiheit der Währungen, die Konvertibilität der Währungen. Wir begrüßen dabei die Arbeit der OEEC, die von der vorhin ausgesprochenen herben Kritik ausgenommen sei. Wenn der wahre Wert einer jeden Währung im freien Verkehr festgestellt ist, läßt sich der Schaffung eines gemeinsamen Marktes nähertreten.
Die Schaffung eines vierten europäischen Parlaments ist, wie es hier in den Rednernotizen meines Freundes Becker steht, grober Unfug; wahrscheinlich hätte er auch noch mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Nachdem der Europarat und das Parlament der Westeuropäischen Union sich gegen ein solches viertes Parlament ausgesprochen haben, nimmt es wunder, daß auf der Stufe der Ministerbesprechungen ein solcher Gedanke immer noch spukt.
Solange es noch kein aus allgemeinen direkten Wahlen hervorgegangenes europäisches Parlament gibt und solange ein solches Parlament nicht das Recht eines jeden Parlaments hat, nämlich Träger der Souveränität — in diesem Falle — Europas zu sein, vollberechtigt an der Schaffung europäischer Vertragswerke mitzuwirken und ihre Einhaltung und Durchführung zu kontrollieren, so lange kann der europäische Gedanke schon deshalb nicht mehr zum rechten Leben wiedererweckt werden, weil die Völker Europas parlamentarisch ausgeschaltet werden. Wenn europäische Institutionen nur im Wege
internationaler Verträge geschaffen werden, Verträge, an denen die heimischen Parlamente nicht mitwirken, sondern zu denen sie nur ja oder nein und sonst nichts sagen dürfen, und solange kein europäisches Parlament der geschilderten Art seinerseits die Völker bei diesen Aufgaben vertritt, wird der europäische Gedanke nur zur Schaffung riesiger Bürokratien mißbraucht. Auch die Montanunion war leider kein Anfang, sondern ist zum Selbstzweck mit dirigistischer Tendenz geworden, so daß das deutsche Parlament z. B. über die Kohlenbewirtschaftung nur noch wenig zu sagen hat.
Wenn die Dinge so liegen, hat jede Regierung, die ihrem Parlament Respekt entgegenbringt, unbeschadet der Geschäftsordnung und Prärogativen die Verpflichtung, solche internationale Verträge wie z. B. jetzt den in Vorbereitung befindlichen Vertrag über den gemeinsamen Markt oder über Euratom schon vor Abschluß dem Bundestag zur Erörterung vorzulegen.
Ich weiß, daß es nicht üblich ist. Aber in Frankreich hat die Regierung anders gehandelt, sie hat das französische Parlament die Dinge prüfen und erörtern lassen und hat sich vom Parlament Richtlinien für die Verhandlungen mitgeben lassen. In Deutschland wird das Parlament einfach nicht gefragt.
Jede andere Regierung ist froh, wenn ihr durch Beschlüsse des Parlaments der Rücken gesteift und ihre Position für Verhandlungen auf der Ministerebene gestärkt wird. Wir bedauern, daß gerade im Rahmen der Europapolitik eine solche Kritik notwendig ist.
Ein paar Worte zum Schluß. Die Presse, insbesondere auch einige parteiamtliche Pressedienste haben die Regierungserklärung, die Stellungnahme der Parteien und die heutige Sitzung als den Beginn des Wahlkampfes auf dem Gebiete der auswärtigen Politik groß angekündigt. In der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses von gestern hat, obwohl auf der Tagesordnung ein Bericht des Herrn Außenministers über die politische Lage stand, der Außenminister den Bericht nicht erstattet mit der Begründung, daß es uninteressant sei, am Tage vorher im Ausschuß schon das gleiche zu sagen wie am Tage darauf in der öffentlichen Sitzung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein ernstes Wort! Nach Auffassung meiner politischen Freunde — wissend, daß sie ins Leere sprechen — sollte die Außenpolitik außerhalb des Wahlkampfes bleiben.
Wir können leider der Regierung den Vorwurf nicht ersparen, daß bestimmte Passagen der Regierungserklärung ebenfalls in diese Richtung deuten. Wir haben versucht und werden es weiter versuchen, unsere Auffassung über die außenpolitische Lage in sachlicher Form darzulegen. Auswärtige Politik ist eine Aufgabe auf Leben und Tod. Wir sollten versuchen, diese Aufgabe mit Ernst und fern von allem Wahlerfolgsdenken unseren Bürgern klarzumachen.