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ID0218802600

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  • tocInhaltsverzeichnis
    2. Deutscher Bundestag — 188. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1957 10639 188. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1957. Glückwünsche zum Geburtstag des Bundespräsidenten Prof. Dr. Heuss . . . . 10639 D Glückwünsche zu Geburtstagen der Abg. Raestrup und Schneider (Hamburg) . 10639 D Änderungen der Tagesordnung 10639 D, 10740 C, D Geschäftliche Mitteilungen 10651 C Beschlußfassung des Bundesrats zu Gesetzesbeschlüssen des Bundestags . . . 10640 A Mitteilung über Beantwortung der Kleinen Anfragen 300, 315 und 316 (Drucksachen 2872, 3144; 3046, 3134; 3045, 3135) . . . 10640 A Mitteilung über Vorlage eines Zwischenberichts des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte über die Evakuiertenrückführung (Drucksache 3079) 10640 A Entgegennahme einer Erklärung der Bundesregierung (außenpolitische Lage, Wiedervereinigung Deutschlands, Sicherheitssysteme) 10640 A Dr. von Brentano, Bundesminister des Auswärtigen . . . . 10640 B, 10674 C, 10707 C, 10708 A, D, 10709 A, D, 10710 A, 10733 B Unterbrechung der Sitzung . . 10651 D Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung 10651 D Kiesinger (CDU/CSU) . . 10651 D, 10653 A, C, 10654 A, B, 10660 B, C, 10661 A, 10662 B, 10671 B, 10675 A, 10686 B, 10701 C Dr. Mommer (SPD') . . . . 10653 A, 10727 C, 10730 D, 10732 C Erler (SPD) .. . 10653 C, 10662 B, 10698 B, 10716 D, 10727 D, 10730 B, 10730 D Mellies (SPD) 10654 A, 10735 A Unterbrechung der Sitzung . . 10664 A Ollenhauer (SPD) 10664 A, 10671 B, 10685 A Dr. Arndt (SPD) 10675 A, 10736 D, 10739 A, C Lenz (Trossingen) (FDP) 10677 B Dr. Lenz (Godesberg) (CDU/CSU) . 10682 A Feller (GB/BHE) 10687 A Dr. von Merkatz (DP) 10690 D Dr. Schäfer (Hamburg) (FVP) . . . 10695 D, 10698 C Wehner (SPD) . . 10700 B, 10701 C, 10705 D, 10706 B, 10708 A, D, 10709 A, D, 10710 A Rasner (CDU/CSU) . . . . 10705 D, 10706 B Dr. Furler (CDU/CSU) 10710 B Dr. Dr. h. c. Prinz zu Löwenstein (FDP) 10715 D Strauß, Bundesminister für Verteidigung . . . . 10726 A, 10727 C, D, 10729 B, 10730 B, D, 10731 D, 10732 B, D, 10739 A, C Schmidt (Hamburg) (SPD) . . . 10729 B Mattick (SPD) 10732 A Dr. Gille (GB/BHE) 10734 A Zur Geschäftsordnung betr. Weiterberatung der Tagesordnung: Brandt (Berlin) (SPD) 10740 B Rasner (CDU/CSU) 10740 D Nächste Sitzung 10741 C Berichtigungen zum Stenographischen Be- richt der 184. Sitzung 10741 Anlage: Liste der beurlaubten Abgeordneten 10741 B Die Sitzung wird um 9 Uhr 2 Minuten durch den Vizepräsidenten Dr. Jaeger eröffnet.
  • folderAnlagen
    Berichtigungen zum Stenographischen Bericht der 184. Sitzung Es ist zu lesen: Seite 10178 A letzte Zeile unten „Dr. Schellenberg (SPD), zur Sache" statt „10243 B": 10234 B; Seite 10182 D Zeile 21 von unten statt „angenommen": abgelehnt; Seite 10297 Zeile 12 von unten in den Abstimmungen 5, 6 und 7: Scheel: beurlaubt; Seite 10297 Zeile 3 von unten in Abstimmung 7: Dr. Schneider (Saarbrücken): enthalten; Seite 10231 sind die vorletzte Zeile von A und die zweite Zeile von B auszutauschen. Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten a) Beurlaubungen Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Arnholz 15.2. Dr. Bärsch 1.2. Berendsen 1. 2. Dr. Berg 31.1. Dr. Brühler 2. 2. Dr. Bürkel 31.1. Cillien 2.3. Corterier 1.2. Dr. Dehler 28. 2. Dr. Franz 31.1. Freidhof 1.2. Gedat 1.2. Geiger (München) 1. 2. Gockeln 2. 3. Dr. Gülich 1.2. Haasler 31.1. Dr. Hesberg 31.1. Heye 31.1. Dr. Köhler 2.3. Dr. Kreyssig 1.2. Dr. Mocker 31.1. Dr. Dr. h. c. Müller (Bonn) 31.1. Neumayer 16.3. Odenthal 15.2. Dr. Oesterle 1. 2. Op den Orth 31.1. Richter 31.1. Dr. Schmid (Frankfurt) 2. 3. Dr. Schmidt (Gellersen) 31.1. Schneider (Hamburg) 1.2. Frau Schroeder (Berlin) 15.4. Dr. Vogel 2.2. b) Urlaubsanträge bis einschließlich Frau Brauksiepe 16.2. Höfler 28.2. Diedrichsen 9.2. Meyer-Ronnenberg 23.2.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Kurt Georg Kiesinger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Ich glaube nicht, daß ich in diesem Hause den Ruf habe, Fragen auszuweichen,

    (Lachen bei der SPD)

    aber ich lehne es ab, eine Rede, die eine geschlossene Konzeption verfolgt, durch dauernde Zwischenfragen zerfasern und zerstören zu lassen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Majonica: Das ist ja die Absicht! — Zurufe von der SPD.)

    Tatsächlich scheint mir die neuerliche Erkenntnis, nämlich die Erklärung des Herrn Kollegen Erler und des Herrn Kollegen Ollenhauer, daß man keinen Austritt der Bundesrepublik aus der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft fordere, daß man hier nicht etwa eine Vorleistung geben wolle, bevor ein wirksames System der kollektiven Sicherheit gegründet sei, ein erheblicher Fortschritt zu sein. Und so ist es auch in der deutschen Öffentlichkeit empfunden worden. Dürfen wir,
    Herr Kollege Ollenhauer, bei solchen Äußerungen vermuten, daß die Sozialdemokratische Partei in der Teilnahme der Bundesrepublik an der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft schließlich doch etwas Positives und Sinnvolles gefunden hat?

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD: Nein! Nein!)

    — Sonst stellen Sie es uns nachher dar!

    (Abg. Schoettle: Sie werden schon bedient werden!)

    Manche Leute glaubten angesichts dieser neuen Erkenntnisse schon an das Frühlingswehen einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik.

    (Abg. Ollenhauer: Sie sollten nicht noch lyrisch werden!)

    Wir wären froh, wenn es eine solche gemeinsame deutsche Außenpolitik gäbe.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Immer, wenn wir daran appelliert haben, ist uns entgegengehalten worden, wir würden nach einer gemeinsamen deutschen Außenpolitik immer nur dann rufen, wenn wir uns in einer schwachen Position fühlten.

    (Abg. Bauer [Würzburg): Genau das ist

    richtig!)
    — Herr Kollege, Sie werden eine Nervosität und
    ein Gefühl der Schwäche bei uns nicht provozieren.

    (Lachen bei der SPD. — Abg. Eschmann: Aber es ist da!)

    Seien Sie überzeugt, wir verlassen uns darauf, daß es gerade diese unsere Außenpolitik sein wird, die uns erneut die Billigung des deutschen Volkes einbringen wird.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Nicht daß wir meinten, damit den Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der Innenpolitik ausweichen zu müssen. Auch da haben wir sehr gute Ergebnisse vorzuzeigen.

    (Zurufe von der SPD.)

    Nun, einige Zeitungen meinten schon, man müsse mit der Lupe nach Unterschieden zwischen beiden Auffassungen suchen. Das ist leider nicht der Fall. Es ist die wichtigste Aufgabe dieser Debatte — so sehen wir sie —, die Unterschiede der Auffassungen und die Begründungen für diese Unterschiede so klar und so deutlich wie möglich vor dem ganzen deutschen Volk und vor der Welt herauszuarbeiten.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU.)

    Der deutsche Außenminister hat mit erfreulicher Klarheit das Geraune über einen grundsätzlichen Wandel der Außenpolitik der Bundesregierung widerlegt. Ich schließe mich für die Fraktion der Christlich-Demokratischen Union dieses Hauses seiner Feststellung vorbehaltlos und ausdrücklich an.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Vielleicht macht diese Tatsache einige Leute nachdenklich, denen das Wort von der angeblichen „Starrheit des alten Kanzlers" allzu leicht über die Zunge ging. Sie können versichert sein, daß wir, der Außenminister und seine Mitarbeiter ebenso wie die zuständigen Mitglieder der CDU-Fraktion und die Fraktion in ihrer Gänze, mit großer Sorg-


    (Kiesinger)

    fait und mit großem Verantwortungsbewußtsein die Weltsituation und ihre Entwicklung während des vergangenen Jahres, insbesondere auch während der letzten Monate, geprüft und unsere bisherige Außenpolitik am Ergebnis dieser Prüfung gewertet und gemessen haben. Wir tragen in diesem, wie Präsident Eisenhower sagte, tragisch geteilten Deutschland schwer an der auf unsere Schultern gelegten Last einer Politik, die uns aufgibt, die beiden großen Aufgaben der Sicherung unserer Freiheit und der Wiedervereinigung des deutschen Volkes gemeinsam zu lösen.
    Das alte Jahr ging unter schwersten Krisen zu Ende. Wer es vergessen hatte, wurde derb daran erinnert, daß wir in einer Epoche der Umwälzung, der Unruhe und der Unsicherheit leben. Man muß schon sehr tief in die Geschichte zurückgreifen, um eine vergleichbar bewegte Zeit zu finden. Wir leben eben seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und wahrscheinlich trotz aller Hoffnungen und aller Bemühungen noch immer im Spannungsfeld zwischen Westen und Osten. Das ist eine bittere Tatsache. Das sind nicht nur Spannungen rivalisierender Großmächte wie ehedem. Das neue erregende und gefährliche Element dieses Gegensatzes ist ein weltanschauliches Ringen völlig entgegengesetzter Wert- und Ordnungssysteme. In dieser weltanschaulichen Auseinandersetzung kann es für unser Land und Volk keine Neutralität geben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wir stehen, wie wir uns sonst immer methodisch außenpolitisch verhalten mögen, hier vor einem Entweder-Oder, das eine eindeutige Entscheidung verlangt.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    In anderen Zonen unserer Erde, in Indien, das wir jüngst besucht haben — auch Sie, Herr Kollege Ollenhauer —, mag es anders liegen. Der großen Masse der fast 400 Millionen meist bitter armen, darbenden Menschen dort in ihrem wirren Geflecht alter religiöser Traditionen mag das westlichdemokratische System fast so fremd wie das bolschewistische System sein. Sie mögen sich weder vom Kommunismus bedroht noch von der westlichen liberalen Demokratie angezogen fühlen. Ihre politischen Führer versuchen darum, für ihr kaum der kolonialen Abhängigkeit entwachsenes Land eine eigene Ordnung zu finden. Man muß dafür Verständnis haben und sollte sie deswegen nicht tadeln. Aber man muß umgekehrt auch begreifen, daß das indische Rezept für uns nicht gilt. Denn wir stehen weltanschaulich, glaubens- und traditionsgemäß nicht an einem dritten Ort wie vielleicht sie, sondern gehören unlöslich zur westlichen Welt, zu ihrem Wert- und Ordnungssystem, es sei denn, wir wären entschlossen, mit unseren Überlieferungen zu brechen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Die Krisen des letzten Vierteljahrs — darin werden Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mir zustimmen — haben mit furchtbarer Eindringlichkeit bewiesen, daß es in Europa keine der Sowjetunion ebenbürtige Macht mehr gibt. Selbst wenn jetzt alle Völker Westeuropas ihre Kräfte vereinigten, gäbe es eine solche Kraft nicht mehr. Wir können unsere Freiheit nicht mehr aus eigener Kraft verteidigen. Wir leben — es ist bitter zu sagen — von dem Interesse der Vereinigten
    Staaten von Nordamerika am letzten freien Rest dieses Kontinents.

    (Zurufe von der Mitte: Sehr gut! — Leider!)

    Wir können nur hoffen, daß sich die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten — von der ja auch dort die Regierung abhängt — dieses Interesses allezeit bewußt bleibt, daß sie weiß, was für die Neue Welt von der Erhaltung unserer Freiheit abhängt.
    Der Präsident der Vereinigten Staaten gab uns in dieser Hinsicht erneut tröstliche Versicherungen — der Außenminister erwähnte sie schon —, aber auch er ist von der öffentlichen Meinung seines Landes abhängig, und niemand sollte uns länger mit dem leichtfertigen Argument kommen: Die Amerikaner könnten ja gar nicht anders, als für die Freiheit Westeuropas einzustehen und für sie im Notfall zu kämpfen. — Die Völker handeln ja leider keineswegs immer nach ihren wirklichen Interessen. Die Welt, insbesondere Europa, sähe sonst gewiß anders aus.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Irrtum, Fahrlässigkeit oder der Druck einer unvernünftigen öffentlichen Meinung steuern oft genug einen falschen und verhängnisvollen Kurs. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts strotzt von Beispielen für diese Feststellung.
    Aus dieser Erkenntnis folgt eines: die lebenswichtige Forderung, daß wir von uns aus alles tun, um das Interesse nicht nur der Regierung Amerikas, sondern auch des Volkes der Vereinigten Staaten von Nordamerika an der Sicherung Westeuropas und unseres eigenen Landes zu erhalten und zu stärken.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die meisten Menschen haben zu wenig Phantasie, um sich mögliche Entwicklungen vorstellen zu können.

    (Abg. Erler: Sehr gut!)

    — Werfen wir uns gegenseitig ein bißchen Phantasielosigkeit vor und strengen wir uns dann ein bißchen mehr an, Herr Kollege Erler! — Wenn sich die Amerikaner eines Tages uninteressiert auf ihren eigenen Kontinent zurückzögen, dann läge — niemand kann es leugnen — Europa wehrlos dem Zugriff des sowjetrussischen Riesen offen. Man braucht dabei nicht an kriegerische Eingriffe zu denken. Es gibt in Westeuropa viele Millionen Parteigänger Moskaus — Kommunisten, die sogar in einigen Ländern die stärksten und die schlagkräftigsten Parteien formiert haben. Wir kennen doch die Technik der „Machtübernahmen", der Staatsstreiche entschlossener Minderheiten in Ländern, die wehrlos dem Druck eines überlegenen Nachbarn ausgesetzt sind. Im Falle eines bewaffneten Angriffs aus dem Osten dürfte man auf einen Widerstand Amerikas hoffen. Auf Revolutionen und Staatsstreiche aber — so hat jemand jüngst klug bemerkt — wirft man keine Bomben.
    Sicher würde diese absolute Abhängigkeit Westeuropas abnehmen und seine Eigenständigkeit in dem Maße wachsen, in dem es gelänge, seine Einigung zu beschleunigen. Aus dem Verbande vieler Schwacher wird aber leider noch lange keine starke Macht,

    (Sehr richtig! in der Mitte)

    heute weniger denn je. Bis vor kurzer Zeit konnten selbst kleine Staaten Heere ausrüsten, die zwar
    der Zahl, nicht aber der Qualität nach den Heeren


    (Kiesinger)

    großer Mächte unterlegen waren. Heute ist der finanzielle Aufwand für gewisse Waffengattungen — von den atomaren Waffen ganz abgesehen, etwa für schwere Bomber — so riesenhaft, daß nur noch die größten Mächte dieser Erde diese Kosten aufbringen können.

    (Zuruf von der SPD: Deshalb Abrüstung!)

    Der Preis einer einzigen Division z. B. betrug nach den Beschlüssen der Lissabonner Konferenz vom Jahre 1951 ungefähr eine Milliarde DM.
    Ein Zwischenruf auf den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion sagte eben: „Deshalb Abrüstung!" Herr Kollege, wir sind mit Ihnen einverstanden. Warum wir aber unsere Politik zusammen mit einer entschiedenen Befürwortung der Abrüstung betreiben müssen, will ich Ihnen, wenn Sie mir mit Geduld zuhören wollen, im weiteren Verlauf meiner Ausführungen darlegen.
    Man sollte darum, wenn man dies erkennt, endlich aufhören, von der Streitmacht eines bündnislosen Deutschlands zu reden, die stark genug wäre, einen Angriff aus dem Osten abzuwehren. Zum Aufbau einer derartigen Streitmacht wären wir, wäre auch ein wiedervereinigtes Deutschland nicht imstande. Schon gar nicht könnte diese Aufgabe durch eine Armee von Freiwilligen erfüllt werden, die die Sozialdemokratie im Prinzip ja zugestehen will, über deren Zulänglichkeit für eine nationale Verteidigung sie aber schamhaft schweigt. Wir wären sehr dankbar, wenn Sie uns heute in der Debatte über diese Zulänglichkeit einer Freiwilligenarmee für die nationale Verteidigung etwas Genaueres sagten. Insbesondere schweigen Sie auch über das entscheidende Problem der Ausbildung von Reserven, ohne die unser Verteidigungsbeitrag eine Farce bleiben müßte.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Ganz gewiß stellt der Vorschlag des Herrn Kollegen Erler, der jüngst andeutete, man müsse dann eben Freiwillige mit verschiedener Dienstdauer einstellen, keine wirkliche, ernsthafte Lösung dieses Problems dar.
    Die beiden neutralen oder bündnisfreien Staaten Europas, auf die man uns gerne als Musterbeispiele für unsere eigene Politik verweist, Schweden und die Schweiz, geben uns in diesem Zusammenhang eine gute Lehre. Schweden hat 7 Millionen Einwohner und kann im Falle der Bedrohung in kürzester Zeit ein Zehntel dieser Bevölkerung, etwa 700 000 Mann, mobilisieren. Jeder mit den Verhältnissen in Schweden Vertraute weiß überdies, daß die Qualität der Ausbildung und Ausrüstung den höchsten Anforderungen gerecht wird. Auch die Schweiz verfügt über eine der besten und stärksten Armeen Europas. Auch sie vermag im Ernstfall ein hochqualifiziertes Heer von etwa einem Zehntel ihrer Bevölkerung aufzustellen. Bei beiden Ländern kommt überdies als wichtiger Verteidigungsfaktor die Gunst der geographischen Lage und des heimatlichen Geländes hinzu.
    Man kann an diesen beiden Beispielen schwerbewaffneter Neutralität leicht ermessen, wie eine deutsche Armee quantitativ und qualitativ beschaffen sein müßte, um allein, nicht im Bündnis mit anderen, eine ähnliche Funktion des Schutzes eines bündnislosen Landes ausüben zu können.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

    Nicht nur wären dazu Millionen bestausgebildeter
    und bestausgerüsteter Soldaten erforderlich. Die
    Ungunst unserer geographischen Lage und des heimatlichen Geländes, das uns keinen Schutz gibt, würde uns zwingen, unsere Verteidigungsanstrengungen im Vergleich zu Schweden und der Schweiz noch erheblich zu steigern. Da wir dazu nicht in der Lage sind, haben unsere Verteidigungsanstrengungen eben nur im integrierenden Bündnis mit anderen, und zwar mit Mächten ersten Ranges, Sinn und Wert; jedenfalls dann, wenn wir uns gegen die wirkliche Gefahr und nicht gegen einen theoretischen Gegner minderen Ranges schützen wollen.
    Gegen diese Erkenntnis, meine Damen und Herren, hilft kein Programm der Herauslösung der beiden Teile Deutschlands aus den sogenannten militärischen Machtblöcken und nicht die Errichtung eines europäischen kollektiven Sicherheitssystems im Rahmen der Vereinten Nationen. Denn es kann gerade das nicht tun, was die Sozialdemokratie zugestehen will; es kann mancherlei tun, aber dieses eine nicht, nämlich dem deutschen Volk Schutz geben. Es kann die Krönung von vielfältigen Bemühungen sein, der Schlußstein eines mühselig zu errichtenden Baues, aber nicht die Grundlage für diesen Bau, denn dann hätten wir auf Sand gebaut.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer schützte uns denn in dem System der kollektiven Sicherheit, das Sie uns vorschlagen?! Wäre es nicht auch dann immer nur wieder die große Schutzmacht jenseits des Ozeans, die Vereinigten Staaten von Nordamerika?! Sie müßten voraussetzen, daß, obwohl das wiedervereinigte Deutschland dann an einem westlichen Verteidigungsbündnis nicht mehr teilnähme, die Regierung und die öffentliche Meinung der Vereinigten Staaten von Nordamerika ständig bereit und in der Lage wären, unsere Existenz zu schützen und zu sichern, notfalls durch Einsatzihres eigenen Gutes und Blutes. Ich glaube, etwas Derartiges zu erwarten, wäre lebensgefährlich.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Dr. Mommer.)

    — Ich komme darauf zurück. — Wer so etwas verlangt wie Sie, muß dann eben auch ehrlich zugestehen, was davon die Folge sein wird. Er muß ehrlich sagen, daß das im unwahrscheinlich besten Falle Ohnmacht zur eigenen Verteidigung bedeuten würde, Verlassen auf die allezeit sichere Hilfe einer nicht mehr verbündeten Macht, Verharren im Stande eines ewigen Protektorats sowjetrussischer Vormacht in Europa, vielleicht notdürftig in Schach gehalten durch eine viele Tausende Kilometer entfernte Großmacht — und dies alles unter der Voraussetzung, daß die öffentliche Meinung Amerikas unter solchen Umständen beständig bliebe. Und jetzt, Herr Mommer, antworte ich Ihnen: die Wiedervereinigung Deutschlands. Selbst dazu, nämlich die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit zu gewähren, erklären sich doch die Russen nicht bereit.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Mommer: Das haben Sie noch nicht untersucht!)

    — Haben wir das jetzt noch nötig? Gibt es in diesem Lande, Herr Mommer, einen Menschen, der nicht begriffen hat, daß die Forderungen Sowjetrußlands, die es in Zusammenhang mit der Wiedervereinigung aufgestellt hat, blutig ernst ge-


    (Kiesinger)

    meint sind, daß die Forderungen, wir dürften nur auf dem Wege über die beiden sogenannten deutschen Staaten verhandeln, ernst gemeint ist, daß die Beibehaltung der „sozialen und demokratischen Erzwungenschaften" — um mit Herrn Kollegen Brandt zu sprechen — drüben mehr bedeutet als die Aufrechterhaltung der volkseigenen Betriebe, nämlich die Aufrechterhaltung des kommunistischen Systems,

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    daß die Sowjetrussen darüber hinaus einen politischen und gesellschaftlichen Strukturwandel in der Bundesrepublik fordern und daß sie endlich keine freien Wahlen zugestehen wollen, sondern, wie Herr Molotow es in Genf auszudrücken beliebte, „auf einem weniger mechanischen Wege", nämlich durch die Verbindung der beiden sogenannten deutschen Staaten das deutsche Problem läsen wollen?
    Tag für Tag lese ich die Stimmen aus Moskau, immer wieder sehe ich, wie deutsche Politiker, die das Verlassen der NATO oder das von vornherein festzulegende Fernbleiben eines wiedervereinigten Deutschlands aus der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft fordern, von Moskau gelobt werden.

    (Abg. Dr. Mommer: Ist die Wiedervereinigung eine Chimäre?)

    Aber niemals lese ich dabei, daß die Sowjetunion
    sagt: wenn ihr dieser Politik folgt, dann werden
    wir euch die Wiedervereinigung in Freiheit geben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    11m Gegenteil, erst gestern gab es wieder eine Fülle von Stimmen aus dem Osten, die ganz klipp und klar sagten: Wenn ihr diese — von der Sozialdemokratischen Partei vorgeschlagene — Politik mitmacht, dann wird eine bessere Atmosphäre hergestellt werden, damit endlich durch eine Annäherung der beiden deutschen Staaten, aber natürlich unter Beibehaltung des sozialistischen Systems in der Sowjetzone die deutsche Wiedervereinigung erreicht werden kann. — Ist das nicht deutlich genug? Braucht es da, Herr Mommer, wirklich noch eines Testes angesichts der nicht mehr wegzuleugnenden und auch von niemand Vernünftigem mehr weggeleugneten Wirklichkeit — —

    (Abg. Dr. Mommer: Also ist die Wiedervereinigung eine Chimäre, oder wie?!)

    — Die Wiedervereinigung, Herr Mommer, ist nach unserer Auffassung keine Chimäre; eine Chimäre ist der Glaube, mit Sowjetrußland durch Verlassen des Schutzverbandes der westlichen Welt zu einer Wiedervereinigung in Freiheit zu kommen.

    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Mommer: Glauben Sie, durch die NATO Bedingungen diktieren zu können?!)

    — Herr Mommer, wir wollen keine Bedingungen diktieren; auch das werde ich Ihnen im Verlauf meiner Ausführungen noch sagen. Ich sage Ihnen
    — ich habe es in diesem Hause schon mehrfach gesagt —: auch wir haben kein fertiges Rezept!

    (Zurufe von der SPD: Na also! — Aber von uns verlangen Sie es!)

    — Nein, nein, Herr Kollege, das verlange ich nicht. Ich verlange von Ihnen, so wie wir es hier getan
    haben und wie ich es jetzt tue und tun werde, nur ein wenig mehr als die monotone Wiederholung der gleichen Beschwörungsformeln.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Erler: Sagen Sie das auch dem Bundesaußenminister!)

    Könnten wir miteinander über diese Dinge in Ruhe reden, dann würde bald klargestellt werden, daß es so ist, wie ich sagte, daß Sie eben das Risiko eingehen wollen, für das uns die Voraussetzungen nicht gegeben scheinen, die wir, weil wir verantwortlich Politik machen müssen, nicht akzeptieren können. Dazu kommt noch die für Sie bedauerliche Feststellung, daß Ihnen, selbst wenn Sie dieses Risiko eingehen, dafür die Wiedervereinigung in Freiheit nicht gegeben wird.
    Ich unterstelle bei diesen Überlegungen den gegenwärtigen sowjetrussischen Führern keine schlimmen Angriffsgelüste und keine unerwartete, plötzliche Friedensliebe. Eine gewissenhafte Außenpolitik spekuliert nicht, sie richtet sich auf Gutes wie auf Schlimmes ein. So wie die Sowjetunion nun einmal ist, haben wir allen Grund, auf der Hut zu sein und die bedrohte Einigkeit des Westens nach Kräften zu stärken, ohne dabei die Brücke zu einer künftigen Verständigung abzubrechen. Wir haben das nie getan. Wir haben es in den Verträgen nicht getan, wo wir alle Türen zu einer künftigen Verständigung offengelassen haben, und wir wollen es auch in unserer künftigen Politik nicht tun.
    Der Herr Außenminister hat mit Recht das Gerede von den beiden angeblich militärischen Machtblöcken kritisiert. Wenn es sich hier nur um eine gedankenlose Formulierung handeln würde, brauchte man keine Sorgen zu haben. Aber es scheint mir sehr viel mehr als eine Gedankenlosigkeit, nämlich eine völlige Verkennung der weltpolitischen Situation dabei im Spiele zu sein. Ein fataler Irrtum, aus dem sich notwendig falsche außenpolitische Konsequenzen entwickeln müssen.
    Herr Ollenhauer hat in seinen neuesten Ausführungen — ich glaube, es war vor den Führungsgremien seiner Partei — am 24. Januar diesen Irrtum, wie ich meine, erneut klar erkennen lassen. Er behauptet: 1. die Ereignisse in Ungarn und Ägypten hätten die Vorstellungen, daß der Frieden durch Militärblöcke gewahrt werden könne, erschüttert; 2. die Militärblöcke hätten weder für den Westen noch für den Osten wirkliche Sicherheit gebracht; 3. die These der Bundesregierung, daß die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Sicherheit gebe, habe sich im Falle von Sues als Fehlkalkulation erwiesen und dem deutschen Volk nur ein erhöhtes Risiko gebracht.
    Ich will mich mit diesen drei Thesen auseinandersetzen. Hat der Führer der größten Oppositionspartei wirklich vergessen, wie es zu der Bildung der von ihm so genannten Militärblöcke kam? Hat er vergessen, daß nach dem zweiten Weltkrieg der Westen in gutem Glauben abgerüstet und die Massen seiner Truppen aus Europa zurückgezogen hat? Hat er vergessen, daß diese Tatsachen Stalin Gelegenheit gaben, die Sowjetrußland westlich benachbarten Völker gegen deren Willen kommunistischen Regimen zu unterwerfen und sie dem sowjetrussischen Machtbereich einzugliedern? Wollen Sie, Herr Ollenhauer, leugnen, daß dieses Unglück nicht geschehen wäre, wenn der freie Westen


    (Kiesinger)

    zu jener Zeit in Europa militärisch stark genug vertreten gewesen wäre?

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Hat man vergessen, daß erst im Kampf um die Freiheit Berlins, um Griechenland, die Türkei und um Korea jene verspätete Verteidigungsorganisation, jener Militärblock, wie Sie ihn nennen, geschaffen wurde, den Sie mit dem sowjetrussischen Militärblock so leichthin in einen Topf werfen? Will man behaupten, daß es ohne den Aufbau der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft gelungen wäre, die Freiheit Berlins, Griechenlands, der Türkei, Südkoreas und auch unsere Freiheit zu erhalten?

    (Lebhafter Beifall in der Mitte.)

    Oder will man uns sagen, das alles sei zu seiner Zeit einmal berechtigt und nötig gewesen, aber heute seien die Voraussetzungen für eine gemeinsame militärische Verteidigung des Westens weggefallen? Dann möchten wir allerdings für diese These eine sorgfältige Begründung hören.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Es ist doch ein merkwürdiges Argument, die Ereignisse in Ungarn hätten die Untauglichkeit der NATO — der NATO! — zur Sicherung des Friedens erwiesen.

    (Zuruf von der SPD: Hat doch kein Mensch gesagt!)

    Die NATO kam leider zu spät, um die Freiheit der Völker des Satellitenbereichs zu retten. Sie hatte sich, nachdem sie nun einmal leider zu spät gekommen war, nicht zum Ziele gesetzt, die Freiheit dieser Völker durch kriegerische Aktionen zurückzuerobern, sondern wenigstens den freien Rest der Anrainer des Atlantiks und des Mittelmeers vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wären wir stärker gewesen, hätte es schon ein vereinigtes Europa im Schutzverband der NATO zur Zeit der ungarischen Krise gegeben, wer weiß, ob sich nicht einfach durch die Existenz eines solchen starken Europas die Dinge in Ungarn günstiger gestaltet hätten.

    (Zuruf links: Alles Hypothesen!)

    Jedenfalls hat schon der leider noch unvollkommene Ausbau der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft eine weitere Expansion des Kommunismus in den letzten Jahren verhindert. Und nur diese Institution ist es, die auch in absehbarer Zukunft, wenn nicht Wunder geschehen, dieselbe Funktion erfüllen kann.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Auch Ihr Hinweis, Herr Ollenhauer, auf Sues geht fehl. Daß die Existenz der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft die Krise in Ägypten nicht verhindert hat, ist leider wahr. Will man aber behaupten, daß diese Krise etwa ohne den Bestand der NATO vermieden worden wäre? Wenn es überhaupt eine Organisation gibt, die militärische Sonderaktionen ihrer Mitglieder erschwert und — wenn sie nach den bei der letzten Sitzung des Atlantikrats angenommenen Plänen ausgebaut wird — in Zukunft sogar verhindern kann, dann ist es doch die NATO. Im übrigen haben — und das einmal festzustellen ist mir doch wichtig —nicht die Vereinten Nationen trotz all ihrer Verdienste, die Herr Ollenhauer in diesem Zusammenhang lobt, die Krise in Ägypten beendet, sondern, wie immer man zu dieser Entscheidung Washingtons stehen mag, die eindeutige Intervention der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die mit ihrer 6. Amerikanischen Flotte im Rahmen der NATO im Mittelmeer zugegen waren.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Die Vereinten Nationen hätten sich sonst auch dort wie in Ungarn auf bloße formale Protestaktionen beschränken müssen.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Herr Ollenhauer meinte, die These der Bundesregierung, daß die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Sicherheit gebe, habe sich im Falle Sues als Fehlkalkulation erwiesen und dem deutschen Volk nur erhöhtes Risiko gebracht. Herr Ollenhauer, sind die Dinge damit nicht wirklich auf den Kopf gestellt? Was war denn die Gefahr der Sues-Krise für die Bundesrepublik und das ganze deutsche Volk? Die Gefahr war, daß sich der dortige Konflikt zu einem allgemeinen Weltbrand ausweiten konnte. Ein Mitglied der NATO, und zwar das mächtigste Mitglied der NATO, hat bewiesen, daß es in vollem Verantwortungsbewußtsein diese Gefahr erkannte und daß es, wie immer man auch zur Methode des Vorgehens Washingtons in diesen Zusammenhang stehen mag. jedenfalls die These Sowjetrußlands von den Vereinigten Staaten als einer aggressorischen Macht dabei widerlegt hat.

    (Sehr gut! in der Mitte.)

    Aber ich muß noch ein Wort zu der These von den sogenannten Militärblöcken sagen. Die Krisen der vergangenen Monate haben leider bewiesen — und ich nehme an, daß Sie mir dabei zustimmen werden —, daß wir leider nicht erwarten können, im Schatten der großen Atommächte als Folge des sogenannten atomaren Gleichgewichts werde es in Zukunft keine bewaffneten Konflikte mehr geben. Was wir hoffen können, ist doch allenfalls, daß die allgemeine und nur zu berechtigte Furcht der Menschheit vor den schrecklichsten Vernichtungswaffen, die es heute gibt, eben einen solchen atomaren Krieg verhindern wird, weil jede Macht, die einen solchen Krieg beginnt, damit rechnen muß, daß ein verheerender und zerstörender Gegenschlag erfolgt.
    Trotzdem lastet das Vorhandensein dieser schrecklichsten Vernichtungsmittel wie ein Alpdruck auf uns, auf der ganzen Menschheit, und nichts liegt näher, als ihre Achtung und ihre Vernichtung zu fordern. Wir erheben diese Forderung in aller Form. Aber leider liegen die Dinge nicht so einfach. Während der Westen sich zu seinem Schutz im wesentlichen auf seine atomaren Waffen verlassen muß, weil er, wie Sie wissen, nicht über genügend starke konventionelle Rüstung verfügt. besitzt Sowjetrußland beides. Eine einseitige Achtung der Atomwaffen würde daher Sowjetrußland in eine für den Westen lebensgefährliche überlegene Position rücken.

    (Abg. Mellies: Also eine Belehrung des Kanzlers!)

    — Der Kanzler hat die Forderung nach Abschaffung der Atomwaffen — das können Sie glauben
    — nie anders erhoben als in dem Zusammenhang, in dem ich sie hier vortrage.

    (Abg. Stücklen: Volle Kontrolle! — Zurufe von der SPD.)



    (Kiesinger)

    — Ich komme darauf! — Daher kann die Abrüstung nur beide Rüstungsgebiete erfassen, und die Abrüstung muß unter eine wirksame Kontrolle gestellt werden. Darüber sind wir uns, glaube ich, weithin einig. Wir dürfen aber nicht annehmen, daß dies in naher Zukunft erreicht wird. Und eben darum bleibt uns nicht anders übrig, als auf diesem Kontinent, solange der gerüstete Titan drüben steht, zusätzlich zu den vorhandenen Verteidigungsmitteln der freien Welt einen Wall aus herkömmlichen Verteidigungsmitteln zu errichten, der den Westen vor einer furchtbaren Alternative bewahrt, nämlich der, im Falle eines Angriffs aus dem Osten entweder den Kontinent preiszugeben oder mit atomaren Waffen — da er ja andere nicht hat — zurückzuschlagen und dadurch das furchtbare Risiko eines atomaren Weltkrieges einzugehen.
    Ich kann nicht dringend genug darum bitten, die Phantasie ein wenig anzustrengen und sich auszumalen, was in einer solchen Situation geschehen würde und wie der mögliche Angreifer mit dieser Zwangssituation des Westens spekulieren könnte. Ist es denn an den Haaren herbeigezogen, wenn man sich vorstellt, daß der mögliche Angreifer gerade deswegen das Risiko eines Angriffs mit konventionellen Waffen auf sich nehmen würde, weil er in dieser Situation eben mit einem Zurückweichen der westlichen Schutzmacht aus dem wehrlosen Kontinent eher rechnet als mit der Bereitschaft zu dem furchtbaren Entschluß, die eigene Heimat, die eigenen Großstädte durch atomare Angriffe zu gefährden?

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Wenn wir also eine konventionelle Rüstung fordern und aufbauen im selben Augenblick, wo wir uns für die totale, kontrollierte Abrüstung einsetzen — eine Rüstung, an der wir naturgemäß beteiligt sein müssen —, so leisten wir damit nach unserer festen Überzeugung der Sache des Friedens einen sehr viel besseren Dienst als unsere Kritiker und Gegner.
    Das törichte Argument, daß konventionelle Waffen im Atomkrieg keinen Sinn mehr hätten, sollte nach allem endlich aus der Diskussion verschwinden.

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Die Schweden und die Schweizer wissen genau, warum sie einen so großen Teil ihres nationalen Budgets an die Unterhaltung eines kostspieligen konventionellen Rüstungsapparates wenden. Wenn wir zu einer solchen Verteidigung des Kontinents beitragen wollen, dann genügt eben ein Freiwilligenheer — ich wiederhole es — nicht, weil es an der notwendigen Reservenbildung mangelt.
    Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben uns lange genug vorgeworfen, daß diese unsere Politik der Mitwirkung an der Verteidigung des Kontinents die Lösung des deutschen Problems, die Wiedervereinigung, erschwere. Wir weichen Ihnen nicht aus. Sie haben uns sogar unterstellt, wir hätten behauptet, diese Politik würde uns im raschen Zuge zur Wiedervereinigung führen. Wir haben das nie behauptet. Was wir gesagt haben, ist dies: Es gibt keine Wiedervereinigung in Freiheit ohne unsere Politik der Sicherheit.

    (Zustimmung bei den Regierungsparteien. — Abg. Schmidt [Hamburg] : „Politik der Stärke" haben Sie gesagt! — Weiterer Zuruf von der SPD: „Sicherheit" ist eine neue Entdeckung von Ihnen, Herr Kiesinger!)

    Wer sagt, daß in diesem geschichtlichen Augenblick eine Zustimmung der Sowjetrussen zu der Wiedervereinigung in Freiheit nicht zu erwarten sei, wenn das wiedervereinigte Deutschland einem westlichen Verteidigungssystem angehören werde oder wenn man es vor der Wiedervereinigung offenlasse, wohin sich ein wiedervereinigtes Deutschland schlage, hat vielleicht recht. Aber, meine Damen und Herren, das ist ja gar nicht die Frage! Die Sowjetrussen haben zwar immer den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und die militärische Bündnislosigkeit eines wiedervereinigten Deutschland gefordert, aber — ich wiederhole es — sie haben dafür niemals die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit angeboten!

    (Sehr richtig! in der Mitte.)

    Die Bedingungen, die Sowjetrußland für eine Wiedervereinigung Deutschlands stellt oder vorschützt — denn nach den Äußerungen des Herrn Chruschtschow müssen wir das hinzufügen: oder vorschützt —, sind Ihnen allen bekannt. Ich habe sie genannt: ein neutralisiertes und waffenloses Deutschland, die endgültige und unabänderliche Beibehaltung der sogenannten sozialen demokratischen Errungenschaften in der sogenannten DDR, gesellschaftlicher und politischer Strukturwandel in der Bundesrepublik und schließlich: keine freien Wahlen, sondern jene „nicht mechanische Lösung" des Herrn Molotow. Selbst dafür erklärt Herr Chruschtschow, daß ihm die Deutschen, die er in der Hand hat, lieber seien als ein neutrales waffenloses wiedervereinigtes Deutschland. Vielleicht ist die Interpretation, die man den Äußerungen des Herrn Chruschtschow gegeben hat, zulässig, nämlich daß er gesagt habe, die Millionen drüben in der Hand seien ihm lieber als ein wiedervereinigtes Deutschland von 70 Millionen, selbst wenn es neutralisiert und waffenlos sei, wenn er davon ausgeht, daß dieses wiedervereinigte Deutschland, das wiedervereinigte deutsche Volk gegen Sowjetrußland eingestellt sei. Aber selbst der schlimmste Kritiker kann unserer Politik nicht vorwerfen, daß sie dieses Ziel erstrebt.

    (Abg. Schmidt [Hamburg] : Wer hat denn das Wort von den „Todfeinden" gesprochen, Herr Kiesinger?!)

    — Gewiß, man kann einen solchen Ausdruck einmal gebrauchen, wenn man die beiden sich — und hier ist es vielleicht richtig zu sagen — fast tödlich gegenüberstehenden, total und radikal verschiedenen politischen Wert- und Ordnungssysteme darunter versteht.

    (Abg. Schmidt [Hamburg] : Es wurde aber von „unseren Todfeinden" gesprochen!)

    Wir wissen genau zu unterscheiden zwischen der Herausforderung der Sowjetrussen zur Weltrevolution und Sowjetrußland als einer politischen Macht, die auch mit den realen Gegebenheiten dieser Welt zu rechnen hat. Und erst recht genau wissen wir zu unterscheiden zwischen dem kommunistischen System und dem russischen Volk, dem wir keinerlei feindliche Gefühle entgegenbringen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

    Die Sowjetunion ist Tag um Tag hinter uns her mit ihrer Propaganda, um die deutsche Unruhe und


    (Kiesinger)

    Ungeduld in Sachen Wiedervereinigung zu steigern und anzufachen.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Nichts leitet mehr Wasser auf die Mühlen dieser Moskauer Politik, als wenn wir uns tatsächlich in diese Unruhe und Ungeduld oder gar in eine Hysterie hineinsteigern lassen, in eine hektische Betriebsamkeit,

    (Abg. Ollenhauer: Sehr interessant, Herr Kiesinger!)

    in eine abstrakte Streiterei, in das Verlangen nach Initiative um jeden Preis und nach Gesten, die eine solide Politik ersetzen sollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

    Gelänge den Sowjetrussen dieses Spiel wirklich, — —

    (Fortgesetzte Zurufe von der SPD.)

    — Ja, es ist eine lange Zeit. Aber daß es eine so lange Zeit dauert, das ist nicht unsere Schuld. Wenn Sie die politische Verantwortung in diesen Jahren gehabt hätten, meine Damen und Herren, dann hätten Sie zwar vielleicht unsere Sicherheit verspielt,

    (Zurufe von der SPD: Unerhört!) die Wiedervereinigung aber nicht gewonnen.


    (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Erregter Widerspruch und sich steigernde stürmische Zurufe von der SPD. — Abg. Mellies: Sie sind der größte Verleumder! — Abg. Dr. Arndt: Eine Frechheit! — Abg. Wehner: Sie sind ein Verleumder! Herr Präsident, das ist eine Verleumdung! — Große Unruhe.)

    — Ich bitte um Ihren Schutz, Herr Präsident!

    (Fortgesetzte Zurufe von der SPD.)



Rede von Dr. Eugen Gerstenmaier
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Einen Augenblick! — Herr Kollege Wehner, was haben Sie gesagt?

(Abg. Wehner: Ich habe gesagt: Herr Präsident, das ist ein Verleumder! — Beifall bei der SPD.)

Wer ist ein Verleumder? Der Redner? — Herr Abgeordneter Wehner, ich rufe Sie zur Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Majonica: Noch zu wenig! — Abg. Dr. Arndt: Dann rufen Sie die ganze Fraktion zur Ordnung! — Abg. Wittrock: Das ist die Schule der Nazis! — Gegenruf des Abg. Majonica: In welcher Schule war Herr Wehner denn? — Fortgesetzte Zurufe von der SPD und Gegenrufe von der CDU/ CSU.)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Kurt Georg Kiesinger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meine Damen und Herren, ich habe folgenden Satz gesagt — ich wiederhole diesen Satz, weil ich dazu herausgefordert wurde —: Wenn die Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren die politische Verantwortung in Deutschland gehabt hätte, dann hätte sie vielleicht unsere Sicherheit verspielt, aber die Wiedervereinigung nicht errungen.

    (Beifall bei der CDU/CSU. — Erneut erregte Zurufe von der SPD. — Abg. Schoettle: Das ist ein unverschämter Verleumder! — Weitere Zurufe: Das ist eine Lüge! — Abg. Erler meldet sich zu einer Zwischenfrage.)