Rede von
Dr.
Kurt Georg
Kiesinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich möchte nur ein paar Bemerkungen machen, Herr Kollege Ollenhauer, damit wirklich die Klarheit hergestellt wird, die Sie soeben gefordert haben. Sie haben uns und der Regierung den Vorwurf gemacht, daß sie nicht bereit sei, mit den Vier Mächten Verhandlungen einzuleiten, die die Teilnahme Deutschlands an einem kollektiven Sicherheitssystem, wie Sie es sehen, betreffen. Herr Kollege 011enhauer, das ist nicht wahr. Das Memorandum der Bundesregierung — Sie haben es selber erwähnt — hat die Wege, die wir gehen wollen, klar gewiesen. Wir können allerdings nicht Ihre Forderung, jedenfalls Ihre bis jetzt erhobene Forderung, als richtig anerkennen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der NATO stehen müsse und daß man die Sicherheit unseres Landes durch ein Paktsystem, das Sie kollektives Sicherheitssystem nennen, begründen müsse. Wir haben von Ihnen gefordert, uns zu sagen, wie Sie die reale Sicherheit unseres Landes und Westeuropas in einem solchen Falle sehen. Die Antwort, die Sie darauf gegeben haben, ist durchaus unbefriedigend. Sie haben gesagt: Gibt es nicht anderswo regionale Sicherheitspakte? Ich hatte Ihnen in meinen Ausführungen gesagt: Wenn wir ein kollektives europäisches Sicherheitssystem mit der Teilnahme Sowjetrußlands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika begründen, ist noch nichts gelöst. Das kann, sagte ich, die Krönung, der Schlußstein eines sehr mühevollen Werkes sein. Aber die reale Sicherheit, die wir fordern, liegt in der Herstellung eines — ich wiederhole, was ich .gesagt habe — politischen und militärischen Gleichgewichts.
Wenn Sie also offen mit uns über dieses Problem diskutieren wollten, dann hätten Sie etwa sagen müssen: Ich denke mir die Sache so: Über den Status eines wiedervereinigten Deutschland wird vorher eine Festlegung getroffen, d. h. das wiedervereinigte Deutschland scheidet aus der NATO aus.
Ich nehme an, Sie gehen bei Ihren Gedankengängen davon aus, daß die NATO auch dann noch — vorläufig — existent bleibt, wenn wir uns auch beide vielleicht in dem Endziel einig sind, daß wir Bedingungen auf der Welt herbeiführen, die es schließlich unnötig machen, die NATO aufrechtzuerhalten, weil die Voraussetzungen, die den Westen zu ihrer Gründung gezwungen haben, weggefallen sind. Aber zunächst liegen diese Voraussetzungen noch vor. — Was dann, wenn die Bundesrepublik der NATO nicht mehr angehört? Dann erheben sich doch eine ganze Reihe schwerwiegendster Fragen. Es erhebt sich die Frage: Ist dann die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft überhaupt noch in der Lage, die Sicherheit Westeuropas und damit auch unseres eigenen Landes zu garantieren? Die Autoritäten der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft antworten darauf: nein!
Ich habe Sie zweitens auf die große Bedeutung der konventionellen Streitkräfte in diesem Zusammenhang hingewiesen. Ich habe Ihnen gesagt, daß die beiden kleinen Länder Schweden und die Schweiz zur Verteidigung ihrer Freiheit — die sie im Ernstfall doch auch nur in Anlehnung an die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft durchführen könnten — ein militärisches Aufgebot zur Verfügung halten, das etwa ein Zehntel ihrer Bevölkerung ausmacht. Wie also sollte die Verteidigungskraft eines wiedervereinigten Deutschland, das nicht der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft angehören würde, aussehen, damit die Sicherheit Europas nicht nur durch ein auf dem Papier stehendes Wort Sowjetrußlands garantiert wäre? Darüber, Herr Kollege Ollenhauer, haben wir auch heute nicht ein einziges Wort gehört.