Es liegt mir fern, etwa die militärische Großmacht eines wiedervereinigten Deutschlands als „Baby" zu bezeichnen. Aber potentiell technisch — abgesehen davon —, wir hätten nicht die Freiheit der Rüstung in diesem Falle. Wir sind gar nicht scharf darauf. Aber wir wären sicher ein Baby, Kollege Mommer, wenn die Abrüstung nach Ihren Vorstellungen auf 'die 150 000-, 200 000-Mann-Ebene — darüber
können wir uns ein andermal unterhalten — das militärische Potential Deutschlands bedeuten würde. Aber man kann doch nicht von den Amerikanern verlangen, daß sie ganz Afrika, dem ganzen Nahen und Mittleren Osten, dem ganzen Fernen Osten und nunmehr auch noch nach Zerfall des europäischen Bündnisses jedem einzelnen europäischen Staate, wenn er sich bedroht fühlt, eine Sicherheitsgarantie geben.
„Europäisches Sicherheitssystem", Kollege Erler — und mit dem muß man sich auseinandersetzen, weil es wirklich nicht leicht ist —, ich habe keine Patentlösung, und Sie haben keine Patentlösung; aber „Sicherheitssystem" heißt immer, solange die Sowjetunion mit Europa auf einem Kontinent vereinigt ist, was sie immer sein wird, daß als Gegengewicht auf der andern Seite ein Sicherheitspakt vorhanden sein muß, damit das Sicherheitsgarantiesystem einen Sinn hat. Anders geht es nicht.
— Ich glaube, daß ich mit ihm einiger bin, als er es mit Ihnen ist, Kollege Mommer!
Das sind die Probleme, Kollege Erler, die uns bei der Frage der Teilnahme Amerikas und der Garantie der USA in bezug auf dieses Sicherheitssystem bewegen. Eines möchten wir nicht: eine amerikanische Sicherheitsgarantie — ich hoffe, jetzt niemand zu beleidigen — nach dem Muster der britischen Sicherheitsgarantie für Polen Anno 39,
so daß wir, wenn dann unsertwegen ein dritter Weltkrieg angefangen und vielleicht siegreich beendet wird, wieder befreit werden. Nein, von vornherein muß das Sicherheitssystem so gestaltet sein und muß das Gleichgewicht der militärischen Kräfte so ausgewogen sein — der Westen greift ja bestimmt nicht an; das liegt Gott sei Dank nicht in seiner Mentalität —, daß es ,dem Osten de facto, will er nicht Selbstmord begehen, unmöglich gemacht ist anzugreifen. Das ist Voraussetzung dafür, daß der Begriff „europäisches Sicherheitssystem" zu einer politischen Wirklichkeit werden kann.
Und wenn Sie mich fragen: „Ja, warum denn diese Angst vor der Sowjetunion? Sie garantiert doch die Freiheit aller Völker, sie verpflichtet sich doch in dem Vertrag, sie unterschreibt ja doch, ihre Angriffsdrohung ist ja nur ein Kinderschreck!", dann allerdings, Kollege Erler, hätten Sie in einem Falle recht: wenn diesseits und jenseits der traurigen Demarkationslinie, genannt Eiserner Vorhang, bei 'den Machthabern dieselben Maßstäbe des Gewissens, dieselben Maßstäbe der sittlichen Überzeugung, dieselben Maßstäbe der Weltanschauung im Grundsatz — ich meine es jetzt nicht im parteipolitischen oder ideologischen engeren Sinne des Wortes — gelten, wenn dort in demselben Violinschlüssel gedacht wird, hüben und drüben „Treue" Treue heißt, „Frieden" Frieden heißt, „Freiheit" Freiheit heißt, „Demokratie" Demokratie heißt, wenn dort das, was man „Recht und heilig" nennt, auch Recht und heilig ist, dann wäre die Frage ganz anders zu läsen.
Was uns aus der Vergangenheit heraus hier sehr stutzig macht, warum wir auch bei einer Frage der Abschaffung der Atomwaffen, der jedermann aus moralischen Gründen mit verständlichem Interesse zustimmen muß, nicht nur sagen: Abschaffung, sondern warum man sich heute technisch kaum lösbare Sorgen um das Problem der Kontrolle macht — Abschaffung mit einer Vollzugsmeldung nach beiden Seiten wäre für uns nackter Hohn auf unsere eigene Dummheit, nichts anderes! —:
Im Jahre 1948 hat Präsident Truman — 1948 war ja immerhin noch eine Zeit, wo wir noch nicht in der NATO waren und wo das Besatzungsstatut noch fröhlich angewendet wurde — dem amerikanischen Kongreß eine Liste von 37 Fällen vorgelegt, in denen die Sowjetunion Abkommen über Deutschland, Österreich, Ost- und Südost-Europa, Korea und die Mandschurei gebrochen hatte. Von einer Militärmacht, die bei dem Kampf um Ungarn am 30. Oktober 1956 feierlich erklärt: „Da das weitere Verbleiben sowjetischer Truppen Anlaß zu noch größerer Verschärfung der Lage sein kann, hat die sowjetische Regierung ihr Militärkommando angewiesen, die Truppen aus Budapest abzuziehen", um fünf Tage später, am 4. November, im Morgengrauen den konzentrierten Panzerangriff auf Budapest einsetzen zu lassen, von einer Regierung, die in der Nacht vom 3. zum 4. November eine Delegation der Regierung Nagy unter Führung des Kriegsministers Maleter zu Verhandlungen in das sowjetische Hauptquartier in Budapest beordert hat, sechs Stunden hat warten lassen, bis der Aufmarsch vollzogen war, sie dann kurzerhand verhaftet hat und seitdem in der Versenkung hat verschwinden lassen, die am 22. November 1956 unter Zusicherung des freien Geleits Ministerpräsident Nagy aus dem jugoslawischen Asyl herausgeholt hat, dann verhaftet hat, angeblich sogar hat fesseln lassen, auf Nimmerwiedersehen nach Rumänien hat verschwinden lassen, von dieser Regierung und von einem System mit diesem ideologischen Hintergrunde eine Unterschrift als Garantie für unsere Sicherheit hinzunehmen, wäre für uns nackter Irrsinn.