Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich eröffne die Sitzung.
Zunächst möchte ich daran erinnern, daß unser Kollege Dr. Alfred Dregger am 10. Dezember seinen 71. Geburtstag feierte. Ich möchte ihm auch von hier aus im Namen des Hauses nachträglich die besten Wünsche für sein persönliches Wohlergehen aussprechen.
Nun zum Amtlichen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Kostenexplosion im Gesundheitswesen
2. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Entschädigungsrenten für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet — Drucksache 12/1790 —
3. Erste Beratung des von den Abgeordneten Ferdi Tillmann, Dirk Fischer , Heinz-Günter Bargfrede, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksache 12/1800 -
4. Erste Beratung des von den Abgeordneten Ferdi Tillmann, Dirk Fischer , Heinz-Günter Bargfrede, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes - Drucksache 12/1801 -
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewende — Grundstein für eine dauerhafte Entwicklung - Drucksache 12/1794 -
6. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Verlängerung des Altersübergangsgeldes - Drucksache 12/1720 -
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Christina Schenk, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verlängerung der Sozialzuschlagsregelung bei Erwerbslosigkeit und Einführung einer Mindestsicherung - Drucksache 12/1792 -
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 41 zu Petitionen — Drucksache 12/1804 -
9. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 42 zu Petitionen - Drucksache 12/1805 -
10. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 43 zu Petitionen — Drucksache 12/1806 -
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Krziskewitz, Udo Haschke , Josef Hollerith, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Detlef Kleinert (Hannover), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bekämpfung der „Regierungs- und Vereinigungskriminalität" - Drucksache 12/1811 -
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Andreas von Bülow, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Parlamentarische Kontrolle der Auflösung der NVA — Drucksache 12/1798 -
13. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Maastricht
14. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Überwachung und Kontrolle der Großkredite von Kreditinstituten - Drucksachen 12/849 Nr. 2.1, 12/1809 -
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll abgewichen werden, soweit dies zu einzelnen Punkten der Tagesordnung einschließlich der Zusatzpunkte erforderlich ist.
Weiter wurde vereinbart, die heutige Plenarsitzung wegen einer Fraktionssitzung der SPD nach Tagesordnungspunkt 8, also gegen 17 Uhr, für eine Stunde zu unterbrechen. Danach sollen die Zusatzpunkte 6 und 7 in verbundener Debatte mit 30 Minuten beraten werden. Anschließend wird Tagesordnungspunkt 7 — Beratungen ohne Aussprache — aufgerufen.
Die für Freitag vorgesehenen Tagesordnungspunkte 13 — Bundeswehrbericht — und 14 — Wohnen im Alter — sollen abgesetzt werden. Statt dessen gibt der Bundeskanzler eine Erklärung zum EG-Gipfel in Maastricht ab, der eine Aussprache bis ca. 12.30 Uhr folgen wird.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dies ist beschlossen.
5672 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Wahl der vom Bundestag zu entsendenden Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission
— Drucksachen 12/1764, 12/1777, 12/1791, 12/1807,12/1810 —
Hierzu liegen fünf Wahlvorschläge vor, die ich nacheinander aufrufen werde.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 12/1810 15 Mitglieder und Stellvertreter für die gemeinsame Verfassungskommission vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagenen Mitglieder und Stellvertreter bei Enthaltungen aus der Gruppe PDS/Linke Liste gewählt.
Die Fraktion der SPD schlägt auf Drucksache 12/1764 11 Mitglieder und Stellvertreter vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der SPD?
— Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Wahlvorschlag bei einer Enthaltung aus der Gruppe der PDS/Linke Liste angenommen.
Die Fraktion der FDP schlägt auf Drucksache 12/1807 4 Mitglieder und Stellvertreter vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der FDP?
— Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist auch dieser Wahlvorschlag bei einigen Enthaltungen aus der Gruppe der PDS/Linke Liste angenommen.
Der Wahlvorschlag der Gruppe PDS/Linke Liste liegt Ihnen auf Drucksache 12/1777 vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Wahlvorschlag bei einer Reihe von Enthaltungen angenommen.
Der Wahlvorschlag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN liegt Ihnen auf Drucksache 12/1791 vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist auch dieser Wahlvorschlag angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
4. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst Eylmann, Detlef Kleinert , Dieter Wiefelspütz und weiteren Abgeordneten aller Fraktionen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (Untersuchungsausschußgesetz)
— Drucksache 12/418 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse
— Drucksache 12/1436 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen
— Drucksache 12/1754 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erhöhung und periodische Anpassung der Pfändungsfreigrenzen für Arbeitseinkommen und der Prozeßkostenhilfe-Freibeträge
— Drucksache 12/883 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Entschädigungsrenten für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet
— Drucksache 12/1790 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ferdi Tillmann, Dirk Fischer , Heinz-Günter Bargfrede, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/1800 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ferdi Tillmann, Dirk Fischer , Heinz-Günter Bargfrede, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5673
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
eines Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
— Drucksache 12/1801 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß I 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe — Achter Jugendbericht — Stellungnahme der Bundesregierung zum Achten Jugendbericht
— Drucksachen 11/6576, 12/671 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Hollerith Erika Simm
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, der Fraktion der SPD, der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Angela Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den Achten Jugendbericht. Wir wissen auf Grund dieses Berichts, daß Jugendliche Anteil haben am wachsenden Wohlstand in dieser Gesellschaft, zumindest in den alten Bundesländern. Wir wissen aber auch, daß die Zunahme an Möglichkeiten und auch die zunehmene Pluralisierung in dieser Gesellschaft im Grunde dazu führen, daß sich die Individualisierung von Jugendlichen verstärkt.
Jugend — das ist eine Zeit der Neugierde und der Erwartungen. Es ist eine Zeit, in der die jungen Menschen mit Gedanken experimentieren, in der sie noch weitgehend frei und unbestimmt unterschiedliche Lebensformen ausprobieren wollen.
Jugendliche sind gradlinig und unbefangen, und manchmal sind wir von ihrer Direktheit auch überrascht. Mit dieser Direktheit sagen die Jugendlichen uns auch — so sagen es zumindest wissenschaftliche Studien — , daß sie von der Politik enttäuscht sind, ja, daß sie eigentlich von der Politik nichts halten.
80 % aller Jugendlichen meinen sogar, daß Politik sie hintergehe, oder sie fühlen sich von ihr betrogen.
Ich denke, schon allein dieser Befund ist eigentlich für uns Grund genug, uns einmal damit zu beschäftigen, was Jugendpolitik will und wie wir Jugendlichen Politik vermitteln. Deshalb finde ich es gut, daß diese Debatte heute stattfindet.
Die meisten Jugendlichen in unserem Land sehen optimistisch in die eigene Zukunft. Trotzdem gibt es die Entfremdung zwischen Jugendlichen und Politikern. Jugendliche bejahen die deutsche Einheit, aber sie mißtrauen uns, den Politikern — und das unabhängig davon, ob wir rechts oder links stehen, ob CDU oder SPD gemeint sind, ob Liberale oder GRÜNE.
51 % der Jugendlichen, also über die Hälfte, halten es eigentlich für eher unwahrscheinlich, daß die Politiker überhaupt die zukunftsbedrohenden Herausforderungen erkennen und angehen. Nur 16 % der Jugendlichen meinen, daß Politiker vernünftige Lösungen für die Fragen finden, die sie interessieren.
Da müssen wir uns doch fragen, woran das liegt. Liegt das an unserer Art der Politik oder liegt es daran, wie wir Politik vermitteln? Beziehen wir die jungen Menschen nicht vernünftig ein oder haben sie den Eindruck, daß wir ihnen nicht zuhören?
Im Westen wachsen die jungen Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft auf; ihre elementaren Bedürfnisse sind weitestgehend erfüllt. In den alten Bundesländern gibt es eines der besten Schulsysteme. Um die duale Berufsausbildung beneiden uns viele Länder auf dieser Welt und führen sie auch ein. Wir haben ein relativ reich gegliedertes Fach- und Hochschulwesen. Die Arbeitslosigkeit von jungen Menschen in den alten Bundesländern ist die niedrigste in der gesamten Europäischen Gemeinschaft.
Auch in den neuen Bundesländern haben wir wichtige Voraussetzungen geschaffen, um Jugendlichen ein vernünftiges Leben zu ermöglichen. Es ist gelungen — was viele vor einigen Monaten in diesem Hause noch bezweifelt haben —, jedem jungen Ostdeutschen einen Ausbildungsplatz in seiner Heimat zur Verfügung zu stellen. Die Lehrstellenkatastrophe — das halte ich für einen ganz wichtigen Erfolg — ist ausgeblieben.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist seit Juli über 20 % zurückgegangen. Das Schulsystem in den neuen Bundesländern ist neu gegliedert. Fachhochschulen sind im Entstehen, der Hochschulbereich wird umgestaltet und auch großzügig ausgebaut. Niemand muß aus sozialen Gründen auf Ausbildung verzichten; das ist mit dem BAföG sichergestellt.
Junge Menschen im Osten können nun genauso wie ihre Altersgenossen im Westen reisen, wohin sie wollen; sie können demonstrieren, wofür oder wogegen auch immer; sie können sagen und schreiben, was sie wollen, ohne daß ihnen jemand auf die Finger sieht. Deshalb dürfen wir bei allen Schwierigkeiten nicht verkennen, daß sich für die jungen Menschen völlig neue Möglichkeiten eröffnet haben.
5674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea Merkel
Trotzdem verspüren junge Menschen in den neuen Bundesländern einen schweren Bruch in ihrem Leben; es ist kaum noch etwas so, wie es einmal war. Sie müssen lernen, mit der neu gewonnenen Freiheit umzugehen. Das bedeutet — das erkennen sie — mehr Verantwortung; aber nach den Erfahrungen mit dem SED-Regime ist es ihnen kaum möglich, sofort Verantwortung zu übernehmen. Sie scheuen diesen Weg.
Es gibt viele Erwachsene, die nicht besonders ehrlich auf die jungen Menschen wirken, die den eigenen Umbruch in der Gesellschaft nicht verstanden haben. Die Zukunftsaussichten sind für viele unklar. Die Strukturen einer neuen Jugendfreizeitgestaltung und die Strukturen, sich im Beruf auszuleben, sind noch nicht erkennbar. Deshalb müssen wir als Politiker aktiv eingreifen; ich denke, wir haben im vergangenen Jahr versucht, den Schwierigkeiten entgegenzuwirken. Ich erinnere an den „Sommer der Begegnung" : 85 000 junge Leute aus Ost und West haben daran teilgenommen und sich getroffen.
Wir haben die Gelder, die für Jugendarbeit im Rahmen des Bundesjugendplans zur Verfügung stehen, von 132 Millionen DM im Jahr 1989 auf 253 Millionen DM im nächsten Jahr aufgestockt. Die Mehrzahl der Zuwächse geht in die neuen Bundesländer. Wir bauen damit Trägerstrukturen für Jugendarbeit auf; wir intensivieren die arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit und die außerschulische Jugendbildungsarbeit. Wir haben Möglichkeiten für ein freiwilliges soziales und ein freiwilliges ökologisches Jahr geschaffen.
Junge Ostdeutsche — das halte ich für ganz besonders wichtig — sind in den internationalen Jugendaustausch einbezogen; sie können nach Frankreich, Amerika oder Spanien fahren und an unseren Programmen teilnehmen.
Wir sehen aber täglich, daß das nicht reicht. Die Umwälzungen haben bei vielen jungen Menschen zur Resignation geführt. Dies drückt sich oft in Aggression, zum Teil auch in Gewalt aus. Deshalb haben wir 1992 mit einem Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt begonnen. Doch auch hier müssen wir uns fragen, ob das ausreicht. Es reicht natürlich nicht aus, wenn nur der Bund Maßnahmen ergreift. Jugendpolitik muß ein Anliegen der Länder, der Kommunen sein, genauso wie es ein Anliegen des Bundes ist.
Es muß ganz klar werden, daß neben dem Bau von Straßen, neben der Investition in Industriestandorte die Menschen auf dem Weg zur deutschen Einheit nicht verlorengehen dürfen. Wir haben nichts von all unseren Bemühungen, wenn wir zum Schluß resignierte Generationen haben, die diese neue Welt nicht verstehen.
Trotz all unserer Anstrengungen bleibt die Tatsache, daß wir den jungen Menschen offensichtlich nicht den Eindruck verschaffen, daß wir ihre Anliegen wirklich verstehen.
Es genügt offensichtlich nicht, daß sich Jugendpolitik in der Förderung von Verbänden und Trägern und im Aufbau einer Jugendhilfestruktur erschöpft.
Junge Menschen erwarten offenbar nicht nur mehr Angebote von uns, sondern sie erwarten von uns, von den Erwachsenen, von den Politikern, daß wir auf ihre Fragen antworten.
Junge Menschen wachsen heute mit dem Gefühl auf, daß ihre eigene Lebensumwelt gefährdet ist; in der DDR wurde diese Frage überhaupt nicht diskutiert. Auch in der alten Bundesrepublik mußte zuerst eine Protestbewegung entstehen, damit diese Frage von den Parteien ernsthaft aufgegriffen wurde. Die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland im Umweltschutz heute führend ist, ändert nichts daran, daß die Jugendlichen zunächst einmal von der Politik enttäuscht waren.
Junge Menschen können heute auch nicht verstehen, daß es die führenden Industrienationen dieser Welt immer noch nicht erreicht haben, die von der UNO festgeschriebene Höhe des Anteils am Bruttosozialprodukt für die Entwicklungshilfe aufzubringen.
Junge Menschen verstehen auch nicht, daß Krieg zwischen Kroatien und Serbien stattfindet, daß Menschen in einem Land sterben müssen, in dem sie im vorigen Jahr Urlaub gemacht haben, und daß die Politiker so wenig oder fast gar nichts ändern können.
Junge Menschen fragen uns natürlich auch zu Recht, wie wir denn eigentlich mit den Schwachen in dieser Gesellschaft umgehen. Ich glaube, das ist wirklich eine berechtigte Frage, wenn wir sehen, daß Unternehmen und Behörden heute immer noch lieber eine Ausgleichsabgabe bezahlen, anstatt Behinderte einzustellen. Ich denke, diesen Fragen müssen wir uns stellen. Ich bin auch der Meinung, daß sich ein Unternehmer, der die Soziale Marktwirtschaft vertreten will, vor diesen Fragen nicht drücken kann.
Junge Menschen kritisieren verständlicherweise, wenn unsere Antwort auf ihren Wunsch, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, an vielen Stellen ungenügend ausfällt. Wer von uns kennt nicht die Schwierigkeiten, wenn wir in den Versammlungen erklären müssen, daß junge Leute eben nicht dort eine Wohnung finden, wo sie sie auf Grund ihrer Ausbildung brauchen?
Dies sind alles Probleme, mit denen wir uns in unserem politischen Leben täglich auseinandersetzen. Ich glaube, junge Menschen erwarten von uns gar nicht, daß wir immer eine vollständige Antwort geben können, sondern sie erwarten, daß wir ihre Fragen ernst nehmen.
Das bringt uns zu der Frage der Glaubwürdigkeit von Erwachsenen überhaupt, aber insbesondere zu der Frage der Glaubwürdigkeit von Politik; denn junge Leute sind ehrliche und sensible Beobachter. Sie spüren sehr schnell und deutlich, ob man ihre Befürchtungen und Sorgen ernst nimmt oder ob man sich nur vordergründig damit befaßt. Sie suchen nach ihrem eigenen Lebensentwurf. Sie haben es dabei schwer, sich in einer oft sehr unübersichtlichen Welt zurechtzufinden.
Junge Leute wollen sich heute eigentlich nicht mehr von Erwachsenen den Lebensraum zuweisen lassen,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5675
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea Merkel
den Erwachsene ihnen gerne geben wollen. Sie wachsen oft in viel globaleren Zusammenhängen auf. Sie sind durch die Medien Teil einer globalen Welt, und sie haben keine Lust, von anderen bestimmen zu lassen, in welchen Lebensräumen sie sich denn noch bewegen dürfen.
Sie haben auch keine Lust, in Städten aufzuwachsen, von denen sie den Eindruck haben, daß nur noch mit Hilfe von Sozialarbeitern überhaupt Leben von Jugendlichen möglich ist. Vielmehr möchten sie selbst entscheiden. Sie wollen selbst gestalten. Sie lehnen ständige Gängelei und Bevormundung ab.
Wenn sie diesen Eindruck haben, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß sie sich flüchten in eine vermeintlich heile Welt, daß sie sich flüchten in Drogen, in Alkohol und in Sekten. Ich denke, es muß uns alle bewegen, daß in jedem Jahr 2 000 junge Menschen in unserem Land den Drogentod sterben, daß gerade Sekten in den neuen Bundesländern einen großen Zulauf haben und daß rechtsextremistische Gruppen zunehmenden Einfluß auf junge Menschen gewinnen.
Wir als Politiker müssen uns schützend vor bedrohte Menschen stellen, vor Ausländer, vor Schwache, vor Behinderte. Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß Gewalttäter zur Verantwortung gezogen werden.
Dafür sind wir verantwortlich. Gewalt, meine Damen und Herren, darf nicht zur Normalität werden. Gewalt kommt heute oft in den Familien vor, sie kommt in den Medien vor. Sie kommt in dem Leben der Kinder und Jugendlichen, in den Schulen und in der Ausbildung vor. Wenn wir uns nicht energisch gegen diese Gewalttätigkeit stellen, dann werden wir dem Weg von Gewalt leider Vorschub leisten.
Wir wissen alle: Freie Träger leisten hervorragende Arbeit. Dennoch müssen wir uns immer wieder fragen, ob die eingefahrenen Wege der Jugendpolitik ausreichen, ob es nicht viel sinnvoller ist, darauf zu reagieren, daß sich junge Leute in kurzfristigen Projekten engagieren wollen, ob es nicht sinnvoller ist, ihnen mehr Hilfe zur Selbsthilfe zu geben statt zu versuchen, Probleme für Jugendliche über Verbände und Funktionäre zu lösen.
So, wie sich die Jugendarbeit für neue Formen öffnen muß, so muß es natürlich in unserer gesamten Demokratie neue Formen geben; denn Jugendliche spüren genau die Kluft zwischen der formalen und der gelebten Demokratie. Das heißt auch, daß der Deutsche Bundestag junge Menschen eben nicht nur anhört, wenn es um ihren eigenen Bericht, um den Jugendbericht geht, sondern daß er ihre Fragen und Anliegen auch ernst nimmt, wenn es um Fragen des Umweltschutzes, der Verteidigung, der Arbeitsmarktpolitik und der Bildungspolitik geht.
Es geht auch darum, daß wir jungen Menschen frühzeitig Verantwortung geben, daß wir sie in Ämter und Funktionen hineinlassen. Junge Menschen müssen Verantwortung übernehmen, und die Demokratie darf sich nicht von ihnen abschotten.
Junge Menschen müssen frühzeitig an den Entscheidungen und Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Denn junge Menschen sind mobil. Wir alle wissen — vielleicht in diesen Tagen nach dem Gipfel in Maastricht am allermeisten — , daß wir vor großen Herausforderungen stehen. Die deutsche Einheit ist eine dieser großen Herausforderungen. Aber sie ist bei weitem nicht die letzte.
Die europäische Einheit wird die nächste große Herausforderung sein, ebenso die Integration der osteuropäischen Staaten. Wir werden uns auf Umverteilungen und auf neue Akzente in unserem politischen Leben einstellen müssen. Es wird wichtig sein, daß eine Generation nachwächst, die bereit ist, mobil auf diese Herausforderungen zu reagieren und ebenfalls Anstrengungen auf sich zu nehmen.
Wenn wir heute eine Kluft zwischen Politik und der Einschätzung der Jugendlichen von Politikern beklagen, so müssen wir daran arbeiten, daß diese Kluft geringer wird. Ansonsten mache ich mir große Sorgen, daß wir diesen Herausforderungen nicht gerecht werden können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste spricht die Abgeordnete Erika Simm.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Achte Jugendbericht, der der eigentliche Anlaß für die heutige jugendpolitische Debatte ist, stellt eine umfassende Analyse und Bewertung der Situation von Kindern und der Jugendhilfe dar, allerdings nur für die alten Bundesländer; denn die Bestandsaufnahme endet mit dem Jahre 1988.
Daß sich der Bundestag erst heute damit befassen kann — ich meine, da der Achte Jugendbericht Anlaß für die Debatte ist, sollte man darauf noch einmal Bezug nehmen — , ist ausgesprochen ärgerlich, enthält der Bericht doch viele wichtige Fakten und Aussagen, die längst Berücksichtigung hätten finden müssen, so insbesondere im Rahmen der Beratungen zum neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz und der Beratungen zur Änderung des Jugendstrafrechts.
Was ich damit meine, möchte ich an zwei Beispielen deutlich machen: Der Achte Jugendbericht enthält u. a. wichtige Aussagen zu der Veränderung der Familienstrukturen in der alten Bundesrepublik. Danach wachsen immer mehr Kinder in sogenannten Ein-Eltern-Familien auf, die Mehrzahl als Einzelkinder. Alleinerziehende Eltern, überwiegend Mütter, sind berufstätig, müssen es meistens auch sein, wenn sie nicht der Sozialhilfe anheimfallen wollen.
Zunehmend bauen Frauen aber auch ganz allgemein ihre Lebensplanung auf dem Wunsch auf, Beruf und Familie zu integrieren. Hieraus erwächst ein zunehmender Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen, denen jedoch auf Grund der veränderten Lebenssituation. der Kinder auch eigene pädagogische Bedeutung beizumessen ist. Dem entspricht — so der Bericht — das vorhandene Angebot an Einrichtungen,
5676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Erika Simm
das zudem regional sehr unterschiedlich ist, weder quantitativ noch qualitativ.
Ich meine, diese Aussagen hätten sich im neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz niederschlagen müssen. Bereits dort hätte, wie das die SPD auch gefordert hatte, der Anspruch eines jeden Kindes auf einen Kindergartenplatz festgeschrieben werden müssen.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Neuregelung des § 218 sieht zwar nun bei den sozialen Begleitmaßnahmen auch den Anspruch auf einen Kindergartenplatz vor, allerdings erst ab 1997 und ohne daß die Regierung bereit wäre, Kosten zu übernehmen.
Dies begründet für mich auch jetzt noch erhebliche Zweifel daran, daß es die Regierungsparteien mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wirklich ernst meinen. Von einem Recht aber, das nicht verwirklicht werden kann, weil Länder und Kommunen finanziell nicht in der Lage sind, die Kosten der Einrichtungen zu tragen, werden weder unsere Kinder noch unsere Mütter etwas haben.
Das zweite Beispiel: die Änderung des Jugendstrafrechts. Der Achte Jugendbericht setzt sich eingehend damit auseinander, wie die Gerichte mit Jugendlichen verfahren, die straffällig wurden. Er verweist darauf, daß es in der Praxis der Jugendgerichte von Landgerichtsbezirk zu Landgerichtsbezirk — so wörtlich — extreme regionale Unterschiede gebe.
Belegt wird das an einer ganzen Reihe von Beispielen. So beträgt die Chance eines zum wiederholten Male wegen Diebstahls auffällig gewordenen Jugendlichen, in Untersuchungshaft genommen zu werden, im Landgerichtsbezirk Hildesheim 0,6 % , in einem vergleichbaren Landgerichtsbezirk in Bayern dagegen 36,3 %; das ist das Einundsechzigfache. Ähnliche Unterschiede gibt es bei der Verhängung von Jugendarrest und Jugendstrafe im Zusammenhang mit der Frage, ob und vor welchem Gericht Anklage erhoben wird und ob z. B. ein 19jähriger noch nach Jugendstrafrecht abgeurteilt wird.
Auch diese Feststellungen hätten meines Erachtens ebenso in die Beratungen zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes voriges Jahr einbezogen werden müssen wie das Votum der Sachverständigenkommission, daß für unter 16jährige Untersuchungshaft nicht mehr verhängt werden soll. Die SPD hatte dies beantragt; sie ist mit diesem Antrag nicht durchgedrungen. Möglicherweise wäre dies anders gewesen, wenn bereits damals der Achte Jugendbericht und die Feststellungen darin berücksichtigt worden wären.
Wie wenig ernst die Bundesregierung die im Achten Jugendbericht getroffenen Feststellungen und Bewertungen nimmt, läßt sich unschwer ihrer Stellungnahme dazu entnehmen. Sie greift Einzelaspekte und Einzeldaten heraus und benutzt sie ausschließlich zur Bestätigung ihrer eigenen Jugendpolitik, dies zum
Teil, indem sie die Aussagen ins Gegenteil verkehrt.
Auch hierzu ein Beispiel: Die im Bericht als besorgniserregend angeführte hohe Zahl von Sozialhilfeempfängern unter den Kindern unter 15 Jahren — es handelt sich um 8 % — und die Tatsache, daß 29 % der geschiedenen Mütter mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1 200 DM auskommen müssen, kommentiert die Bundesregierung ungerührt wie folgt:
Die materielle Lebensgrundlage der meisten Jugendlichen ist gut, die ihnen zur Verfügung stehenden Geldmittel sind so hoch wie nie zuvor, und ihre Ausstattung mit Konsumgütern ist komfortabel.
Ähnlich reagiert sie auf die Aussagen des Jugendberichts zum Problem Jugendarbeitslosigkeit. Dort wird festgestellt, daß es — das war 1988 — für bestimmte Gruppen von Jugendlichen — junge Ausländer, Aus- und Übersiedler, sozial- und bildungsmäßig benachteiligte Jugendliche — , insbesondere aber auch für Mädchen noch immer Probleme auf dem Arbeitsmarkt gibt. Dazu die Bundesregierung: Jugendpolitisch bedeutsam sei, daß der Mangel an Ausbildungsplätzen überwunden sei. Allenfalls in einigen Berufen sei er noch ein Thema. Die von Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor betroffenen Problemgruppen würden Unterstützung und Hilfe zur Verbesserung ihrer Chancen erhalten.
Zu dieser Problemgruppe zählen dann wohl auch die Mädchen, bezüglich derer die Bundesregierung an anderer Stelle immerhin einräumt, daß es geschlechtsspezifische Benachteiligungen gebe und daß die Benachteiligungen noch nicht im notwendigen Umfang hätten abgebaut werden können. Nur, ich frage mich: Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dieser Erkenntnis? Was beabsichtigt die Bundesministerin für Frauen und Jugend zu tun, um die Chancengleichheit für Mädchen beim Zugang in eine qualifizierte Ausbildung herzustellen?
Auch in den neuen Bundesländern sind Frauen und Mädchen überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen.
Dessen ungeachtet lehnt Frau Merkel Quotenregelungen zugunsten von Mädchen nachdrücklich ab, wie z. B. auch in Verbindung mit den zusätzlichen 10 000 Ausbildungsplätzen in der Bundesverwaltung. Sie verspricht lediglich, daß die Mädchen ihren gerechten Anteil an diesen Ausbildungsplätzen erhalten würden. Mit solchen Versprechungen weckt man bestenfalls Hoffnungen, die mangels verbindlicher Regelungen nicht eingelöst werden können.
Die bemerkenswert mangelnde Sensibilität in bezug auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit wird auch an der Äußerung unseres Bundesbildungsmi-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5677
Erika Simm
nisters in Verbindung mit der Ausbildungsplatzsituation in den neuen Ländern deutlich, hinsichtlich derer er von einem „Bombenerfolg" gesprochen hat. Daß rund 45 000 Jugendliche, die zunächst noch unter den Ausbildungsplatzbewerbern waren, dann in der Statistik nicht mehr erscheinen, ist für ihn offensichtlich nicht bemerkbar gewesen.
Ich denke, wir müssen uns um diese Jugendlichen kümmern;
denn sonst steht zu befürchten, daß sich die Zahl von schon jetzt 1,7 Millionen jungen Menschen ohne Ausbildung, die uns auf Grund der Jugendarbeitslosigkeit in den 80er Jahren geblieben sind, erhöhen wird.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat Anträge zur Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebotes in den neuen Ländern gestellt.
Wir fordern die Regierungsparteien auf, sich nicht mit einer scheinbar ausgeglichenen Ausbildungsplatzstatistik zu beruhigen,
sondern in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen gemeinsam mit uns zu beschließen.
Der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend wird die SPD-Fraktion zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Im Achten Jugendbericht wurden die zentralen Punkte Pluralisierung und Individualisierung der Lebenslagen von Jugendlichen und die stärkere Lebensweltorientierung der Jugendlichen in eindrucksvoller Weise beschrieben. Alle hiermit befaßten Ausschüsse haben zu Recht vorgeschlagen, daß der Neunte Jugendbericht auf dieser Grundlage die Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern in den Mittelpunkt stellen und hierbei die Vernetzung von Jugendhilfe, Arbeitswelt und Bildungspolitik noch stärker in den Vordergrund heben sollte.
Rekapitulieren wir dieses erste Jahr des vereinten Deutschland, so fallen in erschreckendem Maße — unfaßbar für die meisten Deutschen — Gewalttätigkeit, Gewaltbereitschaft und Beifall für rechtsradikale Aktionen von Jugendlichen in Ost und West gegen Ausländer auf. Politiker und Politikerinnen sind plötzlich aufgeschreckt und stellen fest, daß für den
Bereich der politischen Sozialisation neue Fragen aufgeworfen und neue Antworten gegeben werden müssen.
— Ich antworte nicht.
Die heutige Lebenssituation der Jugendlichen wird von zwei gegenläufigen Entwicklungstrends bestimmt. Auf der einen Seite ist auf Grund der zunehmenden Aufhebung und des Verlusts von traditionellen Identitäten, z. B. von Kirche und Nachbarschaft, eine Verstärkung von Individualisierungsschüben festzustellen, während auf der anderen Seite gleichsam eine Entindividualisierung im Sinne erhöhter Austauschbarkeit der Individuen infolge von Anonymisierung stattfindet. Hinzu kommen industriell erzeugte Risikopotentiale und weltweite Gefährdungen, z. B. Tschernobyl, Ozonloch, Aussterben des Regenwalds.
Wir müssen darum neue Antworten auf folgende Grundfragen finden: Welche Bedingungen müssen politisch geschaffen werden, damit Jugendliche aus Ost- und Westdeutschland ihre Chancen zu Selbstbewußtsein und sozialer Handlungsfähigkeit erhalten, damit sie mit den Anforderungen ihrer eigenen Biographie in der individualisierten Gesellschaft des neuen Deutschland und in Europa zurechtkommen?
Der Achte Jugendbericht und der Entschließungsantrag der CDU/CSU und der FDP machen deutlich, daß wir eine neue Jugendpolitik brauchen, eine Politik, die ihren Ort im Rahmen einer Gesellschaftspolitik gewinnen muß, die auf die besonders sensiblen Bereiche von sozialer Chancengleichheit konzentriert ist. Jugendpolitik in diesem Sinne ist eine Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche.
Ich will nun einen zentralen Aspekt künftiger Jugendpolitik herausgreifen, der bisher eher vernachlässigt wurde, aber ab 1993 enorm wichtig werden wird. Es geht um die Anforderungen des europäischen Binnenmarktes an unser Bildungssystem. Ich fände es phantastisch, wenn auch einmal ein EG-Bildungsgipfel ebenso spektakulär die Medien und die politische Öffentlichkeit beherrschte wie der jetzige Währungsgipfel.
Die Probleme und Perspektiven lohnten, ausführlich diskutiert zu werden. Wie viele junge Deutsche wissen eigentlich, was auf sie zukommt? Wir müssen über den nationalen Tellerrand hinausschauen; denn diese Probleme können nicht in und für Deutschland alleine gelöst werden. Wir müssen uns beeilen; denn mit dem europäischen Binnenmarkt in einem Jahr entsteht zwangsläufig ein europäischer Bildungsmarkt.
Bildung bekommt in der öffentlichen Diskussion und im politischen Handeln einen größeren Stellenwert, als sie bisher hatte.
Ich will an zwei Aspekten zeigen, was die Entwicklung zum europäischen Binnenmarkt für einen Ju-
5678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
gendlichen bedeutet, erstens im Bereich der spezifischen Qualifikationsanforderungen und zweitens bei den Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem.
Vorausschicken möchte ich aber eine Bemerkung zu den bildungspolitischen Kompetenzen. Bildungspolitische Verlautbarungen sind als solche rechtlich noch nicht verbindlich. Sie schaffen aber einen bildungspolitischen Konsens, von dem sich die Mitgliedstaaten im nachhinein nicht ohne weiteres lösen können. Kern der europäischen Bildungspolitik ist die Herstellung der Freizügigkeit und das Bestreben, der Bildung eine europäische Dimension zu geben. Aus dem Ziel, die Freizügigkeit herzustellen, ergibt sich das Anliegen, EG-ausländerdiskriminierende Hindernisse beim Zugang zu Ausbildungseinrichtungen zu beseitigen, die Anerkennung und Gleichwertigkeit von Ausbildungsabschnitten und -abschlüssen in den Mitgliedstaaten voranzutreiben sowie Grundsätze einer gemeinsamen Berufsausbildungspolitik festzulegen.
Kompetenzeinbußen der Mitgliedstaaten ergeben sich als Folge der europäischen Bildungspolitik in der allgemeinschulischen Bildung, im Hochschulbereich, in der Berufsaus- und Weiterbildung sowie in damit im Zusammenhang stehenden Materien des Aufenthaltsrechts, der Ausbildungsförderung und des Beamtenrechts. Im Schul- und Hochschulbereich sind darum im wesentlichen die deutschen Bundesländer von Kompetenzverlusten betroffen.
Welches sind also die spezifischen Qualifikationsanforderungen bei der Vollendung des europäischen Binnenmarktes? Aus einer zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft lassen sich spezifische Qualifikationsanforderungen erkennen. Sie ergeben sich aus der Erweiterung der Absatz- und Beschaffungsmärkte über die nationale Ebene hinaus, der tendenziellen Vereinheitlichung der Arbeitsmärkte und den erweiterten Kooperationsbeziehungen zu ausländischen Unternehmen. Zentrale Anforderungen sind darum: Sprachkenntnisse, Kenntnisse der soziokulturellen Situationen, Anpassungsfähigkeit und Toleranzbereitschaft und Kenntnisse der Unternehmenskulturen. Teilweise entstehen dadurch neue Berufsgruppen, z. B. Eurojurist, Eurosteuerberater und anderes.
Im Zuge der Internationalisierung und Liberalisierung der Arbeitsmärkte entsteht die internationale Personalrekrutierung und damit die Notwendigkeit des internationalen Qualifikationsvergleichs. Die Dynamik des Wirtschaftens verlangt von den Bildungssystemen eine optimale Anpassung des Qualifikationsangebots an die geforderten Profile.
Welche Herausforderungen muß in diesem Kontext das deutsche Bildungssystem bewältigen? Die bisherigen Rahmenbedingungen für das deutsche Bildungssystem, seine Leistungsfähigkeit in bezug auf die berufliche Qualifizierung, seine Akzeptanz bei den Nachfragern und seine gewachsenen Strukturen, stehen zur Diskussion, eventuell auch zur Disposition. Die meisten Bundesländer unternehmen angesichts der europäischen Einigung nun schon Anstrengungen zur Steigerung der Effizienz im Schul- und Hochschulbereich, nämlich durch die Verkürzung der
Gymnasial- und der Studienzeit, durch Versuche zur erhöhten Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen, vor allem zwischen Realschule und Hauptschule, und durch die Reform der reformierten Oberstufe, durch die die Kernfächer mehr Gewicht bekommen sollen.
Ich will an dieser Stelle aus Sicht der FDP noch einmal auf die Verkürzung von Gymnasial- und Studienzeit auf dem europäischen Hintergrund eingehen. Wir wollen diese Verkürzung;
aber Verkürzung ist kein Wert an sich. Sie kann nur dann fruchtbar sein, wenn die Rahmenbedingungen verbessert und flankierende Maßnahmen an Schulen und Hochschulen geschaffen werden. Wer das achtjährige Gymnasium will, muß die Lehrpläne in allen Stufen durchforsten und die bisherigen Bildungsziele überprüfen.
Das ist eine mühsame Aufgabe, vor der sich alle Verantwortlichen drücken, weil es sich nämlich hier um eine Neudefinition des Gymnasiums in unserem mehrgliedrigen Schulsystem handelt. Das Gymnasium darf sich nicht länger zur „höheren" Gesamtschule entwickeln lassen, sondern muß wieder eine Schule für die wirklich begabten und leistungsfähigen Jugendlichen sein.
Ein achtjähriges Gymnasium könnte zu diesem Ziel führen.
Wer eine Studienzeitverkürzung will, muß auch die materielle Situation der Studierenden und die Lehr- und Lernsituation in den Hörsälen verbessern. Eine Studienzeitverkürzung wird ohne eine Generalüberholung im gesamten Hochschulbereich nicht herzustellen sein.
Wenn man — wie die FDP — die Reglementierung des Hochschulzugangs nicht will, muß man die Hochschulen ausbauen, und das kostet Geld, viel Geld.
Der Bund hat durch Sonderprogramme Hervorragendes geleistet. Aber die Länder haben diese Leistungen bisher nicht fortgesetzt.
Bildungsinvestitionen sind jedoch, meine Herren, meine Damen, die wichtigsten Zukunftsinvestitionen in unserer Gesellschaft; das kann nicht oft genug wiederholt werden. Im europäischen Vergleich sind die Ausbildungszeiten in Deutschland einfach zu lang. Das Institut der deutschen Wirtschaft errechnete kürzlich, daß das Berufseintrittsalter bei deutschen Akademikern bei 28 Jahren liegt; britische, amerikani-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5679
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
sche und japanische Studenten sind fünf Jahre eher fertig!
Es muß aber nicht nur ein einzelner Ausbildungsabschnitt überprüft werden, sondern die Gesamtsumme aller Ausbildungsbereiche. Die dadurch entstehenden Wettbewerbsnachteile werden für unsere jungen Leute existenzgefährdend. Wir müssen endlich von der Ideologie Abschied nehmen, daß Bildung und Ausbildung mit dem Schul- bzw. Hochschulabschluß beendet seien. Wir alle wissen, daß „life-long-learning" Wirklichkeit werden wird. Über das Wie der Verkürzung muß noch gestritten werden. Aber es muß endlich die politische Entscheidung, nämlich eine Verkürzung zu wollen und sie zu finanzieren, getroffen und durchgesetzt werden.
Im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung müssen die Differenzen zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem überwunden werden. Die Schwerpunkte liegen hier beim Ausbau eines differenzierten Bildungsangebots und im Bereich der Weiterbildung nach Qualifikationen sowie bei der Verknüpfung von Aus- und Weiterbildungsformen im Sinne einer lebenslangen Qualifizierung.
Die EG-Integration beschleunigt den Strukturwandel nachhaltig. Auch andere EG-Länder sehen im Ausbau eines leistungsfähigen Bildungssystems eine vordringliche Aufgabe. EG-Länder wie Portugal und Griechenland haben bereits die Anzahl der schulpflichtigen Jahre auf neun, Spanien sogar auf zehn erhöht. In anderen EG-Ländern wie Frankreich oder Großbritannien geht es vor allen Dingen um eine Steigerung der Effizienz des vorhandenen Bildungs- und Ausbildungssystems. Zahlreiche Entschließungen des Rates zeugen schon jetzt von einem breiten Bemühen zur Verbesserung der beruflichen Bildung und des Übergangs Jugendlicher ins Erwerbsleben. Es gibt Aktionsprogramme, die den grenzüberschreitenden Austausch verstärkt fördern, z. B. Erasmus Comett, Lingua, Petra, Eurotecnet, Force. Diese Angebote müssen von den Jugendlichen aber auch angenommen werden, und wir Politiker müssen dafür werben.
Hierzu ein paar erschreckende Zahlen: 1986 waren nur 2,5 To der deutschen Studenten an einer Hochschule außerhalb ihres Heimatlandes immatrikuliert. Von den ca. 1,4 Millionen deutschen Studenten studierten 1988 rund 25 000 — das waren 2,8 To — im Ausland. Diese Studenten sind zu einem Drittel an Hochschulen in EG-Ländern, der Rest ist vorwiegend in Österreich und der Schweiz eingeschrieben. Den rund 25 000 deutschen Studenten im Ausland standen 1988 ca. 86 000 ausländische Studenten in Deutschland gegenüber. 20 000 davon kamen aus anderen EG-Ländern.
Warum ermutigen wir Erwachsene unsere jungen Leute nicht genügend, im Ausland zu studieren? Warum schaffen wir nicht mehr ideelle und materielle Anreize?
Sicher, es gibt Hürden bei Auslandsaufenthalten, z. B. Zulassungen an Hochschulen und Schulen, Studiengebühren, Lebenshaltungskosten und Probleme bei der Anerkennung von Studienleistungen im Ausland.
Hier sind aber auch die Eltern gefragt, diese Aufenthalte mitzufinanzieren. Sie lohnen sich in jedem Fall.
Ich komme zum Fazit. Der Bildungsbereich ist im Vergleich zum ökonomischen Bereich außerordentlich schwerfällig, und zwar aus zwei Gründen: Erstens: Veränderungen sind auf einen Konsens und die aktive Mitwirkung vielfältiger und großer Gruppen angewiesen, nämlich der Schüler und Schülerinnen, der Eltern, der Lehrenden, der Wirtschaft, der Interessenverbände. Zweitens: Der Zusammenhang zwischen Input und Output ist im Bildungsbereich wegen der langen Dauer der Bildungsprozesse in unserer Gesellschaft und der immer noch vorherrschenden starren Zuordnung zu einem bestimmten Lebensalter schwer zu erkennen. Hier müssen Änderungen vorgenommen werden.
Aber neben der zunehmenden ökonomischen Konkurrenz müssen Fähigkeit und Wille zur Kooperation entwickelt und schwerpunktmäßig über Bildung — es geht nur über Bildung — vermittelt werden. Die Kooperationsfähigkeit bezieht sich vor allem auf die Entwicklung von Toleranzfähigkeit und die Wahrung und Respektierung aller Identitäten. Die Vielzahl der EG-Aktivitäten kann eine eigenständige europäische Bildungspolitik in Deutschland nicht ersetzen. Deshalb müssen wir unsere Töchter und Söhne motivieren und unterstützen, den ganzen europäischen Binnenmarkt als Studien- und Arbeitsplatz, als Heimat, anzusehen.
Vielen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwischen der Auftragsvergabe an die Sachverständigenkommission im Jahre 1986 und der heutigen Debatte und Beschlußfassung zum Achten Jugendbericht liegen mehr als fünf Jahre. Drei Jahre haben die Expertinnen und Experten für ihre umfassende und inhaltsreiche Arbeit benötigt; zwei Jahre haben die parlamentarischen Mühlen gemahlen. Das ist natürlich viel zu lange, vor allem wenn man bedenkt, daß in unserem Land tiefgreifende Umbrüche stattgefunden haben und daß durch den Anschlußprozeß
eine Unzahl neuer Fragen und Probleme der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern entstanden und in den alten hinzugekommen sind.
Ich muß sagen: Mir will es überhaupt nicht einleuchten, daß es in dem nunmehr ablaufenden Jahr nicht möglich gewesen sein soll, zumindest einen Aufriß der Problemlagen von Jugendlichen in den neuen Ländern zu liefern.
5680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Petra Bläss
Material dazu liegt reichlich vor. Es wurde teilweise ohne spezielle Fördermittel nur auf der Grundlage persönlichen Engagements erstellt, so die repräsentative Umfrage des Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung in Berlin „Jugend nach der Vereinigung" vom April 1991 oder der Report-Texteband zu Kindern und Jugendlichen aus der DDR und zur Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Studien hier in die Debatte einzubeziehen hätte für mich wirklich einen Sinn gemacht. Vielleicht wäre es dann auch möglich gewesen, den Auftrag für den Neunten Jugendbericht,
der sich endlich mit der Situation von Jugendlichen und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern befassen soll, präziser und weniger allgemein zu formulieren. Vielleicht wären dann schon heute Konsequenzen auch für die neuen Bundesländer möglich
und nicht erst dann, wenn dort alle bisherigen Jugendstrukturen plattgemacht sind und Jugend- und Kinderarbeit in die Obhut der Familien verwiesen ist.
— Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen. Lassen Sie mich wenigstens ausreden.
Was mich persönlich in diesem Zusammenhang besonders ärgert, ist, daß nicht nur Materialien, die nicht über große Regierungsaufträge zustande gekommen sind, nicht zur Kenntnis genommen werden, sondern in der Zwischenzeit auch wissenschaftliche Einrichtungen einfach abgewickelt werden und damit Kompetenz und Expertentum im Bereich der Jugendforschung brachliegt. Ich füge an: Zum Glück gibt es hier auch Ausnahmen. Ich denke an die Leipziger Jugendforscherinnen und -forscher.
Meine Damen und Herren, trotz dieser Kritik bin ich der Auffassung, daß der vorgelegte Bericht nicht entwertet wird, weil er nur eine Analyse der Lage von Kindern und Jugendlichen in den Altbundesländern liefert. Im Gegenteil, ich als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern habe daraus viel nehmen können, und er hat mir zu wertvollen Erkenntnissen verholfen, beispielsweise, welchen Sprengsatz eine verfehlte oder vernachlässigte Kinder- und Jugendpolitik in sich birgt und was Jugendhilfe leisten muß,
die nicht nur auf Probleme reagieren will, sondern den Anspruch formuliert, eigenständige Rechte von Kindern und Jugendlichen zu wahren und sie in der Erweiterung ihrer Lebensräume zu unterstützen, im Zweifelsfall auch gegenüber der Familie.
Die These, daß es angesichts der Pluralisierung von Lebenslagen der Jugendlichen darauf ankommt, ein differenziertes Jugendhilfeangebot zu entwickeln, das sich an den unterschiedlichen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen orientiert und sie zu Subjekten der Gestaltung ihrer eigenen Lebensentwürfe macht, leuchtet mir sehr ein. Ebenso bin ich mit der Konsequenz einverstanden, die von den Sachverständigen gezogen wurde: Sie fordern, daß die Anliegen der Jugendhilfe auch in allen anderen wichtigen Politikfeldern zur Geltung kommen, sich die Jugendhilfe nicht auf das angeblich Machbare beschränkt, sondern sich offensiv in die Gestaltung lokaler und überregionaler Lebensbedingungen einschaltet. Das bedeutet Einmischung in Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik, in Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik, in Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik usw.
Was heißt es wohl für die Lebensräume von Kindern, wenn sich im Land Brandenburg die Zahl der verkehrstoten Kinder in einem Jahr um 100 % erhöht hat, wie es durch alle Zeitungen geistert? Das ist nur ein winziges Beispiel für die Querschnittsaufgabe der Jugendhilfe und ihre notwendige Verknüpfung mit allen Politikfeldern.
Das zweite Standbein der Jugendhilfe muß — diese Auffassung teile ich vollständig — darin bestehen, dort mit einem umfangreichen Aufklärungs- und Gestaltungsangebot präsent zu sein, wo die Adressatinnen und Adressaten für Jugendhilfe unmittelbaren Handlungs- und Gestaltungsbedarf haben, so in der Straßensozialarbeit, bei der mobilen Jugendhilfe und anderen Formen jugendspezifischer Gemeinwesenarbeit. Ich denke, daß es einem im Bericht konstatierten gewachsenen Individualisierungsbedürfnis entspricht, wenn über die Jugendhilfe Selbstorganisation und Selbsthilfeinitiative gefördert wird, z. B. in der Jugendberatung oder in der Suchthilfe, aber auch in der Entwicklung von selbständigen Arbeits- und Wohngemeinschaften.
Für mich ist es nach wie vor das wichtigste an dem vorliegenden Jugendbericht, daß dort der Anspruch auf Kinderbetreuung eindeutig untermauert ist. Doch ich finde es unerträglich, daß zur Realisierung dieses Anspruchs in den alten Ländern viel zu wenig getan und daß in den neuen Bundesländern zugelassen wird, daß vorhandene Möglichkeiten zunichte gemacht werden.
Eigentlich braucht einen das alles aber gar nicht zu wundern. Das ist mein weiterer Erkenntnisgewinn aus dem Studium der heute zur Debatte stehenden Unterlagen: Es ist schon erstaunlich, wie die Bundesregierung einen so fundierten Jugendbericht rezipiert. Aus der umfangreichen Analyse und der ausdifferenzierten Palette von Maßnahmen für die Kinder- und Jugendpolitik den Schluß zu ziehen, daß es zentrales Anliegen der Jugendhilfe sein soll, der Familie dabei zu helfen, daß sie ihre Aufgaben wieder besser wahrnehmen kann, ignoriert vollständig die Auffassung der Sachverständigen, wonach nicht die Familie, sondern Kinder und Jugendliche zum Subjekt der Aktivitäten der Jugendhilfe gemacht werden sollen.
Noch etwas anderes ist bedrückend an der Stellungnahme der Bundesregierung: Sie geht nicht ein auf die benannten Problem- und Krisensituationen, sondern bagatellisiert und beschönigt. Am deutlichsten wird dies im Umgang mit der Tatsache, daß 8 % der Jugendlichen unter 15 Jahren Sozialhilfe beziehen, fürwahr kein privates Problem der Familien allein.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5681
Petra Bläss
Nachlässig finde ich auch, daß die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme nicht wenigstens einmal auf Defizite des vorliegenden Jugendberichts bzw. darauf verweist, daß in nachfolgenden Berichten weitere Spezifizierungen, etwa nach Geschlecht, aber auch nach Region, vorgenommen sowie zusätzliche Problembereiche wie z. B. Gewalt in der Familie, Kindesmißhandlungen und Mißbrauch von Kindern untersucht werden müssen.
Darüber hinaus — und in diesem Sinne verstehe ich auch die heutige Beschlußvorlage — muß, denke ich, der vorliegende Bericht gründlich bei der Formulierung der Fragestellungen zu Rate gezogen werden, die im Neunten Jugendbericht abgehandelt werden sollen. Wir sind selbstverständlich sehr dafür, daß wir noch im nächsten Jahr einen ersten Zwischenbericht zur Jugend- und Kindersituation in den neuen Bundesländern auf den Tisch bekommen.
Meine Damen und Herren, zur heutigen jugendpolitischen Debatte liegen uns drei Entschließungsanträge vor, und zwar von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste. Hier möchte ich einschieben, daß ich mich mehr gefreut hätte, wenn es dazu gekommen wäre, daß wir einen gemeinsamen interfraktionellen Antrag eingebracht hätten,
der auch eine Forderung vieler tausend Jugendlicher, vor allem aus den neuen Bundesländern, enthalten hätte: Erhalt des Jugendsenders DT 64.
Proteste gegen die im Rahmen der Abwicklung der ostdeutschen Funkmedien anstehende Abschaltung des Jugendsenders hagelt es schon seit vielen Monaten. Inzwischen sind DT-64-Hörerinnen-und-Hörerinitiativen wie die Dresdner Freunde des Jugendradio DT 64 in breit angelegten Unterstützungskampagnen wie der Sammlung von über 100 000 Unterschriften für den Erhalt des Senders wirksam geworden und haben sich dabei schon mehrfach mit ihrem Anliegen an uns Verantwortung tragende Politikerinnen und Politiker gewandt — und dies wohl aus gutem Grunde; denn ca. 1 Million Hörerinnen und Hörer sollten für uns Abgeordnete keine zu vernachlässigende Minderheit sein.
Hier sei angemerkt, daß DT 64 in den letzten zwei Jahren auch in den alten Bundesländern, zumindest in den Teilen, wo es zu empfangen ist, viele neue Stammhörerinnen und -hörer gewonnen hat, die sogar die Ausdehnung des Sendegebiets auf die ganze Bundesrepublik fordern.
Zu Recht stellen die DT-64-Fans — und ich will nicht verheimlichen, daß ich mich zu ihnen zähle — fest, wie schwer es ist, ein Jugendprogramm aufzubauen, das von Jugendlichen auch wirklich angenommen wird, und weisen auf die politische Absurdität und Fahrlässigkeit hin, im Angesicht sozialer Verwerfungen, zunehmender Radikalisierung der Jugend, wachsenden Fremdenhasses, der Orientierungslosigkeit eines großen Teils der Jugendlichen und der latenten Gewaltbereitschaft im Alltag ein Programm,
das sich wie kein zweites in Deutschland genau diesen Problemen stellt, zur Disposition zu stellen,
noch dazu zu einer Zeit, wo dieser Sender endlich seiner ursprünglichen Berufung gerecht werden kann: der Förderung des Zusammenwachsens der Jugend in Ost- und Westdeutschland.
Hinter der Bezeichnung „DT 64 " steckt nämlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Anlaß der Aufnahme des Sendebetriebs, das Deutschlandtreffen 1964. Warum wird bei der Neuordnung der ostdeutschen Rundfunklandschaft völlig ignoriert, daß DT 64 schon vor dem Herbst oft der einzige streitbare Ort der Selbstverständigung junger Leute in den Medien war, daß einige Moderatorinnen und Moderatoren zu DDR-Zeiten mit Redeverbot belegt bzw. aus dem Sendeteam entfernt wurden, da sie der offiziellen Linie zuwiderargumentierten oder sich dem Vortragen bestimmter Nachrichten — ich erinnere an die China-Ereignisse im Juni 1989 — verweigerten, daß DT 64 mit Vehemenz den tiefgreifenden Prozeß demokratischen Wandels in Ostdeutschland durch Programme und Aktionen unterstützte und daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon im November 1989 die damalige Leitung aus dem Amt drängten?
Meine Damen und Herren, wir Anhängerinnen und Anhänger des Jugendradios DT 64 sind der festen Überzeugung, daß diese Bundesrepublik einen Sender wie DT 64 braucht, ein Jugendprogramm, das auf Grund seiner Geschichte für viele Jugendliche ein Teil ihrer Identität ist, . . .
Frau Bläss, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hatte aber 15 Minuten, die ganze Redezeit der Fraktion.
Dann stellen wir um.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin auch gleich fertig:... ein Jugendprogramm, das auf ein bisher bewährtes journalistisches und jugendkulturelles wie musikalisches Angebot zurückgreifen kann, das den Prozeß des Zusammenwachsens beider Teile Deutschlands und insbesondere seiner Jugend kritisch, kompetent und konstruktiv begleitet, ein Jugendprogramm, das sich im Rahmen seiner Möglichkeiten der Aufarbeitung der Geschichte der DDR stellt und das so nicht unwesentlich zum Finden einer eigenen Identität in einem Prozeß tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs beiträgt.
Lassen Sie mich mit der Losung der Freunde von DT 64 schließen: Keine Funkstille für die Jugend! Wo ein Wille ist, da ist auch eine Frequenz.
Jetzt bin ich wirklich fertig.
Als nächster hat der Abgeordnete Konrad Weiß das Wort.
5682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Achte Jugendbericht der Bundesregierung, den der Bundestag in der letzten Sitzungswoche des Jahres 1991 behandelt, stammt aus dem Frühjahr 1990. Ich weiß, wie viele wichtige Themen in der Zwischenzeit in diesem Hause behandelt wurden, und ich weiß auch, daß wir alle nicht gefaulenzt haben. Dennoch ist diese Verzögerung nicht zu rechtfertigen. Es gibt nichts, was wichtiger sein könnte als die Jugend in unserem Land.
Würden wir uns in dieser Debatte auf den Achten Jugendbericht beschränken, hinkten wir der Zeit, den Ereignissen in Deutschland hoffnungslos hinterher. Die Jugendlichen, von denen der Bericht handelt, sind inzwischen erwachsen, der Bericht hat einen Bart. Die Konsequenz sollte sein, daß wir die Bundesregierung auffordern, alle zwei Jahre einen Jugendbericht zu erstellen,
und daß das Parlament sich verpflichtet, diesen binnen eines Vierteljahres auch zu behandeln. Nur so ist gewährleistet, daß aus dem Bericht unmittelbar und für die Betroffenen wirksam politisches Handeln werden kann.
Auch der Themenkatalog muß dringend überdacht werden und hat künftig insbesondere auch jene jugendpolitischen Felder zu berücksichtigen, die durch die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung gekommen sind. Mir scheint unverzichtbar, Jugendpolitik im Zusammenhang mit Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik zu begreifen. Politisches Ressortdenken muß abgelöst werden durch emanzipatorisches und integratives Denken und Handeln, das alle gesellschaftlichen Bereiche umfaßt.
Wir unterstützen daher den Beschluß des Ausschusses für Frauen und Jugend, die Bundesregierung zu beauftragen, bis zum Juni 1992 einen Zwischenbericht zur Situation der Jugendlichen in den östlichen Bundesländern zu erstellen. Darüber hinaus sollten wir uns vornehmen, offen zu sein für aktuelle Anforderungen, um auf brennende jugendpolitische Fragen Antworten zu finden und als Gesetzgeber schnell und unbürokratisch handeln zu können.
Die Bereitschaft zur Gewalt ist gegenwärtig in Ostdeutschland, aber nicht nur dort, ein solches brennendes Problem. Darin manifestieren sich Werteverlust, Enttäuschung, Desillusionierung, Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit. Junge Menschen in Ostdeutschland erleben — ich zitiere den sächsischen Wissenschaftsminister Meyer — ein „Wechselbad von Hoffnungen und Enttäuschungen". Ihr vertrautes Umfeld wandelt sich in einem ungeheuren Tempo. Gerade für Jugendliche in der Pubertät, die angesichts der inneren Verunsicherung auf äußere Beständigkeit und Geborgenheit angewiesen sind, ist das eine außerordentliche Belastung. Eine Befragung unter 14jährigen Schülerinnen und Schülern in Leipzig ergab, daß 85% von ihnen daran zweifeln, ob es Gerechtigkeit in der Welt gibt.
Die Ursachen liegen aber auch im Politischen. Das Training autoritär-hierarchischer Strukturen begann in der DDR im frühesten Kindesalter. Die tragenden Werte des Erziehungsideals der SED waren: um jeden
Preis Disziplin, Sauberkeit und Ordnung. Sie beherrschten die Gesellschaft und wurden in Schule und Familie Kindern und Jugendlichen oktroyiert. Solche Prägungen verschwinden nicht von einer Wende zur anderen. Diese Deformierungen und Verkrüppelungen heilt keine D-Mark und kein Einheitsfeuerwerk.
Der Antifaschismus war zur leeren Worthülse, zur verordneten und ungeliebten Pflichtübung verkommen. Die Heranwachsenden wurden tagtäglich mit der Doppelzüngigkeit ihrer Eltern und Lehrer konfrontiert. Alle konnten die sozialistischen Phrasen herbeten, aber kaum einer glaubte daran. Die Jugendlichen verloren ihr Grundvertrauen und das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Erwachsenen. Diese Generation ist eine entwurzelte Generation. Der Provinzialismus der DDR tat sein übriges. Ein positives Erleben von Fremden war politisch nicht gewollt, war gefürchtet und unterdrückt oder wurde bei steif organisierten Begegnungen als Alibi mißbraucht. Dabei wurden Feindbilder erzeugt, deren Ausmaß wir heute mit Entsetzen erleben.
Die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Wahrheit waren ideologisiert und erstarrt. Vom Kindergarten an wurde indoktriniert, eine kritische Auseinandersetzung, gar die Ablehnung durfte es nicht geben. Die sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung bildete Inhalt, Ziel und Grenze des Denkens und Fühlens. Entweder wurden die Kinder und Jugendlichen durch diese Dauerberieselung immunisiert, oder sie gerieten in eine psychosoziale Krise, weil es das Ideal in der Wirklichkeit nicht gab.
Nach der Vereinigung erleben diese Jugendlichen nun den offenen Zusammenbruch aller Werte. Die Zeit des Aufbruchs im deutschen Herbst, die Zeit der Freude und Hoffnung nach der Maueröffnung war für viele zu kurz, um dauerhaft tragfähig zu sein. Viele junge Menschen erleben die neue Gesellschaft nicht als befreiend und freiheitlich, weil die Vereinigung ihnen wie allen Ostdeutschen eine erdrückende Fülle von Anpassungszwängen auferlegt. Es wird von ihnen ein soziales Verhalten erwartet und gefordert, das sie zu DDR-Zeiten nicht lernen konnten. Die Folge ist erneute Anpassung oder aber Verweigerung.
Der Vereinigungsprozeß mit seinen wirtschaftlichen Zwängen und Härten, die Vergötzung der Marktwirtschaft und die oftmals rigiden Praktiken hemdsärmeliger Neokapitalisten wirken sich unmittelbar auf die Lebensbereiche Jugendlicher aus. Die ökonomische Gewalt in den östlichen Bundesländern fördert die ohnehin vorhandene Aggressionsbereitschaft. Fehlende Lehrstellen, die eigene Arbeitslosigkeit oder die der Eltern bewirken, daß sich junge Menschen alleingelassen, ungebraucht und überflüssig fühlen. Verzweifelt suchen sie nach Halt, nach Werten, nach glaubwürdiger Autorität. Aus den Rudimenten der alten, noch im Unbewußten wesenden sozialistischen Idologie, aus neuen verquasten Heilslehren oder aus altneuem deutschnationalem Gedankenungut basteln sie sich eigene brutale „Überlebensphilosophien" . Gewalt wird ihre Lebenswirklichkeit.
Wut oder Ohnmacht junger Menschen sind letztlich Ausdruck des „Sich-nicht-Wiederfindens" in der neuen Gesellschaft. Beides können wir nicht wollen,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5683
Konrad Weiß
denn gerade jetzt bedarf es einer jungen, innovativen Generation, um die anstehenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Passivität und Resignation aber untergraben ebenso wie Radikalismen jedweder Couleur unsere Demokratie.
Eine Umfrage hat ergeben, daß lediglich 10 % der Jugendlichen in den östlichen Bundesländern zu polltischem Engagement bereit sind. Der Vertrauensverlust gegenüber Parlamentariern und Politikern birgt die Gefahr in sich, daß unsere Politik ins Leere läuft, daß wir die Jugendlichen nicht mehr erreichen.
Der von meiner Fraktion, der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN, eingebrachte Entschließungsantrag zum Erhalt der Jugendsender „DT 64" und „elf 99" resultiert aus der Erkenntnis, daß in dieser Phase grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen das Bewahren der kulturellen Identität zu Verständnis und Verständigung und zur friedlichen Konfliktbewältigung beitragen kann. Es ist eine Binsenweisheit, daß Identifikation eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen großer Zuschauer- und Zuhörergruppen ist.
Daß dies den ostdeutschen Jugendsendern gelungen ist, beweisen die vielen Initiativen, Freundeskreise, Vereine, beweist die Fürsprache von Politikern, Parlamentariern, Künstlern, beweisen zehntausend Unterstützerunterschriften, die täglich hinzukommen. Bei diesen Jugendsendern geht es nicht um die eine oder andere Musikrichtung oder um das eine oder andere schicke Programm. Es geht um den Erhalt von Kommunikationsmitteln, die den Zuschauern und Hörern die Identifikation ermöglichen, die es ermöglichen, sich selbst wiederzufinden — die eigene Sprache, die eigenen Probleme, die eigene Lebenssituation.
Das macht eine bewußte, konstruktive Auseinandersetzung möglich.
Überall kann man lesen und hören, kann man es im täglichen Leben erfahren, daß die Mauer in den Köpfen und Gefühlen der Menschen schwerer einzureißen ist als die Mauer aus Beton. Das kann auch nicht anders sein. 40 Jahre driftete Deutschland auseinander. Junge Menschen wurden in das eine oder in das andere Deutschland hineingeboren, sind von dem einen oder von dem anderen geprägt. Ihnen fällt es besonders schwer, neue Bezugssysteme zu erkennen und anzunehmen. Ostdeutsche Jugendliche haben vieles von dem, was ihnen vertraut war, aufgegeben und verloren oder aber freudig ausgetauscht.
Vieles aus der vertrauten Welt ist schmerzhaft, aber rational nachvollziehbar abgewickelt worden. Auch die Abschaltung der ostdeutschen Jugendsender ist rational nachvollziehbar, ist eine Konsequenz des von der Mehrheit der Ostdeutschen so gewollten Einigungsprozesses. Die Abschaltung dieser Sender — das beweist die Fülle der Aktionen — scheint für die Jugendlichen geradezu zum Symbol der einheitsbedingten Verluste geworden zu sein. Sie empfinden das drohende Verstummen der Sender als Kahlschlag, der sie direkt betreffen und oft auch starke emotionale Bindungen sprengen würde.
Man kann zu DT 64 und elf 99 sicher unterschiedlicher Meinung sein. Das aber ist sicher: Sie werden stumm bleiben, wenn sie erst abgeschaltet sind. Und es gibt nichts, was die Lücke füllen kann. Denn es gibt bisher keine staatsvertragliche Einigung der Ministerpräsidenten, die über die Neuverteilung der Frequenzen beschlossen hätte. Es gibt keine neuen Sender, die — ob privat- oder öffentlich-rechtlich — die verfassungsrechtlich zugesicherte Grundversorgung für jugendliche Hörer übernehmen könnten.
Es gibt nicht einmal Politiker, die sich grundsätzlich gegen den Fortbestand der Sender aussprechen. Es ist höchstens die Rede davon, daß die föderale Struktur eine solche Regelung leider nicht zulasse; oder: daß sie leider nicht zuständig seien; oder: daß ihnen die Musik nicht gefalle; oder aber: daß man Altlasten beseitigen müsse, daß es gar keinen Bedarf für ein überregionales Programm gebe.
Dem entgegen stehen Unterschriftensammlungen, Montagsdemos unter dem Motto „Keine Gewalt!" , Mahnwachen, Aufrufe von Prominenten aller politischer Lager, Spendenkonten, Benefizkonzerte. Mich erinnern diese bisher durchweg friedlichen Aktionen an die gewaltlose Kraft des Deutschen Herbstes: Qualifizierte Minderheiten artikulieren rechtsstaatlich ihren Willen. Geben wir dem Jugendfunk die Chance, zu beweisen, daß er ist, was die vielen in ihm sehen, die sich jetzt für ihn einsetzen.
Ich bitte die Ministerpräsidenten der Länder, dem Willen so vieler Jugendlicher und Junggebliebener — von Uwe Lühr bis Herbert Grönemeyer, von Superintendent Ziemer bis Wim Wenders — zu entsprechen und in Wernigerode in den nächsten beiden Tagen einen Weg für den Erhalt der Sender zu suchen.
Ich appelliere an die Bundesregierung, nicht zuzulassen, daß die integrative Potenz der ostdeutschen Jugendsender verlorengeht.
Und ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, von dem Recht Gebrauch zu machen, das der Einigungsvertrag uns übertragen hat, nämlich Bundesmittel für die übergangsweise Mitfinanzierung solcher Einrichtungen freizugeben, die zur Überwindung von Teilungsfolgen beitragen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort jetzt der Abgeordneten Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn im Deutschen Bundestag eine jugendpolitische Debatte geführt wird, erwartet man vielleicht, daß berichtet wird, was für die Jugendhilfe, die Jugendarbeit oder für die Jugendverbände geleistet wurde. Den Leistungen stellt man dann die Forderungen entgegen. Und tatsächlich: Es gibt eine ganze Reihe von sinnvollen Vorschlägen, was jugendpolitisch zusätzlich getan werden könnte.
5684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Claudia Nolte
Doch ob eine Regierung Politik für die Jugend macht, kann doch nicht allein daran gemessen werden, wie hoch die finanziellen Mittel sind, die eingesetzt werden. Da wurde von der jetzigen Bundesregierung übrigens einiges getan: Über 200 Millionen DM stellt der Bund 1992 für den Jugendetat zur Verfügung; davon allein 50 Millionen DM zusätzlich für die fünf neuen Bundesländer.
Es kann ebenfalls nicht daran gemessen werden, ob wir ein eigenständiges Jugendministerium haben. Das haben wir — und mit Angela Merkel eine hervorragende Ministerin.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß Angela Merkel in der kommenden Woche zur stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden gewählt wird.
Die anderen reden davon, jungen Menschen und Frauen eine Chance zu geben; die CDU tut es.
Schließlich kann Jugendpolitik nicht nur daran gemessen werden, wieviel die führenden Politiker über die Jugend sprechen. Entscheidend ist doch, daß in allen Bereichen eine Politik formuliert und umgesetzt wird, die der jungen Generation ihre Chancen läßt.
Noch nie in der deutschen Geschichte hatten Jugendliche eine so gute Ausgangsposition, wie wir sie haben. Materiell geht es uns so gut wie nie zuvor. Seit über 40 Jahren leben wir Deutschen in Frieden, und seit zwei Jahren sind alle Deutschen frei. Uns stehen Perspektiven offen, von denen unsere Eltern und Großeltern nicht einmal zu träumen wagten, Perspektiven, die meine ostdeutschen Altersgenossen und ich vor zwei Jahren für nicht möglich gehalten haben.
Europa wächst zusammen vom Atlantik bis zum Ural. Der große EG-Binnenmarkt ab 1993 bietet gerade für junge Menschen zusätzliche Perspektiven.
Jung sein heute, das heißt, die vielfältigen Möglichkeiten, die sich uns heute bieten, nutzen.
Zu Unrecht wird uns Jugendlichen Anspruchsdenken nachgesagt. Als Bewohnerin der ehemaligen DDR weiß ich, wie belastend es sein kann, wenn der Staat sich zu sehr um die Jugendlichen kümmert. Man wollte es uns so leicht wie möglich machen und uns alle Lasten abnehmen: die Erziehung, die Suche nach einer Lehrstelle bzw. nach einem Studienplatz, ja selbst die eigene Meinung.
Natürlich geschah das nicht ganz umsonst: Man erwartete Zustimmung zur Partei und Treue zum Staat. Schlecht war das für diejenigen, die auf die Vollversorgung gern verzichtet hätten und selber denken wollten.
Ich kann Ihnen versichern: Wir wollen keine Vollversorgung; was wir wollen, sind Bewährungsfelder.
Vor 30 Jahren unterzeichnete der amerikanische Präsident John F. Kennedy den Gesetzentwurf für das Peace Corps. Über 130 000 junge Amerikaner haben seither in Ländern der Dritten Welt ihren freiwilligen Dienst geleistet. Mit dem Peace Corps sollen die Bedürfnisse des Gastlandes getroffen und ein gegenseitiges, besseres Verständnis geschaffen werden. Die Peace-Corps-Entwicklungshelfer sind unter anderem tätig in der Erziehung, in der Landwirtschaft, in der Gesundheitsversorgung, in der Energieberatung und in der Hilfe für die Entwicklung kleinerer Unternehmen.
Mir ist bekannt, daß die Idee des Peace Corps nicht unumstritten ist. Aber ich bin dafür, daß wir auch die positiven Erfahrungen zur Kenntnis nehmen, die man in den Vereinigten Staaten mit dem Peace Corps gemacht hat. Junge deutsche Peace-Corps-Leute würden in den Entwicklungsländern ein Gesicht Deutschlands zeigen, wie es keine offizielle deutsche Diplomatie vermag.
Bewährungsfelder gibt es aber auch vor Ort. Vieles, was jugendpolitisch getan werden kann, liegt im Verantwortungsbereich der Kommunen. Eine Inititative, die mich da besonders begeistert hat, ist die Errichtung von Jugendgemeinderäten. Denn Interesse an Politik schafft man am besten dadurch, daß der junge Mensch an ihr beteiligt wird und sie aktiv mitgestalten kann.
Seit 1985 gibt es in der Stadt Weingarten solch einen Jugendgemeinderat. Schüler aller Weingartener Schulen von der 7. bis zur 10. Klasse gestalten durch ihre Anregungen und Ideen die Kommunalpolitik mit. Wie im sogenannten großen politischen Leben gliedert sich der Jugendgemeinderat in Fraktionen. Sicher, die Beschlüsse des Jugendgemeinderates sind nicht bindend, aber dennoch haben sie durchaus Gewicht bei Entscheidungen in der Kommunalpolitik.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben diese jugendpolitische Debatte u. a. beantragt, um die Schwierigkeiten und Aufgaben, vor denen junge Menschen, ja die ganz Gesellschaft heute stehen, offen anzusprechen. Was ist notwendig, damit unser Vaterland, die Bundesrepublik Deutschland, zukunftsfähig bleibt und uns unsere Chancen läßt?
Ich habe erfahren, wie wichtig es ist, in einer intakten Familie aufwachsen zu können. Ich behaupte: Eine gute Familienpolitik ist auch eine gute Jugendpolitik.
Der junge Mensch bedarf der Geborgenheit in der Familie, um den Herausforderungen, die ihn erwarten, gewachsen zu sein. Der Zustand unserer Familien ist ein Spiegelbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Die Wärme, die junge Menschen in der Familie erfahren, ist ausschlaggebend für das, was sie dann selber in die Gesellschaft einbringen können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Bedingungen zu schaffen, die der heutigen Familien-Situation gerecht werden. Besondere Anstrengungen müssen deshalb unternommen werden, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Partner zu gewährleisten.
Die Empfindungen von Jugendlichen sind Seismographen für das, was gesellschaftlich auf den Nägeln
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5685
Claudia Nolte
brennt. Bei Jugendlichen stehen ökologische Themen an erster Stelle. Entscheidend für unsere Glaubwürdigkeit ist, was wir Politiker für den Umweltschutz bewegen.
Um ein Beispiel zu nennen: Wie gehen wir mit dem Müllproblem um? Die Entsorgung des Hausmülls und der gewerblichen Abfälle ist eine riesige Aufgabe. Man sagte mir, für die nächsten zehn Jahre sei die Entsorgung gesichert. Aber wir müssen uns jetzt etwas einfallen lassen, damit im nächsten Jahrzehnt Lösungen vorhanden sind.
Geradezu katastrophal ist die Entsorgung des Sondermülls. Sondermüll wird überwiegend deponiert. Die endgültige Entsorgung wird in die Zukunft verschoben. Es ist aber unsere Aufgabe, heute Lösungen zu suchen. Wir dürfen unser Müllproblem nicht bei der nächsten Generation abladen.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist unbestritten, daß wir populär sind, wenn wir viel verteilen können. Auch mir fällt vieles ein, womit man die Menschen — und gerade die jungen beglücken könnte. Man sagt ja, wer keine Wünsche mehr hat, sei krank. Aber, wer muß denn letztlich bezahlen, was wir heute an Wohltaten alles beschließen? Wollen wir auf Kosten unserer Kinder und Enkel leben?
In diesem Jahr nahmen Bund, Länder und Gemeinden Kredite von insgesamt 156 Milliarden DM auf. Ich weiß, daß die Länder und noch mehr der Bund finanzielle Mittel für den Aufbau der fünf neuen Bundesländer benötigen. Aber das verpflichtet uns noch viel mehr zu einer strengen Haushaltsführung.
Hohe Staatsausgaben belasten in erster Linie den sogenannten kleinen Mann. Ein Durchschnittsverdiener muß heute schon an die 50 % seines Bruttoverdienstes für Steuern, Sozialversicherung etc. abführen. Das motiviert nicht gerade zur Leistung.
Wir erleben eine Kostenexplosion insbesondere im Gesundheitswesen. Von 1960 bis 1991 stiegen die Löhne um mehr als das 5fache. Im Gesundheitswesen stiegen im selben Zeitraum die Kosten auf über das 14fache. Auch bei der Diskussion über die Pflegeversicherung dürfen wir die Belastungen für zukünftige Generationen nicht außer acht lassen.
Der eigenverantwortlich Handelnde, der Solidarität nicht nur so auslegt, daß er von der Gesellschaft fordert, sondern Solidarität auch in dem sieht, womit er die Gesellschaft nicht belastet, darf nicht den Eindruck gewinnen, er sei letztlich der Dumme.
Gestatten Sie mir zum Schluß noch eine Feststellung: Die heutigen jungen Menschen sehen sich nicht als No-future-Generation. Sie wollen mitgestalten, und wir sollten sie beteiligen. Wohlstand und Freiheit bringen nicht zwangsläufig Glück und Zufriedenheit mit sich. Den oft anzutreffenden Sinnmangel möchte ich als die neueste Armut bezeichnen. Eine Gesellschaft der vielen Güter ohne den Maßstab des Guten muß notwendigerweise auf die Dauer langweilig werden. Mit den jungen Menschen von heute wollen wir,
auf Bewährtem aufbauend, die Politik der Erneuerung umsetzen.
Danke schön.
Als nächste spricht die Abgeordnete Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn es schon mehrfach gesagt wurde, wir debattieren heute über einen Bericht der Bundesregierung, der über zwei Jahre alt ist. Daß die Analyse der Problematik in den neuen Bundesländern in diesem Bericht vollständig fehlt, wurde auch schon gesagt. Auch nach einem Zusatz oder einer Aktualisierung fahndet man vergeblich. Aber wen wundert das schon! Man muß ja ohnehin leider den Eindruck gewinnen, daß die Jugendpolitik von dieser Bundesregierung nicht eben mit dem allergrößten Elan betrieben wird,
weder für die alten, noch für die neuen Bundesländer.
Dabei bedeutet Jugendpolitik eigentlich Politik für die Zukunft. Ich will nicht unfair sein. Ich weiß ganz gut, wie schwer es mit der Jugendarbeit in den neuen Ländern ist. Dort gab es früher nur die FDJ. Den einen Vorteil hatte die FDJ: sie verfügte über funktionierende Organisationsstrukturen. Es ist heute schwer, neue Verbände, Organisationen und Vereine ins Leben zu rufen und zu etablieren, die eine vernünftige Jugendarbeit auf breiter Ebene ermöglichen. Es geht nicht einfach nur darum, die FDJ durch etwas anderes zu ersetzen. Dieses andere soll ja demokratisch strukturiert und legitimiert sein — darin sind wir uns ja hoffentlich einig — , also nicht wieder Möchtegern-Jugendpolitik von oben.
Wer aber versucht, konkret Jugendarbeit aufzubauen, der rennt nur allzu häufig vor eine Wand. Dafür gibt es Gründe. Ein paar von diesen Gründen möchte ich nennen. Die Kommunen verhindern zwar nicht gerade die Gründung von Jugendvereinen und -organisationen, aber sie sind oft nicht bereit, diese finanziell oder auch nur ideell zu unterstützen. In den Kommunen glaubt man nämlich leider teilweise, daß diese Arbeit nach wie vor von ihren Verwaltungen betrieben werden müsse. Wer da mit Ideen und Initiativen von außen kommt, der stört den geregelten Verwaltungsablauf.
Es gibt hier übrigens traurige Parallelen zur Sozialarbeit. Auch hier sträuben sich die Kommunen häufig, die Aufgaben an die Verbände der freien Wohlfahrtspflege zu vergeben. Da spuken ziemlich autoritäre Vorstellungen in den Köpfen herum, die ein schlimmes Erbe der damaligen DDR sind. Ich kann Ihnen da ein hübsches Beispiel erzählen. In meiner Heimatstadt, in Schleusingen in Südthüringen, ist im Juni dieses Jahres ein Verein gegründet worden, der sich unter anderem die Schaffung eines Jugend- und Kulturhauses und die Förderung von arbeitslosen Jugendlichen zum Ziel gesetzt hat. So ein Jugendhaus wird da dringend gebraucht, denn das alte Jugend-
5686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Iris Gleicke
Clubhaus hat man schon vor ein paar Monaten dichtgemacht. Die „Jugendarbeit" findet seither vor allem in Spielotheken, Videotheken und in den Discos statt.
Das Stadtoberhaupt kommentierte die Gründung dieses Vereins, dessen Vorsitzende ich bin, mit den Worten: Man könne so viele Vereine gründen, wie man wolle, Hauptsache, man arbeite mit der Stadt zusammen, und ohne die Hilfe der Stadt geht es nicht. — Wo der Mann recht hat, hat er natürlich recht. Immerhin hat er uns, wenn auch mit erkennbarem Widerwillen, die Hilfe der Stadt angeboten. Auf diese Hilfe warten wir als Verein allerdings bis heute.
Das hat traurige Konsequenzen. Weil die Stadt unfähig ist, uns wenigstens bei der Beschaffung von Räumlichkeiten zur Seite zu stehen, von finanzieller Unterstützung ganz zu schweigen — wir alle kennen die Finanzausstattung der Kommunen in den neuen Ländern — , können wir mit der Arbeit nicht loslegen. Deshalb können wir übrigens auch keine ABM-Stellen für die Erzieher und Projektleiter beantragen, die wir gerne einsetzen möchten. —
Apropos ABM: Zusätzlich wird die Arbeit des Vereins durch den „tollen" Franke-Erlaß erleichtert und gefördert, der mit der 100 %igen Förderung Schluß gemacht hat. —
Ich hätte Ihnen das nicht erzählt, wenn es ein Einzelfall wäre. Fragen Sie einmal die Landesjugendringe, die können Ihnen da noch ganz andere Geschichten erzählen!
Aber dies sind natürlich nicht die einzigen Probleme. Bei uns im Osten ist es schwierig, eine Jugend zu aktivieren, für die Verbandsarbeit immer gleich den schalen Beigeschmack der FDJ hat. Aufklärung tut not, um diese Vorbehalte abzubauen. Am besten dazu geeignet sind wohl Begegnungen zwischen Jugendlichen aus Ost und West. Ich habe z. B. reichlich Anfragen von Lehrerinnen und Lehrern aus meinem Wahlkreis, die mit ihren Schülern gern hierher kommen würden. Dazu ließen sich auch schöne Begegnungen organisieren, die Sache scheitert aber am lieben Geld. Man muß die Eltern verstehen, daß sie diese Fahrten oftmals nicht finanzieren können. Woher sollen sie es denn auch nehmen?
Frau Gleicke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwarz?
Bitte.
Liebe Frau Kollegin, wären Sie bereit, sich mit mir, der ich als Wessi jetzt eine Schulklasse aus einer ostdeutschen Schule eingeladen habe und dabei bin, diesen Besuch zu organisieren, hinzusetzen und gemeinsam zu prüfen — ich glaube, daß es funktioniert — , solche Problemfälle über freie Stiftungen usw. usf. zu lösen, auch wenn dabei nicht direkt staatliches Geld, sondern Stiftungsgeld verwendet wird?
Ich habe auf Grund dieser Anfragen selber versucht, Schulklassen hierherzubringen. Ich habe alle möglichen Träger einzuschalten versucht. Wenn Sie mir helfen und da noch ein paar Unterstützungen leisten könnten, bin ich sehr dankbar.
Ich bedanke mich für die Unterstützung.
Ich möchte in dieser Hinsicht aber noch zwei andere Vorschläge unterbreiten, wobei ich mich mit den Landesjugendringen einig weiß. Man sollte erstens für einen begrenzten Zeitraum — über drei, vier Jahre hinweg — den deutsch-deutschen Jugendaustausch wieder aufnehmen. Sein Auftrag ist noch nicht erfüllt. Er ist heute so notwendig wie damals. Die Mauer ist zwar weg, die Jugendlichen können problemlos fahren, aber heute haben sie kein Geld dafür. Mit diesem Jugendaustausch ließen sich z. B. Schulfahrten finanzieren. Man sollte zweitens die internationalen Austauschprogramme so gestalten, daß nicht nur entweder Jugendliche aus dem Osten oder Jugendliche aus dem Westen an ihnen teilnehmen, sondern daß man die Gruppen mischt; das hat vorhin auch Frau Kollegin Merkel deutlich gemacht. Es können z. B. Thüringer und Pfälzer gemeinsam an den Programmen teilnehmen. Organisieren ließe sich das vor allem über die Landesjugendringe, aber selbstverständlich auch über Schul- und Städtepartnerschaften. Zusätzliche Kosten würden hierdurch nicht entstehen. Der potentielle Nutzen wäre groß.
Freuen Sie sich doch, wenn wir auch mal gleicher Meinung sind.
Meine beiden Vorschläge zielen darauf ab, die jungen Leute aus Ost und West zusammenzubringen, damit sie von- und miteinander lernen können, damit sie Gemeinsamkeiten und unterschiedliche Lebenserfahrung entdecken und die wechselseitigen Vorurteile abbauen können.
Ich fürchte, ich habe ein ziemlich düsteres Bild von der Situation der jungen Leute im Osten gezeichnet. Es geht mir nicht darum, die zum Teil großartigen Leistungen der einzelnen Verbände und Organisationen bei der Jugendarbeit schmälern zu wollen. Im Gegenteil, unser Dank soll all denen gelten, die diese oft zähe Kleinarbeit betreiben.
Dennoch, es bleibt noch sehr viel zu tun. Wenn ich sehe, was bei „DT 64" und „elf 99" vor sich geht, scheint mir das symptomatisch für den Umgang dieser Bundesregierung mit den jungen Menschen.
Es interessiert bei den Damen und Herren von der Regierungsbank offenbar niemanden, wenn Jugendliche aus den neuen Ländern ihr Radio behalten wol-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5687
Iris Gleicke
len oder auf ihrem Sender bestehen und dafür kämpfen.
Noch kann man hoffen, daß die jungen Leute mit ihrer Gegenwehr Erfolg haben. Hier betreibt man eine Jugendpolitik, die diesen Namen nicht verdient, und man betreibt sie mit der Sensibilität einer Dampfwalze.
Zum Schluß erlauben Sie mir ein paar persönliche Bemerkungen. Es trifft mich persönlich, wenn ich mitbekomme, daß junge Leute von normaler Intelligenz sich den Kopf kahl scheren lassen und Jagd auf Ausländer machen. Es bedrückt mich, daß sich die übelsten Sekten bei uns ausbreiten und gezielt Jugendliche rekrutieren. Ich halte es einfach für verrückt, daß es in jeder x-beliebigen Stadt mindestens eine Videothek, aber kaum ein vernünftig ausgestattetes Jugendzentrum gibt.
Vielleicht bedrücken mich diese zum Teil wirklich miese Situation und diese Trostlosigkeit deshalb besonders, weil ich zu diesen vielzitierten alleinerziehenden jungen Müttern gehöre. Ich sehe mich da in einer ganz konkreten Verantwortung. Ich möchte nämlich, daß mein Sohn in einer menschlichen und solidarischen Gesellschaft aufwächst. Ich möchte, daß seine Fragen und Probleme ernstgenommen werden. Ich will nicht, daß er mit Sprechblasen abgespeist wird.
Mag sein, daß das der eine oder andere von Ihnen nicht verstehen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Heinz Werner Hübner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das wichtige Thema, das wir behandeln, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verwirklichung der inneren Einheit unseres Landes, in unmittelbarem Zusammenhang deshalb, weil Kinder und Jugendliche diejenigen sind, die am nachhaltigsten von den Vorzügen, aber auch von den Problemen und Schwierigkeiten der Verwirklichung der deutschen Einheit betroffen sind, und sie werden es am längsten sein.
Der dazu vorliegende Achte Jugendbericht gibt zwar eine umfassende Analyse über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe, das jedoch nur — das wurde schon öfter angedeutet — in den alten Bundesländern.
Schlußfolgernd wurde daraus die Notwendigkeit richtig erkannt, den Schwerpunkt des Neunten Jugendberichts in der Kinder- und Jugendarbeit im vereinten Deutschland zu sehen und umgehend auch einen Zwischenbericht über die Situation von Kindern
und Jugendlichen in den neuen Bundesländern zu geben.
Man kann natürlich kritisch sehen, daß die gesellschaftlichen Wandlungen im Achten Jugendbericht nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Doch fairerweise muß man die Frage stellen, ob das in dieser Form und in diesem Bericht bereits möglich war.
Viel wichtiger erscheint mir jetzt, die eingangs angeschnittene Problematik der Kinder und Jugendlichen in Gesamtdeutschland und besonders in den neuen Bundesländern zu betrachten und zu analysieren.
Die Fraktion der FDP wertet diesen Bericht als eine Herausforderung für alle Betroffenen, und gerade das ist zukunftsweisend.
Wir unterstützen die Forderung des Ausschusses für Frauen und Jugend nach einer Vorlage des Neunten Jugendberichts zur Behandlung noch in dieser Wahlperiode. Auch die zusätzliche Forderung, im Sommer nächsten Jahres einen Zwischenbericht über die Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern vorzulegen, wird massiv unterstützt. Wenn wir dabei zu einer konkreten Analyse kommen wollen, um daraus dann auch die notwendigen Schlußfolgerungen ziehen zu können, müssen wir in erster Linie die Ursachen für gegenwärtig anstehende Probleme im Osten Deutschlands erkennen und aufdecken. Dabei darf und wird auch nichts verschwiegen werden.
— Natürlich ist das das mindeste. Deshalb habe ich ja noch einmal darauf hingewiesen; denn manche vergessen sogar das mindeste.
Es ist durchaus richtig, daß viele junge Menschen im Osten Deutschlands dazu beigetragen haben, das Herrschaftssystem der SED abzuschütteln. Mit diesem Einsatz haben sie nicht nur eine grundlegende Änderung mitbewirkt, sondern auch gezeigt, wie demokratische Praxis dazu führen kann, daß Diktaturen gestürzt werden. Weiterhin richtig ist auch die Einschätzung, daß die Jugendlichen in den neuen Bundesländern nach erfolgter Wende in der DDR feststellen können, wie Freiheit und Demokratie auch ihnen eine gute Möglichkeit zur Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele geben können. Genauso notwendig und richtig ist es aber auch, die Schwierigkeiten beim Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft konstruktivkritisch zu betrachten — ich betone: konstruktiv-kritisch.
Die Veränderungen, die in den neuen Bundesländern in wahnsinnig kurzer Zeit vor sich gegangen sind, haben auf das Denken, Fühlen und Handeln der jungen Menschen eben nicht nur positive Auswirkungen. Es wäre aber auch falsch, daraus zu schlußfolgern, daß dadurch in erster Linie Frust, Resignation und Aggression geweckt wurden. Aber auch dies ist ein bedauerliches Ergebnis der oft nur langsam zu
5688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Heinz Werner Hübner
verdauenden Veränderungen in der Ex-DDR, besondes für junge Menschen.
Das für die Kinder und Jugendlichen Positive herauszustellen ist richtig; denn es ist unbestreitbar vorhanden. Sie können das auch deutlich dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP entnehmen und dort nachlesen. Genauso richtig und notwendig ist es — wie ich bereits erwähnte —, die Probleme zu sehen und die Finger auf die wunden Stellen dieser Anpassung und Veränderung zu legen.
Eine Ursache für die Probleme, die Jugendliche in den neuen Ländern haben, ist die vielerorts vorhandene Unglaubwürdigkeit eines Teils der älteren Generation. Das resultiert aus der Tatsache — auch das darf man nicht verschweigen —, daß die meisten Erwachsenen dieses System, wenn auch nur durch Schweigen, gestützt haben.
Oder sie haben die Situation an vielen Schulen gestützt, was die Unglaubwürdigkeit einer großen Anzahl von Lehrern ausmacht.
Ebenso ist die Unglaubwürdigkeit des einen oder anderen Politikers — nicht nur auf kommunaler Ebene — zu nennen.
Hier liegt bei Jugendlichen durchaus eine Ursache für Identitätskrisen.
Ich schneide ein weiteres Thema an. Wenn ich von Identitätskrisen spreche, dann denke ich an die untauglichen Versuche, der Mehrheit der Jugendlichen die Identität zu nehmen, indem man ihnen Instrumente verweigern will, mit denen sie — besonders seit der Wende in der DDR — eng verbunden sind. Ich denke hierbei besonders an das Vorhaben, den Jugendsender „DT 64" zum Schweigen zu bringen. Ich denke auch an andere Sendungen des Deutschen Fernsehfunks wie „Elf 99" , die seit der Wende — ich betone, seit der Wende — für die meisten Jugendlichen Bezugspunkte sind, mit denen sie sich identifizieren. Dabei kann es nicht angehen, daß man dem Sender „DT 64 " seine Vergangenheit vorhält,
genausowenig wie man allen „gelernten" DDR-Bürgern nun pauschal ihre Vergangenheit vorwerfen kann und darf.
Das ist intolerant und nicht liberal.
Aber ich betone auch: Diese Problematik ist nicht Sache des Bundes, sondern Ländersache.
Ich fordere alle hier vertretenen Parteien auf, in den
Ländern ihren Einfluß geltend zu machen, der notwendig ist, damit z. B. dieser Sender erhalten bleibt.
Herr Hübner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidt?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hübner, würden Sie — auch wenn die Kompetenz des Bundestages direkt nicht gegeben ist — dann aber wenigstens zustimmen, daß wir mit einem Appell an die Betreffenden, wie er heute z. B. in dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vorliegt, auch eine Menge ausrichten könnten?
Ich habe diesen Appell eben formuliert.
Werden Sie dem zustimmen?
Ich haben diesen Appell eben aus der Sicht meiner Fraktion formuliert. Ich tue das auch für mich.
Herr Hübner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Bitte!
Herr Kollege Hübner, ist Ihnen aufgefallen, daß in dem von Ihnen gemeinsam mit der CDU/CSU eingebrachten Entschließungsantrag die Errichtung von Ganztagsschulen gefordert wird, obwohl der Bundestag für Ganztagsschulen auch nicht zuständig ist?
Das ist richtig. Aber ich sage noch einmal ganz konkret: Wir gehen davon aus, daß gerade das, was die Ganztagsschulen betrifft, ein wesentlich komplizierteres Problem ist als das des Jugendsenders „DT 64", weil hier in erster Linie die Lehrer unmittelbar Einfluß ausüben können.
Ich sage noch einmal: Mein Appell geht von hier aus an die Länderregierungen, insbesondere dorthin, wo der Jugendsender stationiert ist. Fragen Sie Herrn Stolpe, was er in seinem Land tun kann, um das zu unterstützen.
Die FDP-Fraktion hat ja auch mehrmals durch ihren medienpolitischen Sprecher, dem Kollegen Otto, deutlich gemacht, daß wir für den Erhalt dieses Jugendsenders sind. Ich möchte die Ausführungen zu diesem Problem abschließen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5689
Heinz Werner Hübner
Wichtig erscheint mir, daß die Jugendlichen in Ost und West im Hinblick auf die durchaus vorhandenen Probleme mehr Kontakte pflegen, öfters zusammenkommen, um über ihre gemeinsamen Sorgen und Probleme zu diskutieren und zu streiten,
über ihre gemeinsamen Freuden, ihre Wünsche, ihre Zukunftsvorstellungen zu sprechen, sich miteinander auseinanderzusetzen. Dazu bedarf es auch der Unterstützung des Bundes — das ist wohl richtig — , aber nicht zuletzt der Unterstützung der Länder, um den Kindern und jungen Menschen Möglichkeiten zu erhalten bzw. sie wieder zu schaffen, damit sie sich treffen können, daß sie diskutieren können, daß sie gemeinsame Pläne schmieden können. Es müssen und dürfen allerdings nicht die Jugendclubhäuser alten Stils sein. Aber ich glaube, Jugendtreffs sind wesentlich besser als Sexshops und Massagesalons.
Dazu gehört auch, daß sich die Länder und die Kommunen ernsthaft Gedanken darüber machen, wie sie Sozialpädagogen einsetzen können, die sich besonders um Jugendliche kümmern, die sich in persönlichen Konflikten befinden. Manches Land wäre gut beraten, hier Lehrer einzusetzen, die zum Teil aus Altersgründen in der nächsten Zeit ihren Dienst aufgeben. Das sollten aber integere Lehrer mit hoher Fachkompetenz sein. Sie findet man im Osten leider selten.
Länder und Kommunen sind gut beraten, wenn sie gemeinsam mit den Jugendlichen nach Inhalten suchen, die den jungen Menschen bei der Bewältigung dieser großen Veränderungen im Osten Deutschlands helfen; denn es sind große und ungewohnte Veränderungen, die sich auch auf Grund ihrer Schnelligkeit auf die Psyche mancher Jugendlicher negativ auswirken. Ich denke nur an den Radikalismus und seine Ursachen, besonders im Osten Deutschlands. Ich möchte hierauf aber nicht eingehen, weil mich das noch einmal zehn Minuten kosten würde. Das Problem wurde ja schon oft zu Recht angedeutet.
Ein letzter Gedanke: Bund, Länder und Kommunen sind gefordert beim Erhalt der Kindereinrichtungen. Hier zeigt sich leider in einigen Ländern, besonders im Osten, die Tendenz, daß sie ihre Kindereinrichtungen nicht in der erforderlichen Form unterstützen. Dabei sollte gerade den Verantwortlichen deutlich vor Augen geführt werden, daß sie mit Hilfe dieser Kinderkrippen und Kindergärten, mit Hilfe dieser Kindertagesstätten besonders im Osten dazu beitragen können, daß die Eltern frei entscheiden, wie sie Familie und Beruf verbinden. Sie können dazu beitragen, daß junge Mütter, die sich im Beruf befinden, die ABM und Weiterbildungsmaßnahmen nutzen, die Möglichkeit haben, ihre Kinder für einen Teil des Tages in guten Einrichtungen pädagogisch betreuen zu lassen.
Daß das angenommen wird, und zwar nicht nur im Osten, zeigt die Tatsache, daß eine Reihe von Müttern aus den alten Bundesländern, im ehemaligen Grenzgebiet, Kindereinrichtungen der neuen Bundesländer mehr und mehr nutzen.
Zur familienfreundlichen Politik gehört, daß der Staat dafür sorgt, daß seine Bürger, insbesondere die Bürger mit Kindern, Familie und Beruf im Einklang sehen und die entsprechenden Möglichkeiten nutzen können.
Am Ende meiner Rede möchte ich noch einmal die Bitte an die Bundesregierung richten, schnell dafür zu sorgen, daß uns baldmöglichst eine gründliche Analyse der Situation von jungen Menschen in den neuen Bundesländern vorliegt, aus der wir in den Fraktionen eindeutig Schlüsse ziehen können für weitere gesetzgeberische Maßnahmen im Kinder- und Jugendbereich. Hier, so glaube ich, kann es und wird es einen großen Konsens über alle Parteigrenzen hinweg geben.
Vielen Dank.
Als nächster nun Ronald Pofalla.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Parteienoligarchie", „Politikverdrossenheit", „Basiskämpfe", „Schlammschlachten", „Klüngel", das sind Worte
— nun hören Sie zu! —, die der Schüler Swaantje Nacke am 8. Oktober hier im Plenarsaal anläßlich der Veranstaltung des Deutschen Bundestages „Jugend im Parlament" aussprach, als es um die Wiedergabe von Ergebnissen des Arbeitskreises „Wir sind die Jugend — Aber wer fragt uns?" ging. Mich — auch viele in unserer Fraktion — macht das nachdenklich.
In der CDU/CSU-Fraktion befinden sich im Gegensatz zu den anderen Fraktionen 24 junge Abgeordnete unter 35 Jahren, die die Jugend repräsentieren.
Der Nachholbedarf besteht selbstverständlich in den anderen Fraktionen. Daß wir hier Fragen stellen, die in der SPD-Fraktion möglicherweise als unangenehm empfunden werden, macht doch nur deutlich, in welcher Situation wir uns befinden. Ich finde es sehr gut, daß Jugendpolitik in der Unionsfraktion so ernst genommen wird.
5690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Ronald Pofalla
Aus Umfragen wissen wir, mit welcher großen Skepsis Jugendliche der Politik, Politikerinnen und Politikern begegnen. Hierzu zwei Zahlen.
Erstens. Jugendliche konnten bei einer Umfrage mehrere Alternativen ankreuzen, durch wen bzw. durch welche Institutionen sie sich am ehesten vertreten fühlen. 78 % fühlten sich durch die Familie vertreten, 68 % durch den Freundeskreis, und nur fade — das betrifft uns alle — 9 % fühlten sich durch Parteien und Regierung vertreten.
Zweitens. Die Anwendung außerparlamentarischer Mittel zur Durchsetzung notwendiger Veränderungen wird unter Jugendlichen von einer doppelt so großen Gruppe als der der Gesamtbevölkerung befürwortet, nämlich von 30 %.
Diese Zahlen — da können Sie sich aufregen, wie Sie wollen — machen deutlich, daß wir Politiker — und wir alle — das Vertrauen der Jugend und der Jüngeren in unserer Gesellschaft zurückgewinnen müssen.
Wie kann aber dieses Vertrauen zurückgewonnen werden? Indem wir nach meiner Überzeugung einerseits Jugendpolitik stärker als Querschnittsaufgabe begreifen und andererseits den ausgeprägten Willen der Jugend zu Veränderungen aufgreifen und schließlich, indem wir die Politikinteressen dieser Generation stärker berücksichtigen.
Nach meiner Überzeugung müssen die Politikinteressen der Jugend stärker in den Mittelpunkt unserer täglichen politischen Arbeit gerückt werden, wenn wir Vertrauen zurückgewinnen wollen. Ich will dies an drei politischen Themenfeldern, nämlich der Politik für die Dritte Welt, der Umweltpolitik und der Menschenrechtspolitik, verdeutlichen.
Erstens: Entwicklungshilfepolitik. Jugendliche weisen darauf hin, daß jede Woche 300 000 Kinder auf anderen Kontinenten sterben müssen, weil sie hungern. Darüber sind sie nach meiner Überzeugung zu Recht empört.
Jugendliche hinterfragen aber auch unsere eigene Wirtschafts- und Lebensweise. Sind wir wirklich bereit, unser Verhalten dort zu verändern, wo es zur Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit beiträgt? Die weltweit festzustellende Wanderungsbewegung von Flüchtlingen zwingt bei der Lösung der anstehenden Fragen dazu, daß wir uns für eine Entwicklungshilfepolitik einsetzen, die die Ursachen und nicht die Symptome bekämpft.
Die Industrieländer und insbesondere die Europäische Gemeinschaft sind aufgerufen, ihre entwicklungshilfepolitischen Konzepte zu überdenken und die Entwicklungshilfe deutlich aufzustocken.
1 % des Bruttosozialproduktes — eine praktische Vision der Jungen Union, die ich teile —
muß in Zukunft die Richtschnur für die Höhe des Entwicklungshilfeetats nach meiner Überzeugung sein.
Gleichzeitig müssen die Handelshemmnisse beseitigt, die Märkte geöffnet und die Entwicklungsländer entschuldet werden. In diesem Sinne sind die neu aufgestellten Kriterien einer Entwicklungshilfepolitik von Bundesminister Spranger ein Schritt in die richtige Richtung,
ein erster Schritt, dem jedoch weitere Schritte folgen müssen, damit wir Vertrauen bei Jugendlichen wiedergewinnen. Es wäre hier im Hause vielleicht angebracht, daß eine neue Entwicklungspolitik, wenn die Tendenz dazu deutlich wird, auch auf seiten der SPD-Fraktion Zustimmung finden würde.
Herr Abgeordneter Pofalla, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Andres?
Bitte schön.
Darf ich Ihre Aussagen so bewerten, daß die von Ihnen so gerühmte junge Gruppe von 35 Abgeordneten
bei den kommenden Haushaltsberatungen hier den Antrag einbringen wird, die Ausgaben für Entwicklungshilfe auf 1 % des Bruttosozialproduktes hochzutreiben? Ich könnte Ihnen garantieren, daß wir dann diesen Antrag unterstützen würden.
Ich werde im weiteren Verlauf meiner Rede deutlich machen, wozu die Jüngeren in der Unionsfraktion im zuständigen Ausschuß sehr konkrete Anträge gestellt haben, um Jugendpolitik eine stärkere Bedeutung zu verleihen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5691
Ronald Pofalla
Zweitens: Umweltpolitik. Dr. Klaus Töpfer, der erfolgreichste Minister der Bundesrepublik, der mit Umweltschutz je befaßt war und ist,
hat in seiner bisherigen Amtszeit schon viel erreicht und umgesetzt, viel mehr im übrigen, als die von der SPD geführten Regierungen in der Vergangenheit auch nur angedacht hatten.
Die Weiterentwicklung unserer Sozialen Marktwirtschaft hin zu einer ökologisch verpflichteten Sozialen Marktwirtschaft ist eines der großen Verdienste dieser Regierung. Auch das muß in einer Debatte, wo es um Jugendpolitik geht, einmal gesagt werden.
Dennoch: Viele Jugendliche stehen der Umweltpolitik grundsätzlich kritisch gegenüber. Ihnen geht vieles zu langsam, und schließlich argumentieren sie rigoros im Sinne einer noch größeren Notwendigkeit von Umweltschutzmaßnahmen. Dies sollten wir nicht als unrealistische Forderungen an die praktische Politik abtun. Ganz im Gegenteil: Wir alle haben die Verpflichtung, beispielsweise noch mehr für das freiwillige Engagement von Jugendlichen, die sich auch praktisch für unsere Umwelt einsetzen wollen, zu tun.
Die von Bundesministerin Angela Merkel vorgesehene Einführung eines freiwilligen ökologischen Jahres, die stärkere Diskussionsbereitschaft der Politik über Umweltschutzmaßnahmen und unsere eigene Bereitschaft, der Umweltpolitik einen höheren Stellenwert einzuräumen, sind geeignet, um Vertrauen bei Jugendlichen wiederzugewinnen.
Armutsbedingter Raubbau darf nach unserer Überzeugung nicht zur Umweltzerstörung führen. Diesbezüglich sind das Engagement des Bundeskanzlers für den Erhalt des tropischen Regenwaldes
und die beabsichtigten Finanzhilfen ein konkretes Stück „vertrauensbildender Maßnahmen" , denen weitere folgen können und müssen.
Drittens: Menschenrechtspolitik. Für die Union hat die Verwirklichung der Menschenrechte immer eine zentrale Rolle gespielt.
Regierung und Wirtschaft haben die Aufgabe, gute Kontakte zu allen Staaten zu pflegen. Diese Bemühungen hat die Regierung zu fördern. Aber selbst im Bereich staatlicher und wirtschaftlicher Kooperation
darf die Beachtung der Menschenrechtsfrage nicht aus dem Blickfeld verschwinden.
Beziehungen zu Diktaturen können nicht einfach abgebrochen werden, auch deshalb nicht, weil dadurch Ansatzpunkte für aufweichende Liberalisierung in diesen Staaten vertan würden. Aber durch Abstufungen bei der Gewährung von Entwicklungshilfe, wie es die Bundesregierung tut, lassen sich Wirkungen in der gewünschten Richtung erzielen.
Weitere Kriterien für die Reduzierung von Hilfeleistungen sind Menschenrechtsverletzungen, Rassendiskriminierungen, überzogene Militärausgaben, sozialistische Planwirtschaft, undemokratische Regierungen und die mangelnde Bereitschaft zur Drogenbekämpfung. Dagegen müssen Länder mit demokratischen Rahmenbedingungen und besonderen eigenen Anstrengungen bevorzugt berücksichtigt und unterstützt werden.
Herr Abgeordneter Pofalla, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Matschie?
Bitte schön.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf zu sprechen kommen, daß die Junge Union genau aus diesen Gründen gefordert hat, daß der Staatssekretär Lengl zurücktritt. Das ist nicht geschehen. Glauben Sie auch, daß die Bundesregierung, gemessen an dem, was Sie hier verkünden, noch ein ganzes Stück weit zurück ist?
Von den Jungsozialisten habe ich in den letzten zehn Jahren ähnliche Beschlüsse im Blick auf Ihre eigene Partei nicht zur Kenntnis genommen. Ich finde es sehr erfrischend, wenn es eine Jugendorganisation gibt, die auf einem Bundeskongreß deutlich macht, wo sie Unterschiede zur Regierung sieht.
Das unterscheidet uns von Jungsozialisten. Ich bin dankbar, daß die Junge Union diesen Mut besessen hat.
Ich will gerne in meinen Ausführungen fortfahren: Ebenso muß aber auch die Einhaltung der Menschenrechte eingefordert werden. Überall dort, wo Menschenrechte verletzt werden, muß dies nach unserer Überzeugung öffentlich angeprangert werden.
Wenn mehr Politiker beispielsweise dem Vorbild von Bundesminister Norbert Blüm folgten, dann könnte in der jungen Generation mehr Vertrauen geschaffen werden, weil gerade Norbert Blüm als ein unermüdlicher Kämpfer für die Einhaltung der Men-
5692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Ronald Pof alla
schenrechte auch in der jungen Generation anerkannt ist.
Ich fasse zusammen: In den genannten Bereichen Politik für die Dritte Welt, Umweltpolitik und Menschenrechtspolitik engagieren sich Jugendliche besonders stark. Dies zeigt, daß das oft gezeichnete Bild einer Null-Bock-Generation völlig falsch ist.
Falsch ist aber ebenso, zu glauben, daß nur die Jugendlichen die Herausforderungen des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts zu bestehen haben. Richtig ist für mich, daß wir Politiker die Erwartungshaltung Jugendlicher an uns als Herausforderung begreifen müssen, Vertrauen zu schaffen bzw. zu gewinnen. Dazu wird es nach meiner Überzeugung erheblicher Veränderungen bedürfen.
Für mich bietet Politik nicht „trotzdem", sondern „gerade deshalb" Chancen, das Verhältnis Jugendlicher zu Staat und Gesellschaft zu verändern.
Ich möchte am Ende auf zwei Anmerkungen von Kollegen der Oppositionsfraktionen eingehen. Zunächst, Frau Kollegin Simm, wir haben die Kontroverse schon im Ausschuß ausgetragen. Deswegen sage ich nur in aller Kürze: Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, daß sie sich für ein Recht auf einen Kindergartenplatz einsetzen werden.
Unter Ihrer Regierungszeit hat es eine solche Festlegung nicht gegeben.
Schließlich ist eine solche Frage — das wissen Sie besser als alle anderen — Länderangelegenheit.
Schauen Sie sich in Nordrhein-Westfalen um; es wird sozial-demokratisch regiert: 100 000 Kindergartenplätze fehlen in diesem Bundesland. Schreiben Sie Herrn Rau doch einmal, er möchte das bitte schön hier in Nordrhein-Westfalen umsetzen.
Ihre Redezeit ist jetzt zu Ende, Herr Pofalla.
Ich mache — mit Genehmigung der Präsidentin — noch eine ganz kurze Anmerkung in Richtung der Kollegin Gleicke: Liebe Iris, die Unionsfraktion hat auf Anregung unseres neuen Fraktionsvorsitzenden eine Anhörung zur Jugendpolitik durchgeführt. Ich erlaube mir die Anmerkung, daß das, was an positiver Kritik dort gekommen ist, eine Zustimmung zur Politik der Bundesregierung, eine Zustimmung zu Angela Merkel bedeutet. Wir sind stolz darauf, eine so junge Bundesministerin zu haben.
Herzlichen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Edith Niehuis.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Pofalla, Sie haben sehr viel von Vertrauen der Jugendlichen in die Politik geredet. Aber Ihre kritiklose Selbstbeweihräucherung trägt mit Sicherheit nicht dazu bei, daß mehr Vertrauen in die Politik kommt.
Ich denke, vieles von dem, was wir heute hier gesagt haben, trägt ebenfalls nicht dazu bei.
Ich erinnere mich sehr gut daran, daß die Frauen- und Jugendministerin in der Haushaltsdebatte in diesem Jahr gesagt hat, junge Leute und Frauen seien von dem grundlegenden Wandel der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern am stärksten betroffen. Diese Aussage aus dem Mund einer Frauen- und Jugendministerin ließ zumindest hoffen, daß sie die Probleme erkannt hat und dann auch grundlegend angehen würde.
Doch Ihre heutige Rede, Frau Merkel, hat leider — so muß ich sagen — überhaupt keinen jugendpolitischen Ansatz dieser Bundesregierung gezeigt. Aber das könnten Jugendliche in der Tat erwarten.
Sie verweisen auf das Aktionsprogramm „Sommer der Begegnung". Kinder und Jugendliche aus den alten und neuen Bundesländern konnten sich begegnen und kennenlernen, was sicherlich für die Beteiligten eine gute Sache gewesen ist. Doch gute Politik ist mehr als nur Erlebnispädagogik. Sie muß vielmehr in Strukturen denken und zeichnet sich durch Planung aus. Von beidem kann bei dem Sommer der Begegnung nicht die Rede sein. Es kam zu kurzfristigen Mitnahmeeffekten. Im Ausschuß für Frauen und Jugend wurde gerade seitens der größten Regierungsfraktion kritisiert, daß sich auch alte Seilschaften aus dem Topf sehr gut bedient haben.
Bis auf die persönlichen Erlebnisse der beteiligten Jugendlichen, die ich nicht als gering einschätze, weil ich auch an einen Multiplikatoreneffekt glaube, haben Sie damit an vielen Stellen eher die Arbeit alter Jugendgruppen der DDR verlängert, als neue Jugendgruppen ermutigt, etwas zu tun. Das ist eine Bilanz, die wir in der Jugendpolitik nicht weiter zulassen können.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5693
Frau Abgeordnete Niehuis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwarz?
Wenn Sie die Uhr anhalten, kann Herr Schwarz gerne eine Zwischenfrage stellen.
Frau Kollegin, stimmen Sie in Anbetracht der Tatsache, daß der Sommer der Begegnung der Versuch war, eine gute Initiative schnell zu starten, mit mir nicht darin überein, daß angesichts der kurzfristigen Planungen die Ansprüche, die Sie an eine präzise Planung stellen, gar nicht erfüllt werden konnten?
Wären Sie zum zweiten bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß zumindest ich die Arbeiterwohlfahrt, die einen Löwenanteil von 6 Millionen DM aus den Mitteln für den Sommer der Begegnung bekommen hat, nicht zu den alten Seilschaften rechne, die unter der kommunistischen SED-Diktatur gearbeitet haben?
Wenn Sie hier ein bißchen länger zugehört hätten, würden wir uns darüber einigen. Es war Herr Wetzel, der moniert hat, daß die falschen Gruppen finanziert worden seien. Aber ich denke, irgendwann muß die schnelle HopplahoppPlanung zu Ende sein, und genau darum geht es an dieser Stelle.
Ich glaube, es ist höchste Zeit, neue Strukturen aufzubauen.
Die Ministerin äußert sich häufig mißtrauisch hinsichtlich unserer Verbände der freien Jugendhilfe. Das hat sie auch heute getan. Ihr ist in diesem Zusammenhang nur der Begriff Funktionär eingefallen. Es wäre aber viel besser gewesen, wenn sie auch die ehrenamtliche Tätigkeit in den freien Jugendverbänden einmal gewürdigt hätte.
Aber ihr fallen immer nur Funktionär und Bürokratie ein. Darum, denke ich, ist es nötig, daß wir heute auch einmal über die Jugendarbeit der freien Träger reden, und darüber, warum wir die freie Jugendarbeit schätzen und fördern.
Es war das Trauma des Nationalsozialismus und die Erfahrung mit der staatlich gelenkten Einheitsjugend, die die Überzeugung stärkten, daß starke freie Träger außerhalb des Staates und außerhalb der Parteien 1945 die zu schaffende neue Demokratie stärken würden und daß sich diese freien Träger zusammenschließen müssen, damit eine Zerplitterung verhindert wird. Von dieser Weichenstellung haben Generationen von Jugendlichen bei uns profitiert. Ich möchte sehr gerne, daß auch in Zukunft Generationen von Jugendlichen davon profitieren können. Das setzt einen ständigen Erneuerungsprozeß der Jugendverbände voraus, um praktische Antworten auf die von Jugendlichen gewünschte Individualisierung in einer pluralistischen Gesellschaft zu finden. Aber das bedeutet auch, daß sich die Politik weiterhin dafür verantwortlich fühlt, die freien Träger bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu unterstützen und zu fördern.
Gerade um das letzte geht es mir.
Der Bundesjugendplan ist das wichtigste Instrument zur Förderung der Jugendarbeit auf Bundesebene. Seit Jahren aber verordnet die Bundesregierung dem Bundesjugendplan, was die institutionelle Förderung betrifft, ein Null-Wachstum. Das bedeutet ganz konkret, daß die Haushalte der Jugendverbände von den steigenden Personal- und Sachkosten aufgefressen werden. So ist das sogenannte Null-Wachstum in Wahrheit ein Minus-Wachstum mit der Folge, daß immer weniger Geld für die praktische Jugendarbeit übrigbleibt. Ich denke, diesen haushaltspolitischen Trend müssen Sie, Frau Ministerin Merkel, ganz dringend beenden. Sonst werden Sie dafür verantwortlich sein, daß die freie Jugendarbeit in Deutschland geschwächt wurde.
Ich denke, gerade heute brauchen wir starke Träger der freien Jugendarbeit, denn der Individualisierungstrend, der Trend, daß Jugendliche heute über ihre individuellen Lebensentwürfe und Wertorientierungen selbst entscheiden möchten, dürfen, aber auch müssen, bedeutet: Wer entscheiden muß, sucht Orientierungshilfe in der Familie, in der Schule, im Beruf und in der Freizeit.
Wenn wir als Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitiker uns verantwortlich fühlen wollen, dann dürfen wir das Freizeitangebot nicht allein den kommerziellen Freizeitanbietern, den Konsumentenwerbern, den Sekten, den Rechtsradikalen und der Suchtszene überlassen, sondern dann brauchen wir insbesondere das Angebot der freien Jugendverbände mit ihren vielfältigen Wertorientierungen.
Eine Stärkung wäre schon möglich gewesen, wenn die Bundesregierung in den Haushaltsberatungen dem Antrag der SPD gefolgt wäre, die Mittel für den Bundesjugendplan um 100 Millionen DM zu erhöhen, um den Aufbau einer flächendeckenden pluralen Jugendverbandsarbeit in den neuen Bundesländern zu unterstützen. Sie wissen, daß in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Frauen und Jugend zur Identitätsfindung von Jugendlichen in den neuen Bundesländern diese Notwendigkeit seitens der Sachverständigen deutlich hervorgehoben wurde. Doch diesen haushalts- und jugendpolitisch sinnvollen Weg lehnen Sie ab. Wie bei dem „Sommer der Begegnung" — nun komme ich zu Ihnen, Herr Schwarz —, der sich als Strohfeuer erwiesen hat, legen Sie außerhalb des Bundesjugendplans wieder Sonderprogramme auf,
zunächst das Sonderprogramm „Zielgruppenorientierte Prävention gegen Gewalt" und dann, allerdings erst ganz am Ende der Haushaltsberatungen, das mit 50 Millionen DM ausgestattete Programm für den
5694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Edith Niehuis
Aufbau und Ausbau von Trägern der freien Jugendhilfe in den neuen Bundesländern, kurz AFT-Programm genannt.
Es ist schon erstaunlich, daß die Ministerin nicht einmal die Chance genutzt hat, hier ordentlich auf dieses Programm einzugehen, und das spricht Bände.
— Nein, es ist kein gutes Programm. Es trägt zwar einen guten Namen, aber es wird den Erwartungen nicht gerecht. Ich behaupte sogar, daß das AFT-Programm auch jugendpolitisch schädlich sein könnte.
Ich will das gerne erläutern. Um Mittel aus dem Sonderprogramm „Zielgruppenorientierte Prävention gegen Gewalt" zu bekommen, müssen wieder viele einzelne Projektanträge gestellt werden. Davor haben die Jugendverbände in unserer Anhörung im September eindringlich gewarnt,
gerade die Jugendverbände aus den neuen Bundesländern. Der Vertreter des christlich-demokratischen Jugend- und Familienverbandes „Frischluft" z. B. prophezeite in diesem Zusammenhang — ich zitiere — : „Wir haben sonst die Situation, daß die wenigen Ansätze, die es im Bereich der Jugendverbände in den neuen Ländern gibt, im Laufe der Zeit wahrscheinlich eher zusammenbrechen, als daß sich weitere neue Verbände bilden werden. "
Mit Ihren projektorientierten Sonderprogrammen laufen Sie also eher Gefahr, zu demotivieren, als das zu tun, was wir so dringend brauchen, nämlich zur Mitarbeit zu motivieren.
Was auf unterer Ebene für die neuen Bundesländer gilt, gilt auch für die Verbände der freien Jugendarbeit. Weil ihnen die institutionelle Förderung vorenthalten wird, haben auch sie keine ausreichende Kapazität, sich immer wieder auf neue Projektanträge einzustellen.
Doch viel problematischer ist das AFT-Programm, was auch den Haushaltsausschuß zunächst einmal zur Sperrung von nahezu der Hälfte der Mittel veranlaßte. Über Beratung, Fortbildung und Förderung soll in einem Jahr die freie Jugendhilfe in den neuen Bundesländern aufgebaut werden, Beginn Januar 1992. Heute, 20 Tage vorher, ist den Beteiligten noch nicht einmal die Konzeption bekannt. Darum sage ich: Eine ernsthaftere Jugendpolitik hätten die Jugendlichen in unserem Land schon verdient.
Wenn es zügig vorangehen sollte, wird es frühestens im Frühjahr die geplanten örtlichen Jugendorganisationsberatungsstellen geben. Doch hier gibt es zwei strukturell angelegte Problemfelder, und zwar erstens im Bereich des Personals. Das Personal kann dann nur noch acht Monate arbeiten, weil das Programm dann schon wieder ausläuft. In dieser Zeit muß
es sich selbst noch aus- und fortbilden lassen. Das ist kein guter Ansatz.
Das zweite Problemfeld ist die Trägerschaft der Jugendorganisationsberatungsstellen. Entweder soll es ein Träger der freien Jugendhilfe sein, der sich über seinen eigenen Jugendverband hinaus für alle anderen freien Träger werbend und beratend einmischen soll, oder, wenn es diese nicht gibt, was häufig sehr wahrscheinlich ist, es sollen die Jugendämter sein. Beide Versionen verstoßen gegen Geist und Praxis der freien Jugendhilfe. Denn diese leben von unterschiedlichen Wertorientierungen. Das macht die Dynamik der freien Jugendhilfe aus und ermöglicht das vielfältige Angebot für die Jugendlichen erst. Diese zerstören Sie durch ein solches Programm.
Die geplanten Jugendorganisationsberatungsstellen laufen Gefahr, daß, wenn sie von Jugendämtern geführt werden, eine öffentliche Jugendhilfe berät und daß letztendlich die Fördermittel in die Kassen der öffentlichen Jugendhilfe zurückgehen, d. h. daß die Jugendämter ihre Programme damit sanieren. Sie laufen mit Ihrem Programm also genau anders als vorgegeben. Sie stärken nicht die freien Träger, sondern Sie stärken im Grunde eine staatlich organisierte Jugendarbeit. Das ist mehr zurück als nach vorne und insofern kein gutes Programm.
— Nicht Apokalypse, Warnung.
Die Politik der Bundesregierung schwächt also seit Jahren die freie Jugendhilfe im Westen, und sie ist auf dem besten Wege, den Aufbau derselben im Osten zu verhindern. Leidtragende dieser Entwicklung sind zuerst die Jugendlichen selbst, doch dann auch, so fürchte ich, unsere plurale Demokratie. Ich hoffe sehr, daß es nicht apokalyptisch war, sondern daß diese Debatte Anstöße für eine bessere Jugendpolitik gibt. So war mein Beitrag gemeint.
Danke schön.
— Sehr schön.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Cornelia Yzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht einmal ein Viertel der Jugendlichen hält laut EMNID-Umfrage politische Betätigung für wichtig. Mancher mag das als ein Defizit bei der Jugend empfinden und dabei verkennen, daß es sich bei den 80 %, die politische Betätigung nicht für wichtig halten, auch um die Jugendlichen handelt, die mit ihrer massenhaften Unterstützung der friedlichen Revolution deutlich unter Beweis gestellt haben, daß sie sich die Chance ihrer Zukunftsgestaltung nicht durch eine Clique korrupter SED-Bonzen nehmen lassen wollten.
Das Umfrageergebnis deckt deshalb meines Erachtens nicht ein allgemeines politisches Desinteresse der Jugend auf, sondern das Umfrageergebnis belegt De-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5695
Cornelia Yzer
fizite der Politik. Jugendliche suchen auch in der Politik nach Visionen. Wir müssen selbstkritisch sagen, daß wir diese Visionen nicht bieten. Perspektivische Politik bedeutet für Jugendliche mehr als das Fortschreiben des Gestern und Heute. Visionen aber gehen bei uns in der Tagespolitik oftmals unter.
Die Jugendlichen in den neuen Bundesländern treibt die Sorge um ihre berufliche Zukunft um. Auch wenn der Bedarf an Ausbildungsplätzen gedeckt werden konnte, so leben doch 57 % der Jugendlichen in der Furcht vor Arbeitslosigkeit. Die Jugendlichen in Ost und West unterscheiden sich damit nicht, was ihre Prioritätenskala anbelangt. Denn auch für die Jugendlichen im Westen steht ein krisenfester Arbeitsplatz ganz oben auf der Prioritätenskala.
Wir wissen, daß wir mit der Sozialen Marktwirtschaft den Aufschwung in den neuen Bundesländern bewältigen und Wohlstand im gesamten Bundesgebiet sichern können. Wir müssen aber auch erkennen, daß Jugendlichen allein der Verweis auf die Soziale Marktwirtschaft als Antwort nicht ausreicht. Jugendliche sind sich auch der negativen Begleiterscheinungen wirtschaftlicher Aktivitäten bewußt, Begleiterscheinungen, die auch das System der Sozialen Marktwirtschaft nicht immer verhindern konnte. Sozialistische Mißwirtschaft hat in den neuen Bundesländern unvorstellbare Umweltschäden hinterlassen.
Aber auch die Marktwirtschaft des Westens hat über Jahrzehnte hinweg Raubbau an der Natur betrieben, Raubbau auch zu Lasten nachfolgender Generationen. Deshalb müssen wir auch in einer solchen Debatte sagen, daß es Sonntagsreden sind, die von Jugendlichen nicht anerkannt werden, wenn wir immer wieder behaupten, Ökonomie und Ökologie bilden grundsätzlich keine Gegensätze. Wir müssen bekennen, daß Umweltschutz und wirtschaftliche Aktivität in einem natürlichen Spannungsfeld stehen und daß die Inanspruchnahme von Umweltgütern künftig ein Kostenfaktor in der betriebswirtschaftlichen Rechnung sein muß.
Wenn wir das deutlich machen, wenn wir bereit sind, Umweltabgaben zu erheben, wie sie derzeit von der Koalition eingefordert werden,
und wenn wir gleichzeitig sagen, wir wollen uns bei umweltpolitischen Vorhaben nicht national beschränken, sondern sie EG-weit einfordern, weil natürlich mit Blick auf den Binnenmarkt Umweltabgaben auf nationaler Ebene die Wettbewerbsfähigkeit schädigen, werden wir auch eine globale Dimension einbringen können. Ich glaube, daß die globalen Themen dasjenige sind, was Jugendliche heute einfordern.
Jugendliche wollen in der Umweltpolitik, aber auch in vielen anderen Bereichen, die Probleme nicht mehr allein national lösen, sondern sie wollen Mitverantwortung in der Welt tragen — gerade auch Mitverantwortung aus einem geeinten Deutschland heraus, weil wir nunmehr neue Chancen haben, auch als
junge Menschen Mitverantwortung in der Welt zu übernehmen.
— Sie können widersprechen, aber Sie sollten den Idealismus, der bei vielen jungen Menschen vorhanden ist und den die Politik übersieht — das ist im übrigen das, was Jugendliche an der Politik gerade kritisieren wollen — , nicht außer acht lassen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Die Zeit ist abgelaufen.
Ich möchte nur noch folgende Anmerkung machen: Ich hätte mir gewünscht, daß diese heutige Debatte durch Jugendliche aus allen Fraktionen bestritten worden wäre, damit hier nicht ein Jugendbericht mit seinen Zahlen diskutiert worden wäre, sondern Einzelprobleme aufgegriffen worden wären, die Jugendliche heute interessieren und ansprechen.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Eckart Kuhlwein das Wort.
Frau Kollegin Yzer, ich bin mir nicht ganz im klaren, ob Sie meinen, daß es Jugendliche in einem Alter wie Sie und Herr Kollege Pofalla sein sollten
— oder wie ich —, oder ob Sie meinen, wir hätten hier 18jährige, 20jährige über ihre eigenen Probleme diskutieren lassen sollen.
Es ließe sich einiges sagen, Herr Pofalla. Ich finde es ja gut, daß wir sehr viel mehr jüngere Abgeordnete in diesem Haus haben und daß die auch sehr engagiert in diese Debatte einsteigen. Ich meine aber nicht, daß es in Zukunft Automatismen geben muß, daß man unmittelbar nach der Ausbildung in den Deutschen Bundestag kommt,
sozusagen vom Hörsaal in den Plenarsaal. Das sollte nicht die Regel werden,
weil ich glaube, wir brauchen in diesem Parlament auch Menschen, die zwischendurch ein Stück Erfahrung gesammelt haben.
5696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Eckart Kuhlwein
Ich bin mit 33 im Landtag Schleswig-Holstein gewesen,
hatte aber schon zehn Jahre Berufserfahrung. Vielleicht tut das manchmal ganz gut. Wir brauchen eine gesunde Mischung.
Sie sollten nicht aus der Jugendlichkeit eine besondere Tugend machen, so wie Sie es vorhin dargestellt haben.
Ich wollte ein paar bildungspolitische Bemerkungen zum heute anstehenden Thema machen. Wir haben in den letzten Wochen von der Konferenz der Hochschulrektoren gehört, daß für alle Fächer bundesweit der Numerus clausus beantragt werden könnte.
Die Lage an den Hochschulen hat sich bedrohlich zugespitzt, 1,7 Millionen Studierende auf etwa 900 000 Studienplätze, 16 Studierende pro Lehrkraft an den Universitäten, gar 37 an den Fachhochschulen. Und nun melden sich schon wieder diejenigen, die vor einer Überqualifizierung warnen und einen drohenden Facharbeitermangel an die Wand malen.
Meine Damen und Herren, es ist keine Fehlentwicklung, wenn die Zahl der Studierenden erstmals die Zahl der Auszubildenden im dualen System übersteigt. Das ist keine Fehlentwicklung, Herr Kollege Lammert, sondern der Beweis dafür, daß immer mehr Jugendliche immer mehr lernen wollen. Das sollten wir begrüßen.
„Nie zuvor hat es in der deutschen Geschichte eine in diesem Umfang lernende Jugend gegeben",
— gleich — schreibt die Minderheit im Bericht der Enquete-Kommission „Bildung 2000". Ich füge hinzu, wir sollten darüber froh sein und nicht wieder künstliche Schranken einbauen wollen.
Nun kommen Sie, Herr Schwarz.
Herr Kollege Kuhlwein, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Schwarz?
Herr Kollege, nach Ihren Ausführungen von vorher zu den Jüngeren hoffe ich, meine Frage wagen zu dürfen: Glauben Sie denn, daß jemand, der kein Abitur hat wie ich, und der nicht studieren gegangen ist wie ich, deshalb weniger lernt, indem Sie behaupten, daß die Studentenquote ein Beweis dafür sei, daß immer mehr junge Menschen immer mehr lernen wollen? Glauben Sie nicht, daß es auch ganz andere Formen des beruflichen und sozialen Lernens gibt als die, die Sie hier verkürzt darstellen?
Selbstverständlich gebe ich Ihnen recht, aber ich sehe trotzdem ein Indiz für die Lernbereitschaft der Jugend in der Bundesrepublik darin, daß viel mehr länger auf Schulen gehen, in Berufsausbildung und auf Hochschulen gehen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Ich wollte nur deutlich machen, daß wir diese Entwicklung begrüßen sollten, statt, wie das in diesem Haus vor einigen Wochen von einigen aus der Koalition angedeutet wurde, wieder neue Schranken einzuziehen.
Die Bundesregierung fordert in ihrer Stellungnahme zum Achten Jugendbericht die Weiterführung und Entwicklung neuer Formen kultureller, sozialer und politischer Partizipation junger Menschen am Leben in unserer Gesellschaft. So heißt es wörtlich. Frau Merkel hat das ja in ihrem Beitrag im März in der ersten Lesung des Berichts noch etwas zugespitzt. Da hieß es: Wir müssen den Jugendlichen Wege aufzeigen, wie sie ihre eigene Zukunft gestalten können. Nun liegen ja zwischen ministeriellen Erkenntnissen und praktischem politischen Handeln bei dieser Regierung manchmal Welten, mindestens aber eine ganz Reihe von Jahren.
Ich möchte deshalb hier einige bildungspolitische Nutzanwendungen vorschlagen: Sorgen Sie für eine bessere pädagogische Ausbildung der Ausbilder z. B., oder sagen Sie es dem Kollegen Wolfgramm, der hinter Ihnen sitzt, und seinem Minister! Helfen Sie mit, daß in der gymnasialen Oberstufe Schülerinnen und Schüler wieder ein höheres Maß an Wahlfreiheit erhalten, und verkürzen Sie die Diskussion nicht auf die Frage von 12 oder 13 Schuljahren! Sorgen Sie dafür, daß Studierende in den Studien- und Prüfungsordnungen an den Hochschulen mehr Selbstbestimmung erhalten! Pflegen Sie die zarte Pflanze studentischer Mitbestimmung an den Hochschulen in den neuen Ländern und setzen Sie diese Form der Partizipation nicht dem Fallbeil des Hochschulrahmengesetzes aus! Helfen Sie mit, daß in allen Bundesländern Schülervertretungen auf allen Ebenen gewählt werden können; da gibt es noch Nachholbedarf, zu Ihrer Information, Herr Pofalla, und zwar in südlichen Ländern, deren Regierungen Ihnen besonders nahestehen. Sorgen Sie dafür, daß die verfaßte Studentenschaft in allen Landeshochschulgesetzen auftaucht, und machen Sie — da könnten Sie auch noch einen Beitrag leisten — endlich die gewählte Vertretung von Schülerinnen und Schülern auf Bundesebene zur offiziellen Gesprächspartnerin auch der Bundesregierung! Initiativen laufen seit langem, aber das zuständige Ministerium hat bisher alles abgewehrt.
Die Bundesregierung setzt sich neuerdings für Ganztagsangebote für Kinder ein. Hier scheinen sich ja einige ideologische Verklemmungen gelockert zu haben. Ich kann mich noch lebhaft an gewaltige Redeschlachten in diesem Haus erinnern, als der damaligen SPD-Jugendministerin unterstellt wurde, sie wollte mit ihrem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz den Eltern die Kinder wegnehmen, um sie sozusagen von Staats wegen abzurichten. Sie sollten die Protokolle mal nachlesen, Herr Pofalla: Jugendhilfegesetz, Entwurf der sozialliberalen Koalition, Debatte 1980 hier in diesem Hohen Hause. Damals hat dieser Gesetzentwurf einen Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze vorgesehen, der leider nicht durch-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5697
Eckart Kuhlwein
gesetzt werden konnte, weil die Mehrheit der CDU und CSU im Bundesrat dies abgelehnt hat.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Kollege Kuhlwein?
Bitte, gern.
Würden Sie denn uns noch einmal bestätigen, daß in den kommunalen Gebietskörperschaften — ich sage Ihnen das aus meinem Kreis — richtige konservative sozialdemokratische Genossen, die seit Generationen in der Tradition der Sozialdemokratie stehen, dies als sozialistisches Teufelszeug beschimpfen und beispielsweise in Rheinland-Pfalz die Initiativen zum „Haus des Kindes" und die Durchsetzung des Kindergartenplatzanspruches der alten Landesregierung bis aufs Messer bekämpft haben?
Ich kann mir das nur schwer vorstellen.
Ich kann mir aber vorstellen, daß es bei uns gelegentlich solche und solche gibt. Im übrigen ist das bei Ihnen auch so; Sie sollten gelegentlich mal bei der CSU oder bei einigen der CSU — ich meine nicht Herrn Hollerith — nachfragen, mal den Lokalteil der Süddeutschen Zeitung lesen! Da kann man jeden Tag entnehmen, wie konservativ bis gelegentlich reaktionär manche Funktionäre der CSU in Bayern in solchen Fragen vorgehen. Ich empfehle Ihnen wirklich die Lektüre der Protokolle „Recht der elterlichen Sorge" 1979 im Bundestag und 1980 Jugendhilfegesetz, sozialliberale Koalition. Das war Antje Huber damals. Ich habe damals hier zum Jugendhilfegesetz gesprochen und mir wütende Zwischenrufe von vielen Ihrer Kollegen anhören müssen.
Herr Kollege Kuhlwein, der Kollege Walter würde gern eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie das?
Das ist dann aber die letzte.
Werter Herr Kollege Kuhlwein, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und dies unserem Kollegen Schwarz weiterzugeben, daß in Rheinland-Pfalz die dort heute Gott sei Dank entscheidungsberechtigten Sozialdemokraten den Gesetzentwurf der damaligen Regierung deswegen abgelehnt haben, weil er bei weitem nicht weitgehend genug war,
weil die Landesregierung damals entgegen einer anderen Praxis nach wie vor den Bau von Kindergärten nicht bezuschussen wollte, was die neue Landesregierung, seit sie an der Macht ist, innerhalb kürzester Zeit in Kraft gesetzt hat?
Doch, der weiß das besser, und dem glaube ich auch mehr.
Ihre CDU-Freunde im schleswig-holsteinischen Landtag haben gerade vor 14 Tagen ein Kindertagesstättengesetz abgelehnt, nachdem sie vorher 38 Jahre lang nicht in der Lage waren, ein solches Gesetz auf den Tisch zu bringen.
Aber lassen wir das!
Lassen Sie mich jetzt noch zu wenigen Aspekten kommen, die mir für die weitere Debatte über Jugend und Jugendpolitik in Deutschland wichtig zu sein scheinen.
Herr Pofalla, an sich hatte der Kollege Kuhlwein gesagt, daß er keine Zwischenfrage mehr zulassen möchte. Aber vielleicht macht er in Ihrem Fall eine Ausnahme.
Mir macht es Spaß, und Herr Pofalla hat ja noch keine Zwischenfrage gestellt.
Ich möchte die Frage stellen, ob Ihnen bekannt ist, daß die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag den Antrag der dortigen CDU-Fraktion auf Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz mit Mehrheit abgelehnt hat?
Dies ist durchaus plausibel, nachdem in der vergangenen Legislaturperiode das Rahmengesetz dazu, nämlich das Kinder- und Jugendhilfegesetz, genau diesen Rechtsanspruch nicht enthielt. Das muß erst einmal eingelöst werden. Dann werden auch die Ländergesetze entsprechend novelliert werden.
Die Bundesregierung bekennt sich auch zu Ganztagsangeboten im Schulalter. Sie liegt damit auf einer Linie mit einigen Gliederungen der CDU, die mit der Forderung nach Ganztagsgymnasien Agitation gegen Gesamtschulen betreiben. Frau Funke-Schmitt-Rink, ich finde es schon bemerkenswert, wie sich die FDP mit einem Salto mortale von der Gesamtschule abgeseilt hat. Früher hat man das anders gehört. Ich kann mich noch daran erinnern, daß es einmal ein Konzept für eine offene Schule gab,
das bei veränderter Bezeichnung genau dasselbe meinte. Dieser Begriff, Herr Hansen, ist doch auch aus Ihrem Vokabular verschwunden. Ich habe heute nur etwas von der Förderung der Gymnasien gehört. Ich finde es schon bemerkenswert, wenn das in Zukunft die Perspektive liberaler Bildungspolitik sein soll. Von
5698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Eckart Kuhlwein
Christdemokraten habe ich eh nichts anderes erwartet.
Über eines sind wir uns einig, was die Ganztagsbetreuung angeht: Eines der reichsten Länder der Welt müßte es sich leisten können, den wachsenden Bedarf an Räumen und Freizeitangeboten für Kinder im Schulalter angesichts veränderter Lebenswelten in Familie und Wohnumgebung stärker zu berücksichtigen. Das haben inzwischen selbst die Arbeitgeberverbände so unterschrieben auf eine Initiative hin, die von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kam.
Meine Damen und Herren, dann darf man aber nicht, wie Sie es in Ihrem Entschließungsantrag getan haben, die Aufforderung zur Gründung von Ganztagsschulen aussprechen, aber die Frage unbeantwortet lassen, ob Sie die Länder denn auch finanziell entsprechend ausstatten wollen, damit die Länder all das leisten können, was gesellschaftlich eigentlich notwendig ist.
Lassen Sie mich zum Schluß zwei letzte Fragen aus dem Bildungsbereich ansprechen. Die Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme darauf hin — gemeint sind natürlich die westlichen Länder — , die Probleme der zweiten Schwelle zwischen Berufsausbildung und Arbeitsmarkt seien weitgehend gelöst. Das beantwortet nicht die Frage nach den schätzungsweise 1,5 Millionen jungen Erwachsenen, die in den 80er Jahren keine Chance hatten, erfolgreich eine geordnete Ausbildung zu absolvieren. Es sagt auch nichts darüber aus, wie die Ausbildungssituation in den neuen Ländern bei kritischer Betrachtung wirklich ist.
Wir warten jedenfalls noch immer auf Aufklärung durch die Bundesregierung, wo die 50 000 Jugendlichen abgeblieben sind, die sich beim Arbeitsamt beworben hatten, in der Statistik der vermittelten Ausbildungsplätze jedoch nicht mehr auftauchten. Da gibt es eine Differenz. Wir haben mehrfach danach gefragt. Sie haben uns auf den Winter verwiesen, auf das neue Jahr. Wir warten auf Aufklärung.
Herr Lammert, Sie müssen mich nicht so angucken; Sie kennen das Problem: 100 000 abgeschlossene Verträge, 150 000 Bewerber. Sie sagen, alle sind versorgt. Ich frage: Wo sind sie geblieben?
Wir brauchen so etwas wie ein Benachteiligtenprogramm auch für junge Erwachsene. Wir brauchen weiter — darin unterstützen wir die Bundesregierung — auf Dauer die Förderung benachteiligter Jugendlicher in der Erstausbildung. Wir brauchen in den neuen Ländern schließlich ein Konzept für den Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten und ein besonderes Programm des Bundes zum Ausbau der Berufsschulen, deren Lage — wie man in den Gazetten lesen kann, „Frankfurter Allgemeine" — inzwischen katastrophal geworden ist. Wenn der Bund — auch wenn er nicht direkt verpflichtet ist — hier nicht mit eintritt und hilft — Herr Hansen, wir waren uns da im
Ausschuß immer einig — , dann wird es eine Katastrophe geben. Dann wird eine qualitative Ausbildung im dualen System in den neuen Ländern kaum möglich sein.
Meine Damen und Herren — jetzt leuchtet das rote Licht auf — ,
zwei letzte Sätze: Die Bildungspolitik spielt beim Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands eine zentrale Rolle. Ob die jungen Menschen diesen Staat als ihren eigenen ansehen, den sie mitgestalten können, wird sehr wesentlich von ihren Erfahrungen mit diesem Staat in Schule, Berufsausbildung und Hochschule abhängen. Der Bund ist dafür nur teilweise zuständig — das wissen wir — , aber er muß dafür dennoch stärker als bisher gesamtstaatliche Verantwortung übernehmen.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Kersten Wetzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn ich noch relativ jung bin,
so konnte ich auf mein Geburtsjahr bisher doch nie stolz sein. Es ist das Jahr 1961, das Jahr des Mauerbaus, und ich bin auf der anderen Seite dieser kommunistischen Errungenschaft „Ostzone" oder „DDR" genannt, aufgewachsen.
Bis zum Herbst 1989 gab es für mich — wie für die meisten meiner Generation — keine Möglichkeit, den freien Teil Deutschlands und der Welt zu sehen. Doch die Mauer teilte nicht nur unser Volk, sondern sie trennte vor allem auch uns Jugendliche im Osten von Wirklichkeit und Wahrheit. Statt Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freier Jugendarbeit kannten wir nur die Diktatur der Sozialistschen Einheitspartei Deutschlands und ihrer Kampfreserve, der sogenannten Freien Deutschen Jugend.
Statt Pluralismus und Chancengleichheit in Erziehung, Bildung und beruflicher Entwicklung hatten wir das „sozialistische Bildungswesen" , das bekanntlich bereits im Kindergarten einsetzte.
Natürlich hatten wir auch freie Studienplatzwahl für alle SED-Mitglieder und künftigen Offiziere von Stasi und Nationaler Volksarmee.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5699
Kersten Wetzel
Auch hatten wir in den Betrieben die Kader-Nomenklatura der allgegenwärtigen SED, getreu dem Motto: „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei, und die Partei ist überall" — selbst hier im Bundestag.
Last not least hatten wir zwar keine Levis-Jeans und Udo Lindenberg — live, mit „Sonderzug nach Pankow" —, dafür aber überall rote Fahnen, hohle Sprüche und Genossen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Gleicke?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß auch ich in der ehemaligen DDR ein Studium absolviert habe, ohne Mitglied der SED oder irgendeiner Blockpartei gewesen zu sein?
Das nehme ich gern zur Kenntnis. Aber Sie wissen sicher so gut wie ich, wie schwer es Jugendliche hatten, die sich diesem System nicht angepaßt haben, einen Studienplatz ihrer Wahl zu bekommen. Ich denke gerade an solche Fachrichtungen wie Medizin und Jura.
Das war doch nur für die exzellente junge Garde vorgesehen. Das müßten Sie genausogut wissen wie ich.
Zweifellos, meine Damen und Herren, konnten 40 Jahre kommunistischer Diktatur und Demagogie an den jungen Leuten in der ehemaligen DDR nicht spurlos vorübergehen. Sicher haben sich von der großen Mehrheit der FDJ-Mitglieder — immerhin waren mit 95 bis 98 % nahezu alle Schüler und Lehrlinge organisiert — nur wenige bewußt als Kampfreserve der kommunistischen Partei betrachtet. Doch die Jugend als Zukunftsträger eines jeden Staates ist in der DDR mit einer ausgeklügelten Strategie und Taktik verführt und auch mißbraucht worden.
Nicht ohne Grund war die Jugend- und Bildungspolitik in der DDR eine der wichtigsten Machtsäulen der SED-Diktatur und deshalb fest in ihrer Kontrolle. Das galt übrigens auch für die Medien in der DDR, zu denen ich auch „DT 64" zählen muß.
Sicher hat sich auch in der Medienlandschaft einiges geändert. Positionen sind ausgewechselt worden. Frühere Chefredakteure von Bezirkszeitungen und Zentralorganen sind heute keine Chefredakteure mehr, sondern stellvertretende Chefredakteure und
Redakteure. Dafür sind die früheren stellvertretenden Chefredakteure jetzt die Chefredakteure.
Man muß sich die Situation im damaligen Bildungswesen vergegenwärtigen. Es gab fast keinen einzigen Direktor einer Schule und keinen Kreisschulrat, die nicht Mitglieder der SED waren. Selbst Leiter staatlicher Kindergärten mußten SED-Mitglieder sein; denn alles, was bildungsfähig war, mußte unter der Kontrolle der SED stehen.
Deshalb gab es nur ganz vereinzelt kirchliche Kindergärten, und die nur als Aushängeschilder ,,sozialistischer Demokratie".
— Es tut mir leid, lieber Kollege; ich kenne kein Mitglied einer ehemaligen Blockpartei, der Schulleiter oder Kindergartenleiter war. Wenn Sie mir da behilflich sein könnten, wäre ich Ihnen dankbar, weil das zur Vergangenheitsbewältigung für unsere Partei wichtig ist. Das gilt übrigens auch für Ihre Partei. Ich erinnere an das Jahr 1946.
Immer wieder stellen wir fest, daß sich viele Jugendliche der neuen Bundesländer nur schwer in dem völlig anderen System unseres Rechtsstaats Bundesrepublik wiederfinden. Die Bevormundung durch den Sozialismus ist wie ein Kartenhaus zerfallen, und die sich plötzlich auftuende Freiheit wird oft als Leere empfunden.
Die Jugendlichen der DDR, die gelernt hatten, mit zwei Gesichtern zu leben, und die ihre kleinen, bescheidenen Freiräume in den wenigen Nischen der totalitären Gesellschaft gesucht hatten, beispielsweise in der Evangelischen Kirche und der kirchlichen Jugendarbeit
— ja; aus der auch ich stamme — , suchen jetzt ihre Identität; sie wollen sich profilieren. Das ist natürlich.
Doch in den neuen Bundesländern müssen wir erst mühsam die breite Jugendarbeit aufbauen. Es fehlt uns ein abgestimmtes Netzwerk von Jugend- und Jugendsozialarbeit, wie es sich in vier Jahrzehnten Bundesrepublik in einem freiheitlich-rechtsstaatlichen System entwickeln konnte, sich bewährt hat und weiterentwickelt hat. So etwas gab es in dieser Form und auf die wirklichen Bedürfnisse von Jugendlichen ausgerichtet in der DDR nicht. Jugendarbeit dient dort
5700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Kersten Wetzel
ganz einfach der Gleichschaltung von Machtinteressen der SED; sie war Propaganda und sonst nichts.
Viel haben vor allem der Bund, aber auch die neuen Bundesländer beim Aufbau einer wirklich neuen Jugendverbands-, Jugendhilfe- und Jugendsozialarbeit schon geleistet. An dieser Stelle möchte ich als Jugendlicher aus den neuen Bundesländern unserer Bundesministerin für Frauen und Jugend danken,
die engagiert auch die Interessen der Jugendlichen in den neuen Bundesländern vertritt.
Konkrete Hilfe vor Ort
für sozial Schwache und für Arbeitslose ohne Polemik und ohne Debatte ist jetzt besonders gefragt. Gerade sie brauchen jetzt unsere Unterstützung. Es gibt bereits viele gute Projekte, die unbürokratisch schneller verarbeitet werden sollten. Hierzu appelliere ich besonders an die freien Träger aus den alten Bundesländern.
Unsere Projekte müssen konkret auf die Situation der Jugendlichen im Osten zugeschnitten sein, damit sie angenommen werden und nicht verpuffen.
Ich selber konnte diese Erfahrung bei der Begleitung eines Modellprojekts in meinem Wahlkreis machen. Vor etwa einem Jahr standen wir mit einer Handvoll arbeitsloser und schwer vermittelbarer Jugendlicher da, die im DDR-Wirtschaftssystem oft nur als Hilfsarbeiter mitgeschleift und dann von den alten Seilschaften in den Betrieben als erste entlassen wurden. Es ging um eine der größten Schweinereien der SED-Regierung.
Damit meine ich den Stall, in dem 190 000 Schweine standen, nämlich die große Schweineanlage in Neustadt/Orla in Thüringen, wo nicht nur vierbeinige Schweine dick und fett wurden, sondern auch riesige Waldflächen durch Gülle und Ammoniak vernichtet wurden. Mit rund 30 Jugendlichen haben wir dort vor etwa einem Jahr begonnen, die Umwelt zu sanieren und damit diesen jungen Leuten eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Heute sind dort 150 Jugendliche beschäftigt.
Gleichzeitig kümmert sich ein christlicher Träger um die Persönlichkeitsentwicklung und Weiterbildung.
Jugendliche, die früher nur Kisten schleppen durften, lernen heute, am Computer zu arbeiten. Durch dankenswerte Unterstützung der Bundesregierung, besonders des Ministers Dr. Blüm, ist es uns bis heute gelungen, weitere 30 solcher ABM-Projekte mit mehreren tausend Jugendlichen in den neuen Bundesländern aufzubauen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist konkrete Politik für die Menschen, für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern, das ist Regierungspolitik.
Aber mit materieller und finanzieller Hilfe allein läßt sich eine alte kommunistisch-totalitäre Jugendarbeit nicht durch eine neue, freie, demokratische und rechtsstaatliche ersetzen. Wichtig ist vielmehr auch, die alten SED-Demagogen und ihre Helfershelfer durch wirkliche Demokraten und Pädagogen zu ersetzen.
Dabei geht es mir nicht um die kleinen Mitläufer, die selbst keine persönliche Schuld auf sich geladen haben, oder um die paar wenigen, die ehrlich daran geglaubt haben. Vielmehr sollte es uns allen — und da bitte ich alle demokratischen Parteien, die in diesem Hause sitzen — darum gehen, die wirklich Verantwortlichen zu verurteilen,
diejenigen, die das SED-Unrechtssystem zu verantworten haben und die wirklich Schuldigen an dieser Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern sind, nämlich die alten SED- und FDJ-Funktionäre,
die heute behaupten, daß sie schon immer dagegen waren, daß sie dafür waren, die heute noch in den Verwaltungen, Jugendeinrichtungen und Jugendämtern, ja, selbst in Abteilungen und Außenstellen von Ministerien sitzen.
Sicherlich sind die meisten von den alten Funktionären — da werden Sie mir auch recht geben — heute parteilos. Spätestens seit dem 19. März 1990 haben sie erkannt, daß sie nicht mehr Mitglied der SED sein können.
Herr Kollege Wetzel, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir wirklich noch einiges tun, damit die jungen Menschen in den neuen Bundesländern wieder Vertrauen zu den demokratischen Parteien und zu den Regierungen bekommen.
Danke schön.
Einen Moment, Herr Abgeordneter Dr. Elmer. — Bevor ich Ihnen das Wort gebe, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß sich Präsidium und Ältestenrat bereits vor geraumer Zeit darauf geeinigt haben daß Abgeordnete nicht als Litfaßsäulen ins Plenum kommen, egal, wofür sie werben. Ich würde Sie bitten, den Aufkleber herunterzunehmen.
Sie haben das Wort.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5701
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte zu vermuten gewagt, daß es eine jugendpolitische Debatte erlauben könnte, an einer Stelle mal ein wenig über die Stränge zu schlagen; aber dieser Hinweis wird akzeptiert.
— Ich habe auch nicht von mir, sondern von der jugendpolitischen Debatte hier gesprochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Jugend ist das besonders wertvolle Gut eines jeden Landes. Insofern ist Ihr Ministerium, Frau Merkel, von besonderer Bedeutung, ganz abgesehen von der Bedeutung der Frauenpolitik. Beide Bereiche verlangen, mit besonderer Kompetenz und mit Fingerspitzengefühl an die Arbeit heranzugehen; denn die Jugend ist in besonderer Weise ein Kind der Freiheit, das sich nur in Freiheit gut entwickeln kann, das jede Steuerung von außen schwer verträgt. Das hat vor allen Dingen die SED hart zu spüren bekommen. Solche Steuerungen und Versuche direkter Beeinflussung sind meistens kontraproduktiv.
Es ist wie bei einer Pflanze: Man darf da nicht schieben und drücken wollen — das verbiegt —, sondern man muß selber wachsen lassen. Man kann nur das Umfeld drumherum bearbeiten und günstige Rahmenbedingungen schaffen.
Meine Frage ist nun diese, wenn wir hier nur so weniges im Umfeld tun können: Ist dieses wenige denn wirklich getan worden?
Sicher, auf dem Gebiet der beruflichen Bildung ist in den neuen Bundesländern einiges passiert. Wir werden abwarten müssen, ob das nur eine formale Integration war oder ob die Jugendlichen am Ende wirklich eine berufliche Perspektive bekommen. Wie wir nach letzten Umfragen wissen, sitzen 80 % der Jugendlichen auf gepackten Koffern für den Fall, daß sie keine berufliche Perspektive erhalten werden, so daß der Überalterung Ostdeutschlands noch nicht endgültig gewehrt ist.
Noch wichtiger aber scheint mir im Bereich der Jugendpolitik zu sein, den Jugendlichen eine sinnvolle freizeitliche Existenz zu ermöglichen, also Räume zu schaffen, in denen sie sich selbst entfalten können, in denen herrschaftsfreier Dialog und entsprechende Sinngebungen möglich werden.
Ist dafür wirklich genug getan worden, wenn etwa die Hälfte aller Jugendklubs zwei Jahre nach der Wende nicht mehr existieren? Welch große Zerstörung soziokultureller Handlungsräume ist hier unter den Augen der Regierung passiert!
— Parteihochschulen soll man auch zumachen, aber nicht die Jugendklubs.
— Das frage ich mich auch.
— Liebe Genossinen und Genossen, laßt mich auch einmal zu Worte kommen!
— Sie werden hier doch einmal einen Witz verstehen.
— Ist uns nicht mehr unangenehm.
Freie Träger warten immer noch auf Planungssicherheit, um kontinuierlich Strukturen aufbauen zu können und nicht nur medienwirksamen Projekten hinterherjagen zu müssen.
Ich frage: Was ist aus den Kinder- und Jugenderholungszentren, den zentralen früheren Pionierlagern geworden, wenn, wie ich hörte, etwa die Hälfte von ihnen nicht mehr für Jugendarbeit und ähnliches zur Verfügung stehen und im Haushalt 1992 keine Mittel für Überbrückungsangelegenheiten und Überführung in sinnvolle weitere jugendpolitische Verwendung zu finden sind?
— „Kein Bedarf", das ist eine interessante Antwort der CDU, die wir zu Protokoll nehmen.
Viele Jugendklubs sind auch daran zugrunde gegangen, daß Restitutionsansprüche bestanden. Auch hier zeigt sich wieder, wie verheerend es war, daß sich die Regierung nicht zu dem Grundsatz „Entschädigung vor Rückgabe" durchringen konnte.
Es geht aber nicht nur darum, Räume zur Verfügung zu stellen, sondern man muß auch — freilich in sehr vorsichtiger Weise — dafür sorgen, daß in diesen Räumen ein Geist herrscht, der Positives bewirkt, weil sonst diese leeren Räume durch Rattenfänger, durch radikale Prediger von Nationalismus und Fremdenhaß, gefüllt werden, die dafür plädieren, daß die Jugendlichen ihre Freiheit an der Garderobe abgeben.
— Das ist hier heute nicht das Thema.
Wichtig ist, wie gesagt, daß hier nicht zuviel getan wird, daß wir nicht unsererseits mit einer neuen Ideologie daherkommen, sondern daß da Menschen, Ju-
5702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Konrad Elmer
gendarbeiter sind, denen es gelingt, demokratische Werte in Freiheit zu vermitteln, die die Jugendlichen nicht drängen, sondern nach dem Motto Hölderlins locken: „Komm, Freund, ins Offene." Die anwesenden Damen werden verzeihen, daß Hölderlin noch in einer männlichen Sprachumgebung lebte; die Freundinnen sind natürlich mit eingeladen.
Schließlich ist es besonders wichtig, daß in der Jugendarbeit eine den Jugendlichen angemessene Sprache gesprochen wird, daß die Jugendmitarbeiter Zugang zu der ostdeutschen Befindlichkeit haben, sich dort zu Hause fühlen. Hier ist nun in der Tat jener Sender, dessen Plakette ich hier nicht an der Weste tragen darf, „DT 64", eine unentbehrliche Hilfe, die wir über die Zeiten retten sollten.
— „DT 64", Herr Kollege.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwarz?
Ja.
Herr Kollege Elmer, wenn man in wenige Monate alten Dokumenten liest, wie sehr unterschiedlich doch beispielsweise „DT 64" und Sendungen von RIAS 2 wie „Treffpunkt" auch in der damaligen DDR bewertet worden sind und wie immer wieder gesagt worden ist, daß die „DT 64"-Redakteure ihre Weisungen zum Teil aus der Normannenstraße bekommen haben könnten, glauben Sie nicht, daß es dann überzogen ist, wenn man „DT 64" — bei allen Argumenten dafür — zum Identitätsfaktor der DDR-Jugend hier hochstilisiert?
— Ich weiß das eben; Ihr Pech ist, daß ich das weiß.
Wenn Sie mir genau zugehört hätten, dann hätten Sie bemerkt, daß ich ihn nicht zu einem Freiheitssender hochstilisieren will, sondern zu einem Sender, in dem Menschen tätig sind, die das Umfeldwissen haben, auf das es hier ankommt, nämlich die ostdeutsche Befindlichkeit.
— Sie haben ja auch sehr vielen früheren CDU-Abgeordneten eine neue Chance gegeben. Das sollte man auch bei diesem Sender tun.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Küster?
Ja.
Herr Kollege Elmer, reden Sie hier für den Sender „DT 64", der nach der Wende und in der Zeit der Wende eine wesentliche Rolle bei der Demokratisierung gespielt hat, oder reden Sie für
den Sender „DT 64", der vorher ein Bestandteil der Medienpolitik der DDR war?
Ich rede für einen Sender, der, wie vieles bei uns in den neuen Bundesländern, in einer ständigen weiteren Entwicklung ist. Wenn Sie an einem der Mitarbeiter des Senders etwas Ernsthaftes auszusetzen haben, sollte man hier auch das thematisieren. Auch darüber werden die Kolleginnen und Kollegen sicher reden, damit dieser Sender auch vor Ihren Augen Bestand hat.
Für mich ist ein besonderes Problem der derzeitigen Jugendpolitik, daß wir wissen, daß die westdeutschen freien Träger, die in Ostdeutschland nun segensreich tätig werden, nicht genügend Freiwillige finden und auch finden können, die diese Art Jugendarbeit nun wirklich flächendeckend zustande bringen, sicher weil auch entsprechende Mittel fehlen, vor allem aber weil sie deshalb selber natürlich nicht diese Befindlichkeit mitbringen, die dort nötig ist.
Um so unerklärlicher ist für mich, daß die politisch Verantwortlichen — nicht nur beim Bund, sondern vor
allem bei den Ländern —
die in Ostdeutschland im Zuge der Wende und nach der Wende dort entstandenen Vereinigungen der Jugendarbeit bis heute an vielen Stellen nicht endgültig anerkannt haben, daß diese immer noch zittern müssen, ob sie im nächsten Jahr weiter finanziell unterstützt werden, daß sie erfolglos von einer Genehmigungsbehörde zur anderen geschickt werden, von Pontius zu Pilatus.
Ich erinnere an solche Vereine, die immer noch um ihre Anerkennung kämpfen, wie der Förderverein für arbeitslose Jugendliche oder die Interessengemeinschaft „Regenbogen" und all die Beispiele, die auch Kollegin Gleicke hier schon vorgebracht hat. Hier müßte auch von seiten der Bundesregierung stärker bewußtseinsmäßig in der Öffentlichkeit gearbeitet werden, um die Länder voranzubringen. Sie wissen, wie schwer es für uns aus Ostdeutschland vor allem ist, mit der westdeutschen Bürokratie zu Rande zu kommen. Man wird hier wirklich, wie gesagt, von Pontius zu Pilatus geschickt.
Dabei wären es doch gerade diese dort in Ostdeutschland selbst gewachsenen Jugendgruppen und Vereinigungen, die in der Lage wären, das Abgleiten der Jugendlichen in rechtsradikale Bereiche zu verhindern.
Wer, wenn nicht die ehemaligen Friedensgruppen in der DDR, könnte hier segensreich tätig werden. Nur was von innen heraus wächst, bleibt auch beständig, weil es authentisch ist. Das sollten wir hier bedenken. Bedenken wir auch aus der Geschichte, daß es damals die „wilden Cliquen" waren, die nicht in die SA eingetreten sind. Also stärken Sie das, was dort selbst im Lande wächst, und das andere auch.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5703
Dr. Konrad Elmer
Ein letztes Wort zur Gewaltbereitschaft, die hier den ostdeutschen Jugendlichen noch immer unterstellt wird. Repräsentative Untersuchungen haben gezeigt, daß die Gewaltbereitschaft Jugendlicher in den alten Bundesländern mindestens ebenso hoch, wenn nicht höher, ist. Zwei Zahlen: In Sachsen halten 22 %, in Nordrhein-Westfalen 29 % der Jugendlichen Gewalt für ein akzeptables Mittel der Auseinandersetzung.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Was wir in diesem Bereich tun müssen, ist also, den Gefahren des Radikalismus langfristig zu begegnen. Es gilt also, statt kurzatmigen Aktionismus zu betreiben, sich beständig zu bemühen, unsere Jugendlichen vor den Irrwegen des Nationalismus zu bewahren und für ein freies Europa zu gewinnen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Augustinowitz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neuere Untersuchungen bestätigen es: Die Jugendlichen sind entgegen weit verbreiteten Vorurteilen keineswegs unpolitisch. Das Interesse für politische Fragen geht aber einher mit einer beträchtlichen Skepsis gegenüber den etablierten Formen der Parteipolitik. Besonders ausgeprägt ist das Interesse Jugendlicher an Fragen und Problemen der Entwicklungspolitik. Bei ihnen ist das Bewußtsein der einen Welt stark vorhanden. Bei ihnen ist das Bewußtsein stark vorhanden, daß die Menschheit in einem Boot sitzt.
Meine Damen und Herren, wie sieht unser Planet in 50 Jahren aus? Wie lebt ein heute 20jähriger in 50 Jahren, im Jahre 2041? Laut UN-Weltbevölkerungsbericht 1990 werden diese 90er Jahre darüber entscheiden, wie die Zukunft der Erde aussieht. Die weltpolitischen Veränderungen erfordern ein neues Handeln. Neues Handeln setzt zunächst neues Denken voraus. Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß 20 % der Menschheit nicht 80 % der Weltressourcen verbrauchen können — und damit auch den Großteil der Umweltschäden verursachen.
Doch sind wir wirklich bereit, aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen? Sind wir bereit, in Bilanzen neben Produktivität und Investitionen auch die Ausbeutung und Belastung der Natur zu berücksichtigen? Stellen wir uns bitte einmal vor, es gelänge den Ländern des Südens, unser technisches Leitbild und unsere Produktion von Konsumgütern erfolgreich zu imitieren. Was würde dann aus unserem Planeten?
In den Industrieländern sind entscheidende Veränderungen notwendig. Das heißt auch, daß Entwicklungspolitik entweder ein entscheidender Bereich der Gesamtpolitik wird oder zum Scheitern verurteilt ist.
Das wiedervereinigte Deutschland stellt sich seiner Verantwortung. Für die Bewahrung des tropischen
Regenwaldes stellt Deutschland jährlich mehr als 300 Millionen DM zur Verfügung. Dies ist mehr, als jeder andere Staat auf der Welt hierfür tut. Dies sollten wir den jungen Menschen sagen und sie auffordern, die Politik zur Regenwalderhaltung auch persönlich zu unterstützen. Verläßliche und dauerhafte wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen sind die Voraussetzung für die Verbesserung der Situation in den Entwicklungsländern. Ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen wird auch Entwicklungshilfezusammenarbeit nicht erfolgreich sein können.
Der Beachtung von Kriterien in der Entwicklungshilfezusammenarbeit mißt die CDU/CSU-Fraktion besondere Bedeutung bei. Wir werden von Jugendlichen auch daran gemessen, wie wir das in der praktischen Politik umsetzen.
Wir begrüßen sehr, daß es der Bundesregierung gelungen ist, diese Kriteriendiskussion auch in die Beratungen des EG-Ministerrates erfolgreich einzubringen.
Jugend will Verantwortung tragen. Frieden und Freiheit zu sichern, gehört zu unserer Verantwortung, seit der Wiedervereinigung noch mehr. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, nur die Opfer von vielen Kriegen zu beklagen. Wir müssen friedliche Konfliktlösungen unterstützen. Dazu gehört auch, daß sich unsere Streitkräfte an allen friedensichernden Aktionen der Vereinten Nationen oder des Bündnisses beteiligen.
Hier darf Deutschland nicht mehr abseits stehen. Dieses Parlament ist aufgerufen, dazu die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.
Die Probleme signalisieren den jungen Menschen: Du mußt dich einmischen, mitgestalten, mitbestimmen, Verantwortung übernehmen — bringen wir als junge Generation doch den Optimismus, die Frische und die Tatkraft auf, die von der Jugend allgemein erwartet wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Christoph Matschie.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal speziell auf die Situation der Jugendlichen im Osten Deutschlands eingehen. Ich glaube — das ist jedenfalls mein Eindruck aus der Debatte —, daß wir diese Situation nicht ernst genug in den Blick genommen haben.
„Verzeiht mir, ich finde mich nicht mehr zurecht." — Dieser Satz findet sich in dem Abschiedsbrief eines Jugendlichen, der sich in Freital in Sachsen vor einen Zug warf. Innerhalb von elf Tagen waren es in Freital drei Jugendliche, die auf diese Weise ihrem Leben ein Ende gesetzt haben.
5704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Christoph Matschie
„Ich finde mich nicht mehr zurecht." — Ich glaube, diese wenigen Worte beschreiben in einprägsamer Weise die Situation sehr vieler Jugendlicher im Osten Deutschlands. Wir sind aufgefordert, nach den Gründen für diese Situation zu fragen. Da hat es keinen Zweck, nur auf die DDR-Vergangenheit zu verweisen, auf die Sozialisation, die in dieser Zeit stattgefunden hat. Da gab es natürlich gravierende Fehlentwicklungen. Da gab es einen Mangel an Erfahrungen mit Pluralität. Da gab es einen Mangel an Erfahrungen mit sozialen Unsicherheiten. Da gab es einen Mangel an Erfahrung mit Konfliktlösungsstrategien, und da gab es Ohnmachtserfahrungen. Mit dieser Sozialisation werden Jugendliche in eine völlig veränderte Grundsituation hineingeworfen.
Hinzu kommt für viele eine zusammenbrechende Struktur im Elternhaus, in der Wirtschaft, im Freundeskreis.
Vor dem Hintergrund dieser Situation muß verantwortliche Politik fragen, wie sie diesen Herausforderungen gerecht werden kann, wie dieses Gefühl der Heimatlosigkeit bekämpft werden kann. Da nützt es nichts, auf schon vollbrachte Taten zu verweisen, wenn die Situationsanalyse trotz der in manchen Bereichen unternommenen Anstrengungen, die ich nicht in Abrede stellen will, immer noch ein solch negatives Bild bringt.
Jugendliche sind, theoretisch gesehen, eigentlich die Gruppe, die durch den Vereinigungsprozeß die größten Chancen hat. Gleichwohl beschreiben sehr viele Jugendliche ihre Lebenssituation mit Begriffen wie Frustration auf der einen Seite und Aggression auf der anderen Seite.
Ich denke, deshalb ist es notwendig, nach Korrekturen zu fragen, die jetzt von politisch Verantwortlichen angegangen werden müssen.
Meine Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion haben hier darauf hingewiesen, daß es für Jugendliche notwendig ist, daß die Gesellschaft einen Sinnhorizont bietet, daß eine Politik notwendig ist, die die globalen Probleme angeht, eine Politik, die dafür sorgt, daß auch in Zukunft noch eine lebenswerte Umwelt vorhanden ist.
Das ist richtig, aber ich muß auf der anderen Seite sagen: Ich sehe keine deutlichen Schritte dieser Bundesregierung, genau in dieser Richtung voranzugehen.
Ich nehme nur das Beispiel Entwicklungspolitik. Wir sind von der Selbstverpflichtung der Industriestaaten weit entfernt, wenigstens 0,7 % des Bruttosozialprodukts für diese Arbeit einzusetzen. Forderungen nach einer deutlichen Erhöhung der Mittel sind immer — auch in diesem Haushalt — abgelehnt worden.
An dieser Stelle erweist sich auch Glaubwürdigkeit oder Nichtglaubwürdigkeit von Politik und nicht im Verbalaktionismus von diesem Pult aus.
Herr Augustinowitz, Sie haben ja darauf hingewiesen: Wir werden gemessen an der Umsetzung und nicht daran, was wir verkünden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwarz?
Aber selbstverständlich.
Lieber Kollege, auch Alterskollege, glaubst Du nicht auch mit mir — ich sage das als Leiter derjenigen Veranstaltung, die bei der Jungen Union 1 % Entwicklungshilfe bis zum Jahr 2000 beschlossen hat — , daß der alte Satz von Max Weber „Politik ist das geduldige Bohren dicker Bretter" — meine Hinzufügung: egal vor welchen Köpfen sie sitzen — uns dazu führen sollte, gerade in einer solchen Debatte lieber zu versuchen, die gemeinsamen Ziele herauszustreichen, anstatt nach einer wirklich tief fundierten und guten Analyse, der ich bis dahin gelauscht habe, in die übliche parteipolitische Polemik zu verfallen?
— Ich sage das in aller Ruhe und Gelassenheit.
— Moment doch mal, ich frage ihn doch ernsthaft. Glaubst Du nicht auch, daß wir uns insgesamt einen Gefallen täten, auch was die Wirkung nach außen angeht, wenn wir zwei, drei Schritte gemeinsam gingen?
Ich bin gerne bereit, solche Schritte gemeinsam zu gehen. Aber in der Abstimmung über den Haushalt haben sich alle Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion nicht für diese Erhöhung eingesetzt; das betrifft auch die jungen Mitglieder. Wenn Sie sagen, es gehe natürlich darum, dicke Bretter zu bohren, muß ich auch vorher schauen, wie groß mein Bohrer ist. Wenn von vornherein feststeht: Mit dem Bohrer komme ich nicht durch, muß ich mir etwas anderes einfallen lassen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich darauf hinweisen: Jugend braucht nicht die Almosen der Gesellschaft. Jugend braucht Möglichkeiten und Hilfen, die eigene Kraft zu entfalten. Nicht Sozialhilfe, sondern das Gefühl, gebraucht zu werden, ist jetzt notwendig. Wenn von 100 Sozialhilfeempfängern im Osten Deutschlands 50 unter 25 Jahren sind, ist dies ein alarmierendes Signal.
Wenn wir dabei sind, von Taten zu reden, muß ich, wie es schon Kollegen getan haben, noch einmal auf zusammenbrechende Strukturen in vielen Bereichen der Jugendarbeit hinweisen. Es werden reihenweise Jugendklubs geschlossen, ohne daß so schnell Alternativangebote entstehen können. Es fehlt an Freizeit-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5705
Christoph Matschie
möglichkeiten für Jugendliche. Es fehlt an Möglichkeiten für Jugendliche, sich auch in politischen Bereichen wirklich zu artikulieren und ernstgenommen zu werden. Auf diesem Feld haben wir noch deutlich Nachholbedarf. Dazu gehört es dann auch, daß man an den entsprechenden Stellen das nötige Geld locker macht; denn allein mit Worten fühlen sich auch Jugendliche nicht ernst genommen.
In diesem Zusammenhang auch noch ein Wort zu DT 64. Ich will das nicht so sehr ausweiten, da es schon mehrfach angesprochen worden ist. Es geht beim Ernstnehmen darum, daß man Menschen nicht auf der Seele herumtrampelt. Wenn z. B. der Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Udo Reiter, den DT 64 als ziemlich einseitig und unausgegoren bezeichnet
und wenn man auf der anderen Seite weiß, daß die Unterstützung für diesen Sender unter den Jugendlichen sehr groß ist, kann ich nur sagen: Wer den Menschen so unsensibel auf der Seele herumtrampelt, darf sich dann auch nicht wundern, wenn Politikverdrossenheit und Aggressivität zunehmen.
Jugend ist eine eigenständige Lebensphase und nicht eine bloße Übergangsphase hin zu einem vernünftigen Erwachsenenalter; das wird von Erwachsenen sehr oft übersehen. Das bedeutet nämlich für Jugendliche, daß sie eigenständige Möglichkeiten für ihre Entfaltung brauchen, eigenständige Möglichkeiten der Mitgestaltung und eigenständige Möglichkeiten, ihre Gesellschaft auch nach ihrem Bilde mitzuformen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang, weil mir das sehr wichtig ist, noch einmal an die Zeiten der ehemaligen DDR und auch an die Zeiten der Wende im Herbst 1989 erinnern. Immer wieder und vor allem waren es Jugendliche, die ihren Protest am schnellsten und am deutlichsten artikuliert haben, oft auch gegen den Widerstand der verantwortlichen Erwachsenen. Vielerorts waren sie es, die 1989 die Demonstrationen ins Leben gerufen und begonnen haben, als die Erwachsenen sich noch nicht herausgetraut haben.
Der ostdeutsche Theologe Rudi Pahnke hat neulich in einem Interview gesagt:
Jugend als Seismograph der Gesellschaft drückt oft zeitiger und drastischer aus, welche Fehlentwicklungen und Gefahren ins Haus stehen.
Wir sollten also diese deutlichen Signale ernst nehmen. Ich glaube, die ausführliche Debatte heute ist ein erstes Zeichen dafür, daß diese Signale ernstgenommen werden.
Es darf allerdings nicht beim Verbalaktionismus bleiben, sondern es muß zu konkreten Taten führen; sonst
landen wir am Ende wieder bei dem fatalen Satz: Alles wird besser, aber nichts wird gut.
Ich erteile dem Abgeordneten Josef Hollerith das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gut an der heutigen jugendpolitischen Debatte war, daß sie überhaupt stattgefunden hat. Besser war, daß überwiegend — jedenfalls für die CDU/CSU-Fraktion — junge Parlamentarierinnen und Parlamentarier diese Debatte bestritten haben.
Wenn wir über Zukunftsperspektiven der jungen Generation in den neuen Bundesländern reden, müssen wir auch über die Ausgangssituation sprechen. Wie war denn die Ausgangssituation? Sie war so, daß eine sozialistische Kommandowirtschaft physisch und psychisch ein Trümmerfeld hinterlassen hat und daß wir heute mit der Beseitigung dieser Altlast des Kommunismus historisch eine einmalige Leistung vollbringen.
Ich habe Verständnis für die Sorgen und Nöte aller Menschen der neuen Länder, aber vor allem der jungen Generation; denn sie erfährt und erlebt diese Umbruchsituation in der Geschwindigkeit der Veränderungen und in der Notwendigkeit, das Denken zu verändern, viel stärker, als das Ältere noch erfahren können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matschie?
Wenn sie nicht auf die Redezeit angerechnet wird, ja.
Natürlich nicht.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß man bei allen Negativentwicklungen in der früheren DDR heute nicht nur sagen kann, daß bei den Jugendlichen ein Trümmerfeld hinterlassen wurde, sondern daß man erwähnen muß, daß sich Jugendliche auch in dieser schwierigen Zeit entwickelt, ihre Träume ausgebildet und ihre Erfahrungen gemacht haben, die sie jetzt einbringen wollen,
und daß es nicht darum geht, hier nur ein Trümmerfeld zu beschreiben, sondern darum, Möglichkeiten zu schaffen, damit sich diese Träume auch einmal entfalten können?
Ich habe nicht bestritten, daß es in der früheren DDR Erfahrungen, Erlebnisse und Hoffnungen junger Menschen gab. Aber ich habe bestritten, daß das System, das damals die Rah-
5706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Josef Hollerith
menbedingungen für die Entfaltungschancen junger Menschen gesetzt hat, den jungen Menschen die Chance geboten hat, sich in Freiheit und Wohlstand zu entfalten und die eigene Persönlichkeit zu entwikkein. Das habe ich bestritten.
Das ist der Betrug, den das System der Kommandowirtschaft und des Kommunismus an den jungen Menschen begangen hat. Das ist die Last, an der wir heute alle — in den alten wie in den jungen Ländern — zu arbeiten haben, um die Situation der Menschen in den neuen Ländern verbessern zu können. Das war gemeint.
Ich bedanke mich, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, dies noch einmal zu verdeutlichen.
Meine Damen und Herren, die Politik wird an ihrer Fähigkeit gemessen, die Zukunftsperspektiven der jungen Leute zu verbessern. Ich meine, die Bundesregierung hat richtig gehandelt. Wir haben das erfolgreiche Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das auch die ökologische Dimension beinhaltet, in den neuen Ländern eingeführt. Kein Wirtschaftssystem bietet im historischen und aktuellen Vergleich bessere Chancen für die Zukunft und für die Entwicklung der jungen Generation in Wohlstand und Freiheit als dieses Wirtschaftssystem.
Die Bundesregierung hat auch gehandelt, was ihre Aufgabe des Aufbaus der Jugendhilfeträger betrifft. Wir haben auf unsere Anregung hin 50 Millionen DM zusätzlich für den Aufbau der freien Jugendhilfeträger beschlossen. Es ist richtig, daß die Bundesministerin für Frauen und Jugend die Mittel nicht per Verordnung vergibt, sondern daß sie mit den Trägern sprechen will,
wie die Mittel sorgfältig und zielgerichtet eingesetzt werden können. Ich halte das für richtig.
Ich hielte es für sehr falsch, Frau Niehuis, wenn die Träger, die sich in 40 Jahren entwickelt haben, kritiklos weiter in ihrer Aufgabe belassen würden. Das kann nicht Aufgabe unserer Politik sein.
Meine Damen und Herren, betrachten wir den Saldo des ersten Jahres der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich meine, bei all den Problemen, die noch zu lösen sind: Dieser Saldo ist insgesamt positiv. Noch im Frühjahr waren 61 000 Jugendliche nicht vermittelt. Heute haben wir 6 700 unbesetzte Ausbildungsstellen, denen 2 400 nicht vermittelte Bewerber gegenüberstehen. Junge Menschen brauchen qualifizierte Ausbildung, um ihre Zukunftschancen gestalten zu können — wenn sie das wollen.
Der nahende EG-Binnenmarkt wird auch für die Jugendlichen der neuen Länder Chancen, aber auch verstärkte Konkurrenz bedeuten. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und dabei vor allem der jungen Generation im vereinten Europa auch für die Zukunft sichern.
Dabei haben wir einige Probleme zu lösen. Ich denke dabei vor allem erstens an unsere im Vergleich mit den übrigen EG-Ländern weit überdurchschnittlichen Ausbildungs- und Studienzeiten. Unser Berufseintrittsalter liegt mit 28,3 Jahren weit über dem des EG-Durchschnitts. Qualifizierte Hochschulabsolventen aus Frankreich und Großbritannien, die sich beispielsweise in Brüssel um eine entsprechende Position bewerben, sind in der Regel um 5 Jahre jünger als die Bewerber aus der Bundesrepublik Deutschland. Wie unverhältnismäßig besser ist da die berufliche Aufstiegschance für den mit 25 oder 26 Jahren ins Berufsleben startenden Franzosen im Vergleich zum 30jährigen oder zur 30jährigen Deutschen! Wir wollen keine Gesellschaft, in der man mit 30 beginnt und mit 60 in den Ruhestand tritt. Das können wir uns nicht leisten.
Ich denke zweitens an die fatale Situation, daß wir inzwischen erstmals mehr Studenten als Auszubildende haben. In diesem Jahr stehen 5 000 Architekturstudenten 2 400 Maurerlehrlinge gegenüber. Wir brauchen nicht nur jene, die planen, sondern auch diejenigen, die die Planungen ausführen. Es wäre eine schlechte Beratung durch die Politik, wenn wir nicht aufzeigen würden, daß wir im Jahr 1994 40 000 arbeitslose Ärzte haben werden, wenn sich die Entwicklung so fortsetzt. Es wäre eine schlechte Beratung durch die Politik, und es würde unserer Verantwortung nicht gerecht, Vordenker zu sein. Wer soll denn sonst Vordenker sein, wenn nicht die Politiker, die ja am Informationsknoten sitzen? — Das sollten sie jedenfalls.
Für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern wird der Anpassungsdruck in den nächsten Jahren sicherlich noch wesentlich stärker als für die junge Generation im Westen Deutschlands, weil für sie noch das geistige Erbe ihrer Vergangenheit hinzukommt. Für sie hat sich alles geändert. Für sie ist nicht nur das Persönliche neu, sondern auch das System. Sie müssen lernen, mit der Pluralität der Lebensmöglichkeiten umzugehen. Sie sind über die Chancen und Möglichkeiten im Hinblick auf die Ausbildung und den Beruf innerhalb der EG nicht informiert und deshalb verunsichert.
Die Jugendlichen aus Ostdeutschland haben es nicht gelernt, mit ausländischen Mitbürgern umzugehen. Eine offene Begegnung mit anderen Kulturen war ihnen 40 Jahre lang versperrt. Umfragen haben ergeben, daß bezüglich der in der ehemaligen DDR arbeitenden Ausländer, vor allem Vietnamesen, kein Wert auf gesellschaftliche Integration gelegt wurde. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, daß sich fast ein Drittel der Bevölkerung in den neuen Ländern durch die Ausländer im eigenen Land gestört fühlt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5707
Josef Hollerith
Fazit: Die Veränderungen auf dem Weg zum EG-Binnenmarkt erfordern erstens, speziell bezogen auf unsere Jugendpolitik in den neuen Ländern, daß wir die Voraussetzungen schaffen, damit die Jugendlichen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa entwikkeln und die Identität im wiedervereinigten Deutschland und in Europa finden, und zweitens, bezogen auf unsere Jugendpolitik in Ost und West, daß wir unser Bildungswesen darauf ausrichten, damit die junge Generation im Binnenmarkt wettbewerbsfähig bleiben kann. Wir müssen im Bildungswesen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die neuen Aufgaben in bezug auf Mobilität und Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Innovationsbereitschaft erfüllt werden können.
Um das zu erreichen, stellen sich uns auf nationaler Ebene folgende Aufgaben.
Erstens in bezug auf die Schule: Das umstrittene Problem der Schulzeitverkürzung muß diskutiert und gelöst werden.
Zweitens hinsichtlich der Hochschule: Das relativ hohe Berufseintrittsalter bundesdeutscher Universitätsabsolventen erfordert die Verkürzung der Studiendauer. Die im Zuge der Binnenmarktvollendung erhobene Forderung nach einer engeren inhaltlichen Klammer zwischen Hochschule und Berufswelt muß sich in entsprechenden Strukturen niederschlagen. Wir brauchen keine berufsfertigen Absolventen, wir brauchen berufsfähige Absolventen in der Wirtschaft.
Überzeugende Zugangsregelungen müssen in den überlasteten Fachbereichen dafür sorgen, daß diese für alle Bewerber nach Eignung und Interesse offengehalten werden. Dem Ausbau der Fachhochschulen ist Priorität einzuräumen.
Drittens bezüglich des dualen Systems. Dem dualen System der Berufsausbildung verdankt die Bundesrepublik einen hohen Standortvorteil. Wir müssen ihn weiterentwickeln. Junge Arbeitnehmer aus Ost und West haben neue berufliche Möglichkeiten. Aber die Konkurrenz innerhalb der EG erfordert zunehmend mehr Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung, Kenntnisse über die Rechts-, Steuer- und Abgabensysteme, Märkte und Produktionsmöglichkeiten in anderen EG-Staaten.
Unsere Aufgabe ist, mit Redlichkeit und Aufrichtigkeit klarzumachen, daß die Erarbeitung des Sozialprodukts vor der Verteilung desselben stehen muß. Im Binnenmarkt wird die junge Generation in Ost und West zum Prüfstein für die Fähigkeit zur Zukunftsbewältigung. Die Politik ist gefordert, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Bundesregierung und Koalition sind hier auf dem richtigen Weg. Unser Motto heißt: Jugend fit für Europa und damit fit für die Zukunft.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und
Jugend auf Drucksache 12/671 . Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist, soweit ich es von hier aus erkennen kann, einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 12/1813. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Der Entschließungsantrag ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1797. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1812. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1793. Wer stimmt für den Antrag?
— Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Auch dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt.
— Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich darf diejenigen, die an den Beratungen zum nächsten Tagesordnungspunkt nicht teilzunehmen wünschen, bitten, den Raum zu verlassen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1988 — Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes (Jahresrechnung 1988) —
zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1990 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
— Drucksachen 12/210 Nrn. 85 und 91, 12/1286 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Ich erteile als erster Rednerin der Abgeordneten Dr. Konstanze Wegner, die auch die Berichterstatterin ist, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Berichterstatterin möchte ich zunächst dem Kollegen Karl Deres für die kluge und umsichtige Leitung des Rechnungsprüfungsausschusses danken,
5708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Konstanze Wegner
sodann allen Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit, dem Sekretariat für die gründliche Vor- und Nachbereitung, dem Finanzministerium für die Unterstützung und nicht zuletzt dem Rechnungshof für seine kontinuierliche Zuarbeit und Beratung. Er schafft damit die Grundlage für die Tätigkeit des Rechnungsprüfungsausschusses überhaupt. Ich freue mich, daß der Präsident des Rechnungshofes, Herr Dr. Zavelberg, heute hier anwesend ist.
Der Ausschuß hat fleißig gearbeitet. Er hat, soweit ich sehe, alle Beschlüsse einstimmig gefaßt und ist den Empfehlungen des Bundesrechnungshofs sehr häufig gefolgt, allerdings nicht immer. Der Ausschuß hat die wesentlichen Punkte der Haushalts- und Vermögensrechnung diskutiert, und er hat positiv gewürdigt, daß die Einnahmen und Ausgaben ordnungsgemäß belegt sind und daß die globale Minderausgabe erwirtschaftet wurde. Ich betone dies hier unabhängig von der Tatsache, daß man als Parlamentarier dem Instrument der globalen Minderausgabe generell kritisch gegenübersteht.
Negativ haben wir die erhebliche Steigerung der über- und außerplanmäßigen Ausgaben ohne Zustimmung des Finanzministers bemerkt; ein immer wiederkehrender Kritikpunkt.
Der Ausschuß hat sich kritisch mit der Nettokreditaufnahme im Jahre 1988 auseinandergesetzt, die im Soll- bzw. im Ist-Ergebnis um 4,5 Milliarden DM bzw. 2 Milliarden DM über den investiven Ausgaben lag, also nicht den verfassungsmäßigen Vorgaben entsprach, obwohl eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht gegeben war. Das lag u. a. daran, daß der zunächst mit 6 Milliarden DM veranschlagte Bundesbankgewinn letztlich nur 0,24 Milliarden DM betrug. Die Bundesregierung hat jetzt Ausgabenfinanzierung durch den Bundesbankgewinn bis 1994 kontinuierlich in Höhe von 7 Milliarden DM veranschlagt und hält das für ein mittleres Niveau. Der Bundesrechnungshof sieht hier einen zu großen Ermessungsspielraum der Regierung gegeben
und spricht sich im Interesse der Haushaltstransparenz für eine schärfere Konkretisierung der Verwendung des Bundesbankgewinns aus.
Der Ausschuß hat sich nachhaltig und kritisch mit der steigenden Verschuldung des Bundes auseinandergesetzt. Die jüngsten Feststellungen des Bundesrechnungshofs zur Haushaltsrechnung des Jahres 1989 haben die Zustimmung der Opposition und die Kritik der Regierungsparteien hervorgerufen. Sie werfen dem Rechnungshof nämlich vor, er sei politisch geworden, und das stehe ihm nicht zu.
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahrheit tut manchmal weh. Die Aufregung ist aber ganz und gar nicht am Platze. Denn alles, was der Rechnungshof zu diesem Thema in den Bemerkungen des Jahres 1989 sagt, steht bereits in seinen Bemerkungen zum Haushaltsjahr 1988, und damals war noch keine Rede von der deutschen Einheit. Auch für 1988 wird festgestellt, daß bei weiter steigender Verschuldung der
Handlungsraum immer enger wird, daß die Schulden letztlich nicht getilgt, sondern die fälligen Tilgungen im wesentlichen durch neue Kredite finanziert werden. Es wird darauf hingewiesen, daß die Zinsen im Jahre 1991 42,7 Milliarden DM — das sind 10,7 % der Gesamtausgaben — und im Jahre 1994 60,7 Milliarden DM — das sind 14,4 % der Gesamtausgaben — betragen werden. Im Jahre 1992 werden die Zinsen den zweitgrößten Haushaltsposten darstellen und haben damit den Verteidigungshaushalt überrundet.
Der Ausschuß hat diese Kritik des Rechnungshofes zur Haushaltsführung des Jahres 1988 sehr ernst genommen und hat quer durch die Parteien davor gewarnt, immer mehr Kredite über Sondervermögen aufzunehmen, die nicht im Haushalt ausgewiesen sind, weil damit die verfassungsrechtliche Obergrenze der Kreditaufnahme ausgehebelt wird.
Diese Aussagen des Rechnungshofs und des Rechnungsprüfungsausschusses sind auch für die Diskussion der folgenden Haushaltsjahre hochaktuell, wie wir alle wissen. Auch wenn ein Teil der rasant steigenden Verschuldung im Zuge der Politik der deutschen Einheit gewiß nicht zu vermeiden war, ist jetzt wohl allen Parteien klar, daß wir an die Grenze des Erträglichen und Vertretbaren gestoßen sind, was die Verschuldung anlangt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will kurz auf einige Schwerpunkte der Arbeit des Ausschusses eingehen, nämlich auf die Bereiche Verteidigung, Landwirtschaft und Bauwesen, wo dank der Hinweise des Rechnungshofs und der Arbeit des Ausschusses manche Fehlentwicklung deutlich gemacht wurde und künftig einiges Geld gespart werden kann.
Fündig wurden der Rechnungshof und der Ausschuß im Verteidigungsbereich, wo es immer um große Summen geht. Vor allem im Bereich der Beschaffung kommt es durch die sogenannte freihändige Vergabe von Aufträgen ohne Ausschreibung nach wie vor zu unsäglichen Pannen. Viel Geld wird hier zum Fenster hinausgeworfen. So kaufte die Bundeswehr freihändig z. B. 200 000 Paar Turnschuhe um 7,70 DM teurer pro Paar, als später im Wettbewerb beschaffte Modelle kosteten.
Splitterschutzwesten wurden ohne Ausschreibung für 976 DM pro Stück beschafft. Mit Ausschreibung kosten sie auf einmal nur 638 DM.
Dabei unterblieb eine hinreichende Erprobung. Nachträglich wurde festgestellt, daß die Außenhülle schnell verschliß, so daß 5 000 neue Hüllen für 400 000 DM gekauft werden mußten.
Die Landwirtschaft ist ein subventionsträchtiger Bereich, in dem viel Geld des Steuerzahlers versikkert, und zwar auf Nimmerwiedersehen. So gewähren z. B. die landwirtschaftlichen Altersklassen den beitragspflichtigen landwirtschaftlichen Unternehmen einen Zuschuß zur Altershilfe, ohne Einkommensnachweise zu verlangen. Hier gibt es erhebliche Rückforderungsansprüche, die bisher nicht realisiert
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5709
Dr. Konstanze Wegner
wurden. Der Ausschuß hat einen Bericht und ein zügiges Rückforderungsverfahren gefordert. Er hat sich auch gegen die Finanzierung neuer Modelle für nachwachsende Rohstoffe ausgesprochen, solange nicht die Kalkulation dieser Vorhaben überprüft ist und realitätsbezogene Grenzen für die Zuschußgewährung feststehen.
Eine wahrhaft unendliche Geschichte stellen die Bauvorhaben des Bundes dar.
Für den Neubau Museen für Europäische Kunst im Rahmen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz war ursprünglich eine Bausumme von 40 Millionen DM ermittelt worden, allerdings ohne konkrete Bauplanung. Inzwischen sind die Kosten auf über 500 Millionen angestiegen, und wegen Planungsänderungen mußten bereits fertiggestellte Bauteile wieder abgerissen werden, was alleine zu einem Schaden von 7,8 Millionen DM führte.
Der Ausschuß sieht es angesichts der Vereinigung als unabdingbar an, eine neue Konzeption für alle Berliner Museen zu erarbeiten, in die der Museumsbestand im Osten der Stadt integriert werden muß.
Hinsichtlich der Baumaßnahmen des Bundestages an der Kurt-Schumacher-Straße war sich der Ausschuß einig — ich zitiere — , daß es unabhängig vom Einzelfall notwendig ist, eine grundsätzliche Diskussion über die Planung und Abwicklung öffentlicher Baumaßnahmen zu führen. Es sei nicht länger hinnehmbar, wenn Planungs- und Bauprozeß zeitgleich abliefen.
In der Tat hat sich die sogenannte baubegleitende Planung als völliger Flop erwiesen. Falls auch künftig an diesem System festgehalten werden sollte, dürfen wir keine müde Mark für den Umzug nach Berlin zahlen. Das sage ich hier ganz bewußt obwohl ich für Berlin gestimmt habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle loben den Rechnungshof. Wir sollten ihm aber auch institutionell und personell die Möglichkeit geben, seinem Auftrag gerecht zu werden. Viele neue Aufgaben erwarten ihn, nicht nur in den alten Bundesländern, sondern auch und gerade in den neuen. Dazu ist aber eine entsprechende personelle Ausstattung unerläßlich.
Der Bundesrechnungshof arbeitet derzeit mit einem Stab von 560 Bediensteten. Er prüft damit ein Finanzvolumen von über 600 Milliarden DM und einen Personalkörper von 1,7 Millionen Bediensteten.
Zum 30. Juni 1991 waren 65 Planstellen für Prüfungsbeamte aber nicht besetzt. Hohe Qualifikationsansprüche bei der Einstellung, hohe Lebenshaltungskosten im Rhein-Main-Gebiet und nur begrenzte Aufstiegs- und Besoldungsmöglichkeiten lassen das wichtige Amt des Rechnungsprüfers nicht länger attraktiv erscheinen. Hier muß Abhilfe geschaffen werden. Das liegt im ureigensten Interesse des Parlaments, dessen vornehmstes Recht die Finanzbewilligung und -kontrolle ist, die aber ohne Hilfe des Rechnungshofes nicht durchgeführt werden kann. Deshalb muß ein Weg gefunden werden, um die Attraktivität des Prüfungsdienstes zu erhöhen, sei es nun durch Einführung einer besonderen Zulage nach dem Modell der Bundesbank oder durch andere, eher unkonventionelle Mittel. Weiße Flecken im Prüfbereich — um Karl Deres zu zitieren — können wir nicht verantworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Zeit wird auch über eine Verlagerung des Bundesrechnungshofes diskutiert. In der Debatte sind verschiedene Städte. Ich möchte hier darauf nicht im Detail eingehen. Ich denke nur, in einem sind wir uns alle einig: Es ist unabdingbar, daß der Bundesrechnungshof in der Nähe des Parlaments angesiedelt bleibt oder wird, damit er dort jederzeit seine Aufgaben wahrnehmen kann, nämlich uns zu unterstützen und uns zuzuarbeiten.
Der Rechnungsprüfungsausschuß und der Haushaltsausschuß haben einstimmig die Entlastung der Bundesregierung empfohlen. Auch wir Sozialdemokraten unterstützen dies. Wir verbinden damit den Wunsch, daß der Rechnungsprüfungsausschuß künftig noch mehr als bisher auf eine zügige Umsetzung seiner Forderungen drängen möge; denn das bedeutet nicht nur die Chance für mehr Einsparungen, es stärkt auch die Rechte des Parlaments.
Vielen Dank.
Ich glaube, ich sollte an die Adresse der nächsten Redner doch, mit begrüßendem Tenor, die Information weitergeben, daß der Präsident des Bundesrechnungshofs auf der Diplomatentribüne Platz genommen hat.
Als nächster spricht unser Kollege Wilfried Bohlsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rechnungsprüfungsausschuß und der Haushaltsausschuß haben einstimmig die Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1988 vorgeschlagen. Ich will in das Loblied auf diejenigen einstimmen, die uns zuarbeiten, das die Kollegin Frau Dr. Wegner schon gesungen hat. Ich will auch die Harmonie, die in unserem Rechnungsprüfungsausschuß herrscht, besonders herausstreichen und lobe dabei nachdrücklich unseren Karl Deres. Ich freue mich, daß das so harmonisch gelaufen ist und unterstreiche, daß viele, viele oder alle Beschlüsse einstimmig von uns gefaßt wurden. Für das Rechnungsjahr 1988 haben der Bundesrechnungshof und somit der Rechnungsprüfungsausschuß wieder eine Reihe von Mängeln festgestellt. Ich will einige nur beispielhaft aufzählen.
5710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Wilfried Bohlsen
Wir konnten feststellen — das bezieht sich auf die nicht wahrgenommene Möglichkeit der Ausschreibung —, daß immer noch Gegenstände beschafft wurden, ohne daß die erforderlichen Ausschreibungsverfahren durchgeführt wurden. Auf diese Weise entstehen erhebliche Verluste in Milliardenhöhe. In vielen Fällen wurden die Aufträge statt einer Ausschreibung auf der Basis sogenannter Selbstkostenpreise vergeben. Dieses kann jedoch kein Ersatz für die Durchführung einer Ausschreibung sein, denn bei der Abrechnung auf Selbstkostenbasis erstattet der Staat den Unternehmen die entstandenen Kosten und gewährt ihnen zugleich einen bestimmten Prozentsatz der Kosten als Gewinn. Dieses Verfahren halten wir für bedenklich und haben entsprechende Beschlüsse gefaßt.
Einen zweiten Bereich will ich ansprechen, daß ist die Datenverarbeitung. Es besteht in allen Bereichen der Verwaltung der Wunsch, sich der modernen Datentechnik zu bedienen, da man ansonsten meint, man sei rückständig. Leider mußten wir im Rechnungsprüfungsausschuß feststellen, daß zum Teil Datenverarbeitungsanlagen angeschafft wurden, ohne daß zuvor geprüft wurde, welches Kosten-NutzenVerhältnis solch eine Anlage mit sich bringt. In vielen Fällen hat der Einsatz der Datenverarbeitungsanlagen nicht zu einer Verbesserung der Leistung geführt, sondern sogar zu einer Verschlechterung. Dabei müssen wir auch darauf achten, daß, bevor diese Anschaffung geschieht, geprüft wird, ob das notwendige und das ausgebildete Personal hierfür vorhanden ist.
Ich will einen anderen Bereich — das ist der dritte Bereich — ansprechen, die personelle Überbesetzung, die uns in vielen Debatten viel Sorge gemacht hat. Nach den Feststellungen des Rechnungsprüfungsausschusses kosten uns diese personellen Überbesetzungen jährlich einige Milliarden DM. Daher müssen wir uns diesem Problem immer wieder intensiv stellen, und dies hat auch zu vielen Überprüfungen geführt, die eingeleitet wurden. Kritisch müssen wir hier als Rechnungsprüfungsausschuß anmerken, daß einige Häuser Jahre brauchen, um zu ermitteln, ob sie personell überbesetzt sind, und daß daraus dann entsprechende Konsequenzen gezogen werden.
Ich will ein anderes Thema ansprechen; das ist die Baukostenexplosion. Sie haben, Frau Kollegin, schon einige Beispiele angeführt. Wir hatten einen Fall aufzudecken, wo nach den Zahlen der Ausschreibung ein Bauvorhaben mit 2 Millionen DM veranschlagt war, das im Endeffekt 8 Millionen DM gekostet hat. Es handelt sich hierbei keineswegs um Einzelfälle, sondern es wird immer wieder deutlich, daß dieses gelingen muß. Wenn ich Einzelprojekte nenne, dann tue ich das auch mit Blick auf den Flughafen München. Bei dem Neubau dieses Flughafens München hat der Rechnungsprüfungsausschuß die enormen Kostensteigerungen beanstandet und sogar den Verdacht geäußert, in der Anfangsphase der Planung sei das
Gesamtobjekt bewußt kleiner dargestellt worden, als es im Endeffekt vorgesehen war.
Die Frau Kollegin hat schon mal die BundeswehrDinge angesprochen. Ich will darauf nicht näher eingehen, aber ich will dabei doch anmerken, daß wir neben den Einzelplänen unserer Haushaltsansätze auch das Sondervermögen mitprüfen. Dazu gehört auch die Bahn und die Post. Vielleicht nur zwei Beispiele, einmal aus dem Bahnbereich: Wir mußten feststellen, daß weitaus größte Teile der Aufträge im Oberleitungsbau auf Grund einer Rahmenvereinbarung aus dem Jahre 1960 lediglich an drei Großunternehmen vergeben werden, und dies nicht auf der Grundlage von Leistungsbeschreibungen, sondern im Stundenlohn. Hierbei hat der Ausschuß verlangt, auch im Oberleitungsbau mehr Wettbewerb herzustellen.
Ich nehme ein zweites Beispiel aus dem Bereich der Bundespost. Hier hat der Ausschuß auf frühere Beratungen hinsichtlich der Organisation des Paket- und Päckchendienstes verwiesen, dabei allerdings dann auch positiv hervorgehoben, daß die Generaldirektion Postdienst eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet hat, durch die die Ablauforganisation verbessert worden ist. Zwischenzeitlich wurde auf der Grundlage unserer kritischen Anmerkungen ein neues Konzept entwickelt, das bis 1993 vollzogen und bis 1995 voll funktionsfähig sein soll.
Ich will mich noch einem anderen Thema widmen, das eine Einmaligkeit beinhaltet und sich auf die Frage bezieht: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Es ist einmalig, daß wir als Rechnungsprüfungsausschuß uns vorgenommen haben, den Bundesrechnungshof aufzusuchen, um dort eine Prüfung vorzunehmen. Das Parlament als der oberste Hüter der Wirtschaftlichkeit hat dies das erste Mal in seiner 40jährigen Geschichte getan.
Unregelmäßigkeiten des Bundesrechnungshofs wurden bei keiner dieser Überprüfungen entdeckt. Es wurde sehr gründlich geprüft. Es wurde festgestellt: Die Grundsätze, deren Beachtung der Bundesrechnungshof von anderen erwartet, befolgt er selbst in vollem Umfang.
Bei dieser Kontrolle ist allerdings aufgefallen — dieses Thema wurde bereits angesprochen — , daß viele der dortigen Dienstposten nicht besetzt werden können, und zwar einfach deshalb, weil sehr hohe Qualitätsanforderungen gestellt werden und die Entlohnung nicht entsprechend ist. Die Meinung des Rechnungsprüfungsausschusses hierzu war einvernehmlich, daß man darüber nachdenken sollte, ob man nicht ähnlich wie bei der Bundesbankzulage verfahren könnte.
Der Dank wurde hier bereits abgestattet. Deshalb kann ich abschließend folgendes feststellen. Es gab einmal eine Abhandlung über die Arbeit des Bundesrechnungshofs und Rechnungsprüfungsausschusses. An Hand der genannten Beispiele haben wir ja deutlich gema cht, daß wir sehr ins Detail gehen. Dennoch müssen wir oft feststellen, daß unsere Möglichkeiten des Einwirkens begrenzt sind. Daher wird nicht zu
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5711
Wilfried Bohlsen
Unrecht in einem kürzlich erschienenen Zeitungsartikel vom Bundesrechnungshof und vom Rechnungsprüfungsausschuß als dem Ritter ohne Schwert gesprochen. Ich will dies hier noch einmal untermauern, aber doch auch feststellen, daß wir im Rechnungsprüfungsausschuß durch eine intensive Arbeit sicherlich für uns in Anspruch nehmen dürfen, daß wir Parlamentarier mit spitzem Bleistift und spitzer Zunge waren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Abgeordnete Ina Albowitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident des Bundesrechnungshofs, wir freuen uns, daß Sie heute hier sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Zeit der besonderen finanziellen Belastungen des Bundes gewinnt die Rechnungsprüfung zunehmend an Bedeutung. Deshalb müssen die Bemerkungen des Bundesrechnungshofs und die Empfehlungen des Rechnungsprüfungs- und des Haushaltsausschusses zur Haushaltsund Wirtschaftsführung in Zukunft noch stärker beachtet werden. Durch die strikte Befolgung der Grundsätze Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit kann die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen nämlich entscheidend mit unterstützt werden.
Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit haben nicht nur eine interne, sondern auch eine erhebliche externe Bedeutung. Wenn der Bund mit einer effizienten Haushaltsführung vorbildhaft ist, fällt es in angespannten Situationen leichter, den Bürgern die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen zu vermitteln.
Daß diese Vorbildfunktionen so noch nicht erreicht sind, wissen wir. Das liegt neben dem zweifellos manchmal vorhandenen Fehlverhalten auch an der Darstellung in der Öffentlichkeit, wenn wieder einmal die Schlagzeilen über die Verschwendung von Steuergeldern die Blätter füllen. Einzelfälle, bei denen gegen die Haushaltsgrundsätze verstoßen worden ist, dürfen aber nicht dazu benutzt werden, das Ganze in Frage zu stellen.
Machen wir uns auch nichts vor: Statt der Kritikpunkte, die wir bei diesem Haushalt mit Hilfe des Rechnungshofs bereinigt haben, werden wir uns im nächsten Jahr mit anderen zu beschäftigen haben.
Dafür arbeiten zu viele Menschen mit dem von uns zur Verfügung gestellten Geld, und wo gearbeitet wird, passieren auch Fehler.
Die Bereiche, in denen Verstöße gegen die Bundeshaushaltsordnung festzustellen sind, machen wirklich nur einen minimalen Teil des Gesamtetats aus. Fortschritte zur Besserung sind unübersehbar. Die Unterstützung durch die Bundesregierung bei der Durchsetzung von Ausschußempfehlungen ist ebenfalls größer geworden. Für die Zukunft hoffe ich auch, daß sich
dieser Trend verstärkt; denn die vielfältigen Herausforderungen der kommenden Jahre machen eine sparsame und korrekte Haushaltsführung erforderlich.
In allen Bereichen der Verwaltung muß aber auch die Erfolgskontrolle finanzwirksamer Maßnahmen noch verbessert werden.
Erfolgskontrolle ist kein Selbstzweck, sondern liefert Informationen, durch die wir bessere Grundlagen für zukünftige Entscheidungen erhalten. Auf diese Weise kann die Effizienz des politischen und des staatlichen Handelns weiter gesteigert werden.
Der Bericht des Beauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, den wir zur Zeit debattieren, liefert dazu ganz gute Ansätze.
Meine Damen und Herren, nicht überall scheint das Interesse an einer genauen Prüfung der Haushaltsführung besonders ausgeprägt zu sein. Die Regierung des Saarlandes hat als einziges Bundesland bisher noch keine Vorprüfungsstelle eingerichtet. Eine solche ist aber notwendig, damit auch die Teile des Bundeshaushalts intensiv geprüft werden können, die die Länder ausführen oder verwalten. An der Saar ist diese Verpflichtung bis jetzt ignoriert worden. Wir sind von der Regierung Lafontaine zwar allerhand gewohnt.
Aber daß sogar der Bundesrechnungshof in seiner Arbeit behindert wird, Herr Kollege, sagt alles über die Qualität dieser Landesregierung und ihre Einsicht in die Notwendigkeit einer korrekten Haushaltsführung.
Ich bezeichne das als eine offenbar beabsichtigte Mißachtung der Gesetze.
Ein besonderer Kritikpunkt des Rechnungsprüfungsausschusses an der Haushaltsführung des Bundes ist die deutliche Zunahme der über- und außerplanmäßigen Ausgaben,
bei denen die Zustimmung des Haushaltsausschusses nicht notwendig wird. Diese Steigerung widerspricht der Vorrangstellung des Parlaments im Haushaltsprozeß. Nicht alles, was formalrechtlich erlaubt ist, Herr Finanzminister, sollte die Bundesregierung auch tun.
Eine Umkehr der Entwicklung ist geboten und darf
mit dem Argument der einigungsbedingten Lasten in
5712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Ina Albowitz
Zukunft nicht unnötig strapaziert werden. Wir erwarten, daß mit Rücksicht auf die Haushaltsklarheit und -wahrheit mit dem Instrumentarium der überplanmäßigen Ausgaben restriktiv verfahren wird.
Meine Damen und Herren, ein schwieriges Thema bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung ist immer die Frage — Herr Kollege Bohlsen hat das soeben schon gesagt — : Wer prüft die Prüfer, im konkreten Fall: den Bundesrechnungshof? Wir haben die Aufgabe in diesem Jahr selbst wahrgenommen und können dem Bundesrechnungshof ein gutes Zeugnis ausstellen.
Ich möchte mich an dieser Stelle für den Einsatz der Mitarbeiter des Bundesrechnungshofes herzlich bedanken. Sie arbeiten unter schwierigen Bedingungen mit uns zusammen; wir sind auf ihre Arbeit angewiesen. Herzlichen Dank dafür!
Meine Damen und Herren, meine Redezeit geht zu Ende. Aber lassen Sie mich an dieser Stelle einen Kritikpunkt in eigener Sache anbringen. Ein Anteil von fünf Minuten für meine Fraktion an der gesamten Debattenzeit ist ausgesprochen wenig.
— Fünf Minuten.
Im übrigen ist die gesamte Dauer dieser Debatte der Wichtigkeit der Entlastung der Bundesregierung für die Haushaltsführung nicht angemessen. Eine halbstündige Aussprache zu einem solch wichtigen Thema ist für mich eine Farce; das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen.
Das muß — diese Bitte möchte ich an den Ältestenrat richten — in Zukunft geändert werden, damit das Parlament eine Chance hat, sich mit den Fakten verstärkt auseinanderzusetzen.
Die FDP-Fraktion stimmt der Entlastung der Bundesregierung für den Haushalt 1988 zu.
Frau Kollegin Albowitz, ich glaube, das Plenum ist nicht der rechte Adressat für Ihre Kritik.
— Nicht einmal der Ältestenrat.
Wenn sich Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer mit
den anderen Parlamentarischen Geschäftsführern
über eine Debattendauer einigt, dann ist der Anteil der einzelnen Fraktionen von vornherein festgelegt.
Also, der Adressat — tut mir leid — ist Ihre eigene Fraktion.
Das Wort hat unser Kollege Karl Deres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kann natürlich sein, daß ein Briefumschlag einmal falsch adressiert wird, aber der Inhalt stimmt. Das ist der entscheidende Punkt am heutigen Tag.
Die Kritik, die hier laut geworden ist, haben wir deswegen angebracht, damit sich Fehlentwicklungen nicht verstetigen. Wir sollten hier also in Zukunft wieder eine Debattenzeit von einer Stunde haben, die wir wirklich dringend brauchen, um die Kernprobleme ausführlich darzustellen, ohne ihnen in wenigen Minuten nachlaufen zu müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
— auch ich begrüße seinen Herrn Präsidenten sehr herzlich — diesmal in ca. 34 Stunden und 45 Minuten Beratungszeit abschließend durchgearbeitet, und zwar unter Zeitdruck, in einem ganz konzentrierten Verfahren — sonst wäre es nicht möglich gewesen — in der zweiten Jahreshälfte, während wir sonst in der ersten beraten. So beginnen wir im kommenden Jahr auch wieder im Januar. Angesichts des Arbeitsumfangs sind 30 Minuten Debattenzeit einfach zu wenig. Ich meine, wenn man für das Thema der praktizierten Kontrolle durch das Parlament auch nach außen hin eine so geringe Debattenzeit ansetzt, besteht die Gefahr, auf die ich am Schluß meiner Ausführungen eingehen werde.
Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen für ihre gute Mitarbeit danken. Ich nenne besonders Frau Dr. Konstanze Wegner, weil sie uns verläßt. Ich sage das mit einem tränenden und einem lachenden Auge. Sie übernimmt noch wichtigere Aufgaben, hätte ich beinahe gesagt.
Wir bedauern das sehr, weil sie konsequent immer anwesend war und sehr intensiv mitgearbeitet hat.
— Da wollen wir demnächst eine Strichliste führen; dadurch können wir das etwas genauer wissen.
Mein herzlicher Dank geht auch an den Bundesrechnungshof. Den Präsidenten bitte ich, diesen Dank den Mitarbeitern zu überbringen. Er geht aber auch an die Ministerien, besonders das BMF. Lieber Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, Ihren Mitarbeitern im Hause zu sagen, daß sie immer da sind und genau aufpassen, was geschieht.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5713
Karl Deres
Wir haben im Grunde genommen nicht viel Anlaß zur Klage über die anderen Ministerien. Aber der eine oder andere meint, er könne uns etwas an die Seite schieben. Da erlebt man bei einem neuen Amtschef z. B. die Situation, daß er mit unserem Beschluß unzufrieden ist. Dann steht der auf einmal vor mir und fragt: Ja, wo bin ich denn hier? Wo ist denn die Koalition, und wo ist denn die Opposition? Da habe ich gesagt: Da sind wir alle zusammen; unser Ziel ist es nämlich — das hatte der noch gar nicht gewußt — , die Bundesregierung als Exekutive zu kontrollieren und auch scharf zu kritisieren, wenn etwas danebengegangen ist.
Er hatte noch nicht verstanden, daß wir so etwas fast immer einstimmig machen können; hier zielen wir doch auf eine bestimmte Richtung hin.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, noch einen Satz. Ich möchte heute morgen hier zu Protokoll geben, daß ich mir große Sorgen wegen der schleichenden Aushöhlung der Finanzkontrolle überhaupt mache. Dazu ist zu sagen: Viele Bereiche des Lebens werden zunehmend durch staatliches Handeln geprägt. Ursache und Mitschuldträger ist dieses Plenum. Das Plenum muß deshalb die Mittel für die Kontrollen verstärken.
Wir haben die besondere Situation der deutschen Einheit. Sie wissen alle, daß es in der DDR keine Finanzkontrollen gab. Wir müssen dort eine Finanzkontrolle aufbauen: von den Vorprüfstellen bis zu der Erweiterung der Aufgaben des Rechnungshofs. Nicht nur im Saarland, sondern auch in bundesunmittelbaren Behörden gibt es z. B. keine Vorprüfstellen. Auch das hat sich herausgestellt.
Dieser grundsätzlichen Sorge, die sich auch bei unseren Bürgern in der Frage nach der Stabilität unserer Verhältnisse niederschlägt, müssen wir nachgehen. Ich nehme an, daß wir uns bei nächster Gelegenheit im Ausschuß über diese Fragen unterhalten und sie etwas vorbereitet in den Haushaltsausschuß bringen.
Ich möchte damit schließen. Die Lampe vor mir leuchtet; ich will Energie sparen.
Ich bedanke mich noch einmal bei Ihnen allen, daß Sie zu dieser Filetzeit des Fernsehens hier gewesen sind.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/1286. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a bis d und den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:
8. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Energiepolitisches Gesamtkonzept der Bundesregierung
— Drucksache 12/1799 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Energiegesetzes
— Drucksache 12/1490 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes (1. StromeinspeisungsÄndG)
— Drucksache 12/1305 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Braband, Bernd Henn und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft sowie Novellierung des Energierechts: Grundvoraussetzung eines energiewirtschaftlichen Gesamtkonzeptes für die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 12/1294 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
5714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Energiewende — Grundstein für eine dauerhafte Entwicklung
— Drucksache 12/1794 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 2 1/2 Stunden vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste 15 Minuten Redezeit erhalten soll. Besteht damit Einverständnis? — Dies ist der Fall; ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Harald B. Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr verbrennt die Menschheit in einem gigantischen Feuerwerk 500 000 Jahre erdgeschichtlicher Energieproduktion. Der Wohlstand von 25 % der Weltbevölkerung, die in den Industrienationen leben, wird mit diesem Raubbau an der Natur erkauft. Wir vernichten unwiederbringlich fossile Ressourcen, wir schädigen die Umwelt und treiben, wenn wir so weitermachen, unwiderruflich in die Klimakatastrophe.
Das vereinigte Deutschland steht beim Energieverbrauch an fünfter Stelle in der Welt und mit weitem Vorsprung an der Spitze der EG. Pro Kopf verbrauchen die Deutschen heute mehr als doppelt so viel Energie wie Ende der 50er Jahre.
Nimmt man den vorgelegten Energiebericht der Bundesregierung ernst, so interessiert das alles die Bundesregierung nicht. Ökologische Ignoranz prägt diesen Bericht.
Die reale ökologische Bilanz ist hingegen niederschmetternd: Die Zustände spitzen sich immer weiter zu. Wir leben nach wie vor ökologisch über unsere Verhältnisse — global innerhalb Europas, aber auch in unserem Land. Noch immer ist auch bei uns in der Bundesrepublik wirtschaftliches Wachstum mit zunehmender Umweltbelastung verbunden.
Unsere Art, zu konsumieren und zu produzieren, ist nicht vereinbar mit der Dauerhaftigkeit menschlichen Seins. Die kommenden Generationen können sich auf die Politik der Bundesregierung nicht verlassen. Das ist die traurige Wirklichkeit.
Wir alle wissen: Immer noch steigender Energieverbrauch der Welt ist eine der wesentlichen Ursachen für die negative Umweltbilanz. Dies räumt der neueste Energiebericht der Bundesregierung zwar ein, die Bundesregierung zieht daraus jedoch keine konkreten Konsequenzen. Von einer radikalen Umkehr in der Umwelt- und Wirtschaftspolitik ist nicht die Rede, ja es fehlt in diesem Bericht sogar eine angemessene Beschreibung der kritischen Zustände.
Hier handelt ein ökologisch blinder Wirtschaftsminister, während ein stummer Umweltminister daneben steht, beide assistiert von einem ökologisch blinden und tauben Finanzminister. Das ist das unheilige
Trio, das eine vernünftige Energie- und Umweltpolitik nicht möglich macht.
— Es ist viel zu ernst, um zu lachen, lieber Herr Kollege Lippold.
Was die Bundesregierung jetzt mit ihrem Energiebericht vorlegt, ist ein Dokument des umweltpolitischen Scheiterns und des energiepolitischen Scheiterns. Noch einmal: Statt konkrete Handlungsprogramme zu beschließen, bleibt die Bundesregierung bei der Beschreibung allgemeiner energiepolitischer Ziele und hält — da wird sie dann konkret — an der dauerhaften Nutzung der Kernenergie fest.
Dieses Programm wird den tatsächlichen Herausforderungen in jeder Hinsicht nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal die Unsinnigkeit unseres Lebensstils, die Art, wie wir produzieren und konsumieren, an zwei Beispielen deutlich machen, die in der Tat zeigen, daß eine radikale Umkehr notwendig ist. In einem Jahr verbrauchen wir so viel Erdöl, wie in sechs Millionen Jahren aus Sonnenenergie entstanden ist. Allein die rund 34 Millionen Autos in der Bundesrepublik verbrauchen in einem Jahr so viel Erdöl, wie sich in 120 000 Jahren herausgebildet hat. Und was jährlich an gewinnbarem, an nutzbarem, förderbarem Erdöl aus Sonnenenergie entsteht, reicht gerade aus, um mit 250 Autos täglich eine halbe Stunde zu fahren. Dieses Beispiel zeigt die rücksichtslose Vergeudungs- und Verschwendungswirtschaft, die wir betreiben.
— Von uns allen.
Ich will ein zweites Beispiel hinzufügen. Wir verbrauchen in der Schweinemast etwa 10 Kilokalorien Energie, um 1 Kilokalorie in Form von Schweineschnitzel zu gewinnen.
Wie oft haben wir Sozialdemokraten von diesem Pult aus die Bundesregierung aufgefordert, die Geschenke der niedrigen Energiepreise ab 1983 für eine entsprechende Politik des ökologischen Umsteuerns einzusetzen. Die Bundesrepublik hat allein in den Jahren 1984, 1985 und 1986 130 Milliarden DM weniger für mehr Importenergie ausgeben müssen, weil die Energiepreise damals gesunken sind. Statt nun diese eingesparten Mittel für eine Umstrukturierung, für rationelle, intelligente Energienutzung, für Förderung von erneuerbaren Energieträgern — deren Anteil auf 2 % gesunken ist, seit Sie regieren — einzusetzen, haben Sie sich an dem Strohfeuer der niedrigen Energiepreise gewärmt.
Heute stehen wir vor dem Dilemma. Der Umweltminister kennt das Problem, der Wirtschaftsminister geht vor die Presse und sagt: „Ich müßte zwar etwas tun, aber mir fehlt das Geld. "
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5715
Harald B. Schäfer
— Dann reden Sie gestern mit den Journalisten anders als heute. —
Es gibt nur Ankündigungen im Energiebericht, nicht eine einzige konkrete Maßnahme. Hier sitzt Kollege Schmidbauer. Das, was uns die Klima-Enquete an konkreten Handlungsweisen vorgelegt hat, findet sich in konkreten Maßnahmen in diesem Energiekonzept aber auch nicht mit einer Silbe.
Herr Töpfer flüchtet sich immer mehr ins Unverbindliche, um davon abzulenken, daß er mit seiner Klimaschutzpolitik innerhalb der Bundesregierung wirklich gescheitert ist. Von dem groß angekündigten nationalen Alleingang ist buchstäblich nichts mehr übriggeblieben. Die Bundesregierung hält zwar an ihrem Kabinettsbeschluß fest, bis zum Jahre 2005 die klimaschädigenden Treibhausgase um 25 bis 30 abzusenken, sie weiß aber ganz genau, daß sie dieses Ziel, das wir begrüßt haben, das richtig ist und das auch international bislang Leitfunktion hat, mit der von ihr vertretenen Politik nicht erreicht wird. Früher hat man eine solche Politik Roßtäuscherei genannt. Man gibt ein Ziel vor, von dem man weiß, daß es richtig ist, man unterläßt aber die Politik, die notwendig wäre, um eben dieses Ziel zu erreichen. Das ist Roßtäuscherei.
Im übrigen müssen wir feststellen, daß die Ökologie in der tatsächlich betriebenen Politik der Bundesregierung sozusagen mit dem Rücken an der Wand steht. Noch nie in der Geschichte unseres Landes war der Gegensatz zwischen dem, was man weiß, was man tun müßte, und dem, was tatsächlich geschieht, größer, als er heute ist. Reden und Handeln, Erkenntnis und Tun klaffen immer weiter auseinander. Das ist das Dilemma, das wir zu beklagen haben. Das schadet übrigens auch der Glaubwürdigkeit des ganzen Hauses und fällt nicht nur auf Sie von den Koalitionsfraktionen zurück.
Wir stehen heute vor einer Jahrhundertaufgabe. Wir müssen in den Industrieländern wirtschaftliche Entwicklungen mit sinkendem Energieverbrauch erreichen. Die Entwicklungsländer benötigen zur Lösung ihrer vor allem sozialen Probleme mehr Energie. Wir, die Industrieländer, müssen unseren Energieverbrauch absolut verringern. Diese Herausforderung ist in der Geschichte des Industriezeitalters einmalig, und sie fordert, wirklich alle Kraft auf dieses Ziel zu konzentrieren.
Wir Sozialdemokraten stellen uns dieser Herausforderung. Wir haben unser Energiekonzept, unsere ökologisch orientierte Energiepolitik als Alternative auf den Tisch gelegt. Heute beraten wir über einen wichtigen Baustein dieses gesamten Konzepts, unser neues Energiegesetz. Wir haben seit Jahren Anträge gestellt, wir haben gemahnt und gefordert, endlich
massive öffentliche Hilfe für Energieeinsparmaßnahmen zu leisten, endlich die Kraft-Wärme-Kopplung zu fördern, weil man hier 85 % der eingesetzten Energie nutzen kann, statt uns mit Energietechnologien zufriedenzugeben, wo nur 30 % der eingesetzten Energie genutzt wird und 70 % die Klimasituation verschärfen.
Wir haben im Deutschen Bundestag ein Programm zur massiven Markteinführung von solaren Energieträgern eingebracht. Sie haben mit Ihrer Mehrheit alles niedergestimmt, obwohl Sie uns in der Sache recht geben und in den Zielorientierungen im neuen Energiebericht ebensolche Maßnahmen einfordern und ankündigen. Aber immer, wenn es konkret wird, sind Sie weggetaucht. Sonntags anders reden als werktags handeln, das kennzeichnet Ihre Energie- und Ihre Umweltpolitik.
Was die Energieeinsparung im Verkehrsbereich angeht, so haben wir da noch gar nicht angefangen. Wir wissen zwar alle, daß der Verkehrsbereich in immer größerem Umfang zur Umweltbelastung beiträgt, in immer größerem Umfang zur Klimadramatik beiträgt, in immer größerem Umfang den Energieverbrauch insgesamt bestimmt. Mehr als 25 % des Energieverbrauchs dienen dem Verkehr. Aber vom Energieeinsparen im Verkehr kann nicht einmal im Ansatz die Rede sein.
Der Bundesumweltminister sagt zwar, er hält es für wünschenswert, bis zum Jahre 2000 einen Kraftstoffverbrauch von 5 1 pro 100 km je Pkw zu erreichen. Da stimmen wir überein. Aber konkret ist bis zur Stunde nichts geschehen. Ich könnte diese Beispiele im Verkehr fortsetzen.
Statt sich zu überlegen, wie man die notwendige Mobilität bewahren kann — indem man beispielsweise auch überflüssigen Verkehr vermeidet —, haben wir einen Verkehrsminister, der ökologisch genau in die falsche Richtung rennt. Dies alles gehört in das Gesamtkonzept einer ökologisch integrierten Energiepolitik.
Wir haben uns schon im Regierungsprogramm von Oskar Lafontaine für eine ökologische Steuerreform eingesetzt. Wir wollen mit Steuern ökologisch steuern. Wir wollen den Produktionsfaktor Natur steuerlich stärker belasten und wollen die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit entlasten. Das ist der Kern einer ökologisch orientierten Steuerreform. Es muß sich für das Einzelunternehmen rentieren, wenn es weniger Energie verbraucht. Es darf kein Wettbewerbsvorteil mehr sein, wenn man die Natur über Gebühr belastet. Deswegen ist für uns das Konzept der ökologischen Steuerreform ein strategisches Konzept einer vorwärts orientierten ökologischen, zukunftsfähigen Industriepolitik.
Sie, meine Damen und Herren, haben uns dafür im Wahlkampf als Steuerpartei, als Abgabenpartei beschimpft. Jetzt hat die EG-Kommission im Ansatz dieses Steuerreformkonzept übernommen. Ich freue
5716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Harald B. Schäfer
mich ausdrücklich, daß sich Herr Töpfer und Herr Möllemann — sogar mit einer Zunge — dafür einsetzen, daß dieses EG-Konzept möglichst schnell — —
— Zusammen haben Sie zwei, das ist wahr. Aber Sie haben mitunter eine gespaltene Zunge. Ich will das jedoch nicht vertiefen.
Sie fahren morgen zur EG nach Brüssel. Ich hoffe, daß Sie sich dort gemeinsam dafür einsetzen, daß die Energiesteuer bald kommt und daß die CO2-Komponente wegfällt. Die CO2-Komponente führt nur dazu, daß die Kernenergie im Wettbewerb über Gebühr Vorteile erhält.
Meine Damen und Herren, wer einen neuen energiepolitischen Konsens will — und das wollen offenkundig alle in diesem Hause — , der muß radikal umsteuern, der muß bereit sein, langfristige, durchgreifende Instrumente zur Verbesserung der Umweltsituation, zur Absenkung des Energieverbrauches und zum Schutz des Klimas einzusetzen. Auch diese zweite Voraussetzung erfüllt der Energiebericht nicht.
Schließlich ist der Ausweg, den die Bundesregierung der Öffentlichkeit suggerieren möchte keiner. Die Kernenergie ist keine Option zur Lösung der globalen ökologischen Krise.
Die Vorstellung, wir könnten ein globales Risiko, den Treibhauseffekt, gegen das Risiko der Radioaktivität austauschen, ist Zynismus und für uns Sozialdemokraten jedenfalls nicht akzeptabel.
Im übrigen würde der weltweite Ausbau der Kernenergie gerade die Mittel binden, die weltweit gebraucht werden für Investitionen in regenerierbare Energien, insbesondere in Solarenergie. Jede Mark, weltweit in Solarenergie gesteckt, ist ein wirksamerer Beitrag gegen die drohenden Klimagefahren, als diese Mark in den Kernenergieausbau zu stecken. Das weiß jeder. Es ist nicht nur ökologisch, es ist auch ökonomisch sinnvoller, mit der Option Kernenergie in einer überschaubaren Zeit Schluß zu machen.
Mit uns Sozialdemokraten ist ein Zubau oder Ersatzbau von Kernkraftwerken nicht machbar. Das muß jeder zur Kenntnis nehmen als Tatbestand,
der eine langfristig sichere und tragfähige Energiepolitik will.
Der Wirtschaftsminister hat angekündigt — im Einvernehmen mit dem Umweltminister —, eine unabhängige Kommission für Energiefragen zu berufen. Damit wird der Energiebericht der Bundesregierung relativiert. Das ist richtig so. In diesem Stück Selbsterkenntnis liegt auch ein Stück Hoffnung. Wenn die Kommission, Herr Möllemann und Herr Töpfer, tatsächlich frei von politischen Vorgaben arbeiten kann und die verschiedenen, in der Gesellschaft diskutierten Entwürfe über eine künftige Energiepolitik auch personell vertreten sind, ergibt die Kommission einen Sinn. Dann sollten wir gemeinsam alles unterlassen, was eine sinnvolle Arbeit dieser Kommission erschweren könnte. Aber in diesem Sinne kann die Kommission, wie wir finden, sinnvoll sein.
Ich habe mich, meine Damen und Herren, auch wenn ich mir da den Unwillen von der rechten Seite des Hauses zugezogen habe, bewußt auf einige wenige, mehr grundsätzliche Ausführungen konzentriert. Die Redner meiner Fraktion, die nach mir sprechen, werden noch im einzelnen die Energiepolitik der Bundesregierung analysieren und unsere konkreten Vorschläge dazu unterbreiten.
Ich bedanke mich bei Ihnen für das Zuhören.
Der Kollege Heinrich Seesing hat nun das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Leben ohne Energie ist auf dieser Erde nicht möglich. So banal diese Aussage zu sein scheint, wir vergessen nur allzuleicht, daß sie für alle Menschen aller Regionen gelten muß. Diese Erkenntnis bedeutet für uns, daß sich unsere Energiepolitik stärker als bisher der Interessen der noch zu entwickelnden Staaten unserer Erde annehmen muß.
Die reichen Industriestaaten der Erde haben bisher ohne Rücksicht auf die Länder, die über keine ausreichenden Devisen für den Kauf von Öl, Gas, Kohle und Kernkraftwerke verfügen, die vorhandenen Energieressourcen für sich ausgenutzt. Ziel internationaler Friedenssicherungspolitik muß es sein, daß auch diese Staaten einen besseren Zugang zu den Energieträgern erhalten. Hunger und Not in aller Welt werden nicht ohne die Bereitstellung von Energie bekämpft werden können. Deswegen ist die weltweite Energieversorgung zu einem ethischen Problem geworden — auch für uns.
Eine unabhängige nationale Energiepolitik ist nicht mehr möglich. Die deutsche Energiepolitik wird Bestandteil einer EG-Energiepolitik. Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 wird auch zu einem EG-Binnenmarkt für Energie führen. Das bedeutet für die einzelnen Staaten der Gemeinschaft, daß sie sich deren Vorschriften, insbesondere den gemeinsamen Wettbewerbsregeln, unterwerfen müssen. Wir werden feststellen, daß sich das nicht ohne Schwierigkeiten umsetzen läßt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5717
Heinrich Seesing
Hinzu kommt, daß eine Abkapselung der EG nicht sinnvoll und nicht möglich ist. Die Zusammenarbeit mit allen Staaten Europas, die erst beginnt, muß möglichst schnell zu einem europäischen Energieverbund ausgebaut werden.
Wesentlich wird unsere nationale Energiepolitik auch vom Willen bestimmt sein, die Verunreinigung der Luft und damit auch der Erdatmosphäre durch umwelt- und gesundheitsgefährdende Schadstoffe zu reduzieren. Das galt schon länger für Schwefeldioxid und Stickoxide. Das wird in Zukunft verstärkt für Kohlendioxid gelten.
Beschlüsse über eine notwendige CO2-Reduktion um mindestens 25 % bis zum Jahre 2005 liegen vor. Hauptaufgabe auch der Energiepolitik wird es nun sein, dieses sehr ehrgeizige Ziel auch zu erreichen. Wir werden uns darum über die Wege zu diesem Ziel schnell einigen müssen.
Diese Einigung wird nicht einfach sein, weil sie nach meiner Auffassung nicht nur verstärktes Energiesparen, nicht nur den vermehrten Einsatz von erneuerbaren Energien und nicht nur die weitere Einschränkung bei der Verbrennung fossiler Energieträger bedeutet, sondern auch die weitere Nutzung, ja den Ausbau der Kernenergie. Doch dazu später noch einiges mehr.
Es hängt aber auch wesentlich von der Gestaltung einer anzustrebenden europäischen Energiesteuer ab, ob die Mittel für die notwendigen Investitionen bereitstehen, die für das neue Energiekonzept erforderlich sind.
Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands hat die Bedingungen für eine deutsche Energiepolitik grundlegend geändert. Die Energieversorgung in den östlichen Bundesländern muß so schnell wie eben möglich den Bedingungen im übrigen Bundesgebiet angeglichen werden. Bis zum Jahre 1990 wurde sie vorwiegend durch die Braunkohle gesichert. Gerade in diesen Ländern bietet sich auch die Erprobung neuer Formen der Energieversorgung an.
Wichtigste Aufgabe bleibt aber, die hohe Umweltbelastung durch die noch vorhandenen Kraftwerke entscheidend zu verringern. Sie liegt etwa dreimal so hoch wie in den westlichen Bundesländern, wobei der Wirkungsgrad im Durchschnitt nur Zweidrittel der westdeutschen Kraftwerke erreicht.
Gleichzeitig muß aber auch die Wiederherstellung der Landschaft in den Braunkohlegebieten als eine wichtige Aufgabe der Energiepolitik angesehen werden. Das erfordert die Konzentration aller Mittel, aller Ressourcen.
Wir sollten auch noch einmal prüfen, ob nicht trotz der unbedingt erforderlichen Umweltmaßnahmen wie Verringerung des Ausstoßes von Schwefeldioxid und Stickoxiden an längere Übergangsfristen für die Umrüstung der vorhandenen Kraftwerke oder an verlängerte Auslauffristen gedacht werden kann; denn die Neuorganisation der Energieversorgung in den Städten, Gemeinden, Kreisen und Regionen der neuen Bundesländer stößt auf größere Schwierigkeiten, als ursprünglich erwartet.
Das Ergebnis der Klage von zahlreichen Städten beim Bundesverfassungsgericht muß abgewartet werden. Erst nach Klärung all dieser Fragen wird die Investitionstätigkeit im Bereich der Energieversorgung schnell zunehmen können. Aber auch diese Investitionen müssen sich lohnen.
Die kommenden Jahre werden die deutsche Industrie in einen härteren Wettbewerb im gemeinsamen europäischen Markt und in der Weltwirtschaft führen. Der Industriestandort Deutschland ist auf Dauer nur zu sichern, wenn die Bedingungen für die deutsche Wirtschaft zumindest denen im europäischen Binnenmarkt angeglichen werden.
Das betrifft neben der Steuer- und Abgabenpolitik, neben den derzeitigen Tarif gestaltungswünschen, neben der Überreglementierung durch eine Flut von Gesetzen, Verordnungen, Erlassen und Verfügungen, die häufig mit neuen Kosten verbunden sind, neben den überaus langen Genehmigungszeiten für technische Anlagen und Produktionsprozesse und neben der zunehmend technikfeindlichen Haltung bestimmter Behörden und sogenannter gesellschaftlicher Gruppen ganz besonders auch die Kraftwerksanlagen und Leitungen der Energieversorgung.
Investitionen sind nur noch dann zu verantworten, wenn sich eine längerfristige Laufzeit für die Werke abzeichnet. Ich frage: Wer will denn im Jahre 1992 noch in ein Braunkohlekraftwerk investieren, wenn er nicht weiß, ob nicht die Politik ihm in wenigen Jahren den Garaus macht?
Die Vernichtung von Kapital, der wir uns in Deutschland schuldig gemacht haben, muß ein Ende haben. Nach dem SNR 300 in Kalkar, nach dem THTR in Hamm-Uentrop, nach dem Aus für die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und möglicherweise auch für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich haben die Investoren die Nase voll. Sie kaufen lieber ausländische Kohlengruben oder dergleichen, was ich natürlich nicht gutheiße.
Ein richtiges Energiekonzept, das wirklich zukunftsweisend sein will, muß vor allem auch wegen der Kosten eine Laufzeit von 30, besser 40 Jahren anstreben. Nur dann ist die Umstrukturierung einer Volkswirtschaft im Energiebereich vernünftig zu bewältigen.
Vor 40 Jahren begann unser Einstieg in die Mineralölwirtschaft im großen Stil. Wenn wir in 40 Jahren, also etwa im Jahr 2030, wenigstens einen Teilausstieg schaffen wollen, muß jetzt dafür der Ansatz gefunden werden. Auch die Strategien zur besseren Nutzung von Stein- und Braunkohle bedürfen eines längerfristigen Ansatzes.
Erst recht gilt das für die Maßnahmen, die zur Reduktion von 25 bis 30 % des CO2-Ausstoßes führen sollen. Wir dürfen dabei nicht nur Deutschland betrachten. Mit Hilfe modernster Technologien muß der CO2-Ausstoß in aller Welt vermindert werden. Wenn wir hören, daß in China an eine Verdoppelung der Steinkohleverbrennung bis zum Jahr 2005 von 1 auf
5718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Heinrich Seesing
rund 2 Milliarden t gedacht wird, dann sollten wir schon die Frage stellen dürfen, ob wir nicht besser in China investieren, um den Schadstoffausstoß in Grenzen zu halten.
Ein Wort zur Kernenergie muß noch gestattet sein. Weltweit geht die Diskussion um die Kernenergie in Richtung Ausbau, nicht in Richtung Abbau. Die Auseinandersetzung um die Anwendung der Kernenergie hat in Deutschland allerdings eine andere Dimension erreicht. Deswegen müssen wir neue Wege beschreiten, um die Einstellung zur Kernenergie in der Bevölkerung, besonders aber bei Politikern zu verändern. Denn alle Energiequellen werden dringend benötigt. Kernenergie wird in Zukunft in großem Umfang genutzt werden müssen.
Bevor wir aber an den Ausbau denken, müssen wir — diese Verpflichtung besteht selbst für den entschiedensten Kernkraftgegner — das Problem der Entsorgung lösen. Dann aber muß für eine zukünftige weltweite Kernenergienutzung eine katastrophenfreie Kerntechnik gefordert werden.
Neue Sicherheitsqualität bedeutet, daß für die Außenwelt bei allen Störfällen, unabhängig von ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit, Schäden vermieden werden. Ich kann Wissenschaft, Forschung und Industrie nur auffordern, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wir haben nur wenig Zeit. Täglich wächst die Weltbevölkerung um 200 000 Menschen. Sie alle brauchen Essen, Wasser und Energie. Wir brauchen eine Energiepolitik, die diesen Verpflichtungen gerecht wird.
Als nächster hat der Kollege Dr. Karl-Hans Laermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu Herrn Kollegen Schäfer wollte ich mich nicht einseitig auf eine Richtung festlegen, sondern ich möchte ausdrücklich feststellen, daß wir in einer vernünftigen Energiepolitik natürlich mit systemanalytischen Ansätzen arbeiten müssen. Wir müssen daher die Verzahnung vieler Bereiche darstellen. Genau das ist der richtige Ansatz, der sich im vorgelegten Entwurf des Energieprogramms darstellt.
Er berücksichtigt nämlich nicht nur das Verhältnis der einzelnen Primärenergieträger untereinander, die Abhängigkeit zwischen Energieversorgungsstrukturen und den verschiedenen Verbrauchsbereichen von Energie — ob im Strom- oder im Wärmebereich —, sondern dieses Programm verbindet die wirtschaftlichen mit den ökologischen Erfordernissen und ist vom Grundsatz her als Subsystem eines europäischen Energiekonzeptes angelegt.
Dabei trägt dieses Energieprogramm den veränderten politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Situationen Rechnung, die sich aus der Wiedervereinigung und der Überwindung des Ost-West-Konfliktes ergeben haben. Es ist die schwierige Aufgabe zu lösen, die neuen Energie-, Versorgungs- und Verbrauchsstrukturen aufzubauen und dabei möglichst
ohne allzu schwerwiegende soziale Verwerfungen die alten Strukturen in die neuen Strukturen unter gleichzeitiger Beachtung der Umweltschutzbelange zu überführen.
Das Energieprogramm belegt auch in der Reflexion das neue, auf die Ökologie hin orientierte Denken in der nachdrücklichen Verstärkung ökologischer und insbesondere der Klimaaspekte. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie, Herr Schäfer, das einmal deutlich herausgestellt hätten, weil das nun wirklich ein ganz neuer Ansatz in dem Energieprogramm ist.
Ein Schwerpunkt dieses Programms liegt auf der rationellen und sparsamen Energieverwendung. Nun wollen wir nicht die bisherigen Erfolge in der rationellen und sparsamen Energieverwendung, den Energieumwandlungsprozessen, im Umweltschutz — wie Entschwefelung und Entstickung — , in den veränderten Verbraucherstrukturen und im veränderten Verbrauchsverhalten verschweigen. Da sind doch in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielt worden.
Diese Erfolge aus langjährigen Bemühungen können wir nicht einfach als selbstverständlich hinnehmen. Das wäre doch wohl falsch. Schließlich können die bisherigen Maßnahmen zumindest Vorbildcharakter für andere Staaten und Regionen haben.
Die bisherige Linie zum rationellen Energieverbrauch und zur sparsamen Energieverwendung wird im Energieprogramm intensiv weiterverfolgt, um weitere Einsparpotentiale zu erschließen. Deshalb begrüßt die FDP-Fraktion den vorgelegten Maßnahmenkatalog. Herr Kollege Schäfer, wenn Sie das umfangreiche Programm einmal gelesen hätten, müßten Sie eine Fülle konkreter Maßnahmen festgestellt haben. Ich fürchte, Sie haben das alles bloß noch nicht richtig verarbeitet.
Gewiß kann hier das eine oder andere noch ergänzt und verstärkt werden, können neue Ansätze und Erkenntnisse beim Vollzug des Programms in einem dynamischen Prozeß berücksichtigt werden. Entscheidend dabei ist, daß sich die Vorschläge nicht auf Utopien gründen, sondern daß sie den Bezug zu naturgesetzlichen Realitäten wahren. Ich habe das vorhin bei Ihnen, Herr Kollege Schäfer, gar nicht so richtig heraushören können.
Das vorgelegte Energieprogramm trägt auch der wohl unbestreitbaren Notwendigkeit Rechnung, daß ein nationales Programm im Kontext eines europäischen Energiekonzeptes formuliert und als Teilsystem eines solchen Konzeptes dargestellt werden muß, und dies nicht nur wegen eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes mit dessen Auswirkungen auf die Energieversorgungsstrukturen und die Wirtschaft, sondern besonders auch im Hinblick auf Umwelt- und Klimaschutz.
Der EG-Ansatz zur Einführung einer CO2- und-
Energie-Steuer ist im Grundsatz zu begrüßen. Nur
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5719
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
aus einer großräumig, grenzüberschreitenden Regelung heraus sind durchgreifende Erfolge im Klimaschutz zu erwarten, sonst läuft unser ehrgeiziger Ansatz, bis zum Jahre 2005 die CO2-Emissionen um 25 bis 30 % zu reduzieren, ins Leere.
Kollege Laermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer?
Bitte schön.
Lieber Kollege Laermann, um zunächst Ihre Unterstellung, die liebenswürdig gemeint war, ich hätte das Papier nicht gelesen, zu widerlegen, wollte ich Sie fragen, ob Sie mir, von Seite 54 — teils von Seite 50 — an, wo über die Notwendigkeit der Energieeinsparung gesprochen wird, ausgehend, sagen können, wo ich in diesem Programm konkrete Beschlüsse für konkrete, im nächsten Jahr umsetzbare Maßnahmen finden kann.
Oh, ja. Vielleicht lesen Sie auch noch ein paar Seiten weiter. Da werden Sie das nämlich finden. Erstens geht es — dieser Einwand kam gerade schon — um die neuen Bundesländer, und zweitens geht es ganz konkret um Informationen, um Ausbildung, um den Einfluß auf Bebauungsplanung und Bauleitplanung und um die Frage der Förderung von energiesparenden Maßnahmen in Richtung auf mehr Wärmedämmung und auf die Verschärfung der Wärmeschutzvorschriften. Es geht auch darum, daß wir natürlich die Markteinführung für den Einsatz von Wind- und Sonnenenergie unterstützen.
Das ist ein ganzer Katalog. Ich bitte, das wirklich einmal in der Gesamtheit zu sehen.
Ich habe hier leider nicht die Zeit — ich muß mich auf ein paar Grundsätze beschränken — , das im einzelnen auszuführen. Aber ich habe noch einmal festzustellen: Dieser Maßnahmenkatalog ist sehr umfassend. Ich habe auch ausgeführt, daß man sich das eine oder andere zusätzlich und ergänzend vorstellen könnte. Es wird unsere Aufgabe sein, das eine oder andere im begleitenden Umsetzungsprozeß zusätzlich aufzuführen.
Kollege Laermann, das Fragebedürfnis des Kollegen Schäfer scheint noch nicht befriedigt zu sein. Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön.
Ich hatte in meiner Frage unterstellt, daß hier Ankündigungen enthalten sind. Sie haben die Ankündigungen wiederholt. Ich möchte noch einmal fragen: Können Sie mir konkrete Beschlüsse, die im nächsten Jahr realisierbar sind, mit entsprechenden Finanzierungmitteln außerhalb des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost nennen und sagen, wo diese Ankündigungen konkret werden?
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Es geht nicht nur um Ankündigungen, sondern auch um konkrete Maßnahmen und um die Fortsetzung von bereits eingeleiteten konkreten Maßnahmen, die hier aufgeführt sind.
Da können Sie nicht sagen, wir müßten sie noch einmal ankündigen.
— Darüber wird noch zu reden sein. Es steht auch in dem Papier, daß darüber insbesondere im Zusammenhang mit der Förderung erneuerbarer Energien zu reden ist. Sie müssen das einmal lesen.
— Wir brauchen nicht den Vermittlungsausschuß. Ich denke, daß wir stark genug sind, hier die vernünftigen Dinge durchzusetzen, und zwar im Einklang mit der Natur, auch unter Berücksichtigung von naturgesetzlichen Gegebenheiten. Die können wir nicht auf den Kopf stellen; sonst werden wir hier vielleicht einmal antreten, das Gravitationsgesetz zu novellieren. Vielleicht hilft Ihnen das dann weiter.
Ich denke, im europäischen Kontext werden wir keinen Alleingang unternehmen. Dies ist vernünftig. Wer hier Fortschritte erzielen will, der muß einsehen, daß wir die CO2-Problematik nur auf europäischem Wege lösen können.
Ich meine auch, daß an dem EG-Vorschlag noch manches im Sinne unserer nationalen Vorstellungen zu verbessern ist. Dabei sollte über ein Kompensationsmodell nachgedacht werden. Anstrengungen zur Reduzierung der umwelt- und klimabelastenden Emissionen sollten zunächst dort konzentriert werden, wo derzeit noch die größten Belastungen auftreten, wie z. B. in den neuen Bundesländern — Kollege Seesing hat darauf hingewiesen — , aber auch in den mittel- und osteuropäischen Staaten.
In diesem Zusammenhang möchte ich positiv herausstellen, daß das vom Bundeswirtschaftsministerium vorgelegte Energieprogramm unsere Verpflichtungen, die eines hochentwickelten Industriestaates darstellt. Denn wir müssen davon ausgehen, daß in Anbetracht der Entwicklung der Weltbevölkerung und in Anbetracht der — wenn auch langsamen — wirtschaftlichen Entwicklung und der Verbesserung
5720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
der Lebensbedingungen der Weltenergiebedarf rapide steigen wird.
Auch dies müssen wir bei unserer nationalen Politik betrachten: Wenn zwei Drittel der Weltbevölkerung derzeit pro Kopf nur etwa ein Zehntel der Energie im Vergleich zu den Industriestaaten verbrauchen, so kann man dort nicht vom Energiesparen reden. Das wäre doch nachgerade so, als ob man einem Verhungernden raten wollte, den Hunger mit Fasten zu überwinden. Wir können uns doch nicht vorstellen, daß gerade im Hinblick auf die globale Dimension der Klimaproblematik der zunehmende Weltenergiebedarf über fossile Energieträger gedeckt wird, selbst dann nicht, wenn die Schwellen- und Entwicklungsländer auf die modernste, aber teure Energieumwandlungstechnik zurückgreifen können.
Wie weit etwa die Erschließung erneuerbarer Energien — Wasserkraft, Wind, Sonne — den Energiebedarf oder, richtiger gesagt, den Bedarf an Energiedienstleistungen wird abdecken können, werden weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeiten noch nachweisen müssen. Hier sind wir, die Industriestaaten, verpflichtet, aus genuiner Verantwortung heraus für die Schwellen- und Entwicklungsländer mitzudenken, sie aber nicht besserwisserisch zu bevormunden, sondern mit ihnen partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Dann wird manches klargestellt werden können.
Unter diesen Aspekten ist und wird in den Industriestaaten auch die Frage der Nutzung der Kernenergie, ob Kernspaltung oder Kernfusion, zu beurteilen sein. Die Bundesregierung hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß die Kernenergie auch weiterhin einen substantiellen Beitrag zur Stromerzeugung leisten muß, solange andere sichere, vergleichbar versorgungssichere , umweltverträgliche und preisgünstige Energieträger nicht zur Verfügung stehen. Ich sehe aber nicht, daß dies in absehbarer Zeit der Fall ist. Belügen wir uns und unsere Bürger nicht!
Ich setze mich schon seit Jahren vehement für das Energiesparen und für die Förderung erneuerbarer Energien und ihre Markteinführung ein; der Kollege Schäfer wird das sicherlich nicht bestreiten.
Alle Beiträge, auch wenn sie noch so klein sind, halte ich für unverzichtbar. Aber sie werden weder im Wärmemarkt noch in der Stromerzeugung die Kernenergie ersetzen können. Aber selbst wenn dies möglich werden sollte, müssen wir mit der Tatsache leben, daß andere Länder — nicht nur in Europa — Kernkraftwerke bauen und betreiben.
Wir werden uns deshalb in wohlverstandenem eigenen Sicherheitsinteresse — auch hinsichtlich der Proliferationsproblematik — mit der Kernenergie und ihrer friedlichen Nutzung auseinandersetzen müssen. Sicherheitsforschung und die daraus abzuleitenden technischen Entwicklungen können aber ohne Verlust an fachlicher Kompetenz und ohne Verlust an internationaler Mitsprachemöglichkeit nicht am Grünen Tisch, nicht in der Theorie alleine betrieben werden. Wir brauchen dazu auch die praktische Kompetenz.
Ich unterstreiche nachdrücklich alles, was zur Kernenergienutzung im Energieprogramm ausgeführt ist. Lassen Sie uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wieder zum Konsens kommen. Lassen Sie uns gemeinsam Bedingungen, Anforderungen und Voraussetzungen festlegen, unter denen auch im nationalen Rahmen die Nutzung der Kernenergie verantwortet werden kann.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, daß es nicht nur um die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung gehen kann, sondern daß die Kernenergie auch in der Wärmeerzeugung, besonders in der Prozeßwärme, zukünftig eine Rolle spielen wird, nämlich um auch dort fossile Energieträger zu ersetzen — und das nicht nur aus ökologischen Gründen.
So könnte z. B. — Herr Kollege Schäfer, da waren wir uns schon einmal einig — die Hochtemperaturreaktorlinie zur Kohlevergasung eingesetzt werden, um das Energiepotential des wertvollen Rohstoffes Kohle, insbesondere der Braunkohle, unter weitgehender Vermeidung von CO2-Emissionen weit besser auszunutzen, als das im Verbrennungsprozeß je möglich sein wird.
Vielleicht, verehrte Kollegen, die Sie sich für den Umweltschutz einsetzen, können dann auch im rheinischen Braunkohlegebiet die Fördermengen zurückgenommen werden. Vielleicht kann dann über viele Jahrzehnte hinaus der höchst problematische großflächige Eingriff in den Naturhaushalt durch den Aufschluß des Tagebaus Garzweiler II vermieden werden.
Für die FDP-Fraktion möchte ich abschließend die Absicht des Bundeswirtschaftsministers begrüßen, noch in dieser Legislaturperiode die Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz vorzulegen. Wir stimmen den im Energieprogramm dargelegten Eckwerten im Grundsatz zu und erwarten eine in sich schlüssige Konzeption in Verbindung mit den übrigen energierelevanten Gesetzen und den Zielen einer gemeinschaftlichen europäischen Energiepolitik.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Klaus-Dieter Feige das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 14 Tagen versuchte der Bundeswirtschaftsminister in der Haushaltsdebatte, so zu tun, als ginge
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5721
Dr. Klaus-Dieter Feige
ihn die Energiepolitik überhaupt nichts an; zumindest kam das Wort „Energie" nicht über seine Lippen.
Offenbar hat ihm niemand dazu etwas gesagt. Man konnte damals nur vermuten, daß er wie eine Glucke auf einem gar riesigen Energieei brütete, und die ganze Nation ward neugierig, sehr neugierig, was da nun aus den Schalen des Bundeswirtschaftsministeriums kriechen sollte.
Das heute vorliegende energiepolitische Gesamtkonzept der Bundesregierung bricht das große Schweigen und ist im vorweihnachtlichen Sinne wohl als Geschenk an das Volk gedacht. Aber für dieses Geschenk kann man sich wirklich nur bedanken. Außen herum gibt es, wie immer, viel Verpackung mit so schönen Worten wie „Klimakatastrophe", „Risiken des Treibhauseffekts" und „größte Herausforderung", und innen ist dann nichts anderes als radioaktiver Atommüll.
Wenn aber dieser alte Hut mit einer bis zwei neuen Federn — das gebe ich zu — nun wirklich das alleinige Ergebnis der ganzen Heimlichkeit und des langwierigen Aufeinanderzugehens von Wirtschaftsminister und Bundesumweltminister ist, kann es einem um die energiepolitische Zukunft dieses Landes wirklich bange sein.
Aber der Reihe nach: Das Ministerpaar beweist im Konzept „Energiepolitik für das vereinte Deutschland" zunächst konservatives Beharrungsvermögen. Die Kernenergie müsse man sich als wichtige Option gerade im Hinblick auf das Klimaproblem offenhalten; so die sowohl inhaltlich falsche als auch technisch gefährliche Nachricht von Herrn Möllemann. Wie lange wollen Sie denn noch auf der naiven, längst überholten Aussage beharren, daß der Gesamtprozeß der Atomstromgewinnung keine nennenswerten CO2-Emissionen hervorbringt? In dieser Hinsicht unterscheiden sich konventionelle und atomenergetische Verfahren fast gar nicht.
Die von Ihnen in dieser Hinsicht erwartete zehnprozentige CO2-Reduktion durch neue AKWs ist reiner Selbstbetrug.
Sie müssen sich den gesamten Prozeß einschließlich der MOX-Brennelementeherstellung usw. ansehen. Sie würden, wenn Sie einmal anfingen, zu rechnen, sehen, daß das nicht hinhaut.
— Ich kann jetzt nicht darauf eingehen; meine Redezeit läuft so schnell ab. Aber vielleicht stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Lippold.
Die Bundesregierung verniedlicht ungeachtet der bekannten katastrophalen Auswirkungen von Atomkraftwerkunfällen die potentiellen Gefahren, die von den Atomreaktoren ausgehen. Mit ihrem Hinweis auf den unschlagbar höchsten Stand deutscher Kernenergietechnik
fördern Sie höchstens nationalistische Gefühle, ohne daß Sie auch nur die Spur einer Chance haben, die Akzeptanz für dieses Teufelswerk zu heben.
Weil die selbstgeschaffene gesetzliche Hülle die Atommüllendlagerungssorgen mit jedem Tag weiter steigert, beabsichtigt die Regierung jetzt sogar eine Änderung des Atomgesetzes, um den Widerstand in Sachen Schacht Konrad bei Salzgitter oder der Salzstöcke in Gorleben zu brechen.
Wie ich einer Pressemeldung aus dem Hessischen Landtag von gestern entnehme, steht Herrn Töpfer in Sachen Plutoniumwirtschaft das Wasser inzwischen so bis zum Hals, daß er in gewohnter Manier den hessischen Umweltminister mit dubiosen Argumenten auffordert, die MOX-Verarbeitung in Hanau wieder aufzunehmen.
Von einer Beseitigung der von diesen Atomfabriken ausgehenden Gefahren ist dabei aber keine Rede.
Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung auf, endlich zur Vernunft zu kommen und den unverzüglichen Ausstieg aus der Atomenergie durch die Vorlage eines Atomenergieabwicklungsgesetzes in die Wege zu leiten; dieser Begriff ist im Osten sehr gängig.
Andernfalls werden die Koalitionsparteien selbst die Quittung bei den nächsten Bundestagswahlen bekommen.
Inzwischen kann der Wähler ja aufatmen, da sich der Bundesumweltminister in Sachen Koalitionsvereinbarung mit der Beibehaltung des CO2-Reduktionszieles von 25 bis 30 % bis zum Jahr 2005 durchsetzen konnte. Aber allein diese Rückbesinnung bringt überhaupt noch nichts. Die Bundesregierung glaubte bis vor wenigen Tagen, mit der angedrohten CO2-Abgabe noch die Wundermedizin für die Bekämpfung des Treibhauseffektes in ihren Händen zu haben.
Ich hoffe nun aber, daß die Sympathiebekundungen für die Einführung einer kombinierten KohlendioxidEnergie-Steuer nicht allein das Ergebnis des EG-Widerstandes gegen die CO2-Abgabe sind, sondern auch der Erkenntnis entspringen, daß so auch einer völligen Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Atomstromnutzung wenigstens minimal entgegengewirkt werden kann.
5722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Klaus-Dieter Feige
Aber auch so, glaube ich, greifen die vorgeschlagenen Steuern zu kurz. Dem komplizierten Charakter der Wechselwirkungen zwischen Energieherstellung und -nutzung werden diese noch lange nicht gerecht. Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN zeigt mit ihrem Antrag ein weit wirksameres Instrumentarium für das Erreichen des Koalitionszieles auf. Sie erkennen daran, daß wir uns für die Umsetzung Ihres Zieles durchaus einsetzen wollen. Ich weiß, daß Sie sich jetzt noch sträuben werden; aber unsere Erfahrungen sagen uns, daß sich selbst die dickfelligsten Koalitionspolitiker — und ich glaube, nicht nur sie — spätestens in einer oder zwei Legislaturperioden unserer Ansätze bedienen werden.
Wir schlagen Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, mit Ihren Mehrheitsmöglichkeiten zunächst eine grundsätzliche Umgestaltung des Energiewirtschaftsgesetzes vor. Man kann nicht nur auf die Entscheidungen der EG warten. Die Novellierung sollte in der Energiewirtschaft ein gesamtwirtschaftliches Least- Cost-Planning-Verfahren einführen. Gleichzeitig sind die heutigen Energieversorgungsunternehmen in entsprechende Dienstleistungseinrichtungen umzuwandeln. Dabei kommt die so zu fördernde kommunale Verantwortung durchaus der Forderung des Wirtschaftsministers selber nach Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und besonders nach Umweltverträglichkeit entgegen. Für derartige Investitionen benötigen Sie dann nicht einmal ein Planungsbeschleunigungsgesetz. Bis dahin müssen jedoch die Voraussetzungen für eine Rekommunalisierung der Energieversorgung zugunsten dezentraler Erzeugungsstrukturen gestaltet werden. Der noch zu DDR-Zeiten geschlossene Energievertrag darf keinen weiteren Bestand mehr haben.
Wirksame Anreize für eine ökologisch intelligente Umgestaltung der Energiewirtschaft — ich billige beiden Ministern in dieser Sache zumindest die gute Absicht zu — sehen wir in der stufenweise wachsenden Primärenergieabgabe auf alle fossilen Energieträger und die Kernenergie. Diese könnte sich anfangs in Höhe von 5 DM pro Giga-Joule für Brennstoffe bzw. 4 Pfennig pro Kilowattstunde für Strom aus Atomkraftwerken bewegen und sollte in den Jahren 1996 und 2000 erhöht werden.
Das Aufkommen der Abgabe mit ca. 60 Milliarden DM sollte nach Abzug der sozialen Kompensationsleistungen zur Hälfte für ein Förderprogramm Klimaschutz bereitgestellt werden. Der immer noch beachtliche Rest kann zu gleichen Teilen in einen zukünftigen Klimaschutzfonds der UN und in die Gebäude- und Altlastensanierung in den neuen Bundesländern fließen.
Wir unterstützen den Gedankengang einer raschen EG-weiten Regelung zur Verminderung des Treibhausgases Kohlendioxid. Bis zum vorgesehenen Einführungstermin der von der EG-Kommission vorgeschlagenen Energie- CO2-Steuer zum 1. Januar 1993 darf jedoch kein weiteres Jahr nutzlos verstreichen. Deshalb stellt der für diesen Zeitraum denkbare deutsche Alleingang keine Gefährdung der Gesamtwirtschaft dar, sondern wäre ihr schon alleine durch die längere Anpassungsfrist nur förderlich. Auch die Umwelt hätte ein Jahr lang mehr Gewinn, selbst wenn das EG-Modell natürlich nicht unseren idealtypischen Vorstellungen entspricht.
Will man dem Bericht der Bundesregierung folgen, so fördert sie schon seit vielen Jahren den Einsatz von erneuerbaren Energien, ist sie Kämpfer für eine optimale Energieeinsparung und hat schon seit hundert Jahren der Kraft-Wärme-Kopplung gefrönt. Das Erstaunliche ist dann aber die geringe Effizienz dieser Politik.
Meine Damen und Herren, in der Realität nämlich hat sich auf dem Gebiet der erneuerbaren Energiegewinnung nur wenig getan. Ich frage mich angesichts der fundamentalen Erkenntnis der Bundesregierung, daß Sonnenstrahlung, Wind, Wasserkraft, Biomasse, Erd- und Umgebungswärme prinzipiell unerschöpflich sind, warum dann in den so entsetzlich endlichen
— endlichen! — Energieträger Uran so viel Geld gesteckt wird und warum die unendliche Energiereserve fast gar nicht angetastet wird.
— Irgendwann ist auch einmal Schluß. Dann sind wir gemeinsam vielleicht nicht mehr da; irgendwann aber ist in Sachen Uran auch einmal Schluß.
Die Förderung der erneuerbaren Energiequellen kann dabei so einfach sein. Ich denke z. B. an die Erleichterung und Vereinheitlichung der Vorschriften und Genehmigungen für die Errichtung und den Betrieb regenerativer Energiequellen.
Es kommt folglich nicht mehr darauf an, noch weitere Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet anzufahren. Die Bundesregierung täte besser daran, wenn sie unserem Vorschlag für ein Markteinführungsprogramm für regenerative Energien folgen würde, für das jährlich Fördermittel in Höhe von etwa 5 Milliarden DM für Investitionen notwendig wären. Sie dienten der Kostensenkung und Standardisierung, der Aus- und Weiterbildung, der Beratung sowie der beschleunigten Anwendungsausbreitung.
Völlig unzureichend bleibt im vorgelegten Papierberg des Ministerduos die Behandlung des Themas Kraft-Wärme-Kopplung. In dieser Hinsicht bleibt auch der Gesetzentwurf der SPD noch hinter den tatsächlichen Erfordernissen zurück.
— Aber genau! Man hat bei Ihrem sicher eine gute Diskussionsgrundlage bildenden Entwurf eines Energiegesetzes durchaus den Eindruck, als müßten Sie irgendwelche Leute in den EVU aus dem Feuer der Auseinandersetzung heraushalten.
Es genügt also nicht, das Stromeinspeisungsgesetz so zu novellieren, daß der Strom aus der Kraft-WärmeKopplung von den Energieversorgungsunternehmen unter Berücksichtigung der langfristigen Grenzkosten von Kondensationskraftwerken abzunehmen und zu vergüten ist; selbst das ist ja noch nicht gesetzlich geregelt. Ein wirklich als solches zu bezeichnendes Klimaschutzprogramm der Bundesrepublik Deutschland bedarf auch eines Marktdurchdringungsprogramms für die Kraft-Wärme-Kopplung durch ein finanzielles Förderprogramm zum forcierten Ausbau von Nah- und Fernwärmeversorgung.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5723
Dr. Klaus-Dieter Feige
Studien haben ergeben, daß allein in den alten Bundesländern zusätzliche Kraft-Wärme-Kopplungs-Kapazitäten in Höhe von 22 000 Megawatt wirtschaftlich nutzbar wären. Das entspricht schließlich einer Leistung von 17 modernen Atomkraftwerken.
Mit dieser Forderung fühlen wir uns übrigens auch durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung bestärkt — ich rufe jetzt einen Kronzeugen heran —, das kürzlich in seinem „Szenario zur Entwicklung der CO2-Emissionen in den neuen Bundesländern" die verstärkte Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung für die Wärmeversorgung durch die Schaffung kommunaler Versorgungsstrukturen forderte. Die Übereinstimmungen der Aussagen dieses Konzepts mit unserem Antrag veranlaßt mich zu der Aussage, daß wir dort nicht abgeschrieben haben. Die Übereinstimmung der Ergebnisse läßt mich dann aber auch für die Bundesregierung hoffen, die dieses Institut ja wohl durchaus als seriös ansieht.
Lassen sich im Energiepolitik-Konzept der Bundesregierung da und dort mit gutem Willen durchaus ein paar neue Töne der ökologischen Öffnung erkennen, geht das dem Schlußfolgerungsteil für den Verkehrsbereich völlig ab. Mit aalglatten Wortkonstruktionen will der Bundesminister für Verkehr nachweisen, daß Autos mit der Sache eigentlich nur mangels technischer Neuerungen noch etwas zu tun haben. Formulierungen wie — ich zitiere — „Mit einer stärkeren Marktorientierung sollen — ohne dirigistische Eingriffe in den Verkehrsablauf — umweltfreundliche Verbundlösungen dadurch gefördert werden, daß bei der Nutzung der staatlichen Infrastruktur die Preise den verursachten Wegekosten und der Knappheit entsprechen" sind garantiert Einbahnstraßen in den Klimakollaps.
Wer den bestehenden expansiven Trend im Verkehrsbereich bedingungslos hinnimmt, gar von nicht zu verhindernder Verachtfachung des Verkehrsaufkommens spricht, ist den Problemen dieses Landes und der Erde überhaupt nicht gewachsen. Da hilft es dann auch nicht, wenn man dem Schulte die Schuld gibt.
Da paßt es auch hinein, daß auf Grund von Kompetenzstreitigkeiten die Bundesrepublik die Koordination der Untergruppe zur CO2-Reduzierung im Verkehrssektor des IPCC in Genf abgegeben hat. Es heißt, der Bundesverkehrsminister habe zwar die Kompetenz beansprucht, gleichzeitig aber erklärt, daß er sich zur konstruktiven Mitarbeit außerstande sehe. Dieses Verhalten — so wird allgemein geurteilt — ist dem internationalen Ansehen der Bundesrepublik abträglich, wirft aber gleichzeitig ein bezeichnendes Licht auf Herrn Krauses Vorstellungen von einer zeitgemäßen Verkehrspolitik.
Herr Kollege Feige, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wir stimmen natürlich einer energischen Überweisung all der mehr oder weniger klugen Gedanken in die Ausschüsse zu. Wir sind bei der Beurteilung der Einzelanträge auch nicht vom jeweiligen Geburts- oder Wohnort der Antragsteller ausgegangen. Ich möchte aber all denen, die sich auf das Niveau begeben, meine Reden mit einem Wortspiel auf meinen Wohnort Dummerstorf zu belegen, sagen: Lieber Feige heißen und in Dummerstorf wohnen als zu zweit im Bundestag Laurel und Hardy spielen.
Schönen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie die Menschheit, wie das Industrieland Bundesrepublik Deutschland in der Zukunft die Energiewirtschaft gestalten wird, ist wahrhaftig eine Überlebensfrage für uns alle. Der Energiebericht der Bundesregierung und die gegenwärtige und zukünftige energiewirtschaftliche Konzeption dieser Bundesregierung tragen dieser Überlebensfrage allerdings in keiner Weise Rechnung. De facto wird die Selbstverpflichtung, bis zum Jahre 2005 die CO2-Emissionen um mindestens 25 % abzubauen, und damit der Kampf gegen die Klimakatastrophe aufgegeben. Ganz bewußt wird an der Atomstromerzeugung festgehalten — ohne Rücksicht auf die Risiken dieser Energieerzeugungsart. Spätestens seit Tschernobyl wissen wir aber, was diese Risiken wirklich bedeuten. Der Strom aus Tschernobyl ist übrigens, nimmt man alle Folgekosten zusammen, der bei weitem teuerste je in der Menschheitsgeschichte erzeugte Strom.
Nach wie vor sieht das Energiekonzept der Bundesregierung Überkapazitäten in der Stromwirtschaft in der Größenordnung von 20 % bis 30 % vor, Überkapazitäten, deren Kosten über die Gemeinkostenverrechnung in die Strompreise und damit vor allem an die Haushalte weitergegeben werden. Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen werden genau dadurch überdurchschnittlich belastet; denn Elektrizität und sonstige Energie sind ein Grundbedürfnis in der hochentwickelten industriellen Gesellschaft.
Deshalb, aber auch aus ökologischen und strukturpolitischen Gründen müssen die Energieerzeugung und die Energieversorgung als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge öffentlich geplant, betrieben und kontrolliert werden.
Die Verbraucher und Verbraucherinnen in den Haushalten mit ihren paar Mark Einkommen subventionieren zu allem Überfluß auch noch die Industrie und die sonstige Wirtschaft, die Elektrizität zu Preisen geliefert bekommen, von denen die Verbraucher in den Haushalten nur träumen können.
Mit diesen gespaltenen Strompreisen fördern Sie den Aufbau weiterer energieintensiver Produktions-
5724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Ulrich Briefs
kapazitäten. Damit tragen Sie dazu bei, daß sich die Produktionsstruktur dieses Landes weiter in Richtung einer auf hohen Energieverbrauch beruhenden Wirtschaft hin entwickelt.
Dieser Struktureffekt kommt zu dem durch wirtschaftliches Wachstum ohnehin schon bewirkten zusätzlichen Energieverbrauch hinzu; dieser Struktureffekt kommt zu der durch unsere energieverbrauchsintensive Lebensweise verursachten Energieverschwendung hinzu. Vieles dieser Energieverschwendung ist z. B. auch auf eine fehlangelegte Wohnungsbau-, Städtebau- und Verkehrspolitik und auf die Überlassung der Energieversorgung an die berühmten marktwirtschaftlichen Kräfte zurückzuführen.
Alles in allem: Das energiepolitische Konzept der Bundesregierung ist ökologisch schädlich, ökonomisch insgesamt verschwenderisch und deshalb unsinnig. Der platte Glaube an die Regulierungskräfte der Marktwirtschaft reicht eben nicht. Die Energiepolitik der Bundesregierung ist auch unsozial. Sie trägt insbesondere auch dem dringenden Ziel, mehr und bessere Arbeitsplätze als heute zur Verfügung zu stellen, nicht Rechnung.
Wir haben daher unseren Antrag zur Rekommunalisierung und Demokratisierung der Energiewirtschaft sowie zur Novellierung des Energierechts eingebracht. Wir wollen damit Grundvoraussetzungen eines energiewirtschaftlichen Gesamtkonzepts für dieses Land schaffen. Wir denken, daß es für eine Umkehr in der Energiepolitik allerhöchste Zeit ist.
Zu diesem Konzept gehört folgendes:
Priorität muß eine in jeder Pore des Wirtschaftslebens,
der Produktion und des Verkehrs, aber auch des Alltagslebens der Menschen praktizierte Politik der Energieeinsparung haben. Mehr Negawatt — das heißt: nicht erzeugte und verbrauchte Energie — statt mehr Megawatt, das muß die Devise sein.
Übrigens: Wenn wir das konsequent praktizieren, können wir Hunderttausende, wenn nicht Millionen sinnvoller und auch anspruchsvoller Arbeitsplätze schaffen, z. B. in der Gebäudeisolierung, bei sonstigen Wärmedämmungsmaßnahmen, im Ausbau der Wärme-Kraft-Kopplung, der Fernwärmenetze, bei sonstigen Maßnahmen zur Erhöhung des gesamtenergetischen Wirkungsgrades usw. usf. Das verstößt natürlich gegen die zwangsläufige kapitalistische Expansionsdynamik der Strom- und der sonstigen Energiewirtschaft; denn je mehr die Energiekonzerne, die Stromkonzerne — und die Stromkonzerne sind auch noch mit einem Gebietsmonopol belehnt — einnehmen, desto größer ist in der nächsten Runde der Zwang, wieder mehr zu investieren, zu erzeugen, abzusetzen. Für eine wirklich allseitig durchgreifende Politik der Energieeinsparung ist daher die Überführung der Energieerzeugung in kommunales Eigentum
und in kommunale, demokratische, von Bürgernähe geprägte Kontrolle notwendig. — Hätten Sie den Rest des Satzes abgewartet, dann hätten Sie nicht so dazwischengerufen, zumindest nicht das, nehme ich an.
Das ist auch notwendig, damit die Bürger und Bürgerinnen ihre Verantwortung sehen und in wirksamen Entscheidungen diese Verantwortung wahrnehmen können. Das geht doch nur vor Ort.
Diese Rekommunalisierung, verbunden mit der Abkehr von Großkraftwerken hin zu mittleren Blockheizkraftwerken, ist auch ökonomisch sinnvoll. Sie erlaubt eine wesentliche Steigerung des Wirkungsgrades der Energieerzeugung insgesamt und verhindert zugleich im Maße der dadurch erreichten Einsparungen bei der Energieerzeugung und ihrem Ausbau die Entstehung volkswirtschaftlicher Kosten
— ich bin immer ein bißchen lauter als Sie — , insbesondere auch eines großen Teils der ökologischen Belastungen. Verschließen Sie doch davor nicht die Augen!
Die Energieszenarios der GRÜNEN haben nachgewiesen, daß bei einem mit entsprechenden Entstikkungs- und Entschwefelungsmaßnahmen verbundenen Ausbau der fossilen Energieerzeugung auf die Atomenergie verzichtet werden kann und zugleich die die Luft und auch Böden und Gewässer belastenden Immissionen sogar noch abgebaut werden können. Auch das, wenn es in ein entsprechendes landesweites Programm, finanziert z. B. über eine Energieabgabe, gebracht würde, könnte im Zusammenhang mit den zuvor angesprochenen Maßnahmen der Wärmedämmung, der anderen Maßnahmen, die ich angesprochen habe, viele neue und sinnvolle Arbeitsplätze schaffen.
Wir fordern in Ergänzung zur Rekommunalisierung der Energieerzeugung die Schaffung von Energiedienstleistungsunternehmen, EDU anstelle von EVU, die nach dem Bedarfsprinzip und nicht nach dem Erwerbsprinzip wirtschaften. Kostendeckung statt Profitmaximierung ist das wirtschaftliche Ziel dieses Unternehmenstyps. Energieversorgung ist als gemeinschaftlich zu organisierende Daseinsvorsorge anzusehen und zu gestalten. Energieunternehmen dürfen auch nicht fiskalischen Zwecken, z. B. der Erhöhung der Gemeindeeinnahmen, dienen. Die EDUs müssen Nutzungs- statt Angebotsorientierung praktizieren. Das Leistungsangebot darf prinzipiell nur im Verbund mit Einsparmaßnahmen angeboten werden. Erfolgskriterium eines EDU muß sein, um wieviel Prozent es durch aktive Förderung der effizienten Nut-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5725
Dr. Ulrich Briefs
zung von Energie seine Energieabgabe reduzieren kann. Dieses EDU könnte also ein Garant für wirkungsvolle Energieeinsparung sein.
Wir fordern weiterhin, die örtlichen Strom-, Gas-und Wärmenetze ebenfalls in kommunales Eigentum und in die Verfügung der EDUs zu überführen. Die Fernnetze sollen nach unseren Vorstellungen ins Eigentum öffentlicher Zweckverbände überführt werden. Weiterhin fordern wir einen Energieplanungsrat, der dem auch bei konsequenter Rekommunalisierung und Dezentralisierung nach wie vor bestehenden überregionalen Planungs- und Koordinierungsbedarf Rechnung trägt. In ein landesweites Gesamtkonzept der Energieerzeugung und Energieeinsparung gehört auch — ohne Illusionen — der weitestmögliche Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energiequellen hinein. Sie müssen Vorrang vor der Erzeugung von Energie aus fossilen Energieträgern haben.
Sie sehen, unser Vorschlag ist detailliert — ich kann hier bei weitem nicht alles aufführen —, konkret, präzise, realisierbar. Er ist konstruktiv wie unser Vorschlag zur Weiterführung der Zeche Sophia Jacoba in Hückelhoven. Er verdient, denke ich, Ihre volle Zustimmung.
Nun hat der Minister für Wirtschaft das Wort, Herr Möllemann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich nicht die Sorge hätte, Frau Präsidentin, daß Sie mich dann rügen könnten, würde ich jetzt gesagt haben, daß ich nach den Beiträgen von Herrn Briefs, Herrn Feige und Herrn Schäfer den Eindruck gewonnen hätte, daß nach der Kategorie der Fundis und Realos jetzt auch noch im Parlament die Banalos Einzug gehalten haben. Aber natürlich sage ich das nicht, weil ich ja Sorge wegen der Rüge habe.
Wir haben in der Vergangenheit, Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, viel über Kohlepolitik, über Klimaschutz, über Ausstieg aus der Kernenergie und über die Braunkohle der neuen Bundesländer gesprochen. Energiepolitik darf aber nicht als Aneinanderreihung isolierter Einzelentscheidungen verstanden werden. Sie ist in ein Gesamtkonzept eingebettet, das die Ziele Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz und Ressourcenschonung gleichzeitig verfolgt und dabei eingebettet ist in den Gesamtrahmen einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik. Mit Blick auf die zahlreichen Forderungen und Vorschläge der Opposition, gerade auch im Blick auf die heute hier vorliegenden Anträge, heißt dies: Man kann nicht für Wohnungen und Gebäude höchste Energiestandards ohne Rücksicht auf Baukosten- und Mietenentwicklung fordern.
Man kann nicht den Ausstieg aus der Kernenergie fordern, ohne die Frage zu beantworten, wie sich dies auf die Erreichung der Klimaschutzziele auswirkt.
Man kann nicht in der Kohlepolitik hohe Fördermengen verlangen, ohne die umweltpolitischen, außenwirtschaftlichen und finanzwirtschaftlichen Folgen zu bedenken.
Man kann nicht den zu langsamen Wirtschaftsaufschwung in den neuen Bundesländern beklagen und gleichzeitig neue Investitionshemmnisse durch den Rückfall in steuerlichen Dirigismus fordern, wie das im SPD-Entwurf eines Energiegesetzes der Fall ist.
Energiepolitik ist eine Optimierungsaufgabe im Rahmen der marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftspolitik. Sie ist auf das engste mit der Umweltpolitik abgestimmt. Deswegen sind auch die beiden Beschlüsse, die wir gestern im Kabinett gefaßt haben, zwischen dem Umweltminister und dem Wirtschaftsminister aufs engste abgestimmt. Deshalb werden wir selbstverständlich gemeinsam diese Linie nicht nur bei der Umsetzung der Einzelmaßnahmen hier im Parlament, sondern auch in Brüssel vertreten. Alles andere ist eine Selbsttäuschung, was hier angeklungen ist. Selbstverständlich werden wir den Erfolg dieser Papiere, die wir gestern im Kabinett verabschiedet haben, durch gemeinsames Agieren auch in Brüssel sicherstellen.
Meine Damen! Meine Herren! Die Bundesregierung hat mit ihrer Energiepolitik in den alten Bundesländern gute Erfolge erzielt, die wir so schnell wie möglich auch in den neuen Bundesländern erreichen wollen und auf denen wir für die Zukunft aufbauen können. Die Energieversorgung ist auch während des Golfkrieges sicher gewesen. Die Energienutzung wird immer rationeller und sparsamer. Der spezifische Energieverbrauch, d. h. die zur Erzeugung einer Einheit des Bruttosozialprodukts notwendige Energiemenge, liegt heute um 13 % niedriger als 1985.
Die Belastung der Umwelt durch die klassischen Luftschadstoffe nimmt ab. So sind seit 1985 die energiebedingten Emissionen von Stickoxiden um 9 %, von Staub um 38 % und von Schwefeldioxid um 61 % zurückgegangen.
Nach allen vorliegenden Prognosen wird sich die Energieeffizienz unserer Volkswirtschaft weiter verbessern. Die Abkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum wird sich weiter — das ist wichtig — fortsetzen.
Für die energiewirtschaftliche Integration der neuen Bundesländer sind die Weichen durch die Übernahme unseres Energie- und Umweltrechts, durch die bisherigen Entscheidungen zur Privatisierung und durch den Abbau der Energiepreissubventionen gestellt. Wichtig ist nun, daß die notwendigen Investitionen zügig vorgenommen werden. Dazu wird die Energiepolitik beitragen.
Damit die Braunkohle einen wichtigen, wettbewerbsfähigen Beitrag in der Verstromung leisten kann, ist neben ihrer Privatisierung die Konzentration auf leistungsfähige Großtagebaue erforderlich. Nach der erfolgreichen Privatisierung der größten Raffinerie in Schwedt erwarten wir in den nächsten Wochen
5726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Bundesminister Jürgen W. Möllemann
auch für Leuna den Abschluß eines Vorvertrags mit nationalen und internationalen Investoren.
Im gegenwärtigen Gasstreit appelliere ich nochmals an die beteiligten Unternehmen, Lösungen zu finden, die die Versorgungssicherheit in den neuen Bundesländern nicht gefährden, und ihren Streit nicht auf dem Rücken der Bürger auszutragen.
Die Fördermaßnahmen zur Modernisierung und Energieeinsparung in Gebäuden im Rahmen des Programms Aufschwung Ost und die zinsverbilligten Kreditprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau werden fortgesetzt. Wir haben ein mehrjähriges Bund-Länder-Programm zur Sanierung der erhaltungswürdigen Fernwärmenetze in den neuen Bundesländern aufgelegt, das 1992 mit einem Mittelvolumen von 300 Millionen DM beginnt.
Herr Schäfer, Sie haben gefragt, was wir konkret machen.
— Sie haben nichts einzuräumen, Sie haben zur Kenntnis genommen, daß es so ist. Sie haben hier so getan, als werde nichts gemacht. Ich sage hier noch einmal: Sie müssen die Dinge lesen, über die Sie sprechen. Das macht das Gespräch interessanter.
In die Debatte um die Kohlepolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte jetzt wieder mehr Sachlichkeit einkehren. Die Resultate der Kohlerunde über die weitere Rolle der deutschen Steinkohle im vereinten Deutschland sind das Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen den gesamtwirtschaftlichen Interessen und dem politischen Ziel, den unvermeidbaren Anpassungsprozeß in den deutschen Steinkohlerevieren wie bisher sozial und regionalpolitisch geordnet durchzuführen.
Es ist kein Geheimnis — ich will das hier auch nicht verheimlichen — , daß ich wirtschafts- und energiepolitisch eine zügigere und weitergehende Rückführung des hochsubventionierten Absatzes unserer Steinkohle für richtig gehalten habe und weiterhin für richtig hielte. Hierfür war jedoch in den Verhandlungen ein Konsens mit dem Steinkohlenbergbau und den beiden Revierländern nicht zu erzielen.
Die Erhaltung des sozialen Friedens in den alten Montanregionen an Ruhr und Saar hat gewiß eine große Bedeutung für das soziale Klima, das politische Klima in unserem Land. Aber das hat auch einen sehr hohen Preis. Von den Unternehmen des Steinkohlenbergbaus muß erwartet werden, daß sie alle Möglichkeiten zur Rationalisierung und Kostensenkung verstärkt ausschöpfen. Das ist nicht nur erforderlich, um den Einsatz knapper finanzieller Mittel zu begrenzen. Auch die zukünftigen Subventionsgenehmigungen der Europäischen Gemeinschaft werden davon erheblich beeinflußt werden.
Kernpunkte des Kohlekonzepts sind: Der Absatz an die Stromwirtschaft und an die Stahlindustrie wird weiter subventioniert. Der subventionierte Absatz wird bis zum Jahre 2000 auf 50 Millionen t zurückgeführt und soll dann bis zum Jahre 2005 auf diesem Niveau gehalten werden. Die gemeimsame Absicht der Beteiligten ist, ab 1997 eine jährliche Verstromungsmenge von 35 Millionen t Steinkohleeinheiten bis zum Jahre 2005 zu sichern. Die Bundesregierung und die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und des Saarlands werden die Strukturanpassungen auch künftig sozial und regional flankieren. Darüber hinaus werden sie die Unternehmen bei der Bewältigung der zusätzlichen Belastungen aus der Anpassung im Rahmen iher finanzpolitischen Möglichkeiten flankierend unterstützen.
In der Kohlerunde bestand Einvernehmen, daß eine langfristig tragfähige Kohlepolitik im gemeinsamen Binnenmarkt der Konzertierung in der EG bedarf. Nach intensiven Gesprächen mit der EG ist es inzwischen gelungen, den Jahrhundertvertrag wettbewerbspolitisch abzusichern. Der für Wettbewerbsfragen zuständige Kommissar wird der EG-Komission die Genehmigung des Jahrhundertvertrages für die vereinbarten Lieferungen von jährlich 40,9 Millionen t bis 1995 vorgeschlagen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß im Jahre 1995 3,4 Millionen t nicht aus frischer Förderung, sondern von der Halde geliefert werden.
Ich will an der Stelle nur sagen — denn ich habe da merkwürdige Presseberichte gelesen — : Das war das Ergebnis eines Gesprächs — als möglicher Kompromiß — bereits vor der letzten Kohlerunde. Das war aber in der Kohlerunde nicht akzeptabel. Hinterher ist es in der Vereinbarung mit der Kommission dann doch so festgelegt worden; da war es plötzlich akzeptabel. Das hat mich ein bißchen überrascht; denn das hätte man vorher haben können. Präzise diese Zahl war vor der letzten Kohlerunde zwischen Herrn Brittan und mir vereinbart. In der Schlußphase der Kohlerunde ließ sich ein Konsens darüber nicht erreichen. Danach ist es dann plötzlich — als Bedingung, die man nicht anders haben konnte — vereinbart worden. Dann haben plötzlich alle Beteiligten gesagt: Gut, dann wollen wir es daran nicht scheitern lassen. — Sehr vernünftig, aber das hätte man eher haben können.
In den weiteren Verhandlungen mit der EG-Kommission zur Herstellung des Einvernehmens über die Ergebnisse der Kohlerunde werde ich mich für eine positive Lösung der beihilferechtlichen Absicherungen des Jahrhundertvertrags einsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die größte Herausforderung für eine umweltverträgliche Energiepolitik ist heute der Klimaschutz. Wir halten am CO2-Reduktionsziel von 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005 fest. Der Treibhauseffekt ist ein globales Problem, das internationaler, am besten weltweiter Abstimmung bedarf. Deshalb begrüße ich den Vorschlag der EG-Kommission für ein Klimaschutzkonzept auf Gemeinschaftsebene. Die vorgeschlagene Energie- und CO2-Steuer ist grundsätzlich ein richtiger Weg, um durch Verteuerung insbesondere der CO2-haltigen Energieträger zu mehr Energieeinsparung und Energieeffizienz sowie zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit erneuerbarer Energieträger beizutragen. Ich werde mich auf dem gemeinsamen Rat der Energie- und Umweltminister der EG morgen gemeinsam mit Herrn
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5727
Bundesminister Jürgen W. Möllemann
Kollegen Töpfer dafür einsetzen, daß die Gemeinschaft zu einer positiven Schlußfolgerung kommt und die EG-Kommission zur Vorlage eines konkreten Richtlinienvorschlags auffordert. Über die Ausgestaltung im einzelnen werden wir noch verhandeln.
Die notwendige internationale Abstimmung kann und soll nicht heißen, daß wir zu Hause die Hände in den Schoß legen können. Wir werden ein ganzes Paket von Maßnahmen auf den Weg bringen: angefangen von der Förderung erneuerbarer Energien über die Novellierung der Wärmeschutzverordnung, der Heizungsanlagenverordnung, der Kleinfeuerungsanlagenverordnung bis zum Erlaß einer Wärmenutzungsverordnung. Wir werden vor allem die Informations- und Beratungsmaßnahmen für Haushalte und kleine und mittlere Unternehmen verstärken. Denn: Zur wirksamen Energieeinsparung muß ja auch der einzelne Bürger beitragen: als Verbraucher, der an den eigenen Geldbeutel denkt, und als Akteur des Umweltschutzes.
Im Energieeinsparen liegt der eigentliche Schlüssel zur Versöhnung von Ökologie und Ökonomie. Die Bürger selbst werden diese Versöhnung vorantreiben, wenn wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Es geht nicht ohne finanzielle Anreize, insbesondere im Gebäudebestand und für erneuerbare Energien.
An dieser Stelle ging Ihre Kritik nicht völlig fehl. Hier wäre es natürlich noch besser gewesen, wenn wir die notwendigen finanziellen Maßnahmen hier heute schon hätten präsentieren können. Nur, auch Sie wissen, daß wir, was die Finanzpolitik angeht, jeden Tag mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden, daß im Augenblick über die Frage, welche finanziellen Mittel im kommenden Jahr zur Verfügung stehen werden, im Vermittlungsverfahren verhandelt wird. Es ist auch nicht so unseriös, zu sagen: Das wollen wir erst sehen. Da ringen wir ja auch mit der SPD. Bitte sorgen Sie mit dafür, daß der Bund die notwendigen Mittel hat! Dann kann er auch die hierfür einsetzen.
Die Bundesregierung wird in dieser Legislaturperiode zur Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes — das Notwendige dazu ist gesagt — einen Vorschlag im Bundestag einbringen.
Von der Haltung zur Kernenergie hängt ab, wie viele Einschränkungen und Kosten wir den Bürgern bei der Energieeinsparung zumuten könnten, welche Rolle wir den fossilen Energieträgern noch zubilligen können, wie stark wir erneuerbare Energien voranbringen müssen und können. Das Fehlen des Konsenses in Grundfragen der Energiepolitik hat deswegen weitreichende Folgen. Die Bundesregierung ist sich ihrer Verantwortung bewußt, die gesellschaftliche und politische Verständigung zu fördern.
Ich strebe deshalb an, die Verantwortlichen im Energiebereich für eine neue Zusammenarbeit zu gewinnen, die durch parteiübergreifende Suche nach den wirkungsvollsten Handlungsmöglichkeiten in der Energiepolitik zur Investitionssicherheit für die Wirtschaft im Vertrauen der Bürger und Verbraucher führt. Ich werde dazu im Zusammenwirken mit dem Bundesumweltminister eine Kommission für Energiefragen einrichten. Sie soll aus unabhängigen Persönlichkeiten bestehen, die zur kooperativen Klärung von Konsensmöglichkeiten beitragen sollen.
Die Kommission wird frei sein, den Arbeitsbereich energiepolitischer Verständigungsprozesse nach ihrer Auffassung zu beschreiben. Ich sehe darin die Chance, mit der Kommission über alle Optionen zu sprechen und die Vorschläge der Kommission in die Entscheidungen über die künftige Energiepolitik einzubeziehen. Nach meiner Ansicht liegt eine Stärke der Energiepolitik gerade in der Bereitschaft zu Offenheit und Transparenz, die zur Akzeptanz energiepolitischer Entscheidungen bei Bürgern und Unternehmen beitragen kann.
Die Kommission soll ihre Arbeit Anfang des kommenden Jahres aufnehmen. Der designierte Vorsitzende dieser Kommission, Herr Reinhard Ueberhorst, hat damals als Vorsitzender der ersten Enquete-Kommission für friedliche Nutzung der Kernenergie gezeigt, daß auch von sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen her ein parteiübergreifender Konsens herstellbar ist.
Die enge europäische und internationale Einbindung macht den Spielraum für eine nationale Energiepolitik immer enger. Dies einzusehen fällt, wie die Diskussion um Kohlepolitik gezeigt hat, manchem immer noch schwer. Auch zur Strom- und Gasversorgung sind Vorschläge aus Brüssel angekündigt, die tiefgreifende Auswirkungen auf unser Energierecht und die Struktur der Versorgungswirtschaft haben können. Wir werden sie sorgfältig prüfen, sobald sie konkret vorliegen.
Die europäische und internationale Einbindung der Energiepolitik ist aber nicht eine Bedrohung. Sie ist eine Chance zur Verbesserung. Der Binnenmarkt für Energie führt zu mehr Wettbewerb, zu besserer Energieversorgung und Versorgungssicherheit im großen Binnenmarkt.
Deswegen sollten wir — und dies gilt, das darf man an diesem Tag wohl insgesamt sagen, wenn wir über Europa sprechen, nicht nur bei der Energiepolitik, sondern auch bei der Bewertung der übrigen Ergebnisse von Maastricht — als derjenige Staat, der bislang von der europäischen Integration den meisten Nutzen gezogen hat, auch die Ergebnisse des weiteren Kooperationsprozesses nicht immer nur an unseren nationalen Idealvorstellungen messen, sondern auch daran, was für die Gemeinschaft erreicht werden kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat unser Kollege Volker Jung das Wort.
Frau Präsidentin! Ich darf Ihnen zunächst recht herzlich zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren und Ihnen alles Gute wünschen.
5728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Volker Jung
Bundeswirtschaftsminister Möllemann hat sinngemäß ausgeführt, daß es bei der Energiepolitik nicht um eine bloße Aneinanderreihung von Einzelpolitiken gehen kann, daß es auf die Zusammenschau ankommt, daß es um eine Optimierungsaufgabe geht, daß es also hier um eine Strategie geht.
Ich stimme dem zu und muß gerade deswegen sagen: Das energiepolitische Gesamtkonzept, wie Sie es anspruchsvoll nennen, ist in jeder Hinsicht ein Armutszeugnis, umweltpolitisch und energiepolitisch. Mit diesem Konzept verabschiedet sich die Bundesregierung von den Zielen, die sie vor einem Jahr selber formuliert hat, nämlich unsere Energieversorgung so umzustrukturieren, daß sie einen wirksamen Beitrag zur Ressourcenschonung und zum Umweltschutz, insbesondere zum Schutz des Klimas, leistet.
Im Grunde läßt sich die Botschaft, die dieses Konzept vermitteln soll, in fünf knappen Sätzen zusammenfassen.
Der erste Satz: Der Markt wird es schon richten. Er wird auf wundersame Weise Energiesparen und Klimaschutz voranbringen. Staatliches Handeln ist nicht angesagt; es stört dabei nur.
Zweiter Satz: Energiesparen und Klimaschutz gibt -es entgegen allen Erfahrungen zum Nulltarif.
Dritter Satz: Versorgungssicherheit ist, wenn sich dieses Problem überhaupt stellt, keine öffentliche Aufgabe mehr; sie wird besser den nationalen und internationalen Energiekonzernen überlassen.
Vierter Satz: Eine ökologische Reform unseres Steuersystems ist nur auf europäischer Ebene möglich. — Damit hat der Umweltminister nicht nur einen Kotau vor dem Wirtschaftsminister gemacht, damit wird die Reform auch auf die lange Bank geschoben.
Fünfter Satz: Statt Energiesparen mit ordnungs-
und finanzpolitischen Maßnahmen durchzusetzen, soll die Kernenergie ausgebaut werden. Hier soll also der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben werden, die Klimagefahren sollen durch eine weitere Anhäufung nuklearer Risiken bekämpft werden.
Für diese fünf Sätze, meine Damen und Herren, haben Sie über ein Jahr gebraucht und 120 Seiten beschrieben. Ich meine, sie sind das Papier nicht wert. Damit desavouieren Sie Ihre eigenen Vertreter in der Enquetekommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre". Bei allen Meinungsverschiedenheiten — z. B. bei der Nutzung der Kernenergie oder bei dem Switch des Energiemixes von CO2-intensiven zu CO2-ärmeren Energieträgern — bestand über alle Parteien hinweg Einigkeit darin — so nachzulesen im Dritten Zwischenbericht — , daß der Energieeinsparung und der rationelleren Energienutzung sowie der Förderung und Markteinführung erneuerbarer Energien absolute Priorität zukommt. Herr Lippold, das werden Sie bestätigen können.
Davon ist in dem Energiekonzept der Bundesregierung aber keine Rede mehr. Sie haben in den letzten Jahren nicht nur alle einschlägigen Förderprogramme auslaufen lassen, z. B. das Programm zur Förderung der Fernwärme und zum Bau von Heizkraftwerken, der Finanzminister hat auch die zaghaften Förderungsmaßnahmen, die in dem Entwurf des Wirtschaftsministers ursprünglich drinstanden, schließlich herausgestrichen. Daher ist die vor einem Jahr beschlossene Selbstverpflichtung der Bundesregierung, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25 bis 30 abzusenken, schon heute Makulatur.
Herr Töpfer möchte das noch nicht wahrhaben. Indirekt hat es der Bundeswirtschaftsminister zugegeben. Das Prognos-Gutachten, das zur Erarbeitung des Energiekonzeptes herangezogen wurde, prognostiziert nämlich, daß bei einem 50 %igen Zuwachs des Bruttosozialprodukts bis zum Jahre 2010 der Energieverbrauch und damit auch die CO2-Emissionen allenfalls stagnieren werden. Dabei wird bereits unterstellt, daß das Energiepreisniveau um 50 % steigt, massive öffentliche Hilfen zur Energieeinsparung gegeben und die Energiesteuern um 15 % angehoben werden.
Das heißt doch im Klartext: Wenn die Bundesregierung untätig bleibt, dann fällt die Prognose nicht schwer, daß der Energieverbrauch weiter ansteigen wird. Und wenn die Bundesregierung bei den leitungsgebundenen Energien auf eine Deregulierung auf nationaler wie auf europäischer Ebene setzt — und das ist in dem Energiekonzept die einzige substantielle Aussage zum Energierecht — , dann verkennt sie nicht nur die ökologische Dimension des Problems, sondern setzt ihre Hoffnung auf eine Verringerung der Energiekosten und -preise. Das würde aber mit Sicherheit zu einem Mehrverbrauch an Energie führen, die Schadstoffbelastung vergrößern und unsere ohnehin schon hohe Importabhängigkeit noch weiter erhöhen.
Heute sind wir zu über 50 % von Energieimporten abhängig. Diese Abhängigkeit wird ohnehin steigen, weil es die Bundesregierung zuläßt, daß die einzigen heimischen Energiequellen — die Stein- und Braunkohle — weiter eingeschränkt werden, die Steinkohle, die der Wirtschaftsminister zu einer dramatischen Anpassung gezwungen hat und für die noch keine Finanzierungsregelung in Sicht ist,
und auch die Braunkohle, die er mit den Stromverträgen aus seiner Verfügung entlassen hat.
Verschwiegen werden die Versorgungsrisiken bei osteuropäischen, insbesondere russischen Energieimporten. Kein Mensch weiß heute, wie lange wir noch auf sichere Lieferungen von Öl und Gas aus der zerfallenden Sowjetunion rechnen können. Kein Mensch weiß auch, welchem Preisdiktat der OPEC-Länder wir in Zukunft ausgesetzt sein werden. Alle Lehren aus zwei Ölpreiskrisen scheinen vergessen zu sein, als die Energiemehrkosten in Milliardenhöhe zu Konjunktureinbrüchen geführt haben.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5729
Volker Jung
Dazu paßt es lückenlos, bei der Anhebung der Energiesteuern auf die schleppende Willensbildung in der Europäischen Gemeinschaft zu setzen und zugleich darauf zu drängen, daß die CO2-Komponente noch größeres Gewicht erhält. Das schwächt die Wettbewerbsposition der fossilen Energieträger, der Steinkohle, die ohnehin geschützt werden muß, und der Braunkohle, die ohne zusätzliche Belastung an sich wettbewerbsfähig wäre, und das stärkt die Wettbewerbsposition der Kernenergie.
Bei diesem Szenario können Sie in Ihr Energiekonzept ganz zurückhaltend hineinschreiben, daß die Option für einen Ausbau der Kernenergie offengehalten wird, und auf der anderen Seite eine Energiekommission einsetzen, die von einem bekannten Sozialdemokraten geleitet wird. Sie spekulieren doch offensichtlich darauf, daß uns die vertane Zeit und der wachsende Problemdruck bei der strittigen Frage der Kernenergienutzung schon in die Knie zwingen werden. Ich sage Ihnen dazu: Dieses Szenario wird nicht aufgehen.
Eine Renaissance der Kernenergie wird es nicht geben, jedenfalls nicht mit unserer Hilfe
und auch nicht mit Hilfe der Energiewirtschaft, die gegen unseren Widerstand und gegen den Widerstand der Bevölkerung kein Kernkraftwerk mehr bauen wird.
Meine Damen und Herren, wir haben unsere Alternativen auf den Tisch gelegt und werden sie Schritt für Schritt konkretisieren:
Mit dem Entwurf eines neuen Energiegesetzes legen wir einen ökologisch ausgerichteten Ordnungsrahmen für die zukünftige Energieversorgung in ganz Deutschland vor. Die Diskussion über die Reform des Energiewirtschaftsgesetzes ist so alt wie die Bundesrepublik, aber bislang hat die Energiewirtschaft jede einschneidende Veränderung zu verhindern gewußt. Auch jetzt will der Wirtschaftsminister diese Reform nicht anpacken. Er wartet vielmehr auf die Übernahme der ordnungspolitischen Kompetenz im Energiesektor durch die EG-Kommission.
Unser Ansatz, mit diesem neuen Ordnungsrahmen die Umwelt zu schützen, die Energieressourcen zu schonen, erneuerbare Energien zu fördern und die externen Kosten der Energieversorgung zum Maßstab zukünftiger Energieversorgungsstrukturen zu machen, hat durchaus Zukunft. Die SPD hat die jahrelangen Forderungen der Umweltminister des Bundes und der Länder aufgegriffen und einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt. Ich erinnere an die Beschlüsse der Umweltministerkonferenz aus dem Jahre 1987, die 1988 auch von der Wirtschaftsministerkonferenz aufgegriffen wurden. In der letzten Legislaturperiode haben die Regierungsparteien im Wirtschaftsausschuß eine intensive Beratung dieses Gesetzentwurfs zugesagt. Wir nehmen diese Zusage ernst und hoffen, daß wir die Bundesregierung gemeinsam davon überzeugen können, ihre Novellierungsabsichten in die richtige Richtung zu lenken.
Wir wollen den Umweltschutz stärken und den Kommunen größere Handlungsspielräume bei der Gestaltung der Energieversorgung einräumen. Wir sprechen uns nicht für eine Rekommunalisierung als Prinzip aus, sondern wollen eine Ausschöpfung der energiepolitischen Möglichkeiten, die die Gemeinden im Rahmen ihrer Daseinsvorsorge wahrnehmen können. Dies ist insbesondere in den neuen Bundesländern sehr wichtig, wo die Stromverträge die Gemeinden faktisch von einer Beteiligung an der Energieversorgung ausschließen.
Wir wollen bei der Stromeinspeisung auch die Wärme-Kraft-Kopplung berücksichtigen, damit sie zusätzliche Marktanteile gewinnen kann. Die WärmeKraft-Kopplung ist die ökologisch verträglichste Energieversorgung, die aus Klimaschutzgründen und zur Schonung der Ressourcen massiv ausgebaut werden muß. Wir wollen die Konzessionsabgaben für die Gemeinden erhalten, diese aber verpflichten, einen Teil davon für Energieeinsparmaßnahmen zu verwenden. Dazu wollen wir alle zukünftigen Energieanlagen einer öffentlichen Genehmigung und Aufsicht unterwerfen, um die ökologische Reform möglich zu machen.
Meine Damen und Herren, Sie haben alle diese Vorschläge abgelehnt. Jetzt hat die Europäische Kommission im Grundsatz unser Steuerkonzept aufgegriffen. Wir unterstützen ihren Ansatz, europaweit mit einem 15 %igen Aufschlag auf den Energieverbrauch zu beginnen und diesen Aufschlag bis zum Jahre 2000 schrittweise auf 50 % anzuheben. Gleichzeitig muß allerdings der Faktor Arbeit entlastet, d. h. die Lohn- und Einkommensteuer abgesenkt werden.
Der bestmögliche Effekt zur Energieeinsparung und damit zum Klimaschutz wäre, diese Energiesteuer am Energiegehalt festzumachen und nicht mit einer CO2-Komponente zu versehen. Denn dies würde nicht nur der Kernenergie, sondern auch dem Gas, dem ohnehin knappsten Energierohstoff, Wettbewerbsvorteile bringen und unsere einheimischen Energieträger massiv belasten.
Wir haben seit Jahren öffentliche Förderprogramme für die Energieeinsparung in Gebäuden, zur Förderung der Wärme-Kraft-Kopplung und zum Ausbau der Fernwärme gefordert. Wir werden in Kürze ein umfassendes Programm zur Energieeinsparung, rationelleren Energieverwendung und Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung mit Fernwärme vorlegen.
Wir haben seit Jahren auch ein Programm zur Förderung erneuerbarer Energien gefordert. Dieses Programm muß unverzüglich vorgelegt werden. Die technischen Potentiale für mindestens eine Verfünffachung des bisherigen Anteils dieser Energie sind nämlich vorhanden, aber sie sind — das ist schon gesagt worden — lange noch nicht wirtschaftlich.
Es ist heute klar, daß wir es nur mit öffentlichen Hilfen schaffen werden, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen. Es kommt aber darauf an, die Energiewende frühzeitig einzuleiten, um diese Energieträger in Zukunft zu einem wesentlichen Faktor unserer Energieversorgung zu machen.
Meine Damen und Herren, diese Instrumente, ordnungspolitisch und finanzpolitisch zusammen be-
5730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Volker Jung
trachtet, bilden unser Konzept für eine ökologisch verträgliche Energieversorgung, die diesen Namen auch verdient.
Auch die EG-Kommission betont bei ihrem Energiesteuervorschlag, daß nur ein Mix aus Ordnungsrecht, Anhebung der Energiesteuern und öffentlichen Fördermaßnahmen einen Ausweg aus der gegenwärtigen ökologischen Krise bedeutet.
Die SPD hat mit diesem Maßnahmenkatalog eine Vorreiterrolle übernommen. Sie müssen sich jetzt anschließen. Sie müssen sich den konkreten Herausforderungen stellen, sonst werden Sie es nicht schaffen, die überfällige Reform unserer Energieversorgung herbeizuführen. Diese ist aber im Interesse der Natur, der Stabilisierung des Klimas und der Sicherung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen unerläßlich.
Schönen Dank.
Nun hat unser Kollege Dr. Klaus Lippold das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Sätze zu Ihnen, Herr Jung. Wenn man Ihre Rede verfolgt hat, fragt man sich: Was wollen Sie eigentlich? Wir reden von Umweltschutz. Umweltschutz heißt — und Sie haben die Enquete-Kommission zitiert — , wenn wir gegen den Treibhauseffekt Vorsorge treffen wollen, CO2-Minderung.
Was folgern Sie daraus? Sie stabilisieren Steinkohle, Sie stabilisieren Braunkohle, und Sie wollen aus der Kernenergie aussteigen. Steinkohle heißt mehr CO2, Braunkohle heißt mehr CO2, Kernenergie ist CO2-frei. Ihr umweltschützendes Konzept beinhaltet also mehr Verbrennung fossiler Stoffe und ausgerechnet der fossilen Stoffe, die die CO2-haltigsten sind. Es ist nicht nur so, daß Sie hier in eine nach meinem Dafürhalten international längst abgelegte Kernenergiepolemik eintreten, die selbst der Club of Rome schon abgelegt hat — aber von international renommierten Wissenschaftlern wollen Sie ja nicht lernen —,
Sie verstehen auch die anderen Aussagen der Enquete — ich sage noch einmal, Sie haben uns zitiert — nicht. Denn hier fand sich gerade bei Ihnen der Satz, daß die CO2-Steuer natürlich auch Gas begünstigen würde. Sie polemisieren also nicht nur gegen Kernenergie, sondern auch gegen Gas.
Wenn Sie jetzt nicht nur über die Enquete geredet hätten, sondern nachgelesen hätten, was in den Empfehlungen der Enquete steht, dann wüßten Sie, daß es um folgendes geht: Substitution der Energieträger, weg von den CO2-haltigen, hin zu den CO2-armen. Nun ist aber nach allgemeinem Verständnis, Herr Jung, Erdgas ein CO2-ärmerer Energieträger als Steinkohle und Braunkohle.
CO2-freie Kernenergie wollen Sie nicht. CO2-armes Gas wollen Sie auch nicht. Alles andere stabilisieren Sie. Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Wir wollen Vorsorge für die zukünftige Klimaschutzpolitik treffen. Das ist ein Widerspruch, der einfach nicht auflösbar ist.
Er ist einfach nicht auflösbar, auch nicht, Herr Feige, unter Bezug auf Herrn Hennicke, was etwas anderes ist als Hennecke. Aber immerhin!
Dann gingen Sie auf die Politik der Bundesregierung ein. Sie sprechen von einem Armutszeugnis. Aber wieso denn?
Wir haben weltweit das erste Programm geschaffen, das eine CO2-Minderung in dieser massiven Form angeht.
— Ja, ich komme noch dazu. Keine Bange. Warten Sie doch.
Die Zielsetzungen, die wir haben, werden nur von wenigen Ländern dieser Erde geteilt. Der Unterschied ist, auch andere Länder — ich sagte das gerade — haben ein Minderungsprogramm. Wir sind die ersten, die in konkrete Maßnahmen zur Minderung selbst einsteigen.
Der eine Punkt ist — Sie haben es angesprochen —, daß wir marktwirtschaftliche Instrumente wie CO2-
Abgabe/CO2- Steuer oder Energiesteuer anwenden. Ich halte dies für richtig. Wenn wir dies im EG-Maßstab machen, halte ich das für hervorragend, denn Aktivität der Bundesrepublik alleine, sehr geehrter Herr Jung, heißt doch, daß wir weltweit gar nichts bewegen. Wir können nicht nur allein handeln, sondern müssen im Gleichklang mit der EG und über die EG hinaus mit der OECD, mit allen Industriestaaten und weltweit handeln. Deshalb ist doch ein gemeinschaftliches Handeln zusammen mit der EG nicht negativ, sondern eher positiv.
Man kann doch nicht in diesen wirklich engen Provinzialismuskategorien denken. Wenn wir globale Probleme lösen wollen, geht dies nicht.
Deshalb ist der Weg völlig richtig.
Auch die EG hat Ihren Vorstellungen dadurch eine Absage erteilt, daß sie CO2-Steuer und Energiesteuer miteinander kombiniert. Ein richtiger Vorschlag.
Sie haben gesagt, allein der Markt wird es richten. Auch das stimmt nicht. Die Vorschläge, die hier vorgelegt werden, sind eine Mischung aus marktkonformen ordnungspolitischen Maßnahmen auf der einen Seite und Ordnungsrecht auf der anderen Seite:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5731
Dr. Klaus W. Lippold Wärmeschutzverordnung, Heizungsanlagenverordnung usw.
Das sind Positionen, die sehr stark greifen.
— Sie wissen doch, daß es in Arbeit ist und vorgelegt wird.
— Vor 10 Jahren waren Sie noch dran. Da haben die Dinge noch ganz anders ausgesehen. Heute wird endlich etwas getan!
Herr Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feige?
Aber gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege Lippold, Sie sind 1983 in den Bundestag gekommen. Können Sie sich noch daran erinnern, wie seinerzeit die Koalition unter der Führung von Herrn Bangemann das bis dahin bestehende Energiesparprogramm der damaligen Regierung gekippt hat? Können Sie sich noch gut daran erinnern?
Herr Feige, darf ich Ihnen sagen, daß es darauf ankommt, was man erreicht. Wenn Sie sehen,
daß wir in den vergangenen Jahren eine Abkoppelung von Wachstum auf der einen Seite und Energieverbrauch auf der anderen Seite hatten und wir im Verlauf der letzten 10 Jahre dazu gekommen sind, daß diese Bundesregierung z. B. die alternativen Energien mit mehr Mitteln fördert als alle anderen 11 EG-Länder zusammengenommen, dann müssen Sie doch zugleich die positiven Seiten dieser Politik sehen. Sie müßten erkennen, daß an den richtigen Stellen angesetzt wurde, Herr Feige, und nicht an den falschen Stellen.
Ich glaube, man muß angesichts der Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen, ganz deutlich sehen: Es gibt Herausforderungen, wie wir sie bislang nicht hatten: durch die Wiedervereinigung, den Prozeß in den fünf neuen Bundesländern, durch den Zerfall der Sowjetunion, durch den Zerfall des Ostblocks. Wir haben gleichzeitig die Problematik EG-Binnenmarkt. Es kommen global noch andere Aufgaben hinzu: Klimakatastrophe und alles das, was daraus folgt. Ich glaube, vor diesem Hintergrund müssen wir sehen, daß das energiepolitische Aspekte sind, die berücksichtigt werden müssen. Wir brauchen zum Teil noch
klarere, noch deutlichere Analysen, z. B. was den Bereich der neuen Bundesländer angeht. Wir brauchen Programme, die hier sofort ansetzen. Wir haben die Programme, die hier sofort ansetzen, denn gerade in den neuen Bundesländern fördern wir Energieeinsparungsmaßnahmen in ganz erheblichem Umfang. Das ist ein richtiger Ansatz. Wir drängen darauf, daß die Umorientierung der Energiewirtschaftsstrukturen dort zügig passiert. Ich hoffe allerdings — das sage ich auch — , daß sie so weitgehend passiert, daß wir jetzt nicht sekundär optimale Strukturen festschreiben, die uns dann 2010 hindern würden, in vernünftige weitere Anpassungsprozesse hineinzugehen.
— Ich sage das einmal so. Wir brauchen natürlich auch mit Blick auf die ehemalige Sowjetunion, Herr Schäfer, Strukturen, die international im energiewirtschaftlichen Bereich ein Abchecken ermöglichen, ob Sicherheit von Energieleistungen, Energielieferungen noch gegeben ist, ob die Sicherheit der Kernenergieanlagen drüben noch gewährleistet werden kann und, wenn ja, ob wir uns in diesen Prozeß — das ist ein wichtiger umweltpolitischer Aspekt von Energiepolitik — einschalten können, wobei dies nicht nur deutsche Aufgabe ist, denn wir können dies nicht verantwortlich tun, sondern eine internationale Aufgabe, Sie sollten mit dazu beitragen, statt hier zu polemisieren.
Wir brauchen auch international eine global abgestimmte Vorgehensweise, was die Klimakatastrophe, was den Treibhauseffekt angeht. Die Vorstellungen, die die Bundesregierung über die Koalitionsvereinbarung hierzu entwickelt hat, aufgenommen von der Enquete-Kommission, Herr Jung — deshalb ist das durchaus ein Weg, den wir in vollem Umfang begrüßen können — , sind die einzig richtigen. Wir müssen hinarbeiten auf eine Weltklimakonvention mit klaren verbindlichen Verpflichtungen. Selbst wenn wir diese nicht erreichen sollten, Herr Schäfer — dies wäre dann nicht der Fehler dieser Bundesregierung —, müßten wir Mittel und Wege finden, wie wir dann zu einer second-best-Lösung in diesem Bereich kommen und wenigstens Protokolle erreichen, in denen wir zeitlich festschreiben, wann wie welche Reduktionsverpflichtungen vorzusehen sind.
Ich würde bis dahin, Herr Schäfer, nicht in falschem Defätismus
davon Abstand nehmen, auf die anderen einzuwirken, weil ich glaube, daß wir mit der Herleitung unserer Zielvorgaben auf dem einzig richtigen Weg sind. Wir haben wissenschaftlich nachgewiesen, warum CO2-Emissionen nicht so stark steigen dürfen, wie es der Fall wäre, wenn wir nicht in den Prozeß eingreifen würden. Wir haben nachgewiesen, in welcher Form Reduktionen erfolgen müssen. Wir dürfen dies nicht zum politischen Kuhhandel werden lassen. Ich sage das deshalb, weil wir alles das, was wir jetzt nicht tun, und alles das, was die nächste Weltumweltkonferenz nicht entscheiden wird, später unter größeren Opfern,
5732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Klaus W. Lippold
unter stärkeren Einschnitten nachholen müssen. Das ist doch auch das, Herr Schäfer, was Sie wollen.
— Dann sagen Sie doch einmal ganz klar, daß wir in dieser Hinsicht die gleiche Zielrichtung haben, daß wir auf dem gleichen Weg marschieren, und unterstützen Sie die Bundesregierung auf ihrem Weg, andere Regierungen davon zu überzeugen, daß sie hier mehr tun müssen, als sie bislang geplant haben, daß sie den gleichen Weg gehen müssen, den auch die Bundesregierung geht.
Der Weg, den wir eingeschlagen haben, ist richtig. Das ist der Weg, der darauf abzielt, daß wir zunächst in der Bundesrepublik selbst in den Bereichen handeln, in denen wir handeln können: Wärmeschutz, Heizungsanlagenverordnung auf der einen Seite, CO2-Abgabe/CO2-Steuer auf der anderen Seite. Das, was über diese Instrumente nicht erreicht werden kann, müssen wir durch die Einfügung zusätzlicher Instrumente erreichen.
Übrigens sind wir in dem einen Punkt — das sage ich auch klar und deutlich —, nämlich der Schaffung zusätzlicher Anreize durch steuerliche Förderung, auch nicht so weit auseinander. Das sind Positionen, die einbezogen werden müssen. Darüber hinaus müssen wir aber den europäischen Weg und den Weg zu einer globalen Konvention, zu einer globalen Vereinbarung gehen.
— Herr Schäfer, wenn Sie uns dabei unterstützen, statt in dieser Form Provinzialismus zu betreiben, dann wäre das für die Energiepolitik der Bundesregierung sehr hilfreich.
Als nächstes hat das Wort der Kollege Paul K. Friedhoff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der gestrigen Kabinettssitzung hat die Bundesregierung ihr energiepolitisches Gesamtkonzept für das vereinte Deutschland beschlossen. In ihrem Konzept spricht sich die Bundesregierung für einen ausgewogenen Energiemix aus. Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit und Ressourcenschonung sollen auch in Zukunft unverzichtbare und gleichrangige Ziele der Energiepolitik sein. Dies begrüßen wir nachhaltig.
Eine diesen Zielen verpflichtete Energiepolitik muß
— wie es auch das Energiekonzept der Bundesregierung vorsieht —, soweit es eben geht, marktwirtschaftlich ausgestaltet sein, natürlich mit einem ordnungspolitischen Rahmen. Der Staat hat diese Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln vorzugeben. Aber individuelle Entscheidungsfreiheit von Unternehmen und Verbrauchern in diesem Rahmen sowie Eigeninitiative und Wettbewerb führen zu einer sparsamen, wirtschaftlichen und ausreichenden Energieversorgung.
Der Gesetzentwurf der SPD sowie die übrigen uns vorliegenden Anträge der Opposition setzen dagegen auf mehr Dirigismus und weisen nach unserer Überzeugung in die falsche Richtung.
Meine Damen und Herren, mit dem Einsatz marktkonformer Instrumente wird das ökologisch Notwendige ökonomisch effizient gestaltet. Wir begrüßen daher die Vorschläge der EG-Kommission, im Rahmen einer EG-Klimaschutzstrategie eine kombinierte CO2-/Energie-Steuer einzuführen.
Die ökologischen Kosten der Energienutzung werden so verursachergerecht in die Energiepreise einbezogen. Dadurch wird die Wettbewerbsposition CO2-armer und CO2-freier Energieerzeugung verbessert. Dies gilt nicht nur für Erdgas und erneuerbare Energien, sondern natürlich auch für die Kernenergie. Wer glaubt, ein Ausstieg aus der Kernenergie sei allein dadurch möglich, daß er ihn in ein Gesetz schreibt, betreibt unlautere Augenwischerei.
Die Kernenergie muß
auch zukünftig einen substantiellen Beitrag zur Energieversorgung leisten, solange andere vergleichbare, versorgungssichere, umweltfreundliche und preisgünstige Energieträger nicht zur Verfügung stehen.
Die Notwendigkeit, zu einem Konsens mit unseren internationalen Partnern zu kommen, haben wir zuletzt bei der Debatte über die Subventionierung der deutschen Steinkohle gesehen. Die FDP begrüßt nachhaltig, daß es dem Bundeswirtschaftsminister gelungen ist, eine Einigung mit allen Beteiligten zu erzielen.
Nun signalisiert auch die EG-Kommission Einlenken in der Mengenfrage. Allerdings müssen wir feststellen, daß die Kommission den Vorstellungen der Kohlerunde nicht voll gefolgt ist und einige Abstriche gemacht hat. Dies zeigt deutlich, daß kaum Raum für weitere Forderungen der deutschen Kohlelobby besteht.
Kurzfristig ist Zeit gewonnen. Diese Zeit sollten wir nutzen, um eine konzeptionelle Neuorientierung in der Kohlepolitik durchzuführen, die der deutschen Steinkohle auch nach Auslaufen des Jahrhundertvertrages wirklich eine langfristige Perspektive bietet.
Energieversorgungssicherheit wird durch Diversifizierung von Energieträgern und Bezugsquellen gewährleistet. Der Konkurrent der heimischen Steinkohle im Energiemarkt ist die preisgünstigere Kohle auf dem Weltmarkt. Auf Dauer werden wir eine Importkontigentierung nicht durchhalten können.
Deshalb müßten wir eine Subventionsformel entwickeln, die die auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähige deutsche Steinkohle in marktähnliche Bedingungen bringt und damit zu kostengünstigem Handeln zwingt. Eine dauerhafte Subventionierung kann nur mit der Versorgungssicherheit begründet werden. Maßstab für die Unterstützung der deutschen Steinkohle müssen deshalb die Aufwendungen sein, die bei Herstellung einer vergleichbaren Energiever-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5733
Paul K. Friedhoff
sorgungssicherheit z. B. durch eine Bevorratung mit Importkohle, entstehen.
Eine Bevorratungspflicht der Energieversorgungsunternehmen, die auf ausländische Steinkohle setzen, verschafft der heimischen Steinkohle einen Wettbewerbsvorteil. Der deutsche Bergbau muß sämtliche Rationalisierungsreserven auch wirklich mobilisieren, um die Kosten der Kohleförderung so weit zu reduzieren, daß damit die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Energiemarkt erreicht wird.
Diese notwendige Kostensenkung ist durch eine Umorganisation der Bergbauunternehmen nach strikt betriebswirtschaftlichen Kriterien und durch eine Korrektur in der Tarifpolitik möglich. Ein Abbau der von den Tarifpartnern ausgehandelten und nur historisch zu begründenden Privilegien im Bergbau ist für die Bergbauunternehmen notwendig und liegt zugleich auch im Interesse der Bergbauregionen selbst. Er ist die Voraussetzung für einen Strukturwandel, der dem Bergbau und der Region eine langfristige Perspektive ermöglicht.
Der Steinkohlebergbau muß allerdings entsprechend den Empfehlungen der Mikat-Kommission gleichzeitig von den finanziellen Alt- und Sonderlasten befreit werden, die zum Teil das Ergebnis von politischen Entscheidungen der Vergangenheit sind und die auch bei einem Stillegen sämtlicher Zechen von den öffentlichen Händen zu tragen wären.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt das Energiekonzept der Bundesregierung für das vereinte Deutschland. Sie ist der Überzeugung, daß die heimische Steinkohle ein wichtiger Baustein im Rahmen eines ausgewogenen Energiemixes bleiben kann, wenn es gelingt, die Subventionen dafür wirklich auf ein mit der Versorgungssicherheit zu begründendes Maß zu reduzieren.
Mit dem jetzt gefundenen Kompromiß haben wir Zeit gewonnen. Diese müssen wir nutzen, um durch die Umsetzung eines neuen Konzeptes dem Bergbau auch langfristig eine Perspektive zu eröffnen, damit auch deutsche Energiekonzepte des nächsten Jahrtausends einen Energiemix mit heimischer Steinkohle enthalten können.
Ich danke Ihnen.
Nun hat Frau Kollegin Jutta Braband das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Möllemann, Sie lassen uns im Entwurf für ein energiepolitisches Gesamtkonzept wissen: Die Bundesregierung hält eine grundlegende Neuausrichtung des geltenden Ordnungsrahmens, der sich im Grundsatz bewährt hat, nicht für notwendig.
Was muß eigentlich geschehen oder diskutiert werden, damit gerade dieses Ihr Ministerium aus seinem als Dornröschenschlaf getarnten Ressortdenken herauskommt? Energiepolitik, Herr Minister, ist Umweltpolitik. Alles Gerede über Umweltverträglichkeit täuscht niemanden, wenn Sie betriebswirtschaftliche Interessen vor allem der Erzeugerseite sanktionieren und dabei Umweltverträglichkeit und Ressourcenschonung insbesondere mit fiskalischen Mitteln fördern wollen.
Im Zeitalter der Ölkriege, des Ozonlochs, der SuperGAUs und der Verkehrsstaus, aber auch des gewachsenen Bewußtseins vieler Menschen betreffend unsere eigene Verantwortung ist diese Politik nicht einfach nur konservativ, sondern, so denke ich, hochgradig gefährlich.
Die PDS/Linke Liste hat sich in ihrem Antrag zur Novellierung des Energierechts vor allem mit der Rekommunalisierung und Demokratisierung und Energiewirtschaft befaßt, weil in der Schaffung von dezentralen Strukturen allein bereits ein großer Gewinn sowohl für die Umwelt — —
— Ich muß einfach einmal eine Pause machen. Ihr Wechsel verursacht offenbar großes Aufsehen.
Wir bitten in aller Form um Entschuldigung, daß wir Sie in Ihren Ausführungen gestört haben. Nun können Sie in aller Ruhe fortfahren.
Ich darf Sie herzlich begrüßen, Herr Präsident.
Wir haben uns in diesem Antrag vor allem mit der Rekommunalisierung und Demokratisierung beschäftigt,
weil in der Schaffung von dezentralen Strukturen allein bereits ein großer Gewinn sowohl für die Umwelt als auch für die Sozialverträglichkeit der Energieversorgung liegt. Die Kommunen in Westdeutschland fordern seit 1945 bessere Möglichkeiten für sich ein. Jedoch machen die Strukturen der herrschenden Energiewirtschaft, die durch das Energiewirtschaftsgesetz zementiert werden, den neuen Ansatz einer demokratischen und umweltfreundlichen Energiepolitik zunichte.
Die Übernahme der gesamten Energiewirtschaft der ehemaligen DDR unter Mißachtung des Kommunalvermögensgesetzes der Volkskammer von 1990, das den Kommunen im Osten ihre durch die DDR entzogenen Rechte wiedergegeben hat, ist noch einmal ein eklatanter Ausdruck für den Unwillen der Bundesregierung, an ihrer Großmannspolitik in dieser Frage irgend etwas zu ändern.
Ich fordere hier noch einmal nachdrücklich: Sorgen Sie dafür, daß die Kommunen ihre Rechte bekommen. Annulieren Sie die Verträge. Aber nur dann, wenn die Kommunen die eigentlichen verantwortlichen Träger der Energieversorgung werden, besteht, denke ich, die Chance für eine umweltfreundliche Energiepolitik, weil am ehesten auf kommunaler Ebene die örtlichen Gegebenheiten, die sozialen Belange und raumplanerische Ansätze mit demokratischer Kontrolle zusammengeführt werden können.
5734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Jutta Braband
Wir erachten es als notwendig — Herr Briefs hat es schon gesagt — , ein gesellschaftliches Gremium auf allen Ebenen zu schaffen, einen paritätisch besetzten Energierat ähnlich den von den Gewerkschaften geforderten Wirtschafts- und Sozialräten, der die Betroffenen und unter Berücksichtigung aller Aspekte gemeinsame Entscheidungen für ihre Region und darüber hinaus für einen Umbau des gesamten Energiebereichs finden läßt.
Sie versuchen mit Ihrem Entwurf, die Gemeinden ruhigzustellen, indem den EVUs durch Vereinheitlichung der Konzessionsverträge und deren Veröffentlichung die Möglichkeit genommen werden soll, unredliche Verträge, die nur nach dem Verdienst der EVUs schielen, abzuschließen. Nur damit läßt sich auch erklären, daß die Konzessionsabgabe an die Kommunen ausgerechnet nach verbrauchten Kilowattstunden vergütet werden soll. Das heißt, daß die Gemeinden an möglichst hohem Stromverbrauch interessiert sein müssen, um so möglichst hohe Konzessionsabgaben zu erzielen.
Nein, meine Damen und Herren, dieser Entwurf ist nicht geeignet, den Rahmen für die Novellierung eines Gesetzes abzugeben, das vor 56 Jahren — übrigens fast auf den Tag genau — von den Nationalsozialisten zur Wehrhaftmachung der deutschen Energiewirtschaft geschaffen wurde — im übrigen schon damals auch im Interesse großer EVUs. Schon damals hießen sie RWE, Preussen Elektra usw.
Er ist nicht geeignet, einen wirksamen Beitrag zur Entwicklung einer Energiepolitik zu leisten, die in das neue Jahrtausend hineinreicht, d. h. zuerst an Energieeinsparung, an Ressourcenschonung, an Förderung erneuerbarer Energieträger und am Ausstieg aus der Atomindustrie orientiert ist.
Ich denke, daß die Opposition — sowohl das Bündnis 90/GRÜNE, vor allem die SPD mit ihrem Gesetzentwurf, an dem ich allerdings einige Punkte zu kritisieren habe, aber darüber läßt sich reden, und auch die PDS — gezeigt hat, daß sie willens ist, an diesem Problem zu arbeiten. Ich erwarte, daß die Bundesregierung ebenfalls endlich ihre Arbeit macht und diese Entwürfe gebührend zur Kenntnis nimmt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bartsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Sprichwort sagt: Was lange währt, wird gut. Diese Volksweisheit, Herr Minister, stellen Sie mit Ihrem vorgelegten Energiebericht leider nicht unter Beweis. Die vielen teilweise hochgesteckten Erwartungen der Betroffenen haben Sie nicht erfüllt. Um im Sprichwort zu bleiben: Ausnahmen bestätigen die Regel.
Statt der avisierten energiepolitischen Rahmenbedingungen finden wir Analysen und allgemeine Leitlinien vor. Das Streben nach Konsens wird zum Programm erhoben. Aber im übrigen soll alles der Markt richten.
Dieses Papier hält nicht, was es verspricht. Es setzt keine verläßlichen Zeichen dafür, wo die energiepolitische Reise insbesondere in den neuen Bundesländern hingeht, Zeichen, die wir gerade dort so dringend brauchen.
Besonders augenfällig wird das beim Thema ostdeutsche Braunkohle, zu dem ich als Abgeordneter aus einer Braunkohlenregion hier sprechen möchte. In seiner Regierungserklärung führte der Bundeskanzler am 30. Januar 1991 dazu u. a. aus — ich zitiere — :
Steinkohle und Braunkohle müssen ... im vereinten Deutschland zu einer sicheren Energieversorgung beitragen, allerdings auf einem niedrigeren Niveau als bisher.
Eine solch allgemeine Aussage wird jedem gerecht, dem, der die Braunkohle will, weil er sie aus energiepolitischen, strukturellen, sozialpolitischen und ökologischen Gründen für unverzichtbar hält, und dem, der ihr mit einer Energiepolitik langsam, aber sicher den Garaus machen will.
Wir wollen die Braunkohle, meine Damen und Herren. Wir wollen sie, weil wir sie im gesamtdeutschen Energiemix für unverzichtbar halten. Sie ist ein einheimischer Energieträger, der bei entsprechender Technologie effizient und umweltverträglich eingesetzt werden kann.
Dazu bedarf es allerdings entsprechender Rahmenbedingungen, z. B. einer CO2-Abgabe, die den Einsatz von modernen Technologien mit hohem Wirkungsgrad belohnt, auch und gerade bei der Braunkohle; denn nur so werden wir die privaten Investoren anreizen. Es bedarf weiterhin — auch das muß gesagt werden — eines Energieprogramms, das den unvermeidlichen Verdrängungswettbewerb von Gas und Öl zu Lasten der heimischen Braunkohle in vernünftige Bahnen steuert.
Ihr Konzept, Herr Minister, setzt diese Rahmenbedingungen nicht. Im Gegenteil, die von Ihnen so energisch beschworene Liberalisierung wird sich langfristig zugunsten der Kernenergie und damit zu Lasten der zur Zeit noch wettbewerbsfähigen Braunkohle auswirken.
Sie sagen zwar, daß — ich zitiere — „die Bundesregierung bei der Ausgestaltung der geplanten CO2-
Steuer/Abgabe und der Abfallabgabe die Wettbewerbsfähigkeit der Braunkohleverstromung beachten wird", aber wie und wo, bitte schön, wird gesichert, daß moderne Technologien der Braunkohleverstromung wirklich nachhaltig gefördert werden?
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck zu beantworten?
Nein.
— Ja, aber das ist ja jedem freigestellt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5735
Das ist Ihr gutes Recht, Herr Abgeordneter. Fahren Sie fort.
Wenn man, wie im Papier des Ankündigungsministers Möllemann geschehen, der Braunkohle von vornherein nur bei der Verstromung in Großkraftwerken eine Chance einräumt und den Wärmemarkt gleichsam automatisch anderen Energieträgern zuweist, gibt man alle weiteren Einsatzmöglichkeiten der Braunkohle — z. B. in regionalen Blockkraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung unter Einsatz von Wirbelschichtfeuerung und anderer moderner Technologien — von vornherein auf.
Es drängt sich auch der Verdacht auf, daß damit der vorhandene hohe Anteil Fernwärme in den neuen Bundesländern, der bisher ebenfalls überwiegend auf dem Einsatz von Braunkohle beruht, systematisch zurückgefahren werden soll. Das geht natürlich gegen die Braunkohle, ob man das wahrhaben will oder nicht.
Es erhebt sich auch die Frage, wieviel Braunkohle denn nun wirklich verstromt werden soll. In dem ersten Entwurf des Energiekonzepts war noch von 4 000 MW Neubau die Rede, jetzt sind es nur noch 3 000 MW, und gleichzeitig wurde die langfristig erwartete Förderquote von zunächst 120 bis 150 Millionen t auf nur mehr 120 Millionen t reduziert. Ich sehe darin eine schleichende Auszehrung. Es drängt sich schon die Frage auf, was angesichts der nun avisierten Neuinvestitionen der einst so hochgelobte Stromvertrag eigentlich noch für die Braunkohle bringt.
Meine Damen und Herren, wenn man über die Rolle der ostdeutschen Braunkohle im gesamtdeutschen Energiekonzept spricht, bewegt man sich in einem vielfältigen Spannungsfeld. Es umfaßt neben der energiepolitischen und ökologischen auch eine soziale Dimension; das darf man einfach nicht vergessen.
Lassen Sie mich zunächst noch etwas zur ökologischen Dimension sagen. Neben der CO2-Problematik, zu der hier schon sehr viel gesagt wurde, gibt es den Bereich der ökologischen Altlasten, die die Braunkohle in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier hinterlassen hat. Ein gigantisches Rekultivierungsprogramm liegt hier vor uns, das, ganz nebenbei gesagt, auch ein immenses Arbeitsvolumen beinhaltet.
Was bietet uns das Papier dazu an? Zwar wird die Notwendigkeit anerkannt, die Altlastenfrage dringend zu lösen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Braunkohle herzustellen. Doch das wird in die Zuständigkeit der Treuhandanstalt und der Länder verwiesen, und damit ist das Problem gelöst. Dazu kann ich nur sagen: Das Problem erkannt und dann entschlossen verdrängt.
Diese Aufgabe den finanziell ohnehin nicht gerade üppig ausgestatteten neuen Ländern zuzuweisen ist schon ein starkes Stück. Es ist doch nicht zu leugnen, daß die Braunkohlenregionen durch den Raubbau, der in der DDR betrieben wurde, in überdurchschnittlichem Maße gebeutelt wurden. Sie haben einen Anspruch auf Wiedergutmachung durch den Rechtsnachfolger des untergegangenen Staates, und das ist nun einmal der Bund. Deshalb muß endlich ein klares Finanzierungskonzept auf den Tisch, damit die Länder auf dieser Basis Aufträge vergeben können, die der Bergbau selbst übernehmen kann, weil er über das Know-how, die Maschinen und die Technik verfügt.
Damit könnten auf Jahre hinaus für einen Teil der freizusetzenden Arbeitskräfte neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist eine Aufgabe, die angesichts der sozialen Dimension höchste Priorität besitzen muß.
Hier soll mir keiner sagen, das liefe ja mit den GroßABM schon an. So gut und wichtig diese sind, so können sie doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Hier gibt es Brot und Arbeit auf Jahre. Dies zu finanzieren kommt auf Dauer schließlich billiger als die Finanzierung von Langzeitarbeitslosigkeit.
Damit bin ich bei der sozialen Dimension, die wohl das komplizierteste Problem beinhaltet. Das Papier aus dem Hause Möllemann belegt dies mit klaren Zahlen. Ich gebe sie hier wörtlich wieder; sie sprechen für sich:
Die Braunkohleindustrie beschäftigte Ende 1990 doch insgesamt rd. 107 000 Menschen, konzentriert in den Räumen Halle/Leipzig und Cottbus/ Senftenberg/Hoyerswerda. Bis zum Ende diesen Jahres wird die Beschäftigtenzahl auf ca. 75 000 zurückgehen.
32 000 Menschen wurden und werden also bis zum Jahresende oder, weil man den Akt der Kündigung auf Januar verschiebt, zu Beginn des Jahres 1992 freigesetzt. Zwar wurden die Freisetzungen bisher durch die zur Zeit noch geltenden Regelungen zur Kurzarbeit und zum Altersübergangsgeld weitgehend abgefangen, und für rund 10 000 Arbeitsplätze AB-Maßnahmen geschaffen; aber auch das ist schließlich nur begrenzt. Die Sonderregelungen bei der Kurzarbeit sind zur Zeit jedenfalls noch nicht verlängert. Beim Altersübergangsgeld soll es ja besser aussehen. Aber irgendwann laufen sie aus. Das Instrument ABM ist, wie der berühmtberüchtigte Erlaß des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit zeigt, weitgehend ausgereizt. Die Freisetzungen aber werden weitergehen, meine Damen und Herren.
Wie das ganz praktisch läuft, will ich am Beispiel der Region Lauchhammer darstellen, einer Industrieregion im Süden Brandenburgs mit rund 30 000 Einwohnern, die vor allem von der Braunkohle lebt.
Am 30. Juni 1990 standen dort noch rund 15 000 Menschen in Lohn und Brot. 1992 werden aus heutiger Sicht noch ganze 4 000 übrigbleiben, und auch diese sind bisher keineswegs gesichert. Es ist also durchaus keine Schwarzmalerei, wenn man eine Arbeitslosenquote von über 60 % für das nächste Jahr in dieser Region voraussieht.
Während wir hier über die Energiepolitik im vereinten Deutschland debattieren, versuchen in Lauchhammer die Kollegen, die Kommunalpolitiker, mit einem Notstandskomitee die Öffenlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Wie ich zu meiner großen Freude gestern erfahren habe, nimmt sich die
5736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Holger Bartsch
Brandenburger Landesregierung dieses Problems auch sehr engagiert an. Doch Lauchhammer ist nur ein besonders akutes Beispiel. Weitere werden folgen.
Die im Konzept der Bundesregierung avisierte Senkung der Förderung unter 120 Millionen t im Jahr wird mit einem Abbau auf 25 000 Arbeitsplätze verbunden sein. Das heißt: In den nächsten Jahren werden in den ostdeutschen Braunkohlerevieren weitere rund 50 000 Arbeitsplätze abgebaut.
Um es ganz klar zu sagen: Der auch von mir nicht bestrittene notwendige Umstrukturierungsprozeß in den ostdeutschen Braunkohlerevieren, der sich in Westdeutschland im Bereich der Steinkohle über mehr als ein Jahrzehnt erstreckte, muß bei uns im Osten im Hau-Ruck-Verfahren innerhalb von drei bis vier Jahren bewältigt werden, eine Aufgabe von dramatischer Dimension. Sie ist nur zu bewältigen, wenn es gelingt, wie von der SPD gefordert, „den Prozeß der Absenkung der Fördermengen durch flankierende Maßnahmen der Bundesregierung zur ökologischen Umstrukturierung der betroffenen Region zu begleiten" .
Das sogenannte energiepolitische Konzept der Bundesregierung gefährdet die Rolle der ostdeutschen Braunkohle im gesamtdeutschen Energiemix in erheblichem Maße, es gefährdet die Arbeitsplätze und weist völlig unzureichende Lösungen für die Begleitung des unausweichlichen Strukturwandels auf. Es ist deshalb auch aus der Sicht der ostdeutschen Braunkohle nicht konsensfähig.
Da Sie, Herr Minister, ja einmal Lehrer waren — ein überaus ehrenwerter Beruf, wie ich glaube — , drängt sich mir als Abschlußurteil nur auf: Thema verfehlt!
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute nachmittag war schon viel von der Bedeutung erneuerbarer Energien die Rede. Wir begrüßen deshalb die Absicht der Bundesregierung, Herr Bundeswirtschaftsminister, die Vorzüge der erneuerbaren Energien für eine sichere und umweltverträgliche Energieversorgung noch stärker als bisher zu nutzen und dazu das längerfristige wirtschaftliche Potential so rasch wie möglich zu erschließen.
Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme und Umgebungswärme sind unerschöpfliche und schadstofffreie Energieträger, die noch dazu — dies halte ich für außerordentlich wichtig — dezentral im ganzen Lande verteilt und verfügbar sind.
Jede Kilowattstunde elektrischer Energie, erzeugt aus erneuerbaren Energien, erspart uns und unserer Umwelt 1 kg CO2-Ausstoß trotz bester Rauchgasreinigung. Dies bedeutet auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Energiepolitik und Umweltpolitik eng zusammengehören.
Lieber Herr Kollege Briefs, Sie und Ihre Partei sollten sich diesen Zusammenhang auch einmal hinter die Ohren schreiben, denn Ihre Partei hat mit ihrer Energiepolitik und ihrer Energiewirtschaft in der ehemaligen DDR ein ökologisches Chaos sondergleichen hinterlassen.
Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel aufgreifen. Wir erzeugen in der Bundesrepublik Deutschland derzeit etwa 20 Milliarden Kilowattstunden elektrischer Arbeit aus Wasserkraft. Das erspart uns 20 Millionen t CO2-Ausstoß. Das entspricht in etwa 800 000 Güterzugwaggons voll dieser Schadstoffe. Ich meine, das ist nicht wenig.
Von welchem Ausbaupotential bei regenerativen Energien können wir ausgehen? Es gibt unterschiedliche Schätzungen. Die Prognos AG hat 1989, für die alte Bundesrepublik gerechnet, ermittelt, daß das wirtschaftlich ausschöpfbare Potential bis zum Jahre 2010 bei etwa 39 Milliarden Kilowattstunden elektrischer Arbeit gegenüber heute 33 Milliarden Kilowattstunden liegen könnte. Dies wäre ein Zuwachs in der Größenordnung eines mittleren Kernkraftwerks. Andere Schätzungen gehen von noch höheren Zuwachsmöglichkeiten aus, etwa die Kernforschungsanstalt Jülich, die von zusätzlichen 12 Milliarden Kilowattstunden, also etwa einer elektrischen Leistung von rund 2 000 MW — allerdings bei einem sehr hohen Grad des Ausbaus der Wasserkraft — ausgeht und dies auch für ökonomisch und ökologisch möglich hält.
Wir sollten allerdings nicht glauben, man könnte eine zusätzliche Energiegewinnung aus Wasserkraft nur mit großen Anlagen erreichen. Es gibt auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik derzeit etwa 13 000 eingetragene Wasserrechte. Genutzt sind derzeit aber nur 7 200. Wir sollten den Ausbau der Wasserkraft auch nicht auf kleine Anlagen beschränken, Herr Möllemann, sondern wir sollten jede sich bietende Möglichkeit ergreifen, auch Anlagen mit einer Leistung von mehr als 1 MW energetisch zu nutzen, beispielsweise dann, wenn im Rahmen von flußbaulichen Sanierungen, etwa bei Sohlschwellensicherungen zur Vermeidung von Sohlvertiefungen, ohnehin etwas getan werden muß. Warum soll dann eine energetische Nutzung nicht möglich sein?
Für die neuen Bundesländer liegen momentan noch keine Schätzungen vor. Wir erhalten sie Anfang 1992. Allerdings kann man vermuten, daß es auch dort günstige Standorte gibt: für die Windkraft an der Ostseeküste, für die Wasserkraft in den Mittelgebirgsregionen. In Sachsen beispielsweise hat es nach dem Zwei-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5737
Dr. Peter Ramsauer
ten Weltkrieg 3 500 Kleinwasserkraftwerke gegeben. Heute sind nur noch einige hundert in Betrieb.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das große Problem aller erneuerbaren Energien liegt in der Wirtschaftlichkeit. Auch das ist heute schon angesprochen worden. Das Stromeinspeisungsgesetz hat uns hier ein großes Stück vorangebracht. Aber die Erlöse für die Einspeisung aus erneuerbaren Energien decken heute immer noch nicht die Kosten. Die Einspeisung etwa bei Wasserkraft — 13,84 Pf/Kwh — deckt nicht die Kosten, die nach Schätzungen unabhängiger Institute und auch Energieversorgungsunternehmen, die aufnehmen, zwischen 18 und 35 Pfennig liegen. Die Diskrepanz bei Sonne und Wind liegt in ähnlichen Dimensionen.
Ich verstehe es deshalb nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum Sie in Ihrem Entwurf hinter das Stromeinspeisungsgesetz in seiner jetzigen Form zurückfallen, indem Sie fordern, daß die Vergütung für die Einspeisungen nur entsprechend den langfristig vermeidbaren Kosten erfolgen kann. Damit fallen Sie hinter das jetzige Stromeinspeisungsgesetz zurück und diskriminieren die erneuerbaren Energien, statt sie zu fördern, was Sie einführend fordern.
Herr Schäfer, es ist so. Lesen Sie nach. Es steht in Ihrem Gesetzentwurf dreimal.
Lassen Sie mich noch etwas Weiteres zum Stromeinspeisungsgesetz sagen. Das Stromeinspeisungsänderungsgesetz, wie es vom Bündnis 90/GRÜNE vorgelegt wird, lehnen wir ab, weil die Kraft-WärmeKoppelung beim jetzigen Stromeinspeisungsgesetz ohnehin dann begünstigt ist, wenn es sich um Anlagen handelt, die mit Deponie- oder Klärgas betrieben werden.
Sie wollen die Kohle mit aufnehmen. Das hat keinen Sinn. Denn der Gesetzgeber hat mit dem Stromeinspeisungsgesetz gewollt, erneuerbare Energieträger zu fördern, die keine Schadstoffe emittieren. Und jetzt sollen wir in das Stromeinspeisungsgesetz einen Energieträger aufnehmen, der wieder Dreck in die Luft pustet? Genau das wollen wir nicht. Es ist im Augenblick viel wichtiger, das Stromeinspeisungsgesetz, wie wir es jetzt haben, voll auszuschöpfen.
Das beginnt damit, daß wir uns in den Fällen, wo die Gewinnung erneuerbarer Energieträger installiert werden soll, nicht dagegen sperren. Wenn beispielsweise Windkraftwerke gebaut werden sollen, darf es nicht auf einmal heißen: Das geht nicht, das verschandelt die Landschaft. Es geht nicht an, Herr Feige, daß dann ausgerechnet Ihre Gesinnungsgenossen wieder alles verhindern, was in diese Richtung geht. Auch ist es verkehrt, bei Ausleitungskraftwerken die Wasserrechte mit Restwassermengen zu versehen, die die Wasserkraft völlig uninteressant werden lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden viel vom Treibhauseffekt und von der CO2-Problematik. Wir haben Ende dieses Jahres mit dem Auslaufen des § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung keine Förderung erneuerbarer Energieträger mehr auf dem Markt, nachdem die Wasserkraftbegünstigungsverordnung und die 7,5 %ige Investitionszulage in den letzten Jahren ausgelaufen sind. Deshalb freue ich mich darüber, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß das Energieprogramm die Grundlage dafür bietet, für erneuerbare Energiequellen wieder Fördermittel bereitzustellen. Wir müssen im Haushalt 1993 — die Beratungen dazu gehen im Frühjahr an — wieder Fördermittel, Investitionszuschüsse oder auch steuerliche Begünstigungen auf der Grundlage des Energieprogramms bereitstellen, wie es uns vorliegt, damit hier eine kaufmännische Wirtschaftlichkeit hergestellt werden kann.
Ich unterstreiche eines: Es handelt sich hier nicht um Subventionen. Ein Vergleich mit anderen Energieträgern muß nämlich deren externe Kosten einbeziehen. Die Schätzungen gehen bei Steinkohle von externen Kosten bis zu 8,5 Pfennig je Kilowattstunde und bei Kernkraft von bis zu 24,5 Pfennig aus. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Fördermittel für erneuerbare Energien bis zu der Höhe keine Subventionen, in der durch ihren Einsatz sonst anfallende gesellschaftliche Kosten anderer Energieträger vermieden werden.
Meine Damen und Herren, wir alle reden über die drohende Klimakatastrophe. Wir alle fordern mehr Einsatz erneuerbarer Energien. Wir haben uns jetzt mit dem Energieprogramm aufgemacht, noch effektiver in dieser Richtung zu arbeiten. Wir haben damit den Mund gespitzt. Wollen wir jetzt auch für die erneuerbaren Energien richtig pfeifen!
Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Professor Dr. Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Energieversorgung steht im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik; denn sie muß preiswert und sicher sein. Und die Energieversorgung steht im Mittelpunkt der Umweltpolitik, denn sie muß umweltverträglich und knappe Rohstoffe schonend eingesetzt werden. Zwischen diesen vier Zielen ergeben sich immer auch Konflikte und Abstimmungsnotwendigkeiten. Deswegen war es richtig und gewollt, daß wir in der gestrigen Kabinettsitzung sowohl das Energiekonzept als auch das CO2-Minderungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet haben.
Beide Dinge gehören zusammen. Sie sind sehr wohl abgestimmt und bringen einen Ausgleich zwischen diesen vier Zielsetzungen. Nur wer sich dieser Aufgabe stellt, handelt verantwortlich. Wer sich nur mit einem Ziel beschäftigt, wird zwar möglicherweise et-
5738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
was strahlender argumentieren können, aber er wird keine Politik für die Zukunft machen können.
Die Orientierung an diesen Zielen, meine Damen und Herren, ist auch deswegen so wichtig, weil wir im vereinten Deutschland auch weiterhin wirtschaftliches Wachstum brauchen. Wir brauchen es in ganz besonderer Weise, um den jungen Bundesländern eine gute Zukunft zu geben, aber auch um Möglichkeiten zu haben, den Aufbauprozeß in Mittel- und Osteuropa mit zu stützen und weltweit unseren Verpflichtungen zu entsprechen.
Wenn wir aber Wirtschaftswachstum brauchen, wenn wir wissen, daß wir dafür auch mehr Elektrizität brauchen, so muß es darum gehen, dieses zu ermöglichen, ohne mehr Umweltbelastungen in Kauf zu nehmen. Deswegen ist an dieser Stelle die ganz klare Notwendigkeit gegeben, durch entsprechende technische Entwicklungen die vorhandenen und genutzten fossilen Energieträger Kohle, Mineralöl und Gas besser zu nutzen; denn 90 °A. unserer Energieversorgung stammen aus diesen fossilen Energieträgern, und das wird auch in Zukunft so sein. Deswegen ist dies die herausragende Aufgabe.
Mit der umweltverträglicheren Nutzung der fossilen Energieträger haben wir natürlich nicht erst jetzt angefangen, sondern das haben wir schon in der Vergangenheit zur Grundlage unserer Politik gemacht. Es ist nicht zufällig, daß wir mit den Schadstoffen Schwefeldioxid und Stickoxid begonnen haben; denn diese Schadstoffe haben unmittelbare Auswirkungen in den Regionen. Sie haben auch etwas mit den Immissionen zu tun und nicht nur mit den Emissionen. Sie schädigen unsere Wälder, sie schädigen unsere Bauten usw.
Deswegen ist in den letzten zehn Jahren engagiert daran gearbeitet worden, z. B. Kohlekraftwerke zu bauen, die wesentlich weniger SO2 und Stickoxid emittieren als zuvor. Niemand, meine Damen und Herren, niemand, Herr Kollege Jung, hat diese Entscheidung als eine Entscheidung zur Förderung der Kernenergie betrachtet. Sie werden es wirklich nicht glauben, aber es ist so: Auch Kernenergie verursacht tatsächlich keine Emissionen von SO2 und NOI. Dennoch haben wir nicht gesagt: Wir dürfen dieses nicht tun, weil es möglicherweise eine relative Besserstellung der Kernenergie bringt, sondern wir haben gesagt: Wenn wir auf Dauer verantwortlich Kohle nutzen wollen, müssen wir mit Technik dafür Sorge tragen, daß die Emissionen dieser Schadstoffe vermindert werden. Wir haben das zu 80 bis 90 % erreicht und bemühen uns weiter, auch bei der Braunkohle. Wenn ich richtig informiert bin, ist vor wenigen Tagen die Entscheidung der Regierung von Sachsen-Anhalt gefallen, in Leuna und Buna ein Braunkohlekraftwerk mit modernster Technik zu bauen. Dies ist eine gute Sache. Deswegen werden wir diesen Weg weitergehen, d. h. Entkopplung von Energie und Umweltbelastungen, um die Konflikte, die ich oben gekennzeichnet habe, abzubauen. Wenn wir diese abbauen, müssen wir jetzt an einen Schadstoff heran, der uns nicht in der Immission das Problem macht, sondern in der weltweiten Auswirkung auf das Klima.
Weil das so ist, ist es natürlich mehr als selbstverständlich, daß wir sagen: Wir brauchen eine weltweite Lösung, und dafür arbeiten wir mit großem Nachdruck. Deswegen sind wir froh darüber, daß es die Konferenz in Brasilien im nächsten Jahr geben wird, Umwelt und Entwicklung, und deswegen ist es nicht eine Ablenkung, sondern eine dringliche Zielsetzung, bei dieser Konferenz weltweit eine Klimakonvention zu erreichen.
Wer über Klimakonvention spricht, der muß über Kohlendioxid sprechen, und der muß dann natürlich auch dazu sagen, daß wir zumindest in der Europäischen Gemeinschaft gemeinsam vorankommen müssen. Darum haben wir uns gekümmert. Die Tatsache, daß die Kommission dieses Papier, dieses Konzept vorgelegt hat, ist doch nicht wie Manna vom Himmel gefallen, sondern es ist ein entscheidender Erfolg unserer Politik, daß es überhaupt auf dem Tisch ist.
Daß dieses Konzept — auch dies können Sie nachlesen, wir haben das mal gegenübergestellt — fast dekkungsgleich ist mit dem Konzept, das wir verabschiedet haben, ist eine Bestätigung dessen, was wir bisher getan haben. Es ist fast deckungsgleich.
Es ist ein Gesamtkonzept und nicht eine Frage nach einer Steuer oder Abgabe. Es umfaßt alle Verbrauchsbereiche, es umfaßt alle Instrumentmöglichkeiten, von ordnungsrechtlichen Maßnahmen in Gesetzen und Verordnungen, über Planungs- und Informationsmaßnahmen bis hin zu marktwirtschaftlichen Anreizen. Dazu gehört u. a. auch, daß wir im Verkehr etwa eine Umstellung der Kfz-Steuer auf eine emissionsbezogene Steuer einführen. Auch dies hat die Europäische Kommission aufgegriffen und in ihr Konzept eingebaut.
Wir sehen uns also darin in hohem Maße bestätigt. Es kann doch gar nicht anders sein, als daß wir uns jetzt engagiert darum kümmern, daß dieses Konzept auch in Europa angenommen wird. Das ist sehr schwer. Es gibt dagegen massive Vorbehalte von anderen Mitgliedstaaten. Ich bin ganz sicher, daß es dem gemeinsamen Einsatz des Kollegen Möllemann und von mir wirklich bedarf, um in Europa dieses wirklich umzusetzen. Es wäre ganz hervorragend, wenn wir da auch von der Opposition in Deutschland Unterstützung fänden und nicht daran gehindert würden. Dies ist die Situation.
Deswegen bin ich der Überzeugung, daß wir richtig gehandelt haben, indem wir diese Verbindung von Energiekonzept und CO2-Minderungskonzept vorgenommen und gesagt haben: Dafür braucht man auch finanzielle Anreize, und dies wollen wir in Europa insgesamt durchsetzen — wir werden ganz ohne jeden Zweifel sehr, sehr viel Mühe haben, das zu erreichen — , damit bessere Kohlekraftwerke mit höherer Nutzung der Kohle für den Strom gebaut werden, damit wir mit weniger Kohle mehr Strom erzeu-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5739
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
gen können. Das ist doch die Notwendigkeit der Entkoppelung.
Wer CO2 mindern will, der muß immer dazusagen: Das bedeutet, daß wir weniger fossile Energieträger verbrennen. Denn es gibt keinen Filter, der das verhindert wie bei Schwefeldioxid, sondern wer 25 bis 30 % weniger CO2 emittieren will, muß entsprechend weniger fossile Energieträger verbrennen. Dies ist der Punkt. Deswegen ist das deutsche Kohlekonzept auch richtig. Es wird dort zurückgeführt. Ich hoffe und wünsche nur, daß dies nicht an einer anderen Stelle zu einem höheren Import von fossilen Energieträgern führt.
Damit kommen wir auf die anderen Energieträger. Die Frage werden Sie uns schon beantworten müssen, meine Damen und Herren von der Opposition, worin die Rationalität bestehen soll, daß Sie sich alle darüber freuen, Mülheim-Kärlich abgeschaltet zu haben, mit dem Ergebnis, daß RWE einen Block Cattenom nutzt, um in Rheinland-Pfalz Strom anzubieten.
Diese Rationalität müssen Sie uns einmal darlegen.
Damit komme ich auf die europäische Dimension dieser Frage. Wir werden deutsche Energiepolitik umweltverträglich nur bewältigen können, wenn wir sie europäisch integrieren und harmonisieren. Damit sind wir bei einem Thema, wo wir auch Gemeinsamkeiten haben sollten. Wir haben die Kernkraftwerke russischer Bauart in Deutschland zugemacht. Das wird schon nicht mehr erwähnt. Wir werden auch die Braunkohlekraftwerke alter Bauart schließen müssen, weil sie unverträglich sind.
Wir werden dies in Mittel- und Osteuropa weiterführen müssen; wir brauchen Anreize, damit sich auch die deutsche Industrie daran beteiligen kann. Deswegen haben wir die Frage der Kompensation in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Es ist sinnvoller, Geld in einem neuen Kohlekraftwerk in Polen oder Nordböhmen einzusetzen, um die dortigen Kraftwerke zu verbessern, als ein ohnehin gutes deutsches Kraftwerk zu verbessern.
Diese Kompensationsüberlegung ist kein Ablenken vom Thema, sondern eine Tatsache, da man auch in der Umweltpolitik ökonomisch, nicht irrational, sondern rational handeln muß. Wer dies miteinander verbindet, unterstützt die Umweltpolitik wirklich, denn dadurch ist eine Harmonie zwischen den vier grundsätzlichen Zielsetzungen der Energiepolitik eher zu erreichen, als wenn wir nur ein Ziel betrachten und gleichzeitig die Basis für dieses Ziel wegnehmen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Fritz Gautier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Teile der Rede, die Bundesminister
Töpfer gerade gehalten hat, kann man unterstützen; man muß allerdings fragen, ob er eigentlich unter Gedächtnisschwund leidet.
Wir hatten 1989, Herr Töpfer, als SPD unser eigenes Konzept für eine ökologische Besteuerung in der gesamten Wirtschaft, insbesondere die Energiebesteuerung, bei einer gleichzeitigen Entlastung der Arbeitnehmereinkommen und anderen Haushaltsentlastungen vorgestellt. Dafür sind wir von der Bundesregierung im Bundestagswahlkampf schwer beschimpft worden. Heute schlägt die EG-Kommission exakt dieses vor, und da fordert die Bundesregierung von uns Unterstützung, obwohl wir das schon vor zwei Jahren gefordert haben, als Sie uns noch dafür beschimpft haben.
Ich kann Ihnen hier nur sagen: Wir als Opposition werden den Ansatz der EG-Kommission, was die Steuerpolitik angeht, mittragen. Wir diskutieren darüber, ob die 50 : 50-Regelung richtig ist, wir hätten aus verschiedenen Gründen lieber einen höheren Energieanteil; darauf komme ich noch zurück. Ich glaube aber, es wäre gut gewesen, wenn Sie diese Erkenntnis schon vor zwei Jahren mit uns geteilt hätten.
Das gleiche gilt übrigens auch, Herr Töpfer, für die von Ihnen angesprochene Deckungsgleichheit des Regierungskonzepts mit dem Konzept der EG-Kommission, was die Steuern und Abgaben angeht. Aus Ihrem Haus kenne ich nur die Vorschläge, die Sie hier auch öffentlich verbreitet haben, über eine wirkungsgradbezogene CO2-Abgabe. Davon ist im EG-Konzept überhaupt nicht mehr die Rede, sondern dort ist von einer allgemeinen Energie- und CO2-Steuer die Rede. Sie und Herr Möllemann haben sich auch öffentlich über diese Frage gekloppt wie die Kesselflikker; und nun tun Sie so, als hätten Sie in diesem Bereich große Harmonie.
Ich will jetzt zu meinem eigentlichen Thema kommen. Ich stehe hier für unsere Fraktion, um noch einmal ein paar Punkte anzusprechen, die aus meiner Sicht bislang etwas im Nebulösen gelegen haben. Wenn Herr Seesing, Herr Möllemann oder andere im Bereich der Energiepolitik von Europa gesprochen haben, war das nicht immer klar faßbar.
Ich glaube, wir brauchen im Bereich der europäischen Energiepolitik etwas ähnliches, wie es die BildZeitung letzte Woche gemacht hat. Sie hat eine Überschrift gemacht: „Die D-Mark wird abgeschafft" ; ich glaube, die Bild-Zeitung müßte die Überschrift machen: „Die Grundlagen für eine nationale Energiepolitik werden durch die EG-Kommission abgeschafft" , denn das ist das, was im Augenblick in Brüssel geplant wird. Sie wissen es, und Sie verschweigen es. Obwohl Sie es wissen, schreiben Sie nur einige allgemeine Bemerkungen auf vier oder fünf Seiten in Ihrem Energiebericht, ohne auf das zentrale Anliegen einzugehen, das im Augenblick in Brüssel geplant wird.
5740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Fritz Gautier
Was plant die EG-Kommission? Die EG-Kommission plant seit zwei Jahren eine Deregulierung im Bereich der leitungsgebundenen Energien; dies macht sie unter dem Stichwort ,,Wettbewerb". Die EG-Kommission sagt, und sie hat das am 29. Oktober im Energieministerrat ausgeführt: Jeder in Europa soll seinen Energiebedarf frei überall einkaufen können; das nennt die EG-Kommission „third party access" —Zugang Dritter zum Netz. Das heißt, daß ein Industrieunternehmen, das in Deutschland angesiedelt ist, beschließen kann, seinen Strom oder sein Gas in Frankreich einzukaufen. Um dies zu bewerkstelligen, sagt die Kommission: Dafür müssen die Unternehmen entflochten werden, und zwar im Bereich von Produktion, Transport und Verteilung, damit man die Durchleitungsgebühren richtig berechnen kann. Die Begründung dafür ist, daß es große Strompreisunterschiede zwischen den verschiedensten Energieländern, z. B. zwischen Frankreich und Deutschland sowie anderen Ländern, gibt.
Das alles hat der EG-Kommissar, Cardoso e Cunha, Portugiese, im Energieministerrat, am 29. Oktober vorgetragen. Und die Bundesregierung schreibt in einem Bericht an den Wirtschaftsausschuß — aus Ihrem Hause, Herr Möllemann — ganz deutlich: Alle Ratsmitglieder begrüßen die Absicht von Kommissar Cardoso, die Gespräche im Rahmen individueller Konsultationen zu vertiefen. — Also, am 29. Oktober wurde gesagt, man solle das Ganze vertiefen. Das steht auch auf Seite 101 Ihres Energieberichts.
Wie sieht nun diese Vertiefung in der Praxis aus? — Das sieht in der Praxis — damit das nicht alles so nebulös ist — wie folgt aus: Da meldet sich der zuständige Kommissar, Cardoso e Cunha, bei der Bundesregierung für den 5. Dezember, also für letzten Donnerstag, an, um mit der Bundesregierung — ich glaube, in der Person des Staatssekretärs von Würzen — über dieses Thema weiter zu reden. Danach, so denkt man, würden die weiter diskutieren, die Gespräche auswerten usw. — Denkste Puppe, so ist das alles nicht. Mit Datum vom 5. Dezember veröffentlicht die EG-Kommission ihren Richtlinienentwurf,
ganz konkret ausformuliert in 29 Artikeln, fix und fertig. Das, was hier gemacht wird, ist alles nur ein Scheingeschäft. Zur selben Zeit, als Cardoso e Cunha in Bonn war, haben die Leute in Brüssel schon alles fertiggestellt, und zwar mit weitreichenden Konsequenzen.
Von Ihnen, Herr Möllemann, wird das hier alles so nebulös dargestellt. Die Vorschläge — sie liegen alle auf dem Tisch: für Strom, für Gas — werden angekündigt, ohne daß Sie ein Wort dazu sagen.
Was ist nun eigentlich der Grund dafür, daß man dies diskutieren müßte, daß die Grundlagen unserer Energiepolitik damit auf den Kopf gestellt werden? Ich will das an ein, zwei Beispielen darstellen.
Im Gasbereich sagt die EG-Kommission: Durch die Deregulierung der Märkte im Gasbereich wollen wir den Gas-zu-Gaspreis-Wettbewerb. Dazu brauchen wir die Durchleitung und die Deregulierung. Unser bislang gemeinsamer Ansatz war aber ein völlig anderer, nämlich der, daß wir die Gasbeschaffung — das wurde von mehreren Vorrednern angesprochen — mit Hinweis auf die UdSSR unter dem Gesichtspunkt der langfristigen Versorgungssicherheit vornehmen müssen und daß wir aus diesem Grunde dafür sorgen müssen, daß wir langfristige Gasbeschaffungsverträge in Form der sogenannten Take-or-Pay-Verträge mit entsprechenden Preisbildungsmechanismen haben, die sich an den sogenannten anlegbaren Preis — sprich: an vergleichbare Energieträger im Wärmemarkt wie 01 oder Fernwärme — anlehnen. Dies alles ist bei der Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages im Oktober noch einmal bestätigt worden.
Aber nein, die Bundesregierung sagt gar nichts dazu, akzeptiert, daß die Kommission diese Grundlagen unserer eigenen Preisbildung im Gasbereich und der langfristigen Versorgungssicherheit mit Gas unter der Überschrift „Mehr Wettbewerb im Bereich der leitungsgebundenen Energie" mir nichts, dir nichts vom Tisch fegen will. Das kann doch nicht wahr sein!
Herr Abgeordneter Dr. Gautier, sind sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann zuzulassen?
Natürlich, gern.
Herr Kollege Gautier, könnten Sie dem Haus bitte mitteilen, welchen Status das Papier hat, von dem Sie soeben gesagt haben, es sei ein Papier der EG-Kommission?
Das kann ich Ihnen mitteilen, Herr Möllemann. Das ist so ähnlich wie mit dem Status des energiepolitischen Gesamtkonzepts der Bundesregierung, das Sie dem Wirtschaftsausschuß des Bundestages dargestellt haben. Da haben Sie gesagt, das sei ein Hausentwurf Ihrer Referenten, aber trotzdem wurde er uns offiziell zugeleitet. So ist das auch mit dem Entwurf der Generaldirektion XVII, sprich: von Cardoso e Cunha, seinem Kabinett.
Eine weitere Zusatzfrage wird auch beantwortet. Bitte sehr, Herr Möllemann.
Herr Kollege, finden Sie es vor diesem Hintergrund nicht unseriös, hier zu fragen, welche Funktion der Besuch des Kommissars Cardoso e Cunha und seine Gespräche hier haben könnten, wenn der Besuch just in einer Phase stattfindet, in der die Kommission ihre Beratungen zu diesem Thema noch führt und noch keinen Beschluß gefaßt hat? Ist es denn nicht vernünftig, wenn er just dann kommt und mit uns spricht, bevor die Kommission berät und beschließt?
Herr Möllemann, was ich auszudrücken versucht habe, ist folgendes: daß Sie bzw. Ihr Staatssekretär im Ministerrat vereinbart hat,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5741
Dr. Fritz Gautier
daß man über das Thema erst noch vertieft diskutieren, vielleicht noch Gutachten anfertigen müsse, aber die Kommission zu dem Zeitpunkt, in dem die Gespräche hier stattfinden, am 5. Dezember, schon einen fertigen Text vorliegen hat; das ist der Punkt.
— Herr Cronenberg, darf ich das noch als Zwischenfragen verstehen, —
Sie dürfen.
— damit das nicht zu Lasten meiner Redezeit geht? — Also, mir zu erklären, Herr Lippold, wie die europäischen Mechanismen funktionieren, heißt Eulen nach Athen tragen. Ich habe da mehrere Jahre zugebracht und weiß, wie die Spielchen dort in dem Bereich laufen. Insofern ist es völlig überflüssig, mir dies zu erklären. Es steht doch schon jetzt der Zeitplan, wonach die Kommission unter portugiesischer Präsidentschaft im Mai entscheiden will.
Aber die Bundesregierung tut hier immer noch so, als ob da gar kein Problem wäre — das ist doch das, worüber ich mich aufrege — , daß man das noch weiter vertieft diskutieren müsse. Was man machen müßte, ist, den Vorschlag, wie er dort vorliegt, konkret zu diskutieren und dann zu sagen, welche Auswirkungen er hätte. — Dies habe ich ohne Anrechnung auf meine Redezeit gesagt.
Nun komme ich zu ein, zwei Implikationen, die auch die Umweltpolitik in Deutschland angehen.
Welche Rückwirkungen hat es, wenn man die Deregulierung im Strombereich fortsetzt? Jetzt sprechen alle davon, daß wir in Deutschland die KraftWärme-Kopplung weiter ausbauen sollten. Prima! Das finden wir gut. Das haben wir als SPD immer gefordert. Dem schließt sich auch die Bundesregierung an, daß man dies machen sollte.
Aber was passiert denn in der Praxis, wenn man die Strommärkte dereguliert? Da ist ein Energieversorgungsunternehmen. Es betreibt wärmegeführte KraftWärme-Kopplung. Es setzt die Wärme also notgedrungen auf dem Wärmemarkt in Haushalt und Industrie ab. Das ist richtig. Die Energieausschöpfung ist hoch. Aber den Strom kann es nicht mehr absetzen, weil nämlich die großen Abnehmer anschließend unter Umständen sagen: Ätsch, deinen Strom kaufe ich nicht; Strom kaufe ich in Frankreich ein. Soll man den Strom in den Rhein leiten? Das geht doch wohl nicht.
Wenn ich solche Konzepte wie die Kraft-WärmeKopplung verwirkliche, brauche ich also Rahmenbedingungen, damit ich solche Koppelprodukte absetzen kann. Ich kann in diesem Bereich nicht ein einziges Produkt deregulieren. Ähnliches gilt übrigens bei der Fernwärme für das Gas.
Der zweite Punkt. Sie sprechen immer von der Umweltpolitik. Auch das ist in Ordnung. Ich finde das sogar prima. Wir haben ja auch der Großfeuerungsanlagenverordnung und anderen Regelungen zugestimmt. Da liegen ja häufig die wahren Bedingungen für die Strompreisunterschiede, etwa zwischen Deutschland und Frankreich.
Bloß, was ist denn das für eine Umweltpolitik, wenn ich sage, ich mache jetzt anerkanntermaßen und zu Recht hohe Umweltauflagen, die selbstverständlich zu höheren Preisen führen, und anschließend konterkariere ich das dadurch, daß ich Nuklearstrom aus Frankreich importiere. Es kann doch nicht im Sinne des Erfindes sein, daß ich anschließend unsere unter Berücksichtigung hoher Umweltanforderungen ausgerüsteten Anlagen, de facto stillege, indem ich den Strom aus Ländern einkaufe die solche Umweltauflagen nicht erfüllen müssen oder andere Primärenergieträger zur Verfügung haben — worüber man diskutieren kann.
— Wissen Sie, ich gehöre nicht zu denen, die laufend in einem Streit zwischen Parteien sind. Ich will hier ein Problem darlegen.
— Die Konsequenz daraus ist ganz einfach, Herr Töpfer, wenn ich das einmal sagen darf, nämlich daß wir fordern, daß Sie für die Grundlage unserer pluralistischen Energieversorgungsstruktur, die auch geschlossene Versorgungsgebiete umfaßt, in Brüssel eintreten soll.
Die Kommission will exakt dies abschaffen, entsprechend auch den Vorschlägen der Deregulierungskommission in Deutschland. Bislang haben wir dazu von der Bundesregierung kein klares Wort gehört
bis auf das, was Herr Möllemann im Wirtschaftsausschuß gesagt hat: Im Prinzip begrüßt er das. Das war das, was er im Wirtschaftsausschuß gesagt hat.
Herr Abgeordneter, darf der Herr Abgeordnete Möllemann Sie noch einmal um die Beantwortung einer Zwischenfrage bitten?
Ja; gern.
Bitte sehr.
Herr Kollege, verstehe ich Sie richtig, daß Sie im künftigen gemeinsamen Europäischen Markt, der, soweit ich es richtig verstanden habe, mit Unterstützung der Stimmen der SPD zustande kommen soll, für die Frage, welche Güter und Produkte nach Deutschland importiert werden
5742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Jürgen W. Möllemann
dürfen, entscheidend sein lassen wollen, ob diese Güter und Produkte in dem jeweiligen Lieferland umweltfreundlicher als bei uns hergestellt werden?
Herr Möllemann, der grenzüberschreitende Transport oder Verkauf von Energie kann sich nach unterschiedlichen Kriterien richten. Ich möchte Ihnen aus der Neufassung von Maastricht, über die ja wohl der Kanzler verhandelt hat, aus dem Art. 130 s über die Umwelt vorlesen, daß nur einstimmig Maßnahmen zu erlassen seien, die die Wahl eines Mitgliedstaats zwischen den verschiedensten Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung beeinflussen. Das wurde Dienstag nacht auch mit der Stimme Ihres Kanzlers einstimmig in Maastricht verabschiedet. Das ist das, was ich meine.
— Doch! Das ist eine sehr passende Antwort auf die Frage, welche Form des freien Warenverkehrs — das betrifft auch die Spezifika der leitungsgebundenen Energie — ich in diesem Bereich haben will. Ich will auch dort eine Abwägung zwischen Versorgungssicherheit und Umweltpolitik. Exakt dies haben Sie selber in Maastricht durch die Formulierung verabschiedet, daß der Art. 100a über die Verwirklichung der Binnenmarktenergie in diesem Bereich nicht so weit zieht, wenn die allgemeine Struktur der Energieversorgung beeinflußt wird. Es war unstrittig, daß die Maßnahmen, die die EG-Kommission vorschlägt, unsere Energieversorgungsstruktur auf den Kopf stellen, nicht nur beeinflussen sondern schlicht auf den Kopf stellen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege, würde es Sie allzu sehr strapazieren, wenn Sie sich der Mühe unterzögen, einfach meine Frage zu beantworten?
Das war die Antwort. Wir haben Stromhandel bzw. Gashandel in Europa. Das ist völlig unstrittig. Was die Kommission mit ihren Vorschlägen macht, ist nicht die Verweigerung des Handels in diesem Bereich, sondern sie sagt auf der Grundlage des Art. 100a zur Ausfüllung des innergemeinschaftlichen Handels — ich habe den Art. 100 a sicherheitshalber dabei — , daß sie mit Hilfe des Art. 100 a ein System einer Energieversorgungsstruktur — die wir übrigens übereinstimmend unter den Parteien gewählt haben — aushebeln will. Da sagen wir: Das wollen wir nicht. Es kann nicht Sinn des innergemeinschaftlichen Handels sein, daß ein bewährtes System von Versorgungssicherheit und umweltverträglicher Energieversorgung auf den Kopf gestellt wird.
Herr Präsident, wieviel Zeit habe ich noch?
Knapp eine Minute.
Der Herr Präsident sagt mir, ich habe nur noch knapp eine Minute. Dann möchte ich vielleicht noch zwei Punkte in diesem Bereich ansprechen, die wichtig sind, wenn man über Implikationen eines neuen Systems redet.
Ich finde, es war eine sehr bemerkenswerte Rede von dem Kollegen — er ist jetzt nicht mehr hier, er ist, glaube ich, von der CSU — , der von den Wasserbetreibern sprach. Er hat ja sehr überzeugend dargestellt, wie wichtig die Förderung von erneuerbaren Energien ist, und zwar in diesem Bereich die der Wasserkraft. Er hat auch das Stromeinspeisungsgesetz erwähnt. Was ist eigentlich die Grundlage für ein Stromeinspeisungsgesetz? Die Grundlage dafür ist, daß ich ein örtliches oder regionales Energieversorgungsunternehmen auf Grund seiner Monopolstruktur mit Preisaufsicht zwingen kann, in sein Netz Strom zu einem höheren Preis, als es den Kosten bei Eigenerzeugung entspricht, aufzunehmen. Das ist die Grundlage und ist auch unstrittig.
Welches Unternehmen würde dies dann noch machen, wenn wir nicht mehr die geschlossenen Versorgungsgebiete hätten, sondern der Strompreis sich im Wettbewerb bildete? Dann könnten Sie Ihr Stromeinspeisungsgesetz völlig vergessen; keiner nimmt mehr die Einspeisung vor, weil es ein geschlossenes Versorgungsgebiet nicht mehr gibt, sondern dann gibt es einen Wettbewerb um jeden einzelnen Kunden auch beim Preis. Dann ist jedem Wasser und Sonne usw. schnuppe, das ist dann alles weg.
Wenn ich wirklich ein Instrument haben will, um auch über den Absatz erneuerbare Energien zu höheren Preisen zu fördern, brauche ich das System geschlossener Versorgungsgebiete, natürlich verbunden mit staatlicher Preisaufsicht in anderen Punkten; das ist unstrittig.
Herr Dr. Gautier, ich hatte Ihrer Frage entnommen, daß Sie sich an die Redezeit halten wollten. Nun ist die Minute mehr als überschritten.
Ich hatte die Absicht, und deswegen, Herr Präsident, komme ich zu meinem Schlußsatz. Das ist immer das Problem, wenn man eine Rede nicht vorbereitet, sondern nur ein paar Stichworte hat.
Es ehrt Sie ja auch, daß Sie frei sprechen; das wird honoriert.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5743
Es steht wohl in der Geschäftsordnung drin, daß man es machen soll; es hält sich bloß keiner an die Geschäftsordnung.
Ich komme zu meinem Schlußsatz. Ich bin der Meinung, daß das, was die EG-Kommission jetzt plant und im nächsten halben Jahr rechtsverbindlich umsetzen will, die Grundlage unserer Energie- und Umweltpolitik, soweit wir sie gemeinsam tragen — ansonsten differenzieren wir, — letztlich aushöhlt. Von daher sind viele der Debattenbeiträge aus meiner Sicht letzten Endes Scheindebattenbeiträge gewesen, weil die Realitäten durch Europa anders bestimmt werden, und zwar in diesem Falle in einem Sinne, den ich nicht teile, auch als überzeugter Europäer nicht teile, und ich glaube, das habe ich heute dem Haus bewiesen, daß ich wirklich ein „Überzeugungstäter" in Sachen Europa bin.
Schönen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Erich Fritz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der letzte Beitrag zeigt ja ganz deutlich noch einmal
— na, zumindest konnte man ihm besser zuhören als Ihrem; den haben wir alle schon zehnmal gehört, Herr Schäfer — , wie schwer es ist, sich an Europa zu gewöhnen. Eine ganze Reihe von Debatten, die in den letzten Monaten und Jahren geführt wurden — wenn man Bilanz zieht — , gehören zu dieser Kategorie, von der Sie gerade gesagt haben, daß sie überholt sei. So wird das natürlich auch bei dem sein, was im Konzept der Bundesregierung steht und für diesen Augenblick richtig und sinnvoll ist, aber durch weitere Entwicklungen im europäischen Markt natürlich verändert wird. Diesen wollen wir doch alle zusammen; das haben Sie gerade noch einmal betont. Dann dürfen Sie sich auch nicht darüber beschweren, daß in Zukunft der Verbraucher, der Bezieher von Energie tatsächlich ein Auswahlrecht haben muß.
Nach diesem Bericht der Bundesregierung, so hat es der Herr Bundeswirtschaftsminister gerade vorgetragen, wurde im Bereich der Kohle etwas auf eine Weise erreicht, wie wir uns das vorstellen, nämlich im Konsens, wenn auch mit großen Schmerzen, und es ist durch die Handlungen der Kommission noch einmal verändert worden.
Diese stärkere Abhaldung stellt natürlich für die Betreiber, für die Unternehmen, auch für die Mitarbeiter eine zusätzliche Erschwernis dar und verlangt nach größeren Anpassungsleistungen, als wir das erwartet haben. Dennoch hat die Steinkohle eine Perspektive, die es möglich macht, längerfristig Investitionen, Strukturanpassungen und damit auch soziale und regionale Flankierung zu betreiben. Ich glaube, darauf kam es an. Dabei wissen wir alle, daß dies kein Zustand für Jahrzehnte sein wird.
Der Wirkungsgrad bei der Verfeuerung deutscher Steinkohle ist in den letzten Jahren durch erhebliche Anstrengungen bei der Verstromung, durch staatliche Vorgaben, aber auch durch ein enormes Engagement in der Forschung und in der Wirtschaft wesentlich verbessert worden. Das heißt, daß bei geringerer verbrauchter Primärenergie eine höhere Leistung erzielt wird. Dieses Vorgehen ist ein Verdienst der Umweltpolitik dieser Bundesregierung und sollte doch auch ein Vorbild sein, wie man im Bereich der Energie- und Umweltpolitik weiter handelt, — und beide gehören ja eng zusammen. Der technologische Fortschritt, mehr Effizienz, Umweltschonung, das sind die positiven Signale, die wir mit einer Veränderung in diesem Bereich erwarten.
Steinkohle und Braunkohle — das betrifft, weil sie im rheinischen Teil unumstritten ist, vorwiegend die östlichen Bundesländer — stehen im übrigen nicht in Konkurrenz zueinander. Es ist immer wieder der Versuch gemacht worden, so zu tun, als würden da die Bergleute aus Ost und West gegeneinander ausgespielt. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein.
Was mich in der Diskussion der letzten Wochen und Monate allerdings schon gestört hat, ist der offensichtlich sehr unterschiedliche Maßstab der Beurteilung der Situation der Bergleute West und der Bergleute Ost. Da, meine ich, kann man nicht stehenbleiben, sondern da muß man sich einmal darüber klarwerden, daß wir in einem zusammenwachsenden Deutschland mit vergleichbaren Situationen natürlich auch vergleichbar umgehen müssen. Davon waren wir in der Steinkohlendebatte weit entfernt. Auch dies muß einmal gesagt werden.
Richtig ist, daß die Braunkohleförderung in den neuen Bundesländern auch weiter zurückgehen wird, weil sie im Bereich des Hausbrands verdrängt wird und durch Neuanlagen effizienter eingesetzt wird. Das muß hingenommen und durch andere Maßnahmen entsprechend aufgefangen werden. Wenn es zwei funktionierende Braunkohlereviere gibt — im mitteldeutschen Bereich und in der Lausitz — und wenn die Bundesregierung, wenn die Betreiber es leisten können, daß dort durch optimalen Einsatz aller technischen Möglichkeiten die hochschwefelhaltige und salzhaltige Kohle genutzt wird, dann, meine ich, haben wir einen wesentlichen Beitrag zu dem geleistet, was wir dort wollen.
Wichtig ist natürlich, daß wir möglichst schnell Sicherheit über die Frage haben, wie es mit der Stromversorgung in den neuen Bundesländern weitergeht; denn solange das nicht geklärt ist, wird es natürlich auch Investitionsentscheidungen nicht geben. Es sollen ja Hunderte von Millionen Mark an Investitionen jetzt eben deshalb nicht getätigt werden, weil diese Entscheidung nicht gefallen ist. Das bedeutet eine zusätzliche Gefährdung von Arbeitsplätzen und bedeutet auch Unsicherheit für den Braunkohlentagebau.
5744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Erich G. Fritz
Es gibt noch einen wichtigen Grund, warum man sich dafür einsetzen muß, daß dieser Braunkohlentagebau weitergeführt wird. Nach dem Raubbau der Planwirtschaft gibt es dort viele ungelöste Probleme, von ungesicherten Mülldeponien über die Landschaftszerstörung bis zur Wasserhaltung. Diese Probleme sind in einem Konzept, im Zusammenhang mit einem funktionierenden Förderbetrieb immer besser zu lösen als in einem späteren reinen Reparaturbetrieb. Auch das muß beachtet werden.
Die Zuständigkeit, Herr Bartsch, wollen wir dabei allerdings schon so lassen, wie sie im Augenblick ist, was ja nicht heißt, das die Bundesregierung nicht alles Mögliche tut, um die Länder bei diesen Maßnahmen durch die in Zukunft realisierte Regelung des Ausgleichs der Finanzen zu unterstützen.
Wir wissen, daß wir diese Diskussion heute einmal deshalb führen, weil sich in Europa in letzter Zeit viel bewegt hat, aber auch aus der Verantwortung für den Klimaschutz unter dem Stichwort CO2. Wenn wir da in den vergangenen Wochen hauptsächlich über Steuern und Abgaben gesprochen haben, so muß man dem wenigstens einen Aspekt hinzufügen. Diese beiden sind wirklich Steuerungsmechanismen, die uns nicht fremd sind, die wir innerhalb der Marktwirtschaft immer eingesetzt haben.
Deshalb kann ich nicht verstehen, warum Herr Schäfer, aber auch Herr Jung und Herr Bartsch, diese alte Formulierung wiederholen, unsere Haltung sei, der Markt werde es schon richten. Soziale Marktwirtschaft war immer etwas anderes als „der Markt wird es schon richten", sondern ist das sinnvolle Zusammenwirken von Marktmechanismen und Eingriffen des Staates. Wenn solche Steuerungseingriffe jetzt durch eine CO2-Steuer oder -Abgabe passieren, dann muß man sich natürlich in gleicher Weise Gedanken machen, wie man das auf der anderen Seite der Medaille unterstützt.
Deshalb ist es dringend nötig, daß wir die guten Erfahrungen, die wir mit partnerschaftlichen Ansätzen, mit Aufeinander-Zugehen gemacht haben, mit Selbstverpflichtung, mit einem Engagement auf dem Umweg über Förderung von Forschung, von Entwicklung einen zusätzlichen Schub in diesen Bereich einbringen. Dann werden wir sehen, daß die Entwicklung ähnlich läuft wie bei der Verminderung von SO2 und NOX. Da hat es ja auch erst geheißen: Das geht nicht, da macht ihr ganze Branchen kaputt. Als dieser Zwang da war, haben die marktwirtschaftlichen Instrumente sehr schnell gegriffen und dazu beigetragen, daß nicht nur die Schwierigkeiten erkannt worden sind, sondern auch die Chancen, die darin stekken, Chancen durch neue Entwicklungen, durch neue Produkte, auch durch neue Marktchancen mit diesen Produkten. Deshalb ist es richtig, daß in diesem Zusammenhang die Frage der Kompensation mit eingebaut werden soll.
Ich meine, auch den Gedanken der Zertifikatslösung sollte man nicht so ganz schnell beiseite legen, sondern man sollte ihn in eine breite Diskussion mit einführen. Denn es hat noch nie geschadet, über Alternativen nachzudenken. Wir haben, glaube ich, begründeten Anlaß, nachdem wir jetzt auch im EG-Bereich sehr stark auf Steuern und Abgaben abfahren, in dieser zusätzlichen Diskussion über marktwirtschaftliche Ergänzungén dieser Einflußmöglichkeiten nachzudenken.
Wir begrüßen es, glaube ich, alle miteinander besonders — da erinnere ich mich an die Diskussion in diesem Raum am Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl — , daß die Bundesregierung in ihrem Bericht auch vorgesehen hat, eine Stelle einzurichten, in der durch Zusammenwirken unabhängiger Leute Konsensmöglichkeiten für die weitere Energiepolitik vorgeschlagen werden. Ich halte das wirklich für eine ganz wichtige Sache.
Das heißt allerdings auch, daß auch hier im Hause alle bereit sein müssen, Positionen in Frage zu stellen, und auch bereit sein müssen, ideologische Positionen aufzugeben.
Ich habe heute, als Herr Schäfer hier stand und über Kernenergie gesprochen hat — mit altbekannten Tönen und auch mit etwa der gleichen Lautstärke — gedacht: Da muß doch das Wort „Ausstieg" kommen. Aber es kam nicht. Er hat vielmehr seit dem Frühjahr einen Schritt getan und spricht eben nicht mehr davon, sondern von „kein Zubau" und „kein Neubau".
Wenn auf diese Weise von der SPD Bewegung signalisiert wird, dann sollte man diese Zeichen nicht abwerten, sondern aufnehmen und sagen: Ich wünsche der Bundesregierung eine gute Hand für diese Konsensbildung, die da nötig ist. Ich glaube, daß das ein Weg ist, wie wir das Anliegen, das hier heute artikuliert worden ist, auch vorwärtsbringen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Paziorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß gestehen, wir hatten die Hoffnung, daß die Strukturreform des neuen SPD-Fraktionsvorsitzenden nicht nur personalpolitische Konsequenzen hat, sondern die Konsequenz, daß in der Umwelt- und Energiepolitik in der SPD-Fraktion eine Versachlichung einkehrt. Wer heute die Reden gehört hat, muß aber leider zu dem Ergebnis kommen: Unsere Hoffnung hat getrogen, diese Versachlichung ist nicht eingekehrt. Und der Konsens — das muß ich hier feststellen — ist nach der heutigen Diskussion leider auch so nichtmöglich.
Deshalb halte ich es für notwendig, zum Abschluß dieser Debatte noch einmal die für die CDU/CSU-Fraktion wichtigen Positionen darzulegen.
Ich glaube, es ist völlig unbestritten, daß sich die Energiepolitik den neuen umweltpolitischen Herausforderungen stellen muß. Der Anstieg des Treibhauseffekts ist global und für Jahre hinaus — das wissen wir — unumkehrbar. Deshalb können wir sagen, daß die Auswirkung dieses Treibhausklimas das mit Abstand ernsteste Umweltproblem der Menschheit ist. Dagegen nimmt sich die Angst der Kernenergie aus wie die Angst vor der Maus, sagte einmal der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5745
Dr. Peter Paziorek
Wir sitzen im Treibhaus, und eine Klimakatastrophe ist möglich, die weltweit für die Menschheit zerstörerische Konsequenzen haben kann. Somit müssen Energiegewinnung und Energieverbrauch in Zukunft noch stärker als bisher — wir sagen bewußt: bisher haben wir auch schon eine Menge erreicht — den ökologischen Herausforderungen gerecht werden. Der Schutz der Umwelt ist eine politische Aufgabe von hohem Rang, die der Energiepolitik eine neue Ausrichtung gegeben hat.
Wenn es richtig ist, daß die globale Dimension der Umwelt- und Energiepolitik keine Zersplitterung der Kräfte verträgt, so gilt aber auch, daß keine Einzelmaßnahme einen umweltpolitischen Königsweg eröffnet. Deshalb müssen aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion folgende Handlungsmöglichkeiten konsequent genutzt werden:
Erstens. Wir müssen Energie in allen Sektoren und Bereichen einsparen.
Zweitens. Wir brauchen im Kraftwerksbereich eine fortschrittlichere Technik mit höheren Wirkungsgraden für den Einsatz fossiler Energieträger.
Drittens. Wir sollten aufhören mit der Forderung, aus der Kernenergie auszusteigen, wie die SPD es immer wieder erklärt. Deshalb begrüßen wir die Absicht des Bundeswirtschaftsministers, eine Kommission zu berufen, die die Konsensmöglichkeiten in Sachen Kernenergie ausloten will.
Viertens. Wir brauchen eine verstärkte Anwendung der erneuerbaren Energien.
Wenn diese allgemeinen Grundforderungen akzeptiert werden, dann ergibt sich konsequenterweise die Forderung nach einer engen Verzahnung der Energiepolitik mit anderen Politikbereichen, wie der Verkehrs-, der Wohnungs- und der Technologiepolitik, um in diesen Sektoren dafür zu sorgen, daß die Umweltbelastungen durch den Energieverbrauch, durch sektorale Maßnahmen weiter reduziert werden.
Genau das ist der Ansatzpunkt dieses Energiekonzepts, das die Bundesregierung gestern verabschiedet hat. Genau diese Verzahnung der Energiepolitik mit den verschiedenen Bereichen ist in diesem Bericht konzipiert, so daß wir als CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung bei der Umsetzung dieses Konzepts voll unterstützen werden.
Wir begrüßen, daß die Bundesregierung in ihrer Umwelt- und Energiepolitik auf die Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden Klimaschutzstrategie setzt, und wir begrüßen, daß sich unser Bundesumweltminister, Professor Töpfer, in den letzten Wochen und Monaten für solch eine europäisch abgesicherte Klimaschutzpolitik in Europa engagiert eingesetzt hat.
Der gestern verabschiedete Bericht nimmt eindeutig Bezug auf den Beschluß der Bundesregierung vom 7. November 1990 zur Vermeidung der energiebedingten CO2-Emissionen bis zum Jahre 2005. In diesem Beschluß ist die Zielvorstellung eindeutig definiert, bis zum Jahre 2005 eine Verminderung des CO2-Ausstoßes von ca. 25 bis 30 % gegenüber dem Basisjahr 1987.
Eines will ich klarstellen: Dieses umwelt- und energiepolitische Ziel werden wir in der Regierungskoalition nicht aufgeben. Maßnahmen zum Schutze der Erdatmosphäre sind unumgänglich. Sie sind in Deutschland eine gewaltige Aufgabe.
Eine 25- bis 30%ige Reduktion bedeutet in absoluten Zahlen im Mittel rund 300 Millionen t CO2. Das sind umgerechnet 110 Millionen t Steinkohleeinheiten.
Um diese Größenordnung der Aufgabe einmal abzuschätzen, eine Vergleichszahl: In der alten Bundesrepublik wurden 1989 rund 382 Millionen t Steinkohleeinheiten insgesamt verbraucht. Wir wollen bis zum Jahre 2005 eine Reduzierung um rund 110 Millionen t Steinkohleeinheiten.
Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, werden wir die Bundesregierung bei folgenden Eckpunkten des Energiekonzepts unterstützen:
Erstens. Es muß europaweit eine CO2- oder Energiesteuer eingeführt werden.
Zweitens. Im Rahmen einer solchen EG-weiten Steuer und Abgabe sind Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zu begrüßen und Kompensationsmöglichkeiten zu eröffnen.
Drittens. Innerhalb Deutschlands hat aber nicht nur der Bund die Verpflichtung zur CO2-Reduzierung. Wir fordern die Länder auf, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Beschluß des Bundes zur CO2-Reduzierung zu ergänzen und zu flankieren. Die Länder sollten den Beschluß der Bundesregierung aufgreifen und auch ihrerseits Konzepte zur CO2-Minderung erstellen.
Gleiches gilt für die Kommunen. Wir fordern alle Kommunen auf, umfassende Energieversorgungskonzepte zu entwickeln, die auf Fragen der Energieeinsparung vor Ort und auf die Einführung erneuerbarer Energien eingehen sollten.
Länder, Kommunen und die gesamte Wirtschaft sind aufgefordert, das ehrgeizige CO2-Minderungsprogramm der Bundesregierung für das Jahr 2005 zu unterstützen. Sehen wir nicht nur die Belastung, sondern auch die Chancen einer solchen Politik! Begreifen wir eine umweltorientierte Energiepolitik als Chance zur Innovation, als eine Chance auch für unsere heimische Wirtschaft! Dadurch wird unsere umweltorientierte Energiepolitik zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland beitragen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1799, 12/1490, 12/1305, 12/1294 und 12/1794 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 12/1799 und der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1794 sollen darüber hinaus an den Finanzausschuß überwiesen werden.
5746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. Dann darf ich dies so als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Sitzung jetzt für ca. eine Stunde. Wir werden Ihnen den genauen Wiederbeginn der Sitzung durch den Hausfunk noch mitteilen lassen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Verbesserung der Regelung für das Altersübergangsgeld auf Drucksache 12/1823 zu erweitern. Dieser Punkt soll zusammen mit den jetzt gleich folgenden Zusatzpunkten 6 und 7 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dann können wir so verfahren.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 6 und 7 sowie den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf:
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Verlängerung des Altersübergangsgeldes
— Drucksache 12/1720 —
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Christina Schenk, Werner Schulz und der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN
Verlängerung der Sozialzuschlagsregelung bei Erwerbslosigkeit und Einführung einer Mindestsicherung
— Drucksache 12/1792 —
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Verbesserung der Regelung für das Altersübergangsgeld
— Drucksache 12/1823 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Jäger.
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir jetzt über den Antrag der SPD zur Verlängerung des Altersübergangsgeldes debattieren, so wissen wir, dieser Antrag sowie diese Aussprache sind ein Teil der gesamten Debatte über die Arbeitsmarktprobleme Ost.
Wir kommen nicht umhin, die Gesamtheit der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und ihre Wirkungen dabei im Auge zu behalten. Nur in ausgewogenen und regional abhängigen Relationen können diese Instrumente ihre vollen Wirkungen entfalten. Dazu zähle ich erstens die entspannende Wirkung auf den Arbeitsmarkt, zweitens das Niedrighalten der politischen Gefahr für gesellschaftlich explosive Situationen und drittens den positiven Einfluß auf die Strukturentwicklung der betreffenden Industrieregion.
Wenn wir diese Betrachtungsweise akzeptieren, müssen wir bei dem anstehenden Thema auch einige Worte über die Kurzarbeitergeldregelung sagen: Als wir heute vor einer Woche zur Mitternachtsstunde über unseren Antrag zur Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung Ost debattierten, erschienen unsere Forderungen den Abgeordneten der Regierungsfraktionen zu hoch. Aber aus beiden Fraktionen, sowohl der CDU/CSU- als auch der FDP-Fraktion, wurde Gesprächsbereitschaft signalisiert, worüber wir natürlich sehr erfreut waren.
Daraufhin haben wir unsere Forderungen zurückgeschraubt und die Verlängerung für nur noch ein Jahr beantragt. Damit signalisierten wir Kompromißbereitschaft, die, wie die gestrige Ausschußsitzung zeigte, leider nicht angenommen wurde. Die CDU/ CSU- und FDP-Fraktion lehnten unseren Antrag ab.
Als Begründung wurde uns vorgehalten, daß mit dieser Regelung Mißbrauch getrieben werden kann und auch getrieben wird. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das trifft mehr oder weniger wohl für alle Gesetzesregelungen zu und stellt keinen Grund zu ihrer Abschaffung dar. Das kann höchstens ein Grund für deren Verbesserung sein.
Eine solche neu durchdachte Regelung wäre die Gewährung des Kurzarbeitergeldes Ost bis zur Einrichtung betriebsnaher ABM in den neu entstehenden Gesellschaften für Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung.
Bei Nichtverlängerung der Kurzarbeitergeldregelung Ost fördern wir das systematische Entfernen der Fachleute auch aus sanierungsfähigen Betrieben.
Sobald diese wieder gebraucht werden, fehlen sie oder werden mit viel Geld umgeschult. Sehen Sie die Abwanderung von gut ausgebildeten Fachleuten nicht nur auf einen Betrieb zugeschnitten, sondern sehen sie es auch neue-Länder-weit! Natürlich verursachen die starke Abwanderung in den Westen und die Erhöhung der Pendlerzahlen eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt. Doch ich frage Sie: Ist diese von Ihnen so gewollt? Das, was hier über Arbeitsmarktpolitik strukturpolitisch passiert, ist meines Erachtens Frevel.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Ihr Interesse am Industriestandort neue Länder nicht sonderlich groß ist. Ja, den Strukturwandel befördern Sie damit. Sie forcieren das Abräumen der Industrie in den neuen Ländern zugunsten der wirtschaftlichen Schwerpunkte in den alten. Zu meinem Erschrecken sind hier die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen aus den neuen Ländern mit eingeschlossen. Ich hatte bisher gehofft — leider vergeblich — , daß die Abgeordneten aus den neuen Ländern Probleme in den neuen Ländern parteiübergreifend lösen könnten. Das scheint mir fast aussichtslos zu sein. Sie werden aber entschuldigen: Ich von meiner Seite werde das immer wieder versuchen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5747
Renate Jäger
Bei unserem heutigen Antrag zur Verlängerung des Altersübergangsgeldes in den neuen Ländern sieht das etwas positiver aus. Unser Antrag wurde in der SPD-Fraktion am 25. November beschlossen. Zu dieser Zeit kam aus der Bundesregierung noch nicht das leiseste Echo auf die vielen Forderungen nach einer Verlängerung der derzeit gültigen Regelung, ganz gleich ob diese aus Betrieben, vom DGB, von den Arbeitsämtern oder von der SPD stammten.
Wir waren von Anfang an auf der Seite derer, die die Verlängerung der Altersübergangsregelung forderten. Lange wollte die Bundesregierung die wahre Situation nicht sehen. Dadurch, daß wir auf die sich zuspitzende Arbeitsmarktsituation in den neuen Ländern zum Jahresbeginn 1992 hartnäckig aufmerksam machten, haben die Regierung sowie die Koalitionsfraktionen sich dem Druck der Notwendigkeiten gebeugt und beantragt, die geltende Verordnung zum Altersübergangsgeld um ein halbes Jahr zu verlängern.
Warum, frage ich mich, verhinderten die Koalitionsfraktionen, daß unser Antrag im normalen Verfahren auf die Tagsordnung gesetzt wurde, wenn sie jetzt selbst einen eigenen Antrag dazu einbringen?
Warum, frage ich weiter, machte erst die Androhung einer Geschäftsordnungsdebatte die Aufnahme als Zusatztagesordnungspunkt möglich?
Als drittes frage ich: Warum greifen Regierung und Koalition für ihr arbeitsmarktpolitisches Agieren immer nur auf kurzfristige, nicht aber auf zukunftswirksame Maßnahmen zurück?
Mir deucht hier etwas politische Unkultur.
Aber die Antworten auf die Fragen sollten Sie, meine Damen und Herren von Regierung und Koalition, sich selbst einmal ehrlich geben, vielleicht in einem besinnlichen Moment bei Kerzenschein.
— Vielleicht wenn Sie über Nächstenliebe nachdenken.
Unabhängig von Ihrer Antwort verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß Sie nach wie vor nicht so recht wissen, wie Sie mit dem Arbeitsmarkt Ost umgehen sollen.
Eine durchdachte Strategie existiert offensichtlich immer noch nicht. Der Parlamentarische Staatssekretär Kollege Günther hat gestern bei der Mitgliederversammlung der Arbeitgeberverbände in bezug auf den Arbeitsmarkt Ost sozialpolitische Maßnahmen größeren Umfangs für notwendig erklärt.
Er äußerte wörtlich: „Mir graut vor dem Winter. "
Es wäre daher logisch und sinnvoll, wenn sie im Interesse der älteren Bürger in den neuen Ländern für unseren Antrag und damit für eine Verlängerung der Altersübergangsgeld-Verordnung für ein Jahr stimmten. Etwas Stetigkeit täte dem politischen Prozeß im Osten gut.
Wir hatten die Prioritäten nicht umsonst zuerst auf eine Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes gesetzt. Die Verlängerung der Bezugsdauer des Altersübergangsgeldes gibt mehr soziale Sicherheit. Das dürfen wir nicht unterschätzen. Aber sie nimmt den noch tüchtigen und rüstigen Facharbeiter, Techniker oder Wissenschaftler aus dem Arbeitsprozeß heraus. Damit bleibt ein großes fachliches Potential für den weiteren Aufbau in den neuen Ländern ungenutzt.
Aktive Arbeitsmarktpolitik zeichnet sich unseres Erachtens durch Vielgliedrigkeit und Flexibilität aus. Das eine ist zu tun, während man das andere nicht lassen kann. Wenn der Bundeskanzler bei der Lageerörterung im Kanzleramt über bevorstehende Entlassungen im Osten spezielle Tarifverträge mit niedrigerer Bezahlung für ABM anregte,
so zu lesen in den „Nürnberger Nachrichten" vom 3. Dezember, dann weist dies auf eine Tendenz hin, die unberechenbare Folgen für den Industriestandort Ost haben kann.
Das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium darf nicht dazu verwendet werden, Löcher zu stopfen. Es soll vielmehr mithelfen, Dauerarbeitsplätze und Wirtschaftsstandorte zu schaffen, Umweltschäden abzubauen bzw. zu verhindern und eine sinnvolle Strukturpolitik zu fördern.
Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Karl-Josef Laumann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Altersübergangsgeld ist eine gute Möglichkeit für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und die durch die Herstellung der deutschen Einheit und den damit verbundenen Umbau einer maroden sozialistischen Planwirtschaft zu einer modernen Sozialen Marktwirtschaft ihren Arbeitsplatz verlieren, vorzeitig in den Ruhestand treten zu können. Im übrigen gibt es vielerlei Gründe, warum es besser ist, daß ältere Menschen ab dem 55. Lebensjahr in den Ruhestand gehen und somit auch einen Beitrag dazu leisten, daß den jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Beschäftigungsmöglichkeit erhalten bleibt.
Es steht außer Frage, daß das Altersübergangsgeld für die älteren Arbeitnehmer sowie für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern eine wichtige Rolle spielt. So haben bisher rund 350 000 Menschen
5748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Karl-Josef Laumann
von dieser Regelung Gebrauch gemacht. Empfänger von Altersruhegeld erhalten 65 % des pauschalierten Nettogehalts.
Meine Damen und Herren, arbeitsmarktpolitische Instrumente sind ein wichtiger Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft.
Ich halte es für unsere Pflicht, daß wir die Möglichkeiten, die wir in diesem Bereich der Politik haben, auch einsetzen, um den Menschen in den neuen Bundesländern zu helfen, mit ihrer schwierigen Situation fertigzuwerden.
Die deutsche Einheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein großartiges Geschenk für unser Volk.
Ich bin glücklich darüber, daß ich dieses historische Ereignis miterleben durfte. Wahr ist aber auch, daß es kein Lehrbuch gibt, in dem wir nachschlagen könnten, wie wir am schnellsten eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland erreichen können. Daher sind wir gut beraten, nicht stur und unbeweglich einen einmal eingeschlagenen Weg zu gehen, sondern flexibel auf verschiedene Situationen zu reagieren.
Daß wir grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind, beweist die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern eindeutig. So sind seit der Wirtschafts- und Währungsunion 1,2 Millionen zukunftsträchtige Arbeitsplätze geschaffen worden. 170 000 neue Gewerbebetriebe sind gegründet worden. Der Mittelstand in den neuen Bundesländern beginnt zu blühen. Ich halte diese Ergebnisse für einen großartigen Erfolg der Politik dieser Regierung.
Daß unsere Bundesregierung die von mir angesprochene Flexibilität bei Entscheidungen immer wieder aufbringt,
um die Situation in den neuen Bundesländern in den Griff zu bekommen, zeigen ganz deutlich unsere großartigen Anstrengungen im Bereich der ABM und der Qualifizierungsmaßnahmen, die wir in diesem Jahr durchgesetzt haben.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es daher, daß sich heute morgen die Bundesregierung darauf geeinigt hat, daß das Altersübergangsgeld nicht Ende Dezember dieses Jahres ausläuft, sondern durch eine Rechtsverordnung bis Mitte nächsten Jahres verlängert werden soll.
Das bedeutet, daß rund 50 000 Menschen zusätzlich
von dieser Regelung profitieren können. In den Genuß dieser Regelung kommen aber nicht nur Arbeitnehmer, die bis zum 30. Juni 1992 55 Jahre alt werden, sondern auch Angehörige der Geburtsjahrgänge 1935 und 1936. Sie können nämlich noch im nächsten halben Jahr Altersübergangsgeld in Anspruch nehmen, wenn sie sich bis Ende dieses Jahres noch nicht dafür entschieden haben.
Die finanzpolitischen Auswirkungen dieser Regelung muß man natürlich auch im Auge haben. Die Bundesanstalt für Arbeit wird in den Jahren von 1992 bis 1995 rund 88 Millionen DM wegen dieser Verlängerung aufbringen müssen. Der Bundeshaushalt wird in den Jahren von 1994 bis 1997 durch diese Verlängerung mit insgesamt 1,12 Milliarden DM zusätzlich belastet. Trotz dieser Belastungen ist der Beschluß von heute morgen richtig, weil er eine in den neuen Bundesländern von den Menschen akzeptierte und dem Arbeitsmarkt entlastende Regelung fortführt.
Das von der Bundesregierung beschlossene halbe Jahr gibt uns hier im Parlament, wie ich meine, die Gelegenheit, mit genügend Zeit über neue Möglichkeiten nachzudenken, wie die SPD es fordert, um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit für ältere Menschen besser in den Griff zu bekommen. Der Beschluß, das Altersübergangsgeld um ein halbes Jahr zu verlängern, eröffnet Regierung und Parlament die Möglichkeit, sich im Juni erneut mit der Situation in den neuen Bundesländern zu beschäftigen und dann zu entscheiden, ob dieses Instrument, das wirklich viel Geld kostet, weitergeführt werden muß oder nicht.
Meine Damen und Herren, zum Schluß meiner Rede möchte ich namens der CDU/CSU-Fraktion, Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, ganz herzlich danken.
Sie haben sich in der Regierung für diese Verlängerung besonders eingesetzt. Meine Herren der SPD, Sie sehen: Er war wie immer erfolgreich.
Denn in der Politik kommt es auf das Ergebnis an. Die Entscheidung von heute morgen ist richtig. Dewegen sollten wir auch den Entschließungsantrag der CDU/ CSU und der FDP heute annehmen.
Schönen Dank.
Als nächster hat unser Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort.
Die Verlängerung des Altersübergangsgeldes mit einer Rechtsverordnung hilft, soziale Spannungen zu mildern. Das erkennen wir an. Angesichts der 4,9 Millionen weggefallenen Arbeitsplätze ist das sicher auch ein sehr notwendiges Instrument.
Die Probleme der Arbeit als Selbstverwirklichung und Bedürfnis von Menschen werden damit zwar nicht gelöst. Die Regelung bedeutet für die betroffenen älteren Bürgerinnen und Bürger eben auch das unwiderrufliche Aus des Arbeitslebens. Sie birgt auch die Gefahr des gezielten Hinausdrängens aus dem Arbeitsprozeß. Auch das gibt es.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5749
Dr. Fritz Schumann
Andererseits erkennen wir jedoch die relative soziale Absicherung bis zum frühestmöglichen Rentenbezug an. Mit dieser Regelung wird auch dem Wunsch vieler Arbeitnehmer entsprochen. Das will ich hier auch deutlich sagen.
Wir sehen im Altersübergangsgeld aber nur eine relative finanzielle Sicherung, weil 65 % des bisherigen Einkommens die Fortführung des gewohnten Lebensstandards natürlich nicht gewährleisten. Aber mit dieser Regelung fallen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit wegen der ständigen Verfügbarkeit bei Arbeitslosigkeit bzw. die Angst um das Entstehen eines Einkommenslochs zwischen dem Ende des Arbeitslosengeldbezugs und dem Beginn der Rente weg.
Dennoch bleiben wir bei unserer generellen Einschätzung, im Arbeitsübergangsgeld ein notwendiges Übel zur Beherrschung des Arbeitsmarktes in der gegenwärtigen Situation zu sehen. Denn auch das sozial-kulturelle Umfeld ist in den neuen Bundesländern auf diese jungen Alten überhaupt nicht eingestellt. Die freie Wohlfahrtspflege wird total überfordert mit der Aufgabe, dem breiten Interessenspektrum der immer differenzierteren Altersstruktur älterer Bürgerinnen und Bürger zu entsprechen. Für um so unterstützungswürdiger halten wir daher das Engagement vieler im Verband für Vorruhestand und aktives Alter in Berlin.
Unserer Kritik am finanziellen Niveau des Altersübergangsgeldes entsprechend unterstützen wir natürlich auch den Antrag des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN zur Verlängerung der Geltungsdauer der Sozialzuschlagsregelung bei Erwerbslosigkeit und zur Einführung einer Mindestsicherung. Auch nach unserem Erachten dürfte der Mindestbetrag nicht bei 495 DM eingefroren werden. Die per 1. Juli 1990 festgelegte Höhe hat sich durch die der Lohnentwicklung entsprechende dreimalige Rentenerhöhung entwertet und müßte heute konsequenterweise bei 750 DM liegen.
Einen Satz aus der Begründung des SPD-Antrages aufgreifend, daß diese Anschlußregelung zeitlichen Spielraum für weitere parlamentarische Initiativen zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schafft — wie eben auch von seiten der CDU begründet wurde —, fordern wir, über Arbeitsbeschaffungsprogramme für ältere Menschen nachzudenken. Dabei sind auch jüngste Bestrebungen in anderen Ländern verwertbar, wo, wie z. B. in den USA, eine steigende Tendenz zu verzeichnen ist, spezifische Fähigkeiten und reichhaltige Erfahrungen älterer Menschen über das Rentenalter hinaus gezielt für den Arbeitsprozeß zu nutzen. Bei diesem Nachdenken muß es um die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West gehen.
Danke.
Nun hat die Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obwohl die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern im Vormonat leicht und die
Kurzarbeit deutlich zurückgegangen sind, ist dies bedauerlicherweise kein Grund, vorzeitig Entwarnung für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern zu geben. Dies gilt auch, wenn man berücksichtigt, daß auf Grund der Regelungen im Renten-Überleitungsgesetz weitere 200 000 Arbeitnehmer vorzeitig aus dem Arbeitsleben bzw. der Arbeitslosigkeit ausscheiden konnten.
Angesichts des jetzt wahrnehmbaren Wandels der Wirtschafts- und Sozialstruktur in den neuen Bundesländern ist zu überlegen, welche arbeitsmarktpolitischen Instrumente zum Einsatz kommen sollen. Die Verlängerung der Geltungsdauer der besonderen Kurzarbeitergeldregelung lehnen wir ab, weil diese den Umstellungsprozeß in den Betrieben eher gehemmt als gefördert hat. In dieser schwierigen Situation halten wir als FDP es aber für geboten und richtig, die Geltungsdauer der Altersübergangsgeldregelung zu verlängern,
wofür sich der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm dankenswerterweise eingesetzt hat.
50 000 Arbeitnehmer ab 55 Jahren können von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Man muß sich dabei aber im klaren sein, daß diese Maßnahmen durchaus zweischneidig sind: Einerseits können sie älteren Arbeitnehmern das Schicksal der Arbeitslosigkeit ersparen. Andererseits wird mit Sicherheit der Druck verstärkt, vorzeitig aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. So frage ich: Ist es wirklich menschlicher, Arbeitnehmer, die vielfach große fachliche Erfahrungen haben und einsatzfreudig sind, generell nur auf Grund ihres Alters in Rente zu schicken?
Meine Damen und Herren, das ist ein Alter, in dem wir hier alle noch sehr wesentlich mitarbeiten. Und wir schlagen für diesen Personenkreis so etwas vor. Alles in allem denken wir hier aber in erster Linie an den Arbeitsmarkt, der eine Entlastung erfährt.
Eine solche Maßnahme entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, selbstkritisch Bilanz zu ziehen über alle bereits getroffenen Maßnahmen — seien sie arbeitsmarktpolitischer, seien sie wirtschaftlicher Natur — mit dem Ziel, in Zukunft regional abgestimmte, flexible Verbesserungen vorschlagen zu können.
Was nun den Vorschlag des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN betrifft, bekräftige ich für die FDP, daß wir eine Grundsicherung in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung ablehnen.
Wir können jetzt keine längere ordnungspolitische Debatte führen. Deswegen nur kurz folgendes: Die Arbeitslosenversicherung ist eine beitrags- und leistungsbezogene Versicherung und soll es bleiben.
5750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Gisela Babel
Für die Absicherung des darüber hinaus Notwendigen bestehen in unserem Rechtssystem Ansprüche an die Sozialhilfe. An diesen tragenden Säulen unseres sozialen Systems in beiden Teilen Deutschlands wollen wir nicht rütteln.
Vielen Dank.
Nun hat der Abgeordnete Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben alle die große Chance, vor dem Weihnachtsfest — wer möchte das nicht in einer so geschenkfreudig und wohltätig gestimmten Zeit? — noch ein gutes Werk zu vollbringen. Ich nehme an, deswegen sind Sie auch alle so zahlreich im Plenum erschienen. Wir haben, damit das ein richtiges Weihnachtspaket wird, dem Vorschlag der SPD zur Verlängerung des Altersübergangsgeldes einen weiteren Vorschlag zur Verlängerung der Sozialzuschlagsregelung bei Erwerbslosigkeit hinzugefügt.
Ich sehe durchaus, daß sich die Koalition in der Frage des Altersübergangsgeldes bewegt hat und Sie uns in dieser wichtigen Sache einen halben Schritt auf einem sehr schwierigen Weg entgegenkommen. Ich meine, wenn Sie unserem Vorschlag noch zustimmen, würden wir ein ganzes Stück weiterkommen.
Ich sehe auch, Frau Dr. Babel, Sie haben Schwierigkeiten mit der Frage der Mindestsicherung, obwohl das für uns bisher in den neuen Bundesländern durchaus so etwas wie eine Mindestsicherung war. Ich schlage deswegen vor — um Sie da nicht irgendwie in eine Konfliktsituation zu führen —, die Fragestellung zu teilen, d. h. wir sollten zunächst über Nr. 1 und dann über die Nr. 2 und 3 unseres Antrages abstimmen, die die Mindestsicherung betreffen.
Bisher werden immer noch 138 000 Betroffene von dieser Regelung erfaßt; sie bekommen diesen Sozialzuschlag. Sie werden ihn auch weiterhin erhalten, denn diese Regelung läuft ja zunächst nicht aus. Aber die Antragsberechtigung besteht praktisch ab Januar nächsten Jahres nicht mehr. Hier liegt eine Tücke, weil die Bundesanstalt für Arbeit nicht exakt nennen kann, wer künftig berechtigt sein wird. Dort sind keine Zahlen zu erhalten. Herr Blüm, das ist bedenklich, das ist ein großes Risiko. Entgegengehalten wird dem im Grunde der Anstieg der Einkünfte, d. h. man glaubt, daß diese Regelung gar nicht mehr greift.
Wenn das Risiko wirklich so gering ist, dann bitte ich Sie, dieses Restrisiko zu tragen. Damit entstehen dem Bund sicherlich keine großen Kosten.
Zum anderen bestehen wir darauf, daß diese Regelung dynamisiert wird, denn z. B. beim Mindestniveau der Renten haben wir bisher einen Betrag von 600 DM erreicht, während andererseits immer noch diese Regelung mit 495 DM als Mindestsicherung bestehen bleibt.
Aber diesen Gedanken, wie gesagt, können wir — meine Redezeit ist abgelaufen — durchaus gern ein anderes Mal diskutieren. Im Moment geht es uns allein um diese Frage: Verlängerung des Sozialzuschlages bei Erwerbslosigkeit.
Nun hat der Minister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß so eine friedliche, freundliche Stimmung herrscht.
Wir verlängern das Altersübergangsgeld um ein halbes Jahr. Wir haben es im letzten Jahr schon verbessert, indem wir nicht bei 57 Jahren begonnen, sondern bei 55 Jahren eingesetzt haben. Mit dieser Verlängerung ersparen wir 50 000 Arbeitnehmern, in die Rente ohne den Umweg über Arbeitslosigkeit zu gehen.
Man muß jeden dieser 50 000 vor Augen haben. Vor der Pensionierung noch einmal durch ein Tal der Arbeitslosigkeit gehen zu müssen ist hart. Ich gebe zu, Arbeitslosigkeit ist für Junge und Ältere ein hartes Schicksal. Aber wenn ich vor der Wahl stehe, einem 55jährigen Altersübergangsgeld oder einem 20jährigen Arbeitslosengeld zu zahlen, dann entscheide ich mich dafür, lieber dem 55jährigen Altersübergangsgeld als dem 20jährigen Arbeitslosengeld zu zahlen.
Ich gebe zu, daß ist keine hohe philosophische, ordnungspolitische Überlegung; das ist eine ganz menschliche.
Für die Älteren ist es schwerer, sich umzustellen, und der Druck auf die Jüngeren ist größer, sich dann auf die Wanderschaft zu begeben, wenn sie arbeitslos werden. Es kann doch aber nicht die Lösung der deutschen Einheit sein, daß sich immer mehr Menschen — gerade jüngere — auf die Wanderschaft machen, um im Westen Arbeit zu suchen. Insofern ist das, wie ich glaube, eine sehr praxisnahe Hilfe.
Zur Zeit beziehen 350 000 Arbeitnehmer Altersübergangsgeld; hinzu kommen 50 000. Das sind 400 000. Ebenso sind es 400 000 Menschen die im Vorruhestand sind. Deshalb bitte ich alle, etwas zurückhaltender zu sein, als würden wir bei der Arbeitsmarktpolitik auf der Zuschauerbank sitzen und handlungsunfähig sein. Immerhin haben wir durch die Arbeitsmarktpolitik 2 Millionen Mitbürger in den neuen Bundesländern davor bewahrt, arbeitslos zu werden.
Ich sage noch einmal: Ordnungspolitisch weiß ich viel zu sagen. Ich finde aber, daß Ordnungspolitik abstrakt ist. Ich denke, es ist wichtig, daß wir bei dieser harten Umstellung an die Menschen denken. Jeder möge sich einmal vorstellen, daß weitere 2 Millionen Menschen arbeitslos wären. Welches Klima der Hoffnungslosigkeit würde entstehen? Insofern bauen wir Brücken.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5751
Herr Minister, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner gestatten?
Bitte, immer.
Herr Minister, nach dieser eher freundlichen Beschreibung der Situation insbesondere des Arbeitsmarktes Ost möchte ich Sie fragen, ob Sie sich die Formulierung Ihres Staatssekretärs, des Kollegen Günther, die er gestern anläßlich einer Arbeitgeberversammlung gemacht hat und die „Mir graut vor dem Winter" lautet, so zu eigen machen können? Wenn ja, warum?
Zudem möchte ich Sie fragen, ob ich die Formulierung im Bonner „General-Anzeiger" vom 9. Dezember dieses Jahres, wo es heißt „Da zum Ende des Jahres auch die Kurzarbeitergeldregelung auslaufe, befürchte Blüm einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland", so interpretieren kann, daß Sie, wenn Sie allein Herr des Verfahrens wären, zumindest auch der Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung Ost zugestimmt hätten?
Erstens finde ich alles gut, was unser gemeinsamer Parlamentarischer Staatssekretär Horst Günther sagt.
Zweitens weiß ich — wie alle hier — , daß uns, arbeitsmarktpolitisch gesehen, schwierige Monate bevorstehen. Deshalb handelt die Bundesregierung, um mit voller Kraft diesen Schwierigkeiten entgegenzuwirken.
Das hatte ich gar nicht in meiner Rede vorgesehen, aber jetzt muß ich doch noch sagen: Wir geben im nächsten Jahr, um diesen Schwierigkeiten Herr zu werden, 35 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern aus. Das ist soviel wie 1991 in den alten und neuen Bundesländern zusammen.
Herr Schreiner, ich hatte es nicht vorgesehen, aber jetzt muß ich es doch sagen: Wir erhöhen die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von 5,2 Milliarden DM auf 10 Milliarden DM und für FuU von 7,7 Milliarden DM auf 11 Milliarden DM. Sie sehen, diese Bundesregierung ist nicht passiv, sondern sie arbeitet gegen Hoffnungslosigkeit, sie arbeitet für die Beschäftigung unserer Mitbürger in den neuen Bundesländern.
Richtig ist ebenso, daß Arbeitsmarktpolitik nur flankierend ist. Arbeitsmarktpolitik ist Brückenbau. Aber die schönste Brücke nutzt nichts, wenn sie im Niemandsland endet. Insofern kann die Arbeitsmarktpolitik nicht die Wirtschaftspolitik, kann die Arbeitsmarktpolitik nicht die unternehmerischen Initiativen ersetzen. Insofern kann die Arbeitsmarktpolitik nicht wettmachen, daß 1,2 Millionen unerledigte Restitutionsanträge bei der Treuhand liegen, 500 000 Eigentumsanträge ungeklärt sind.
Deshalb: Schiebt die ganze Last der Beschäftigungspolitik nicht auf die Arbeitsmarktpolitik. Vor Ort müssen Wirtschaftspolitiker, Finanzpolitiker, Unternehmer, wir alle müssen dafür sorgen, daß aus dem Tal, das uns die sozialistische Planwirtschaft hinterlassen hat, bald wieder ein Aufstieg erfolgt, so wie ihn die Soziale Marktwirtschaft auch im Westen geschafft hat.
Die Maßnahmen, die wir heute beschließen, lösen nicht alle Probleme. Es gibt überhaupt kein Patentrezept. Das „Simsalabim" gibt es nur in Märchenbüchern. Es ist ein mühsamer Weg, das Trümmerfeld von 40 Jahren Sozialismus wegzuräumen. Wir brauchen Initiativen.
Ich möchte meinen großen Respekt vor den Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern zum Ausdruck bringen: 900 000 haben sich in diesem Jahr in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen begeben. 900 000 sind nicht auf dem Sofa sitzen geblieben. 400 000 haben nicht gewartet, bis sie Arbeitslosengeld bekommen, sondern sind in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingetreten. Die Zahl von 900 000, die in neun Monaten in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen eingetreten sind, entspräche im Westen einer Zahl von 3 Millionen Arbeitnehmern.
Wir haben eine gigantische Umstrukturierung, und wir haben einen großen Selbstbehauptungswillen der Bürger in den neuen Bundesländern. Ich möchte daher die Gelegenheit dazu nutzen, meinen Respekt vor diesen Bundesbürgern, vor den Arbeitnehmern zum Ausdruck zu bringen. Wir wollen sie bei der schwierigen Umstrukturierung unterstützen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1720. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1792 ab. Hier ist getrennte Abstimmung beantragt, nämlich zuerst eine Abstimmung über die Nr. 1 und dann eine gemeinsame Abstimmung über die Nr. 2 und 3 vorzunehmen.
Wer stimmt für die Nr. 1 des Antrags auf Drucksache 12/1792? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist Nr. 1 abgelehnt.
Ich lasse nun über die Nr. 2 und 3 gemeinsam abstimmen. Wer stimmt für die Nr. 2 und 3 des Antrages auf Drucksache 12/1792? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 12/1823. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer
5752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt
stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis 7 d und die Zusatzpunkte 8 bis 10 auf:
7. Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
— Drucksache 12/1709 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/1796 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hedda Meseke
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
— Drucksachen 12/1651, 12/1796 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hedda Meseke
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 836 02
— Drucksachen 12/1293, 12/1726 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Esters Dr. Christian Neuling
Werner Zywietz
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Sechsundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 12/1147, 12/1742 —
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Fritz Gautier
ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 41 zu Petitionen
— Drucksache 12/1804 —
ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 42 zu Petitionen
— Drucksache 12/1805 — ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 43 zu Petitionen
— Drucksache 12/1806 —
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 a — Gesetz zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 12/1796 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 b — Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1796 unter Nr. 2, den Antrag für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 c — überplanmäßige Ausgabe; Internationale Entwicklungsorganisation. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 7 d — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist hei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Wir stimmen nun noch über die Zusatzpunkte 8 bis 10 — Sammelübersicht 41 zu Petitionen, Sammelübersicht 42 zu Petitionen und Sammelübersicht 43 zu Petitionen — ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit sind die Beschlußempfehlungen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Roth, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Ingomar Hauchler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
GATT-Welthandelssystem: Freier Welthandel zur Sicherung der Leistungskraft der deutschen Wirtschaft, Integration Osteuropas in die Weltwirtschaft und Überwindung des Nord-Süd-Konfliktes
— Drucksachen 12/1330, 12/1745 —
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5753
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Wieczorek, dem ich zu seinem heutigen 51. Geburtstag herzlich gratuliere.
Vielen Dank für die Blumen, Frau Präsidentin.
Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion hat im Oktober dieses Jahres eine Große Anfrage zum Stand der GATT-Verhandlungen in den Bundestag eingebracht, weil wir Besorgnis über die Art und Weise haben, wie die GATT-Gespräche gelaufen sind, und weil wir die Bundesregierung dringend auffordern wollen, zu einem Erfolg bei den GATT-Verhandlungen zu kommen.
Ursprünglich hätten die Verhandlungen ja schon im vorigen Dezember abgeschlossen sein sollen, aber die völlig unrealistische Verhandlungsposition der EG im Agrarbereich hat das verhindert. Die Bundesregierung hat daran Mitschuld getragen durch eine Fehleinschätzung der tatsächlichen Situation in diesem Sektor.
Wir sind inzwischen über ein Jahr hinter dem Zeitplan zurück. Das bedeutet, daß ein weiteres Jahr lang volkswirtschaftliche Kosten durch fehlende weitere Liberalisierung entstanden sind. Vor allem hat es keine Neubelebung des Welthandels gegeben, obwohl diese dringend notwendig wäre. Wir haben einen Rückgang.
Darüber hinaus geht ein Teil der trotz des Stillhalteabkommens weltweit getroffenen protektionistischen Maßnahmen auf das Konto der nicht abgeschlossenen GATT-Verhandlungen. Nach Berechnungen der OECD betrugen die Kosten für handelsverzerrende Subventionen und Transferzahlungen allein im Jahr 1990 die staatliche Summe von 298 Milliarden US-Dollar.
Für uns steht fest, daß die Bundesregierung wesentlich mitverantwortlich dafür war, daß die EG im letzten Jahr eine überzogene und unrealistische Verhandlungsposition gegenüber den USA und der Cairns-Gruppe eingenommen hat. Sie hat damit der exportabhängigen deutschen Wirtschaft geschadet.
Wenn die Verhandlungen in Genf jetzt abgeschlossen werden, ist dennoch danach zu fragen, was als ein Erfolg dieser Verhandlungen bezeichnet werden kann. Die Bundesregierung ist offensichtlich weniger ehrgeizig als wir in der SPD-Fraktion. Das läßt jedenfalls die Antwort auf unsere Anfrage erkennen.
Für die SPD sind folgende Kriterien die Meßlatte für erfolgreiche GATT-Verhandlungen. Erstens. Die Agrarsubventionen in Europa müssen mindestens so weit abgebaut werden, wie es auf dem sogenannten transatlantischen Gipfel am 9. November 1991 vorgeschlagen wurde. Die Bundesregierung ist mit ihren agarpolitischen Leitlinien für eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik deutlich hinter diesem Vorschlag zurückgeblieben. Wir halten das Angebot für unzureichend. Es führt eben nicht — ich betone das — zu einer grundlegenden Beseitigung der strukturellen Überschüsse auf dem europäischen Agrarmarkt. Dem deutschen Steuerzahler werden damit Jahr für Jahr weit überhöhte Zahlungen für die Landwirtschaft und dem Verbraucher zu hohe Preise zugemutet.
Zweitens. Das vereinte Deutschland hat ein besonderes Interesse an wirklichen Liberalisierungsfortschritten. Wenn wir den Aufbauprozeß in Ostdeutschland schaffen wollen, brauchen wir offene Märkte. Für einen schnellen Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist die Stärkung unserer Exportindustrie im Westen und im Osten notwendig. Daß wir im Moment auch im Westen Schwierigkeiten haben, wissen wir.
In den neuen Ländern werden neue Arbeitsplätze und ein Abbau der Arbeitslosigkeit ohne verstärkte Exporte nicht erreichbar sein. Je mehr Liberalisierung in Genf erreicht wird, desto günstiger werden die Auswirkungen für die neuen Bundesländer sein.
Drittens. Von einem Erfolg in Genf kann nur gesprochen werden, wenn die unterschiedlichen Formen des Protektionismus wirklich eingedämmt werden. Das darf sich nicht in verbalen Beteuerungen erschöpfen, sondern muß sich in konkreten Schritten ausdrücken. Das GATT-Sekretariat gibt selber mehr als 800 unterschiedliche Handelsbeschränkungen an. Die Zeche zahlen am Ende meistens die Verbraucher. Wenn es in Genf nicht gelingt, zu meßbaren Fortschritten zu kommen, wie es etwa durch die volle Tarifierung von Importbarrieren und bilateralen Abkommen jedweder Art geplant ist, könnte man ein solches Ergebnis wohl schwerlich als Erfolg bezeichnen. Ich hoffe, wir sind da einer Meinung.
Es ist übrigens auch kein zufälliges Zusammentreffen, wenn gerade jetzt in den USA ungeachtet der laufenden GATT-Runde wieder Importquoten zum Schutz der heimischen Wirtschaft gefordert werden. Es ist sogar zu befürchten, daß der berüchtigte Art. 301 des amerikanischen Handelsgesetzes wieder in Kraft gesetzt wird. Das zeigt sich an Forderungen in den USA, japanische Autos und Elektronikprodukte mit Steuern zu belegen, solange Japan seinen Markt nicht geöffnet hat.
Ich glaube, daß eine solche Renaissance des Festungsdenkens gefährlich ist; aber wir sind als Europäer nicht ganz unschuldig daran. Das Gerede von der „Festung Europa" ist sicherlich unsinnig. Auch die kleinen Fehltritte — Agrarpolitik ist kein kleiner Fehltritt, aber wir haben in anderen Punkten dieses gemacht; ich darf an gewisse Ereignisse in Frankreich mit dem berühmten Zollamt in Poitiers erinnern — sind gerade für unsere amerikanischen Kollegen im amerikanischen Kongreß immer wieder der Anlaß, ihre eigenen protektionistischen Sünden zu rechtfertigen.
Es besteht außerdem die Gefahr, daß der Geschmack daran wächst, zu abgeschotteten Handelszonen zu kommen. Die nordamerikanische Freihandelszone ist nicht frei von diesem Gedanken. Das, was sich im Bereich des asiatisch-pazifischen Raumes, in der
5754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Norbert Wieczorek
APEC vollzieht, sollte uns sehr zu denken geben und uns dazu bringen, einen Erfolg in Genf herbeizuführen.
Viertens. Ein weiteres wichtiges Kriterium, ob die Verhandlungsergebnisse in Genf erfolgreich sind, ist die Frage, wie denn die Integration Ost- und Mitteleuropas und der Sowjetrepubliken in das Welthandelssystem gelingt. Schaffen wir es nicht, hier Liberalisierungsfortschritte und Zugeständnisse auch in den sensiblen Bereichen Agrar, Textil, Stahl und Kohle zu machen, dann wird es sehr schwierig sein, auf diese geänderte Lage zu reagieren. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir die Konsequenzen zu tragen haben, nämlich höhere direkte Hilfsleistungen, politische Instabilität und verstärkter Wanderungsdruck.
Fünftens. Die Entwicklungsländer erwarten, glaube ich, zu Recht, daß sie eine gewisse Bevorzugung im Rahmen des GATT bekommen. Sie brauchen das, bis sie ein Entwicklungsniveau erreicht haben, das sie halbwegs zu gleichwertigen Partnern macht. Aber wenn man jetzt in Genf noch darüber streitet, welche Höhe des Bruttosozialproduktes dafür entscheidend ist, ob man als Entwicklungsland gilt, ist das eigentlich ein sehr bedauerlicher Stand der Verhandlungen.
Noch schlimmer ist, daß die Industrieländer offenbar unwillig sind, durch Öffnung der Märkte, diesen Ländern wirkungsvolle Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Wenn sich die Entwicklungsländer jemals von dieser starken Abhängigkeit auch nur tendenziell befreien sollen, dann brauchen sie offene Märkte für ihre Produkte. Da müssen wir eingreifen. Wenn ich in der Antwort der Bundesregierung lese, daß die Einkommenseinbußen der Entwicklungsländer durch den Protektionismus der Industrieländer in den Bereichen Agrar- und Industriepolitik doppelt so hoch sind wie die jährlichen Zinsbelastungen der Entwicklungsländer auf ihre öffentlichen Auslandsschulden und die zweifache Summe von dem betragen, was sie jährlich an Entwicklungshilfe erhalten, dann frage ich mich: Ist das ein Zustand, den wir länger hinnehmen können? Aber ich frage auch die Bundesregierung, was sie denn gedenkt, dagegen zu tun.
Sechstens. Es muß beim Schutz von Patenten und Urheberrechten zu Verhandlungsergebnissen kommen. Die weltweite Produktpiraterie muß endlich eingedämmt werden. Das führt ja zu protektionistischen Forderungen. Ich denke nicht nur an die asiatischen Schwellenländer, sondern — das ist bedauerlicherweise so — auch an einige osteuropäische Länder, die sich hier — ich sage es einmal vorsichtig — nicht gerade so verhalten, wie man das erwarten könnte. Aber es muß auch erreicht werden, daß die Entwicklungsländer dem zustimmen können. Das heißt Konzessionen bei Agrar und Textil, und es heißt vor allen Dingen, daß die Regeln so gestaltet werden, daß die Entwicklungsländer nicht vom technischen Fortschritt abgeschottet werden.
Was den Abschluß der Uruguay-Runde angeht, habe ich persönlich den Eindruck, daß es klappen könnte, obwohl die Rücktrittsmeldungen von Herrn Dunkel und Herrn Carlisle dies nicht gerade nahelegen. Aber man muß doch schon schauen, ob das Ergebnis nicht mager wird.
Die widersprüchliche Haltung der Bundesregierung auf dem Agrarsektor — ich habe es angesprochen — ist da wenig hilfreich, insbesondere der etwas merkwürdige Streit zwischen dem Wirtschaftsminister, der in diesem Fall unsere Unterstützung hat, und dem Landwirtschaftsminister. Wenn ich in der Pressemitteilung von Herrn Kiechle vom 28. November lese:
Wenn Bundeswirtschaftsminister Möllemann sich zur europäischen Agrarpolitik äußert, handelt es sich bestenfalls um die Auffassungen seiner Partei oder auch nur um seine private Meinung.
dann werde ich doch sehr nachdenklich, was hier denn eigentlich gilt. Ich denke, hier ist der Kanzler gefordert.
Mit Aussitzen ist es in diesem sensiblen Punkt nicht getan, denn die Agrarsubventionen nützen weder den Arbeitnehmern in der Exportwirtschaft, in der Industrie, noch den Verbrauchern, noch den Bauern selber; die nämlich wollen endlich eine klare Zukunftsperspektive haben und wollen nicht weiter etwas vorgemacht bekommen, von dem sie selbst wissen, daß es auf Dauer so nicht weitergeht. Da gibt es auch keinen Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft. Wir wissen doch, daß ein großer Teil der Agrarsubventionen gar nicht bei den bäuerlichen Familienbetrieben landet, von denen wir immer reden, denn 80 % der aufgewandten Finanzmittel entfallen auf nur 20 % der besonders kapitalstarken Betriebe in diesem Bereich.
Daß die Verbraucher viel zu viel für die Nahrungsmittel bezahlen, ist inzwischen auch bekannt. Da werden Zahlen von 19 bis 52 % über dem Niveau genannt, das ohne den Agrarprotektionismus gegeben wäre.
— Ich kann Ihnen nur berichten, was uns die OECD vorrechnet. Sie können sich gerne mit denen auseinandersetzen und brauchen dies nicht mit mir zu tun. Ich nehme nämlich die Zahlen von denen, die das ordentlich rechnen. Das ist dann vielleicht auch für den Agraraussschuß hilfreich.
Hinzugefügt werden muß, daß diese Verwendung der Mittel zunehmend natürlich auch die EG in ihren Maßnahmen behindert. Alles, was wir wollen — Angleichung der Lebensverhältnisse in der EG — , wird dadurch nicht gefördert.
Deswegen komme ich jetzt auf die Kernforderungen, die in unserem Antrag enthalten sind, von dem ich hoffe, daß er Ihre Zustimmung findet:
Da ist erstens die Forderung, daß die strukturellen Überschüsse abgebaut werden — über sie habe ich schon geredet — , daß in den Bereichen Stützung, Außenschutz und Exportsubventionen die Marge von 30 bis 35 % Abbau erreicht wird, daß freilich aber auch insbesondere die landwirtschaftlichen Familienbe-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5755
Dr. Norbert Wieczorek
triebe ihre Einkommensausfälle entsprechend erstattet bekommen, denn wir wollen ja, daß genau die ihre Tätigkeit fortführen können.
Zweitens. Die Industrieländer USA, Japan und Europa müssen ihre Märkte für Exporte aus den Ländern Ost- und Mitteleuropas öffnen; sonst können wir den politischen und den wirtschaftlichen Reformprozeß nur mit Worten, aber nicht faktisch unterstützen. Deshalb müssen wir uns öffnen, auch wenn uns das in manchen Bereichen schwerfällt.
Drittens müssen bei den GATT-Verhandlungen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß die Entwicklungsländer einen gerechteren Anteil am Welthandel bekommen. Das gilt insbesondere auch für den nichttarifären Bereich, nicht nur bei der Reduktion von Zöllen.
Viertens müssen im weltweiten Handelsverkehr endlich auch soziale Mindeststandards verankert werden; sonst ist es wiederum unserer Arbeitsbevölkerung kaum beizubringen, daß sie dann sozusagen unter einem Sozialdumping zu leiden hat. Aber das kann nur gemacht werden, wenn auf der anderen Seite den Entwicklungsländern eine entsprechende Perspektive geboten wird.
Fünftens muß dem komplexen Zusammenhang zwischen Umwelt und Handel Rechnung getragen werden. Da gibt es zwei Seiten. Das eine ist das, was wir heute als „grünen Protektionismus" bezeichnen: daß eben Umweltbestimmungen genutzt werden, um nichttarifäre Handelshemmnisse aufzubauen. Andererseits ist aber auch klar, daß Umweltsünden nicht zu Exportvorteilen führen dürfen. Hier muß ein entsprechendes Regelwerk geschaffen werden. Wenn das jetzt nicht mehr ganz gelingt, ist das die Aufgabe für die nächste Runde, die nach dem Abschluß dieser Runde hoffentlich folgt.
Ferner muß sich Europa auch noch dazu verpflichten, seine eigenen protektionistischen Hürden abzubauen. Das Abkommen mit Japan über die Automobilimporte war nicht gerade eine Glanzleistung für den liberalen Welthandel, und die Forderungen, die da insbesondere von unserem westlichen Nachbarn gekommen sind, haben wenig geholfen.
Der letzte Punkt ist: Das GATT muß endlich eine Institution mit Zähnen werden. Die Unverbindlichkeit bisheriger GATT-Prozesse hilft uns nicht. Die Triade Weltbank, Währungsfonds und GATT muß endlich so ausgestaltet werden, wie das in Bretton Woods nach dem Krieg einmal geplant war.
Ich danke Ihnen.
Als nächstes hat unser Kollege Peter Kittelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorgestern sind die Verhandlungen von Maastricht zu Ende gegangen. — Ein wichtiges Datum auf dem Weg zum gemeinsamen Europa. Wir werden morgen Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren.
Die Aussicht auf eine gemeinsame europäische Währung 1999 und eine unabhängige Europäische Zentralbank sind großartige Erfolge, die vor allen Dingen auf der konsequenten und beharrlichen Politik der Bundesrepublik beruhen. Dafür sage ich den anwesenden Herrn Staatssekretären — stellvertretend für die ganze Regierung — herzlichen Dank.
Auch in Maastricht wurde über GATT gesprochen. Der Europäische Rat hat in diesem Zusammenhang seine Entschlossenheit bekräftigt, bis Jahresende zu einem substantiellen und ausreichenden Gesamtpaket zu gelangen. Die CDU/CSU unterstützt ganz klar das, was der Rat in Maastricht beschlossen hat. Nur, jetzt hoffe ich auch, daß die EG die Kraft aufbringt, das, was sie beschlossen hat, dann auch in der Uruguay-Runde umzusetzen.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor einem wichtigen Datum. Beim EG-Gipfel, und zwar meistens im Wirtschaftsteil, wurde sehr häufig auf die Wichtigkeit dieses Datums hingewiesen. Wie wichtig der Erfolg dieser Runde ist, das können auch wir hier gar nicht häufig genug gemeinsam betonen. GATT entscheidet nicht nur über die Zukunft der Weltwirtschaft, sondern auch über den Umgang der großen Handelsmächte untereinander und über ihr Verhalten gegenüber der Dritten Welt.
Europa und seine Europäische Gemeinschaft haben ja eine unverhältnismäßig große Verantwortung zu tragen, deren sie sich bewußt sein müssen. Es gibt aus diesem Grunde zwei Dinge zu berücksichtigen. Zum einen suchen wir nach nationalen Problemlösungen — die deutsche Seite verhandelt mit eigenen Ansprüchen im GATT —, zum anderen aber muß Brüssel dafür Sorge tragen, daß Europa geschlossen mit einer Zunge spricht.
Im Zusammenhang mit den immer wieder blockierten und gescheiterten oder verschobenen GATT-Verhandlungen wurde häufig von einem „Endspurt" gesprochen, so auch jetzt wieder. Meine Damen und Herren, wir müssen diesen Endspurt diesmal ernster nehmen als all die anderen vorangegangenen. Ich zweifle daran, ob die Amerikaner, wenn GATT scheitert, noch einmal bereit sein werden, ihren Kongreß zu überreden, eine weitere GATT-Runde zu machen.
Dies würde heißen, daß es auf vielen Sektoren für uns erhebliche Nachteile gibt. Was steht an? Es gibt noch strittige Fragen auf dem Agrarsektor, auf dem Textilsektor, im Bereich des Marktzugangs, im Dienstleistungsbereich und beim Schutz geistigen Eigentums. All dies bedarf konsenshafter Klärung.
Im Moment stehen die Zeichen nicht schlecht. GATT-Direktor Dunkel hat angekündigt, daß auf allen Verhandlungsgebieten Verhandlungstexte vorliegen. Vor allen Dingen in den Bereichen Antidumping, Agrarsektor, Investitionsschutz und Zahlungsbilanzprobleme muß man jetzt zu Ergebnissen kommen. Ermutigend sind auch die Signale aus den Vereinig-
5756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Peter Kittelmann
ten Staaten. Die US-Handelsbeauftragte, die harte Dame Carla Hills, hat sich erstmals optimistisch im Hinblick auf den Abschluß der GATT-Runde geäußert.
— Sie reden zu viel von der Landwirtschaft, es gibt auch noch andere Probleme.
Es besteht mittlerweile Übereinstimmung, daß ein multilateraler liberalisierter Handel erheblich größere Potentiale aufbringen kann als nur bilaterale und regionale Handelsabkommen.
Meine Damen und Herren, über einhundert Nationen vertreten 90 % des gesamten Welthandels, und immer mehr Länder erkennen das GATT als das integrative Instrument für die Weltwirtschaft an. Tatsächlich ist das GATT auch eine Institution, die sehr unterschiedlich entwickelte Volkswirtschaften in sich vereint. Damit lastet auf den GATT-Verhandlungspartnern auch eine erhebliche Bürde der Verantwortung.
Meine Damen und Herren, wir alle müssen davon ausgehen, daß diese Verantwortung auch für die mittel- und osteuropäischen Länder und für die Entwicklungsländer gilt. So wie wir Mittel- und Osteuropa rasch in einen offenen und freien Welthandel mit seinem marktorientierten Organismus eingliedern müssen, brauchen die Entwicklungsländer ihre Absatzmärkte bei uns. Insofern stimmen wir mit dem überein, Herr Wieczorek, was Sie ausgeführt haben. Jegliche Form von Protektionismus — ich betone: jegliche Form — gilt im Prinzip als unverantwortlich und muß deshalb auch als unverantwortbar abgelehnt werden.
Meine Damen und Herren, daneben geht es bei den Verhandlungen aber auch um die Durchführung von Festschreibungen, die wir schon im Vorfeld hinter uns gebracht haben, nämlich im Bereich des Abbaus von Zöllen. Was wir diesmal in Genf brauchen, ist eine Verabschiedung des Gesamtpaketes von Verhandlungsergebnissen. Dazu gehört es übrigens auch, nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die CDU/CSU die Bundesregierung auffordert, alles zu tun, um auch Taiwan im GATT zu berücksichtigen. Wir können es nicht länger hinnehmen, daß hier ausgerechnet China der Verhinderungspartner ist. China hat in der letzten Zeit gezeigt, was es von der Achtung von Menschenrechten hält. China, das noch nicht einmal Vollmitglied im GATT ist, sollte in dieser Frage Zurückhaltung üben.
Ich darf abschließend sagen: Wir müssen daran interessiert sein, das weltweite GATT-System zu stärken und Handelskonflikte zu vermeiden. Insofern zeigt auch diese handelspolitische Konferenz, daß Wirtschaftspolitik auch immer friedenssichernde Politik ist. Wirtschaftliche Verflechtung fördert friedliche Zusammenarbeit und sichert langfristig das friedliche Miteinander der Staaten.
Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung deshalb wiederum auf, alles Erforderliche zu tun, die GATT-Runde abzuschließen. Mehr als andere sind wir auch aus innenpolitischen Gründen auf einen erfolgreichen Ausgang angewiesen. Denn, wie schon betont, jeder dritte Arbeitsplatz bei uns hängt vom Export ab. Dennoch: Wir sind nicht nur eine Exportnation. Wir müssen daher den schwierigen Balanceweg zwischen exportorientierter Politik und landwirtschaftlichen Interessen beschreiten. Die außenpolitische Dimension des GATT ist gewaltig. Wir wünschen der Bundesregierung die notwendige glückliche Hand bei der Lösung dieser Probleme.
Schönen Dank.
Als nächste hat die Kollegin Brigitte Adler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zielrichtung des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT ist doch die, daß wir prinzipiell ein offenes, berechenbares und beständiges Welthandelssystem entwickeln müssen. Ein System, das die derzeitige Zunahme von Handelsverzerrungen und Protektionismus stoppt und die wirtschaftlichen Größen Wachstum und Entwicklung wieder ins rechte Lot bringt. Noch haben es die GATT-Vertragsparteien in der Hand, erste Akzente für ein Handelssystem zu setzen, das den wirklichen Herausforderungen dieser Welt gerecht wird: Beendigung der Handelskonflikte, Berücksichtigung des NordSüd-Konfliktes, Integration Osteuropas in die Weltwirtschaft und Einbeziehung der globalen Umweltproblematik.
Angesichts dieser großen Aufgaben erscheint mir der GATT-Verhandlungsablauf häufig nur wie ein Pokerspiel um Absatzmärkte.
Jeder erhofft für sich — sprich: sein Land — Vorteile. Dies ist zwar legitim; nicht in Ordnung aber ist, wenn Industrieländer ihre Interessen angesichts ihrer wirtschaftlichen Übermacht gegen die Entwicklungsländer durchsetzen. Nicht in Ordnung ist, wenn kurzfristige ökonomische Überlegungen mehr Realisierungschancen bekommen als langfristige Entwicklungspläne, die die globalen Probleme unserer Welt angehen.
Es geht grundsätzlich darum, daß unsere Interessen in ausgewogener Form mit den Interessen anderer Länder verknüpft werden. Was dies mit GATT zu tun hat, werden sich einige fragen. Die Konsequenzen, die aus dem derzeitigen Weltwirtschaftssystem für die Entwicklungsländer resultieren, machen deutlich, daß die Entwicklungsländer durch den Agrar- und Industrieprotektionismus nach Schätzung der Weltbank Einkommenseinbußen erleiden, die zweimal so hoch sind wie die offizielle jährliche Entwicklungshilfe.
Kamen in den 70er Jahren noch mehr als 30 % der weltweiten Agrarexporte aus Entwicklungsländern,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5757
Brigitte Adler
so fiel ihr Anteil in den 80er Jahren auf 27 % zurück. In der gleichen Zeit aber hat sich die EG vom Zucker- und Getreideimporteur zum weltweit größten Agrarexporteur mit einem Anteil von 38 % am Welthandel 1987 hochsubventioniert.
Eine weitere, für die Entwicklungsländer tragische und nicht zu beeinflussende Tatsache ist die anhaltende Verschlechterung der Terms of Trade. Dies trifft gerade Entwicklungsländer, die mit einseitigen Exportstrukturen fertig werden müssen. So gibt es beispielsweise in Afrika elf Länder, die ihre Exporterlöse zu 100 % aus Rohstoffen beziehen. Dadurch entsteht eine gefährliche Abhängigkeit von den Rohstoffpreisen, und die sinken aus verschiedenen Gründen weiter stetig ab.
Davon profitieren wiederum die Industrieländer. Die Bundesrepublik kann 1990 im Vergleich ihrer Terms of Trade mit den Entwicklungsländern seit 1985 einen volkswirtschaftlichen Gewinn in Höhe von 10 Milliarden DM verbuchen. So zahlen die Bundesbürger für ihren Kaffeekonsum 1990 2,6 Milliarden DM weniger als 1985.
Wenn man zu dieser Situation die Schuldenlast vieler Entwicklungsländer hinzuzählt, erscheint die Lage katastrophal. Einige Länder, z. B. Tansania und Bangladesch, müssen jährlich das Siebenfache ihrer Exporterlöse für ihren Schuldendienst aufbringen. An diese Fakten sei erinnert. Das ist nötig, damit man erkennt, wie wenig Spielraum viele Entwicklungsländer in ihrer wirtschaftlichen Entfaltung haben. Gleiches gilt tendenziell für die Reformländer Osteuropas. Weil dies so ist, muß ein Abschlußpaket der UruguayRunde diese Tatsachen berücksichtigen.
Bei den Verhandlungen ist die Neuausrichtung des Weltagrarmarktes von den Agrarindustriestaaten zum entscheidenden Faktor gemacht worden. Händeringend wird nach einer Kompromißformel gesucht. Dabei verteidigen insbesondere die EG und die USA ihre Handelsanteile. Angesichts der geringen welthandelspolitischen Bedeutung des Agrarsektors für die Industriestaaten erscheint dies unerklärlich; denn es steht fest, daß nur eine Öffnung der Märkte für Agrarprodukte mithelfen kann, dauerhafte Entwicklungsprozesse für die Entwicklungsländer und die neuen Demokratien im Osten einzuleiten. Nur mit diesen Produkten können sie wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt auftreten. Wer politische Stabilisierung will und gleichzeitig entwicklungspolitische Verantwortung trägt, muß dies berücksichtigen.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Die Bedeutung der Landwirtschaft in der EG kann nicht nur an ihrem Welthandelsanteil gemessen werden. Zu einem Interessenausgleich gehört in diesem Zusammenhang auch, daß die europäische Landwirtschaft weiterhin ausgewogener Schutzmechanismen bedarf; denn ohne sie kann die Lebensfähigkeit der ländlichen Räume nicht gewährleistet werden. Anderenfalls kämen uns die sozial- und regionalpolitischen Auswirkungen teuer zu stehen.
Aber wir müssen weg von unseren strukturellen Überschüssen und hin zu einer flächendeckenden extensiven Landwirtschaft. Dies entlastet die Weltmärkte und bringt gleichzeitig Exportspielraum für die Länder, die nichts anderes als Agrarprodukte anzubieten haben.
Die Reformvorschläge von MacSharry zielen in Richtung Überschußabbau durch Annäherung an die Weltmarktpreise und produktionsneutrale Einkommensübertragungen. Sinnvoller wäre es, wenn MacSharry Einkommensübertragungen an eine umweltverträgliche Landwirtschaft gekoppelt hätte. Diese Form der internen Stützung wäre dann in die sogenannte „green box" einzuordnen.
Wenn eine ausgewogene Öffnung der Agrarmärkte gefordert wird, so bedeutet das nicht, daß damit alles getan ist. Ich habe es schon erwähnt: Die Rohstoffpreise zeigen einen allmählichen Abwärtstrend. Für die reinen Agrarexportländer in der Dritten Welt und im Osten bedeutet dies, daß es mittel- bis langfristig unbedingt zu einer Diversifizierung der Exportstrukturen kommen muß. Dieser Prozeß kann allerdings beim jetzigen chronischen Kapital- und Technologiedefizit gerade der Entwicklungsländer nur sehr schwer eingeleitet werden.
Deshalb müssen bei den GATT-Regelungen in den neuen Verhandlungsbereichen Dienstleistungen, Schutz des geistigen Eigentums und handelsbezogene Investitionsmaßnahmen unbedingt die entwicklungspolitischen Interessen berücksichtigt werden.
Diese Aspekte sind bislang unverantwortlicherweise von der Agrarfrage in den Hintergrund gedrängt worden, obwohl hier prosperierende Zukunftsmärkte geregelt werden sollen. Einerseits brauchen die Entwicklungsländer Technologien; andererseits befürchten sie, daß sie in die Abhängigkeit von ausländischen Anbietern geraten könnten. Auch haben sie in der Vergangenheit häufig genug die Erfahrung gemacht, daß wirtschaftliches Engagement von ausländischen Unternehmen an den Interessen der breiten Bevölkerung vorbeigeht.
Hier treten eine ganze Reihe von Fragen auf: Inwieweit können unternehmerische Aktivitäten in Entwicklungsländern reglementiert werden? Könnten solche Reglements möglicherweise das Investitionsklima trüben, was ja nicht im Interesse der Entwicklungsländer läge? Diese Probleme müssen im GATT mit dem Ziel Berücksichtigung finden, daß es durch vertrauensschaffende Vereinbarungen zu mehr Kooperation zwischen souveränen Entwicklungsländern und souveränen Unternehmen kommt.
Mit dem jetzigen Schlußpaket müssen sie Voraussetzungen dafür offengehalten werden, um das GATT in einer neuen Verhandlungsrunde weiterzuentwikkeln. Dazu gehört, daß wir im Welthandel sanktionsfähige ökologische und soziale Mindeststandards einführen. Wir müssen den Mut haben, die engen Verflechtungen zwischen Weltwirtschaft und wirtschaftlicher Entwicklung, globalen ökologischen Bedrohungen und sozialen Mißständen offen auszusprechen. Nur so schaffen wir den Ansatzpunkt für ganz-
5758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Brigitte Adler
heitliche Lösungen, auch wenn dies von uns verlangt, ein bißchen von unserem Überfluß abzugeben.
Nun hat der Kollege Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich das ganze vorige Jahr über darum bemüht, in einer internationalen Gruppe gewissermaßen Lobbyismus für den erfolgreichen Abschluß der UruguayRunde zu betreiben. Das ist im Dezember vorigen Jahres in Brüssel danebengegangen. Es ist jetzt wirklich die letzte Gelegenheit, zum Erfolg zu kommen.
Es gibt ja selten Gelegenheiten, die Opposition zu loben. Aber wenn es eine gibt, dann freut man sich. Die Große Anfrage zum GATT-Welthandelssystem ist ein solcher Anlaß.
Die Regierung hat sich sehr beeilt, sie umfangreich zu beantworten. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister für seinen Anteil daran. Das können Sie ihm bitte weitergeben. Der Dank gilt nicht nur den beiden Herren, die zufällig auf der Regierungsbank sitzen, sondern auch und vor allem dem, den es angeht.
Ich stimme der Opposition nachhaltig zu, wenn sie in ihrer Anfrage festhält, daß der freie Welthandel erhalten und ausgebaut werden muß, damit die deutsche Wirtschaft ihre Leistungskraft erhalten und verbessern kann. Das GATT ist der zentrale Pfeiler eines freien Welthandelssystems. Es hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg seinen friedens- und wohlstandsstiftenden Nutzen unter Beweis gestellt.
Wer es nicht glauben will, kann sich die andere Seite der Münze ansehen. Die schlimmen Entwicklungen der dreißiger Jahre, in denen sich die Länder der Welt gegenseitig handelspolitisch abschotteten, haben zu katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen geführt. Sie sind ebenso ein Beweis für die Richtigkeit meiner These wie der wirtschaftliche Zusammenbruch der östlichen Planwirtschaften. Offene Gesellschaften sind geschlossenen Gesellschaften überlegen. Das Prinzip gilt generell. Es gilt in besonderem Maße für den Bereich des internationalen Warenaustauschs.
Ich bin auch mit Herrn Kittelmann einverstanden, daß Taiwan ins GATT gehört. Taiwan hat heute die zweitgrößten Währungsreserven der Welt; es ist eine Wirtschaftsmacht geworden. Ich will aber hinzufügen: Die Mitgliedschaft im GATT, die ich befürworte, ist nicht mit der Befürwortung der Belieferung mit Fregatten und ähnlichen schönen Dingen für Taiwan gleichzusetzen; das ist vielleicht nicht so notwendig.
Leider hat man ja an Dubrovnik gesehen, was man mit Fregatten alles anstellen kann.
In der Antwort auf die Anfrage wird zu Recht herausgehoben, daß es für die so stark mit dem Ausland verflochtene Bundesrepublik ein essentielles Anliegen ist, die Uruguay-Runde zum Erfolg zu führen. Nach den Angaben der Bundesregierung sind rund 6 Millionen Erwerbstätige direkt oder indirekt vom Export abhängig; das sind rund 22 % der Gesamtzahl der Erwerbstätigen. Vor solchen Zahlen erscheint jede von spezifischen Interessen geleitete Forderung nach Marktabschottung unverantwortlich und kleinkariert.
Das gleiche gilt für gezielte, sektorbezogene Industriepolitik, die darauf gerichtet ist, ausländische Handelspartner im Wettbewerb auszustechen. Ich weiß, daß einige Länder diese Art der Politik zum eigenen Vorteil nutzen.
Aber die Antwort darauf kann nicht sein, mit gleicher Münze heimzuzahlen und dabei die Erosion des GATT zu beschleunigen. Die Antwort muß sein, Lösungen im Rahmen des GATT zu finden, die solche Handelspartner zwingen, sich den Prinzipien eines offenen Welthandelssystems zu beugen. Deshalb ist es erforderlich, daß das GATT jetzt gestärkt wird, um ein schlagkräftiges Instrumentarium in die Hand zu bekommen. Das Streitschlichtungsverfahren des GATT muß durch Sanktionsmechanismen ergänzt werden.
Geht man die Anfrage der SPD durch, wird einem vieles geboten, von der Landwirtschaft bis zu den institutionellen Reformen des GATT, von den Entwicklungsländern bis zu den ökologischen Problemen des internationalen Handels. Eine Frage allerdings an die SPD: Haben Sie die Reformländer Mittel- und Osteuropas bewußt zurückgedrängt? Oder was ist der Grund dafür, daß den Entwicklungsländern ein umfangreiches Kapitel gewidmet wurde, den Reformländern Osteuropas einschließlich der Sowjetrepubliken aber nur kursorisch in der Überschrift, in der Vorbemerkung und nur in einer Frage Rechnung getragen wird?
Ich bin sehr für die ausführliche Behandlung der Entwicklungsländer. Der Spruch „Wir leben alle auf einer Erde, aber in zwei Welten" sollte wirklich bald überwunden werden. Es ist ganz wichtig, daß sich die Entwicklungsländer zum erstenmal an einer GATT-Runde aktiv beteiligen. Schon deswegen wäre es schlimm, wenn sie kaputtgehen würde, wenn sie verfallen würde.
Nur, verehrte Frau Adler, die Beispiele Tansania und Nigeria, die Sie gewählt haben — Sambia können Sie noch hinzutun — , sind allerdings durch den dort praktizierten Sozialismus ihrer Anführer ruiniert worden, nicht so sehr durch das Welthandelssystem.
— Ich kann nur Fragen beantworten, wenn sie nicht auf meine Redezeit angerechnet werden.
Es wird nicht angerechnet, Graf Lambsdorff.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5759
Danke schön, Frau Präsidentin. Dann bin ich gerne dazu bereit.
Dann Kollege Hauchler, bitte.
Herr Kollege, wie verträgt sich Ihr erfreuliches Bekenntnis zum freien Handel mit der Tatsache, daß im Wirtschaftsministerium ernsthaft darüber nachgedacht wird, Subventionen in Hundertmillionenhöhe für Exportförderung auszugeben? Schadet das nicht unserer Position und unserer Glaubwürdigkeit bei den GATT-Verhandlungen? Ich meine die Subventionen für China.
Erstens kann ich Ihnen einen generellen Nachdenkprozeß dieser Art und Güte nicht bestätigen. Sollte es so sein, würde ich — ich bin aber nicht Wirtschaftsminister — das Nachdenken abzustellen versuchen.
Zweitens. Was China anlangt, kann man erst einmal darüber streiten, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Chinesen „soft loans", also verbilligte Kredite, zu geben. Aber daß Sie heute kein einziges Schiff in der Welt ohne eine gemischte Finanzierung, also auch einen Teil „soft loans" , ob nach China, nach Indonesien, nach Australien oder sonstwohin, verkaufen können, das weiß jeder. Sonst werden Sie nämlich nichts mehr los, und dann können Sie die deutschen Werften allesamt zumachen.
Graf Lambsdorff, es scheint, daß der Kollege Hauchler noch eine Frage stellen will. Lassen Sie auch diese zu?
Bitte sehr, wenn mir die Zeit dazu gegeben wird.
Freilich, freilich.
Meine Frage war, ob es unsere Position und unsere Glaubwürdigkeit nicht schwächt, wenn wir in dieser Höhe „soft loans" als Exportsubventionen in einer Zeit geben, in der wir als Deutsche, interessiert an einem freien Welthandel, praktisch eine Freihandelsposition vertreten.
Nein. Ich glaube das deswegen nicht, weil es international — mindestens auf EG-Basis — eine Vereinbarung über die Höhe der Subventionierung von Schiffsexporten gibt. Mir wäre es lieber, sie würde überhaupt nicht stattfinden, und wir würden alle samt und sonders auf diese Subventionen verzichten. Aber wenn alle anderen Subventionen zahlen, dann — das muß ich im Interesse der deutschen Werften schon sagen — können wir uns davon leider — das unterstreiche ich — nicht vollständig ausschließen.
Meine Damen und Herren, ich halte es für zentral, daß wir dem Aspekt der Integration der Reformländer Mittel- und Osteuropas mehr Aufmerksamkeit widmen, als es in der Anfrage geschieht. Ich brauche mich hier nicht über die Gefahren eines Scheiterns der Reformen in diesen Ländern zu verbreiten. Jeder kennt das. Es ist erheblich in unserem eigenen Interesse, daß wir alles dafür tun, auch diesen Ländern unsere Märkte zu öffnen, und daß diese Länder in die Staatengemeinschaft des freien Westens aufgenommen werden. Dazu ist das GATT ein wichtiges Instrument.
Die Agrarpolitik — das ist erwähnt worden — ist im Rahmen der GATT-Runde ein sensibles Thema. Betroffen ist vor allem die EG, aber nicht sie allein. Auch die USA und Japan müssen sich bewegen. Die GATT-Runde darf an den Fragen der Agrarpolitik nicht scheitern. Umgekehrt gilt aber auch: Die Bauern dürfen nicht das Opfer der GATT-Runde werden.
Es ist unbestritten: Reformen sind in der EG unausweichlich. Die zugespitzte Überschußlage auf den Hauptagrarmärkten, die sehr hohen Haushaltsbelastungen national wie auch in der Gemeinschaft und die sinkenden Einkommen zwingen doch dazu. Deshalb hat die Bundesregierung mit ihrer Kabinettsentscheidung am 9. Oktober richtigerweise einen engen Zusammenhang zwischen den Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik und den GATT-Verhandlungen hergestellt.
Die Beseitigung der Überschüsse soll durch ein ausgewogenes und wirksames Bündel von Maßnahmen der Mengen- und Preissteuerung gegen Einkommensausgleich erreicht werden, und ein ausreichender Außenschutz ist zu gewährleisten. Dies bietet allen die Chance, in den Jahren des Übergangs zu den notwendigen strukturellen Anpassungen zu kommen. Daß auch die Amerikaner zeitweilig überzogene Forderungen auf diesem Gebiet, was den Zeitablauf anlangt, gestellt haben, das weiß ja jeder.
Das GATT ist im Übergang, entweder im Übergang zu einem neuen, verbesserten Welthandelssystem, basierend auf den Prinzipien der offenen Märkte, der Meistbegünstigung und der Multilateralität, oder im Übergang zur Bedeutungslosigkeit.
In Genf wird jetzt über die Regeln verhandelt, nach denen sich in Zukunft der weltweite Warenaustausch vollziehen wird. Die Alternative des Scheiterns besteht deshalb praktisch nicht. Ein Scheitern bedeutete, daß die protektionistischen Kräfte in der Welt gestärkt würden, nicht nur in Amerika — Super 301 ist ein richtiges Beispiel —, wo sie besonders stark sind, sondern auch in anderen Ländern, daß Unilateralismus, Bilateralismus und Blockbildung weiter um sich griffen, daß der Handel noch weiter als bisher politisiert würde und daß die handelspolitische Konfrontation zunähme. Der jetzt überwundene Kalte Krieg darf ja wohl nicht durch einen Handelskrieg ersetzt werden.
Ein Scheitern der Uruguay-Runde hätte Verarmung und wirtschaftlichen Niedergang vieler Länder, vor allem der Dritten Welt, zur Folge. Es ist nicht erkennbar — um dies erneut zu betonen — , wie die Reformprozesse in Osteuropa zum Erfolg geführt werden können. Zu Recht wird deshalb auf allen großen internationalen Treffen die Bedeutung der GATT-Runde
5760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Otto Graf Lambsdorff
betont; Herr Kittelmann hat den Gipfel in Maastricht erwähnt.
Jetzt ist vor allem Kompromißbereitschaft gefordert und keine Taktiererei. Es ist wirklich keine Zeit mehr. Wenn wir in den amerikanischen Wahlkampf hineinlaufen, dann wird die GATT-Runde, die UruguayRunde, keinen Erfolg mehr haben können.
Die Experten haben in der Vergangenheit gute Arbeit geleistet. Sie sind in großen Teilen zu positiven Ergebnissen gekommen. Man soll das nicht kleinschreiben; es ist schon eine Menge erreicht worden. Aber sie können die vielfältigen politischen Interessenlagen nicht aufweichen oder aufbrechen. Jetzt sind politische Entscheidungen geboten: Es ist geboten, daß die drei großen wichtigen Handelsblöcke — die EG, die USA und Japan — aufeinander zugehen, und zwar im Agrarbereich, bei Dienstleistungen, bei geistigem Eigentum, bei Investitionen und bei Streitschlichtungen — um die Hauptpunkte zu nennen.
Die GATT-Runde muß auch deshalb zum Abschluß kommen, damit weiterführende wichtige Themen endlich aufgegriffen werden können. Einige davon sprechen Sie von der Opposition in der Anfrage an: die institutionelle Reform des GATT, die Fragen von Währungspolitik und Handel oder die Fragen von Handelspolitik und Umwelt.
Ein wichtiges, wie ich finde, sehr wichtiges Thema fehlt, und zwar das Thema Handel und Wettbewerb. Diese Problematik erlangt angesichts der wachsenden Neigung großer Unternehmen, mittels Kooperationen und strategischer Allianzen den internationalen Wettbewerb zu beschränken, immer höhere Aktualität.
Dasselbe gilt angesichts der immer wieder zu beobachtenden Neigungen zu sektoralen industriepolitischen Aktivitäten, zu denen Sie allerdings eine bestimmte Affinität haben, verehrter Herr Wieczorek. Eine funktionsfähige Marktwirtschaft setzt Wettbewerb und dessen Überwachung voraus.
— Das ist ja richtig; mit Ihnen kann ich mich auch eher einigen als mit manchem anderen bei Ihnen; das wissen Sie auch. — Ich hoffe, diese Bemerkung schadet Ihnen nicht.
Ich habe sie nicht boshaft gemeint.
Ist dieser Wettbewerb nicht gewährleistet, dann bilden sich Kartelle und Monopole mit allen damit zusammenhängenden negativen Folgen.
Das freie Welthandelssystem bedarf deshalb der wettbewerbspolitischen Ergänzung. Ich weiß sehr wohl, daß damit sehr komplizierte und schwierige
Fragen aufgeworfen sind, nicht zuletzt die Problematik des Souveränitätsanspruchs der einzelnen Staaten. Ich halte es doch für notwendig, daß dieses Thema aufgegriffen wird, gerade angesichts der Umwälzungen in Osteuropa und angesichts der Tatsache, daß sich immer mehr Entwicklungsländer von der Politik des punktuellen Interventionismus abwenden. Wir hören doch nichts mehr von der „new economic world order" ; wir hören nichts mehr von der Arusha-Deklaration und all dem, mit Verlaub gesagt: Unfug, der auf den UNCTAD-Konferenzen jahrzehntelang vorgetragen worden ist.
Weil diese Länder sich mehr zu marktwirtschaftlichen Reformen hinwenden, besteht jetzt die begründete Perspektive, auf dem Wege zu einer Weltmarktwirtschaft voranzukommen. Der erfolgreiche Abschluß der GATT-Runde ist ein Meilenstein auf diesem Weg. Wir müssen diesen Weg mit politischer Verantwortung und Kompromißbereitschaft, mit Mut und mit Tatkraft gehen. Wenn die Bundesregierung diese Eigenschaften bei diesen Verhandlungen zeigt, dann hat sie die Unterstützung der FDP.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft, Dr. Erich Riedl, das Wort, der einen wegweisenden Beitrag angekündigt hat.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich sehr für diese präsidiale Unterstützung vor meinem Redebeitrag.
Es ist hier ganz offensichtlich eine bayerische Allianz im Gange.
Auch die Bundesregierung begrüßt, daß auf Grund der Initiative der SPD-Fraktion zu dieser Großen Anfrage heute hier vor diesem Hohen Hause Gelegenheit gegeben ist, über die für unsere Volkswirtschaft, aber auch für die gesamte Weltwirtschaft so bedeutsamen und wichtigen GATT-Verhandlungen zu diskutieren.
Graf Lambsdorff, ich bedanke mich sehr für das von Ihnen ausgesprochene Lob an den Herrn Bundeswirtschaftsminister. Es kommt ja nicht jeden Tag vor, daß der Parteivorsitzende der FDP einen CSU-Politiker bittet, einen speziellen Dank an eines der wichtigsten Mitglieder der von der FDP mit gestellten Bundesregierung auszusprechen.
Ich betätige mich gerne in meiner früheren beruflichen Eigenschaft als Postbote.
Die Verhandlungen der Uruguay-Runde stehen zu dieser Stunde in ihrer kritischsten Entscheidungsphase. Die nächsten Tage und Wochen werden und müssen darüber entscheiden, ob die Runde mit einem Substanzergebnis abgeschlossen werden kann oder ob die Verhandlungen nur als verpaßte Gelegenheit
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5761
Parl. Staatssekretär Dr. Erich Riedl
— das wäre ein großer Jammer und ein Unglück für die ganze Welt — bezeichnet werden müssen.
Ziel der Verhandlungen ist eine weitere Liberalisierung des Welthandels. Wegen der starken außenwirtschaftlichen Verflechtungen unserer Volkswirtschaft sind wir ganz besonders auf einen möglichst freien internationalen Leistungsaustausch angewiesen. Dies gilt erst recht für das vereinte Deutschland mit Blick auf die noch bevorstehenden Aufgaben.
Von einem Erfolg der Runde werden positive Impulse für die gesamtwirtschaftliche Produktion und die Beschäftigung ausgehen. Für uns bedeutet daher der Erfolg der Uruguay-Runde ein klares Muß.
Aber auch im internationalen Zusammenhang ist ein solcher Erfolg dringend notwendig, erstens um die weltwirtschaftliche Entwicklung zu stützen und Wachstumsschwächen bei den wichtigsten Handelspartnern entgegenzutreten, zweitens — hier kann ich an das anknüpfen, was Graf Lambsdorff in bezug auf das gesagt hat, was bei der SPD ein klein wenig zu kurz gekommen ist — um die Marktöffnung für mittel- und osteuropäische Länder zur Unterstützung ihrer Umstrukturierung und ihrer Integration in die Weltwirtschaft zu erreichen und drittens um den Marktzugang für Entwicklungsländer zu verbessern und damit zur Produktionsausweitung und Milderung der Schuldenlast dieser Länder beizutragen.
Die Bundesregierung steht klar zu den Schlußfolgerungen des Weltwirtschaftsgipfels in London vom Juli dieses Jahres, daß — ich zitiere —
keine Frage weitreichendere Implikationen für die Zukunftsaussichten der Weltwirtschaft hat als der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde.
Wir stehen ebenso uneingeschränkt zu dem Beschluß des Gipfels, ein ehrgeiziges globales und ausgewogenes Paket von Verhandlungsergebnissen zu erreichen. Im Klartext: Ein nochmaliges Scheitern der Runde wie vor einem Jahr kann sich keiner der großen Handelspartner leisten und schon gar nicht Deutschland.
Die Bundesregierung hat deshalb mit ihrer Kabinettsentscheidung vom 9. Oktober dieses Jahres einen wichtigen Impuls für die Verhandlungen in der Runde gegeben. Sie hat die EG-Kommission mit Blick auf das beginnende entscheidende Schlußstadium der Uruguay-Runde zu nachdrücklichen und den erfolgreichen Abschluß der Runde bis Ende dieses Jahres sichernden Verhandlungen ermutigt, wobei man ganz praktisch davon ausgehen muß, daß ein endgültiges, signaturfähiges Ergebnis auch im Hinblick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen spätestens, aber allerallerallerspätestens, bis Anfang März 1992 erreicht werden muß.
Dabei lassen Sie mich hier eines ganz klar feststellen: Die Uruguay-Runde ist nicht, wie häufig in der Öffentlichkeit fälschlicherweise dargestellt wird, eine Agrarverhandlungsrunde ; Herr Kollege Wieczorek, Sie haben das ja ebenfalls deutlich zum Ausdruck gebracht. Zutreffend ist nur, daß die Runde in Brüssel im vergangenen Jahr u. a. wegen unüberbrückbarer
Gegensätze im Agrarbereich — die Gegensätze sind klar; sie bestehen zwischen den USA und der EG — nicht erfolgreich abgeschlossen werden konnte.
Darüber hinaus läßt die gegenwärtige Verhandlungslage keinen Zweifel daran, daß es ohne Erfolg bei diesem Thema auch jetzt keinen positiven Abschluß der Runde geben wird. Die Agrarpolitik steht ganz entscheidend im Vordergrund der Verhandlungen.
Unser politisches Signal vom Oktober ist von der EG-Kommission und dem transatlantischen Gipfel zwischen der EG und den USA am 9. November 1991 in Den Haag aufgegriffen worden. Der transatlantische Gipfel sah sich nach einer Annäherung insbesondere im Agrarbereich zur Schlußfolgerung ermutigt — ich zitiere — :
Wir sind gewillt, Flexibilität zu zeigen und die Runde bis Ende des Jahres erfolgreich abzuschließen.
Auch der Europäische Rat in Maastricht — das hat Herr Kollege Kittelmann unterstrichen — hat in dieser Woche das Ziel eines erfolgreichen Abschlusses der Runde bis zum Jahresende bekräftigt. GATT-Generalsekretär Dunkel hat angekündigt, sein globales Gesamtpaket mit den Verhandlungsergebnissen in allen Bereichen nunmehr am 20. Dezember 1991 vorzulegen.
Neben der Agrarthematik ist von zentraler Bedeutung, daß auch substantielle Ergebnisse in anderen wichtigen Verhandlungsbereichen erreicht werden müssen. Es wäre genauso ein Unglück, wenn wir nur Regelungen im Agrarbereich treffen würden, während wir bei anderen wichtigen Verhandlungsbereichen nicht zu einer Einigung kommen. Die Aussichten hierfür sind allerdings — ich möchte es in der Prognose optimistisch beurteilen — eher ermutigend, und zwar in fünf Bereichen:
Erstens. Beim Marktzugang kann das Ziel, die Zölle um rund ein Drittel zu senken, aller Voraussicht nach erreicht werden.
Zweitens. Die für die Entwicklungsländer so überaus wichtige Wiedereinbringung des Textil- und Bekleidungssektors in das GATT ist ebenfalls greifbar nahe. Sie bringt die notwendige zusätzliche Marktöffnung.
Drittens. Das Rahmenabkommen für den internationalen Handel mit Dienstleistungen, das für diesen Wachstumssektor verläßliche, allgemein verbindliche Regeln festlegt, ist nahezu abschlußreif. Wir stehen kurz vor der Ziellinie.
Viertens. Das Abkommen über den künftigen wirksamen Schutz von Patenten, Warenzeichen, Gebrauchsmustern, Modellen und Urheberrechten, geographischen Herkunftsbezeichnungen und vieles andere mehr ist ebenfalls praktisch abschlußreif. Es trägt dazu bei, hohe Verluste der Wirtschaft einzudämmen und abzubauen.
Fünftens. Eine Vereinbarung über ein wirksames Streitschlichtungsverfahren, in dem es künftig keine Obstruktion von GATT-Partnern mehr geben wird, ist
5762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Parl. Staatssekretär Dr. Erich Riedl
beschlußreif. Sie trägt dazu bei, einseitige nicht GATT-konforme handelspolitische Maßnahmen künftig zu vermeiden.
Die hier bereits erzielten Kompromisse dürfen nicht mehr aufs Spiel gesetzt werden. Die Folgen eines
— ich will einmal sagen — hypothetischen Scheiterns
— ich als abergläubischer Mensch wage schon gar nicht zu sagen: eines Scheiterns, ohne den Zusatz „hypothetisch" zu verwenden — der Uruguay-Runde sind letztlich überhaupt nicht zu quantifizieren. Sicherlich würde dies nicht zum völligen Zusammenbruch des Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen führen; so weit möchte ich nicht gehen. Indessen aber würden bestehende protektionistische Entwicklungen ohne jeden Zweifel verstärkt — zum Nachteil aller Handelspartner. Negative Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung in vielen Ländern
— insbesondere in außenhandelsorientierten Ländern wie Deutschland — wären die Folge.
Auch große Handelspartner — ich denke hierbei an die USA — würden ihr Heil vermehrt in bilateralen und einseitigen Maßnahmen suchen. Die wirtschaftlich Schwächeren in der Welthandelsgemeinschaft hätten ganz besonderes Nachsehen. Hiervon wären insbesondere die Länder Mittel- und Osteuropas und die Entwicklungsländer betroffen. Hier wird sich zeigen, welche Verantwortung die großen Industrieländer in Wirklichkeit für die Entwicklungsländer haben. Hier müssen die Karten auf den Tisch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine abschließende Bemerkung. Bei diesen Perspektiven wird klar, daß niemand ein Scheitern der Runde verantworten kann. In dieser Erkenntnis haben die EG-Staats- und Regierungschefs in Maastricht ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, die UruguayRunde bis zum Jahresende — ich gebe jetzt einmal ein bißchen hinzu: bis Anfang März — erfolgreich abzuschließen. Der Allgemeine Rat wird am 23. Dezember, einen Tag vor Heiligabend, eine Bewertung des Verhandlungsstandes EG — USA vornehmen. Der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde ist in greifbare Nähe gerückt. Wir dürfen uns diesen Erfolg nicht mehr entgleiten lassen. Ein Scheitern gehört in den Bereich des Undenkbaren.
Meine Damen und Herren, wenn ich mich hier ganz zum Schluß bei allen Fraktionen für das relativ hohe Maß an Übereinstimmung bedanken darf, dann deshalb, weil die Bundesregierung mit ihren sehr tüchtigen Beamten mit dieser breiten Rückendeckung natürlich sehr ermutigt zu den Verhandlungen im GATT in Genf und Brüssel fahren wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe Jens.
Frau Präsidentin! Ihnen und meinem Kollegen Norbert Wieczorek wurde ja schon zum Geburtstag gratuliert.
Ich will es nicht wiederholen, aber wenn die heutige Debatte dazu führt, daß die GATT-Verhandlungen ein Erfolg werden, dann ist das wirklich ein ganz großes Geburtstagsgeschenk.
Hier besteht in vielen Dingen Übereinstimmung. Aber ich muß Ihnen leider sagen: Ich habe das Gefühl, zwischen Reden und Handeln gibt es eine eklatante Differenz.
Ich hoffe sehr, Herr Staatssekretär, daß diese Debatte dazu führt, daß auch Sie im Wirtschaftsministerium ein bißchen mehr Druck machen als bisher, damit die GATT-Verhandlungen zum Erfolg kommen. Das ist der Sinn dieser Debatte. Nehmen Sie bitte, was hier vielleicht etwas langweilig vorgetragen worden ist, als ernsthafte Aufforderung nach Hause, die Sache endlich in Schwung zu bringen.
Ein erfolgreicher Abschluß der GATT-Verhandlungen liegt diesmal nicht nur im Interesse der deutschen Industrie, sondern auch im Interesse des großen, breiten und expandierenden Dienstleistungssektors. Er würde erhebliche Vorteile davon haben. Ich sage Ihnen noch einmal: Sollten diese Verhandlungen scheitern, dann verletzt der Bundeskanzler seinen parlamentarischen Eid und fügt der deutschen Wirtschaft nachhaltigen Schaden zu. Das muß verhindert werden.
Die Bundesregierung hat es aus meiner Sicht bisher versäumt — wir müssen sie auch kritisieren dürfen —, die Öffentlichkeit über die Bedeutung der GATT-Verhandlungen hinreichend zu informieren. Vielleicht dient diese Diskussion auch dazu. Mit einem Anteil der Ausfuhren von 34 % am Bruttosozialprodukt hängt jeder dritte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik direkt oder indirekt vom Export ab. Das ist bekannt. Ein Scheitern führt zwingend zu neuem Bilateralismus und Protektionismus und gefährdet damit Arbeitsplätze und Wohlstand in unserem Lande. Wir haben dem Welthandel, solange er expandiert, viel zu verdanken.
Die Entwicklungsländer verlieren nach seriösen Angaben — auch auf Grund unserer Anfrage — durch den vorhandenen Protektionismus doppelt so viel, wie sie im Rahmen der Entwicklungshilfe von den Industrieländern jährlich insgesamt erhalten. Wenn es nicht gelingt, für die Reformländer in Ost- und Mitteleuropa die Exportmöglichkeiten deutlich zu verbessern, dann steigt dort die Not und damit bei uns der Einwanderungsdruck. Es ist also nicht so, daß wir die Länder in Ost- und Mitteleuropa vergessen haben.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5763
Dr. Uwe Jens
Wir wollen auch für diese Länder einen erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen.
Die Bundesregierung hätte die GATT-Verhandlungen stärker nutzen müssen, um die verfahrene Agrarpolitik endlich neu und rational zu ordnen. Ich habe viel Verständnis für die berechtigten Sorgen der deutschen Landwirte. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Daß sie sich für ihre Interessen einsetzen, ist legitim, und das tun andere auch. Aber eine Umstrukturierung der Agrarpolitik wäre auch ohne GATT-Verhandlungen sinnvoll, weil sich dort sehr viel politischer Unsinn angehäuft hat: weg von der Mengen- und hin zu einer marktwirtschaftlicheren Preispolitik, Graf Lambsdorff. Das haben wir auch in unserem Antrag geschrieben. Ich gehe davon aus, Sie stimmen mir zu. Wir brauchen eine endgültige Beseitigung aller Exportsubventionen, die dazu beitragen, die Weltmarktpreise für die Entwicklungsländer herunterzudrücken. Dafür gäbe es eine bessere Einkommenssicherung, insbesondere finanzielle Hilfen bei der Ökologisierung und der Extensivierung der Agrarproduktion. Meine Kollegin Frau Adler hat das ausführlich dargestellt.
Bisher hat die Bundesregierung versäumt, den Landwirten ein geschlossenes, akzeptables Konzept zur Erneuerung der Agrarpolitik auf den Tisch zu legen.
Die Landwirte haben ein Recht darauf, von den Regierenden endlich die Wahrheit zu erfahren, wie es um Ihre Zukunft steht.
Das Verhandlungsergebnis von Maastricht hat uns aus meiner Sicht einen kleinen Schritt auf dem Wege zur Integration in Europa weitergebracht. Dieses Europa darf aber auf keinen Fall eine Handelsfestung werden. Die Gefahr ist groß. Beim Schlagwort Industriepolitik kommt es auf die Definition an, Graf Lambsdorff. Machen Sie sich nichts vor. Wir betreiben seit eh und je Industriepolitik. Im Stahlsektor haben wir es gemacht. Das wissen Sie ganz genau. Also lügen Sie sich nichts in die Tasche. Aber hinter dem Schlagwort Industriepolitik verbirgt sich allzu häufig der Wunsch nach Protektion und nach Subvention auf Kosten der Steuerzahler für kränkelnde, schwache Unternehmen. Das kann es eigentlich nicht geben. Die Prüfung von Verstößen gegen Dumping-Verbote muß aus meiner Sicht eine Angelegenheit des GATT bleiben. Eigenständige Dumping-Verfahren auf EG-Ebene beinhalten stets eine Mißbrauchsmöglichkeit. Die darf es ebenfalls nicht geben.
Hinter dem scheinheiligen Begriff der Selbstbeschränkungsabkommen — Automobilindustrie! — verbirgt sich ebenfalls Protektionismus. Derartige Abkommen kommen nie freiwillig, immer auf Druck zustande.
Nur ein erfolgreicher Abschluß der GATT-Verhandlungen verhindert die Festung Europa, die wir alle nicht wollen. Das GATT ist aus meiner Sicht auf alle Fälle ein besseres Mittel zur Überwindung von Nationalismus jeder Art, auch als die Europäische Gemeinschaft.
Zweifellos dürfen die laufenden GATT-Verhandlungen nicht überfrachtet werden. Wir wollen einen Erfolg. Wir Sozialdemokraten drängen darauf, mit Unterstützung der anderen Fraktionen. Hoffentlich hat die Regierung das begriffen.
Dringend regelungsbedürftig im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens sind mindestens zwei weitere Probleme — wenn diese Runde zu einem Erfolg gekommen sein wird, müssen sie sofort angepackt werden — : erstens die Institutionalisierung des GATT, Aufbau einer umfassenden internationalen Handelsorganisation, deren Aufgabe es ist, über die Welthandelsordnung zu wachen. In diesem Zusammenhang habe ich überhaupt nichts dagegen, wenn wir auch das Thema Wettbewerb und GATT aufgreifen, was Sie angesprochen haben, Graf Lambsdorff. Ich bin auch zutiefst davon überzeugt: Eigentlich bräuchten wir am Ende eine Weltkartellbehörde.
Aber diese steht in den Sternen. Wir müssen, auch wenn es noch weit weg ist, schon jetzt anfangen, in diese Richtung zu denken und zu drängen, wenn wir das irgendwann einmal erreichen wollen.
Zweiter Punkt: Die Ökologisierung des GATT, wie sie jüngst Ernst-Ulrich von Weizsäcker vorgeschlagen hat, wäre ebenfalls dringend erforderlich.
Der Raubbau an unseren natürlichen Lebensgrundlagen geht weltweit mit rasanter Geschwindigkeit voran. Deshalb müssen die Kosten des Umweltverbrauchs weltweit gleichmäßig Beachtung finden. Dies darf selbstverständlich nicht etwa Protektionismus durch die Hintertür sein — das wollen wir nicht —, aber diese globale ökologische Herausforderung ist eben nicht nur eine Gefährdung — aktuell ist sie eine Gefährdung — , sondern auch eine Chance zur Errichtung einer gerechteren und friedlicheren Welt.
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Egon Susset das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die SPD-Anfrage kommt aus agrarpolitischer Sicht zu dem Ergebnis: Eine Kurskorrektur in der Agrarpolitik ist zwingend. Dies ist uns als Agrarpolitikern auch klar. Die Überproduktion und ihre negativen Auswirkungen lassen keine andere Wahl. Die Agrarpolitik muß zukunftsfest gemacht werden, aber nicht so, Frau Adler, Herr Wieczorek, Herr Jens, wie es im Entschließungsantrag der SPD zum Ausdruck kommt.
5764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Egon Susset
Für uns gilt: Der erfolgreiche Abschluß der GATT-Verhandlungen ist wichtig; denn wie die gesamte Wirtschaft hätte auch die Landwirtschaft bei einem Scheitern Nachteile.
Wir sind für den Abbau der Exportsubventionen. Deshalb ist die EG-Agrarproduktion im wesentlichen auf die Nachfrage der rund 340 Millionen Verbraucher im EG-Raum auszurichten.
Aber gleichzeitig bestehen wir auf dem erforderlichen Außenschutz. Um die Existenz der Landwirtschaft unter europäischen Bedingungen zu sichern.
Es darf nicht so getan werden, als habe sich der EG-Markt bisher vom Weltmarkt hermetisch abgeschottet. Nahrungs- und Futtermittelexporte gelangen in großem Umfang in die EG. Die Bundesrepublik Deutschland ist der weltgrößte Importeur von Agrar-
und Nahrungsgütern.
Ein GATT-Abkommen hat drei Bedingungen zu erfüllen:
Das Ergebnis muß ausgewogen sowie für die Land- und Ernährungswirtschaft tragbar sein.
Es muß ein dauerhafter und verläßlicher Einkommensausgleich gesichert sein.
Und es muß ein ausreichender Außenschutz gewährleistet sein.
GATT- und EG-Agrarreformverhandlungen sind die bisher größte Herausforderung für die europäische Landwirtschaft. Die Landbewirtschaftung in Europa und in der Bundesrepublik muß sich stärker auf die Marktgegebenheiten einstellen. Die Landwirte in der EG können nicht zu jetzigen Weltmarktpreisen produzieren. Dies kann keine Landwirtschaft auf der Welt, weder die amerikanische noch die europäische.
Denn billige Nahrungsmittel können nur zu Kulilöhnen produziert werden. Gerade in diesen Tagen wurde in Maastricht ein erster Schritt in Richtung Sozialunion getan.
Vor diesem Hintergrund dürfen wir nicht zulassen, daß es zu einem programmierten sozialen Abstieg der Landwirte in Europa kommt.
Alle Industriestaaten der Welt unterstützen ihren Agrarsektor mehr oder weniger. Die Unterstützung je Landwirt ist in den USA und Kanada sogar höher als in der EG. Darauf weist der Wirtschafts- und Sozialausschuß bei der EG-Kommission in seiner jüngsten Stellungnahme hin.
Wir sollten auch aufhören, die gesamte Problematik des GATT ausschließlich auf die Ebene der Landwirtschaft zu schieben. Ich bin dem Bundeskanzler dafür dankbar, daß er kürzlich in der Haushaltsdebatte hier klare Sätze zur Landwirtschaft gesagt hat.
Uns ist daran gelegen, in konstruktiver Weise auf die Verhandlungen Einfluß zu nehmen und agrarpolitische Akzente zu setzen. Denn die Landwirte müssen wissen, woran sie sind; sie müssen wissen, was auf sie zukommt.
Wir setzen uns für eine wirksame Produktionsrückführung in allen EG-Staaten ein. Wir unterstützen die Rückführung des hochsubventionierten Agrarexports. Dieser wirkt sich störend auf den Weltmarkt aus. Hier muß der Hebel angesetzt werden. Damit bewegen wir uns ein großes Stück auf die Amerikaner zu. Entsprechend erwarten wir natürlich auch von dort Entgegenkommen, z. B. bei den Futtermittelimporten. Vor allem sollten unsere Handelspartner aus Übersee anerkennen, daß die EG bereit ist, sich stärker von den internationalen Märkten zurückzuziehen und damit zu einer Stabilisierung der Weltmärkte beizutragen.
Es wäre aber kurzsichtig, von der gewohnten Überversorgung des Weltmarktes mit Agrarprodukten als Dauerzustand auszugehen. Es sind rasche Veränderungen auf dem Weltmarkt möglich. Dies zeigt sich ja zur Zeit jeden Tag in der Presse. Es ist die Rede von einem Engpaß auf dem Weltgetreidemarkt usw. Die ehemalige Sowjetunion, die russische Republik und andere Ostblockstaaten haben großen Bedarf an Getreide, Milchprodukten und Futtermitteln. Hier kann mit den jetzt vorhandenen Nahrungsmittelvorräten sicherlich wertvolle Hilfe geleistet werden. Nahrungsmittelvorräte können deshalb nicht nur als Belastung angesehen werden. In diesem Winter beispielsweise verbessern unsere Vorräte die Lage hungernder Menschen.
Es ist auch unseriös — Frau Adler hat darauf hingewiesen — , den Eindruck zu erwecken, als wäre es immer eine große Hilfe für die Entwicklungsländer, wenn sie Nahrungsmittel zu billigen Preisen in die EG liefern könnten. Denn die Lieferung von Nahrungsmitteln zu niedrigen Preisen trägt nicht dazu bei, daß in diesen Ländern eine wirtschaftliche Entwicklung möglich ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute haben auch Graf Lambsdorff und Herr Wieczorek auf die Bedeutung des Exports für die Sicherung von Arbeitsplätzen und für die Sicherung unserer Wirtschaft hingewiesen. Lassen Sie mich auch darauf hinweisen, daß ohne die deutsche Landwirtschaft 70 Milliarden DM Verkaufserlöse ausfallen, Investitionen, Betriebsmittel und Dienstleistungen in Höhe von 57 Milliarden DM nicht getätigt oder gekauft werden sowie der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft die Grundlage für eine volkswirtschaftliche Leistung von insgesamt 270 Milliarden DM fehlt. Ich glaube, auch das schafft Arbeitsplätze. Ich meine, wir sollten das Problem auch aus dieser Richtung sehen.
Die EG hat ein weitgehendes Verhandlungsangebot vorgelegt. Der Verhandlungsspielraum ist begrenzt. Das Ergebnis der Uruguay-Runde und der Reform der EG-Agrarpolitik muß ein ausgewogener Kompromiß sein. Er muß den unsinnigen Subventionswettlauf auf dem Weltagrarmarkt stoppen. Er muß für die deutsche und europäische Landwirtschaft sowie für alle mit der Landwirtschaft verbundenen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5765
Egon Susset
Wirtschaftszweige erträglich sein. Er muß jungen Menschen, die bereit sind, einen landwirtschaftlichen oder agrarwirtschaftlichen Betrieb zu übernehmen, Zukunftsperspektiven bieten. Ich glaube, dies zu gewährleisten ist unsere Aufgabe sowohl jetzt vor den GATT-Verhandlungen als auch nach Abschluß der GATT-Verhandlungen.
Ich danke schön.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war etwas schwierig, unter Einhaltung der Regeln der Frau Kollegin Schmidt heute zum Geburtstag zu gratulieren. Aber ich habe es so einigermaßen geschafft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat nunmehr das Wort unser Kollege Dr. Fritz Schumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Gruppe der PDS/Linke Liste ist das wichtigste Kriterium zur Beurteilung der Aktivitäten der Bundesregierung im Rahmen der GATT-Verhandlungen der laufenden Uruguay-Runde und zur Bewertung der noch ausstehenden Ergebnisse, inwieweit damit entscheidende Schritte in Richtung einer neuen gerechteren Weltwirtschaftsordnung gegangen werden. Wir sehen darin zugleich eine entscheidende Voraussetzung für eine dauerhafte Sicherung der Leistungskraft der deutschen Wirtschaft, denn Wachstum in den Staaten der sogenannten Ersten Welt ohne Rücksicht auf die globalen Probleme bedeutete letztlich der Untergang der ganzen Welt.
Die Kluft zwischen den armen und reichen Ländern und Regionen vertieft sich weiter. Laut Club of Rome leben in der südlichen Hemisphäre über 1 Milliarde Menschen unter der absoluten Armutsgrenze, die mit weniger als 370 Dollar Einkommen pro Jahr angesetzt ist. Das sind doppelt soviel Menschen wie Anfang der 80er Jahre. In Lateinamerika ist das Pro-Kopf-Einkommen während der 80er Jahre gesunken. Es liegt gegenwärtig um mehr als 10 % unter dem Stand von 1980. In Afrika ging es noch erheblich stärker zurück, um fast ein Viertel.
Auf der Tagung der Entwicklungsländer im November in Caracas wurde mit Nachdruck darauf verwiesen, daß die Entwicklung der Industriestaaten jene Länder in die Ecke dränge, die versuchen, aus der Armut herauszukommen. In dem Zusammenhang ist die Antwort der Bundesregierung zur Frage 16 bemerkenswert. Mit Hinweis auf den Jahresbericht 1991 der Weltbank wird ausgesagt, daß die Einkommenseinbußen der Entwicklungsländer durch den Protektionismus der Industrieländer auf dem Gebiet der Agrar- und Industriepolitik etwa die zweifache Summe der jährlichen offiziellen Entwicklungshilfe der Industrieländer betrage. Frau Kollegin Adler hatte diesen Fakt hier ebenfalls schon vorgetragen.
Der Anteil der Dritten Welt am Welthandel ist — bei starken Differenzierungen — insgesamt zurückgegangen. Man kommt deshalb nicht umhin, festzustellen: Das GATT ist seit seiner Gründung ein Instrument der reichen Länder zur Wahrung ihrer Interessen im Welthandel. Oberstes Ziel war es von Anfang an, den Gütern und Dienstleistungen der transnationalen Konzerne möglichst freien Zugang zu den Märkten der Welt zu sichern. Die sozialen und ökologischen Aspekte blieben dabei im wesentlichen außen vor.
Angesichts dieser Fakten ist es nur zu verständlich, daß die Herren des Club of Rome in ihrem jüngsten Bericht zu folgender Einschätzung gelangten — ich zitiere — : Die dauerhafte Gesellschaft könnte niemals aus einer Weltwirtschaft hervorgehen, die ausschließlich auf die Kräfte des Marktes setzt, so wichtig diese auch für die Erhaltung von Vitalität und Innovationsfähigkeit sein mögen. Die Kräfte des Marktes würden eben ausschließlich auf kurzfristige Signale reagieren und keine verläßlichen Anhaltspunkte für langfristige Überlegungen und Entwicklungen bieten. — Soweit das Zitat der Herren des Club of Rome.
Um soziale Gerechtigkeit im Welthandel zu gewährleisten, müßten den schwächeren Ländern dauerhafte Schutzrechte für ihre Entwicklung zugestanden werden. Vor allem müßte das die Bereiche Landwirtschaft, Dienstleistungen und Produktion von Grundbedarfsgütern betreffen. Andererseits müßten den schwachen Ländern, wenn man wirklich eine Verbesserung ihrer Lage herbeiführen will, durch ein globales Präferenzsystem einseitig die Märkte der stärkeren Länder geöffnet werden. Ich sage das auch im Hinblick auf die Reform in den osteuropäischen Ländern. Diese werden sehr stark insbesondere auf die Agrarmärkte drängen, weil das zunächst ihre einzige Möglichkeit sein wird.
Auch bei einer Regulierung des Welthandels nach ökologischen Kriterien müßten verbindliche Standards für alle Länder aufgestellt werden. Der Handel mit Gütern müßte verboten werden, wenn damit im Ursprungsland eine Zerstörung wertvoller Ökosysteme verbunden ist. Der Bundeskanzler hat sich dazu — insbesondere in Brasilien — geäußert. Nur müßte die Konsequenz noch weitergehend sein. Zu einer wirklichen Ökologisierung der Weltwirtschaft wäre ein totales Handelsverbot für solche Gütergruppen wie Giftmülle, Atomtechnologie und Rüstungsgüter erforderlich.
Mittlerweile ist die Umweltsituation in vielen Ländern der Dritten Welt trotz des niedrigen Produktions- und Einkommensniveaus nicht besser, sondern deutlich schlechter als in den entwickelten Industrieländern. Wir weisen Versuche zurück, durch die rigorose Beschneidung aller Export- und Importbeschränkungen, die undifferenzierte Liberalisierung des Handels mit tropischen Produkten sowie mit natürlichen Rohstoffen und den massiven Abbau des Agrarschutzes die Naturschätze dieser Erde für die Weltwirtschaft für vogelfrei zu erklären. Damit würde diesen Staaten die eigenständige Entscheidung verweigert, ihre Naturschätze vor der ungehemmten wirtschaftlichen Ausbeutung zu bewahren und den Export gefährdeter Produkte zu kontrollieren. Statt die ökologischen Grenzen des Wachstums zu beachten, verlaufen die GATT-Verhandlungen seitens der Industrie-
5766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Fritz Schumann
länder genau umgekehrt; sie laufen auf eine Ausweitung des umweltfeindlichen Wachstums auf weitere Teile dieser Erde hinaus. Wir fordern statt Beseitigung weiterer Schranken für das Kapital tätige Hilfe für die Entwicklungsländer.
Da der Ausgang der Uruguay-Runde davon abhängt, ob es gelingt, Kompromißlösungen für die im Agrarbereich bestehenden Konflikte zu finden, und solche Lösungen nicht ohne Auswirkungen auf die deutschen Bauern sein werden — der Kollege Egon Susset hat hier soeben davon gesprochen — , möchte ich als Landwirt noch einige wenige Bemerkungen zu den vorliegenden Antworten der Bundesregierung zur Landwirtschaftsproblematik machen.
In der Antwort auf die Frage 5 formuliert die Bundesregierung ihre Auffassung, daß die Vorschläge der EG-Kommission zur Agrarreform „in die richtige Richtung zielen". Das stimmt meines Erachtens nur insoweit, als auf der Basis dieser Vorschläge wahrscheinlich die Möglichkeit für einen Kompromiß mit den GATT-Partnern außerhalb der EG, speziell mit den USA, gegeben ist. Den Nutzen werden vor allem die großen Konzerne der Industrie, des Handels und des Dienstleistungsbereiches haben. Bei den Bauern macht sich das Gefühl breit, den Interessen dieser Konzerne geopfert zu werden.
Sicher ist in dieser komplizierten Frage Schwarzweißmalerei nicht angebracht. Eine objektive Beurteilung der Reformvorschläge ergibt durchaus einige positive Elemente. Insgesamt greifen sie jedoch zu kurz und werden mit Sicherheit neues Konfliktpotential schaffen.
Ich möchte das nur an einem Beispiel charakterisieren: Die Bundesregierung unterstützt den Vorschlag zur Zahlung von flächenbezogenen Einkommenstransfers und fordert sogar, daß dieser Einkommensausgleich dauerhaft und verläßlich ist. Ich meine, das wird nicht funktionieren. Denn zum einen soll der Umfang der Einkommenshilfen das Volumen der bisherigen Marktordnungskosten der EG weit überschreiten, so daß — auch angesichts der derzeitigen und absehbaren Finanzlage des Bundes — die Gefahr besteht, daß diese Beihilfen Jahr für Jahr neu zur Disposition gestellt werden. Zum anderen dürfte — abgesehen von der Finanzierbarkeit dieser Transfers — ein dauerhafter Konsens zur Finanzierung einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe, der Bauern, nur schwerlich erreichbar sein.
Eine solche Maßnahme widerspricht nicht zuletzt den ureigensten Interessen der Bauern. Sie wollen keine Almosenempfänger sein; das verletzt ihr Selbstwertgefühl. Ich bin zwar der Meinung, daß den Bauern Leistungen, die auf Landschaftserhaltung ausgerichtet sind, dauerhaft bezahlt werden müßten. Insgesamt aber sind wir für einen Strukturwandel in der Landwirtschaft, der auch die Landwirtschaft zu einer wettbewerbsfähigen Branche macht.
Danke.
Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Hermann Schwörer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Bundesregierung sind wir am Gelingen der GATT-Runde stärkstens interessiert: weil wir davon den dringend notwendigen Wachstumsimpuls für die Weltwirtschaft erwarten; weil wir die Unterstützung der mittel- und osteuropäischen Länder in ihrem Streben nach wirtschaftlicher und sozialer Umstrukturierung wollen — dasselbe gilt für die Entwicklungsländer —; weil wir es für dringend nötig halten, das offene Welthandelssystem des GATT zu stärken, um die Gefahr des Protektionismus und der Handelskonflikte — hier schauen wir mit Besorgnis auf die USA — entscheidend zu vermindern.
Deshalb sage ich: Das Gelingen der GATT-Runde ist in unser aller Interesse, besonders auch im Hinblick auf die zusätzlichen Verpflichtungen aus der deutschen Vereinigung, die eine starke deutsche Wirtschaft voraussetzen.
Ich habe fünf Punkte zu dem anzumerken, was im Augenblick in den Verhandlungen läuft.
Erstens. Der Schlüsselbereich — das ist heute schon ein paarmal angeklungen, auch beim Kollegen Wieczorek — ist der Sektor der Agrarpolitik. Hier sind wir uns alle einig, daß wirksame Reformen unumgänglich sind, daß die Überproduktion abgebaut werden muß, und zwar weltweit, daß dieser Abbau aber nicht einen brutalen Preisdruck zu Lasten der Bauern zur Folge haben darf, sondern daß Flächenstillegungen, neue Produktionen und auch ein Ausgleich für den durch Produktionsausfall entstehenden Ausfall an Einkommen bei unseren Bauern notwendig sind.
— Ja, wir wollen das jetzt nicht im einzelnen ausführen. — Ich denke, daß Sie sich vor allem auch bei der Binnenwirtschaftspolitik engagiert in Richtung Soziale Marktwirtschaft bewegen werden. Allerdings brauchten Sie uns, glaube ich, als Soziale Marktwirtschaftler nicht so sehr zu überzeugen. Ich denke, es wäre gut gewesen, wenn Sie, lieber Herr Wieczorek, und viele Ihrer Kollegen die Kollegen aus dem sozialistischen Lager in anderen Ländern, die ja doch manche Dinge im GATT blockieren, so intensiv überzeugt hätten, wie Sie das heute bei uns versucht haben.
— Wir versuchen das auch bei den amerikanischen Freunden. Wir hätten das gemeinsam machen sollen. Ich denke, darin liegt die wichtigste Aufgabe; denn in der Tat — das ist hier gesagt worden — steht die Weltwirtschaft vor großen Herausforderungen.
Einmal geht es darum, daß wir den Wettbewerb unter den großen, entwickelten Industrienationen wirklich neu entfesseln müssen. Hier sind alle Dinge genannt worden, die notwendig sind, die ja auch im GATT-Paket stecken.
Zweitens ist es für die Entwicklungsländer richtig, was wir immer gesagt haben: Trade is better than aid. Dies muß nach wie vor die Maxime sein, wenn wir den Entwicklungsländern helfen wollen, daß sie von dem hohen Schuldenberg herunterkommen und nicht immer neue Schuldenberge auftürmen. Dies kann nur dadurch geschehen, daß sie die Chance erhalten, mit ihren Waren und Gütern auf unsere entwickelten Märkte zu kommen und hier auch gute Preise zu erzielen.
Drittens. Ich denke, die neue Herausforderung ist, daß wir die jungen Demokratien Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und auch die neuen Republiken in der zerfallenden Sowjetunion an die Weltmärkte heranführen. Es wird nicht mit immer neuen Krediten gehen — dies würde eine ewige Alimentation sein —, es wird nur gehen, wenn wir sie wirklich fest in unsere weltwirtschaftliche Ordnung einbinden.
Es ist gesagt worden — Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen — , daß sich diese GATT-Runde jetzt in einem dramatischen Finish befindet. Wir sollten alle gemeinsam nicht nur darüber reden, sondern dort, wo wir etwas tun können, versuchen, daß dieses Finish wirklich zum Ziel führt und nicht vorher — sozusagen auf den letzten hundert oder zweihundert Metern — diese Runde zusammenbricht. Es ist darauf hingewiesen worden, daß gerade wir Deutsche als großes Industrieland — wir haben 650 Milliarden DM Warenexport, das sind 25 % unserer Bruttowertschöpfung — mit Blick auf Beschäftigung, Wachstum und Wohl-
5768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Friedhelm Ost
stand daran interessiert sein müssen, zu einem Kompromiß zu kommen, der eben zu mehr Freihandel und damit zu Wachstumsimpulsen führt.
Ich war am Wochenende in den USA an der Westküste. Dort wurde der Pearl Harbor Day begangen. Es hat mich schon eigenartig berührt, daß in Kommentaren gefragt wurde, ob nun nach 50 Jahren die Japaner Amerika sozusagen noch einmal überfallen, und zwar im wirtschaftlichen Bereich. Bei einer Tagung sind von unseren Kollegen aus dem amerikanischen Kongreß und anderswoher offene Worte gesagt worden; sie haben gesagt: Ein aggressiver Einsatz von Handelssanktionen ist das einzige, was uns in den USA hilft. Dies ist teilweise die Mentalität. Wenn wir im GATT nicht schnell zu einem Ergebnis kommen, wird diese Mentalität — natürlich auch mit dem nahenden Wahltermin — eher zu- denn abnehmen.
Deshalb bin ich der Meinung, daß wir auf diesem Feld — es gab auch am Wochenende Verhandlungen zwischen dem amerikanischen Landwirtschaftsminister und dem EG-Kommissar MacSharry — möglichst rasch zu einem tragfähigen Kompromiß kommen müssen. Ich denke schon — dies sollten wir unseren Bauern auch offen sagen — , daß gerade diese GATT-Runde nicht so einfach nach dem Motto „GATT macht Bauern platt" zu bewerten ist, wie ich das in einem Fachblatt gelesen habe, sondern daß die Chance für eine wirkliche Neuorientierung in der Agrarpolitik weltweit, aber auch bei uns besteht. Das bedeutet aber auch, daß wir die Bauern nicht im Stich lassen, daß wir nicht ein riesiges Bauernsterben zulassen, sondern diesen Umstrukturierungsprozeß sozial und regional, aber auch ökologisch verträglich für unsere Kulturlandschaft in Gang setzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß es nicht nur um Agrarpolitik, nicht nur um Zölle geht, sondern daß es in der Tat die Chance gibt, etwa im Bereich Dienstleistungen, im Bereich Schutz der Rechte des geistigen Eigentums große Erfolge zu erzielen und Dinge zu regeln, die für uns, aber auch für andere Nationen wichtig sind. Hans Barbier hat in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 6. Dezember zutreffend geschrieben — ich zitiere — :
Das Regelwerk des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens gehört zu den wichtigen und friedenstiftenden Vereinbarungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sollte nicht dem Denken in Blöcken geopfert werden. Ich kann dies nur unterstreichen, und ich freue mich, daß in diesem Hause so viel Zustimmung zur Liberalität im Welthandel herrscht.
Vielen herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, unserem Kollegen Georg Gallus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Mit großer Spannung beobachten wir derzeit das Ringen zwischen der EG und den USA um eine zufriedenstellende Lösung bei dem wichtigen Bereich der GATT-Verhandlungen. Nach wie vor gibt es Schwierigkeiten, die einem erfolgreichen Abschluß entgegenstehen. Die Bundesregierung hat mit dem Kabinettsbeschluß vom 9. Oktober 1991 wichtige Impulse für die GATT-Verhandlungen einerseits und für eine zukunftsorientierte Agrarpolitik andererseits gegeben. Unabhängig von den GATT-Verhandlungen ist eine grundlegende Reform der gemeinsamen Agrarpolitik notwendig. Hohe Lagerbestände, stagnierender, teilweise sogar rückläufiger Verbrauch, dagegen steigende Haushaltsausgaben und sinkende Erzeugerpreise zwingen zu einer grundlegenden Umgestaltung der EG-Agrarpolitik.
Die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, daß die Vorschläge der Kommission zur Reform der gemeinsamen Agrarpolitik bei folgenden Elementen in die richtige Richtung zielen: Ansätze zur direkten Rückführung der Produktion durch z. B. Anpassung der Garantiemengen bei Milch, Flächenstillegung und Extensivierung, Zahlung von direkten produktionsneutralen Einkommensübertragungen zum Ausgleich von Einkommensverlusten durch Mengenrückführung und Stützpreisanpassung unter der Bedingung, daß die Einkommensübertragungen nur solchen Betrieben zugute kommen können, die aktiv durch Mengenrückführung zur Marktentlastung beitragen, Einführung bzw. Verstärkung flankierender Maßnahmen im Umweltbereich, bei der Aufforstung und beim Vorruhestand für ältere Landwirte.
Allerdings schießen zahlreiche Vorschläge der Kommission zu Einzelmaßnahmen über dieses Ziel hinaus. Getreidestützpreissenkungen von 42 %, wie die Kommission sie vorschlägt, sind völlig inakzeptabel, zumal die Stützpreise seit 1983 bereits um rund 30 % zurückgegangen sind.
Die Bundesregierung verfolgt auch hier ihre Politik, der Mengenrückführung eine wichtige Rolle einzuräumen.
Die europäische Landwirtschaft braucht weiterhin einen ausreichenden Außenschutz. Die Bundesregierung wird deshalb die EG-Kommission weiterhin drängen, dieses Ziel in der GATT-Runde durchzusetzen. Unsere Bauern können nicht mit den gut strukturierten überseeischen Farmen konkurrieren, weil sie höhere Produktionskosten haben. Man muß sich einmal den Unterschied vorstellen, Bauer in einem Land zu sein, wo 200 Menschen auf einem Quadratkilometer leben, und Bauer oder Farmer in Gegenden der Welt zu sein, wo es nur zwei oder zehn Menschen auf einem Quadratkilometer gibt. Ich will von Erosion und Einbringen von Ökologie in die GATT-Verhandlungen erst gar nicht reden. Wer das im Augenblick fordert, der wird erleben, daß er die GATT-Verhandlungen zu keinem Abschluß bringen wird.
Der Außenschutz, meine Damen und Herren, muß so stark bleiben, daß die Erzeugerpreise auch wieder steigen können, wenn die EG-Märkte saniert sind. Es
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5769
Parl. Staatssekretär Georg Gallus
geht einfach nicht, daß Europa durch eine konsquente Mengenrückführung die Weltmärkte deutlich entlastet, aber andererseits für alle Billigimporte offen sein soll. Insofern drängen wir die Kommission weiterhin, das Problem der ungehinderten Futtermitteleinfuhren einer befriedigenden Lösung zuzuführen.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß Stützpreissenkungen nur gegen einen dauerhaften und verläßlichen Einkommensausgleich vorgenommen werden können. Die gesamte Last der Anpassung an die Erfordernisse des Binnen- und des Weltmarktes darf nicht auf die Schultern unserer Bauer geladen werden.
Große Betriebe dürfen — gerade auch im Hinblick auf die Strukturen in den neuen Bundesländern — nicht einseitig diskriminiert werden.
Der Aufbau wettbewerbsfähiger Betriebsgrößen in der Landwirtschaft muß auch weiterhin möglich sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang — dies hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage betont —, daß die Einkommensausgleichsmaßnahmen im GATT nicht unter die abbaupflichtigen Maßnahmen fallen.
Unsere Landwirte brauchen auch nach einem GATT-Abschluß und der Reform der EG-Agrarpolitik eine positive Perspektive.
Die Ernsthaftigkeit der EG, ihre Agrarprobleme zu lösen, wird inzwischen von den Partnern im GATT anerkannt. So haben US-Vertreter wiederholt erklärt, daß sie die deutsche Politik der Mengenrückführung als einen wichtigen Impuls für einen erfolgreichen Abschluß des Agrarkapitels im GATT ansehen.
Gewiß werden die nächsten Tage noch von intensiven und harten Verhandlungen gekennzeichnet sein. Die Landwirtschaft kann aber sicher sein, daß ihre wesentlichen Belange gewahrt bleiben. Andererseits muß auch die Landwirtschaft an geordneten Spielregeln im Welthandel interessiert sein.
Eine substantielle Rückführung der Exportsubventionen wird gleichzeitig dazu beitragen, daß die Weltmarktpreise voraussichtlich ansteigen werden. Anderen Ländern helfen wir durch unsere Zurückhaltung, auf den Exportmärkten neue Zugangsmöglichkeiten und Einkommenschancen zu erwerben.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, hoffe ich, daß wir in allernächster Zeit zu einem ausgewogenen Kompromiß und zu einem erfolgreichen Abschluß in allen Bereichen der GATT-Runde kommen werden.
Ich bedanke mich heute vor diesem Auditorium, vor dem Deutschen Bundestag, ausdrücklich für das Verständnis, welches alle Redner den Problemen der Agrarpolitik entgegengebracht haben. Dies tue ich ganz besonders meinem Parteifreund Graf Lambsdorff gegenüber.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Es war ursprünglich vorgesehen, über diesen Antrag abzustimmen. Nach der Debatte, in der der breite Wunsch des Hauses zum Ausdruck kam, zum Gelingen der GATT-Verhandlungen beizutragen, ist der Antragsteller einverstanden, daß nicht abgestimmt wird.
Vielmehr wird, wie inzwischen auch interfraktionell vereinbart, vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 12/1817 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Wirtschaftsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, dem Europaausschuß sowie den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ist das Haus damit einverstanden? Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur dauerhaften sozialen Verbesserung der Wohnungssituation im Land Berlin
— Drucksache 12/1459 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 12/1770 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Raidel Siegfried Scheffler
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mietpreisbindung Berlin
— Drucksachen 12/1276, 12/1770 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Raidel Siegfried Scheffler
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das Wort unserer Kollegin Frau Dr. Christine Lucyga.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wohnen und Mieten werden immer mehr zu einem bestimmenden innenpolitischen Thema. Ein Blick auf Pressemeldungen und Schlagzeilen genügt. „Keine Entwarnung auf dem Wohnungsmarkt" heißt es da oder „Wohnungen noch knapper und noch teurer", bis hin zu der Ankündi-
5770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Christine Lucyga
gung, der gegenwärtige Wohnungsmarkt biete „sozialen Sprengstoff".
Während regierungsseitig die Umschreibung „Engpässe auf dem Wohnungsmarkt" bevorzugt wird, sprechen Experten inzwischen ganz unverblümt von „Wohnungsnot" oder auch „Wohnungsmisere". Angesichts der Tatsache, daß in ganz Deutschland ca. 2,5 Millionen, manche sagen 2,7 Millionen, Wohnungen fehlen, die Mieten vor allen Dingen in Ballungsräumen stärker als die Einkünfte steigen und — das ist das allertraurigste Kapitel dieser Negativbilanz — daß mindestens 300 000 Obdachlose diesen Winter ohne eigenes Dach über dem Kopf überstehen müssen, ist dies berechtigt. Denn das alles ist schlimm.
In dieser Situation besteht hochgradig politischer Handlungsbedarf.
Eine wirksame Kurskorrektur würde allerdings auch einen wohnungspolitischen Kraftakt der Bundesregierung voraussetzen. Statt dessen erleben wir, daß der Berg ein Mäuslein kreißte — wie schon so oft; denn der kürzlich vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Begrenzung des Mietanstiegs wird selbst vom bayerischen Innenminister Stoiber als „reichlich spät" und „sträflich halbherzig" verworfen.
Die von der Bundesregierung geplante Mietrechtsänderung ist gut gemeint. Aber das war's auch schon; denn sie ist nicht geeignet, Wohnungsnot und Mietenanstieg spürbar einzudämmen. Bei näherem Hinsehen ist keine ernsthafte Abkehr vom gegenwärtigen wohnungspolitischen Kurs zu erkennen. Im Gegenteil: Laut dpa-Meldung vom 4. Dezember geht die Bauministerin davon aus, daß die Mieten weiter steigen. Dies könne marktwirtschaftlich nicht anders sein. Das ist schon etwas kaltschnäuzig angesichts der vom „Capital" konstatierten Tatsache, daß der Durchschnittsverdiener schon jetzt die Hälfte seines Nettoeinkommens für die Miete opfern muß.
— Im „Capital", Heft 12/1991, nachzulesen. — Alles deutet also darauf hin, daß die Wohnungspolitik der Bundesregierung auch künftig den Entwicklungen hinterherlaufen wird. Es gibt Engpässe am Wohnungsmarkt, die unmittelbare Auswirkungen auf die Miethöhe haben. Mietwucher ist für viele ein lohnendes Geschäft geworden.
Der stereotype Hinweis auf die angeblich regulierende Wirkung des Marktes ist nichts weiter als eine Beruhigungspille bei schwerer Krankheit des Wohnungsmarktes. Das kann nicht gutgehen. Da durch den Markt allein der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage und damit auch die Regulierung der Miethöhe kurz- oder mittelfristig nicht zu erreichen sein wird, muß der Staat steuernd eingreifen, sowohl was die Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus angeht als auch durch Eindämmung der Mietpreisentwicklung.
Der heute zur Debatte stehende Gesetzesentwurf des Bundesrates wurde mit den Stimmen der Regierungsparteien in der ersten Lesung abgelehnt. Das war ein falsches politisches Signal. Indessen argumentieren Bundesregierung und Regierungsparteien ungehindert weiter, daß die Wohnungskosten weiter steigen müßten, wenn der Wohnungsmangel in der Bundesrepublik beseitig werden solle. Aber die Beweisführung dafür, daß es wirklich so ist, sind sie in den Jahren der christlich-liberalen Koalition schuldig geblieben.
Erst nach 1983 ist das Wohnungsproblem in der Bundesrepublik zur Wohnungsmisere eskaliert.
— Jetzt haben wir überbelegte Wohnungen.
Seit 1982 das Miethöhegesetz nach Ihren Intentionen novelliert wurde, die Mietpreisbegrenzungen liberalisiert und der soziale Wohnungsbau auf die Hälfte zurückgedreht wurde, hat sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt von Jahr zu Jahr verschlechtert. Weder das Ende der Wohnungsnot noch ein Ende der Mietensteigerungen sind in Sicht. Im Gegenteil: Der jetzige Münchener Armutsbericht sagt doch sehr klar aus, daß eine Wechselbeziehung zwischen Mieten- und Wohnungsmisere sowie wachsender Armut besteht.
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?
Ja. Na, Herr Hitschler, was möchten Sie denn fragen?
Frau Kollegin, ist Ihnen nicht bekannt, daß die durchschnittlichen Mietsteigerungen zwischen 1983 und 1986 geringer waren als die durchschnittlichen Steigerungen der Lebenshaltungskosten? Und würden Sie mir zustimmen, daß das darauf hindeutet, daß die Mietsteigerungen eben sehr gering waren, weil die Nachfrage nach Wohnungen in dieser Zeit nicht dem Bild entsprach, das Sie hier zu zeichnen versuchten?
Ich bin gern bereit, die Statistiken mit Ihnen gemeinsam nachzuschlagen.
Der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf mit dem vorgesehenen Weg, zur Sicherung sozialverträglicher Mietpreisentwicklungen im Altbaubestand die bisherige Kappungsgrenze beizubehalten und damit insgesamt die Mietenentwicklung im Raum Berlin zu dämpfen, ist ein Schritt in die richtige Richtung, den die Regierungsparteien bisher nicht mitgehen wollen, obwohl im Bundesrat alle Länder — bei einer Stimmenthaltung — den Antrag unterstützen. Offensichtlich sind die Länder näher an der Problematik dran.
Wenn Sie diesen Antrag jetzt ablehnen, dann geben Sie den Startschuß für weitere Mieterhöhungen; denn es ist keineswegs so, wie in der ersten Lesung von
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5771
Dr. Christine Lucyga
Ihnen, Herr Kansy, dargestellt wurde, daß im Prinzip nur ein geringer Teil der Altbaumieten bei Neuvermietung von dieser Regelung betroffen ist. Im Gegenteil: Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates ist ja gerade beabsichtigt, das sprunghafte Ansteigen der Vergleichsmieten einzudämmen; denn das Problem der Ballungsgebiete besteht ja darin, daß auf Grund von hohen Mietabschlüssen bei Neuvermietung die ortsübliche Vergleichsmiete hochschnellt.
Eine weitere Argumentation der Regierungsparteien gegen den Gesetzentwurf des Bundesrates lautet, daß mit einer Verlängerung der Mietpreisbegrenzung für Berlin andere Ballungsgebiete ungerechtfertigterweise benachteiligt würden. Das ist natürlich schon absurd. Da wird gleiches Recht für alle gefordert. Das aber erweist sich als Etikettenschwindel; denn in Wahrheit soll es gleiches Unrecht für alle geben. Es wäre also zu schlußfolgern: Wenn es den Menschen in den Ballungsgebieten schlechter geht, dann muß es in Berlin eine Angleichung zum Schlechteren geben. Man kann es ja auch einmal umgekehrt versuchen, nämlich mit einer Angleichung zum Besseren für alle.
Kollegin Lucyga, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert? — Bitte sehr, Herr Kollege Seifert.
Das hat sich im Grunde erledigt. Ich wollte Sie fragen, ob Sie der Auffassung zustimmen würden, daß es sinnvoll wäre, diese Mietpreisbindung auf alle Ballungsgebiete auszudehnen und sozusagen eine gerechte Lösung für alle Menschen, zumindest in den Ballungsgebieten, zu schaffen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hatte vor, das im nächsten Satz zu sagen: Der Beibehalt einer Regelung für Berlin könnte für andere Ballungszentren Modellcharakter haben.
Die ablehnende Haltung der Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsparteien geht an der Dynamik der Mietentwicklung vorbei. Im übrigen widerspricht diese Haltung wohl auch so etwas dem Ideal der mobilen Gesellschaft im vereinten Europa. Denn ich kann mir vorstellen: Wer jetzt überhaupt noch eine preiswerte Wohnung hat, der hütet sich, sie aufzugeben. Aber das sei nur am Rande bemerkt.
Ich möchte doch feststellen: In einer Zeit, in der zunehmend öffentlich darüber nachgedacht wird, daß Wohnen doch ein soziales Grundrecht ist, das im Grundgesetz verankert werden muß — ich erwähne in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Bundespräsidenten, der in Erfurt davon sprach, daß das Recht auf Wohnraum ein fundamentales Bedürfnis und seine Erfüllung eine politische Aufgabe ersten Ranges sei —,
bekommen Menschen mit kleinem und mittlerem Einkommen die Fürsorge des Staates immer weniger zu
spüren. In dieser Zeit sind der Regierung die Kapitalanleger deutlich lieber als die Schutzbedürftigen, und werden Probleme der Mieter weniger ernst genommen als die Interessen der Vermieter und der Grundstückseigner.
So liegt denn auch die von der Bundesregierung gegenwärtig vertretene Position gar nicht so weit ab von der der Grundstückseigentümer und Hausbesitzer, die — wie in der „Süddeutschen Zeitung" vom 3. Dezember zu lesen ist — fordern: Anstatt den sozialen Wohnungsbau zu fördern, sollte lieber mehr Wohngeld gezahlt werden, was im Klartext Mieterhöhungen zugunsten privater Vermieter zu Lasten öffentlicher Kassen bedeutet.
Nun möchte ich noch einen Blick auf die neuen Bundesländer werfen, in denen sehr aufmerksam auf alles geachtet wird, was sich im Bereich Wohnen und Mieten tut. Der Schock der Mieterhöhung vom Oktober dieses Jahres ist bei vielen noch nicht überwunden. So gibt es nun die Sorge, daß auf die schlimme wohnungspolitische Hinterlassenschaft des real vegetierenden Sozialismus nun auch noch die wohnungspolitischen Versäumnisse der christlich-liberalen Regierung draufgesattelt werden.
Die gerade eingegangene Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion zur Entwicklung der Mieten in den neuen Bundesländern legt nahe, zu vermuten, daß sie über zwei Hauptbefürchtungen der Menschen im Osten Deutschlands sehr lässig — besser gesagt: nachlässig — hinweggeht. Die eine Sorge ist: Wann kommt die nächste Mieterhöhung? Werde ich meine Wohnung dann überhaupt noch halten können? Die zweite heißt für viele: Was geschieht, wenn mit Beendigung des besonderen Kündigungsschutzes für Bürger im Osten Deutschlands die Eigentümer rückübertragenen Eigentums an Grundstücken und Gebäuden Ansprüche aus ihrem Eigentum geltend machen?
Zumindest für die erste Frage ist die Antwort Schon vorprogrammiert: Sollte es nicht zu einer Lösung des Altschuldenproblems der kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen kommen, sind spätestens 1993, bei Auslaufen des dreijährigen Zinsmoratoriums, abermals beträchtliche Mietsteigerungen im Osten zu erwarten, davon durchschnittlich 2 DM je Quadratmeter allein für den Schuldendienst.
Zum zweiten Problem möchte ich fragen, ob nicht durch die bedenkenlose Wiederherstellung ehemaliger Eigentumsverhältnisse der Graben tiefer aufgerissen war, als die Mauer hoch war?
5772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Christine Lycyga
Was die Bundesregierung davon hält, speziell in Ostdeutschland — neben einer Verbesserung des Kündigungsschutzes für ganz Deutschland — Kündigungen durch Westeigentümer stärker zu blockieren — —
— Moment, kommen Sie in den Osten und sehen sich das an!
Herr Rüttgers, die Begründung für diesen Vorschlag habe ich gerade bei Ihrem christdemokratischen Glaubensbruder, dem sächsischen Justizminister Heitmann, gefunden.
— Sie haben nicht richtig hingehört: Der Graben ist tiefer, als die Mauer hoch war.
Hören Sie doch einmal Ihrem christdemokratischen Kollegen zu, der wörtlich sagte: „Bei Menschen im Osten kommt derzeit der Eindruck auf, daß die Rechtsordnung formale Eigentumsrechte mehr schützt als jahrzehntelang gewachsene Besitzverhältnisse im Osten. " Dem ist nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Hans Raidel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Moment beherrschen zwei Themen die Schlagzeilen der Berliner Presse: zum einen der Regierungssitz Berlin, zum anderen die Mieten in Berlin.
Die Mietenpolitik in Berlin ist unser Thema. Bausenator Nagel kocht dieses Thema in einer Art und Weise, die einer seriösen Betrachtungsweise unangemessen ist.
Aus vordergründigen, wohl parteitaktischen Überlegungen mißbraucht man die Gefühle vieler Menschen und verunsichert sie.
Man nutzt die Unwissenheit aus und macht ihnen Angst.
Die Mieten in Berlin sollen im Kampf um Wahlprozente offensichtlich zu einer Art Nagelprobe gemacht werden.
Der Hintergrund: Nach dem Gesetz vom 14. Juli 1987 darf bei Neuabschluß eines Mietvertrages die Miete maximal um 10 % zur bisherigen Miete erhöht werden. Im Altbauwohnungsbestand sind jährlich höchstens 5 % erlaubt. Ziel war bei Altbauwohnungen ein Übergang von der früheren Preisbindung auf das Vergleichsmietensystem. Dieses Gesetz läuft am 31. Dezember 1991 aus und soll nach Meinung der SPD und des Bundesrates bei gleichem Inhalt bis zum 31. Dezember 1994 verlängert werden. Schon damals war man sich auch mit Berlin einig, daß dieses Gesetz nicht mehr verlängert werden dürfe, da es dem Markt zuwiderlaufe. Heute will man davon in Berlin nichts mehr wissen.
Ich stelle fest: Der von Berlin und insbesondere von der SPD angestrebte Weg zur angeblichen Verbesserung der Wohnungssituation in Berlin ist falsch.
Die Mieten in Berliner Altbauten sind extrem niedrig. Sie betragen 6 bis 8,50 DM. Selbst wenn die 10%ige Begrenzung bei Neuvermietung wegfällt, sind nach dem Wirtschaftsstrafgesetz nur Mietabschlüsse bis zu 20 % über dem Vergleichsmietenniveau zulässig. Es ist Sache der Berliner Verwaltung, diesem Gesetz zur Wirksamkeit zu verhelfen.
Die vergleichbaren Mieten in Hamburg, Frankfurt — ca. 30 % — oder München — ca. 56 % — und in vielen anderen Städten liegen deutlich über Berliner Niveau und weit über 10 DM. Auch bei extremer Ausnutzung aller gesetzlichen Möglichkeiten liegen die Mieten für Berliner Altbauten dann immer noch unter 10 DM und damit unter dem Niveau anderer Ballungsräume. Eine Sonderbehandlung Berlins vor diesen Städten ist nicht zu verantworten.
Berlin liegt im Mietpreisniveau nach dem Saarland und Rheinland-Pfalz an drittletzter Stelle und mit 7 weit unter dem Bundesdurchschnitt.
Zur Struktur des Wohnungsbestandes in Berlin: West-Berlin hat derzeit rund 900 000 Mietwohnungen, davon 470 000 Altbauwohnungen. Zirca 3 bis 5 % der Altbauwohnungen sind durch Neuvermietung vom Gesetz überhaupt betroffen. Gemessen an der Gesamtzahl von 900 000 Mietwohnungen sind es also rund 2 % Dafür riskiert Berlin einen weithin ziemlich unbeweglichen Markt und produziert ein investitionsfeindliches Klima.
Senator Nagel weiß das alles; denn am 14. November 1991 hat er auf die Frage eines Berliner Abgeordneten, ob höhere Mieten in Berlin tatsächlich zu einer merklichen und schnelleren Förderung des Wohnungsbaues mit noch akzeptablen Mieten führen würde, geantwortet — ich darf ihn zitieren — :
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5773
Hans Raidel
Das globale Investitionsklima für entsprechende Investoren wäre etwas verbessert.
Nagel weiß also ganz genau, daß er auf dem falschen Pferd sitzt.
Weitere Nachteile dieses Gesetzes wären in aller Kürze: Marktspaltung der Mieten zwischen Altbauwohnungen mit 8 DM und Neubauwohnungen mit ca. 17 DM pro Quadratmeter. Erscheinungsformen des grauen Marktes würden sich durch Abschlagszahlungen und andere Ausgleichsleistungen neben der offiziellen Miete verstärken, wodurch besonders die sozial und finanziell Schwachen benachteiligt wären. Tendenzen zur Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verstärken sich. Wohnraum bleibt unterbelegt, da sich jeder große Wohnungen leisten kann, auch wenn er sie nicht braucht. Die Mobilität im Mietwohnungsmarkt schrumpft.
Berlin hat den höchsten Anteil an Mietwohnungen im Vergleich zu anderen Großstädten. Niedrige Mieten sind kein Anreiz für Eigenheimerwerb. Trotz des 1987 eingeführten Gesetzes stieg der Wohnungsfehlbedarf laufend. Derzeit fehlen in Berlin ca. 150 000 bis 200 000 Wohnungen. Damit ist ein Beweis erbracht, daß sich dieses Gesetz investitionshemmend auswirkt. Eine Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes würde also die gleichen Folgen haben und sie durch die Zeitschiene noch verstärken.
Herr Kollege Raidel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müntefering?
Sehr gerne. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Herr Kollege, wenn das alles so ist und da Diepgen Regierender Bürgermeister von Berlin ist: Hat Herr Diepgen von all diesen Dingen denn keine Ahnung?
Das müssen Sie ihn selber fragen.
Ganz allgemein: Die Zinsen müssen wieder herunter. Für die bedrängten Mieter käme das einer Hilfe aus zwei Richtungen gleich:
a) Familienväter bewältigen wieder die Kreditfinanzierung eines Eigenheims.
b) Institutionellen Anlegern fällt der Mietwohnungsbau endlich wieder als vernünftige Alternative zu Wertpapieren ein.
Daneben sind für den Wohnungsmarkt staatliche Förderungen unerläßlich.
Aber
— so meint auch Direktor Schlich vom Deutschen Mieterbund —
der Staat würde sich hoffnungslos überheben, würde er nur auf den Sozialen Wohnungsbau setzen.
Ich füge hinzu: Die Privatinitiative muß verstärkt gefördert werden.
Nach meiner Auffassung muß Berlin seine Hausaufgaben selbst machen. Rund 35 % aller Wohnungen sind in Berlin als Sozialwohnungen gebaut. Das war vor der Wiedervereinigung auf Grund der besonderen Lage Berlins richtig und notwendig. Der unerwünschte Nebeneffekt dieser Politik ist ein in weiten Teilen unbeweglicher Wohnungs- und Immobilienmarkt.
Meine Damen und Herren, die Wiedervereinigung ist für Berlin eine Riesenchance, den Wohnungsmarkt in den Griff zu bekommen. Berlin hat Platz, vor allem im Osten. Ich sagte schon: Berlin muß seine Hausaufgaben machen. Der Flächennutzungsplan ist für Gesamtberlin zu überarbeiten, unter Einbeziehung der Umlandprobleme mit Brandenburg. Bebauungspläne für Neubausiedlungen sind zu forcieren. Dabei ist darauf zu achten, daß die Bodenspekulation nicht ausufert. Nachverdichtungen und Dachgeschoßausbauten sind voranzutreiben.
Gegen Fehlbeleger — derzeit sind es in West-Berlin etwa 118 000 —, die trotz der gestiegenen Einkommen in den subventionierten Wohnungen bleiben, ist in Berlin konsequenter vorzugehen — siehe eventuell bayerisches Modell.
Die Verkehrsprobleme sind in einem Gesamtverkehrsplan aufzuzeigen und zügig schrittweise zu lösen. Die Bauverwaltung ist auf diese Aufgabe auszurichten.
Ich verkenne nicht die Schwierigkeiten in der Praxis. Insbesondere gestehe ich gerne zu, daß Ost-Berlin mit schwierigen Eigentumsverhältnissen nach der unsäglichen Hinterlassenschaft des SED-Staates besondere Probleme schafft. 20 000 leerstehende Wohnungen im Ostteil der Stadt, für die derzeit das Geld zur Renovation fehlt, auch wegen — das muß betont werden — der falschen Mietenpolitik im Sozialismus, sind ein exemplarisches Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf.
Wir wissen, daß in allen fünf neuen Bundesländern zu den weiteren elementaren Voraussetzungen des Aufschwungs und der Lebensverbesserung die deutliche Anhebung der dortigen Wohnqualität zählt. Um sie zu verbessern, muß das fast vollständig verstaatlichte Wohnungswesen von Grund auf neugeordnet werden.
Extrem niedrig festgezurrte Mieten haben jede Substanzerhaltung und erst recht jede Neuerung, wie etwa die der energieverschwendenden Heizungsanlagen, wirtschaftlich von vornherein unmöglich gemacht und damit direkt zum Verfall von Gebäuden und ganzen Stadtteilen geführt.
Daran sollte die Opposition denken und ihre Argumentation von gestern aufgeben.
Die Erfahrung lehrt: Längerdauernde Deckelung des Wohnungsmarktes schreibt alte Strukturen fest. Damit wird nur eines fortgesetzt: chronische Ineffi-
5774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Hans Raidel
zienz und Wettbewerbsschwäche, und das alles letztlich zu Lasten des Mieters, weil die Ausweitung des Wohnungsangebotes unterbleibt. Die Wohnung ist keine staatliche bzw. kommunale Gabe, sondern ein Wirtschaftsgut, das wie jedes andere seinen Preis hat.
Meine Damen und Herren, Berlin als moderne, weltoffene Stadt mit den besten Entwicklungschancen kann Betonköpfigkeit im Denken wie im Handeln nicht brauchen.
Berlin braucht eine Wohnungs- und Mietenpolitik, die den gedeckelten Wohnungsmarkt möglichst schnell in einen sozialverträglichen freien Markt überführt, dadurch Bewegungsspielräume und Freiräume schafft und damit auch dem Mieter hilft.
Herr Senator Nagel und Sie, meine Damen und Herren der Opposition, ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam Nägel mit Köpfen zu machen — Berlin zuliebe.
Herzlichen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Miethöhe und Mietsteigerungsraten sind wichtige Faktoren für den sozialen Frieden oder Unfrieden, und zwar überall. Dem Antrag auf Begrenzung des Mietpreisanstiegs kann die PDS/Linke Liste also nur zustimmen.
Gewinne aus Wohnungsbesitz zu schöpfen ist zwar unter rein marktwirtschaftlichen Aspekten ganz normal, für uns kann das aber keineswegs der entscheidende Faktor für die Wohnraum- und Mietenpolitik sein. In meinen Augen gehört angemessener Wohnraum zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen. So gesehen darf die Bezahlung der Wohnung, ihr Preis, die Miete also, nicht in unerschwingliche Höhe getrieben werden. Menschenrechte stehen jedenfalls für mich über Marktgesetzen.
Im wohnungspolitischen Programm der PDS/Linke Liste, das der Öffentlichkeit unter dem Titel „Wohnen in Deutschland" in diesem Herbst übergeben wurde, gehen wir davon aus, daß die Wohnung nicht wie jede andere x-beliebige Ware behandelt und gehandelt werden darf.
Daß sich die Praxis nicht um unsere moralischen Bedenken schert, ist dem Versagen der Herrschenden in diesem und auch der Ignoranz der ehemals Herrschenden in jenem Lande zu verdanken. Deren Tun — besser gesagt: ihr Unterlassen — ist für den katastrophalen Mangel an geeigneten Wohnungen — immerhin fehlen rund zweieinhalb Millionen in ganz Deutschland — verantwortlich.
Nur dieser Mangel ist schließlich der Nährboden dafür, daß Mieten spekulativ hochgetrieben werden können. Gäbe es den ausgewogenen Markt, von dem
Sie hier immer reden, auf dem sich die Mieterinnen und Mieter unter verschiedenen Wohnungen eine geeignete aussuchen könnten, müßten sich schließlich die Vermieter, egal ob es sich um Sozial- oder freifinanzierte Wohnungen handelt, um ihre Kunden, also um uns, bemühen. So aber können sie sich bequem zurücklehnen und warten, was denn die Kunden, also wir Mieter, ihnen bieten. Es ist doch keine Horrorgeschichte der PDS, die von den sogenannten freiwilligen Prämien usw. erzählt.
Die Verlängerung der Begrenzung des Mietanstiegs ist also eine Möglichkeit, einer rüden Verdrängung sozial Schwächerer aus ihrem angestammten Kiez ein bißchen entgegenzuwirken, vor allem wenn dieser Kiez in einer sogenannten guten Lage ist.
Damit wird das Problem zwar keinesfalls bei der Wurzel gepackt; aber solange es nicht genug Wohnungen gibt, unterstützen wir den Berliner Antrag.
In diesem Zusammenhang sei mir der Hinweis gestattet, daß sich Herr Senator Nagel entscheiden muß, ob er mich, den Berliner Abgeordneten, bittet, seinen Antrag zu unterstützen, oder ob er mich hier im Plenum beschimpfen will, ich solle bitte die Klappe halten; da müßte er sich vielleicht einmal entscheiden.
Wir von der PDS sind sogar der Meinung, daß die Begrenzung des Mietpreisanstiegs zumindest auf alle Ballungsgebiete auszudehnen ist. Ich sehe mich da in Übereinstimmung mit Frau Lucyga. Kalkulierbare und bezahlbare Wohnungen braucht man in Neukölln genauso wie in Treptow, in München wie in Leipzig, in Tiergarten wie in Friedrichshain, in Schwerin wie in Hamburg; ich könnte die Aufzählung fortsetzen.
Ich bin also für die gesetzliche Begrenzung des Mietpreisanstiegs zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem für jede Wohnungssuchende und jeden Wohnungssuchenden geeigneter Wohnraum vorhanden ist. Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, die Ministerin aufzufordern, den Mietern diese Atempause zu geben, und sie zu nutzen, um Wohnungen zu bauen, Wohnungen zu bauen, Wohnungen zu bauen
— vielen Dank, Herr Hitschler — , mitten in den Städten für jedermann und jede Frau, für jedes Kind, für jeden Menschen mit Behinderung und für Alte, also für Menschen, deren Recht auf Wohnraum eingelöst werden muß — für die soziale Atempause.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Hitschler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesrat und die Opposition versuchen mit ihren hier vorgelegten Anträgen, einer Entwicklung auf dem Berliner Wohnungsmarkt mit einem Instrument zu begegnen,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5775
Dr. Walter Hitschler
das seit vielen Jahren und auch jetzt noch gültig ist, das aber nicht in der Lage war, die Entwicklung zu verhindern, die es durch die Verlängerung seiner Geltung verhindern soll.
— Noch einmal? — Sie wollen ein untaugliches Instrument, das bisher seine Untauglichkeit bewiesen hat, verlängern, damit es auch in Zukunft seine Untauglichkeit beweisen kann.
Denn das, was Sie beklagen, nämlich die Mietpreissteigerungen, findet ja unter Geltung der Regelung statt, die Sie hier jetzt verlängern wollen. Das muß ein untauglicher Versuch bleiben.
Besonders famos ist dabei das Unterfangen einer Berliner Mieterinitiative, auch noch die Zahlen dafür zu liefern, welche die Untauglichkeit dieses Instruments und die Untätigkeit der Berliner Verwaltung geradezu dokumentieren.
Nein, all diese reglementierenden Eingriffe ins Mietrecht, die in Berlin in der Vergangenheit zu nichts anderem als zu unglaublichen Verzerrungen des Mietgefüges geführt haben, sollten nun nicht mehr die Ehre verdienen, verlängert zu werden. Wir brauchen ein rechtseinheitliches Mietrecht und nicht drei unterschiedliche Rechtsgebiete. Es darf auch für die Überleitung des Mietrechts in den neuen Bundesländern kein falsches Vorbild geliefert werden.
Die Fehlbelegung der zahlreichen Sozialwohnungen in Berlin, der riesige Flächenverbrauch pro Mieter und die besonderen Ausstattungen der Wohnungen sind Ergebnisse einer verfehlten Wohnungspolitik in der Vergangenheit, deren Fortsetzung keine Unterstützung in Bonn verdient.
Herr Dr. Hitschler, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Seifert zu beantworten?
Aber gerne.
Bitte sehr, Herr Dr. Seifert.
Herr Dr. Hitschler, könnten Sie vielleicht mit mir darüber übereinstimmen, daß, wenn es um ein rechtseinheitliches Mietsystem geht, es ein Mietsystem auf möglichst niedrigem Niveau sein sollte?
Dagegen habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Ich würde natürlich auch sehr niedrige Mieten begrüßen, wenn der Markt sie hergibt.
Sie müssen nur — das unterscheidet unsere Argumentation von der Ihren — feststellen, daß die Kosten im Wohnungsbau zunächst einmal natürlich sehr hohe Kostenmieten verursachen. Dann müssen Sie diese Kostenmieten auf ein sozialverträgliches Niveau herabsubventionieren. Wir haben Probleme damit, wie Sie das machen. Sie und die Opposition wollen das über eine Objektförderung machen.
Wir wollen es über das Wohngeld und über Belegrechte machen. Wir glauben, daß unser System das bessere ist. Herr Dr. Seifert, wir nehmen Ihre Argumentation im Gegensatz zu anderen sehr ernst. Wir haben auch die Hoffnung nicht aufgegeben, daß wir aus Ihnen noch einen guten Marktwirtschaftler machen.
Staatliche Interventionen vermögen keine nachhaltige Verbesserung einer in der Tat angespannten Situation herbeizuführen. Hier hilft nur der Neubau von Wohnungen. Dafür sind derartige Regulierungen Gift, weil sie Investoren abschrecken.
Nun hat das Bundesjustizministerium ja einen Referentenentwurf vorgelegt, der eine Koalitionsvereinbarung zur Gestaltung der Kappungsgrenze umsetzt. Hierfür hat der Justizminister vielfach Schelte bezogen, obgleich er nur exekutieren mußte, was im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Zumal für einen liberalen Minister ist es natürlich nicht ganz leicht, für eine Sünde wider die Marktwirtschaft in Anspruch genommen zu werden, die uns von anderen — Herr Raidel, sehen Sie mir das bitte nach — , die aus Münchens Ferne freundlich winken, abgerungen wurde, auch wenn es nur eine läßliche und keine Erbsünde war.
Denn die Miete soll und muß die Funktion haben, die Knappheitsverhältnisse an den Wohnungsmärkten wiederzugeben. Der Preiserhöhungsspielraum von 20 % in drei Jahren läßt sich noch halbwegs vertreten, zumal die Regelung zeitlich befristet ist, sich auf den vor 1981 errichteten Bestand beschränkt und nur für Mietverhältnisse gilt, deren Miethöhe 8 DM pro Quadratmeter überschreitet, so daß er so weit bemessen ist, daß ein Angleichen an die ortsübliche Miete in angemessener Zeit möglich ist, aber auch so eng, daß ein extremes Ausnutzen einer stärkeren Marktposition verhindert wird.
Diese neue begrenzte Regelung wird Investoren nicht abschrecken. Berlin muß darauf setzen, seine Wohnungsprobleme durch den Neubau von Wohnungen zu lösen, und deshalb alles tun, um durch Bereitstellung von baureifen Grundstücken in ausreichender Größe und Zahl die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Bauwillige, die es auch in Berlin in unbestritten großer Zahl gibt, auch tatsächlich bauen können. Nur durch den Neubau kann das Wohnungs-
5776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Walter Hitschler
angebot vergrößert und damit die Marktspannung gemildert werden.
Bei Beibehaltung der zur Zeit geltenden Kappungsgrenze würde die mögliche Mieterhöhung dagegen, wenn sich die Vermieter daran hielten, gerade den Preisanstieg ausgleichen, geschweige denn die steigenden Instandsetzungskosten auffangen können.
Die Überwachung der Einhaltung würde aber zu Umgehungstatbeständen in Form von Abschlagszahlungen und ähnlichen Faxen führen, wie wir dies von Märkten wie beispielsweise Wien her kennen, wo man diesen Unfug seit Jahr und Tag mit all den unfreundlichen Begleiterscheinungen praktiziert und wo eine Wohnung, Herr Dr. Seifert, zwar zu niedrigen Mieten zu haben ist, wo man aber dafür, daß man sie bekommt, zunächst einmal 50 000 DM auf den Tisch blättern muß. Das stellt dann den angeblich sozialen Weg dar. Einkommensschwächere haben auf diese Art und Weise überhaupt keine Chance mehr, an eine Wohnung zu kommen.
Aber so weit wollen die Berliner ja gar nicht gehen. Sie haben erfreulicherweise all die Stellen, die für Zwecke der Überwachung der Mietpreisspiegel eingerichtet worden sind, mit einem k.w.-Vermerk versehen und üben freiwillig Verzicht auf eine Mietpreisüberwachung. Damit wird deutlich, daß die Berliner selber ihren Antrag so ernst gar nicht nehmen. Das macht sie wiederum ganz sympathisch.
Das bedeutet aber auch, daß eine derartige Sonderregelung überflüssig ist. Also dient der Antrag lediglich der Stimmungsmache und dem Stimmenfang, dem amtlichen Nachweis der Geschäftigkeit in Sachen Soziales. Als Sandmännchen sollte uns das Mietrecht aber eigentlich zu schade sein. Deshalb sollten wir darauf verzichten, den Berlinern Sand in die Augen zu streuen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, diesen Antrag abzulehnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Christina Schenk.
Mieten müssen teuer werden. Vermieten muß sich lohnen. Freie Bahn den Reichen! Wer nichts hat, ist selber schuld. — Das, meine Damen und Herren und Herr Präsident, sind die politischen Grundsätze, die hei der Entscheidung der Koalitionsfraktionen Pate gestanden haben, eine Verlängerung der in Berlin geltenden 10 %igen Kappungsgrenze bei Neuvermietungen abzulehnen.
Die Berlinerinnen und Berliner, die davon betroffen sein werden, sind soweit sie zu den Wählerinnen und Wählern einer der Parteien der Koalition gehören, nicht zu bedauern. Sie hätten wissen müssen, was sie tun. Genausowenig gilt meine Solidarität dem Berliner Senat, der mit seiner Hauptstadtpolitik die Stadt Berlin sehenden Auges in eine Lage gebracht hat, in der die Wohnungsnot zwangsläufig größer werden muß und in der die Preise zwangsläufig noch viel weiter steigen werden, nicht nur durch das jetzige Auslaufen der Bestimmungen von 1987.
Dennoch unterstützen wir die Forderung des Landes Berlin, des Bundesrates und der SPD nach der Verlängerung der 10 %igen Kappungsgrenzen bei Neuabschlüssen, eine Sonderregelung für ca. 480 000 Altbauwohnungen in West-Berlin, nicht weil wir meinen, daß Berlin seinen Sonderstatus behalten muß oder etwa einen neuen Sonderstatus erhalten sollte, sondern weil wir der Auffassung sind, daß die Mietanstiegsbegrenzung, die in Berlin heute noch teilweise gilt, auf das gesamte Bundesgebiet, vor allem auf Ballungsgebiete, erweitert werden muß.
Wer gegen einen Sonderstatus Berlin ist, darf nicht die Lage der Mieterinnen und Mieter dort der schlechteren Lage der Mieterinnen und Mieter in anderen Ballungszentren angleichen, sondern muß unseres Erachtens im Gegenteil die Situation im ganzen Bundesgebiet verbessern.
In der vergangenen Legislaturperiode gab es in Westdeutschland — das entnehme ich damaligen Presseausschnitten und auch den Protokollen dieses Hauses — einen breiten Konsens, der, ganz erstaunlich, von den GRÜNEN über die SPD bis zur CSU reichte. Der Konsens besagte folgendes:
Erstens. Die Kappungsgrenze bei Mieterhöhungen in laufenden Verträgen wird von derzeit 30 % in drei Jahren auf 15 % halbiert.
Zweitens. Bei Neuvermietungen darf die ortsübliche Vergleichsmiete, der Mietspiegel also, um nicht mehr als 5 % überschritten werden.
Drittens. Bei der Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete werden sämtliche Mietverhältnisse berücksichtigt und nicht nur die in den letzten drei Jahren neu vereinbarten bzw. erhöhten Mieten.
Die Orientierung an den Neuabschlüssen hat eine unkalkulierbare Mietenspirale zur Folge. Genau das ist der Grund dafür, warum die Berlinerinnen und Berliner die Aufhebung der derzeitigen Begrenzung der Mieterhöhungen auf 10 % so sehr fürchten. Es geht dabei nicht nur um einzelne Wohnungen, sondern um den Mietenspiegel Berlins, d. h. um die Mietpreise der ganzen Stadt und letztendlich um den Lebensstandard der Menschen mit niedrigen Einkommen, die in dieser Stadt leben.
Diese drei Forderungen wurden nicht nur von den GRÜNEN, sondern auch vom CSU-Landesvorstand in München aufgestellt. Die CSU im Bundestag stimmte im Juni 1990 allerdings gegen die Beschlüsse ihres eigenen Parteivorstands, wofür sie in Bayern heftig gescholten und im Rest der Republik verspottet wurde.
Zu Beginn dieser Legislaturperiode hat sich diese Partei ganz einfach dadurch aus der Affäre gezogen, daß sie das traditionell von ihr besetzte Ressort Wohnungspolitik der FDP überlassen hat. Frau Schwaetzer kann nun gemeinsam mit Herrn Kinkel ganz offen und ungestört das Geschäft der Vermieter betreiben.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5777
Christina Schenk
Irritationen, wie sie der Landesverband der CSU in der vergangenen Legislaturperiode verursacht hat, können nun nicht mehr vorkommen. Das ist das traurige Ende eines Vorgangs, der ganz kurze Zeit wie ein Konsens zugunsten von Mieterinnen und Wohnungssuchenden ausgesehen hat.
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hitschler zu beantworten?
Ja.
Vielleicht können Sie mir mit einfachen Worten deutlich machen, warum in der Vergangenheit und heute so wenig Wohnungen, wie Sie schildern, gebaut werden, wenn das Geschäft der Vermieter mit den Wohnungen so lukrativ ist, wie Sie das hier schildern?
Herr Abgeordneter Gerster, ich gehe davon aus, daß Sie diese Bemerkung aus dem Protokoll streichen lassen.
Ich denke, daß dieses Problem der Bedarfsdeckung bei Wohnungen nicht ausschließlich mit marktwirtschaftlichen Prinzipien zu lösen ist, wie das Beispiel dieses Landes zeigt.
Wenn man sich die heutige wohnungspolitische Szene genau ansieht, muß man feststellen, daß es im Deutschen Bundestag keine Fraktion gibt, die die Interessen der Mieterinnen und Mieter konsequent vertritt. Die SPD betreibt die Wohnungspolitik als Routinegeschäft und ist so wenig wie die CDU/CSU dazu bereit, wirkliche Veränderungen der Situation zu bewirken, z. B. durch Einfrieren der steuerlichen Eigentumsförderung, die den Staat in jedem Jahr mindestens 8,5 Milliarden DM kostet, und durch die Umlenkung dieser Mittel in einen dauerhaft gebundenen sozialen Mietwohnungsbau.
Es ist sicherlich ein geringer Trost, wenn ich hier feststellen muß, daß sich die Mieterinnen und Mieter diese Situation durch ihr eigenes Wahlverhalten im Dezember 1990 teilweise selbst zuzuschreiben haben. Aber ich denke, man kommt an der Feststellung nicht vorbei, daß die Mieterinnen und Mieter im Deutschen Bundestag keine Lobby haben, sieht man einmal von der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN ab, die allerdings angesichts der hier herrschenden Mehrheitsverhältnisse nicht in der Lage ist, grundlegende Änderungen zu bewirken. Ich meine, es liegt auch an den Mieterinnen und Mietern, dies vielleicht bei der nächsten Wahl zu bedenken und entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen.
Nunmehr hat der Abgeordnete Professor von Stetten das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Über der Debatte könnte stehen: „Sturm im Wasserglas" oder „Märchen von der Mücke und dem Elefanten", wenn man die Ausführungen der Opposition hört.
Sie haben dem Kollegen Raidel nicht zugehört. Es handelt sich schlichtweg darum, daß die Befristung des § 3 des Gesetzes im Land Berlin planmäßig — ich betone: planmäßig! — am 31. Dezember 1991 ausläuft und damit ein kleiner Schritt zur Normalisierung des Wohnungsmarkts in Berlin getan wird.
Es gilt weiterhin bis Ende 1994, daß die Mieten in einem Zeitraum von drei Jahren nur um 15 % steigen können, im Gegensatz zu 30 % in der alten Bundesrepublik. Nur bei Neuvermietung von frei werdenden Altbauwohnungen kann von neuen Mietern höhere Miete genommen werden, die bis maximal 20 % über der Vergleichsmiete liegt. Betroffen ist daher nur ein kleiner Prozentsatz; wir hörten es schon: 2 % von etwa 1 Million Wohnungen. Die Mieten können im Durchschnitt höchstens bis auf 8 oder 9 DM pro Quadratmeter steigen. Das ist keineswegs zu hoch. Wem sie sozial nicht zuzumuten sind, meine Damen und Herren, für den werden sie durch Mietbeihilfe auf das sozial erträgliche Maß reduziert. Über 1 Million Mietbeihilfen, das nennen wir Soziale Marktwirtschaft.
Von den Sozialdemokraten wird von gigantischer Wohnraumnot gesprochen, von einer verfehlten Baupolitik usw. Meine Damen und Herren, in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland mit gezählten 400 000 leeren Wohnungen, den hinzukommenden leeren Wohnungen in den neuen Bundesländern und den nicht gezählten, zu Hobbyräumen umgewidmeten früheren Wohnungen — zusammen ungefähr 700 000 Wohnungen — kann man nicht von Wohnraumnot sprechen, sondern nur von fehlgenutzten Wohnungen und Wohnraum. Jedem Bürger in der Bundesrepublik Deutschland stehen immerhin 36 qm Wohnraum zur Verfügung. Das ist mit die höchste Wohnfläche in der Welt.
Es ist also kein Mangelproblem, zumindest nicht so, wie Sie sagen, sondern ein Verteilungsproblem, und wir sollten nach den Ursachen fragen.
Insbesondere in Ballungsgebieten und Universitätsstädten gibt es in der Tat Hunderttausende von Wohnungssuchenden. Aber wo sind sie denn, die früheren Wirtinnen, die eine Studentenbude untervermieteten? Das will man sich nicht mehr zumuten. Und schon drängen die Studenten auf den Wohnungsmarkt, zusammen mit den unverheirateten 20- bis 25jährigen erfolgreichen männlichen und weiblichen Angestell-
5778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
ten, die verständlicherweise aus dem Elternhaus streben und eine Wohnung suchen.
So sind in einer Stadt wie Frankfurt bereits 50 % der Wohnungen mit Singles belegt, also mit einer Person pro Wohnung. Wenn Sie die 2 Millionen Neubürger in drei Jahren, Hunderttausende von Asylbewerbern berücksichtigen, wird klar, daß wir hier eine außerordentliche Nachfrage haben, die nicht voraussehbar war.
Ich darf nur am Rande, meine Damen und Herren, an die Tausende von leerstehenden Wohnungen der Neuen Heimat erinnern und an den Schock und den Skandal, die quasi über Nacht den Wohnungsbau allgemein stoppten. Das ist doch nicht zu vergessen.
Wer in einem Zwei- oder Dreifamilienhaus unangenehme oder randalierende Mieter erst nach jahrelangen zermürbenden oder teuren Prozessen, in denen er sich oft von der Gesellschaft und der Justiz im Stich gelassen fühlte, herausbekommen hat, vermietet eben nicht mehr, weil er das bei dem heutigen Wohlstand nicht mehr nötig hat.
Ein soziales Mietrecht — durch angebliche soziale Handhabung der Räumungsschutzfristen und der rigorosen Wiedereinweisungspraxis durch die Gemeinden — wird so leider zum Bumerang, meine Damen und Herren. Wenn wir glauben, das Mietrecht nicht ändern zu können, müssen wir mindestens die Reste der Wohnungszwangswirtschaft beenden, um Investoren für Wohnungen Mut zu machen.
Es wird nichts investiert, wenn das Kapital nicht zurückkommt. Das gilt insbesondere auch bei Altbauten und vor allem in Berlin, wo ganze Straßenzüge durch ihren Zustand der. Mangel an Mieteinnahmen erkennen lassen.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die Probleme nicht leicht zu lösen sind, aber wir müssen von sozialistischen Ideen der Zwangsraumbewirtschaftung wegkommen, deren Ergebnisse uns tagtäglich in den neuen Ländern mit dem trostlosen Zustand der Häuser vor Augen geführt wird.
Unerträglich und fast widersinnig, meine Damen und Herren von der PDS, ist es, uns praktizierte Verletzung von Menschenrechten wegen der Wohnraumnot vorzuwerfen, nachdem Sie mit Ihrer Partei — auf Grund von 40 Jahren real existierendem Sozialismus — den Wohnungsscherbenhaufen in der ehemaligen DDR zu verantworten haben.
Es ist schon eine Dreistigkeit, wenn sie in dieser Debatte das Recht auf Wohnung als grundlegendes Menschenrecht fordern, nachdem Sie eben diese Menschenrechte 40 Jahre lang mit Füßen getreten haben.
Wir haben Wohnungen geschaffen. Sie haben sie kaputtgemacht. Ihre Vorschläge zur Behebung der Wohnungsnot stammen anscheinend immer noch aus der vorhandenen sozialistischen Gruselkiste der SED, deren Nachfolger Sie sind. Ich glaube nicht daran, daß Sie zur Marktwirtschaft finden.
— Ich sage Ihnen das nur, damit Sie nicht in diese Kiste greifen.
Meine Damen und Herren, Berlin ist auch keine Insel mehr und bedarf deshalb auch keiner Sonderbehandlung mehr. Es sollte sich kein Berliner über den erhöhten Zustrom und damit über die Beliebtheit Berlins beklagen.
Meine Damen und Herren Kollegen aus Berlin, die Hauptstadt wurde Ihnen nicht aufgedrängt. Sie haben sich heftig und mit Erfolg darum beworben, und das ist gut so. Die auch daraus resultierenden Schwierigkeiten wollen wir — das haben wir unter Beweis gestellt — gemeinsam lösen, aber nicht mit Methoden der Zwangsraumbewirtschaftung,
sondern mit gezielten Förderungen von Wohnungsbau im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft. Auch Berlin muß auf den Boden der Normalität zurückkehren.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, da ich noch eine Minute Redezeit habe. Die kommunalen Wohnungen in den neuen Ländern, die mit Altschulden belastet sind, sind übermorgen ohne Schulden, wenn sie verkauft werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus einer Gemeinde: Da waren die Wohnungen mit 18 000 DM im Durchschnitt belastet. Sie sollten für 20 000 DM verkauft werden.
Das Ergebnis wäre: Erstens. Die Gemeinde hat keine Schulden mehr.
Zweitens. Der Mieter hat Eigentum. Drittens. Es wird investiert.
Das ist das, was ich Soziale Marktwirtschaft nenne, und so schaffen wir Eigentum und Wohnungen, und so beenden wir die Wohnraumnot.
Danke schön.
Nun spricht der Abgeordnete Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe hier in den letzten elf Jahren dreimal erlebt, daß die Mietpreisbin-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5779
Gerd Wartenberg
dungen und die Mietengesetzgebung für Berlin diskutiert, verlängert oder verändert wurden.
Ich muß sagen: Eine so niveaulose Debatte zu diesem Thema habe ich von seiten der CDU und der FDP noch nicht erlebt.
Ich muß sogar sagen: Die Einbringungsdebatte war besser, als Herr Dr. Kansy gesprochen hat. Der hat zwar gegen den Antrag gesprochen, aber das hatte noch einen gewissen Grad an Niveau.
Was Sie hier vorgetragen haben, ist doch die Philosophie, die einzig und allein in der großen Sorge besteht, in Berlin könnten die Mieten zu niedrig sein. Was ist das für eine absurde Debatte? — Diese Debatte schließt genau an das Symposium an, das die „Berliner Morgenpost" vor einigen Wochen mit der Bundesbauministerin, mit Frau Schwaetzer, machte. Das einzige, was die Bundesbauministerin sagte, war: In Berlin ist im Altbau mit acht DM pro Quadratmeter die Miete zu niedrig; die Mieten müssen steigen, damit Angebot und Nachfrage übereinstimmen oder Bewegung auf den Markt kommt.
Worauf ist diese Ministerin vereidigt?
Das fragt man sich bei einer Bauministerin, die keine andere Sorge hat, als daß die Mieten zu niedrig sein könnten. Das kann doch wohl nicht angehen.
Herr Wartenberg, sind Sie bereit, Dr. Hitschler eine Frage zu beantworten?
Von mir aus.
Herr Kollege, würden Sie uns einmal sagen, was in einem Neubau in Berlin gegenwärtig die echte Kostenmiete pro Quadratmeter Wohnfläche ausmacht?
Es geht im Augenblick gar nicht um den Neubau; es geht um die Verlängerung für den Altbaubereich.
Es geht natürlich auch um den Neubau, denn die Kostenmiete im Neubau liegt bei etwa 40 DM. Am Markt können Sie aber als ortsübliche Vergleichsmiete etwa 17 DM verlangen. Wenn Sie dann aber, der Sie als Investor über einen Zeitraum von 50 Jahren kalkulieren müssen, nur 8 DM bekommen, dann erreichen Sie nie eine Ertragszone; dann unterbleiben Investitionen.
Das ist vielleicht der Grund, warum Frau Schwaetzer diese Äußerung gemacht hat, die Sie hier ebenzitiert haben, deren Erkenntniswert Sie aber offensichtlich nicht verstanden haben.
Das, was die gute Frau Schwaetzer den Berlinern erzählen wollte, war trotz alledem unqualifiziert und dumm. Denn wenn es richtig wäre, ist nicht zu verstehen, daß in den anderen Ballungsgebieten, in denen die Berliner Mietregelung nicht gilt, der Wohnungsmarkt ebensowenig ausgeglichen ist.
Wie sieht es denn in Hamburg, in München, in Frankfurt aus, wo es die Begrenzung nicht gibt? Die Ursachen für die Enge auf dem Wohnungsmarkt und die steigenden Mieten können doch wohl nicht in dieser isolierten mietpreisdämpfenden Regelung, in Berlin liegen. Das ist doch das Absurdeste, das man sich vorstellen kann.
Meine Damen und Herren, es lassen sich zwei Ursachen feststellen: Seit 1983 ist in keinem Staat der EG der Wohnungsbau auf einem so geringen Niveau gelaufen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Selbst Frau Thatcher hat bei geringerer Einwohnerzahl in Großbritannien mehr Wohnungen gebaut als die christlich-liberale Koalition. Frau Thatcher gilt ja selbst hier nicht als besonders sozial. Politisch ist hier offensichtlich etwas völlig falsch gelaufen.
Interessant ist, daß in keinem anderen Bundesland so viele Wohnungen — bezogen auf die Einwohnerzahl — gebaut worden sind wie in West-Berlin und jetzt in Gesamt-Berlin. Denn die Koalition dieses Senats hat vor, in diesen vier Jahren 100 000 Wohnungen zu bauen.
Das fällt dem Senat außerordentlich schwer; damit sind auch Ihre Zielvorstellungen, Angebot über verstärkten Neubau zu schaffen, was ich prinzipiell für richtig halte, die aber durch die Eigentumsordnung — darauf hat schon die Kollegin Lucyga hingewiesen — im Umland begrenzt sind, in Frage gestellt. Wenn 80 % der Grundstücke mit Restitutionsansprüchen belastet sind, können weder Einfamilienhäuser noch die von Ihnen geforderten Neubausiedlungen außerhalb oder am Stadtrand gebaut werden. Da besteht doch wohl ein innerer Zusammenhang.
In dieser Situation — eigentlich gibt es keinen Ausweg — hat die augenblickliche Verlängerung der Mietpreisbindung ihren Sinn, und zwar nicht auf Dauer, sondern weil wir eine einmalige Situation haben, wie wir sie uns Gott sei Dank nicht träumen konnten, als wir das Gesetz das letzte Mal geändert haben.
Die Menschen strömen in die Stadt; das ist positiv. Es soll gebaut werden; im Augenblick stehen aber keine Grundstücke zur Verfügung, obwohl der Senat eine außerordentlich hohe Förderung für den Woh-
5 780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Gerd Wartenberg
nungsbau angesetzt hat, mit keinem anderen Bundesland vergleichbar.
Meine Damen und Herren, unter diesem Spezialaspekt, im Januar nächsten Jahres in Berlin die Mieten bei Neuvermietung freizugeben, ist es das falsche Signal, selbst wenn man die wohnungswirtschaftliche Bedeutung unterschiedlich einschätzen kann. In der Situation, in der wir uns im Augenblick befinden, müßte eine Dämpfung der Mieten eigentlich das normale Signal sein. Da ist dieses — ich sage es einmal so — kleine Instrument. Es geht hier ja nicht um etwas Besonders, um etwas, das die Mieten in Berlin in einem großen Maße reguliert. Es ist in Wirklichkeit eigentlich nur ein Palliativ; selbst dieses Palliativ, das eine mehr psychologische Bedeutung hat, wollen Sie abschaffen.
Das ist deswegen gefährlich, weil die Folge davon ist, daß ein Jahr später die Mietpreisbindung auslaufen soll; das ist der eigentliche Kernpunkt der Übergangsregelung. Dies ist ja nur der erste Schritt. In dieser Situation ist das sozial nicht vertretbar.
Aber bei der Bundesbauministerin und — ich muß auch sagen — bei der Philosophie, die einige Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU hier vorgetragen haben, ist das nicht verwunderlich.
Meine Damen und Herren, es war gar nicht mehr komisch, daß Sie meinten, das sei alles nur ein grandioser Irrtum der SPD oder der Opposition hier. Alle Bundesländer haben diesem Gesetz zugestimmt. Sind die denn nun alle bekloppt, haben nur Sie Hanseln hier die Weisheit gepachtet?
Was ist denn das für eine Arroganz!
Ist es denn nicht so, daß das Abgeordnetenhaus von Berlin insgesamt diesem Gesetzentwurf zugestimmt hat? War es nicht einmal große Tradition dieses Hauses, daß wir, wenn das Berliner Abgeordnetenhaus mit einem gemeinsamen Beschluß in Mietfragen den Bundestag befaßt hat, in Verhandlungen eingetreten sind, um auf der Grundlage dieses gemeinsamen Vorschlages eine Regelung für Berlin zu finden?
Das hat Tradition. Herr Dr. Möller, wir selbst haben in den vergangenen Jahren darüber verhandelt. Wie Sie wissen, sind wir immer wieder zu erträglichen Ergebnissen, zu Kompromissen gekommen.
Ich finde es sehr bedauerlich, daß Sie sich in der jetzigen Zeit so verhalten, in einer Zeit, die so schwierig ist für eine Stadt, die mit ganz neuen Problemen fertigwerden muß und auch fertigwerden wird, weil die Chancen größer sind als die Nachteile — ich glaube, das muß man optimistisch sagen — , die durch die Entwicklung entstehen. Denn es würde den Menschen helfen, wenn wenigstens dieser kleine Schritt gemacht würde, nämlich bei Neuvermietung die Kappungsgrenze bestehen zu lassen. Und Sie wissen: Selbst die geringe Fluktuation von 3 000 bis 5 000 Wohnungen — die im Augenblick natürlich deswegen gering ist, weil angesichts dieses engen Wohnungsmarkts niemand ausziehen will — führt natürlich dazu, daß das Niveau des Mietenspiegels durch die Regelung der Vergleichsmiete in zwei Jahren erheblich angehoben wird. Und das ist der gesamte Sinn der Aufhebung dieser dämpfenden Maßnahme.
Meine Damen und Herren, ich bin ein bißchen traurig darüber, daß eine vernünftige Regelung, die nicht irgendwem, sondern unglaublich vielen Menschen dient, hier so schnodderig und auch mit formal so unsinnigen wohnungswirtschaftlichen Argumenten abgetan wird. Wir wissen, daß die Wohnungswirtschaft ein wirklich komplizierter gesellschaftlicher Bereich ist. Wir wissen weiter, daß diese Regierung es im Augenblick — einerseits wegen des geringen Wohnungsbaus in den letzten Jahren, andererseits aber auch wegen anderer Ursachen: hohe Zinsen etc. — offensichtlich nicht schafft, ein angemessenes Angebot an Wohnraum in den Ballungsgebieten zu schaffen, daß die Mieten überall aus dem Ruder laufen, daß überall keine Wohnungen zu finden sind.
Deswegen — um nicht nur für Berlin zu sprechen — : Es wäre schön gewesen, wenn wir uns an Hand der Berliner Problematik darauf hätten verständigen können, wie wir für die Ballungsgebiete der Bundesrepublik Deutschland endlich eine Mietenpolitik einleiten können, die der Notlage angemessen ist.
Recht herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Wartenberg, nicht nur weil ich den Ausdruck „Hansel" für niveaulos halte, sondern ihn auch darüber hinaus im parlamentarischen Bereich nicht billigen kann, erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Joachim Günther das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wartenberg, ich werde den Versuch machen, sachlich auf das Wesentliche zurückzukommen. Sie werden dann sehen, wie wenige Wohnungen letztlich betroffen sind. Von mir jedenfalls werden Sie das Wort „dumm", gerichtet gegen Kolleginnen oder Kollegen dieses Hauses, nicht hören.
Das Land Berlin hat im Bundesrat einen Gesetzentwurf mit dem Ziel eingebracht, die dort bis Ende 1991 geltende Kappung der Mietsteigerungen im Altbau-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5781
Parl. Staatssekretär Joachim Günther
bestand bei Wiedervermietung auf 10 % — ausschließlich darum geht es — um drei weitere Jahre zu verlängern. Die Argumente für und gegen eine Verlängerung der Mieterhöhungsbegrenzung für Neuvermietungsfälle im Altbaubestand sind in der Debatte anläßlich der ersten Lesung des Gesetzentwurfs des Bundesrates und in den eingehenden Ausschußberatungen mehrfach ausgetauscht worden.
Ich will Ihnen deswegen längere Wiederholungen ersparen. Aber so viel ist in der Sache in dieser Debatte zu sagen: Betroffen von der Initiative ist nicht der Bestand von rund 260 000 Sozialwohnungen in Berlin; betroffen ist auch nicht der Bestand von rund 200 000 freifinanzierten Wohnungen. Betroffen sind ferner nicht die derzeitigen Mieter der insgesamt rund 450 000 bis 1948 errichteten Altbauwohnungen. Es geht vielmehr nur um den Anteil von Altbauwohnungen, der ab 1992 jährlich zur Wiedervermietung ansteht. Der Anteil der Wiedervermietungsfälle am Gesamtbestand liegt zur Zeit bei maximal 3 % . Das sind jährlich maximal 15 000 Wohnungen.
Welche Auswirkungen ergeben sich nun für diese Wohnungen? Nach dem Berliner Mietspiegel für Altbauwohnungen liegen die Vergleichsmieten unter Einschluß der kalten Beriebskosten in einer Größenordnung von 6 DM bis 8,50 DM pro Quadratmeter Wohnfläche bei einer durchschnittlichen Ausstattung und in mittlerer Wohnlage. Wenn die 10 % der Neuvermietungsmieten wegfallen, werden nach § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes nur Mietabschlüsse bis zu 20 % über diesem Mietenniveau ermöglicht.
Bei der geltenden Rechtslage würden sich damit auch nach dem planmäßigen Auslaufen der 10%-Grenze für Neuvermietungsmieten Abschlüsse deutlich unter 10 DM pro Quadratmeter Wohnfläche ergeben. Deshalb kann hier, auch im Vergleich mit anderen Großstädten, nicht von unsozialen Auswirkungen gesprochen werden.
Die Berliner Verwaltung — darauf muß ich noch einmal hinweisen — hat es also in der Hand, etwaigen Auswüchsen bei der Neuvermietung von Altbauwohnungen mit Mitteln des Wirtschaftsstrafgesetzes zu begegnen.
Um so befremdlicher muß es sein, wenn Bausenator Nagel im Bundestagausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau erklärt hat, die Stellen der Sachbearbeiter für die Bearbeitung von Fällen nach § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes in Berlin seien mit dem kw-Vermerk gekennzeichnet, praktisch also so gut wie gestrichen.
Berlin — so muß man daraus folgern — scheint die Bedeutung des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes für den Mieterschutz noch nicht recht erkannt zu haben.
Ähnlich zu werten sind auch die Informationen des Berliner Mieterbundes an den 19. Bundestagsausschuß, die Neuvermietungsmieten im Altbaubestand lägen derzeit schon im Durchschnitt rund 40 % über den Mietspiegelwerten. Es bleibt rätselhaft, wieso Berlin an einer strengen Begrenzung der Wiedervermietungsmieten bei 10 % festhalten will, wenn diese
Regelung doch offensichtlich in keiner Beziehung mehr zur Realität steht.
Wichtiger als das Festhalten an einer auslaufenden Vorschrift, die nach dem Eingeständnis ihrer Anhänger ihre Bedeutung schon eingebüßt hat, scheint mir zu sein, daß das weiterhin geltende Instrumentarium angewandt wird. Hierzu gehört auch die Information der Bürger und die Bereitstellung qualifizierter Beamter, die die Bürger bei Überschreitung der zulässigen Miete beraten können.
Wir sind bereit, die Vorschrift des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes zum Schutz vor überhöhten Mieten noch effektiver zu fassen. Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung dazu wird in Kürze eingebracht, umsetzen aber müssen ihn nun einmal die Behörden vor Ort.
Wie wirkt sich nun die Aufhebung der 10%-Grenze auf das Gesamtmietenniveau aus? Der Anteil der Neuvermietungsfälle mit rund 3 % des Gesamtbestandes ist so gering, daß nur allmähliche Auswirkungen auf das Mietenniveau Berlins zu erwarten sind.
Berlin gehört noch immer der Mietstufe II nach dem Wohngeldgesetz an und liegt damit unter dem Bundesdurchschnitt. Wer glaubt, mit Preisregulierungen bei den Altbaumieten auf Dauer eine Anpassung des Mietenniveaus in der Bundeshauptstadt verhindern zu können, macht den Menschen etwas vor. Vielmehr würde die vorhandene Marktspaltung nur noch vertieft; denn Mieten für Nachkriegswohnungen liegen in Berlin bereits jetzt bei rund 17 DM je Quadratmeter Wohnfläche und mehr.
Auf die investitionsbremsenden Auswirkungen wurde hier schon hingewiesen.
Meine Damen und Herren, Berlin braucht Wohnungen und damit Investoren — da, Kollege Dr. Seifert, haben Sie recht — , Investoren aber brauchen politische Sicherheit. Tun wir also das, was auch zur politischen Glaubwürdigkeit gehört, die gerade von Berliner Seite zu Recht immer wieder eingefordert wird! Halten wir uns an den Gesetzesbeschluß von 1987, nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Danke schön.
Meine Damen und Herren, bevor ich zur Einzelberatung und Abstimmung komme, teile ich dem Haus mit, daß die Abgeordneten Wolfgang Lüder und Professor Dr. Starnick nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll eine Erklärung abgegeben haben.
Meine Damen und Herren, wir kommen damit zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 12/1459. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt auf Drucksache 12/1770, den Gesetzentwurf des Bundesrates abzulehnen. Ich lasse nunmehr über den Gesetzentwurf abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf des Bundesrates zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer
5782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
stimmt dagegen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt.
— Jawohl. In Ihrer Erklärung nach § 31 haben Sie Ihre Enthaltung angekündigt. Insofern ist das protokollmäßig schon festgehalten. Das trifft auch für den Abgeordneten Lüder zu.
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt weiterhin, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1276 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung, den Antrag abzulehnen, angenommen worden, bei Enthaltung wiederum der Abgeordneten Professor Starnick und Lüder.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 und den Zusatztagesordnungspunkt 11 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Wartenberg , Angelika Barbe, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bekämpfung der „Regierungs- und Vereinigungskriminalität"
— Drucksache 12/1306 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Reiner Krziskewitz, Udo Haschke , Josef Hollerith, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Detlef Kleinert (Hannover) — weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bekämpfung der „Regierungs- und Vereinigungskriminalität"
— Drucksache 12/1811 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Interfraktionell ist vereinbart worden, Ihnen den Vorschlag zu machen, eine 45minütige Debatte abzuhalten. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall; dann kann ich das als beschlossen feststellen und die Aussprache eröffnen.
Ich erteile dem Abgeordneten Wartenberg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, den wir dem Deutschen Bundestag vorgelegt haben, bezieht sich auf ein Thema, das uns allen, glaube ich, sehr zu schaffen macht. Die Innenpolitiker aller Fraktionen sind sich wohl einig, daß es bei der Bekämpfung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität um einen Bereich geht, der vordringlich bedient werden muß, dem ausreichend Personal zur Verfügung gestellt werden muß.
Auf Grund des Einigungsvertrages ist die Bekämpfung dem Land Berlin übertragen worden, einem Land, das auch bei der Vereinigung der beiden Polizeien in beiden Stadthälften erhebliche Probleme hat. Nun soll es zusätzlich die gesamte Regierungs- und Vereinigungskriminalität bekämpfen. Das geht nicht.
Der entscheidende Punkt und Vorwurf und Inhalt unseres Antrages ist, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung Rechnung tragen muß, daß die Bundesregierung hier helfen muß, ja, daß sie die Zuständigkeit nach BKA-Gesetz annehmen muß, um Personal des BKAs zu beauftragen.
Worum geht es bei diesem Antrag inhaltlich, und warum ist das so dramatisch? Es geht hier um eine Art von Kriminalität, die unerhörte Schäden verursacht hat. Ich denke nur an den Bereich der Transferrubel, an die Kriminalität im Bereich der Treuhand. Aus dem Treuhandbereich kommen jede Woche bis zu vier Anzeigen. Ich weiß, daß die meisten der Großverfahren im Augenblick stillgefegt sind. Sie wissen ja, was Stillegung heißt. Das heißt, es wird nicht ermittelt, und das liegt nicht einfach daran, daß nicht genug Staatsanwälte da sind; die gibt es jetzt bald in ausreichender Zahl.
Da haben die Länder immerhin geholfen. Es geht jedenfalls etwas.
In dem vorhergehenden Bereich der polizeilichen Ermittlungen ist so gut wie überhaupt noch nichts geschehen. Selbst wenn ich das bei Staatsanwälten, was immer noch zuwenig ist, aufstocke, hat das relativ wenig Effekt, wenn die polizeiliche Ermittlung überhaupt nicht stattfinden kann.
Die Stillegung der Verfahren bei der Justiz ist ja eben nicht wegen Überlastung der Justiz, sondern wegen fehlender polizeilicher Kapazitäten für die polizeiliche Ermittlung geschehen.
Die Stillegung der Verfahren in Berlin im Moment kann man einzeln sogar sehr genau feststellen. Zum überwiegenden Teil ist der Grund fehlende polizeiliche Ermittlung.
Das ist ein Drama sondergleichen. Wenn man sich die Bereiche ansieht und weiß, daß im Grunde alle die, die in Berlin bei der Kripo normalerweise für Wirtschaftskriminalität zuständig sind, jetzt im Bereich der Regierungskriminalität eingesetzt sind und damit die normale Wirtschaftskriminalität, die es in einer Stadt mit fast 4 Millionen Einwohnern auch gibt, überhaupt
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5783
Gerd Wartenberg
nicht mehr bekämpft werden kann, dann sieht man, wie dramatisch die Situation ist.
Die Bundesregierung — das ist das Verblüffende — sieht zwar die Schwierigkeiten, aber denkt gar nicht daran, etwas zu tun. Ich meine allerdings auch, daß die Bundesländer dort etwas machen müssen. Aber in erster Linie ist die Bundesregierung gefordert,
weil es sich um eine Kriminalität handelt, die einigungsbedingt ist, d. h. gesamtstaatliche Erblast ist. Man muß auch die Größenordnung berücksichtigen. Wenn durch die Strafverfolgung erreicht werden kann, daß der finanzielle Schaden vermindert wird, indem Gelder fließen, kommen diese Gelder übrigens überwiegend dem Bundesfinanzminister, d. h. dem Bund und nicht den Ländern zugute. Hier handelt es sich um Milliardenbeträge.
— Entschuldigung, wer soll denn eigentlich sonst zuständig sein? Das ist das Argument, daß die Bundesregierung aus moralischen Gründen, aber auch aus materiellen Gründen wohl ein Interesse haben müßte, hier dem Land Berlin zu helfen. Auf der einen Seite sagen wir pausenlos, daß kein Geld da ist und die Steuern erhöht werden müssen. Auf der andere Seite handelt es sich um, was aus allen Bereichen gesagt wird, Milliardenbeträge, die nicht eingetrieben werden können, weil letzten Endes die Ermittlungen nicht laufen. Ich muß sagen: Wäre ich Bundesfinanzminister, ich würde meinen Innenminister treten.
Herr Abgeordneter, bevor Sie das tun können,
frage ich Sie, ob Sie bereit sind, eine Frage des Abgeordneten Rüttgers zu beantworten.
Aber ja doch.
Verehrter Herr Kollege Wartenberg, wollen Sie wirklich als Argument vortragen, daß die Frage, ob etwas verfolgt wird oder ob Ermittlungsverfahren eingeleitet werden und wer dafür zuständig ist, davon abhängt, wer Geschädigter ist respektive wem gegebenenfalls der Schadensersatz zusteht? Soll das das neue Kriterium für die Frage sein, wer für Strafverfolgung zuständig ist?
Nein, das ist kein grundsätzliches Kriterium.
Man muß sich überlegen, warum sich die Bundesregierung dieser Verantwortung entzieht und sich der
Bundesinnenminister — er hat das nun schon mehrfach gesagt, das letzte Mal vor einer Woche im Innenausschuß in Berlin — dafür nicht zuständig fühlt. Dann muß es doch wohl Argumente geben, die ihm klarmachen, daß er neben der moralischen Verpflichtung und weil es um die deutsche Einheit und nicht um die Einheit von Ost- und West-Berlin geht und er auch seine Kassen aufbessern könnte, sogar ein Interesse haben müßte, die Verfolgung auch tatsächlich durchzuführen. Ich finde, das ist ein durchaus logisches Argument, wenn Politik auch praktisch und nicht nur abstrakt denkt.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Rüttgers? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Rüttgers.
Herr Kollege, sind Sie wirklich — ich frage noch einmal — der Auffassung, daß solche Argumente, die Sie jetzt als politische Argumente zu charakterisieren versucht haben, eine Zuständigkeitsverteilung, die im Grundgesetz geregelt ist, anders darstellen können?
Diese Zuständigkeitsverteilung ist ausdrücklich für solche Fälle im BKA-Gesetz, § 5, anders geregelt. Dies haben die Länder gesagt. Es gibt einen Antrag des Berliner Innensenators dazu. Wenn es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland überhaupt einen Fall gibt, wo § 5 des Bundeskriminalamtsgesetzes zutreffen könnte, dann ist es dieser Fall, bei dem eine zentrale Zuständigkeit abgeleitet werden könnte. Man kann sich überhaupt keinen anderen Fall vorstellen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen uns übrigens — das verstehe ich wieder nicht — über die Zuständigkeit im einzelnen nicht zu streiten. Warum? Wenn selbst der Kollege Gerster als innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU sagt, daß hier Handlungsbedarf besteht — natürlich wird er aus taktischen Gründen sagen, die Bundesregierung sei nur bedingt zuständig; aber in Presseerklärungen hat er die Bundesregierung durchaus heftig attackiert, allerdings auch gesagt, daß die Länder ihren Beitrag dazu leisten müssen —, dann verstehe ich nicht , warum Sie jetzt den Zustand verteidigen. Der Zustand ist unhaltbar und führt auch dazu, daß das Vertrauen in den Rechtsstaat in den neuen Bundesländern nicht gerade gestärkt wird,
wenn man sieht, wer dort im Augenblick alles absahnen kann. Das sind nicht nur die Fragen der Regierungskriminalität. Wir haben eben festgestellt, daß einigungsbedingte Kriminalität in der Phase des Überganges eine besondere Sorte von Abstaubern erzeugt hat, die sich insbesondere aus dem alten Westteil der Bundesrepublik Deutschland in den Osten aufgemacht haben, um dort große Geschäfte zu machen, auch aus der Unsicherheit heraus, die in den Monaten der deutschen Einheit entstanden ist.
Meine Damen und Herren, ich hoffe — und das ist jetzt auch eine Bitte an die Bundesregierung —, daß die Bundesregierung nun endlich die Verantwortlich-
5784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Gerd Wartenberg
keit für diesen Bereich übernimmt. Die Polizei versteht es nicht mehr. Lesen Sie bitte darüber aus dem Polizeibereich. Die Frustration bei den Polizeibeamten ist ganz extrem.
Wenn Sie das nicht wollen, dann stellen Sie uns doch bitteschön eine andere Lösung vor.
Sie können doch nicht im Ernst als Vertreter des Innenministers sagen, daß das völlig gleichgültig ist, was dort geschieht.
Die Anforderung an die Länder halte ich genauso für notwendig, aber die Bundesregierung ist hier in erster Linie gefordert.
Vielen Dank.
Herr Staatssekretär, Sie haben gleich Gelegenheit, das in Ihrer Rede unterzubringen. — Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerster .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit dem 3. Oktober des vergangenen Jahres sind Polizei und Justiz in und von Berlin für die Verfolgung der Regierungskriminalität zuständig. Damit sind Straftaten gemeint, die im Zusammenhang mit der Staatsführung in der ehemaligen DDR begangen wurden. Die Polizei in und von Berlin ist auch zuständig für die Verfolgung der Vereinigungskriminalität. Das sind Wirtschaftsdelikte, die in vielfältiger Form im Zuge der Wiedervereinigung begangen wurden. In beiden Fällen ist verfassungsrechtlich eindeutig das Land Berlin zuständig.
Richtig ist, Herr Kollege Wartenberg, daß die Strafverfolgungsbehörden in Berlin mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert und überlastet sind. Dies zeigt sich von Tag zu Tag mehr. Dies liegt übrigens nicht nur an der gewaltigen Dimension der Aufgabe, das liegt auch an den besonderen Problemen Berlins. Dort wachsen praktisch zwei Millionenstädte zu einer Millionenstadt zusammen. Dazu kam die Auflösung bestimmter Teile der Nationalen Volksarmee. Unsere Polizei wurde für diese Drehscheibe zwischen Ost und West, die ja gewollt ist, zuständig, mit allen Kriminalitätsfolgen, die in diesen Millionenstädten üblich sind.
Das liegt aber auch daran, Herr Kollege Wartenberg, daß die alten Bundesländer ihre Zusagen, solidarisch zu helfen, nicht eingehalten haben.
Ich möchte hier nicht dasselbe Spiel, das Sie betreiben, aufnehmen, daß wir den Schwarzen Peter hin und her schieben.
— Nein, man muß doch folgendes wissen: Die Innenministerkonferenz hat bereits im Mai dieses Jahres beschlossen, 34 Kriminalpolizeibeamte aus den anderen Bundesländern nach Berlin abzuordnen. Von diesen sind bisher gerade acht bei der Berliner Polizei angekommen, übrigens alle aus CDU/CSU-regierten Ländern. Nordrhein-Westfalen hat nicht einen einzigen Beamten entsandt.
— Erst in der letzten Woche; bis zu dem Beschluß in Saarbrücken, wo der Beschluß vom Mai noch einmal wiederholt wurde, keine, danach ja. Ich bin gespannt, ob jetzt endlich die Hilfsmaßnahmen der anderen Länder Platz greifen.
Meine Damen, meine Herren, wie wenig sich das Thema eignet, allein dem Bund vor die Haustür gekarrt zu werden, zeigen einige Zahlen ganz deutlich.
Natürlich brauchen wir ermittelnde Kriminalbeamte. Für die Bekämpfung der Regierungskriminalität brauchen wir mehr als 300 Beamte in Berlin. Zur Bekämpfung der Vereinigungskriminalität brauchen wir noch einmal 400 Beamte. Auch bei sehr kritischer Würdigung der von den Berliner Verantwortlichen so genannten Zahlen ist es offensichtlich, daß die von der Innenministerkonferenz beschlossenen Hilfsmaßnahmen selbst bei deren umgehender und vollständiger Realisierung allenfalls einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen können.
Meine Damen, meine Herren, sehen Sie sich die beiden Sparten der Strafverfolgung an, die Gerichte und die Staatsanwaltschaften. Auch da muß Personal umgesetzt werden. Wenn Sie bedenken, Kollege Wartenberg, daß wir auf Bundesebene einige Dutzend Staatsanwälte haben, während die Länder Tausende von Staatsanwälten haben, wenn Sie bedenken, daß wir auf Bundesebene ein paar hundert Bundesrichter haben, die Länder aber rund 30 000 Richter haben, dann ist leicht erkennbar, daß das der Bund im Bereich der Rechtsprechung eben nicht leisten kann. Wenn dies eine gesamtstaatliche, nationale Aufgabe ist — da stimme ich Ihnen zu, Herr Wartenberg — , ist das nur vom ausgebildeten Personal der Justiz in Bund und Ländern, vor allen Dingen von den Ländern, zu leisten. Wir können die Bundesrichter jetzt nicht einfach nach Berlin schicken. Das muß im Wege des Austauschs zwischen den Ländern, die für die Gerichte der ersten und zweiten Instanz zuständig sind, passieren.
Dasselbe gilt natürlich für die 700 ermittelnden Kriminalpolizeibeamten, die wir brauchen. Ich habe die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5785
Johannes Gerster
Zahlen genannt. Natürlich kann und soll da auch das BKA helfen.
— Natürlich tut es das! — Aber es wäre völlig illusorisch, zu glauben, wir lieferten die Probleme einfach beim BKA ab.
— Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie so nervös sind. Lassen Sie uns doch die Gedanken einmal ruhig austauschen und gucken, wer das bessere Konzept hat!
— Rufen Sie doch nicht immer dazwischen! Ich habe Ihnen doch auch zugehört. Jetzt hören Sie einmal ganz ruhig zu!
— Das ist schon richtig, was ich sage.
— Jawohl, Herr Oberlehrer. Sie wissen es ja ganz bestimmt. Gehen Sie einmal zu Ihrer Landesregierung, und tun Sie etwas, damit die mitmachen!
Jetzt wollen wir einmal ganz ruhig weiterreden. Es ist überhaupt keine Frage — da wiederum stimmen wir überein— : Wenn dies gesamtstaatlich geregelt wird, dann mit qualifiziertem Personal. Dieses qualifizierte Personal können nur die 16 Bundesländer
— davon die elf alten eher als die fünf neuen — zur Verfügung stellen. Das muß umgehend geschehen.
Meine Damen, meine Herren, wir sollten in der Tat darauf dringen, daß es zu einer Vereinbarung kommt, und zwar mehr als zu einer mündlichen Absprache. Ich bin sogar der Meinung, es muß zu einem Staatsvertrag kommen. Ich darf einmal an die Ludwigsburger Behörde erinnern, die die Länder gemeinsam geschaffen haben, um die NS-Verbrechen aufzuarbeiten. Ich darf an die gemeinsame Einrichtung der Stelle in Salzgitter erinnern, die Verbrechen und Vergehen der früheren DDR aufgelistet hat. Dies ist übrigens eine Einrichtung, bei der sich die SPD-regierten Länder bis zur deutschen Vereinigung alle aus der Verantwortung gestohlen haben.
Sie könnten da einiges gutmachen, wenn Sie mit Ihren SPD-regierten Ländern wenigstens bei der Aufarbeitung hier mitmachten.
Da haben Sie nämlich viel Nachholbedarf.
Wir sollten hier sogar auf einen Staatsvertrag hinarbeiten, der zwei Dinge klären muß: Erstens. Es muß endlich die personelle und sachliche Grundlage geschaffen werden,
damit die Hauptschuldigen des DDR- und SED-Unrechtsregimes vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Es kann nicht wahr sein, daß wir wegen der geschilderten Personalprobleme, aber auch wegen der Überlastung von Berlin weiter zuwarten.
Zweitens. Gerade wenn sich der Rechtsstaat schwertut und wir als Gesetzgeber uns schwertun, Fragen der Wiedergutmachung zeitnah und schnell im Parlament zu regeln, muß zumindest mit den Grundvermögen in Millionen- und Milliardenhöhe, die zum Zeitpunkt der Wende von den SED-Genossen verschoben wurden, etwas passieren. Es muß zunächst einmal festgestellt werden, um was es sich im einzelnen handelt. Dann muß entweder nachgezahlt oder enteignet werden.
Meine Damen, meine Herren, wir halten es politisch nicht durch — das ist durchaus nicht im Kontrast zu einzelnen Fraktionen des Bundestages gesagt —, wenn wir einerseits die Opfer des alten Unrechtsregimes monate- und jahrelang auf ihre Wiedergutmachung warten lassen und andererseits die Bonzen, die das zum Teil mitzuverantworten haben, in ihren Pfründen, die sie sich unrechtmäßig angeeignet haben, sitzenlassen. Wenigstens den zweiten Teil müssen wir lösen. Übrigens wird der Staat da Millionen, ja mit Sicherheit Milliarden von Mitteln sichern können, die dringend, etwa für die Wiedergutmachung, gebraucht werden.
Wir verlangen also erstens, daß die Länder das, was sie übernommen haben, endlich tun.
Zweitens. Wir verlangen eine Vereinbarung, eine Absprache zwischen den Bundesländern, etwa in der Form eines Staatsvertrages.
Drittens. Kollege Wartenberg, es ist richtig, ich bin durchaus der Meinung, daß auch das Bundeskriminalamt hier in das Gesamtkonzept eingebaut werden sollte, etwa mit einer Außenstelle in Berlin; da sind wir gar nicht weit auseinander.
Was mir aber nicht gefällt, ist, daß Sie das so ein bißchen auf diese Schiene alleine legen. Wir müssen beides machen; denn das BKA braucht ja auch die Beamten in Berlin. Wenn sie jetzt erst anfangen, auszubilden und einzustellen, dauert das wieder Jahre. Das heißt, wir müssen das mit qualifiziertem Personal, das jetzt in den Ländern ist, tun.
Ich sage bewußt ein bißchen locker und flockig: Es gibt meines Erachtens im Bereich des Bundeskriminalamtes und der Sicherheitsbehörden drei Schwerpunktaufgaben. Wenn es an Personal mangelt, dann muß man eben Schwerpunkte setzen. Das ist für mich die Bekämpfung des Terrorismus, der nach wie vor eine latente Gefahr ist, das ist zweitens die Bekämpfung dessen, was ich die Pest dieses Jahrhunderts, zumindest der zweiten Hälfte, nenne, nämlich die Be-
5786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Johannes Gerster
kämpfung der organisierten Kriminalität und der Rauschgiftkriminalität, und das ist drittens die endlich notwendige Aufarbeitung dieser Regierungs- und Vereinigungskriminalität.
Wir sollten dies wirklich mit Bund und Ländern gemeinsam unternehmen, wobei verfassungsrechtlich das Land Berlin zuständig bleibt. Diese Zuständigkeit kann man nicht einfach auflösen. Aber selbstverständlich hat Berlin die solidarische Unterstützung verdient, die ihm bisher leider Gottes von zahlreichen Ländern in der alten Bundesrepublik vorenthalten worden ist.
Herr Abgeordneter Gerster, Herr Abgeordneter Graf möchte ihnen eine Zwischenfrage stellen. — Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Herr Kollege Gerster, Sie sprachen eben von der organisierten Kriminalität. Ich stimme Ihnen in vielen Dingen, die Sie hier ausgeführt haben, zu. Aber ich frage Sie einmal: Ist das, was sich hinter dem Begriff der Regierungs- und Vereinigungskriminalität verbirgt, nicht etwas ähnliches wie organisierte Kriminalität, die durch Stasi-Seilschaften und Machenschaften wie ein Netz über das Land verbreitet wurde? Ist das nicht das gleiche, und ergibt sich nicht auch von daher ein gewisses Maß an Zuständigkeit des BKA, oder würden Sie das völlig getrennt voneinander betrachten?
Zunächst einmal ist die Regierungskriminalität eine organisierte Form der Staatskriminalität, während das, was wir sonst unter organisierter Kriminalität verstehen, etwas ist, was nicht vom Staat organisiert wird.
Zweitens ist die Regierungskriminalität der ehemaligen DDR, dieser Spuk, Gott sei Dank zu Ende gegangen, während wir das andere — vor allem auf internationaler Ebene, aber auch nach Deutschland hinschwappend — weiterhin haben.
Der dritte Punkt ist der, daß selbstverständlich die organisierten Formen der latenten Kriminalität — nicht abgeschlossene Komplexe in der früheren DDR — Sache des Bundeskriminalamtes sind. Aber ich sage Ihnen noch einmal, daß ich persönlich der Meinung bin, daß Bund und Länder das gemeinsam machen müssen, daß auch der Bund hier seinen Teil leisten muß.
Herr Graf — ich glaube Sie nehmen noch das Wort —, bevor Sie nachher sagen, daß vor allem der Bund hier etwas tun muß, möchte ich sagen: Wer ein bißchen den Prozeß der Vereinigung, des Zusammenwachsens zwischen den beiden deutschen Staaten verfolgt hat, der weiß, daß nicht ein einziges westliches Bundesland annähernd so viel Personal in die neuen Bundesländer, nach — damals — Ost-Berlin und nach Gesamt-Berlin geschafft hat wie der Bund selbst.
— Das ist nicht vergleichbar.
Wir sollten — ich sage das noch einmal — , statt hier ein Schwarzer-Peter-Spiel zu betreiben, versuchen, alle an einen Tisch zu bekommen — die 16 Bundesländer, den Bund — mit dem Ziel eines Staatsvertrages. Wir sollten im Parlament Dampf machen, und Dampf — das will ich dabei gar nicht ausschließen — in die Verwaltungen der Länder hinein machen; daß wir der Bundesregierung ein bißchen Dampf machen, schadet auch nicht. Wir sind nicht blind; für uns ist der Erfolg der Sache entscheidend. Es ist eine ganz wichtige Sache, daß wir hier zu Ergebnissen kommen und nicht bei den Leuten in den neuen Bundesländern Enttäuschungen schaffen, die mit zitternden Knien eine friedliche Revolution herbeigeführt haben und jetzt erwarten, daß Schuldige endlich zur Verantwortung gezogen werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erteile ich Professor Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wartenberg hat in seinen Ausführungen auf den großen Schaden aufmerksam gemacht, der im Zusammenhang mit der Vereinigungskriminalität bereits entstanden sei, und auf den größeren Schaden, der noch drohe.
Niemand kann bezweifeln, daß der Zusammenbruch des Staates der ehemaligen DDR für viele die Gelegenheit bot, sich schnell zu bereichern. Unter ihnen waren sicherlich auch SED- und DDR-Staatsfunktionäre. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß diese Chance in mindestens gleichem Umfang von bundesdeutschen Geschäftemachern, die ja die eigentlichen Profis sind, genutzt wurde
und daß es oft genug eine ost-west-deutsche Bruderschaft gegeben hat. Im übrigen zeigt die Geschichte der Treuhand- Skandale, welche ungeheuren Möglichkeiten der legalen oder teilweise legalen Bereicherung es gab und heute noch gibt.
Wir unterstützen also voll alle Anstrengungen zur Aufdeckung dessen, was im Antrag Vereinigungskriminalität genannt wird, und vor allem derjenigen Vorgänge, die heute noch laufen. Hier sind tatsächlich Eile und Unterstützung geboten.
Der Skandal liegt für mich aber in der Verbindung dieses Anliegens mit der Verfolgung dessen, was hier als Regierungskriminalität der DDR bezeichnet wird. Dieser Begriff stellt ganz bewußt und gezielt auf die juristische Abrechnung mit der ehemaligen DDR ab. Sicherlich können Mitglieder von Regierungen bzw. des Regierungsapparates kriminelle Handlungen begehen. Das ist bei allen Regierungen möglich und betraf natürlich auch die DDR, zumal da deren Regie-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5787
Dr. Uwe-Jens Heuer
rung faktisch keiner Kontrolle durch Parlament und Justiz unterworfen war.
Der Begriff der Regierungskriminalität, wie er in den Anträgen steht, hat jedoch einen ganz anderen Sinn. Geprägt wurde er 1944 in Jalta. Später hielt man ihn allerdings für untauglich, den kriminellen Charakter der Verbrechen des nazifaschistischen Staates zu kennzeichnen.
1950 wurde erklärt:
Ich habe noch nie ein Hehl daraus gemacht, daß mir der Begriff von Staatsverbrechen oder Verbrechen einer Regierung nicht liegt. So etwas klingt immer nach dem Recht des Siegers.
Das sagte Konrad Adenauer am 25. Februar 1950.
In den vorliegenden Anträgen klingt diese Siegermentalität unhörbar durch, jetzt aber als gemeinsame Position der großen Parteien akzeptiert. Der Unterschied besteht nicht zuletzt darin, daß es nach 1945 um einen von der Weltgemeinschaft wegen seiner Kriegsverbrechen angeklagten und verurteilten Staat ging, während man jetzt ein auch in der UNO geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft nachträglich kriminalisieren will.
Herr Gerster sprach hier von der Notwendigkeit, die Hauptschuldigen für das SED-Unrechtsregime zu bestrafen. Ich wäre ihm außerordentlich dankbar, wenn er mir einen Paragraphen des Strafgesetzbuches mitteilte, der so etwas unter Strafe stellt.
Die bisherige Entwicklung zeigt, daß die Machtexzesse in der ehemaligen DDR weitgehend nicht mit den Mitteln des Strafrechts bewertet werden können. Weder zur Vereinigungskriminalität noch zur sogenannten Regierungskriminalität ergibt sich für mich die Notwendigkeit institutioneller Veränderungen, am allerwenigsten das Erfordernis, eine Zentralbehörde zur Abrechnung mit der DDR-Vergangenheit, wie von der SPD vorgeschlagen, zu installieren. Von dieser Art haben wir schon drei Institutionen: die Treuhand, die unabhängige Partteienkommission und die Gauck-Behörde.
Wenn schon eine neue Behörde, dann nach meiner Ansicht eine Behörde, die den ostdeutschen Ländern hilft, den Aufschwung Ost aus einer Idee in eine Realität zu verwandeln!
Zum Schluß noch eine Überlegung: Es gibt heute parallel zur ökonomischen und sozialen Krise im Osten den Versuch, die Menschen dieses Landes moralisch zu demütigen, Trauerarbeit durch Medienterror zu ersetzen und damit zu verhindern. Die Sprache des Kalten Krieges wird wiederbelebt. Es wird schon wieder vom roten Faschismus gesprochen; EnqueteKommissionen sollen die Rolle von Tribunalen verrichten.
Ich sehe aber in letzter Zeit auch eine Gegentendenz, und zwar wieder in allen politischen Lagern. Egon Bahr mahnte im „Freitag" vom 6. Dezember 1991 die Aussöhnung als das höhere Gut an und wandte sich gegen eine innere Spaltung des Volkes und gegen die Ausgrenzung jener, die sich die Frage stellen, was von ihren Idealen in der Zukunft bleibt.
Friedrich Schorlemer erklärte am 29. November auf dem alternativen Juristenkongreß, daß er es heute bedauere, den Begriff des Tribunals für die Vergangenheitsaufarbeitung gebraucht zu haben. Bundeskanzler Kohl schließlich wandte sich am 27. November in diesem Hause ausdrücklich gegen eine Kollektivschuld der DDR-Bevölkerung oder jedenfalls ihrer Intelligenzschicht und erklärte seine Bereitschaft, sich mit uns
über diesen Abschnitt deutscher Geschichte auseinanderzusetzen.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es uns in diesem Lande und in diesem Hause gelänge, doch noch von der Konfrontation zum Dialog zu gelangen.
Danke schön.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Wolfgang Lüder das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Heuer, zum Dialog können wir nur kommen, wenn wir nicht abstreiten, was in und an der DDR kriminell war.
Dies müssen wir vorausschicken.
Ich gehöre nicht zu denen, die zwischen den Kleinen und den Großen werten. Das, was strafrechtsverdächtig ist, muß untersucht werden. Das ist ein umfassender Bereich. Es ist deswegen schwierig, weil es viele waren, weil es Verantwortliche waren, weil es Große und Kleine gab und weil es nach der Wende Regierungen gab, die das eine oder andere Aktenstück dem Licht der Welt entzogen haben, was die Kriminalitätsbekämpfung sicherlich nicht erleichtert.
Wenn wir von Regierungskriminalität der DDR sprechen, so meinen wir das ernst. Ob wir immer von Vereinigungskriminalität sprechen sollten oder ob es da nicht mehr um die Wirtschaftskriminalität der alten und der neuen Seilschaften, losgelöst von der Vereinigung, geht, bitte ich einmal zu überlegen. Das sind hier kriminelle Wirtschaftshandlungen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir müssen uns klarmachen und der Bevölkerung deutlich sagen, daß wir hier nicht nur die kleinen Mauerschützen meinen, sondern daß wir auch die Großen ansprechen.
Ich möchte nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß in der Untersuchungshaftanstalt Moabit nicht nur Kleine sitzen, sondern auch der frühere Ministerpräsident Stoph und auch der Stasi-Minister Mielke sitzen, der auch heute abend mein Mitleid nicht verdient, nachdem er die Medikamentenbehandlung eingestellt hat; ich weiß nicht, zu welchem Behuf er das tut.
5788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Wolfgang Lüder
Wenn wir vielleicht noch am Wochende damit rechnen müssen, daß die chilenische Botschafter-Gastfreundschaft in Moskau ihr Ende findet und Herr Honecker nach Moabit kommt, so hat auch er Anspruch auf ein faires Verfahren. Aber wir haben Anspruch darauf, daß seine Delikte, die die Staatsanwaltschaft ihm vorwirft und die das Gericht ihm nachzuweisen hat, geahndet werden, in welchem Alter er immer ist.
Ich sage im Hinblick auf die morgige „Bild" -Zeitung, die berichtet, Gorbatschow und Jelzin hätten so viele Briefe bekommen, dem armen Honecker sollte doch Asyl gewährt werden: Ich finde es wirklich blamabel für die „Bild"-Zeitung, daß sie jetzt auch noch ein menschliches Mitgefühl hier entwickelt, wo es darum geht, der Kriminalitätsbekämpfung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Meine Damen und Herren, wir haben heute zwei Anträge zur Beratung. Wir haben den Antrag der SPD, wo es um § 5 des Bundeskriminalamtsgesetzes geht, und wir haben den umfassenden Antrag der Koalitionsfraktionen, der in vier Punkten eine politische Aussage macht.
Wir werden beide Anträge in der Ausschußberatung sicherlich weiter vertiefen müssen.
Wir sind uns einig, daß die Bekämpfung dieser Kriminalität eine nationale Aufgabe ist. Daher lag es zu Anfang sicherlich nahe, daß die SPD den Antrag in der Fassung eingereicht hat, in der er heute hier zur Debatte steht. Aber hilft dies wirklich? Ist § 5 Abs. 3 des Bundeskriminalamtsgesetzes wirklich auf diesen Fall zugeschnitten?
Es geht doch nicht um bundesweite Fahndung. Es geht doch nicht um bundesweite Kriminalitätsbekämpfung. Es geht um nationale Verantwortung für Kriminalitätsbekämpfung eines Unrechtsregimes in einem Teil Deutschlands, und es geht nicht um eine bundesweite Aktion, die bundesweit bekämpft werden soll.
An diesen Bereich hatten auch die Verfasser des BKA-Gesetzes nie gedacht.
Meine Damen und Herren, ich will nicht ausschließen, daß wir am Ende des Weges vielleicht in die Nähe des SPD-Antrags kommen.
Es ist vom Kollegen Gerster schon angesprochen worden: Wir brauchen die Hilfe der Länder; denn die Kriminalpolizeien der Länder haben die ausgebildeten Leute. Was hilft es uns, wenn wir jetzt eine Entscheidung für neue Stellen beim BKA treffen, wenn wir über den Nachtragshaushalt Stellen bewilligen, die wir dann zur Ausschreibung bringen, aber keine
Fachleute dafür bekommen, um die Kriminalität zu bekämpfen? In den Ländern haben wir sie, und diese müssen eingesetzt werden. Wir wollen nicht nur die Versprechungen der Länder haben, sondern wir wollen Taten sehen.
Die Länder sind hier wirklich gefordert; denn wenn sie — aus guten Gründen — Wert darauf legen, daß Kriminalitätsbekämpfung sowohl im polizeilichen Bereich als auch im Justizbereich Ländersache ist, dann müssen sie hier zeigen, daß sie einem Land solidarisch zu Hilfe kommen, das objektiv sicherlich überfordert ist. Erstens mußte der vorhandene West-Berliner Apparat auf den gesamten Berliner Bereich ausgedehnt werden. Zweitens kommen diese Aufgaben umfassend hinzu.
Aber ich sage auch dies: Wir werden nicht dauerhaft zusehen können, ob die Länder etwas tun. Da müssen wir dem Gedanken, der hier mit dem Stichwort Ludwigsburg um rissen ist, nahetreten. Wir müssen als Bund handeln, wenn wir sehen, daß wir hier nicht zum Erfolg kommen. Nur, das Bejammern der Untätigkeit der Länder hilft nichts. Wir müssen dann einen Weg gehen, wie er für Ludwigsburg geschaffen wurde; hier kann er analog angesetzt werden.
Nur wenn das nicht gehen sollte, müßten wir noch einmal über den § 5 nachdenken. Aber die Schritte davor, nämlich an die Länder zu appellieren und den Ländern das abzufordern, was ihre Pflicht ist, und gegebenenfalls ein Ludwigsburg zu schaffen, um diesen Bereich aufzuarbeiten, halte ich für dringend notwendig und auch um der Effizienz willen für geboten.
Nun erteile ich Dr. Ullman das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was von den Vorrednern über die Dringlichkeit des Antrags gesagt worden ist, bedarf keiner Ergänzung; ich kann das nur unterstreichen. Aber ich muß mein Bedauern ausdrücken, daß wir mehrere Anträge vorliegen haben. Wir sollten einen einzigen Antrag stellen, damit die Sache durchgeführt werden kann.
Lieber Herr Wartenberg, alles, was Sie gesagt haben, hat mir eingeleuchtet, nur nicht Ihr Antrag, den Sie hier begründet haben.
Auch der Hinweis auf § 5 Abs. 3 BKA-Gesetz beseitigt nicht die verfassungsrechtliche Lage der Zuständigkeit Berlins; darum kommen wir nicht herum.
Wenn man einen anderen Weg beschreiten will — was von seiten der Koalition durchaus erwogen worden ist — , dann muß man einen ganz anderen Antrag schreiben. In dieser Form, denke ich, ist das auch praktisch nicht gut durchführbar. In der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität gibt es feste Zuständigkeiten. Wenn Sie das jetzt alles umwerfen wollen,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5789
Dr. Wolfgang Ullmann
dann werden wir gerade in dem Bereich, auf den Sie hingewiesen haben, nämlich KoKo, nur zurückgeworfen statt vorangebracht.
Darum möchte ich die Frage stellen: Was hindert uns eigentlich, dem Antrag der Koalition zuzustimmen? Mich jedenfalls nichts. Nur möchte ich hinzufügen: Er kann konkretisiert werden, und zwar auf der Basis eines Beschlusses des Rechtsausschusses, der ja von den Kollegen der SPD mitgetragen worden ist. Auch in diesem Beschluß des Rechtsausschusses wird von der klaren Zuständigkeit des Landes Berlin ausgegangen, freilich mit der Bemerkung, daß hier Unterstützung nötig ist.
Dazu gibt es doch einen Beschluß der Justizministerkonferenz, wo ganz klar gesagt worden ist: Wir brauchen 60 Staatsanwälte, und wir brauchen mindestens 34 Ermittler. Die Polizeigewerkschaft hat sogar 260 gefordert.
Sei dem, wie dem auch sei: Ich denke, wir können auf der Basis der schon vorliegenden Entschließungen den Antrag der Koalition so weit konkretisieren, daß Ihrem Anliegen Gerechtigkeit widerfährt und daß wir praktisch handeln können. Es heißt hier im Antrag der Koalition unter Ziffer 3: „Die Bundesländer sind gefordert, umgehend ... ". „Umgehend" ! Das hat auch die Justizministerkonferenz beschlossen.
Ich denke, der Deutsche Bundestag sollte sich das zu eigen machen und sollte dem eine neue Dringlichkeit geben, indem er mit einer Stimme spricht.
Ich sehe nicht, was uns daran hindern sollte.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Graf das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich grundsätzlich bemerken, daß mich die Debatte — abgesehen von Ihrem Beitrag Herr Heuer — ganz froh gestimmt hat mit der Einschätzung, daß wir im Laufe der künftigen Beratungen möglicherweise doch zu einer einvernehmlichen Lösung kommen; denn nach den Argumenten, die ich gehört habe, stelle ich fest, daß wir so weit nicht auseinanderliegen.
Aber ich denke — das festzustellen scheint mir wichtig — , es muß uns daran gelegen sein, daß die polizeilichen Ermittlungen und die juristische Aufarbeitung dieser Regierungs- und Vereinigungskriminalität für diesen Rechtsstaat unerläßlich sind und unverzüglich durchgeführt werden. Wenn dies nicht geschieht — ich sage das in aller Deutlichkeit —, bringt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in den Augen der Bürger nicht nur in den neuen Ländern in den Verdacht, sie hänge die Kleinen und lasse die Großen laufen.
Es ist darauf hingewiesen worden, daß seit Monaten eine Lawine von Großverfahren die Berliner Polizei überrollt. Wenn man sich die Zahlen, die bisher bekanntgeworden sind, vor Augen führt, dann kommt man zu der Erkenntnis, daß es schon eine schlimme Sache ist, daß in dieser Angelegenheit so herzlich wenig geschehen ist. Denn es geht hier letztlich um Milliardenbeträge. Ich sage dies in aller Deutlichkeit, auch vor dem Hintergrund, daß wir uns in den vergangenen Monaten als Regierung — das ist an Sie , an die Koalition, gerichtet — nicht gescheut haben, den Bürgern durch Abgaben- und Steuererhöhungen in die Tasche zu greifen, während wir auf der anderen Seite Milliardenbeträge, die der Staat im Grunde genommen abschöpfen könnte, dadurch brachliegen lassen, daß wir nicht entsprechend handeln.
Ich betone: Wir haben in unserem Antrag gesagt, es geht uns darum, dem BKA die Aufgaben gemäß § 5 Abs. 3 des BKA-Gesetzes zu übertragen.
Ich will die Diskussion auch wegen der Kürze der Zeit hier nicht ausweiten. Aber darüber kann man reden, und wir werden das im Ausschuß zu tun haben. Ich denke, wir sind gar nicht so weit auseinander. Denn, Herr Gerster, Sie haben — ich fand die Art Ihrer Rede vorhin ja ganz nett; wir haben einmal einen anderen Johannes Gerster, als wir ihn an und für sich bisher gekannt haben, erlebt —
am 30. November in Ihrer Heimatzeitung selber gesagt, der Sechs-Punkte-Plan der IMK müsse umgesetzt werden, und haben insbesondere auf die Ziffer 6 hingewiesen. Ich darf zitieren, was Sie dort in Ihrer Presseerklärung gesagt haben:
Ein Staatsvertrag muß regeln, wie die im gesamtstaatlichen Interesse liegenden Aufräumarbeiten endlich effektiv und zeitnah bewältigt werden können.
Weiter heißt es — dabei bitte ich doch einmal um Aufmerksamkeit — :
Sollten die Bundesländer aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sein, muß der gesamte Ermittlungskomplex dem Bundeskriminalamt übertragen werden.
— Ich habe ja auch sehr wohl gehört, was Sie ausgeführt haben,
und habe in meiner Eingangsbemerkung festgestellt, daß wir ganz offensichlich nicht so weit auseinander liegen. Ich denke, wir werden in sachlicher und vernünftiger Form, wie es ja in aller Regel im Innenausschuß dankenswerterweise geschieht — ich will das hier einmal betonen; es scheint nicht überall der Fall zu sein —, über dieses Thema beraten und uns einander ziemlich annähern.
Wie gesagt, ich möchte die juristische Frage, ob das nun so absolut richtig ist, wie es in dem Antrag steht
5790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Günter Graf
— wir sind davon überzeugt; ich persönlich bin es ebenfalls — , hier nicht weiter vertiefen.
Ich will auch ganz deutlich sagen, daß der Beschluß der Innenministerkonferenz vom 3. Mai 1991 natürlich umgesetzt werden muß. Die Aufforderung an die Bundesländer, dieser Verpflichtung nachzukommen, teilen wir; dies ist unbestreitbar. Nur ist es nicht in Ordnung — das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen, Herr Gerster; aber das deckt sich auch mit Ihrer Erklärung vom 30. November in der „Mainzer Allgemeinen Zeitung" —, hier so zu tun, als seien es die SPD-regierten Länder, die ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Aus den Zwischenrufen ist deutlich geworden, daß Niedersachsen und Hessen — ich denke, das sind SPD-regierte Länder, wenn ich das alles so richtig im Kopf habe —
mit unter den ersten waren, die ihrer Verpflichtung nachgekommen sind. Daß dieses nicht ausreicht, soll hier gar nicht bestritten werden. Aber ich halte es in einer solchen Diskussion, in der es um ein gemeinsames Anliegen geht, nicht für gut, mit Darstellungen zu operieren, die der Wahrheit nicht entsprechen. Vielmehr sollten wir uns bemühen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, und auch die Verantwortung des Bundes, so wie Sie sie ja selber in Ihrer Erklärung eingeklagt haben, weitaus mehr berücksichtigen.
— Man hat ja nicht immer so viel Zeit; das ist stets das Problem, Herr Gerster.
Man bekommt nicht alle Zeitungen. Aber ich finde wirklich sehr interessant, was da gesagt worden ist.
Ich möchte auch noch ein Wort zu der Frage verlieren, wie es eigentlich dazu gekommen ist, daß der Berliner Polizei diese Aufgabe übertragen worden ist. Bei uns in der Bundesrepublik gilt grundsätzlich das Tatortprinzip. Da die Regierung der Ex-DDR, die Organe der Ex-DDR und die Treuhand ihren Sitz in Berlin halten bzw. haben, wird daraus natürlich geschlossen, daß Berlin der Ort ist, an dem alles gebündelt werden muß. Aber das kann die Berliner Polizei nicht leisten. Das ist schier unmöglich. Deswegen habe ich Ihnen, Herr Kollege Gerster, vorhin die Zwischenfrage gestellt, wie es um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität bestellt ist. Was in diesem Bereich geschehen ist, zieht sich ja wie ein Netz über die ganze Republik. Es ist der Hinweis gegeben worden
— ich weiß gar nicht, wer es gesagt hat — : Es geht ja nicht nur darum, was die dortige Regierung, die Nachfolger und der Stasi gemacht haben, sondern es geht auch um westdeutsche Unternehmen, die in diese Unternehmungen verwickelt sind.
Daher, denke ich, muß uns allen daran gelegen sein, diese gesamtstaatliche Aufgabe zu erkennen.
Ich möchte zum Schluß mit allem Nachdruck darum werben und appellieren, daß wir bei den Beratungen im Innenausschuß in einer, wie ich meine, doch sehr
sachlichen Form weiter miteinander reden sollten, weil ich glaube, daß wir so zu einer vernünftigen Lösung kommen, die dem Anspruch, den wir alle erheben, nämlich entscheidend gegen Regierungs- und Vereinigungskriminalität einzutreten, gerecht wird.
Ich danke.
Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Lintner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Bewältigung der sogenannten Regierungs- und Vereinigungskriminalität darf Berlin sicher nicht alleingelassen werden. So weit, so kann ich feststellen, sind wir uns alle ja auch einig. Aber die Funktionsfähigkeit des Föderalismus beweist sich eben auch dadurch, daß sich ein Land bei auftretenden Schwierigkeiten, die es allein nicht zu lösen vermag, auf die Hilfe der anderen Bundesländern und — ich sage — auch des Bundes verlassen kann. Dem Problem wird man eben nicht dadurch gerecht, Herr Kollege Wartenberg, wenn man es macht wie Sie, indem man versucht, den Schwarzen Peter einfach hin- und herzuspielen, sondern hier muß man in der Tat darauf pochen, daß Zusagen eingehalten werden.
Herr Kollege Graf, ich darf Sie wirklich korrigieren: Tatsächlich waren Baden-Württemberg und Bayern die Länder, die am nachhaltigsten und am entschlossensten geholfen haben. Wenn Sie sich nur einmal die Zahl der zur Verfügung gestellten Leute anschauen, dann werden Sie feststellen, daß beispielsweise Bayern an der Spitze liegt.
Allerdings bedarf es sorgfältiger Überlegung und genauer Prüfung, auf welche Weise Berlin sinnvoll und effizient unterstützt werden kann, denn jede falsche Weichenstellung zum jetzigen Zeitpunkt wäre nicht sachdienlich und später nicht mehr korrigierbar. Wir müssen auch darauf achten, daß durch die Hilfe für Berlin andere Bereiche der Kriminalitätsbekämpfung nicht notleidend werden. Über den Bereich der organisierten Kriminalität ist hier ja bereits mehrfach gesprochen worden. Dies gilt aus meiner Sicht selbstverständlich auch für die Inanspruchnahme des Bundeskriminalamts insbesondere mit Blick auf seine Zentralstellenfunktion für das gesamte deutsche Polizeiwesen und auch im Hinblick auf seine internationalen Pflichten.
Ich habe mich davon überzeugt, daß es nicht möglich ist, den Gesamtkomplex oder größere Teile der Regierungs- und Vereinigungskriminalität auf das Bundeskriminalamt zu übertragen. Das Bundeskriminalamt ist in diesen Komplex arbeitsmäßig bereits jetzt stark eingebunden. Das wird in der Diskussion leider viel zu wenig herausgestellt. Ich erwähne nur beispielhaft die strafrechtliche Aufarbeitung der Tätigkeit der ehemaligen DDR-Geheimdienste — allein hier wurden und werden 1991 über 800 Verfahren mit
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5791
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
zahlenmäßig ständig steigender Tendenz bearbeitet — , die Ermittlungen im Bereich der Terrorismusbekämpfung und ebenso die Ermittlungen im Bereich politisch motivierter Ausländerkriminalität im Zusammenhang mit Unterstützungshandlungen durch das ehemalige Mf S.
Schon dadurch ist das Amt heute personell sehr stark beansprucht. Es hat zudem erhebliche rein objektive Personalgewinnungsprobleme, die Sie ja alle kennen. Darüber hinaus stehen 70, demnächst 85 Beamte den neuen Bundesländern zur Verfügung. Bereits heute sind über 300 Stellen allein für Kriminalbeamte beim BKA unbesetzt. Dieser Fehlbestand wird noch zunehmen, wenn man die vom Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages in Aussicht gestellten weiteren Planstellen insbesondere für den Bereich der Rauschmittelbekämpfung berücksichtigt.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf zu beantworten?
Bitte schön.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Graf.
Herr Kollege, lassen Sie mich doch erst einmal reden! Dann können Sie über mich schimpfen! Dann machen wir mit! Das ist ja in Ordnung! — Herr Staatssekretär, wissen Sie, was mich an dieser Debatte und auch an Ihrem Beitrag bisher ein wenig gestört hat, ist die Tatsache, daß Sie etwas verwischen und daß der Eindruck entsteht, in erster Linie müßten die Länder helfen und dann, wenn es möglich ist, auch der Bund. Ist es was die Relation angeht, wirklich in Ordnung, daß wir im Bereich Stasi-Vergangenheit, Gauck-Behörde, seitens des Bundes 3 000 Mitarbeiter für die Überprüfung einsetzen — die wir für notwendig erachten — , aber auf der anderen Seite, was die Regierungs- und Vereinigungskriminalität angeht, wo es um große Ganoven geht, die Milliardenschäden zum Nachteil dieser Republik angerichtet haben, ganz zögernd oder fast gar nicht handeln? Das ist im Grunde genommen das, was wir so nicht hinnehmen können. Ich sage bei aller Liebe wirklich sehr deutlich: Hier muß die Bundesregierung wesentlich mehr leisten, als sie bisher geleistet hat und offenbar zu tun bereit ist.
Wenn wir das nicht als Kurzintervention werten sollen, müssen wir uns das Fragezeichen denken, Herr Abgeordneter Graf.
Herr Kollege Graf, Sie übersehen einen ganz entscheidenen Unterschied. Für den Komplex, über den wir hier sprechen, sind von der Verfassung her die Länder zuständig. Die Länder haben bisher inklusive Innenministerkonferenz Anfang November diese Zuständigkeit akzeptiert und sind deshalb eigentlich Ihrer Argumentation gar nicht gefolgt. Wenn Sie einmal nachlesen würden, was Ihre eigenen Innenminister auf dieser Konferenz zu diesem Thema ausgeführt haben, würden Sie feststellen, daß dort die Zuständigkeit des Bundes überhaupt nicht gesehen wird, sondern daß man durchaus Einsicht gezeigt hat. Hingegen war beispielsweise im Bereich Gauck-Behörde die Zuständigkeit der Länder nie begründet. Hier hat sie der Bund von Anfang an akzeptiert. Deshalb sind diese beiden Fälle überhaupt nicht vergleichbar.
Zu einer kurzen Frage, bitte.
Herr Staatssekretär, eines verwundert mich, und da frage ich Sie, ob Sie mir zustimmen.
Wenn sich die Innenministerkonferenz dahingehend verständigt hat, sich bis zum Februar des nächsten Jahres in Form einer Kommission oder Arbeitsgruppe, wie auch immer, mit dieser Problematik zu befassen, um zu erkennen, was wir tun können, um diesem Problem gerecht werden zu können, dann offenbart das irgendwie die Unfähigkeit. Der Innenminister des Bundes ist gegenüber den Ländern in einer besonderen Verantwortung.
Ich wiederhole die Frage, weil es kurz sein sollte:
Teilen Sie meine Auffassung, daß das, wenn es im Februar zu einem Ergebnis kommt, dem eigentlichen Anspruch, um den es hier geht, nicht gerecht wird?
Ich will nicht verhehlen, daß wir sehr unterschiedliche Vorstellungen über kurze Fragen haben. Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Graf, diese Meinung teile ich natürlich nicht. Denn Sie müssen sehen: Ursprünglich lag der Innenministerkonferenz der Antrag vor, wie Sie ihn heute gestellt haben, daß nämlich die Zuständigkeit des Bundes nach § 5 des BKA-Gesetzes bejaht wird.
— Von Bayern.
Nach Argumentation durch den Bundesinnenminister haben die Länder ihre Auffassung fallengelassen und gesagt: Wir sehen ein, daß wir zu unserer Zuständigkeit stehen müssen. Aber der Bund hat von sich aus immer angeboten, da, wo er nach seinen personellen Möglichkeiten helfen kann, beispielsweise im Rahmen des BKA, mitzuhelfen. Die Arbeitsgruppe hat
5792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
deshalb jetzt den Auftrag, im Zusammenwirken mit dem Bund festzustellen, wie unter Beibehaltung der Zuständigkeit der Länder geholfen werden kann.
Sie sehen, die Argumentation, die Sie heute Ihrem Entschließungsantrag zugrunde gelegt haben, ist von Ihren eigenen Innenministern am 8. November bei der Innenministerkonferenz fallengelassen worden. Sie sind hier nicht auf dem laufenden.
Herr Abgeordneter Gerster möchte auch noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß der Kollege Graf von der SPD gewissermaßen als verdeckter Ermittler des Staatsministers Stoiber von Bayern hier den Versuch unternimmt, ob sein Antrag vielleicht doch noch zum Erfolg kommen kann?
Geschäftsordnungskundig, wie der Abgeordnete Gerster ist, weiß er, daß Dreiecksfragen nicht zulässig sind. Sie brauchen die Frage also nicht zu beantworten und können in Ihrer Rede fortfahren.
Herr Präsident, ich tue es aber mit großem Vergnügen. Denn dieser Gedanke entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie. Ich würde sagen: Das könnte man durchaus vertiefen, aber dann bitte im Ausschuß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich weiterfahren. Die Innenministerkonferenz — ich habe es bereits in der Antwort angedeutet — hat auf ihrer Sitzung am 8. November 1991 aus den vom Bundesinnenminister vorgetragenen und von der Konferenz für einsichtig gehaltenen Gründen an den Bund keine Forderungen hinsichtlich der Beteiligung bei der Verfolgung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität gestellt. Sie hat vielmehr als ersten Schritt ihren schon am 3. Mai 1991 gefaßten Beschluß bekräftigt, die Berliner Polizei zunächst durch Entsendung von 34 qualifizierten Beamten zu unterstützen.
Im übrigen hat sie eine Arbeitsgruppe auf Staatssekretärsebene eingesetzt, an der sich mein Haus beteiligt. Diese Arbeitsgruppe, die gestern unter Vorsitz des Innensenators von Berlin zu ihrer ersten Sitzung zusammengekommen ist, hat den Auftrag, bis zum 1. Februar 1992 zu prüfen, in welcher Organisationsform, in welchem Umfang und — in Abstimmung mit der Finanzministerkonferenz — mit welcher Finanzierung der notwendigen personellen und sächlichen Ausstattung dem Legalitätsprinzip Rechnung getragen werden kann.
Trotz der enormen Schwierigkeiten, die sich bei der ersten Sitzung der Arbeitsgruppe mit aller Deutlichkeit gezeigt haben und die noch nicht einmal als in Ansätzen bewältigt betrachtet werden können, bin ich doch sehr zuversichtlich, daß die Arbeitsgruppe es letztlich schaffen wird — sie muß es geradezu schaffen — , realisierbare Vorschläge für eine wirkungsvolle Hilfe für die Berliner Polizei und Justiz durch die anderen Bundesländer zu entwickeln, und so auch die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder — darauf kommt es uns schon sehr an — für den Bereich der Polizei gewahrt bleibt.
Der Bund wird sich selbstverständlich im Rahmen seiner rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten an einer solchen Aktion beteiligen.
Sie sehen also, wir stehlen uns nicht aus der Verantwortung, sondern wir tun, was im Rahmen unserer Möglichkeiten denkbar ist.
Dies alles, meine Damen und Herren, bringt der Entschließungsantrag der Regierungskoalition zum Ausdruck. Deshalb kann ich ihn ohne Wenn und Aber mittragen und Sie alle ebenfalls um die Unterstützung der darin enthaltenen Intention bitten. Sie scheint uns den richtigen Weg anzudeuten.
Meine Damen und Herren, interfraktionell wird Ihnen vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/1306 und 12/1811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 12/1811 soll darüber hinaus an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. — Ich darf das als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 und Zusatzpunkt 12 auf:
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Sofortige Auflösung des „Koordinierungsausschuß Wehrmaterial fremder Staaten" des Bundesnachrichtendienstes und der Bundeswehr
— Drucksache 12/1505 —Überweisungsvorschlag:
Vereidigungsausschuß Innenausschuß
ZP12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Andreas von Bülow, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Parlamentarische Kontrolle der Auflösung der NVA
— Drucksache 12/1798 —Überweisungsvorschlag :
Verteidigungsausschuß Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß
Die Fraktionen, meine Damen und Herren, haben mir signalisiert, daß sie, die Zustimmung des Hauses vorausgesetzt, damit einverstanden sind, daß die Reden zu Protokoll gegeben werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5793
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Da der Abgeordnete Gernot Erler erfreulicherweise die Absicht hatte, frei zu sprechen, wir also seine Rede nicht sofort zu Protokoll nehmen können, muß ich die Zustimmung des Hauses auch dazu einholen, daß dieser Komplex im Protokoll der Sitzung von Freitag, 13. Dezember, und nicht im heutigen Protokoll erscheint. — Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden.
— Dann muß die Debatte stattfinden,
es sei denn, Sie ziehen zurück. — Der Abgeordnete Weng ist zu dieser späten Stunde offensichtlich durchaus einsichtig. Wir bedanken uns.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1505 und den Antrag der SPD auf Drucksache 12/1798 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überrweisen. Gibt es andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. — Dann darf ich auch dies als beschlossen feststellen.
Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen für die restlichen 86 Minuten dieses Tages noch einen erholsamen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Dezember, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.