Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Im Achten Jugendbericht wurden die zentralen Punkte Pluralisierung und Individualisierung der Lebenslagen von Jugendlichen und die stärkere Lebensweltorientierung der Jugendlichen in eindrucksvoller Weise beschrieben. Alle hiermit befaßten Ausschüsse haben zu Recht vorgeschlagen, daß der Neunte Jugendbericht auf dieser Grundlage die Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern in den Mittelpunkt stellen und hierbei die Vernetzung von Jugendhilfe, Arbeitswelt und Bildungspolitik noch stärker in den Vordergrund heben sollte.
Rekapitulieren wir dieses erste Jahr des vereinten Deutschland, so fallen in erschreckendem Maße — unfaßbar für die meisten Deutschen — Gewalttätigkeit, Gewaltbereitschaft und Beifall für rechtsradikale Aktionen von Jugendlichen in Ost und West gegen Ausländer auf. Politiker und Politikerinnen sind plötzlich aufgeschreckt und stellen fest, daß für den
Bereich der politischen Sozialisation neue Fragen aufgeworfen und neue Antworten gegeben werden müssen.
— Ich antworte nicht.
Die heutige Lebenssituation der Jugendlichen wird von zwei gegenläufigen Entwicklungstrends bestimmt. Auf der einen Seite ist auf Grund der zunehmenden Aufhebung und des Verlusts von traditionellen Identitäten, z. B. von Kirche und Nachbarschaft, eine Verstärkung von Individualisierungsschüben festzustellen, während auf der anderen Seite gleichsam eine Entindividualisierung im Sinne erhöhter Austauschbarkeit der Individuen infolge von Anonymisierung stattfindet. Hinzu kommen industriell erzeugte Risikopotentiale und weltweite Gefährdungen, z. B. Tschernobyl, Ozonloch, Aussterben des Regenwalds.
Wir müssen darum neue Antworten auf folgende Grundfragen finden: Welche Bedingungen müssen politisch geschaffen werden, damit Jugendliche aus Ost- und Westdeutschland ihre Chancen zu Selbstbewußtsein und sozialer Handlungsfähigkeit erhalten, damit sie mit den Anforderungen ihrer eigenen Biographie in der individualisierten Gesellschaft des neuen Deutschland und in Europa zurechtkommen?
Der Achte Jugendbericht und der Entschließungsantrag der CDU/CSU und der FDP machen deutlich, daß wir eine neue Jugendpolitik brauchen, eine Politik, die ihren Ort im Rahmen einer Gesellschaftspolitik gewinnen muß, die auf die besonders sensiblen Bereiche von sozialer Chancengleichheit konzentriert ist. Jugendpolitik in diesem Sinne ist eine Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche.
Ich will nun einen zentralen Aspekt künftiger Jugendpolitik herausgreifen, der bisher eher vernachlässigt wurde, aber ab 1993 enorm wichtig werden wird. Es geht um die Anforderungen des europäischen Binnenmarktes an unser Bildungssystem. Ich fände es phantastisch, wenn auch einmal ein EG-Bildungsgipfel ebenso spektakulär die Medien und die politische Öffentlichkeit beherrschte wie der jetzige Währungsgipfel.
Die Probleme und Perspektiven lohnten, ausführlich diskutiert zu werden. Wie viele junge Deutsche wissen eigentlich, was auf sie zukommt? Wir müssen über den nationalen Tellerrand hinausschauen; denn diese Probleme können nicht in und für Deutschland alleine gelöst werden. Wir müssen uns beeilen; denn mit dem europäischen Binnenmarkt in einem Jahr entsteht zwangsläufig ein europäischer Bildungsmarkt.
Bildung bekommt in der öffentlichen Diskussion und im politischen Handeln einen größeren Stellenwert, als sie bisher hatte.
Ich will an zwei Aspekten zeigen, was die Entwicklung zum europäischen Binnenmarkt für einen Ju-
5678 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
gendlichen bedeutet, erstens im Bereich der spezifischen Qualifikationsanforderungen und zweitens bei den Herausforderungen an das deutsche Bildungssystem.
Vorausschicken möchte ich aber eine Bemerkung zu den bildungspolitischen Kompetenzen. Bildungspolitische Verlautbarungen sind als solche rechtlich noch nicht verbindlich. Sie schaffen aber einen bildungspolitischen Konsens, von dem sich die Mitgliedstaaten im nachhinein nicht ohne weiteres lösen können. Kern der europäischen Bildungspolitik ist die Herstellung der Freizügigkeit und das Bestreben, der Bildung eine europäische Dimension zu geben. Aus dem Ziel, die Freizügigkeit herzustellen, ergibt sich das Anliegen, EG-ausländerdiskriminierende Hindernisse beim Zugang zu Ausbildungseinrichtungen zu beseitigen, die Anerkennung und Gleichwertigkeit von Ausbildungsabschnitten und -abschlüssen in den Mitgliedstaaten voranzutreiben sowie Grundsätze einer gemeinsamen Berufsausbildungspolitik festzulegen.
Kompetenzeinbußen der Mitgliedstaaten ergeben sich als Folge der europäischen Bildungspolitik in der allgemeinschulischen Bildung, im Hochschulbereich, in der Berufsaus- und Weiterbildung sowie in damit im Zusammenhang stehenden Materien des Aufenthaltsrechts, der Ausbildungsförderung und des Beamtenrechts. Im Schul- und Hochschulbereich sind darum im wesentlichen die deutschen Bundesländer von Kompetenzverlusten betroffen.
Welches sind also die spezifischen Qualifikationsanforderungen bei der Vollendung des europäischen Binnenmarktes? Aus einer zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft lassen sich spezifische Qualifikationsanforderungen erkennen. Sie ergeben sich aus der Erweiterung der Absatz- und Beschaffungsmärkte über die nationale Ebene hinaus, der tendenziellen Vereinheitlichung der Arbeitsmärkte und den erweiterten Kooperationsbeziehungen zu ausländischen Unternehmen. Zentrale Anforderungen sind darum: Sprachkenntnisse, Kenntnisse der soziokulturellen Situationen, Anpassungsfähigkeit und Toleranzbereitschaft und Kenntnisse der Unternehmenskulturen. Teilweise entstehen dadurch neue Berufsgruppen, z. B. Eurojurist, Eurosteuerberater und anderes.
Im Zuge der Internationalisierung und Liberalisierung der Arbeitsmärkte entsteht die internationale Personalrekrutierung und damit die Notwendigkeit des internationalen Qualifikationsvergleichs. Die Dynamik des Wirtschaftens verlangt von den Bildungssystemen eine optimale Anpassung des Qualifikationsangebots an die geforderten Profile.
Welche Herausforderungen muß in diesem Kontext das deutsche Bildungssystem bewältigen? Die bisherigen Rahmenbedingungen für das deutsche Bildungssystem, seine Leistungsfähigkeit in bezug auf die berufliche Qualifizierung, seine Akzeptanz bei den Nachfragern und seine gewachsenen Strukturen, stehen zur Diskussion, eventuell auch zur Disposition. Die meisten Bundesländer unternehmen angesichts der europäischen Einigung nun schon Anstrengungen zur Steigerung der Effizienz im Schul- und Hochschulbereich, nämlich durch die Verkürzung der
Gymnasial- und der Studienzeit, durch Versuche zur erhöhten Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen, vor allem zwischen Realschule und Hauptschule, und durch die Reform der reformierten Oberstufe, durch die die Kernfächer mehr Gewicht bekommen sollen.
Ich will an dieser Stelle aus Sicht der FDP noch einmal auf die Verkürzung von Gymnasial- und Studienzeit auf dem europäischen Hintergrund eingehen. Wir wollen diese Verkürzung;
aber Verkürzung ist kein Wert an sich. Sie kann nur dann fruchtbar sein, wenn die Rahmenbedingungen verbessert und flankierende Maßnahmen an Schulen und Hochschulen geschaffen werden. Wer das achtjährige Gymnasium will, muß die Lehrpläne in allen Stufen durchforsten und die bisherigen Bildungsziele überprüfen.
Das ist eine mühsame Aufgabe, vor der sich alle Verantwortlichen drücken, weil es sich nämlich hier um eine Neudefinition des Gymnasiums in unserem mehrgliedrigen Schulsystem handelt. Das Gymnasium darf sich nicht länger zur „höheren" Gesamtschule entwickeln lassen, sondern muß wieder eine Schule für die wirklich begabten und leistungsfähigen Jugendlichen sein.
Ein achtjähriges Gymnasium könnte zu diesem Ziel führen.
Wer eine Studienzeitverkürzung will, muß auch die materielle Situation der Studierenden und die Lehr- und Lernsituation in den Hörsälen verbessern. Eine Studienzeitverkürzung wird ohne eine Generalüberholung im gesamten Hochschulbereich nicht herzustellen sein.
Wenn man — wie die FDP — die Reglementierung des Hochschulzugangs nicht will, muß man die Hochschulen ausbauen, und das kostet Geld, viel Geld.
Der Bund hat durch Sonderprogramme Hervorragendes geleistet. Aber die Länder haben diese Leistungen bisher nicht fortgesetzt.
Bildungsinvestitionen sind jedoch, meine Herren, meine Damen, die wichtigsten Zukunftsinvestitionen in unserer Gesellschaft; das kann nicht oft genug wiederholt werden. Im europäischen Vergleich sind die Ausbildungszeiten in Deutschland einfach zu lang. Das Institut der deutschen Wirtschaft errechnete kürzlich, daß das Berufseintrittsalter bei deutschen Akademikern bei 28 Jahren liegt; britische, amerikani-
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sche und japanische Studenten sind fünf Jahre eher fertig!
Es muß aber nicht nur ein einzelner Ausbildungsabschnitt überprüft werden, sondern die Gesamtsumme aller Ausbildungsbereiche. Die dadurch entstehenden Wettbewerbsnachteile werden für unsere jungen Leute existenzgefährdend. Wir müssen endlich von der Ideologie Abschied nehmen, daß Bildung und Ausbildung mit dem Schul- bzw. Hochschulabschluß beendet seien. Wir alle wissen, daß „life-long-learning" Wirklichkeit werden wird. Über das Wie der Verkürzung muß noch gestritten werden. Aber es muß endlich die politische Entscheidung, nämlich eine Verkürzung zu wollen und sie zu finanzieren, getroffen und durchgesetzt werden.
Im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung müssen die Differenzen zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem überwunden werden. Die Schwerpunkte liegen hier beim Ausbau eines differenzierten Bildungsangebots und im Bereich der Weiterbildung nach Qualifikationen sowie bei der Verknüpfung von Aus- und Weiterbildungsformen im Sinne einer lebenslangen Qualifizierung.
Die EG-Integration beschleunigt den Strukturwandel nachhaltig. Auch andere EG-Länder sehen im Ausbau eines leistungsfähigen Bildungssystems eine vordringliche Aufgabe. EG-Länder wie Portugal und Griechenland haben bereits die Anzahl der schulpflichtigen Jahre auf neun, Spanien sogar auf zehn erhöht. In anderen EG-Ländern wie Frankreich oder Großbritannien geht es vor allen Dingen um eine Steigerung der Effizienz des vorhandenen Bildungs- und Ausbildungssystems. Zahlreiche Entschließungen des Rates zeugen schon jetzt von einem breiten Bemühen zur Verbesserung der beruflichen Bildung und des Übergangs Jugendlicher ins Erwerbsleben. Es gibt Aktionsprogramme, die den grenzüberschreitenden Austausch verstärkt fördern, z. B. Erasmus Comett, Lingua, Petra, Eurotecnet, Force. Diese Angebote müssen von den Jugendlichen aber auch angenommen werden, und wir Politiker müssen dafür werben.
Hierzu ein paar erschreckende Zahlen: 1986 waren nur 2,5 To der deutschen Studenten an einer Hochschule außerhalb ihres Heimatlandes immatrikuliert. Von den ca. 1,4 Millionen deutschen Studenten studierten 1988 rund 25 000 — das waren 2,8 To — im Ausland. Diese Studenten sind zu einem Drittel an Hochschulen in EG-Ländern, der Rest ist vorwiegend in Österreich und der Schweiz eingeschrieben. Den rund 25 000 deutschen Studenten im Ausland standen 1988 ca. 86 000 ausländische Studenten in Deutschland gegenüber. 20 000 davon kamen aus anderen EG-Ländern.
Warum ermutigen wir Erwachsene unsere jungen Leute nicht genügend, im Ausland zu studieren? Warum schaffen wir nicht mehr ideelle und materielle Anreize?
Sicher, es gibt Hürden bei Auslandsaufenthalten, z. B. Zulassungen an Hochschulen und Schulen, Studiengebühren, Lebenshaltungskosten und Probleme bei der Anerkennung von Studienleistungen im Ausland.
Hier sind aber auch die Eltern gefragt, diese Aufenthalte mitzufinanzieren. Sie lohnen sich in jedem Fall.
Ich komme zum Fazit. Der Bildungsbereich ist im Vergleich zum ökonomischen Bereich außerordentlich schwerfällig, und zwar aus zwei Gründen: Erstens: Veränderungen sind auf einen Konsens und die aktive Mitwirkung vielfältiger und großer Gruppen angewiesen, nämlich der Schüler und Schülerinnen, der Eltern, der Lehrenden, der Wirtschaft, der Interessenverbände. Zweitens: Der Zusammenhang zwischen Input und Output ist im Bildungsbereich wegen der langen Dauer der Bildungsprozesse in unserer Gesellschaft und der immer noch vorherrschenden starren Zuordnung zu einem bestimmten Lebensalter schwer zu erkennen. Hier müssen Änderungen vorgenommen werden.
Aber neben der zunehmenden ökonomischen Konkurrenz müssen Fähigkeit und Wille zur Kooperation entwickelt und schwerpunktmäßig über Bildung — es geht nur über Bildung — vermittelt werden. Die Kooperationsfähigkeit bezieht sich vor allem auf die Entwicklung von Toleranzfähigkeit und die Wahrung und Respektierung aller Identitäten. Die Vielzahl der EG-Aktivitäten kann eine eigenständige europäische Bildungspolitik in Deutschland nicht ersetzen. Deshalb müssen wir unsere Töchter und Söhne motivieren und unterstützen, den ganzen europäischen Binnenmarkt als Studien- und Arbeitsplatz, als Heimat, anzusehen.
Vielen Dank.