Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwischen der Auftragsvergabe an die Sachverständigenkommission im Jahre 1986 und der heutigen Debatte und Beschlußfassung zum Achten Jugendbericht liegen mehr als fünf Jahre. Drei Jahre haben die Expertinnen und Experten für ihre umfassende und inhaltsreiche Arbeit benötigt; zwei Jahre haben die parlamentarischen Mühlen gemahlen. Das ist natürlich viel zu lange, vor allem wenn man bedenkt, daß in unserem Land tiefgreifende Umbrüche stattgefunden haben und daß durch den Anschlußprozeß
eine Unzahl neuer Fragen und Probleme der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern entstanden und in den alten hinzugekommen sind.
Ich muß sagen: Mir will es überhaupt nicht einleuchten, daß es in dem nunmehr ablaufenden Jahr nicht möglich gewesen sein soll, zumindest einen Aufriß der Problemlagen von Jugendlichen in den neuen Ländern zu liefern.
5680 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Petra Bläss
Material dazu liegt reichlich vor. Es wurde teilweise ohne spezielle Fördermittel nur auf der Grundlage persönlichen Engagements erstellt, so die repräsentative Umfrage des Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung in Berlin „Jugend nach der Vereinigung" vom April 1991 oder der Report-Texteband zu Kindern und Jugendlichen aus der DDR und zur Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Studien hier in die Debatte einzubeziehen hätte für mich wirklich einen Sinn gemacht. Vielleicht wäre es dann auch möglich gewesen, den Auftrag für den Neunten Jugendbericht,
der sich endlich mit der Situation von Jugendlichen und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern befassen soll, präziser und weniger allgemein zu formulieren. Vielleicht wären dann schon heute Konsequenzen auch für die neuen Bundesländer möglich
und nicht erst dann, wenn dort alle bisherigen Jugendstrukturen plattgemacht sind und Jugend- und Kinderarbeit in die Obhut der Familien verwiesen ist.
— Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen. Lassen Sie mich wenigstens ausreden.
Was mich persönlich in diesem Zusammenhang besonders ärgert, ist, daß nicht nur Materialien, die nicht über große Regierungsaufträge zustande gekommen sind, nicht zur Kenntnis genommen werden, sondern in der Zwischenzeit auch wissenschaftliche Einrichtungen einfach abgewickelt werden und damit Kompetenz und Expertentum im Bereich der Jugendforschung brachliegt. Ich füge an: Zum Glück gibt es hier auch Ausnahmen. Ich denke an die Leipziger Jugendforscherinnen und -forscher.
Meine Damen und Herren, trotz dieser Kritik bin ich der Auffassung, daß der vorgelegte Bericht nicht entwertet wird, weil er nur eine Analyse der Lage von Kindern und Jugendlichen in den Altbundesländern liefert. Im Gegenteil, ich als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern habe daraus viel nehmen können, und er hat mir zu wertvollen Erkenntnissen verholfen, beispielsweise, welchen Sprengsatz eine verfehlte oder vernachlässigte Kinder- und Jugendpolitik in sich birgt und was Jugendhilfe leisten muß,
die nicht nur auf Probleme reagieren will, sondern den Anspruch formuliert, eigenständige Rechte von Kindern und Jugendlichen zu wahren und sie in der Erweiterung ihrer Lebensräume zu unterstützen, im Zweifelsfall auch gegenüber der Familie.
Die These, daß es angesichts der Pluralisierung von Lebenslagen der Jugendlichen darauf ankommt, ein differenziertes Jugendhilfeangebot zu entwickeln, das sich an den unterschiedlichen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen orientiert und sie zu Subjekten der Gestaltung ihrer eigenen Lebensentwürfe macht, leuchtet mir sehr ein. Ebenso bin ich mit der Konsequenz einverstanden, die von den Sachverständigen gezogen wurde: Sie fordern, daß die Anliegen der Jugendhilfe auch in allen anderen wichtigen Politikfeldern zur Geltung kommen, sich die Jugendhilfe nicht auf das angeblich Machbare beschränkt, sondern sich offensiv in die Gestaltung lokaler und überregionaler Lebensbedingungen einschaltet. Das bedeutet Einmischung in Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik, in Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik, in Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik usw.
Was heißt es wohl für die Lebensräume von Kindern, wenn sich im Land Brandenburg die Zahl der verkehrstoten Kinder in einem Jahr um 100 % erhöht hat, wie es durch alle Zeitungen geistert? Das ist nur ein winziges Beispiel für die Querschnittsaufgabe der Jugendhilfe und ihre notwendige Verknüpfung mit allen Politikfeldern.
Das zweite Standbein der Jugendhilfe muß — diese Auffassung teile ich vollständig — darin bestehen, dort mit einem umfangreichen Aufklärungs- und Gestaltungsangebot präsent zu sein, wo die Adressatinnen und Adressaten für Jugendhilfe unmittelbaren Handlungs- und Gestaltungsbedarf haben, so in der Straßensozialarbeit, bei der mobilen Jugendhilfe und anderen Formen jugendspezifischer Gemeinwesenarbeit. Ich denke, daß es einem im Bericht konstatierten gewachsenen Individualisierungsbedürfnis entspricht, wenn über die Jugendhilfe Selbstorganisation und Selbsthilfeinitiative gefördert wird, z. B. in der Jugendberatung oder in der Suchthilfe, aber auch in der Entwicklung von selbständigen Arbeits- und Wohngemeinschaften.
Für mich ist es nach wie vor das wichtigste an dem vorliegenden Jugendbericht, daß dort der Anspruch auf Kinderbetreuung eindeutig untermauert ist. Doch ich finde es unerträglich, daß zur Realisierung dieses Anspruchs in den alten Ländern viel zu wenig getan und daß in den neuen Bundesländern zugelassen wird, daß vorhandene Möglichkeiten zunichte gemacht werden.
Eigentlich braucht einen das alles aber gar nicht zu wundern. Das ist mein weiterer Erkenntnisgewinn aus dem Studium der heute zur Debatte stehenden Unterlagen: Es ist schon erstaunlich, wie die Bundesregierung einen so fundierten Jugendbericht rezipiert. Aus der umfangreichen Analyse und der ausdifferenzierten Palette von Maßnahmen für die Kinder- und Jugendpolitik den Schluß zu ziehen, daß es zentrales Anliegen der Jugendhilfe sein soll, der Familie dabei zu helfen, daß sie ihre Aufgaben wieder besser wahrnehmen kann, ignoriert vollständig die Auffassung der Sachverständigen, wonach nicht die Familie, sondern Kinder und Jugendliche zum Subjekt der Aktivitäten der Jugendhilfe gemacht werden sollen.
Noch etwas anderes ist bedrückend an der Stellungnahme der Bundesregierung: Sie geht nicht ein auf die benannten Problem- und Krisensituationen, sondern bagatellisiert und beschönigt. Am deutlichsten wird dies im Umgang mit der Tatsache, daß 8 % der Jugendlichen unter 15 Jahren Sozialhilfe beziehen, fürwahr kein privates Problem der Familien allein.
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Petra Bläss
Nachlässig finde ich auch, daß die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme nicht wenigstens einmal auf Defizite des vorliegenden Jugendberichts bzw. darauf verweist, daß in nachfolgenden Berichten weitere Spezifizierungen, etwa nach Geschlecht, aber auch nach Region, vorgenommen sowie zusätzliche Problembereiche wie z. B. Gewalt in der Familie, Kindesmißhandlungen und Mißbrauch von Kindern untersucht werden müssen.
Darüber hinaus — und in diesem Sinne verstehe ich auch die heutige Beschlußvorlage — muß, denke ich, der vorliegende Bericht gründlich bei der Formulierung der Fragestellungen zu Rate gezogen werden, die im Neunten Jugendbericht abgehandelt werden sollen. Wir sind selbstverständlich sehr dafür, daß wir noch im nächsten Jahr einen ersten Zwischenbericht zur Jugend- und Kindersituation in den neuen Bundesländern auf den Tisch bekommen.
Meine Damen und Herren, zur heutigen jugendpolitischen Debatte liegen uns drei Entschließungsanträge vor, und zwar von SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste. Hier möchte ich einschieben, daß ich mich mehr gefreut hätte, wenn es dazu gekommen wäre, daß wir einen gemeinsamen interfraktionellen Antrag eingebracht hätten,
der auch eine Forderung vieler tausend Jugendlicher, vor allem aus den neuen Bundesländern, enthalten hätte: Erhalt des Jugendsenders DT 64.
Proteste gegen die im Rahmen der Abwicklung der ostdeutschen Funkmedien anstehende Abschaltung des Jugendsenders hagelt es schon seit vielen Monaten. Inzwischen sind DT-64-Hörerinnen-und-Hörerinitiativen wie die Dresdner Freunde des Jugendradio DT 64 in breit angelegten Unterstützungskampagnen wie der Sammlung von über 100 000 Unterschriften für den Erhalt des Senders wirksam geworden und haben sich dabei schon mehrfach mit ihrem Anliegen an uns Verantwortung tragende Politikerinnen und Politiker gewandt — und dies wohl aus gutem Grunde; denn ca. 1 Million Hörerinnen und Hörer sollten für uns Abgeordnete keine zu vernachlässigende Minderheit sein.
Hier sei angemerkt, daß DT 64 in den letzten zwei Jahren auch in den alten Bundesländern, zumindest in den Teilen, wo es zu empfangen ist, viele neue Stammhörerinnen und -hörer gewonnen hat, die sogar die Ausdehnung des Sendegebiets auf die ganze Bundesrepublik fordern.
Zu Recht stellen die DT-64-Fans — und ich will nicht verheimlichen, daß ich mich zu ihnen zähle — fest, wie schwer es ist, ein Jugendprogramm aufzubauen, das von Jugendlichen auch wirklich angenommen wird, und weisen auf die politische Absurdität und Fahrlässigkeit hin, im Angesicht sozialer Verwerfungen, zunehmender Radikalisierung der Jugend, wachsenden Fremdenhasses, der Orientierungslosigkeit eines großen Teils der Jugendlichen und der latenten Gewaltbereitschaft im Alltag ein Programm,
das sich wie kein zweites in Deutschland genau diesen Problemen stellt, zur Disposition zu stellen,
noch dazu zu einer Zeit, wo dieser Sender endlich seiner ursprünglichen Berufung gerecht werden kann: der Förderung des Zusammenwachsens der Jugend in Ost- und Westdeutschland.
Hinter der Bezeichnung „DT 64 " steckt nämlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Anlaß der Aufnahme des Sendebetriebs, das Deutschlandtreffen 1964. Warum wird bei der Neuordnung der ostdeutschen Rundfunklandschaft völlig ignoriert, daß DT 64 schon vor dem Herbst oft der einzige streitbare Ort der Selbstverständigung junger Leute in den Medien war, daß einige Moderatorinnen und Moderatoren zu DDR-Zeiten mit Redeverbot belegt bzw. aus dem Sendeteam entfernt wurden, da sie der offiziellen Linie zuwiderargumentierten oder sich dem Vortragen bestimmter Nachrichten — ich erinnere an die China-Ereignisse im Juni 1989 — verweigerten, daß DT 64 mit Vehemenz den tiefgreifenden Prozeß demokratischen Wandels in Ostdeutschland durch Programme und Aktionen unterstützte und daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon im November 1989 die damalige Leitung aus dem Amt drängten?
Meine Damen und Herren, wir Anhängerinnen und Anhänger des Jugendradios DT 64 sind der festen Überzeugung, daß diese Bundesrepublik einen Sender wie DT 64 braucht, ein Jugendprogramm, das auf Grund seiner Geschichte für viele Jugendliche ein Teil ihrer Identität ist, . . .