Rede von
Josef
Hollerith
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Ich habe nicht bestritten, daß es in der früheren DDR Erfahrungen, Erlebnisse und Hoffnungen junger Menschen gab. Aber ich habe bestritten, daß das System, das damals die Rah-
5706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Josef Hollerith
menbedingungen für die Entfaltungschancen junger Menschen gesetzt hat, den jungen Menschen die Chance geboten hat, sich in Freiheit und Wohlstand zu entfalten und die eigene Persönlichkeit zu entwikkein. Das habe ich bestritten.
Das ist der Betrug, den das System der Kommandowirtschaft und des Kommunismus an den jungen Menschen begangen hat. Das ist die Last, an der wir heute alle — in den alten wie in den jungen Ländern — zu arbeiten haben, um die Situation der Menschen in den neuen Ländern verbessern zu können. Das war gemeint.
Ich bedanke mich, daß Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, dies noch einmal zu verdeutlichen.
Meine Damen und Herren, die Politik wird an ihrer Fähigkeit gemessen, die Zukunftsperspektiven der jungen Leute zu verbessern. Ich meine, die Bundesregierung hat richtig gehandelt. Wir haben das erfolgreiche Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das auch die ökologische Dimension beinhaltet, in den neuen Ländern eingeführt. Kein Wirtschaftssystem bietet im historischen und aktuellen Vergleich bessere Chancen für die Zukunft und für die Entwicklung der jungen Generation in Wohlstand und Freiheit als dieses Wirtschaftssystem.
Die Bundesregierung hat auch gehandelt, was ihre Aufgabe des Aufbaus der Jugendhilfeträger betrifft. Wir haben auf unsere Anregung hin 50 Millionen DM zusätzlich für den Aufbau der freien Jugendhilfeträger beschlossen. Es ist richtig, daß die Bundesministerin für Frauen und Jugend die Mittel nicht per Verordnung vergibt, sondern daß sie mit den Trägern sprechen will,
wie die Mittel sorgfältig und zielgerichtet eingesetzt werden können. Ich halte das für richtig.
Ich hielte es für sehr falsch, Frau Niehuis, wenn die Träger, die sich in 40 Jahren entwickelt haben, kritiklos weiter in ihrer Aufgabe belassen würden. Das kann nicht Aufgabe unserer Politik sein.
Meine Damen und Herren, betrachten wir den Saldo des ersten Jahres der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich meine, bei all den Problemen, die noch zu lösen sind: Dieser Saldo ist insgesamt positiv. Noch im Frühjahr waren 61 000 Jugendliche nicht vermittelt. Heute haben wir 6 700 unbesetzte Ausbildungsstellen, denen 2 400 nicht vermittelte Bewerber gegenüberstehen. Junge Menschen brauchen qualifizierte Ausbildung, um ihre Zukunftschancen gestalten zu können — wenn sie das wollen.
Der nahende EG-Binnenmarkt wird auch für die Jugendlichen der neuen Länder Chancen, aber auch verstärkte Konkurrenz bedeuten. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und dabei vor allem der jungen Generation im vereinten Europa auch für die Zukunft sichern.
Dabei haben wir einige Probleme zu lösen. Ich denke dabei vor allem erstens an unsere im Vergleich mit den übrigen EG-Ländern weit überdurchschnittlichen Ausbildungs- und Studienzeiten. Unser Berufseintrittsalter liegt mit 28,3 Jahren weit über dem des EG-Durchschnitts. Qualifizierte Hochschulabsolventen aus Frankreich und Großbritannien, die sich beispielsweise in Brüssel um eine entsprechende Position bewerben, sind in der Regel um 5 Jahre jünger als die Bewerber aus der Bundesrepublik Deutschland. Wie unverhältnismäßig besser ist da die berufliche Aufstiegschance für den mit 25 oder 26 Jahren ins Berufsleben startenden Franzosen im Vergleich zum 30jährigen oder zur 30jährigen Deutschen! Wir wollen keine Gesellschaft, in der man mit 30 beginnt und mit 60 in den Ruhestand tritt. Das können wir uns nicht leisten.
Ich denke zweitens an die fatale Situation, daß wir inzwischen erstmals mehr Studenten als Auszubildende haben. In diesem Jahr stehen 5 000 Architekturstudenten 2 400 Maurerlehrlinge gegenüber. Wir brauchen nicht nur jene, die planen, sondern auch diejenigen, die die Planungen ausführen. Es wäre eine schlechte Beratung durch die Politik, wenn wir nicht aufzeigen würden, daß wir im Jahr 1994 40 000 arbeitslose Ärzte haben werden, wenn sich die Entwicklung so fortsetzt. Es wäre eine schlechte Beratung durch die Politik, und es würde unserer Verantwortung nicht gerecht, Vordenker zu sein. Wer soll denn sonst Vordenker sein, wenn nicht die Politiker, die ja am Informationsknoten sitzen? — Das sollten sie jedenfalls.
Für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern wird der Anpassungsdruck in den nächsten Jahren sicherlich noch wesentlich stärker als für die junge Generation im Westen Deutschlands, weil für sie noch das geistige Erbe ihrer Vergangenheit hinzukommt. Für sie hat sich alles geändert. Für sie ist nicht nur das Persönliche neu, sondern auch das System. Sie müssen lernen, mit der Pluralität der Lebensmöglichkeiten umzugehen. Sie sind über die Chancen und Möglichkeiten im Hinblick auf die Ausbildung und den Beruf innerhalb der EG nicht informiert und deshalb verunsichert.
Die Jugendlichen aus Ostdeutschland haben es nicht gelernt, mit ausländischen Mitbürgern umzugehen. Eine offene Begegnung mit anderen Kulturen war ihnen 40 Jahre lang versperrt. Umfragen haben ergeben, daß bezüglich der in der ehemaligen DDR arbeitenden Ausländer, vor allem Vietnamesen, kein Wert auf gesellschaftliche Integration gelegt wurde. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, daß sich fast ein Drittel der Bevölkerung in den neuen Ländern durch die Ausländer im eigenen Land gestört fühlt.
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Josef Hollerith
Fazit: Die Veränderungen auf dem Weg zum EG-Binnenmarkt erfordern erstens, speziell bezogen auf unsere Jugendpolitik in den neuen Ländern, daß wir die Voraussetzungen schaffen, damit die Jugendlichen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa entwikkeln und die Identität im wiedervereinigten Deutschland und in Europa finden, und zweitens, bezogen auf unsere Jugendpolitik in Ost und West, daß wir unser Bildungswesen darauf ausrichten, damit die junge Generation im Binnenmarkt wettbewerbsfähig bleiben kann. Wir müssen im Bildungswesen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die neuen Aufgaben in bezug auf Mobilität und Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Innovationsbereitschaft erfüllt werden können.
Um das zu erreichen, stellen sich uns auf nationaler Ebene folgende Aufgaben.
Erstens in bezug auf die Schule: Das umstrittene Problem der Schulzeitverkürzung muß diskutiert und gelöst werden.
Zweitens hinsichtlich der Hochschule: Das relativ hohe Berufseintrittsalter bundesdeutscher Universitätsabsolventen erfordert die Verkürzung der Studiendauer. Die im Zuge der Binnenmarktvollendung erhobene Forderung nach einer engeren inhaltlichen Klammer zwischen Hochschule und Berufswelt muß sich in entsprechenden Strukturen niederschlagen. Wir brauchen keine berufsfertigen Absolventen, wir brauchen berufsfähige Absolventen in der Wirtschaft.
Überzeugende Zugangsregelungen müssen in den überlasteten Fachbereichen dafür sorgen, daß diese für alle Bewerber nach Eignung und Interesse offengehalten werden. Dem Ausbau der Fachhochschulen ist Priorität einzuräumen.
Drittens bezüglich des dualen Systems. Dem dualen System der Berufsausbildung verdankt die Bundesrepublik einen hohen Standortvorteil. Wir müssen ihn weiterentwickeln. Junge Arbeitnehmer aus Ost und West haben neue berufliche Möglichkeiten. Aber die Konkurrenz innerhalb der EG erfordert zunehmend mehr Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung, Kenntnisse über die Rechts-, Steuer- und Abgabensysteme, Märkte und Produktionsmöglichkeiten in anderen EG-Staaten.
Unsere Aufgabe ist, mit Redlichkeit und Aufrichtigkeit klarzumachen, daß die Erarbeitung des Sozialprodukts vor der Verteilung desselben stehen muß. Im Binnenmarkt wird die junge Generation in Ost und West zum Prüfstein für die Fähigkeit zur Zukunftsbewältigung. Die Politik ist gefordert, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Bundesregierung und Koalition sind hier auf dem richtigen Weg. Unser Motto heißt: Jugend fit für Europa und damit fit für die Zukunft.