Rede von
Heinrich
Seesing
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Leben ohne Energie ist auf dieser Erde nicht möglich. So banal diese Aussage zu sein scheint, wir vergessen nur allzuleicht, daß sie für alle Menschen aller Regionen gelten muß. Diese Erkenntnis bedeutet für uns, daß sich unsere Energiepolitik stärker als bisher der Interessen der noch zu entwickelnden Staaten unserer Erde annehmen muß.
Die reichen Industriestaaten der Erde haben bisher ohne Rücksicht auf die Länder, die über keine ausreichenden Devisen für den Kauf von Öl, Gas, Kohle und Kernkraftwerke verfügen, die vorhandenen Energieressourcen für sich ausgenutzt. Ziel internationaler Friedenssicherungspolitik muß es sein, daß auch diese Staaten einen besseren Zugang zu den Energieträgern erhalten. Hunger und Not in aller Welt werden nicht ohne die Bereitstellung von Energie bekämpft werden können. Deswegen ist die weltweite Energieversorgung zu einem ethischen Problem geworden — auch für uns.
Eine unabhängige nationale Energiepolitik ist nicht mehr möglich. Die deutsche Energiepolitik wird Bestandteil einer EG-Energiepolitik. Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 wird auch zu einem EG-Binnenmarkt für Energie führen. Das bedeutet für die einzelnen Staaten der Gemeinschaft, daß sie sich deren Vorschriften, insbesondere den gemeinsamen Wettbewerbsregeln, unterwerfen müssen. Wir werden feststellen, daß sich das nicht ohne Schwierigkeiten umsetzen läßt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5717
Heinrich Seesing
Hinzu kommt, daß eine Abkapselung der EG nicht sinnvoll und nicht möglich ist. Die Zusammenarbeit mit allen Staaten Europas, die erst beginnt, muß möglichst schnell zu einem europäischen Energieverbund ausgebaut werden.
Wesentlich wird unsere nationale Energiepolitik auch vom Willen bestimmt sein, die Verunreinigung der Luft und damit auch der Erdatmosphäre durch umwelt- und gesundheitsgefährdende Schadstoffe zu reduzieren. Das galt schon länger für Schwefeldioxid und Stickoxide. Das wird in Zukunft verstärkt für Kohlendioxid gelten.
Beschlüsse über eine notwendige CO2-Reduktion um mindestens 25 % bis zum Jahre 2005 liegen vor. Hauptaufgabe auch der Energiepolitik wird es nun sein, dieses sehr ehrgeizige Ziel auch zu erreichen. Wir werden uns darum über die Wege zu diesem Ziel schnell einigen müssen.
Diese Einigung wird nicht einfach sein, weil sie nach meiner Auffassung nicht nur verstärktes Energiesparen, nicht nur den vermehrten Einsatz von erneuerbaren Energien und nicht nur die weitere Einschränkung bei der Verbrennung fossiler Energieträger bedeutet, sondern auch die weitere Nutzung, ja den Ausbau der Kernenergie. Doch dazu später noch einiges mehr.
Es hängt aber auch wesentlich von der Gestaltung einer anzustrebenden europäischen Energiesteuer ab, ob die Mittel für die notwendigen Investitionen bereitstehen, die für das neue Energiekonzept erforderlich sind.
Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands hat die Bedingungen für eine deutsche Energiepolitik grundlegend geändert. Die Energieversorgung in den östlichen Bundesländern muß so schnell wie eben möglich den Bedingungen im übrigen Bundesgebiet angeglichen werden. Bis zum Jahre 1990 wurde sie vorwiegend durch die Braunkohle gesichert. Gerade in diesen Ländern bietet sich auch die Erprobung neuer Formen der Energieversorgung an.
Wichtigste Aufgabe bleibt aber, die hohe Umweltbelastung durch die noch vorhandenen Kraftwerke entscheidend zu verringern. Sie liegt etwa dreimal so hoch wie in den westlichen Bundesländern, wobei der Wirkungsgrad im Durchschnitt nur Zweidrittel der westdeutschen Kraftwerke erreicht.
Gleichzeitig muß aber auch die Wiederherstellung der Landschaft in den Braunkohlegebieten als eine wichtige Aufgabe der Energiepolitik angesehen werden. Das erfordert die Konzentration aller Mittel, aller Ressourcen.
Wir sollten auch noch einmal prüfen, ob nicht trotz der unbedingt erforderlichen Umweltmaßnahmen wie Verringerung des Ausstoßes von Schwefeldioxid und Stickoxiden an längere Übergangsfristen für die Umrüstung der vorhandenen Kraftwerke oder an verlängerte Auslauffristen gedacht werden kann; denn die Neuorganisation der Energieversorgung in den Städten, Gemeinden, Kreisen und Regionen der neuen Bundesländer stößt auf größere Schwierigkeiten, als ursprünglich erwartet.
Das Ergebnis der Klage von zahlreichen Städten beim Bundesverfassungsgericht muß abgewartet werden. Erst nach Klärung all dieser Fragen wird die Investitionstätigkeit im Bereich der Energieversorgung schnell zunehmen können. Aber auch diese Investitionen müssen sich lohnen.
Die kommenden Jahre werden die deutsche Industrie in einen härteren Wettbewerb im gemeinsamen europäischen Markt und in der Weltwirtschaft führen. Der Industriestandort Deutschland ist auf Dauer nur zu sichern, wenn die Bedingungen für die deutsche Wirtschaft zumindest denen im europäischen Binnenmarkt angeglichen werden.
Das betrifft neben der Steuer- und Abgabenpolitik, neben den derzeitigen Tarif gestaltungswünschen, neben der Überreglementierung durch eine Flut von Gesetzen, Verordnungen, Erlassen und Verfügungen, die häufig mit neuen Kosten verbunden sind, neben den überaus langen Genehmigungszeiten für technische Anlagen und Produktionsprozesse und neben der zunehmend technikfeindlichen Haltung bestimmter Behörden und sogenannter gesellschaftlicher Gruppen ganz besonders auch die Kraftwerksanlagen und Leitungen der Energieversorgung.
Investitionen sind nur noch dann zu verantworten, wenn sich eine längerfristige Laufzeit für die Werke abzeichnet. Ich frage: Wer will denn im Jahre 1992 noch in ein Braunkohlekraftwerk investieren, wenn er nicht weiß, ob nicht die Politik ihm in wenigen Jahren den Garaus macht?
Die Vernichtung von Kapital, der wir uns in Deutschland schuldig gemacht haben, muß ein Ende haben. Nach dem SNR 300 in Kalkar, nach dem THTR in Hamm-Uentrop, nach dem Aus für die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und möglicherweise auch für das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich haben die Investoren die Nase voll. Sie kaufen lieber ausländische Kohlengruben oder dergleichen, was ich natürlich nicht gutheiße.
Ein richtiges Energiekonzept, das wirklich zukunftsweisend sein will, muß vor allem auch wegen der Kosten eine Laufzeit von 30, besser 40 Jahren anstreben. Nur dann ist die Umstrukturierung einer Volkswirtschaft im Energiebereich vernünftig zu bewältigen.
Vor 40 Jahren begann unser Einstieg in die Mineralölwirtschaft im großen Stil. Wenn wir in 40 Jahren, also etwa im Jahr 2030, wenigstens einen Teilausstieg schaffen wollen, muß jetzt dafür der Ansatz gefunden werden. Auch die Strategien zur besseren Nutzung von Stein- und Braunkohle bedürfen eines längerfristigen Ansatzes.
Erst recht gilt das für die Maßnahmen, die zur Reduktion von 25 bis 30 % des CO2-Ausstoßes führen sollen. Wir dürfen dabei nicht nur Deutschland betrachten. Mit Hilfe modernster Technologien muß der CO2-Ausstoß in aller Welt vermindert werden. Wenn wir hören, daß in China an eine Verdoppelung der Steinkohleverbrennung bis zum Jahr 2005 von 1 auf
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rund 2 Milliarden t gedacht wird, dann sollten wir schon die Frage stellen dürfen, ob wir nicht besser in China investieren, um den Schadstoffausstoß in Grenzen zu halten.
Ein Wort zur Kernenergie muß noch gestattet sein. Weltweit geht die Diskussion um die Kernenergie in Richtung Ausbau, nicht in Richtung Abbau. Die Auseinandersetzung um die Anwendung der Kernenergie hat in Deutschland allerdings eine andere Dimension erreicht. Deswegen müssen wir neue Wege beschreiten, um die Einstellung zur Kernenergie in der Bevölkerung, besonders aber bei Politikern zu verändern. Denn alle Energiequellen werden dringend benötigt. Kernenergie wird in Zukunft in großem Umfang genutzt werden müssen.
Bevor wir aber an den Ausbau denken, müssen wir — diese Verpflichtung besteht selbst für den entschiedensten Kernkraftgegner — das Problem der Entsorgung lösen. Dann aber muß für eine zukünftige weltweite Kernenergienutzung eine katastrophenfreie Kerntechnik gefordert werden.
Neue Sicherheitsqualität bedeutet, daß für die Außenwelt bei allen Störfällen, unabhängig von ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit, Schäden vermieden werden. Ich kann Wissenschaft, Forschung und Industrie nur auffordern, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wir haben nur wenig Zeit. Täglich wächst die Weltbevölkerung um 200 000 Menschen. Sie alle brauchen Essen, Wasser und Energie. Wir brauchen eine Energiepolitik, die diesen Verpflichtungen gerecht wird.