Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Achte Jugendbericht der Bundesregierung, den der Bundestag in der letzten Sitzungswoche des Jahres 1991 behandelt, stammt aus dem Frühjahr 1990. Ich weiß, wie viele wichtige Themen in der Zwischenzeit in diesem Hause behandelt wurden, und ich weiß auch, daß wir alle nicht gefaulenzt haben. Dennoch ist diese Verzögerung nicht zu rechtfertigen. Es gibt nichts, was wichtiger sein könnte als die Jugend in unserem Land.
Würden wir uns in dieser Debatte auf den Achten Jugendbericht beschränken, hinkten wir der Zeit, den Ereignissen in Deutschland hoffnungslos hinterher. Die Jugendlichen, von denen der Bericht handelt, sind inzwischen erwachsen, der Bericht hat einen Bart. Die Konsequenz sollte sein, daß wir die Bundesregierung auffordern, alle zwei Jahre einen Jugendbericht zu erstellen,
und daß das Parlament sich verpflichtet, diesen binnen eines Vierteljahres auch zu behandeln. Nur so ist gewährleistet, daß aus dem Bericht unmittelbar und für die Betroffenen wirksam politisches Handeln werden kann.
Auch der Themenkatalog muß dringend überdacht werden und hat künftig insbesondere auch jene jugendpolitischen Felder zu berücksichtigen, die durch die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung gekommen sind. Mir scheint unverzichtbar, Jugendpolitik im Zusammenhang mit Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik zu begreifen. Politisches Ressortdenken muß abgelöst werden durch emanzipatorisches und integratives Denken und Handeln, das alle gesellschaftlichen Bereiche umfaßt.
Wir unterstützen daher den Beschluß des Ausschusses für Frauen und Jugend, die Bundesregierung zu beauftragen, bis zum Juni 1992 einen Zwischenbericht zur Situation der Jugendlichen in den östlichen Bundesländern zu erstellen. Darüber hinaus sollten wir uns vornehmen, offen zu sein für aktuelle Anforderungen, um auf brennende jugendpolitische Fragen Antworten zu finden und als Gesetzgeber schnell und unbürokratisch handeln zu können.
Die Bereitschaft zur Gewalt ist gegenwärtig in Ostdeutschland, aber nicht nur dort, ein solches brennendes Problem. Darin manifestieren sich Werteverlust, Enttäuschung, Desillusionierung, Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit. Junge Menschen in Ostdeutschland erleben — ich zitiere den sächsischen Wissenschaftsminister Meyer — ein „Wechselbad von Hoffnungen und Enttäuschungen". Ihr vertrautes Umfeld wandelt sich in einem ungeheuren Tempo. Gerade für Jugendliche in der Pubertät, die angesichts der inneren Verunsicherung auf äußere Beständigkeit und Geborgenheit angewiesen sind, ist das eine außerordentliche Belastung. Eine Befragung unter 14jährigen Schülerinnen und Schülern in Leipzig ergab, daß 85% von ihnen daran zweifeln, ob es Gerechtigkeit in der Welt gibt.
Die Ursachen liegen aber auch im Politischen. Das Training autoritär-hierarchischer Strukturen begann in der DDR im frühesten Kindesalter. Die tragenden Werte des Erziehungsideals der SED waren: um jeden
Preis Disziplin, Sauberkeit und Ordnung. Sie beherrschten die Gesellschaft und wurden in Schule und Familie Kindern und Jugendlichen oktroyiert. Solche Prägungen verschwinden nicht von einer Wende zur anderen. Diese Deformierungen und Verkrüppelungen heilt keine D-Mark und kein Einheitsfeuerwerk.
Der Antifaschismus war zur leeren Worthülse, zur verordneten und ungeliebten Pflichtübung verkommen. Die Heranwachsenden wurden tagtäglich mit der Doppelzüngigkeit ihrer Eltern und Lehrer konfrontiert. Alle konnten die sozialistischen Phrasen herbeten, aber kaum einer glaubte daran. Die Jugendlichen verloren ihr Grundvertrauen und das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Erwachsenen. Diese Generation ist eine entwurzelte Generation. Der Provinzialismus der DDR tat sein übriges. Ein positives Erleben von Fremden war politisch nicht gewollt, war gefürchtet und unterdrückt oder wurde bei steif organisierten Begegnungen als Alibi mißbraucht. Dabei wurden Feindbilder erzeugt, deren Ausmaß wir heute mit Entsetzen erleben.
Die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Wahrheit waren ideologisiert und erstarrt. Vom Kindergarten an wurde indoktriniert, eine kritische Auseinandersetzung, gar die Ablehnung durfte es nicht geben. Die sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung bildete Inhalt, Ziel und Grenze des Denkens und Fühlens. Entweder wurden die Kinder und Jugendlichen durch diese Dauerberieselung immunisiert, oder sie gerieten in eine psychosoziale Krise, weil es das Ideal in der Wirklichkeit nicht gab.
Nach der Vereinigung erleben diese Jugendlichen nun den offenen Zusammenbruch aller Werte. Die Zeit des Aufbruchs im deutschen Herbst, die Zeit der Freude und Hoffnung nach der Maueröffnung war für viele zu kurz, um dauerhaft tragfähig zu sein. Viele junge Menschen erleben die neue Gesellschaft nicht als befreiend und freiheitlich, weil die Vereinigung ihnen wie allen Ostdeutschen eine erdrückende Fülle von Anpassungszwängen auferlegt. Es wird von ihnen ein soziales Verhalten erwartet und gefordert, das sie zu DDR-Zeiten nicht lernen konnten. Die Folge ist erneute Anpassung oder aber Verweigerung.
Der Vereinigungsprozeß mit seinen wirtschaftlichen Zwängen und Härten, die Vergötzung der Marktwirtschaft und die oftmals rigiden Praktiken hemdsärmeliger Neokapitalisten wirken sich unmittelbar auf die Lebensbereiche Jugendlicher aus. Die ökonomische Gewalt in den östlichen Bundesländern fördert die ohnehin vorhandene Aggressionsbereitschaft. Fehlende Lehrstellen, die eigene Arbeitslosigkeit oder die der Eltern bewirken, daß sich junge Menschen alleingelassen, ungebraucht und überflüssig fühlen. Verzweifelt suchen sie nach Halt, nach Werten, nach glaubwürdiger Autorität. Aus den Rudimenten der alten, noch im Unbewußten wesenden sozialistischen Idologie, aus neuen verquasten Heilslehren oder aus altneuem deutschnationalem Gedankenungut basteln sie sich eigene brutale „Überlebensphilosophien" . Gewalt wird ihre Lebenswirklichkeit.
Wut oder Ohnmacht junger Menschen sind letztlich Ausdruck des „Sich-nicht-Wiederfindens" in der neuen Gesellschaft. Beides können wir nicht wollen,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5683
Konrad Weiß
denn gerade jetzt bedarf es einer jungen, innovativen Generation, um die anstehenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Passivität und Resignation aber untergraben ebenso wie Radikalismen jedweder Couleur unsere Demokratie.
Eine Umfrage hat ergeben, daß lediglich 10 % der Jugendlichen in den östlichen Bundesländern zu polltischem Engagement bereit sind. Der Vertrauensverlust gegenüber Parlamentariern und Politikern birgt die Gefahr in sich, daß unsere Politik ins Leere läuft, daß wir die Jugendlichen nicht mehr erreichen.
Der von meiner Fraktion, der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN, eingebrachte Entschließungsantrag zum Erhalt der Jugendsender „DT 64" und „elf 99" resultiert aus der Erkenntnis, daß in dieser Phase grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen das Bewahren der kulturellen Identität zu Verständnis und Verständigung und zur friedlichen Konfliktbewältigung beitragen kann. Es ist eine Binsenweisheit, daß Identifikation eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen großer Zuschauer- und Zuhörergruppen ist.
Daß dies den ostdeutschen Jugendsendern gelungen ist, beweisen die vielen Initiativen, Freundeskreise, Vereine, beweist die Fürsprache von Politikern, Parlamentariern, Künstlern, beweisen zehntausend Unterstützerunterschriften, die täglich hinzukommen. Bei diesen Jugendsendern geht es nicht um die eine oder andere Musikrichtung oder um das eine oder andere schicke Programm. Es geht um den Erhalt von Kommunikationsmitteln, die den Zuschauern und Hörern die Identifikation ermöglichen, die es ermöglichen, sich selbst wiederzufinden — die eigene Sprache, die eigenen Probleme, die eigene Lebenssituation.
Das macht eine bewußte, konstruktive Auseinandersetzung möglich.
Überall kann man lesen und hören, kann man es im täglichen Leben erfahren, daß die Mauer in den Köpfen und Gefühlen der Menschen schwerer einzureißen ist als die Mauer aus Beton. Das kann auch nicht anders sein. 40 Jahre driftete Deutschland auseinander. Junge Menschen wurden in das eine oder in das andere Deutschland hineingeboren, sind von dem einen oder von dem anderen geprägt. Ihnen fällt es besonders schwer, neue Bezugssysteme zu erkennen und anzunehmen. Ostdeutsche Jugendliche haben vieles von dem, was ihnen vertraut war, aufgegeben und verloren oder aber freudig ausgetauscht.
Vieles aus der vertrauten Welt ist schmerzhaft, aber rational nachvollziehbar abgewickelt worden. Auch die Abschaltung der ostdeutschen Jugendsender ist rational nachvollziehbar, ist eine Konsequenz des von der Mehrheit der Ostdeutschen so gewollten Einigungsprozesses. Die Abschaltung dieser Sender — das beweist die Fülle der Aktionen — scheint für die Jugendlichen geradezu zum Symbol der einheitsbedingten Verluste geworden zu sein. Sie empfinden das drohende Verstummen der Sender als Kahlschlag, der sie direkt betreffen und oft auch starke emotionale Bindungen sprengen würde.
Man kann zu DT 64 und elf 99 sicher unterschiedlicher Meinung sein. Das aber ist sicher: Sie werden stumm bleiben, wenn sie erst abgeschaltet sind. Und es gibt nichts, was die Lücke füllen kann. Denn es gibt bisher keine staatsvertragliche Einigung der Ministerpräsidenten, die über die Neuverteilung der Frequenzen beschlossen hätte. Es gibt keine neuen Sender, die — ob privat- oder öffentlich-rechtlich — die verfassungsrechtlich zugesicherte Grundversorgung für jugendliche Hörer übernehmen könnten.
Es gibt nicht einmal Politiker, die sich grundsätzlich gegen den Fortbestand der Sender aussprechen. Es ist höchstens die Rede davon, daß die föderale Struktur eine solche Regelung leider nicht zulasse; oder: daß sie leider nicht zuständig seien; oder: daß ihnen die Musik nicht gefalle; oder aber: daß man Altlasten beseitigen müsse, daß es gar keinen Bedarf für ein überregionales Programm gebe.
Dem entgegen stehen Unterschriftensammlungen, Montagsdemos unter dem Motto „Keine Gewalt!" , Mahnwachen, Aufrufe von Prominenten aller politischer Lager, Spendenkonten, Benefizkonzerte. Mich erinnern diese bisher durchweg friedlichen Aktionen an die gewaltlose Kraft des Deutschen Herbstes: Qualifizierte Minderheiten artikulieren rechtsstaatlich ihren Willen. Geben wir dem Jugendfunk die Chance, zu beweisen, daß er ist, was die vielen in ihm sehen, die sich jetzt für ihn einsetzen.
Ich bitte die Ministerpräsidenten der Länder, dem Willen so vieler Jugendlicher und Junggebliebener — von Uwe Lühr bis Herbert Grönemeyer, von Superintendent Ziemer bis Wim Wenders — zu entsprechen und in Wernigerode in den nächsten beiden Tagen einen Weg für den Erhalt der Sender zu suchen.
Ich appelliere an die Bundesregierung, nicht zuzulassen, daß die integrative Potenz der ostdeutschen Jugendsender verlorengeht.
Und ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, von dem Recht Gebrauch zu machen, das der Einigungsvertrag uns übertragen hat, nämlich Bundesmittel für die übergangsweise Mitfinanzierung solcher Einrichtungen freizugeben, die zur Überwindung von Teilungsfolgen beitragen.
Ich danke Ihnen.