Wenn Sie hier ein bißchen länger zugehört hätten, würden wir uns darüber einigen. Es war Herr Wetzel, der moniert hat, daß die falschen Gruppen finanziert worden seien. Aber ich denke, irgendwann muß die schnelle HopplahoppPlanung zu Ende sein, und genau darum geht es an dieser Stelle.
Ich glaube, es ist höchste Zeit, neue Strukturen aufzubauen.
Die Ministerin äußert sich häufig mißtrauisch hinsichtlich unserer Verbände der freien Jugendhilfe. Das hat sie auch heute getan. Ihr ist in diesem Zusammenhang nur der Begriff Funktionär eingefallen. Es wäre aber viel besser gewesen, wenn sie auch die ehrenamtliche Tätigkeit in den freien Jugendverbänden einmal gewürdigt hätte.
Aber ihr fallen immer nur Funktionär und Bürokratie ein. Darum, denke ich, ist es nötig, daß wir heute auch einmal über die Jugendarbeit der freien Träger reden, und darüber, warum wir die freie Jugendarbeit schätzen und fördern.
Es war das Trauma des Nationalsozialismus und die Erfahrung mit der staatlich gelenkten Einheitsjugend, die die Überzeugung stärkten, daß starke freie Träger außerhalb des Staates und außerhalb der Parteien 1945 die zu schaffende neue Demokratie stärken würden und daß sich diese freien Träger zusammenschließen müssen, damit eine Zerplitterung verhindert wird. Von dieser Weichenstellung haben Generationen von Jugendlichen bei uns profitiert. Ich möchte sehr gerne, daß auch in Zukunft Generationen von Jugendlichen davon profitieren können. Das setzt einen ständigen Erneuerungsprozeß der Jugendverbände voraus, um praktische Antworten auf die von Jugendlichen gewünschte Individualisierung in einer pluralistischen Gesellschaft zu finden. Aber das bedeutet auch, daß sich die Politik weiterhin dafür verantwortlich fühlt, die freien Träger bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu unterstützen und zu fördern.
Gerade um das letzte geht es mir.
Der Bundesjugendplan ist das wichtigste Instrument zur Förderung der Jugendarbeit auf Bundesebene. Seit Jahren aber verordnet die Bundesregierung dem Bundesjugendplan, was die institutionelle Förderung betrifft, ein Null-Wachstum. Das bedeutet ganz konkret, daß die Haushalte der Jugendverbände von den steigenden Personal- und Sachkosten aufgefressen werden. So ist das sogenannte Null-Wachstum in Wahrheit ein Minus-Wachstum mit der Folge, daß immer weniger Geld für die praktische Jugendarbeit übrigbleibt. Ich denke, diesen haushaltspolitischen Trend müssen Sie, Frau Ministerin Merkel, ganz dringend beenden. Sonst werden Sie dafür verantwortlich sein, daß die freie Jugendarbeit in Deutschland geschwächt wurde.
Ich denke, gerade heute brauchen wir starke Träger der freien Jugendarbeit, denn der Individualisierungstrend, der Trend, daß Jugendliche heute über ihre individuellen Lebensentwürfe und Wertorientierungen selbst entscheiden möchten, dürfen, aber auch müssen, bedeutet: Wer entscheiden muß, sucht Orientierungshilfe in der Familie, in der Schule, im Beruf und in der Freizeit.
Wenn wir als Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitiker uns verantwortlich fühlen wollen, dann dürfen wir das Freizeitangebot nicht allein den kommerziellen Freizeitanbietern, den Konsumentenwerbern, den Sekten, den Rechtsradikalen und der Suchtszene überlassen, sondern dann brauchen wir insbesondere das Angebot der freien Jugendverbände mit ihren vielfältigen Wertorientierungen.
Eine Stärkung wäre schon möglich gewesen, wenn die Bundesregierung in den Haushaltsberatungen dem Antrag der SPD gefolgt wäre, die Mittel für den Bundesjugendplan um 100 Millionen DM zu erhöhen, um den Aufbau einer flächendeckenden pluralen Jugendverbandsarbeit in den neuen Bundesländern zu unterstützen. Sie wissen, daß in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Frauen und Jugend zur Identitätsfindung von Jugendlichen in den neuen Bundesländern diese Notwendigkeit seitens der Sachverständigen deutlich hervorgehoben wurde. Doch diesen haushalts- und jugendpolitisch sinnvollen Weg lehnen Sie ab. Wie bei dem „Sommer der Begegnung" — nun komme ich zu Ihnen, Herr Schwarz —, der sich als Strohfeuer erwiesen hat, legen Sie außerhalb des Bundesjugendplans wieder Sonderprogramme auf,
zunächst das Sonderprogramm „Zielgruppenorientierte Prävention gegen Gewalt" und dann, allerdings erst ganz am Ende der Haushaltsberatungen, das mit 50 Millionen DM ausgestattete Programm für den
5694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Edith Niehuis
Aufbau und Ausbau von Trägern der freien Jugendhilfe in den neuen Bundesländern, kurz AFT-Programm genannt.
Es ist schon erstaunlich, daß die Ministerin nicht einmal die Chance genutzt hat, hier ordentlich auf dieses Programm einzugehen, und das spricht Bände.
— Nein, es ist kein gutes Programm. Es trägt zwar einen guten Namen, aber es wird den Erwartungen nicht gerecht. Ich behaupte sogar, daß das AFT-Programm auch jugendpolitisch schädlich sein könnte.
Ich will das gerne erläutern. Um Mittel aus dem Sonderprogramm „Zielgruppenorientierte Prävention gegen Gewalt" zu bekommen, müssen wieder viele einzelne Projektanträge gestellt werden. Davor haben die Jugendverbände in unserer Anhörung im September eindringlich gewarnt,
gerade die Jugendverbände aus den neuen Bundesländern. Der Vertreter des christlich-demokratischen Jugend- und Familienverbandes „Frischluft" z. B. prophezeite in diesem Zusammenhang — ich zitiere — : „Wir haben sonst die Situation, daß die wenigen Ansätze, die es im Bereich der Jugendverbände in den neuen Ländern gibt, im Laufe der Zeit wahrscheinlich eher zusammenbrechen, als daß sich weitere neue Verbände bilden werden. "
Mit Ihren projektorientierten Sonderprogrammen laufen Sie also eher Gefahr, zu demotivieren, als das zu tun, was wir so dringend brauchen, nämlich zur Mitarbeit zu motivieren.
Was auf unterer Ebene für die neuen Bundesländer gilt, gilt auch für die Verbände der freien Jugendarbeit. Weil ihnen die institutionelle Förderung vorenthalten wird, haben auch sie keine ausreichende Kapazität, sich immer wieder auf neue Projektanträge einzustellen.
Doch viel problematischer ist das AFT-Programm, was auch den Haushaltsausschuß zunächst einmal zur Sperrung von nahezu der Hälfte der Mittel veranlaßte. Über Beratung, Fortbildung und Förderung soll in einem Jahr die freie Jugendhilfe in den neuen Bundesländern aufgebaut werden, Beginn Januar 1992. Heute, 20 Tage vorher, ist den Beteiligten noch nicht einmal die Konzeption bekannt. Darum sage ich: Eine ernsthaftere Jugendpolitik hätten die Jugendlichen in unserem Land schon verdient.
Wenn es zügig vorangehen sollte, wird es frühestens im Frühjahr die geplanten örtlichen Jugendorganisationsberatungsstellen geben. Doch hier gibt es zwei strukturell angelegte Problemfelder, und zwar erstens im Bereich des Personals. Das Personal kann dann nur noch acht Monate arbeiten, weil das Programm dann schon wieder ausläuft. In dieser Zeit muß
es sich selbst noch aus- und fortbilden lassen. Das ist kein guter Ansatz.
Das zweite Problemfeld ist die Trägerschaft der Jugendorganisationsberatungsstellen. Entweder soll es ein Träger der freien Jugendhilfe sein, der sich über seinen eigenen Jugendverband hinaus für alle anderen freien Träger werbend und beratend einmischen soll, oder, wenn es diese nicht gibt, was häufig sehr wahrscheinlich ist, es sollen die Jugendämter sein. Beide Versionen verstoßen gegen Geist und Praxis der freien Jugendhilfe. Denn diese leben von unterschiedlichen Wertorientierungen. Das macht die Dynamik der freien Jugendhilfe aus und ermöglicht das vielfältige Angebot für die Jugendlichen erst. Diese zerstören Sie durch ein solches Programm.
Die geplanten Jugendorganisationsberatungsstellen laufen Gefahr, daß, wenn sie von Jugendämtern geführt werden, eine öffentliche Jugendhilfe berät und daß letztendlich die Fördermittel in die Kassen der öffentlichen Jugendhilfe zurückgehen, d. h. daß die Jugendämter ihre Programme damit sanieren. Sie laufen mit Ihrem Programm also genau anders als vorgegeben. Sie stärken nicht die freien Träger, sondern Sie stärken im Grunde eine staatlich organisierte Jugendarbeit. Das ist mehr zurück als nach vorne und insofern kein gutes Programm.
— Nicht Apokalypse, Warnung.
Die Politik der Bundesregierung schwächt also seit Jahren die freie Jugendhilfe im Westen, und sie ist auf dem besten Wege, den Aufbau derselben im Osten zu verhindern. Leidtragende dieser Entwicklung sind zuerst die Jugendlichen selbst, doch dann auch, so fürchte ich, unsere plurale Demokratie. Ich hoffe sehr, daß es nicht apokalyptisch war, sondern daß diese Debatte Anstöße für eine bessere Jugendpolitik gibt. So war mein Beitrag gemeint.
Danke schön.
— Sehr schön.