Rede von
Dr.
Angela
Merkel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den Achten Jugendbericht. Wir wissen auf Grund dieses Berichts, daß Jugendliche Anteil haben am wachsenden Wohlstand in dieser Gesellschaft, zumindest in den alten Bundesländern. Wir wissen aber auch, daß die Zunahme an Möglichkeiten und auch die zunehmene Pluralisierung in dieser Gesellschaft im Grunde dazu führen, daß sich die Individualisierung von Jugendlichen verstärkt.
Jugend — das ist eine Zeit der Neugierde und der Erwartungen. Es ist eine Zeit, in der die jungen Menschen mit Gedanken experimentieren, in der sie noch weitgehend frei und unbestimmt unterschiedliche Lebensformen ausprobieren wollen.
Jugendliche sind gradlinig und unbefangen, und manchmal sind wir von ihrer Direktheit auch überrascht. Mit dieser Direktheit sagen die Jugendlichen uns auch — so sagen es zumindest wissenschaftliche Studien — , daß sie von der Politik enttäuscht sind, ja, daß sie eigentlich von der Politik nichts halten.
80 % aller Jugendlichen meinen sogar, daß Politik sie hintergehe, oder sie fühlen sich von ihr betrogen.
Ich denke, schon allein dieser Befund ist eigentlich für uns Grund genug, uns einmal damit zu beschäftigen, was Jugendpolitik will und wie wir Jugendlichen Politik vermitteln. Deshalb finde ich es gut, daß diese Debatte heute stattfindet.
Die meisten Jugendlichen in unserem Land sehen optimistisch in die eigene Zukunft. Trotzdem gibt es die Entfremdung zwischen Jugendlichen und Politikern. Jugendliche bejahen die deutsche Einheit, aber sie mißtrauen uns, den Politikern — und das unabhängig davon, ob wir rechts oder links stehen, ob CDU oder SPD gemeint sind, ob Liberale oder GRÜNE.
51 % der Jugendlichen, also über die Hälfte, halten es eigentlich für eher unwahrscheinlich, daß die Politiker überhaupt die zukunftsbedrohenden Herausforderungen erkennen und angehen. Nur 16 % der Jugendlichen meinen, daß Politiker vernünftige Lösungen für die Fragen finden, die sie interessieren.
Da müssen wir uns doch fragen, woran das liegt. Liegt das an unserer Art der Politik oder liegt es daran, wie wir Politik vermitteln? Beziehen wir die jungen Menschen nicht vernünftig ein oder haben sie den Eindruck, daß wir ihnen nicht zuhören?
Im Westen wachsen die jungen Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft auf; ihre elementaren Bedürfnisse sind weitestgehend erfüllt. In den alten Bundesländern gibt es eines der besten Schulsysteme. Um die duale Berufsausbildung beneiden uns viele Länder auf dieser Welt und führen sie auch ein. Wir haben ein relativ reich gegliedertes Fach- und Hochschulwesen. Die Arbeitslosigkeit von jungen Menschen in den alten Bundesländern ist die niedrigste in der gesamten Europäischen Gemeinschaft.
Auch in den neuen Bundesländern haben wir wichtige Voraussetzungen geschaffen, um Jugendlichen ein vernünftiges Leben zu ermöglichen. Es ist gelungen — was viele vor einigen Monaten in diesem Hause noch bezweifelt haben —, jedem jungen Ostdeutschen einen Ausbildungsplatz in seiner Heimat zur Verfügung zu stellen. Die Lehrstellenkatastrophe — das halte ich für einen ganz wichtigen Erfolg — ist ausgeblieben.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist seit Juli über 20 % zurückgegangen. Das Schulsystem in den neuen Bundesländern ist neu gegliedert. Fachhochschulen sind im Entstehen, der Hochschulbereich wird umgestaltet und auch großzügig ausgebaut. Niemand muß aus sozialen Gründen auf Ausbildung verzichten; das ist mit dem BAföG sichergestellt.
Junge Menschen im Osten können nun genauso wie ihre Altersgenossen im Westen reisen, wohin sie wollen; sie können demonstrieren, wofür oder wogegen auch immer; sie können sagen und schreiben, was sie wollen, ohne daß ihnen jemand auf die Finger sieht. Deshalb dürfen wir bei allen Schwierigkeiten nicht verkennen, daß sich für die jungen Menschen völlig neue Möglichkeiten eröffnet haben.
5674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea Merkel
Trotzdem verspüren junge Menschen in den neuen Bundesländern einen schweren Bruch in ihrem Leben; es ist kaum noch etwas so, wie es einmal war. Sie müssen lernen, mit der neu gewonnenen Freiheit umzugehen. Das bedeutet — das erkennen sie — mehr Verantwortung; aber nach den Erfahrungen mit dem SED-Regime ist es ihnen kaum möglich, sofort Verantwortung zu übernehmen. Sie scheuen diesen Weg.
Es gibt viele Erwachsene, die nicht besonders ehrlich auf die jungen Menschen wirken, die den eigenen Umbruch in der Gesellschaft nicht verstanden haben. Die Zukunftsaussichten sind für viele unklar. Die Strukturen einer neuen Jugendfreizeitgestaltung und die Strukturen, sich im Beruf auszuleben, sind noch nicht erkennbar. Deshalb müssen wir als Politiker aktiv eingreifen; ich denke, wir haben im vergangenen Jahr versucht, den Schwierigkeiten entgegenzuwirken. Ich erinnere an den „Sommer der Begegnung" : 85 000 junge Leute aus Ost und West haben daran teilgenommen und sich getroffen.
Wir haben die Gelder, die für Jugendarbeit im Rahmen des Bundesjugendplans zur Verfügung stehen, von 132 Millionen DM im Jahr 1989 auf 253 Millionen DM im nächsten Jahr aufgestockt. Die Mehrzahl der Zuwächse geht in die neuen Bundesländer. Wir bauen damit Trägerstrukturen für Jugendarbeit auf; wir intensivieren die arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit und die außerschulische Jugendbildungsarbeit. Wir haben Möglichkeiten für ein freiwilliges soziales und ein freiwilliges ökologisches Jahr geschaffen.
Junge Ostdeutsche — das halte ich für ganz besonders wichtig — sind in den internationalen Jugendaustausch einbezogen; sie können nach Frankreich, Amerika oder Spanien fahren und an unseren Programmen teilnehmen.
Wir sehen aber täglich, daß das nicht reicht. Die Umwälzungen haben bei vielen jungen Menschen zur Resignation geführt. Dies drückt sich oft in Aggression, zum Teil auch in Gewalt aus. Deshalb haben wir 1992 mit einem Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt begonnen. Doch auch hier müssen wir uns fragen, ob das ausreicht. Es reicht natürlich nicht aus, wenn nur der Bund Maßnahmen ergreift. Jugendpolitik muß ein Anliegen der Länder, der Kommunen sein, genauso wie es ein Anliegen des Bundes ist.
Es muß ganz klar werden, daß neben dem Bau von Straßen, neben der Investition in Industriestandorte die Menschen auf dem Weg zur deutschen Einheit nicht verlorengehen dürfen. Wir haben nichts von all unseren Bemühungen, wenn wir zum Schluß resignierte Generationen haben, die diese neue Welt nicht verstehen.
Trotz all unserer Anstrengungen bleibt die Tatsache, daß wir den jungen Menschen offensichtlich nicht den Eindruck verschaffen, daß wir ihre Anliegen wirklich verstehen.
Es genügt offensichtlich nicht, daß sich Jugendpolitik in der Förderung von Verbänden und Trägern und im Aufbau einer Jugendhilfestruktur erschöpft.
Junge Menschen erwarten offenbar nicht nur mehr Angebote von uns, sondern sie erwarten von uns, von den Erwachsenen, von den Politikern, daß wir auf ihre Fragen antworten.
Junge Menschen wachsen heute mit dem Gefühl auf, daß ihre eigene Lebensumwelt gefährdet ist; in der DDR wurde diese Frage überhaupt nicht diskutiert. Auch in der alten Bundesrepublik mußte zuerst eine Protestbewegung entstehen, damit diese Frage von den Parteien ernsthaft aufgegriffen wurde. Die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland im Umweltschutz heute führend ist, ändert nichts daran, daß die Jugendlichen zunächst einmal von der Politik enttäuscht waren.
Junge Menschen können heute auch nicht verstehen, daß es die führenden Industrienationen dieser Welt immer noch nicht erreicht haben, die von der UNO festgeschriebene Höhe des Anteils am Bruttosozialprodukt für die Entwicklungshilfe aufzubringen.
Junge Menschen verstehen auch nicht, daß Krieg zwischen Kroatien und Serbien stattfindet, daß Menschen in einem Land sterben müssen, in dem sie im vorigen Jahr Urlaub gemacht haben, und daß die Politiker so wenig oder fast gar nichts ändern können.
Junge Menschen fragen uns natürlich auch zu Recht, wie wir denn eigentlich mit den Schwachen in dieser Gesellschaft umgehen. Ich glaube, das ist wirklich eine berechtigte Frage, wenn wir sehen, daß Unternehmen und Behörden heute immer noch lieber eine Ausgleichsabgabe bezahlen, anstatt Behinderte einzustellen. Ich denke, diesen Fragen müssen wir uns stellen. Ich bin auch der Meinung, daß sich ein Unternehmer, der die Soziale Marktwirtschaft vertreten will, vor diesen Fragen nicht drücken kann.
Junge Menschen kritisieren verständlicherweise, wenn unsere Antwort auf ihren Wunsch, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, an vielen Stellen ungenügend ausfällt. Wer von uns kennt nicht die Schwierigkeiten, wenn wir in den Versammlungen erklären müssen, daß junge Leute eben nicht dort eine Wohnung finden, wo sie sie auf Grund ihrer Ausbildung brauchen?
Dies sind alles Probleme, mit denen wir uns in unserem politischen Leben täglich auseinandersetzen. Ich glaube, junge Menschen erwarten von uns gar nicht, daß wir immer eine vollständige Antwort geben können, sondern sie erwarten, daß wir ihre Fragen ernst nehmen.
Das bringt uns zu der Frage der Glaubwürdigkeit von Erwachsenen überhaupt, aber insbesondere zu der Frage der Glaubwürdigkeit von Politik; denn junge Leute sind ehrliche und sensible Beobachter. Sie spüren sehr schnell und deutlich, ob man ihre Befürchtungen und Sorgen ernst nimmt oder ob man sich nur vordergründig damit befaßt. Sie suchen nach ihrem eigenen Lebensentwurf. Sie haben es dabei schwer, sich in einer oft sehr unübersichtlichen Welt zurechtzufinden.
Junge Leute wollen sich heute eigentlich nicht mehr von Erwachsenen den Lebensraum zuweisen lassen,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991 5675
Bundesministerin Dr. Angela Dorothea Merkel
den Erwachsene ihnen gerne geben wollen. Sie wachsen oft in viel globaleren Zusammenhängen auf. Sie sind durch die Medien Teil einer globalen Welt, und sie haben keine Lust, von anderen bestimmen zu lassen, in welchen Lebensräumen sie sich denn noch bewegen dürfen.
Sie haben auch keine Lust, in Städten aufzuwachsen, von denen sie den Eindruck haben, daß nur noch mit Hilfe von Sozialarbeitern überhaupt Leben von Jugendlichen möglich ist. Vielmehr möchten sie selbst entscheiden. Sie wollen selbst gestalten. Sie lehnen ständige Gängelei und Bevormundung ab.
Wenn sie diesen Eindruck haben, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß sie sich flüchten in eine vermeintlich heile Welt, daß sie sich flüchten in Drogen, in Alkohol und in Sekten. Ich denke, es muß uns alle bewegen, daß in jedem Jahr 2 000 junge Menschen in unserem Land den Drogentod sterben, daß gerade Sekten in den neuen Bundesländern einen großen Zulauf haben und daß rechtsextremistische Gruppen zunehmenden Einfluß auf junge Menschen gewinnen.
Wir als Politiker müssen uns schützend vor bedrohte Menschen stellen, vor Ausländer, vor Schwache, vor Behinderte. Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß Gewalttäter zur Verantwortung gezogen werden.
Dafür sind wir verantwortlich. Gewalt, meine Damen und Herren, darf nicht zur Normalität werden. Gewalt kommt heute oft in den Familien vor, sie kommt in den Medien vor. Sie kommt in dem Leben der Kinder und Jugendlichen, in den Schulen und in der Ausbildung vor. Wenn wir uns nicht energisch gegen diese Gewalttätigkeit stellen, dann werden wir dem Weg von Gewalt leider Vorschub leisten.
Wir wissen alle: Freie Träger leisten hervorragende Arbeit. Dennoch müssen wir uns immer wieder fragen, ob die eingefahrenen Wege der Jugendpolitik ausreichen, ob es nicht viel sinnvoller ist, darauf zu reagieren, daß sich junge Leute in kurzfristigen Projekten engagieren wollen, ob es nicht sinnvoller ist, ihnen mehr Hilfe zur Selbsthilfe zu geben statt zu versuchen, Probleme für Jugendliche über Verbände und Funktionäre zu lösen.
So, wie sich die Jugendarbeit für neue Formen öffnen muß, so muß es natürlich in unserer gesamten Demokratie neue Formen geben; denn Jugendliche spüren genau die Kluft zwischen der formalen und der gelebten Demokratie. Das heißt auch, daß der Deutsche Bundestag junge Menschen eben nicht nur anhört, wenn es um ihren eigenen Bericht, um den Jugendbericht geht, sondern daß er ihre Fragen und Anliegen auch ernst nimmt, wenn es um Fragen des Umweltschutzes, der Verteidigung, der Arbeitsmarktpolitik und der Bildungspolitik geht.
Es geht auch darum, daß wir jungen Menschen frühzeitig Verantwortung geben, daß wir sie in Ämter und Funktionen hineinlassen. Junge Menschen müssen Verantwortung übernehmen, und die Demokratie darf sich nicht von ihnen abschotten.
Junge Menschen müssen frühzeitig an den Entscheidungen und Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Denn junge Menschen sind mobil. Wir alle wissen — vielleicht in diesen Tagen nach dem Gipfel in Maastricht am allermeisten — , daß wir vor großen Herausforderungen stehen. Die deutsche Einheit ist eine dieser großen Herausforderungen. Aber sie ist bei weitem nicht die letzte.
Die europäische Einheit wird die nächste große Herausforderung sein, ebenso die Integration der osteuropäischen Staaten. Wir werden uns auf Umverteilungen und auf neue Akzente in unserem politischen Leben einstellen müssen. Es wird wichtig sein, daß eine Generation nachwächst, die bereit ist, mobil auf diese Herausforderungen zu reagieren und ebenfalls Anstrengungen auf sich zu nehmen.
Wenn wir heute eine Kluft zwischen Politik und der Einschätzung der Jugendlichen von Politikern beklagen, so müssen wir daran arbeiten, daß diese Kluft geringer wird. Ansonsten mache ich mir große Sorgen, daß wir diesen Herausforderungen nicht gerecht werden können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.