Rede von
Erika
Simm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Achte Jugendbericht, der der eigentliche Anlaß für die heutige jugendpolitische Debatte ist, stellt eine umfassende Analyse und Bewertung der Situation von Kindern und der Jugendhilfe dar, allerdings nur für die alten Bundesländer; denn die Bestandsaufnahme endet mit dem Jahre 1988.
Daß sich der Bundestag erst heute damit befassen kann — ich meine, da der Achte Jugendbericht Anlaß für die Debatte ist, sollte man darauf noch einmal Bezug nehmen — , ist ausgesprochen ärgerlich, enthält der Bericht doch viele wichtige Fakten und Aussagen, die längst Berücksichtigung hätten finden müssen, so insbesondere im Rahmen der Beratungen zum neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz und der Beratungen zur Änderung des Jugendstrafrechts.
Was ich damit meine, möchte ich an zwei Beispielen deutlich machen: Der Achte Jugendbericht enthält u. a. wichtige Aussagen zu der Veränderung der Familienstrukturen in der alten Bundesrepublik. Danach wachsen immer mehr Kinder in sogenannten Ein-Eltern-Familien auf, die Mehrzahl als Einzelkinder. Alleinerziehende Eltern, überwiegend Mütter, sind berufstätig, müssen es meistens auch sein, wenn sie nicht der Sozialhilfe anheimfallen wollen.
Zunehmend bauen Frauen aber auch ganz allgemein ihre Lebensplanung auf dem Wunsch auf, Beruf und Familie zu integrieren. Hieraus erwächst ein zunehmender Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen, denen jedoch auf Grund der veränderten Lebenssituation. der Kinder auch eigene pädagogische Bedeutung beizumessen ist. Dem entspricht — so der Bericht — das vorhandene Angebot an Einrichtungen,
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Erika Simm
das zudem regional sehr unterschiedlich ist, weder quantitativ noch qualitativ.
Ich meine, diese Aussagen hätten sich im neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz niederschlagen müssen. Bereits dort hätte, wie das die SPD auch gefordert hatte, der Anspruch eines jeden Kindes auf einen Kindergartenplatz festgeschrieben werden müssen.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Neuregelung des § 218 sieht zwar nun bei den sozialen Begleitmaßnahmen auch den Anspruch auf einen Kindergartenplatz vor, allerdings erst ab 1997 und ohne daß die Regierung bereit wäre, Kosten zu übernehmen.
Dies begründet für mich auch jetzt noch erhebliche Zweifel daran, daß es die Regierungsparteien mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wirklich ernst meinen. Von einem Recht aber, das nicht verwirklicht werden kann, weil Länder und Kommunen finanziell nicht in der Lage sind, die Kosten der Einrichtungen zu tragen, werden weder unsere Kinder noch unsere Mütter etwas haben.
Das zweite Beispiel: die Änderung des Jugendstrafrechts. Der Achte Jugendbericht setzt sich eingehend damit auseinander, wie die Gerichte mit Jugendlichen verfahren, die straffällig wurden. Er verweist darauf, daß es in der Praxis der Jugendgerichte von Landgerichtsbezirk zu Landgerichtsbezirk — so wörtlich — extreme regionale Unterschiede gebe.
Belegt wird das an einer ganzen Reihe von Beispielen. So beträgt die Chance eines zum wiederholten Male wegen Diebstahls auffällig gewordenen Jugendlichen, in Untersuchungshaft genommen zu werden, im Landgerichtsbezirk Hildesheim 0,6 % , in einem vergleichbaren Landgerichtsbezirk in Bayern dagegen 36,3 %; das ist das Einundsechzigfache. Ähnliche Unterschiede gibt es bei der Verhängung von Jugendarrest und Jugendstrafe im Zusammenhang mit der Frage, ob und vor welchem Gericht Anklage erhoben wird und ob z. B. ein 19jähriger noch nach Jugendstrafrecht abgeurteilt wird.
Auch diese Feststellungen hätten meines Erachtens ebenso in die Beratungen zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes voriges Jahr einbezogen werden müssen wie das Votum der Sachverständigenkommission, daß für unter 16jährige Untersuchungshaft nicht mehr verhängt werden soll. Die SPD hatte dies beantragt; sie ist mit diesem Antrag nicht durchgedrungen. Möglicherweise wäre dies anders gewesen, wenn bereits damals der Achte Jugendbericht und die Feststellungen darin berücksichtigt worden wären.
Wie wenig ernst die Bundesregierung die im Achten Jugendbericht getroffenen Feststellungen und Bewertungen nimmt, läßt sich unschwer ihrer Stellungnahme dazu entnehmen. Sie greift Einzelaspekte und Einzeldaten heraus und benutzt sie ausschließlich zur Bestätigung ihrer eigenen Jugendpolitik, dies zum
Teil, indem sie die Aussagen ins Gegenteil verkehrt.
Auch hierzu ein Beispiel: Die im Bericht als besorgniserregend angeführte hohe Zahl von Sozialhilfeempfängern unter den Kindern unter 15 Jahren — es handelt sich um 8 % — und die Tatsache, daß 29 % der geschiedenen Mütter mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1 200 DM auskommen müssen, kommentiert die Bundesregierung ungerührt wie folgt:
Die materielle Lebensgrundlage der meisten Jugendlichen ist gut, die ihnen zur Verfügung stehenden Geldmittel sind so hoch wie nie zuvor, und ihre Ausstattung mit Konsumgütern ist komfortabel.
Ähnlich reagiert sie auf die Aussagen des Jugendberichts zum Problem Jugendarbeitslosigkeit. Dort wird festgestellt, daß es — das war 1988 — für bestimmte Gruppen von Jugendlichen — junge Ausländer, Aus- und Übersiedler, sozial- und bildungsmäßig benachteiligte Jugendliche — , insbesondere aber auch für Mädchen noch immer Probleme auf dem Arbeitsmarkt gibt. Dazu die Bundesregierung: Jugendpolitisch bedeutsam sei, daß der Mangel an Ausbildungsplätzen überwunden sei. Allenfalls in einigen Berufen sei er noch ein Thema. Die von Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor betroffenen Problemgruppen würden Unterstützung und Hilfe zur Verbesserung ihrer Chancen erhalten.
Zu dieser Problemgruppe zählen dann wohl auch die Mädchen, bezüglich derer die Bundesregierung an anderer Stelle immerhin einräumt, daß es geschlechtsspezifische Benachteiligungen gebe und daß die Benachteiligungen noch nicht im notwendigen Umfang hätten abgebaut werden können. Nur, ich frage mich: Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dieser Erkenntnis? Was beabsichtigt die Bundesministerin für Frauen und Jugend zu tun, um die Chancengleichheit für Mädchen beim Zugang in eine qualifizierte Ausbildung herzustellen?
Auch in den neuen Bundesländern sind Frauen und Mädchen überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen.
Dessen ungeachtet lehnt Frau Merkel Quotenregelungen zugunsten von Mädchen nachdrücklich ab, wie z. B. auch in Verbindung mit den zusätzlichen 10 000 Ausbildungsplätzen in der Bundesverwaltung. Sie verspricht lediglich, daß die Mädchen ihren gerechten Anteil an diesen Ausbildungsplätzen erhalten würden. Mit solchen Versprechungen weckt man bestenfalls Hoffnungen, die mangels verbindlicher Regelungen nicht eingelöst werden können.
Die bemerkenswert mangelnde Sensibilität in bezug auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit wird auch an der Äußerung unseres Bundesbildungsmi-
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nisters in Verbindung mit der Ausbildungsplatzsituation in den neuen Ländern deutlich, hinsichtlich derer er von einem „Bombenerfolg" gesprochen hat. Daß rund 45 000 Jugendliche, die zunächst noch unter den Ausbildungsplatzbewerbern waren, dann in der Statistik nicht mehr erscheinen, ist für ihn offensichtlich nicht bemerkbar gewesen.
Ich denke, wir müssen uns um diese Jugendlichen kümmern;
denn sonst steht zu befürchten, daß sich die Zahl von schon jetzt 1,7 Millionen jungen Menschen ohne Ausbildung, die uns auf Grund der Jugendarbeitslosigkeit in den 80er Jahren geblieben sind, erhöhen wird.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat Anträge zur Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebotes in den neuen Ländern gestellt.
Wir fordern die Regierungsparteien auf, sich nicht mit einer scheinbar ausgeglichenen Ausbildungsplatzstatistik zu beruhigen,
sondern in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen gemeinsam mit uns zu beschließen.
Der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend wird die SPD-Fraktion zustimmen.
Ich danke Ihnen.