Rede von
Kersten
Wetzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das nehme ich gern zur Kenntnis. Aber Sie wissen sicher so gut wie ich, wie schwer es Jugendliche hatten, die sich diesem System nicht angepaßt haben, einen Studienplatz ihrer Wahl zu bekommen. Ich denke gerade an solche Fachrichtungen wie Medizin und Jura.
Das war doch nur für die exzellente junge Garde vorgesehen. Das müßten Sie genausogut wissen wie ich.
Zweifellos, meine Damen und Herren, konnten 40 Jahre kommunistischer Diktatur und Demagogie an den jungen Leuten in der ehemaligen DDR nicht spurlos vorübergehen. Sicher haben sich von der großen Mehrheit der FDJ-Mitglieder — immerhin waren mit 95 bis 98 % nahezu alle Schüler und Lehrlinge organisiert — nur wenige bewußt als Kampfreserve der kommunistischen Partei betrachtet. Doch die Jugend als Zukunftsträger eines jeden Staates ist in der DDR mit einer ausgeklügelten Strategie und Taktik verführt und auch mißbraucht worden.
Nicht ohne Grund war die Jugend- und Bildungspolitik in der DDR eine der wichtigsten Machtsäulen der SED-Diktatur und deshalb fest in ihrer Kontrolle. Das galt übrigens auch für die Medien in der DDR, zu denen ich auch „DT 64" zählen muß.
Sicher hat sich auch in der Medienlandschaft einiges geändert. Positionen sind ausgewechselt worden. Frühere Chefredakteure von Bezirkszeitungen und Zentralorganen sind heute keine Chefredakteure mehr, sondern stellvertretende Chefredakteure und
Redakteure. Dafür sind die früheren stellvertretenden Chefredakteure jetzt die Chefredakteure.
Man muß sich die Situation im damaligen Bildungswesen vergegenwärtigen. Es gab fast keinen einzigen Direktor einer Schule und keinen Kreisschulrat, die nicht Mitglieder der SED waren. Selbst Leiter staatlicher Kindergärten mußten SED-Mitglieder sein; denn alles, was bildungsfähig war, mußte unter der Kontrolle der SED stehen.
Deshalb gab es nur ganz vereinzelt kirchliche Kindergärten, und die nur als Aushängeschilder ,,sozialistischer Demokratie".
— Es tut mir leid, lieber Kollege; ich kenne kein Mitglied einer ehemaligen Blockpartei, der Schulleiter oder Kindergartenleiter war. Wenn Sie mir da behilflich sein könnten, wäre ich Ihnen dankbar, weil das zur Vergangenheitsbewältigung für unsere Partei wichtig ist. Das gilt übrigens auch für Ihre Partei. Ich erinnere an das Jahr 1946.
Immer wieder stellen wir fest, daß sich viele Jugendliche der neuen Bundesländer nur schwer in dem völlig anderen System unseres Rechtsstaats Bundesrepublik wiederfinden. Die Bevormundung durch den Sozialismus ist wie ein Kartenhaus zerfallen, und die sich plötzlich auftuende Freiheit wird oft als Leere empfunden.
Die Jugendlichen der DDR, die gelernt hatten, mit zwei Gesichtern zu leben, und die ihre kleinen, bescheidenen Freiräume in den wenigen Nischen der totalitären Gesellschaft gesucht hatten, beispielsweise in der Evangelischen Kirche und der kirchlichen Jugendarbeit
— ja; aus der auch ich stamme — , suchen jetzt ihre Identität; sie wollen sich profilieren. Das ist natürlich.
Doch in den neuen Bundesländern müssen wir erst mühsam die breite Jugendarbeit aufbauen. Es fehlt uns ein abgestimmtes Netzwerk von Jugend- und Jugendsozialarbeit, wie es sich in vier Jahrzehnten Bundesrepublik in einem freiheitlich-rechtsstaatlichen System entwickeln konnte, sich bewährt hat und weiterentwickelt hat. So etwas gab es in dieser Form und auf die wirklichen Bedürfnisse von Jugendlichen ausgerichtet in der DDR nicht. Jugendarbeit dient dort
5700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Kersten Wetzel
ganz einfach der Gleichschaltung von Machtinteressen der SED; sie war Propaganda und sonst nichts.
Viel haben vor allem der Bund, aber auch die neuen Bundesländer beim Aufbau einer wirklich neuen Jugendverbands-, Jugendhilfe- und Jugendsozialarbeit schon geleistet. An dieser Stelle möchte ich als Jugendlicher aus den neuen Bundesländern unserer Bundesministerin für Frauen und Jugend danken,
die engagiert auch die Interessen der Jugendlichen in den neuen Bundesländern vertritt.
Konkrete Hilfe vor Ort
für sozial Schwache und für Arbeitslose ohne Polemik und ohne Debatte ist jetzt besonders gefragt. Gerade sie brauchen jetzt unsere Unterstützung. Es gibt bereits viele gute Projekte, die unbürokratisch schneller verarbeitet werden sollten. Hierzu appelliere ich besonders an die freien Träger aus den alten Bundesländern.
Unsere Projekte müssen konkret auf die Situation der Jugendlichen im Osten zugeschnitten sein, damit sie angenommen werden und nicht verpuffen.
Ich selber konnte diese Erfahrung bei der Begleitung eines Modellprojekts in meinem Wahlkreis machen. Vor etwa einem Jahr standen wir mit einer Handvoll arbeitsloser und schwer vermittelbarer Jugendlicher da, die im DDR-Wirtschaftssystem oft nur als Hilfsarbeiter mitgeschleift und dann von den alten Seilschaften in den Betrieben als erste entlassen wurden. Es ging um eine der größten Schweinereien der SED-Regierung.
Damit meine ich den Stall, in dem 190 000 Schweine standen, nämlich die große Schweineanlage in Neustadt/Orla in Thüringen, wo nicht nur vierbeinige Schweine dick und fett wurden, sondern auch riesige Waldflächen durch Gülle und Ammoniak vernichtet wurden. Mit rund 30 Jugendlichen haben wir dort vor etwa einem Jahr begonnen, die Umwelt zu sanieren und damit diesen jungen Leuten eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Heute sind dort 150 Jugendliche beschäftigt.
Gleichzeitig kümmert sich ein christlicher Träger um die Persönlichkeitsentwicklung und Weiterbildung.
Jugendliche, die früher nur Kisten schleppen durften, lernen heute, am Computer zu arbeiten. Durch dankenswerte Unterstützung der Bundesregierung, besonders des Ministers Dr. Blüm, ist es uns bis heute gelungen, weitere 30 solcher ABM-Projekte mit mehreren tausend Jugendlichen in den neuen Bundesländern aufzubauen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist konkrete Politik für die Menschen, für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern, das ist Regierungspolitik.
Aber mit materieller und finanzieller Hilfe allein läßt sich eine alte kommunistisch-totalitäre Jugendarbeit nicht durch eine neue, freie, demokratische und rechtsstaatliche ersetzen. Wichtig ist vielmehr auch, die alten SED-Demagogen und ihre Helfershelfer durch wirkliche Demokraten und Pädagogen zu ersetzen.
Dabei geht es mir nicht um die kleinen Mitläufer, die selbst keine persönliche Schuld auf sich geladen haben, oder um die paar wenigen, die ehrlich daran geglaubt haben. Vielmehr sollte es uns allen — und da bitte ich alle demokratischen Parteien, die in diesem Hause sitzen — darum gehen, die wirklich Verantwortlichen zu verurteilen,
diejenigen, die das SED-Unrechtssystem zu verantworten haben und die wirklich Schuldigen an dieser Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern sind, nämlich die alten SED- und FDJ-Funktionäre,
die heute behaupten, daß sie schon immer dagegen waren, daß sie dafür waren, die heute noch in den Verwaltungen, Jugendeinrichtungen und Jugendämtern, ja, selbst in Abteilungen und Außenstellen von Ministerien sitzen.
Sicherlich sind die meisten von den alten Funktionären — da werden Sie mir auch recht geben — heute parteilos. Spätestens seit dem 19. März 1990 haben sie erkannt, daß sie nicht mehr Mitglied der SED sein können.