Rede von
Dr.
Norbert
Wieczorek
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Vielen Dank für die Blumen, Frau Präsidentin.
Meine Damen und Herren, die SPD-Bundestagsfraktion hat im Oktober dieses Jahres eine Große Anfrage zum Stand der GATT-Verhandlungen in den Bundestag eingebracht, weil wir Besorgnis über die Art und Weise haben, wie die GATT-Gespräche gelaufen sind, und weil wir die Bundesregierung dringend auffordern wollen, zu einem Erfolg bei den GATT-Verhandlungen zu kommen.
Ursprünglich hätten die Verhandlungen ja schon im vorigen Dezember abgeschlossen sein sollen, aber die völlig unrealistische Verhandlungsposition der EG im Agrarbereich hat das verhindert. Die Bundesregierung hat daran Mitschuld getragen durch eine Fehleinschätzung der tatsächlichen Situation in diesem Sektor.
Wir sind inzwischen über ein Jahr hinter dem Zeitplan zurück. Das bedeutet, daß ein weiteres Jahr lang volkswirtschaftliche Kosten durch fehlende weitere Liberalisierung entstanden sind. Vor allem hat es keine Neubelebung des Welthandels gegeben, obwohl diese dringend notwendig wäre. Wir haben einen Rückgang.
Darüber hinaus geht ein Teil der trotz des Stillhalteabkommens weltweit getroffenen protektionistischen Maßnahmen auf das Konto der nicht abgeschlossenen GATT-Verhandlungen. Nach Berechnungen der OECD betrugen die Kosten für handelsverzerrende Subventionen und Transferzahlungen allein im Jahr 1990 die staatliche Summe von 298 Milliarden US-Dollar.
Für uns steht fest, daß die Bundesregierung wesentlich mitverantwortlich dafür war, daß die EG im letzten Jahr eine überzogene und unrealistische Verhandlungsposition gegenüber den USA und der Cairns-Gruppe eingenommen hat. Sie hat damit der exportabhängigen deutschen Wirtschaft geschadet.
Wenn die Verhandlungen in Genf jetzt abgeschlossen werden, ist dennoch danach zu fragen, was als ein Erfolg dieser Verhandlungen bezeichnet werden kann. Die Bundesregierung ist offensichtlich weniger ehrgeizig als wir in der SPD-Fraktion. Das läßt jedenfalls die Antwort auf unsere Anfrage erkennen.
Für die SPD sind folgende Kriterien die Meßlatte für erfolgreiche GATT-Verhandlungen. Erstens. Die Agrarsubventionen in Europa müssen mindestens so weit abgebaut werden, wie es auf dem sogenannten transatlantischen Gipfel am 9. November 1991 vorgeschlagen wurde. Die Bundesregierung ist mit ihren agarpolitischen Leitlinien für eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik deutlich hinter diesem Vorschlag zurückgeblieben. Wir halten das Angebot für unzureichend. Es führt eben nicht — ich betone das — zu einer grundlegenden Beseitigung der strukturellen Überschüsse auf dem europäischen Agrarmarkt. Dem deutschen Steuerzahler werden damit Jahr für Jahr weit überhöhte Zahlungen für die Landwirtschaft und dem Verbraucher zu hohe Preise zugemutet.
Zweitens. Das vereinte Deutschland hat ein besonderes Interesse an wirklichen Liberalisierungsfortschritten. Wenn wir den Aufbauprozeß in Ostdeutschland schaffen wollen, brauchen wir offene Märkte. Für einen schnellen Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist die Stärkung unserer Exportindustrie im Westen und im Osten notwendig. Daß wir im Moment auch im Westen Schwierigkeiten haben, wissen wir.
In den neuen Ländern werden neue Arbeitsplätze und ein Abbau der Arbeitslosigkeit ohne verstärkte Exporte nicht erreichbar sein. Je mehr Liberalisierung in Genf erreicht wird, desto günstiger werden die Auswirkungen für die neuen Bundesländer sein.
Drittens. Von einem Erfolg in Genf kann nur gesprochen werden, wenn die unterschiedlichen Formen des Protektionismus wirklich eingedämmt werden. Das darf sich nicht in verbalen Beteuerungen erschöpfen, sondern muß sich in konkreten Schritten ausdrücken. Das GATT-Sekretariat gibt selber mehr als 800 unterschiedliche Handelsbeschränkungen an. Die Zeche zahlen am Ende meistens die Verbraucher. Wenn es in Genf nicht gelingt, zu meßbaren Fortschritten zu kommen, wie es etwa durch die volle Tarifierung von Importbarrieren und bilateralen Abkommen jedweder Art geplant ist, könnte man ein solches Ergebnis wohl schwerlich als Erfolg bezeichnen. Ich hoffe, wir sind da einer Meinung.
Es ist übrigens auch kein zufälliges Zusammentreffen, wenn gerade jetzt in den USA ungeachtet der laufenden GATT-Runde wieder Importquoten zum Schutz der heimischen Wirtschaft gefordert werden. Es ist sogar zu befürchten, daß der berüchtigte Art. 301 des amerikanischen Handelsgesetzes wieder in Kraft gesetzt wird. Das zeigt sich an Forderungen in den USA, japanische Autos und Elektronikprodukte mit Steuern zu belegen, solange Japan seinen Markt nicht geöffnet hat.
Ich glaube, daß eine solche Renaissance des Festungsdenkens gefährlich ist; aber wir sind als Europäer nicht ganz unschuldig daran. Das Gerede von der „Festung Europa" ist sicherlich unsinnig. Auch die kleinen Fehltritte — Agrarpolitik ist kein kleiner Fehltritt, aber wir haben in anderen Punkten dieses gemacht; ich darf an gewisse Ereignisse in Frankreich mit dem berühmten Zollamt in Poitiers erinnern — sind gerade für unsere amerikanischen Kollegen im amerikanischen Kongreß immer wieder der Anlaß, ihre eigenen protektionistischen Sünden zu rechtfertigen.
Es besteht außerdem die Gefahr, daß der Geschmack daran wächst, zu abgeschotteten Handelszonen zu kommen. Die nordamerikanische Freihandelszone ist nicht frei von diesem Gedanken. Das, was sich im Bereich des asiatisch-pazifischen Raumes, in der
5754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Dezember 1991
Dr. Norbert Wieczorek
APEC vollzieht, sollte uns sehr zu denken geben und uns dazu bringen, einen Erfolg in Genf herbeizuführen.
Viertens. Ein weiteres wichtiges Kriterium, ob die Verhandlungsergebnisse in Genf erfolgreich sind, ist die Frage, wie denn die Integration Ost- und Mitteleuropas und der Sowjetrepubliken in das Welthandelssystem gelingt. Schaffen wir es nicht, hier Liberalisierungsfortschritte und Zugeständnisse auch in den sensiblen Bereichen Agrar, Textil, Stahl und Kohle zu machen, dann wird es sehr schwierig sein, auf diese geänderte Lage zu reagieren. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir die Konsequenzen zu tragen haben, nämlich höhere direkte Hilfsleistungen, politische Instabilität und verstärkter Wanderungsdruck.
Fünftens. Die Entwicklungsländer erwarten, glaube ich, zu Recht, daß sie eine gewisse Bevorzugung im Rahmen des GATT bekommen. Sie brauchen das, bis sie ein Entwicklungsniveau erreicht haben, das sie halbwegs zu gleichwertigen Partnern macht. Aber wenn man jetzt in Genf noch darüber streitet, welche Höhe des Bruttosozialproduktes dafür entscheidend ist, ob man als Entwicklungsland gilt, ist das eigentlich ein sehr bedauerlicher Stand der Verhandlungen.
Noch schlimmer ist, daß die Industrieländer offenbar unwillig sind, durch Öffnung der Märkte, diesen Ländern wirkungsvolle Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Wenn sich die Entwicklungsländer jemals von dieser starken Abhängigkeit auch nur tendenziell befreien sollen, dann brauchen sie offene Märkte für ihre Produkte. Da müssen wir eingreifen. Wenn ich in der Antwort der Bundesregierung lese, daß die Einkommenseinbußen der Entwicklungsländer durch den Protektionismus der Industrieländer in den Bereichen Agrar- und Industriepolitik doppelt so hoch sind wie die jährlichen Zinsbelastungen der Entwicklungsländer auf ihre öffentlichen Auslandsschulden und die zweifache Summe von dem betragen, was sie jährlich an Entwicklungshilfe erhalten, dann frage ich mich: Ist das ein Zustand, den wir länger hinnehmen können? Aber ich frage auch die Bundesregierung, was sie denn gedenkt, dagegen zu tun.
Sechstens. Es muß beim Schutz von Patenten und Urheberrechten zu Verhandlungsergebnissen kommen. Die weltweite Produktpiraterie muß endlich eingedämmt werden. Das führt ja zu protektionistischen Forderungen. Ich denke nicht nur an die asiatischen Schwellenländer, sondern — das ist bedauerlicherweise so — auch an einige osteuropäische Länder, die sich hier — ich sage es einmal vorsichtig — nicht gerade so verhalten, wie man das erwarten könnte. Aber es muß auch erreicht werden, daß die Entwicklungsländer dem zustimmen können. Das heißt Konzessionen bei Agrar und Textil, und es heißt vor allen Dingen, daß die Regeln so gestaltet werden, daß die Entwicklungsländer nicht vom technischen Fortschritt abgeschottet werden.
Was den Abschluß der Uruguay-Runde angeht, habe ich persönlich den Eindruck, daß es klappen könnte, obwohl die Rücktrittsmeldungen von Herrn Dunkel und Herrn Carlisle dies nicht gerade nahelegen. Aber man muß doch schon schauen, ob das Ergebnis nicht mager wird.
Die widersprüchliche Haltung der Bundesregierung auf dem Agrarsektor — ich habe es angesprochen — ist da wenig hilfreich, insbesondere der etwas merkwürdige Streit zwischen dem Wirtschaftsminister, der in diesem Fall unsere Unterstützung hat, und dem Landwirtschaftsminister. Wenn ich in der Pressemitteilung von Herrn Kiechle vom 28. November lese:
Wenn Bundeswirtschaftsminister Möllemann sich zur europäischen Agrarpolitik äußert, handelt es sich bestenfalls um die Auffassungen seiner Partei oder auch nur um seine private Meinung.
dann werde ich doch sehr nachdenklich, was hier denn eigentlich gilt. Ich denke, hier ist der Kanzler gefordert.
Mit Aussitzen ist es in diesem sensiblen Punkt nicht getan, denn die Agrarsubventionen nützen weder den Arbeitnehmern in der Exportwirtschaft, in der Industrie, noch den Verbrauchern, noch den Bauern selber; die nämlich wollen endlich eine klare Zukunftsperspektive haben und wollen nicht weiter etwas vorgemacht bekommen, von dem sie selbst wissen, daß es auf Dauer so nicht weitergeht. Da gibt es auch keinen Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft. Wir wissen doch, daß ein großer Teil der Agrarsubventionen gar nicht bei den bäuerlichen Familienbetrieben landet, von denen wir immer reden, denn 80 % der aufgewandten Finanzmittel entfallen auf nur 20 % der besonders kapitalstarken Betriebe in diesem Bereich.
Daß die Verbraucher viel zu viel für die Nahrungsmittel bezahlen, ist inzwischen auch bekannt. Da werden Zahlen von 19 bis 52 % über dem Niveau genannt, das ohne den Agrarprotektionismus gegeben wäre.
— Ich kann Ihnen nur berichten, was uns die OECD vorrechnet. Sie können sich gerne mit denen auseinandersetzen und brauchen dies nicht mit mir zu tun. Ich nehme nämlich die Zahlen von denen, die das ordentlich rechnen. Das ist dann vielleicht auch für den Agraraussschuß hilfreich.
Hinzugefügt werden muß, daß diese Verwendung der Mittel zunehmend natürlich auch die EG in ihren Maßnahmen behindert. Alles, was wir wollen — Angleichung der Lebensverhältnisse in der EG — , wird dadurch nicht gefördert.
Deswegen komme ich jetzt auf die Kernforderungen, die in unserem Antrag enthalten sind, von dem ich hoffe, daß er Ihre Zustimmung findet:
Da ist erstens die Forderung, daß die strukturellen Überschüsse abgebaut werden — über sie habe ich schon geredet — , daß in den Bereichen Stützung, Außenschutz und Exportsubventionen die Marge von 30 bis 35 % Abbau erreicht wird, daß freilich aber auch insbesondere die landwirtschaftlichen Familienbe-
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triebe ihre Einkommensausfälle entsprechend erstattet bekommen, denn wir wollen ja, daß genau die ihre Tätigkeit fortführen können.
Zweitens. Die Industrieländer USA, Japan und Europa müssen ihre Märkte für Exporte aus den Ländern Ost- und Mitteleuropas öffnen; sonst können wir den politischen und den wirtschaftlichen Reformprozeß nur mit Worten, aber nicht faktisch unterstützen. Deshalb müssen wir uns öffnen, auch wenn uns das in manchen Bereichen schwerfällt.
Drittens müssen bei den GATT-Verhandlungen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß die Entwicklungsländer einen gerechteren Anteil am Welthandel bekommen. Das gilt insbesondere auch für den nichttarifären Bereich, nicht nur bei der Reduktion von Zöllen.
Viertens müssen im weltweiten Handelsverkehr endlich auch soziale Mindeststandards verankert werden; sonst ist es wiederum unserer Arbeitsbevölkerung kaum beizubringen, daß sie dann sozusagen unter einem Sozialdumping zu leiden hat. Aber das kann nur gemacht werden, wenn auf der anderen Seite den Entwicklungsländern eine entsprechende Perspektive geboten wird.
Fünftens muß dem komplexen Zusammenhang zwischen Umwelt und Handel Rechnung getragen werden. Da gibt es zwei Seiten. Das eine ist das, was wir heute als „grünen Protektionismus" bezeichnen: daß eben Umweltbestimmungen genutzt werden, um nichttarifäre Handelshemmnisse aufzubauen. Andererseits ist aber auch klar, daß Umweltsünden nicht zu Exportvorteilen führen dürfen. Hier muß ein entsprechendes Regelwerk geschaffen werden. Wenn das jetzt nicht mehr ganz gelingt, ist das die Aufgabe für die nächste Runde, die nach dem Abschluß dieser Runde hoffentlich folgt.
Ferner muß sich Europa auch noch dazu verpflichten, seine eigenen protektionistischen Hürden abzubauen. Das Abkommen mit Japan über die Automobilimporte war nicht gerade eine Glanzleistung für den liberalen Welthandel, und die Forderungen, die da insbesondere von unserem westlichen Nachbarn gekommen sind, haben wenig geholfen.
Der letzte Punkt ist: Das GATT muß endlich eine Institution mit Zähnen werden. Die Unverbindlichkeit bisheriger GATT-Prozesse hilft uns nicht. Die Triade Weltbank, Währungsfonds und GATT muß endlich so ausgestaltet werden, wie das in Bretton Woods nach dem Krieg einmal geplant war.
Ich danke Ihnen.