Protokoll:
18149

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 149

  • date_rangeDatum: 14. Januar 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:41 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/149 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 149. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Bundesmi- nisters Dr. Frank-Walter Steinmeier sowie der Abgeordneten Jutta Krellmann, Bettina Hagedorn, Erwin Rüddel, Klaus Barthel und Johannes Selle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 A Wahl der Abgeordneten Petra Rode-Bosse als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 B Zusätzliche Ausschussüberweisungen . . . . . . 14633 B Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Aufstiegs- fortbildungsförderungsgesetzes Drucksache 18/7055 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 C b) Antrag der Abgeordneten Beate Walter- Rosenheimer, Kai Gehring, Özcan Mutlu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungs- zeit PLUS – Weiterbildung für alle er- möglichen, lebenslanges Lernen fördern Drucksache 18/7239 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 D c) Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Durchlässigkeit in der Bildung sichern, Förderlücken zwi- schen beruflicher Bildung und Studium schließen Drucksache 18/7234 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14633 D Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14634 A Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14635 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14637 A Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14639 A Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF 14640 B Martin Rabanus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14642 C Albert Rupprecht (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14643 D Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14646 A Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 14647 B Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14648 C Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14648 D Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 14650 A Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Mehr Klarheit für den Ver- braucher bei der Bezeichnung von Lebensmitteln – Das Deutsche Le- bensmittelbuch und die Deutsche Le- bensmittelbuch-Kommission reformie- ren Drucksache 18/7238 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14651 A b) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Harald Ebner, Friedrich Ostendorff, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Echte Reform der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom- mission – Mehr Transparenz und Betei- ligung Drucksache 18/7242 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14651 B Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14651 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . . 14653 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016II Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14653 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . . 14653 C Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14653 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14655 D Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14656 D Dr. Maria Flachsbarth, Parl. Staatssekretärin BMEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14658 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14659 D Carsten Träger (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14660 D Alois Rainer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 14661 C Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14663 A Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14664 D Ursula Schulte (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14666 A Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zusatzbeiträge abschaffen – Parität wiederherstellen Drucksache 18/7237 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14667 D b) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Lasten und Kosten fair teilen – Paritätische Beteiligung der Ar- beitgeberinnen und Arbeitgeber an den Beiträgen der gesetzlichen Krankenver- sicherung wiederherstellen Drucksache 18/7241 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14667 D Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14668 A Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14668 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14670 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14671 B Erich Irlstorfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14672 C Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14673 C Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14674 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14675 A Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14675 C Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14676 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14677 B Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14678 D Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14679 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14680 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14681 B Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14681 D Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Mess- und Eichgeset- zes Drucksache 18/7194 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14682 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Fortgesetzte Militärkooperati- on mit Saudi-Arabien und der Türkei Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 14682 D Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14684 A Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14685 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 14686 A Dr. Andreas Nick (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14687 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14687 D Dr. Dorothee Schlegel (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14688 D Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14689 D Volker Mosblech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14690 D Thomas Hitschler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14692 A Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14693 A Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14694 A Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaff- neter deutscher Streitkräfte an der Multidi- mensionalen Integrierten Stabilisierungs- mission der Vereinten Nationen in Mali (MINUSMA) auf Grundlage der Resolu- tionen 2100 (2013), 2164 (2014) und 2227 (2015) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 25. April 2013, 25. Juni 2014 und 29. Juni 2015 Drucksache 18/7206 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14695 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 III Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14695 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14696 C Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14697 D Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14699 B Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14700 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14701 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14702 B Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte zur Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen Streit- kräfte Drucksache 18/7207 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14703 C Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14703 C Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14704 C Michael Roth, Staatsminister AA . . . . . . . . . . 14705 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14707 C Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14708 D Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14709 D Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Katja Keul, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes – Streichung der obligatorischen Widerrufsprüfung Drucksache 18/6202 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14710 C Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14710 D Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14711 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 14712 D Dr. Lars Castellucci (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14714 A Barbara Woltmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14716 A Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Tabaker- zeugnisse und verwandte Erzeugnisse Drucksache 18/7218 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14717 C Dr. Maria Flachsbarth, Parl. Staatssekretärin BMEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14717 D Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 14718 B Rainer Spiering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14719 B Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14720 D Kordula Kovac (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14721 C Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Patientenberatung unab- hängig und gemeinnützig ausgestalten Drucksache 18/7042 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14722 C Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14722 D Reiner Meier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14723 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14725 A Helga Kühn-Mengel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 14726 B Dr. Georg Kippels (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14727 B Heike Baehrens (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14728 D Tagesordnungspunkt 12: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken (Datenaus- tauschverbesserungsgesetz) Drucksache 18/7043 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14729 D – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Re- gistrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwe- cken (Datenaustauschverbesserungsge- setz) Drucksachen 18/7203, 18/7258 . . . . . . . . . 14730 A – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/7259 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14730 A Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14730 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 14731 B Matthias Schmidt (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . 14732 B Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14733 B Nina Warken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 14734 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016IV Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14735 C Andrea Lindholz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 14736 C Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Ulle Schauws, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesetz zur Regulierung der Prostitutionsstätten vorlegen Drucksache 18/7243 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14737 D b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Selbstbestimmungsrechte von Sexarbei- terinnen und Sexarbeitern stärken Drucksache 18/7236 . . . . . . . . . . . . . . . . . 14738 A Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14738 A Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU). . . 14739 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14739 D Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 14740 D Ulrike Bahr (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14742 A Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 14743 B Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14743 C Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . 14744 D Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktio- nen der CDU/CSU und SPD: Bevölkerungs- statistiken verbessern – Zivile Registrie- rungssysteme stärken Drucksachen 18/6549, 18/6994 . . . . . . . . . . . 14745 C Dr. Georg Kippels (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 14745 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 14747 A Michaela Engelmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 14747 D Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14749 B Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bildungsherausforderungen gemeinsam verantworten – Kooperationsverbot in der Bildung endlich aufheben Drucksache 18/6875 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14750 B Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14750 C Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14751 C Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 14752 D Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14753 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14753 B Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 14754 B Xaver Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14755 C Dr. Daniela De Ridder (SPD) . . . . . . . . . . . . . 14756 D Elfi Scho-Antwerpes (SPD) . . . . . . . . . . . . 14757 B Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Men- schenrechtsrat der Vereinten Nationen stär- ken Drucksachen 18/4430, 18/6433 . . . . . . . . . . . 14758 A Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14758 B Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 14759 C Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 14760 B Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14762 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14763 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 14765 A (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 14633 149. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 14765 Anlage zum Stenografischen Bericht Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Albsteiger, Katrin CDU/CSU 14.01.2016 Berghegger, Dr. André CDU/CSU 14.01.2016 Daldrup, Bernhard SPD 14.01.2016 Dittmar, Sabine SPD 14.01.2016 Gottschalck, Ulrike SPD 14.01.2016 Gysi, Dr. Gregor DIE LINKE 14.01.2016 Hardt, Jürgen CDU/CSU 14.01.2016 Heinrich, Gabriela SPD 14.01.2016 Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.01.2016 Jantz, Christina SPD 14.01.2016 Kapschack, Ralf SPD 14.01.2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.01.2016 Nahles, Andrea SPD 14.01.2016 Post (Minden), Achim SPD 14.01.2016 Rehberg, Eckhardt CDU/CSU 14.01.2016 Röring, Johannes CDU/CSU 14.01.2016 Schäuble, Dr. Wolfgang CDU/CSU 14.01.2016 Spinrath, Norbert SPD 14.01.2016 Steinmeier, Dr. Frank- Walter SPD 14.01.2016 Veit, Rüdiger SPD 14.01.2016 Wicklein, Andrea SPD 14.01.2016 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 149. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 4 Berufliche Aufstiegsfortbildung TOP 5 Reform der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission TOP 6 Zusatzbeiträge der gesetzlichen Krankenversicherung TOP 22 Überweisungen im vereinfachten Verfahren ZP 3 Aktuelle Stunde zur fortgesetzten Militärkooperation mit Saudi-Arabien und der Türkei TOP 7 Bundeswehreinsatz in Mali (MINUSMA) TOP 8 Bundeswehreinsatz Kurdistan-Irak TOP 9 Asylverfahrensgesetz – Widerrufsprüfung – TOP 10 Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse TOP 11 Patientenberatung TOP 12 Datenaustauschverbesserungsgesetz TOP 13 Stärkung der Rechte von Prostituierten TOP 14 Bevölkerungsstatistik TOP 15 Kooperationsverbot in der Bildung TOP 16 Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen Anlage
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814900000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle zu unserer 149. Sitzung.

Ich möchte vor Eintritt in die Tagesordnung einige
Gratulationen und eine Gremienbesetzung vornehmen.
In der parlamentarischen Weihnachtspause hat neben
anderen auch der Bundesminister des Auswärtigen,
Dr. Frank-Walter Steinmeier, seinen 60. Geburtstag
gefeiert. Ihm haben wir alle sicher auf die eine oder an-
dere Weise ausdrücklich gratuliert. Aber ich möchte das
hier im Namen des Hauses noch einmal ausdrücklich be-
kräftigen.


(Beifall)


Ebenfalls ihren 60. Geburtstag haben die Kollegin-
nen Jutta Krellmann und Bettina Hagedorn sowie die
Kollegen Erwin Rüddel, Klaus Barthel und gestern der
Kollege Johannes Selle gefeiert. Ihnen alle guten Wün-
sche für das neue Lebensjahr.


(Beifall)


Wir müssen eine Schriftführerwahl durchführen. Die
SPD-Fraktion schlägt vor, die Kollegin Petra Rode-
Bosse für den Kollegen Dennis Rohde als Schriftfüh-
rerin zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? – Gut.
Nach erkennbarem Zögern und genauso erkennbarer Zu-
stimmung – dafür bedanke ich mich – ist die Kollegin
Rode-Bosse als Schriftführerin gewählt.

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, den Ent-
wurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern und Ju-
gendlichen vor den Gefahren des Konsums von elek-
tronischen Zigaretten und elektronischen Shishas auf
der Drucksache 18/6858 dem Ausschuss für Arbeit und
Soziales zur Mitberatung zu überweisen. Ebenso soll der
Entwurf eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des
Luftverkehrsgesetzes auf der Drucksache 18/6988 dem
Verteidigungsausschuss zur Mitberatung überwiesen
werden. Dem stimmen Sie zu? – Das ist so. Dann ist das
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetzes

Drucksache 18/7055
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Kai Gehring, Özcan Mutlu,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bildungszeit PLUS – Weiterbildung für alle
ermöglichen, lebenslanges Lernen fördern

Drucksache 18/7239
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on DIE LINKE

Durchlässigkeit in der Bildung sichern, För-
derlücken zwischen beruflicher Bildung und
Studium schließen

Drucksache 18/7234
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so ver-
fahren.






(A) (C)



(B) (D)


Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1814900100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine

der wichtigsten Zahlen im vergangenen Jahr war, dass
Deutschland mit 7,7 Prozent die niedrigste Jugendar-
beitslosenquote in der Europäischen Union hatte. In der
Europäischen Union beträgt die Erwerbslosenquote bei
den 15- bis 24-Jährigen im Durchschnitt 22,2 Prozent. In
Ländern wie Griechenland und Spanien liegt die Arbeits-
losenquote von Jugendlichen im Durchschnitt bei über
50 Prozent.

Ein wichtiger Grund, warum Jugendliche in der Bun-
desrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten und auch in der schwierigen Wirtschafts- und
Finanzkrise bessere Lebens- und Arbeitschancen hatten
als anderswo, ist das duale Berufsausbildungssystem,
in dem es eine enge Verbindung von Theorie und Praxis
gibt, was den Übergang ins Arbeitsleben erleichtert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen müssen wir alles dafür tun, um diesen deut-
schen Vorteil und dieses deutsche Alleinstellungsmerk-
mal zu stärken. Das heißt, wir müssen alles dafür tun, das
duale Ausbildungssystem zu stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der beruflichen
Bildung ist das sogenannte Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetz, kurz das Meister-BAföG. Seit 1996 haben
insgesamt 1,7 Millionen Menschen in diesem System
eine Förderung erhalten. Es ist das größte und wichtigste
Förderangebot für Qualifizierungen im dualen System.

Diejenigen, die in die Förderung kommen, sind im
Durchschnitt 30 Jahre alt, haben ihre erste Berufstätig-
keit hinter sich, haben in aller Regel eine kleine Familie
und sind darauf angewiesen, dass wir sie beim Durch-
starten auf dem Weg hin zu einer höheren beruflichen
Verantwortung unterstützen. Die Arbeitslosenquote der-
jenigen, die in einer solchen Förderung waren und sich
als Meister, Techniker, Erzieher oder Fachwirt weiter-
qualifiziert haben, liegt im Durchschnitt bei 2,1 Prozent
und damit deutlich unter der Arbeitslosenquote in der
Gesamtbevölkerung und auch deutlich unter der Arbeits-
losenquote derer, die ein Studium haben. Das zeigt, wie
attraktiv die duale Ausbildung ist und wie wichtig es ist,
diese Leistungselite im beruflichen Bereich zu unterstüt-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen sind das Meister-BAföG und die Reform,
die wir heute miteinander beraten und auf den Weg brin-
gen, ein ganz wichtiger weiterer Beitrag dazu, das duale
System zu stärken. Denn genau hier liegt die Zukunft für
die jungen Leute, für bessere Beschäftigungsmöglichkei-

ten, gute Arbeit, interessante Qualifizierungsmöglichkei-
ten, neue Optionen und gute Löhne im beruflichen Be-
reich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was wir tun, ist, den Unterhaltsbeitrag zu stärken. Wir
setzen uns für eine Erhöhung des Maßnahmebeitrags ein.
Wir erhöhen die Zuschussanteile und die Freibeträge.
Damit bringen wir ein Gesamtpaket auf den Weg, das am
Ende das duale System beruflicher Bildung deutlich at-
traktiver machen wird.

Der Zuschussanteil zum Unterhaltsbeitrag wird von
44 Prozent auf 50 Prozent steigen. Das entspricht dem
Beitrag, der auch im Bereich des Studiums möglich ist.
Gerade die Familienaufschläge zum Basisunterhalt müs-
sen oft das Familieneinkommen während einer Maß-
nahme sichern und sind deshalb maßgebend für die Ent-
scheidung, ob ein Meisterlehrgang aufgenommen wird
oder nicht.

Wer seinen Meisterkurs erfolgreich abschließt, ver-
wirklicht seinen individuellen Aufstieg und schafft einen
volkswirtschaftlichen Mehrwert. Dies wird schon heute
durch den Erfolgsbonus in Form eines Erlasses von der-
zeit 25 Prozent auf das Restdarlehen belohnt. Wir werden
diesen Betrag auf 40 Prozent anheben. Das ist ein klares
Signal zum einen dazu, einen Meisterkurs anzugehen,
zum anderen aber auch dazu, ihn zu bestehen und dieje-
nigen zu belohnen, die sich durchkämpfen und am Ende
erfolgreich sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Novelle ist ein ganz klarer Beitrag dazu, die
Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und akademi-
scher Bildung darzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir sind davon überzeugt. Wir wollen, dass akademische
Bildung und berufliche Bildung als gleichwertig aner-
kannt werden, weil beide Teile die Stärke der Bundes-
republik Deutschland ausmachen. Noch einmal: Die ge-
ringe Jugendarbeitslosigkeit hat etwas damit zu tun, dass
wir die duale Ausbildung haben. Deswegen gilt es, die
duale Ausbildung zu stärken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir leisten einen Beitrag zu einer stärkeren Durchläs-
sigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung
in beide Richtungen, und wir wollen die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf gerade bei dieser Aufstiegsqua-
lifizierung verbessern. Für uns gilt: kein Abschluss ohne
Anschluss. Wir brauchen ein System, das wir in großen
Teilen schon heute in der Bundesrepublik Deutschland
organisiert haben, in dem es mit jedem Abschluss und
jeder Qualifizierung eine weitere Möglichkeit zum Auf-
stieg gibt.

Es gilt der Satz des Handwerks: Entscheidend ist
nicht, wo du herkommst, sondern wo du hinwillst. Den

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


jungen Leuten zu vermitteln, dass es in der Bundesrepu-
blik Deutschland in diesem Bereich alle Chancen gibt,
das ist Ziel dieser Novelle. Es ist wichtig für uns und die
Wirtschaft, dass wir in Zukunft Leute haben, die sich aus
ihrer fachlichen Arbeit heraus qualifizieren, Verantwor-
tung übernehmen und Dinge voranbringen, bis hin zur
Selbstständigkeit. Heute ist ein guter Tag; denn mit die-
ser Novelle leisten wir dazu einen ganz entscheidenden
Beitrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814900200

Die Kollegin Hein ist die nächste Rednerin für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814900300

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Herr Kretschmer, Sie verzeihen und
verstehen wahrscheinlich auch, dass ich anders anfange.
Eine der größten Kritiken am bundesdeutschen Bildungs-
system ist die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs
von der sozialen Situation der Lernenden. Dieser Befund
zieht sich durch alle Bildungsstufen, von der Schule bis
zur Weiterbildung. Wenn man dies beheben will, muss
man sehr früh anfangen, also schon in der frühkindlichen
Bildung. Man muss zudem Möglichkeiten des Bildungs-
aufstiegs nach der Schule verbessern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Aufstiegsfortbildung, also das sogenannte Meis-
ter-BAföG, ist ein solcher Weg; darin sind wir uns ei-
nig. Die Bundesregierung will nun mit der vorgelegten
Gesetzesnovelle die Bedingungen dafür verbessern. Das
ist auch dringend nötig. Seit Jahren stagniert nämlich
der Zulauf zu den Maßnahmen und Bildungsgängen an
den Fachschulen, die damit meistens befasst sind. Etwa
172 000 Geförderte gab es im Jahr 2014. Das sind nur
0,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das kann uns nicht
zufriedenstellen, insbesondere nicht angesichts des ho-
hen Bedarfs an qualifizierten Fachleuten, also an Meis-
tern, Technikern und Betriebswirten zum Beispiel. Nun
soll es also besser werden.

Ich möchte Ihnen anhand einiger Beispiele belegen,
dass das Gesetz deutlich zu kurz greift, und – deshalb un-
ser Antrag – auf ein Grundproblem aufmerksam machen.
Zu den Berufsgruppen, die durch das Meister-BAföG
ihre Ausbildung finanzieren können, gehören angehende
Erzieherinnen und Erzieher. Das Meister-BAföG ist für
diese Gruppe vor einigen Jahren geöffnet worden.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das war eine wichtige Entscheidung!)


Vor etwa zwei Jahren schrieb ein junger Mann an den Pe-
titionsausschuss, dass der Abschluss seiner Ausbildung
gefährdet sei – er wollte Erzieher werden –, weil über das
Meister-BAföG nur schulische Ausbildungen finanziert
würden und vorgeschriebene Praktika außen vor blieben.
Das Bundesministerium hat diese Aussage bestätigt, und

im Ergebnis konnte dem Petenten nicht geholfen werden.
Der Petitionsausschuss hielt das Anliegen aber für so
wichtig, dass er zum Zwecke der Beachtung diese Pe-
tition an das BMBF, also an das Bildungsministerium,
weitergeleitet hat, mit der Bitte, das bei der Novellierung
des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes zu beach-
ten. Ich weiß nicht, auf welchem Schreibtisch das gelan-
det ist. Aber nach den neuen Gesetzesregeln wäre dem
Petenten noch immer nicht geholfen, und das, obgleich
der Gesetzentwurf den Eindruck erweckt, es wäre ge-
schehen.

Im Regelfall sollen wie bisher Fortbildungsmaßnah-
men gefördert werden, die 25 Unterrichtsstunden an
mindestens vier Tagen der Woche umfassen. Künftig
soll es aber auch genügen, wenn diese Bedingung – 25
Unterrichtsstunden an vier Tagen – in 70 Prozent der
Wochen eines Maßnahmenabschnitts eingehalten wird.
Damit sind die Erzieherinnen und Erzieher wieder außen
vor; denn die KMK hat im Sommer 2015 in der Rah-
menvereinbarung zu den Fachschulen festgelegt, dass
in den Fachschulrichtungen Sozialpädagogik und Heil-
erziehungspflege mindestens ein Drittel der Stunden als
„Praxis in sozialpädagogischen bzw. heilerziehungspfle-
gerischen Tätigkeitsfeldern“ zu leisten ist. Wenn man
zu 70 Prozent ein Drittel addiert, dann stellt man fest,
dass mehr als 100 Prozent herauskommen. Das kann
also irgendwie nicht stimmen. Also ist auch künftig nicht
vorgesehen, ausbildungsimmanente Praktika zu fördern.
Da frage ich mich schon, was eigentlich eine Petition an
den Bundestag bewirkt, die noch dazu vom Petitionsaus-
schuss als berechtigt weitergeleitet wurde. Offensichtlich
nichts!


(Beifall bei der LINKEN)


Ein zweites Problem. Eine der wichtigsten Verände-
rungen im Gesetz ist – Herr Kretschmer hat eben darüber
gesprochen – die Möglichkeit, auch mit einem Bache-
lorabschluss eine geförderte Ausbildung nach dem Auf-
stiegsfortbildungsförderungsgesetz zu erhalten. Diese
Regelung reagiert auf Sorgen in der Arbeitswelt, dass
man nicht mehr genügend qualifizierte Fachkräfte hat, die
zum Beispiel ein kleines Unternehmen gründen können.
Da ist etwas dran. Die gegenläufige Förderung jedoch,
also dass einem Meister, Techniker oder Betriebswirt ein
Bachelorstudium gefördert wird, ist ausgeschlossen. Das
ist auch nicht vorgesehen. Das Bundesausbildungsförde-
rungsgesetz schließt genau eine solche Förderung aus.
Ein vollverzinsliches Bankdarlehen ist unter ganz be-
stimmten Bedingungen noch möglich, mehr aber nicht.
Das wurde mir in einer Antwort auf eine schriftliche Ein-
zelfrage Ende des vergangenen Jahres bestätigt. In der
Begründung wurde angeführt, dass der Abschluss einer
Fachschule im deutschen Qualifikationsrahmen dem Ba-
chelorabschluss gleichgesetzt sei und zwei gleichwertige
Ausbildungen nicht gefördert würden.

Das gilt aber auch umgekehrt. Was will man denn
nun? Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Das be-
deutet nämlich zum Beispiel – ich bleibe wieder bei den
Sozialberufen –, dass ein Studium mit dem Schwerpunkt
„frühe Kindheit“ für staatlich anerkannte Erzieherinnen
und Erzieher nicht gefördert werden kann; denn solch
ein Studium wird fast ausschließlich als Bachelorstudi-

Michael Kretschmer






(A) (C)



(B) (D)


um angeboten. Man kann also künftig problemlos von
der Hochschule in die Fachschule wechseln, aber nicht
umgekehrt. Durchlässigkeit in den Bildungswegen, auf
die Sie immer so gerne verweisen, sieht anders aus.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich kann hier nicht auf die vielen Facetten und Kon-
ditionen der Förderungen eingehen. Wenn man sich ein-
mal durch die ganzen Gesetze gewühlt hat, ist man wirr
im Kopf. Das wird wahrscheinlich auch den Antragstel-
lenden so gehen. Das brachte uns auf die Idee, dass die
unterschiedlichen Fördersysteme doch einmal nebenein-
ander gelegt werden müssten, um Ausschlussgründe und
Lücken zu finden.

Das haben wir Ende des Jahres getan, und wir ha-
ben umfangreiche Recherchen von verschiedenen zu-
ständigen Stellen des Bundes erbeten. Vom BMBF und
von der Bundesagentur für Arbeit haben wir sie auch
erhalten, vom BMAS leider nicht; die haben uns sitzen
lassen. Wir fordern nun in unserem Antrag, dass die un-
terschiedlichen Wege der Ausbildungsförderung von der
Berufsausbildungsbeihilfe nach SGB III bis hin zu den
beiden BAföG-Gesetzen harmonisiert und Förderlücken
geschlossen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn wir müssen doch auch zur Kenntnis nehmen,
dass sich die Verläufe beruflicher Bildung und Weiter-
bildung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ver-
ändert haben. Berufsbiografien verlaufen heute anders
und manchmal nicht einfach so geradeaus. Das betrifft
sowohl die Reihenfolge der beruflichen Bildungswege
als auch das Einstiegsalter. Darum ist es auch nicht mehr
zeitgemäß, Förderkonditionen so unterschiedlich zu ge-
stalten.

Ich möchte noch ein Beispiel nennen: Wieso sind
zum Beispiel Kinder unterschiedlich viel wert? Eine
Studierende mit Kind, die nach BAföG gefördert wird,
erhält künftig einen Kinderzuschlag von gerade einmal
130 Euro. Eine Meisterschülerin mit Kind soll immerhin
235 Euro erhalten. Ich kann mir den Unterschied nicht
erklären. Die können zum Beispiel auch beide gleich alt
sein. Unterschiedlich sind übrigens auch die Darlehens-
höhe, die Rückzahlungskonditionen und anderes mehr.
Ich verstehe nicht, warum.

Insgesamt – diese Grundkritik bringen wir auch hier
wieder an – orientieren sich alle diese Gesetze nicht hin-
reichend an den konkreten Lebensbedingungen und Le-
benshaltungskosten. So sind 250 Euro Wohnzuschuss in
beiden Gesetzen keineswegs angemessen. Das ist schon
heute so. Das wird – überlegen wir einmal, wie oft wir
solche Gesetze ändern – in der Zukunft eine weitere Ver-
schärfung bringen.

Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat in
seiner Stellungnahme wohlwollend signalisiert, dass das
ein Schritt in die richtige Richtung sei, aber angemahnt,
dass das eben nicht alles sein könne. Dieser letzten Fest-

stellung, dass das nicht alles sein kann, möchten wir uns
gerne anschließen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht uns um mehr Bildungsgerechtigkeit, um gut
ausgebildete Fachkräfte, die wir in dieser Gesellschaft an
allen Ecken und Enden dringend brauchen. Hier, an die-
ser Stelle – Kooperationsverbot hin oder her –, können
wir Änderungen herbeiführen. Dafür brauchen wir die
Länder nicht. Hier können wir gesetzliche Pflöcke ein-
schlagen. Ich habe der Rede meines Vorgängers schon
entnommen, dass es offensichtlich doch eine Änderung
gibt, was die Darlehenshöhen bzw. die Zuschusshöhen
betrifft, die noch nicht im Gesetz steht.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist unser fester Wille!)


Ich freue mich, dass Sie das schon einmal der Regie-
rung unterstellen, aber wir beschließen es. Da bin ich gu-
ter Hoffnung. Vielleicht können wir die eine oder andere
Lücke, die sich in diesem Gesetz findet, auch noch mit
schließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann hätten wir ein Stück des Weges geschafft, aber – es
bleibt dabei – nicht den ganzen Weg.

Ich will noch eine Anmerkung zum Antrag der Grü-
nen machen. Die Aufstiegsfortbildung ist ganz sicher ein
Bereich der Weiterbildung. Dem Ansatz in Ihrem Antrag,
dass man auch andere Bereiche der Weiterbildung in die
Förderung einbeziehen und dies zusammenführen soll-
te, kann ich etwas abgewinnen. Ich würde das jetzt nicht
mit „Bildungszeit PLUS“ bezeichnen; denn ich finde,
das „PLUS“ besagt noch gar nichts. Aber über manche
Forderungen in Ihrem Antrag können wir uns gerne un-
terhalten. Manche der dort dargestellten Probleme sehen
wir auch.

Ich gebe zu bedenken: Das Aufstiegsfortbildungsför-
derungsgesetz ist mit der dualen Berufsausbildung und
dem, was daraus folgt, verknüpft. Die duale Ausbildung
ist jetzt für unterschiedliche Berufsausbildungen geöff-
net worden. Das bringt wahrscheinlich das Problem mit
sich, dass dieses Gesetz nicht immer passt. Aber wenn
wir nun sozusagen die gesamte Weiterbildung entspre-
chend gesetzlich regeln wollen, dann haben wir wirklich
ein Problem; denn Bildungsförderung ist zu einem gro-
ßen Teil Ländersache.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Da haben Sie recht! Da stimme ich Ihnen ausnahmsweise zu!)


Deswegen reden wir heute Abend noch einmal über das
Kooperationsverbot.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Rosemarie Hein






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814900400

Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1814900500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Aufstieg durch Bildung, das ist etwas,
was sich leichter sagt, als man es realisiert; aber für uns
ist es ein Herzensanliegen. Denn die Frage, ob Menschen
frei und selbstbestimmt leben können, hängt im Wesent-
lichen von der Erfüllung der Voraussetzung ab, durch
Bildung die Chance zu haben, einen Beruf zu ergreifen
und dann selbstbestimmt, ohne Abhängigkeit seinen ei-
genen Lebensweg gehen zu können, und zwar unabhän-
gig von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht.

Deshalb hat diese Koalition im Bereich des BAföG
gehandelt und dafür gesorgt, dass Aufstieg durch Bil-
dung – durch Unterstützung des Staates und unabhängig
von der Herkunft – leichter möglich ist in diesem Land.
Seit 1972, als Willy Brandt Bundeskanzler war, gibt es
das BAföG. Diese Koalition hat mit der BAföG-Novelle
dafür gesorgt, dass wir auch in diesem Bereich auf der
Höhe der Zeit sind.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Aber ganz klar ist für uns auch: Was für den Bereich
der akademischen Ausbildung gilt, muss richtigerweise
auch für den Bereich der beruflichen Ausbildung gelten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn die berufliche Ausbildung in Deutschland, die Art
und Weise, wie wir die berufliche Ausbildung organisie-
ren – vor allen Dingen, aber nicht nur in einem dualen
System –, ist nicht nur gut für die Wirtschaft in diesem
Land – weil die Wirtschaft im Bereich der beruflichen
Ausbildung in ihren eigenen Fachkräftenachwuchs in-
vestiert –, sondern auch gut für die Menschen, die, wie
gesagt, durch einen qualifizierten Berufsabschluss die
Chance haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen,
einen gesicherten Lebensunterhalt zu haben und so eben
auch ein gutes Leben führen zu können. Das ist gut für
unser Land insgesamt, weil wir dafür sorgen, dass wir
wirtschaftlich und sozial vorankommen. Insofern ist die
berufliche Bildung nach wie vor das qualifikatorische
Rückgrat der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft,
auch des Arbeitsmarktes in diesem Land.

Es ist kein Wunder, dass die internationale Nachfra-
ge nach der Art und Weise, wie wir berufliche Bildung
in Deutschland organisieren – dies führt dazu, Herr
Kretschmer hat es angesprochen, dass wir im internati-
onalen und auch im europäischen Vergleich eine wesent-
lich niedrigere Jugendarbeitslosigkeit haben –, nach wie
vor hoch ist. Das weiß das Bundeswirtschaftsministeri-
um. Das weiß das Bundesministerium für Bildung und
Forschung. Die Anzahl der Anfragen, wie wir beruf-
liche Bildung organisieren, ist nach wie vor sehr groß.

Ich würde sogar sagen: Es gibt einige, die uns um dieses
System beneiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der wesentliche Vorteil, wie Deutschland die berufliche
Bildung organisiert, ist eben die einzigartige Verknüp-
fung von theoretischen Kenntnissen und praktischer
Ausbildung.

Dieses System, die Verknüpfung von Theorie und Pra-
xis, führt übrigens auch dazu, dass man flexibel ist, dass
man sich auf neue Trends besser einstellen kann, bei-
spielsweise auf die Frage der Digitalisierung. Wir müs-
sen allerdings dafür sorgen, dass wir dieses gute System
immer wieder durch die richtigen Maßnahmen auf die
Höhe der Zeit bringen.

Bei allem, was wir in diesem Bereich sagen – es ist
gut, dass inzwischen mehr über berufliche Bildung ge-
sprochen wird –, gilt: Reden allein reicht natürlich nicht,
sondern wir müssen auch handeln. Denn die berufliche
Ausbildung in diesem Land ist nicht auf der Höhe der
Zeit. Das dürfen wir nicht nur in Sonntagsreden deutlich
machen, sondern wir müssen auch das Richtige tun. Ich
will deshalb etwas zu den Herausforderungen sagen, vor
denen die berufliche Bildung steht.

Wir haben in den letzten Jahren bei aller Freude über
die positive Entwicklung auch eine Reihe von negativen
Trends zu verzeichnen gehabt. Zum Beispiel ist es drin-
gend notwendig, darüber zu diskutieren, wie auch Aus-
bildungsinhalte zukünftig auf die Höhe der Zeit gebracht
werden. Ich habe das Thema Digitalisierung angespro-
chen. Es geht vor allen Dingen um die digitale Qualifi-
kation, auch im Bereich der beruflichen Bildung, als eine
Schlüsselkompetenz.

Wir haben vor allen Dingen aber auch erlebt, dass in
den vergangenen Jahren die Zahl von Ausbildungsver-
trägen eher zurückgegangen ist. Deshalb war es richtig,
dass diese Regierung im Bereich der beruflichen Ausbil-
dung gehandelt hat. Wir haben zweierlei getan:

Wir haben zum einen durch Maßnahmen, die Frau
Wanka als Ministerin ergriffen hat, dafür gesorgt, dass
die Berufsorientierung, übrigens auch an Gymnasien, ge-
stärkt wird, damit bewusst gemacht wird, was berufliche
Ausbildung für ein Weg ist, den man im Leben gehen
kann, und damit sich junge Menschen frühzeitig überle-
gen, ob dies ein Weg für sie ist.

Das Zweite. Wenn wir über drohenden Fachkräfte-
mangel in diesem Land reden, dann reden wir vor allen
Dingen von der Gefahr, dass im Bereich der beruflichen
Ausbildung zu wenig qualifizierte Kräfte vorhanden
sind. Deshalb war es richtig, dass Sigmar Gabriel mit der
Allianz für Aus- und Weiterbildung mit der Wirtschaft,
mit den Gewerkschaften, mit den Ländern dafür gesorgt
hat, dass wir bei der Zahl der Ausbildungsverträge nach
vielen Jahren des Schrumpfens eine Trendumkehr ge-
schafft haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


In Deutschland gibt es mehr Ausbildungsverträge als in
den vergangenen Jahren. Das ist ein richtig guter Weg,
und das zeigt, dass wir jungen Menschen in diesem Land
wirklich eine Chance geben.

Es gibt diesen schillernden Begriff des Akademisie-
rungswahns. Es wird immer wieder die Diskussion über
Gleichwertigkeit geführt, aber manchmal habe ich auch
den Eindruck, dass berufliche Ausbildung gegen akade-
mische Ausbildung ausgespielt wird. Das ist nicht das,
was wir wollen.

Richtig: Es ist in diesem Land zu wenig über den Wert
der beruflichen Ausbildung gesprochen worden. Aber
das ist kein Nullsummenspiel. Wir wollen die beiden
Ausbildungsgänge nicht gegeneinander ausspielen, son-
dern wir wollen über Gleichwertigkeit nicht nur reden,
sondern für Gleichwertigkeit und für Durchlässigkeit im
System sorgen. Das sind die zentralen Begriffe.


(Beifall bei der SPD)


Ich bringe es auf einen Satz: Für unsere Volkswirt-
schaft, für unser Land ist ein Meister mindestens genau-
so wichtig wie ein Master. Das muss ganz klar sein in
diesem Land.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aber wir wollen keine Form von künstlicher Verknap-
pung bei diesen beiden Möglichkeiten einer beruflichen
Ausbildung. Es geht nicht um künstliche Verknappung.
Diejenigen, die die Möglichkeit, die Fähigkeit haben, den
einen oder den anderen Weg zu gehen, müssen in diesem
Land auch die Chance haben, diesen Weg zu gehen.

Deshalb handelt diese Koalition und legt nach dem
Berufsorientierungsprogramm und nach der Allianz
für Aus- und Weiterbildung diese Novelle zum Meis-
ter-BAföG vor, meine Damen und Herren. Wir haben
einen guten Gesetzentwurf, den Frau Wanka vorgelegt
hat. Die Fallzahlen werden zunehmen. Entbürokratisie-
rung ist wichtig, ebenso die Chance, die Förderhöhen
nach vorn zu bringen. Das sind die drei wesentlichen
Punkte dieser Novelle. Aber wir werden aus einem gu-
ten Gesetzentwurf, Frau Dr. Hein, im Verlaufe des Ge-
setzgebungsverfahrens ein noch besseres Gesetz machen
können; denn wir haben mit den Haushältern der Regie-
rungsfraktionen die Voraussetzungen dafür geschaffen,
dass wir in diesem Bereich mehr machen können.

Ich belege das am Beispiel der Frage, wie wir mit der
Gleichwertigkeit umgehen. Der Zuschussanteil zum Un-
terhaltsbeitrag beim BAföG beträgt 50 Prozent. Bisher
betrug er im Bereich des Meister-BAföGs 44 Prozent.
Der Gesetzentwurf sieht noch 47 Prozent vor. Wir wer-
den jedoch im Gesetzgebungsverfahren für vollständige
Gleichwertigkeit zwischen BAföG und Meister-BAföG
sorgen und hier ebenfalls 50 Prozent erreichen, meine
Damen und Herren. Das finde ich auch richtig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn wir über Gleichwertigkeit zwischen akademi-
scher und beruflicher Ausbildung sprechen, dann müssen
wir Schritte zur Gebührenfreiheit auch im Bereich der
beruflichen Ausbildung unternehmen. Es ist richtig und
gut, dass es in Deutschland inzwischen keine Studien-

gebühren mehr gibt. Aber ich sage Ihnen: Wir wollen,
dass es irgendwann auch keine Meistergebühren mehr
gibt, die die Menschen so belasten, dass dieser Weg zum
Problem wird.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb wird der Zuschuss zu den Kurs- und Prüfungs-
gebühren von uns maßgeblich angehoben.

Wir sagen auch: Anstrengung, Leistung und Erfolg
müssen sich lohnen. Deshalb wird im Rahmen der ge-
setzgeberischen Beratung die Erfolgskomponente beim
Meister-BAföG noch einmal gestärkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Zum Schluss, meine Damen und Herren: Diese No-
velle des Meister-BAföGs ist die größte Novelle seit dem
Jahr 2002. Mit dem, was die Haushälter uns zur Verfü-
gung gestellt haben, erreichen wir mit 80 Millionen Euro
im Jahr die größte Ausweitung des Meister-BAföGs seit
2002.

Ich habe es vorhin gesagt: Wir stehen vor großen He-
rausforderungen in diesem Land; an anderer Stelle ist da-
rüber schon gesprochen worden. Wenn es um Integration
geht, werden wir vor allen Dingen im Bereich der be-
ruflichen Ausbildung eine ganze Menge Anstrengungen
unternehmen müssen, damit nicht nur die Menschen, die
schon bei uns leben, sondern auch diejenigen, die jetzt zu
uns kommen und eine Chance verdienen, über berufliche
Ausbildung eine Chance auf gemeinschaftliches Leben
und auf Selbstbestimmung haben. Dafür müssen wir
noch eine ganze Menge mehr tun; ich habe jetzt nicht die
Zeit, das deutlich zu machen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814900600

Das ist richtig, Herr Kollege.


(Heiterkeit)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1814900700

Aber Sie sind mit mir einer Meinung, Herr Präsident,

dass dieser wichtige Schritt beim Meister-BAföG in die
richtige Richtung geht. Darüber hinaus werden wir zu-
künftig die Berufsschulen stärken müssen.

Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Freiheit
und selbstbestimmtes Leben, das geht nur mit gleichen
Bildungschancen, das geht nur mit Chancen auf eine gute
berufliche Ausbildung.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb ist dies ein guter Tag in diesem Land.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814900800

Nun erhält die Kollegin Walter-Rosenheimer für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Hubertus Heil (Peine)







(A) (C)



(B) (D)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Zuhörer
und Zuhörerinnen! Im Koalitionsvertrag heißt es – ich
zitiere –:

Angesichts des demographischen Wandels ist das
lebenslange Lernen so wichtig wie nie. Diese ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe wollen wir im Rah-
men der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ be-
wältigen.

Heute wissen wir, dass diese Aufgabe nicht so ganz ge-
lungen ist.

Richtig ist, dass das lebenslange Lernen in einer Ge-
sellschaft, die sich derart rasant verändert, so wichtig ist
wie nie zuvor. Richtig ist auch, dass Sie mit der Öffnung
des Meister-BAföGs überfällige Anpassungen vollzogen
haben. Es ist tatsächlich höchste Zeit, dass auch Bache-
lorabsolventinnen und Studienabbrecher beim Weiterler-
nen ordentlich gefördert werden. Auch die Erhöhung von
Leistungen und Freibeträgen ist ein Schritt, der wirklich
kommen musste.

Beides – das sage ich in aller Deutlichkeit – begrüßen
wir ausdrücklich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das hatten wir von der Opposition nicht erwartet!)


– Ja, wir sehen das schon realistisch. Ein Aber kommt
aber natürlich noch: In unseren Augen muss ein wegwei-
sender Schritt für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe
nämlich noch ein bisschen anders aussehen.

Aufstieg durch Bildung ist in unserem Land immer
noch viel zu wenigen vorbehalten. Es ist – Sie haben
es gesagt, Frau Hein – immer noch auch eine soziale
Frage. Daran ändert leider auch die Öffnung des Meis-
ter-BAföGs nicht so viel, wie wir uns das wünschen wür-
den.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Immerhin!)


Nutzen Sie doch bitte Ihre große 80-Prozent-Mehrheit
für wegweisende Reformen, von denen dann alle Men-
schen profitieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Uns geht es hier gar nicht um Pauschalkritik. Die Öff-
nung des Meister-BAföGs ist wichtig. Darüber freuen
wir uns auch. Das habe ich gesagt. Aber die Maßnahme
greift zu kurz, und sie vergisst, dass nicht alle, die sich
weiterbilden möchten, Meister, Hochschulabsolventin-
nen oder Studienabbrecher sind.

Frau Ministerin, auf Ihrer Webseite steht der schöne
Werbesatz: „Das Meister-BAföG: Für alle, die hoch hin-
auswollen.“ Dieses Meister-BAföG hat viel Gutes, aber
es steht definitiv nicht allen offen, die hoch hinauswollen.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Man braucht vielleicht auch Voraussetzungen dafür, oder?)


– Ja, man braucht Voraussetzungen dafür. Man kann es
aber auch so anpassen, dass mehr Menschen davon pro-
fitieren können.

Was sagen Sie zum Beispiel der russischen Erzieherin,
die in einer Hamburger Kita arbeiten möchte und im Rah-
men des Anerkennungsgesetzes eine Nachqualifizierung
braucht? Oder nehmen Sie den anerkannten Asylbewer-
ber, der aus Syrien kommt und in München als Bäcker ar-
beiten möchte. Diesen bildungsinteressierten Menschen
müssen Sie ehrlicherweise sagen, dass sie auf ihrem Weg
zur Fachkraft in Deutschland keine Unterstützung durch
das Meister-BAföG bekommen.

Das liegt nun ganz sicher nicht daran, dass diese Men-
schen nicht hoch hinauswollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, es liegt allein daran, dass Sie es bisher versäumt
haben, die notwendigen Reformen vorzunehmen, damit
auch Teilnehmende an Anpassungs- und Nachqualifi-
zierungen durch das Meister-BAföG unterstützt werden
können.

Ruhen Sie sich also bitte nicht auf der Erhöhung von
Freibeträgen und Leistungen aus, sondern sorgen Sie da-
für, dass in Zukunft wirklich alle Menschen, die lernen
und sich weiterentwickeln wollen, ja alle, die hoch hin-
auswollen, vernünftig gefördert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Machen wir!)


Das größte Problem der Weiterbildung ist doch, dass
viele erst gar keine Chance haben, an guten Bildungsan-
geboten teilzunehmen. Zum Beispiel Menschen mit nied-
rigem Bildungsabschluss, Migrationshintergrund oder
geringem Einkommen, aber auch sehr viele Alleinerzie-
hende, die in typischen Frauenberufen arbeiten, nehmen
immer noch viel zu wenig am lebenslangen Lernen teil.
Das wissen wir aus vielen Statistiken.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Aber das ist doch nicht die Aufgabe des Meister-BAföGs!)


– Es ist aber auch kein Zufall, liebe Kollegen. Sie ha-
ben aufgrund ihrer Umstände einfach keine Chance auf
berufliches Fortkommen. Das hat strukturelle Gründe.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, da eine Lösung zu
finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit unserem Antrag „Bildungszeit PLUS“ – der Titel
ist ein Titel, Frau Hein; aber der Inhalt ist ja das Wesent-
liche – gibt meine Fraktion genau darauf Antworten. Wir
sind davon überzeugt, dass aus einem Meister-BAföG für
wenige eine gerechte Weiterbildung für alle werden soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie wollen das Meister-BAföG abschaffen! Sagen Sie es doch!)


Dafür müssen die Maßnahmekosten und der Lebensun-
terhalt auch für finanziell schlechter Gestellte bezahlbar
werden.






(A) (C)



(B) (D)


Deshalb fordern wir Sie auf, Frau Ministerin: Bauen
Sie das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz so um,
dass es diesen Namen auch verdient.

Wir alle wissen, dass gute Bildung Zeit und Geld kos-
tet und dass genau das oft Mangelware ist. Unser Modell
der Bildungszeit PLUS basiert deshalb auf zwei Säulen:

Erstens wollen wir einen individuellen Mix aus Zu-
schuss und Darlehen verankern, der die Lebens- und Ein-
kommenssituation berücksichtigt und gerade die Schwä-
cheren fördert. Deshalb gilt bei uns der Grundsatz: Wer
weniger hat, bekommt mehr und umgekehrt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens muss es in Zukunft wesentlich leichter wer-
den, dass Berufstätige ihre Arbeitszeit für Fort- und Wei-
terbildungen vorübergehend reduzieren können, ohne
Angst, dass sie später nicht mehr im alten Stundenum-
fang zurückkehren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Änderungen am Meister-BAföG werden leider
nicht ausreichen, um die Weiterbildung so richtig vom
Kopf auf die Füße zu stellen. Seien Sie mutig! Wagen Sie
mit uns eine große Reform, damit in Zukunft wirklich
alle, die hoch hinauswollen, auch hoch hinauskönnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814900900

Nun hat die Bundesministerin für Bildung und For-

schung, Frau Professor Wanka, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
vor kurzem hier im Bundestag über das EFI-Gutachten
und über die Bedeutung von Wissenschaft, Forschung
und Innovation für Deutschland diskutiert. Die zweite
wichtige und entscheidende Komponente für die Wirt-
schaftsstärke Deutschlands ist die akademische und be-
rufliche Fachkräftesituation. Wir reden verstärkt – Herr
Heil hat es angesprochen – über Probleme in diesem Be-
reich. Es gibt zu wenige, die sich dafür interessieren, und
zu viele, die in andere Berufe gehen. Es gibt Schreckens-
szenarien, auf welcher statistischen Basis auch immer. Es
ist richtig, das zu analysieren; aber entscheidend ist in der
Politik, dass man handelt, dass man etwas macht.

Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute hier vorlegen,
wird volkswirtschaftlich etwas sehr, sehr Wichtiges re-
alisiert. Das ist ein entscheidender Beitrag. Es ist kein
Beitrag, mit dem die gesamte Weiterbildungsthematik
von A bis Z geregelt wird. Vielmehr ist es ein Beitrag,
mit dem wir dafür Sorge tragen, dass wir fachlich qualifi-
zierte, praxiserfahrene Menschen in diesem Land haben;
und die brauchen wir dringend. Sie sind die Basis unseres
Wohlstandes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Vielleicht ist das nicht jedem so klar: Wenn Sie zum
Beispiel Firmen – auch kleine Firmen – in den USA
nehmen und fragen: „Wer leitet so eine Firma?“, dann
werden Sie feststellen, dass das immer Leute mit einer
akademischen Ausbildung sind. Die steigen oben ein.
Das geht natürlich bei uns in Deutschland auch, aber
dass man einen Beruf lernt, dass man Geselle, Meister
etc. wird und dann die Führung übernimmt, das ist unsere
besondere Stärke. Deswegen müssen wir diesen Weg, der
uns so erfolgreich macht, weiter unterstützen.

Nun nützt das dem Einzelnen, der eine Weiterqualifi-
kation zum Meister machen will, nichts, wenn er weiß,
dass das volkswirtschaftlich bedeutsam ist. Kann sein,
dass er das weiß, aber entscheidend ist für ihn die Fra-
ge: Was habe ich davon? Was habe ich davon, wenn ich
zum Beispiel Frisör bin und Handwerksmeister werden
will, wenn ich Kfz-Mechatroniker bin und Meister wer-
den will, wenn ich Kauffrau bin und Fachwirtin werden
will oder wenn ich Sozialassistent bin und Erzieher wer-
den will? Da muss man sagen, dass die Perspektiven
heute ausgezeichnet sind. Es wurde angesprochen: Das
niedrigste Risiko, arbeitslos zu werden, hatten über vie-
le Jahrzehnte immer die mit einem akademischen Ab-
schluss. Das ist mittlerweile auch bei den Meistern so. Sie
haben ein ganz niedriges Risiko, jemals in ihrem Leben
arbeitslos zu werden. Und wenn man sich die Entwick-
lung der Einkommen anschaut, dann muss man sagen:
Der Trend bei den Meistern geht steiler nach oben als
bei den Hochschulabsolventen. Was natürlich sehr schön
ist, das ist diese Chance, unter Umständen eine hohe Ar-
beitszufriedenheit zu erreichen, indem man einen Betrieb
selber leitet bzw. führt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Aber um diese anspruchsvolle Aufstiegsprüfung wirk-
lich zu bestehen, sind eine Reihe von Hürden zu bewäl-
tigen – nicht nur tausend und mehr Unterrichtsstunden,
die man bezahlen muss, sondern auch noch vieles ande-
re mehr. Deswegen war es richtig und in der Geschich-
te der Bundesrepublik ein entscheidender Schritt, 1996
überhaupt dieses Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz
eingeführt zu haben, das festlegt, dass eine Ausbildung
zum Meister gefördert wird. Herr Heil, 2002 hatten wir
eine Novelle. 2009 gab es eine weitere Novelle. Seitdem
gibt es zum Beispiel den pauschalen Kinderbetreuungs-
zuschlag und die Regelung, dass einem im Falle eines
guten Prüfungsergebnisses Teile des Darlehens erlassen
werden. Wir wollen auf dieser Basis gemeinsam anset-
zen und das erfolgreichste, wichtigste und bedeutendste
Förderinstrument für die Qualifizierung im beruflichen
Bereich, dieses Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz –
ich sage nicht so gerne Meister-BAföG, weil auch Erzie-
herinnen und viele andere davon profitieren –, novellie-
ren.

Ich glaube, dass es ganz wichtig ist – da bin ich ganz
anderer Meinung als manch andere, die hier schon vor-
getragen haben; mir geht es nicht darum, dass man ein
Instrument für alle hat –, dass man ein Angebot hat, das

Beate Walter-Rosenheimer






(A) (C)



(B) (D)


passgenau auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnit-
ten ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist nun einmal so, dass jemand, der Meister werden
will, oft schon eine Familie und einen gut bezahlten Job
hat. Seine Situation ist eine ganz andere als die der gro-
ßen Zahl der Studierenden, die mit 18 oder 19 Jahren in
das soziale System, beispielsweise an der Hochschule,
hineingehen. Deswegen bin ich dafür, dass wir passge-
naue Angebote machen.

Frau Hein, Sie haben nach dem Kinderbetreuungs-
zuschlag gefragt. Es ist natürlich klar, dass jemand, der
studiert und ein Kind bekommt – das trifft auf viel zu
wenige in dieser Lebensphase zu –, sehr stark unterstützt
wird, beispielsweise über das Studierendenwerk. Diese
Unterstützung erhält jemand, der eine Frau und zwei
Kinder hat und zum Meisterlehrgang geht, nicht. Deswe-
gen ist die Frage des Unterhaltes für die Familie sehr zen-
tral, deshalb ist der Kinderbetreuungszuschlag im AFBG
auch einkommensunabhängig zu gewähren.

Im Antrag der Grünen steht, dass sie einen sozial ge-
staffelten Unterhalt wollen. Sozial gestaffelt ist vieles.
Aber ich warne sehr davor: Wenn man einkommensun-
abhängige Komponenten, die in diesem Gesetzentwurf
enthalten sind, zum Beispiel den Kinderbetreuungszu-
schlag und den Maßnahmebeitrag, einkommensabhängig
gestaltet, fallen fast alle heraus, die arbeiten und sich in
Teilzeit qualifizieren. Das ist nicht die Absicht. Das wäre
ein großer Nachteil.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es geht nicht nur um mehr
Geld, sondern es geht auch um Modernisierung. Es geht
darum, sich auf die Situation einzurichten, die wir jetzt
im beruflichen System vorfinden. Frau Hein, Sie haben
gesagt, es sei sehr schwierig, sich durch alle Gesetze zu
wühlen. Sie haben sicherlich recht. Aber für die Erzie-
herinnen – sie waren Ihr Beispiel – wird dieses Gesetz,
dessen Entwurf uns jetzt vorliegt und den Sie hoffentlich
gut finden, sichern, dass wir bei der Ausbildung zur Er-
zieherin, wenn sie entsprechend geordnet ist, durchgän-
gig fördern können. Wenn allerdings ein Land den Weg
so wählt, dass erst die schulische Ausbildung stattfindet
und dann ein Jahr Praxiszeit absolviert wird, dann muss
diejenige tariflich beschäftigt werden. Das halte ich auch
für richtig. Aber es ist in der Qualifizierung zur Erzie-
herin möglich, durchgängig zu finanzieren. Das ist neu.
Das gab es vorher nicht. Das ist eine Veränderung, die
sich auf eine real notwendige Situation eingerichtet hat,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Dann sind Sie nicht auf dem Laufenden! Dann müssen Sie die Erzieherinnenausbildung reformieren!)


Beim Thema Praktikum verstehe ich überhaupt nicht,
wie man generell fordern kann – das findet man so in
dem Antrag –, dass man eine Finanzierung des Prakti-
kums durch dieses Gesetz realisieren soll. Warum soll
ein Meisterschüler, der voll qualifiziert ist und in einem

Betrieb arbeitet, nicht sozialversicherungspflichtig be-
schäftigt werden, statt mit einem Stipendium oder ei-
nem entsprechenden Betrag über das AFBG abgespeist
zu werden? Ich glaube, es ist an dieser Stelle notwendig,
sich dies genau anzusehen. Man darf nicht glauben, ein
Maßstab für alle sei das Gerechte. Im Gegenteil, das ist
total ungerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die höheren und zeitgemäßen Förderleistungen, die
Erhöhungsbeiträge im Familienbereich, die wir vorgese-
hen haben, sind sehr gut. Ich bin sehr dankbar, dass die
Koalitionsfraktionen im Haushaltsausschuss verankert
haben, dass die Zuschussanteile im parlamentarischen
Verfahren noch gestärkt werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Das ist nicht nur für den Einzelnen wichtig, sondern auch
für die Wahrnehmung. Draußen wird genau geschaut,
was man macht, wie viele Millionen oder Milliarden man
ausgibt. Schon im Jahr 2014 haben wir eine halbe Milli-
arde Euro an Förderleistung über das AFBG ausgegeben.
Dieser Betrag wird noch einmal angehoben. Ich bin sehr
erfreut über das, was dazugekommen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das heißt zum Beispiel, dass das Budget, das ein Ge-
förderter bekommt, wächst. Das, was er zurückzahlen
muss, wird weniger als vorher. Das ist also eine echte
Verbesserung. Dass das Restdarlehen bei erfolgreichem
Abschluss reduziert oder erlassen wird, ist eine Leis-
tungskomponente. Ich habe auf vielen Meisterfeiern er-
lebt, wie engagiert die jungen Meister sind und welchen
hohen persönlichen Aufwand sie betreiben. Wenn das so
belohnt wird, ist das ein richtiges Signal.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber es geht auch um die strukturellen Verbesserun-
gen, um die Veränderungen. Angesprochen wurde der
Abschluss als Bachelor. Ja, wir haben jetzt die Mög-
lichkeit, dass Studienabbrecher, wenn sie keinen Erst-
abschluss in dem Beruf haben, in diese Richtung gehen
können und den Meister machen können. Wenn ich sehe,
wie viele Firmenchefs in den nächsten zehn Jahren im
Bereich des Handwerks wegfallen, dann wird das nicht
nur durch die klassische Meisterausbildung kompensiert,
und deshalb brauchen wir auch gute Leute mit einem
Bachelorabschluss. Das ermöglichen wir jetzt an dieser
Stelle.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir sind auch weitergekommen, was die Durchläs-
sigkeit betrifft. Wenn heute jemand eine berufliche Aus-
bildung gemacht – etwa zum Kfz-Mechatroniker – und
in dem Beruf drei Jahre gearbeitet hat, kann er an die
Hochschule gehen. Da braucht er keinen Meister zu
machen. Er kann, wenn er das will, direkt an die Hoch-
schule gehen, dort einen Bachelor machen und wird ge-
gebenenfalls mit BAföG unterstützt. Wenn ein Meister
meint: „Ich muss mich weiterqualifizieren“, und er einen

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka






(A) (C)



(B) (D)


Masterabschluss machen will, dann bekommt er gegebe-
nenfalls auch BAföG. Das ist an dieser Stelle die Logik.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieser Ge-
setzentwurf ein starkes Signal ist; denn wir beseitigen die
Hürden, die unter Umständen bestehen, wenn es darum
geht, eine Meisterausbildung anzufangen, wir agieren
hier richtig, machen es familienfreundlicher, machen
es – ein Punkt, der noch gar nicht erwähnt wurde – auch
unbürokratischer. Das heißt, die Zahl der Unterlagen, die
man vorlegen muss, und der ganze bürokratische Auf-
wand werden erheblich reduziert. Bürokratie abzubauen,
wird immer gefordert, und ich fände es gut, wenn Sie
sich bei diesem Gesetz, bei dem wir es wirklich machen,
darüber freuten und es auch vielleicht mal irgendwo er-
wähnten.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es ist eine Freude! Wir können hier ja keine Kerzen mitbringen!)


– Das wäre auch mal eine Idee.

Dazu eine Bemerkung. Ich war auch mal in der Op-
position; man macht es so: Im besten Fall sagt man, dass
es okay ist. Ansonsten sagt man entweder, dass das, was
vorgelegt wurde, ganz schlecht ist, oder man sagt: Es ist
eigentlich gut, aber … – Und dann listet man alles auf,
was man sich noch vorstellen könnte, egal ob es dazu
passt oder nicht. Das ist geübte Praxis. Hier muss ich
aber sagen, dass man im Ausschuss über das diskutieren
sollte, was Sie vorhin angesprochen haben, zum Beispiel
das Anerkennungsgesetz, das einer polnischen Näherin
oder anderen zugutekommen soll. Denn das ist geregelt;
dafür haben wir viele Mechanismen. Das ist bei der BA
und im SGB verankert. In einer speziellen Situation geht
es um Integration durch Qualifikation, und wir denken da
auch noch weiter.


(Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das müssen wir noch mal diskutieren!)


Wir denken auch an jemanden, der gerade erst an-
fängt, also nicht in den Bereich des Meister-BAföG fällt.
Für ihn gibt es die Bildungsprämie. Wir haben sie evalu-
iert und analysiert, wer sie besonders stark in Anspruch
nimmt. Es sind insbesondere Frauen und Menschen mit
Migrationshintergrund.

Wir haben also viele Instrumente. Das Gesetz, das
heute vorliegt, ist mit Blick auf das Thema „Aufstieg in
der beruflichen Bildung“ passgenau und richtig gut. Ich
freue mich, wenn wir es verabschieden können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814901000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vie-

len Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner in der De-
batte: Martin Rabanus für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Martin Rabanus (SPD):
Rede ID: ID1814901100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch von mei-
ner Seite einen guten Morgen! Ich darf das sagen; denn
ich finde in der Tat: Es ist ein guter Morgen. Nachdem
wir gestern in der Debatte über die abscheulichen Vor-
kommnisse in der Silvesternacht diskutieren mussten,
nachdem wir gestern über besorgniserregende Lagen im
Mittleren und Nahen Osten reden mussten, können wir
heute Morgen über Chancen und Möglichkeiten spre-
chen, über Perspektiven, über Bildung, über Qualifizie-
rung, darüber, dass Menschen ihr Schicksal in die Hand
nehmen wollen. Wir als Koalition sprechen nicht nur da-
rüber, sondern handeln auch tatsächlich: Wir diskutieren
jetzt in erster Lesung den Entwurf eines dritten Gesetzes
zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgeset-
zes, wir nehmen eine Novellierung vor. Das, meine sehr
verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist gut; das macht diesen Morgen zu einem gu-
ten Morgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ohne Zweifel ist das AFBG das zentrale Instrument der
beruflichen Fortbildung, der Aufstiegsqualifizierung. Mit
dieser Novelle machen wir einen wichtigen Schritt – das
ist schon angeklungen – zu einer echten Gleichwertigkeit
der beruflichen und der akademischen Bildung.

Als wir in der Koalition vor ziemlich genau einem
Jahr begonnen haben, diese Novelle miteinander vorzu-
bereiten, waren wir uns auf der Fachebene schnell sehr
einig, was wir machen wollen. An dieser Stelle darf ich
meinem Kollegen Thomas Feist ganz herzlich danken


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das freut mich sehr!)


für die konstruktive und menschlich sehr angenehme Zu-
sammenarbeit.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das gebe ich gerne zurück!)


– Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Ja, das kann man ruhig mal anerkennen. – Ich darf
auch das Ministerium in den Dank miteinbeziehen. Die
Gespräche, die wir mit Herrn Staatssekretär Müller und
den Kolleginnen und Kollegen geführt haben, waren sehr
gut, und wir haben schon eine ganze Menge konsentieren
können, was dann in den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung eingeflossen ist.

Ich will es benennen: Wir haben die Erhöhung der
förderfähigen Lehrgangs- und Prüfungsgebühren um fast
50 Prozent verabredet, nämlich von gut 10 000 Euro auf
jetzt 15 000 Euro.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Bundesministerin Dr. Johanna Wanka






(A) (C)



(B) (D)


Wir haben verabredet, die Förderung des Meister-
stücks um etwa 30 Prozent zu erhöhen, nämlich von gut
1 500 Euro auf jetzt 2 000 Euro.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben verabredet, die Vermögensfreibeträge von gut
35 000 Euro auf 45 000 Euro auszuweiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/CSU])


Wir haben viele andere Komponenten miteinbezogen:
die Modernisierung, die Entbürokratisierung, die Frau
Ministerin Wanka eben angesprochen hat, und natürlich
auch die Durchlässigkeit für Bachelorabsolventen. Das
alleine, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht den Ge-
setzentwurf, den wir vorgelegt haben, zu einem Meilen-
stein.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Der Gesetzentwurf beinhaltet aber noch mehr; auch das
ist bereits angeklungen. Er beinhaltet bereits Verbesse-
rungen bei den Zuschusshöhen und beim Belohnungser-
lass.

Es ist natürlich kein Geheimnis, dass die bisher disku-
tierten Maßnahmen den Koalitionsfraktionen insgesamt
nicht ambitioniert genug waren. Deswegen bin ich sehr
froh, dass es in den Haushaltsberatungen gelungen ist,
weitere Schritte – auch sie sind benannt worden – zu ver-
abreden und haushalterisch abzusichern. Es ist ja nicht
gerade üblich, dass wir die haushalterische Absicherung
geklärt haben, bevor wir den Gesetzentwurf durchexer-
zieren. Das bedeutet, dass der Zuschussanteil zum Unter-
haltsbeitrag auf 50 Prozent erhöht wird; das bedeutet ech-
te Gleichwertigkeit mit dem BAföG. Der Zuschussanteil
zum Maßnahmebeitrag wird von 30,5 auf 40 Prozent


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


und die Erlassquote beim Belohnungserlass von 25 auf
40 Prozent erhöht. Das alles zeigt: Das ist in der Tat eine
große Reform, die hier bevorsteht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Neben der großen Reform gibt es noch zwei kleine
Anträge der Opposition, auf die ich in der gebotenen
Kürze eingehen möchte. Ich habe mich in der Tat sehr
gefreut, als ich den Antrag der Grünen gelesen habe. Ich
freue mich, dass sie weitgehend zustimmen. Sie schrei-
ben, dass sinnvolle Verbesserungen auf den Weg ge-
bracht wurden und geplante Erhöhungen der Leistungen
zu begrüßen sind. In der Tat – mein Kollege Rossmann
hat es vorhin eingeworfen –: Mehr Lob kann man von der
Opposition eigentlich kaum erwarten. Insofern freue ich
mich auf die konstruktiven Beratungen.

Lassen Sie mich noch einen Satz zur Idee eines Geset-
zes zum lebensbegleitenden Lernen sagen. Aus meiner
Sicht steht es im Rahmen der Beratung der Gesetzes-
novelle nicht an, darüber zu diskutieren. Aber die Frage,
die dahintersteckt, nämlich: „Macht es nicht Sinn, sich
rechtssystematisch genauer anzugucken, welche Berei-

che wir auf Bundesebene in Sachen Bildung wie geregelt
haben und diese möglicherweise in eine neue Rechtslo-
gik zu bringen?“, ist ein Frage, mit der wir als SPD uns
gelegentlich schon beschäftigt haben. Als Stichwort nen-
ne ich ein „Bundesbildungsgesetzbuch“, in dem man in
verschiedenen Bänden zusammenführen könnte, was wir
zu besorgen haben. Darüber würde ich sehr gerne weiter
nachdenken und diskutieren, in der Perspektive selbst-
verständlich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Was den Antrag der Linken angeht, so will ich es re-
lativ kurz machen. Im ersten Teil wird das AFBG sehr
schön beschrieben, dann wird sich insgesamt noch mit
ein, zwei Punkten des AFBG befasst. Unter anderem
wird die Forderung des Bundesrates nach vollständiger
Übernahme der Kosten durch den Bund aufgenommen.

Damit kann ich zum Schluss kommen, Frau Präsiden-
tin. Es gibt unterschiedliche Forderungen, auch des Bun-
desrates. Ich freue mich, dass wir über all diese Forderun-
gen in den kommenden Wochen konstruktiv diskutieren
werden. In einigen Wochen können wir dann sicherlich
stolz sagen: Wir haben eine substanzielle BAföG-Re-
form auf den Weg gebracht, wir haben eine substanzielle
Reform des Meister-BAföGs auf den Weg gebracht, und
wir haben einen wichtigen Schritt zur Gleichwertigkeit
von akademischer und beruflicher Bildung getan.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814901200

Vielen Dank, lieber Kollege Rabanus. Der nächste

Redner ist Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Simone Raatz [SPD])



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1814901300

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Frau Walter-Rosenheimer, zunächst
einmal sage ich Danke schön für das Lob und die Aner-
kennung. In der Tat ist es relevant – und es wird immer
relevanter –, darüber nachzudenken, wie man lebenslan-
ges Lernen und Fortbildung unterstützt und entsprechend
in die Gesetzgebung einordnet. Aber Ihr Vorschlag, das
Meister-BAföG aufzublähen und zu einem allgemeinen
lebenslangen Fortbildungsinstrument zu machen, wäre
nach meiner festen Überzeugung der völlig falsche Weg.
Das wäre verheerend. Am Schluss würde das Meis-
ter-BAföG vollkommen unter die Räder kommen und
untergehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Warum denn?)


– Weil es genau so ist, wie die Ministerin gesagt hat:
Es bedarf einer passgenauen Lösung. Aus dem gleichen
Grund können wir das Studierenden-BAföG und das
Meister-BAföG nicht zusammenlegen. Das BAföG muss

Martin Rabanus






(A) (C)



(B) (D)


an die unterschiedlichen Gegebenheiten präzise ange-
passt werden. Das gilt übrigens auch für Ihren Vorschlag,
die Flüchtlingsfrage einzubeziehen. Auch für die Flücht-
linge benötigen wir spezifische, passgenaue Programme.


(Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Darüber kann man ja nachdenken!)


Das Meister-BAföG derart massiv zu verhunzen und auf-
zublähen, wäre ein absolut falscher Weg. Ihr Vorschlag
zeigt im Übrigen, dass die Grünen eine Partei von Aka-
demikern ist, die von beruflicher Bildung herzlich wenig
Ahnung haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht! Bleiben Sie doch fair! Fair bleiben! Wir waren auch fair! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Einfach zu Protokoll geben, die Rede!)


Herr Heil, Sie haben gesagt, dass das Parlament in
der Regierungszeit von Willy Brandt das Studieren-
den-BAföG beschlossen hat. Ich sage: In der Regie-
rungszeit des Kanzlers Helmut Kohl haben wir das
Meister-BAföG beschlossen. Wir feiern in diesem Jahr
den 20. Geburtstag des Meister-BAföGs. Das freut uns
umso mehr, weil es ein Kind von CSU und CDU ist. Man
könnte fragen: Wieso hatten Willy Brandt und die So-
zialdemokraten die berufliche Bildung damals nicht mit
im Blick? Warum hat man damals nicht auch das Meis-
ter-BAföG beschlossen?


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was würden die Menschen bloß ohne euch machen?)


In jedem Fall ist es so, dass CSU und CDU immer ein
starkes Augenmerk auf die berufliche Bildung hatten. Ich
bin heilfroh – das können wir jetzt feiern –, dass wir mit
dem Meister-BAföG so viel hinbekommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Ja, ich denke, da kann man ruhig klatschen. – Wir haben
1,7 Millionen Aufstiegsfortbildungen ermöglicht; das
Fördervolumen betrug 6,9 Milliarden Euro. Ich sage es
noch einmal: Ohne den damaligen Beschluss der Union
gäbe es heute Hunderte, ja Tausende von Facharbeitern,
Meistern und Technikern nicht. Es gäbe auch weniger
Unternehmer in diesem Land; denn wir brauchen Meister
zur Führung der Handwerksbetriebe. Deswegen war das
1996 eine weitreichende und richtige Entscheidung.

Für uns war berufliche Bildung immer das Thema.
So war das auch bei den Koalitionsverhandlungen. Je-
der Partner hat andere Schwerpunkte. Am Schluss einigt
man sich auf etwas. In den Koalitionsverhandlungen war
klar, dass die Stärkung der beruflichen Bildung für uns
ein Topthema war.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Auch für uns!)


Deswegen haben wir ein ganzes Maßnahmenbündel for-
muliert. Vieles davon haben wir schon umgesetzt. Dabei

verfolgen wir ein Leitbild – es ist hier schon mehrfach
angeklungen –: Akademische und berufliche Bildung
sind gleichwertig; das sind zwei gleichwertige Säulen.

Dieses Leitbild hat weitreichende Konsequenzen, zu-
nächst für die persönliche Ebene. Was heißt das für den
jungen Menschen? Er muss sich frei entscheiden können.
Seine Entscheidung darf nicht durch Falschinformatio-
nen oder öffentliche Diskussionen darüber, ob das eine
oder andere mehr wert ist, verzerrt werden. Auf der ge-
sellschaftspolitischen Ebene – auch die Ebene muss be-
trachtet werden – braucht man ein vernünftiges Maß, ein
angemessenes Verhältnis zwischen akademischer und
beruflicher Bildung. Dieses vernünftige Maß geht aber
immer mehr verloren. Das wird deutlich, wenn man sich
die Prognosen anschaut. Ich nenne die Zahlen: 2000 ist
ein Drittel eines Jahrgangs, einer Alterskohorte an die
Hochschulen gegangen, während zwei Drittel den Weg
der beruflichen Bildung gewählt haben. Die KMK pro-
gnostiziert für das Jahr 2020 – das ist in vier Jahren –,
dass das Verhältnis dann genau umgekehrt sein wird. Das
heißt, dass zwei Drittel eines Jahrgangs an die Hochschu-
len gehen wollen und ein Drittel die berufliche Bildung
wählen wird, und das alles bei einer geringeren Anzahl
Schulabgänger.

Wenn diese Prognosen Wirklichkeit werden, dann
werden wir einen großen Fachkräftemangel haben. Dann
werden wir natürlich auch in manchen akademischen
Berufen einen Fachkräftemangel haben, beispielsweise
bei den Ingenieuren, aber der Fachkräftemangel im be-
ruflichen Bereich wird um den Faktor zehn größer sein.
Er wird eine Dimension annehmen, in dessen Folge –
davor kann man nur warnen – unsere mittelständischen
Strukturen und unsere Handwerksbetriebe in Gänze zur
Disposition gestellt werden. Viele Firmen werden keine
Nachfolgeregelung finden können, werden Aufträge ab-
lehnen müssen, weil es keine Mitarbeiter mehr gibt. Das
kann nicht unser Weg sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um es noch einmal klar zu sagen: Wir brauchen zwei
starke Säulen. Hinsichtlich der Stärkung der akademi-
schen Ausbildung brauchen wir uns von niemandem et-
was vorwerfen zu lassen. Wir brauchen starke Hochschu-
len, eine starke Lehre und eine exzellente Forschung. Es
gibt keine politische Kraft in Deutschland, weder histo-
risch noch aktuell, die mehr für die Hochschulen getan
hat als diese unionsgeführte Regierung seit 2005.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich nenne einmal die Begriffe – ich will das eine nicht
gegen das andere ausspielen –: Hochschulpakt – 20 Mil-
liarden Euro vonseiten des Bundes, obwohl es Länder-
aufgabe wäre; Exzellenzinitiative – 4,6 Milliarden Euro,
wodurch wir einen Impuls in die Hochschulen hineinge-
ben; Qualitätspakt Lehre – 2 Milliarden Euro, um hohe
Qualität an den Hochschulen zu schaffen. Es gibt noch
vieles andere mehr. Ich sage noch einmal: Obwohl das
im Wesentlichen originär die Aufgabe der Länder wäre,
machen wir das, weil wir starke Hochschulen wollen.

Albert Rupprecht






(A) (C)



(B) (D)


Das ändert aber nichts daran, dass wir eines nicht
brauchen: dass viele junge Menschen aufgrund von fal-
schen Vorstellungen, falschen Informationen und fal-
schen Werturteilen an die Hochschulen gehen und nach
Jahren dann feststellen, dass sie in der beruflichen Bil-
dung eigentlich wesentlich besser aufgehoben wären.
Wenn ein Drittel der Studierenden die Hochschulen ohne
Abschlüsse wieder verlassen, ist das doch ein klares In-
diz, dass die Entscheidung vorher nicht treffsicher und
richtig war.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Dass die Bedingungen nicht gestimmt haben!)


Wir brauchen es nicht, dass zwei Drittel eines Jahr-
gangs an die Hochschulen gehen, wenn zur selben Zeit
Lehrstellen umfänglich nicht besetzt werden können,
wenn wir zu befürchten haben, dass wir in wenigen Jah-
ren Millionen Facharbeiter zu wenig haben werden. Des-
wegen ist es unabdingbar gewesen, nicht nur kosmetisch
ein bisserl zu machen, sondern mit einem Maßnahmen-
paket die berufliche Bildung wesentlich zu stärken. Die-
ses Maßnahmenpaket steht im Koalitionsvertrag. Vieles
davon haben wir schon umgesetzt. Das Meister-BAföG,
über das wir heute debattieren, ist ein gewichtiger und
wesentlicher, aber nicht der einzige Baustein, den wir
setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen dreierlei: Wir brauchen die Gleichwer-
tigkeit von akademischer und beruflicher Bildung. Diese
Gleichwertigkeit darf nicht nur ein Motto sein, sondern
sie muss sich materiell abbilden. Deswegen haben wir
das Meister-BAföG nicht nur punktuell ein bisschen an-
gepasst, sondern wir werden es – das ist schon gesagt
worden – im parlamentarischen Verfahren auf dieselbe
Ebene wie die akademische Förderung stellen. Das heißt,
der Zuschussanteil wird von 44 Prozent gewichtig auf
50 Prozent erhöht und ist dann gleichgestellt mit dem
beim Studierenden-BAföG, der auch 50 Prozent beträgt.
Ich glaube, das ist ein richtiges Signal und tolles Ergeb-
nis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das war Kernanliegen der Unionsfraktion.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Auch unseres!)


Wie ist es dazu gekommen? Wir haben mit der Ministe-
rin das erste Paket vorbereitet, natürlich im Rahmen der
haushalterischen Mittel. Es war dann die Unionsfraktion
in der Führungsklausur im September unter Führung von
Volker Kauder, die gesagt hat: Wir wollen die Gleichwer-
tigkeit schon in diesem Schritt umsetzen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oi! Oi! Oi!)


– So war es, Herr Heil. Das ist historisch richtig. Den Be-
schluss gab es bei uns in der Fraktionsführungsklausur,
bei der SPD nicht. – Es war damals die klare Ansage,
dass wir das wollen. Die Haushälter haben das mit un-

terstützt, und ich bin heilfroh, dass die SPD diesen Weg
mitgegangen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Im Ergebnis heißt das, dass wir die Gleichwertigkeit
hinbekommen und 27 Millionen Euro im parlamentari-
schen Verfahren noch einmal draufsetzen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Ein Glück, dass wir auch den Mindestlohn haben! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schön, dass Sie auch den Mindestlohn durchgesetzt haben! – Dagmar Ziegler [SPD]: Die Frauenquote!)


Wir stellen ein Gesamtpaket von 56 Millionen Euro
vonseiten des Bundes inklusive – Kollege Heil hat es
gesagt – des Länderanteils von 80 Millionen Euro zu-
sätzlich für das Meister-BAföG pro Jahr zur Verfügung.

Geld alleine reicht aber nicht. Wir brauchen darüber
hinaus richtige und realistische Einschätzungen von Fä-
higkeiten und Fertigkeiten bei jungen Menschen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch bei Fraktionen!)


Deswegen ist es absolut wichtig, dass wir die Berufsori-
entierung ausbauen, übrigens auch an den Gymnasien. Es
kann nicht sein, dass sie dort bisher viel zu wenig gelebt
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen auch eine realistische Sicht auf Karri-
ereperspektiven bei den jungen Menschen. Es ist einfach
falsch, zu glauben, dass ein Akademiker mehr verdient.
Viele gehen der OECD hier auf den Leim. Das mag im
Durchschnitt stimmen, aber wenn man konkret auf die
Berufsgruppen schaut, sieht man: Es ist sehr wohl der
Fall, dass der Weg der beruflichen Bildung in vielen Be-
reichen auch aus finanzieller Sicht karriereperspektivisch
sehr attraktiv ist.

Lassen Sie mich abschließend noch eine bemerkens-
werte Sache ansprechen, die mich sehr freut. Das, was
wir nach meiner Einschätzung am Ende des parlamen-
tarischen Verfahrens beschließen werden, ist praktisch
deckungsgleich mit dem, was die CSU-Landesgruppe in
Kreuth vor einem Jahr bei ihrer Klausur beschlossen hat.


(Heiterkeit des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/ CSU] – Zurufe von der SPD)


Man sieht: Die CSU-Landesgruppe hat eine außerordent-
liche Weitsicht. Ich freue mich, dass sich die SPD-Kol-
legen dieser Weitsicht der CSU-Landesgruppe anschlie-
ßen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Martin Rabanus [SPD]: Dass Sie aus dem Nähkästchen der Verhandlungen plaudern!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814901400

Danke, Herr Kollege Rupprecht.

Albert Rupprecht






(A) (C)



(B) (D)


Angesichts der fünften Jahreszeit, in der wir uns be-
finden, begrüße ich recht herzlich auf der Tribüne das
Köln-Porzer Dreigestirn. Seien Sie herzlich willkommen
bei uns.


(Beifall)


Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Dörner aus
Bonn.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814901500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Mit Blick auf die Tri-

büne möchte ich sagen: Es heißt bei uns im Rheinland
„Alaaf“.


(Vereinzelt Heiterkeit)


Aber um ganz ernst zu werden: Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, die Ministerin hat eben über die geübte
Praxis der Opposition gesprochen. Mir scheint es so zu
sein, dass es die geübte Praxis der Regierung ist, die ei-
genen Gesetzentwürfe trotz der diversen Mängel, die wir
darin sehen, ganz großartig zu finden.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Haben Sie ihn denn gelesen?)


Vielleicht sind das zwei Seiten einer Medaille, und wir
können uns darauf einigen, dass wir, wenn wir im parla-
mentarischen Verfahren gemeinsam darüber diskutieren,
im besten Fall zu einem besseren Ergebnis kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir befinden uns
unzweifelhaft in einer Zeit sehr großer Veränderungen.
Einiges ist schon angesprochen worden: Digitalisierung,
neue technische Möglichkeiten, auch gesellschaftliche
Veränderungen; ganze Ausbildungsberufe verschwinden
innerhalb relativ kurzer Zeit, neue entstehen. Selbstver-
ständlich hat das Auswirkungen auf die Erwerbsbiografi-
en. Viele von uns werden das bedauern: 40-jährige oder
auch 10-jährige Dienstjubiläen werden zunehmend sel-
tener. Arbeitsplatzwechsel und berufliche Neuanfänge
werden Realität, werden Normalität. Auf diese Verände-
rungen muss sich auch unsere Bildungsförderung einstel-
len. Darauf müssen die Ausbildungsförderung und auch
die Aufstiegsförderung reagieren. Wir sehen, dass Ihr
Gesetzentwurf da deutlich zu kurz gesprungen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Sie feiern eine Novelle, die ein Schritt ist; das will ich
gar nicht bestreiten. Aber sie ist eben auch nicht mehr.
Wir meinen, wir müssen hier ganz dringend den Blick
öffnen. Wir dürfen uns nicht mehr nur auf die Aufstiegs-
fortbildung innerhalb eines einmal gewählten Berufsfel-
des konzentrieren. Das ist der Unterschied zu Ihnen und
der Punkt, den wir in dieser Debatte betonen wollen. Ihr
Gesetzentwurf greift diesen Aspekt aber gerade nicht auf.
Deshalb hat er die Zukunft zu wenig im Blick.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Kollegin hat schon gesagt: Es gibt in Ihrem
Gesetzentwurf auch eine ganze Reihe von Punkten, die
wir begrüßen. Dazu gehört zum Beispiel die Anhebung
der Leistungen und der Freibeträge. Ich habe mich auch
gefreut, zu hören, dass wir beim Unterhaltsbeitrag mit
einer Erhöhung auf 50 Prozent rechnen können; das un-
terstützen wir natürlich. Das ist eine gute Entwicklung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wunderbar!)


Aber auch hier gilt das, was wir bei der BAföG-Novel-
le vorgetragen haben: Diese Erhöhung kommt sehr, sehr
spät, und angesichts der tatsächlichen Preisentwicklung
fällt sie einfach zu gering aus. Diese Kritik können wir
Ihnen nicht ersparen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An einem weiteren Punkt ist Ihr Gesetzentwurf leider
nicht mutig genug: Sie versprechen die Durchlässigkeit
zwischen akademischer und beruflicher Bildung. Schaut
man aber genau hin, dann sieht man: Es entpuppt sich
diese Durchlässigkeit doch als Einbahnstraße. Es ist ja
super – wir finden das absolut richtig –, dass Bache-
lorabsolventen und Studienabbrecher zukünftig Meis-
ter-BAföG bekommen können. Aber warum wird einer
erfahrenen Fachkraft nicht das Masterstudium ermög-
licht? Das wäre aus unserer Sicht tatsächliche und echte
Durchlässigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir müssen die
Bildungsförderung endlich für andere Weiter- und Fort-
bildungsmaßnahmen öffnen. Sonst werden weiterhin zu
viele von der Weiterbildungsförderung faktisch ausge-
schlossen bleiben. Ich habe da insbesondere die älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick. Gerade
einmal 18 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger
von Meister-BAföG sind älter als 35 Jahre. Unter lebens-
langem Lernen verstehen wir etwas anderes. Wir finden,
an der Stelle besteht deutlicher Handlungsbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Ein weiterer Punkt: Gerade einmal 32 Prozent der Ge-
förderten waren Frauen. Dabei gibt es beispielsweise ge-
nug Krankenschwestern oder Verkäuferinnen, die schon
lange nach einer neuen beruflichen Herausforderung oder
nach neuen Perspektiven suchen. Da ist die Frage – die
Ministerin hat eben davon gesprochen –: Was ist gerecht?
Wir finden es nicht gerecht, dass diese Personengruppe,
gerade Frauen, nicht in den Genuss dieser Förderung
kommt. Auch an der Stelle wollen wir etwas verändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn es ist völlig richtig, wie wir hier gehört haben: Auf-
stieg durch Bildung muss für jede und für jeden ein er-
füllbarer Wunsch sein.

Vizepräsidentin Claudia Roth






(A) (C)



(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, was sollte also pas-
sieren? Wir brauchen endlich eine konsequente Förde-
rung des lebenslangen Lernens. Es ist an der Zeit, die
Weiterbildungsförderung und auch die Aufstiegsförde-
rung zu öffnen, sie unabhängiger zu machen, mehr Zu-
gänge zu schaffen, auch für Ältere und auch für Men-
schen mit geringer Vorbildung. Dafür haben wir mit
unserer „Bildungszeit PLUS“ einen Vorschlag gemacht,
der beinhaltet, dass alle zertifizierten Fort- und Weiter-
bildungen gefördert werden können, die zu einem aner-
kannten Abschluss führen. Weil das die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer natürlich Zeit und Geld kostet, schlagen
wir diesen sozial gestaffelten, individuellen Mix aus Dar-
lehen und Zuschüssen vor.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss zum Schluss kommen und will noch einmal
versöhnlich sagen: Alles in allem sehen wir es durchaus
so, dass Sie mit dem Gesetzentwurf an wichtigen Schrau-
ben drehen, und Sie drehen auch in die richtige Richtung.
Etwas mehr Weitblick und die Öffnung der Förderung
wären aus unserer Sicht aber gut und wichtig, um den
Weiterbildungsbereich fit für die Zukunft zu machen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814901600

Vielen Dank, Kollegin Katja Dörner. – Nächster Red-

ner: Oliver Kaczmarek für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1814901700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, dieser Gesetzentwurf wird zu Recht heute an
der prominentesten Stelle im Plenarablauf besprochen;
denn es geht um eine bildungspolitische Grundsatzfrage.
Es geht nämlich um die hier schon zitierte Gleichwertig-
keit von beruflicher und akademischer Bildung und im
Wesentlichen auch um die Wertschätzung für die beruf-
liche Bildung.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Diese wird eben nicht durch Plakate oder Sonntagsreden
dokumentiert, sondern durch das, was bei den Menschen
ankommt, und dadurch, wie wir es schaffen, Karrierewe-
ge zu eröffnen, und ich glaube, hier haben wir in dieser
Wahlperiode schon eine ganze Menge erreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will die BAföG-Novelle und das Meister-BAföG
noch einmal im Zusammenhang betrachten:

Wir haben in allen Debatten – auch denen zur
BAföG-Novelle – deutlich gemacht, dass das für uns zu-

sammengehört und dass hier die gleichen Ziele verfolgt
werden.

Wir haben erstens gesagt: Es muss eine substanzielle
Erhöhung geben. Das erreichen wir beim BAföG mit der
Erhöhung der Freibeträge und Bedarfssätze ab dem kom-
menden Wintersemester um 7 Prozent. Das hat es in die-
ser Größenordnung seit 2008 nicht mehr gegeben. Beim
AFBG – dem Meister-BAföG – erreichen wir das über
die Erhöhung des Zuschussanteils. Bei beiden Gesetzen
ist also eine substanzielle Erhöhung gegeben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Zweitens haben wir gesagt: Es soll eine strukturelle
Modernisierung geben, nämlich eine Annäherung an die
Lebenswirklichkeit und an veränderte Bildungsbiogra-
fien. Auch das werden wir erreichen. Wir haben beim
BAföG die Bachelor-Master-Lücke geschlossen und
viele andere Dinge gemacht, und wir werden auch beim
Meister-BAföG neue Zielgruppen erreichen. Das Ge-
setzgebungsverfahren dafür haben wir jetzt noch vor uns,
und das eine oder andere an dem vorliegenden Gesetz-
entwurf werden wir sicherlich noch verändern.

Drittens haben wir gesagt: Eine besondere Bedeutung
muss sich nicht nur, aber auch darin niederschlagen, wie
man das haushaltspolitisch unterlegt. Einige Beispiele
dafür möchte ich hier gerne noch einmal nennen:

Beim BAföG werden nicht einmalig, sondern jedes
Jahr 1,2 Milliarden Euro zur Entlastung der Länder zur
Verfügung gestellt, wie dies im Koalitionsvertrag vorge-
sehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Darüber hinaus sind in der Novelle jährlich 500 Millio-
nen Euro zusätzlich und 300 Millionen Euro für Darle-
hensanteile am Studierenden-BAföG vorgesehen. Diese
Mittel werden nicht im BMBF-Etat zusammengekratzt,
sondern obendrauf gelegt. Es sind also zusätzliche Aus-
gaben. Das ist eine ganz klare Schwerpunktsetzung, die
wir schon bei der BAföG-Novelle vorgenommen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Schöne beim Aufstiegsfortbildungsförderungsge-
setz ist, dass das, was wir im Gesetzgebungsverfahren
jetzt vielleicht noch vorhaben, durch die Weitsicht unse-
rer Haushaltspolitiker schon im Haushalt vorgesehen ist,
bevor der Gesetzentwurf überhaupt verabschiedet wurde.
Das ist also auch on top, wurde obendrauf gelegt. Das
zeigt: Wir wollen, dass die Mittel für die Weiterbildungs-
förderung direkt bei den Menschen ankommen, und uns
hier nicht auf Sonntagsreden beschränken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es ist aber völlig klar:
Nicht alle Aufgaben, die wir auf dem Weg in die Wis-
sens- und Dienstleistungsgesellschaft für Fachkräfte
schultern müssen, sind damit erledigt.

Katja Dörner






(A) (C)



(B) (D)


Ich habe mich ein bisschen über die Botschaft im An-
trag der Grünen gewundert, die ich heute Morgen in den
Tickern gelesen habe: Sie wollen statt Meister-BAföG
„für wenige“ Weiterbildung für alle.

Erstens finde ich, dass 172 000 durch das Meis-
ter-BAföG Geförderte gar nicht so wenig ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Es geht hier nicht um ein Instrument der
Elitenförderung oder sonst etwas, sondern um eine ge-
zielte Förderung beim Übergang in die Wissensgesell-
schaft. Letztlich geht es auch um die Verbesserung der
Position von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, de-
nen wir mit diesem Gesetzentwurf einen Aufstieg durch
Qualifizierung ermöglichen wollen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Insofern ist das auch etwas, was für breite Zielgruppen in
Betracht kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen die Debatte jetzt weiterführen. Im Über-
gang zur Wissensgesellschaft brauchen wir für alle, die
sich darauf vorbereiten wollen – ob in der akademischen
Weiterbildung oder für diejenigen, die Grundbildungsde-
fizite haben –, Instrumente; wir brauchen Zeit, Geld und
Beratung.

Nicht alles muss aber der Staat leisten. Ich finde es
sehr bemerkenswert, dass in der Metall- und Elektroin-
dustrie ein entsprechender Tarifvertrag mit Bildungszei-
ten vereinbart wurde, den ich beispielgebend finde.


(Beifall bei der SPD)


Aber wir müssen eben auch unsere Instrumente über-
prüfen. Dafür finde ich auch hier in dieser Debatte viele
Ansätze, zum Beispiel Bildungsprämien und die Verbes-
serung und Glättung der AFBG-BAföG-Schnittstellen,
damit auch lebensbegleitendes Lernen ermöglicht wird.
Ich freue mich auf die Ausschussdebatte darüber.

Meine Damen und Herren, wir müssen deswegen je-
weils auf die Lebenssituation schauen. Wir müssen auf
das schauen, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
beim Übergang in die Wissensgesellschaft brauchen. Wir
müssen uns die Instrumente genau ansehen und sie sinn-
voll miteinander verbinden, damit wir den Menschen den
Weg in die Wissensgesellschaft, den wir alle gehen wol-
len, erleichtern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814901800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in der

Debatte: Dr. Thomas Feist für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Martin Rabanus [SPD])



Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1814901900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine werten Kolle-

ginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Frau Dörner, was Sie erzählen, ist einfach nicht wahr.
Deswegen muss ich das am Anfang klarstellen. Wir ha-
ben – und zwar in beide Richtungen – eine Durchlässig-
keit zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Ich
bin der lebende Beweis. Wir können uns vielleicht ein-
mal darüber unterhalten.

Wissen Sie, ich habe einen Handwerksberuf – Hei-
zungsmonteur, also richtig mit Arbeit und Hände-dre-
ckig-Machen und so etwas – gelernt. Dann habe ich
Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie studiert.
Im Gegensatz zu Ihnen habe ich aber kein Abitur. All
das ist möglich in diesem Land. Und wenn Sie sagen:
„Das ist nicht möglich“, dann erzählen Sie zum Beispiel
den jungen Leuten, die da oben sitzen, die Unwahrheit.
Deswegen: Wir haben eine Durchlässigkeit nach beiden
Richtungen hin. Und dass wir das Meister-BAföG erhö-
hen, ist eine gute und richtige Sache.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814902000

Ich nehme aufgrund Ihres Nickens an, dass Sie eine

Zwischenfrage oder -bemerkung erlauben.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1814902100

Aber mit großer Freude.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814902200

Frau Dörner, bitte.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814902300

Herr Feist, Sie haben mir ja offensichtlich zugehört.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja!)


Ich habe eine ganz kurze Zwischenfrage. Mitnichten
habe ich – das werden Sie mir doch sicher bestätigen – in
Abrede gestellt, dass ein Lebensweg wie der Ihre bzw.
eine Berufskarriere, wie Sie sie absolviert haben, in un-
serem Land nicht möglich sind, sondern ich habe gesagt,
dass es auch in Ihrem Falle bzw. generell nicht möglich
gewesen wäre, in diesem Kontext Meister-BAföG zu be-
ziehen. Das ist der Punkt, den ich gemacht habe. Es ging
um die Frage: Wann bekommt man welche Förderung?
Und da ist die Durchlässigkeit weiterhin nicht so gege-
ben, wie wir es uns wünschen würden.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, aber das machen wir doch jetzt möglich!)


Das ist ein ganz anderer Kontext als der, den Sie hier
erwähnt haben.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1814902400

Das ist wirklich eine ganz interessante Vermutung, die

Sie da anstellen, Frau Kollegin. Ja, ich habe studiert, und
ich habe dafür kein Meister-BAföG bekommen. Aber na-

Oliver Kaczmarek






(A) (C)



(B) (D)


türlich kann man Meister-BAföG bekommen, wenn man
ein Studium angefangen hat. Wir sorgen doch jetzt mit
dieser Gesetzesnovelle gerade dafür, dass diejenigen, die
ein Bachelorstudium angefangen und es auch vollendet
haben, in den Genuss des Meister-BAföGs kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wenn Sie richtig – so wie ich es bei Ihnen getan habe –
zugehört hätten, hätten Sie auch mitbekommen, dass je-
mand, der ein Meisterstudium abgeschlossen hat, dieses
auch anrechnen lassen kann und dafür BAföG bekommt.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das kontrollieren Sie mal bitte! Da bin ich gespannt, was dabei rauskommt! – Gegenruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wollen wir doch mal abwarten!)


Insofern geht Ihre Frage wirklich am Ziel vorbei. Wir
haben eine gute Durchlässigkeit, und wir verbessern die-
se mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf noch er-
heblich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


„Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ ist ein sper-
riger Begriff; deswegen spricht man auch vom „Meis-
ter-BAföG“. Ich möchte mich – weil schon viele Kollegen
etwas zu den verschiedenen Teilen dieser Gesetzesnovel-
le gesagt haben – heute auf das Meister-BAföG aus der
Sicht des Handwerks konzentrieren.

Spätestens wenn man an einer Meisterfeier teilnimmt,
wird man auf den Slogan des Handwerks „Die sichers-
ten Wertpapiere gibt es im Handwerk“ aufmerksam
gemacht. Da ist was dran. Denn ein Meisterbrief – das
haben wir gehört; man kann es aber nicht oft genug sa-
gen, weil darüber noch viele Mythen in der Gesellschaft
herumgeistern – sorgt dafür, dass man unterproportional
von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Die Gefahr, arbeitslos
zu werden, ist um 2,1 Prozent geringer, als wenn man ei-
nen akademischen Abschluss hat. Deswegen ist es wich-
tig, junge Leute zu ermutigen, den Weg der beruflichen
Bildung und der Aufstiegsfortbildung – das heißt eines
Meisterstudiums – zu gehen. Um dafür die Voraussetzun-
gen zu schaffen, werden wir dieses Gesetz novellieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden – das ist angesprochen worden – den
Zuschuss wesentlich erhöhen. Aber wir werden gerade
dort besonders aufstocken, wo Leistung belohnt wer-
den soll. Das heißt, demjenigen, der ein Meisterstudium
erfolgreich abgeschlossen hat, werden jetzt nicht mehr
25 Prozent des Darlehens erlassen, sondern 40 Prozent.
Leistung soll sich lohnen. Genau das ist Ausdruck dieses
Gesetzes. Deswegen ist dies ein guter Tag und ein gutes
Gesetz, ein Gesetz, das wir jetzt noch weiter verbessern
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Warum habe ich mich so auf die Meister bezogen? Ich
habe mich auf die Meister bezogen, weil sie nicht nur
Betriebe leiten und Ausbildungsplätze bereitstellen, son-
dern weil sie in unserem Land auch Vorbilder sind. Dies

zu unterstützen, das ist, denke ich, Aufgabe der Politik,
wie sie sein sollte.

Ich habe letztens in einer Diskussionsrunde mit Sozi-
alpädagogen flapsig das wiederholt, was unser Kammer-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1814902500
Ein Meister ersetzt fünf
Sozialarbeiter. – Da ist durchaus was dran. Der Wider-
spruch war überschaubar. Meister sind nicht nur wich-
tig, weil wir sie für Unternehmensnachfolgen brauchen,
sondern auch deswegen, weil wir Meister brauchen, ge-
standene Frauen und Männer, die in ihrem Beruf etwas
zuwege gebracht haben und mit Lebenserfahrung und
Wissen junge Leute ausbilden. Deswegen ist die Ände-
rung dieses Gesetzes, wie wir sie jetzt vornehmen wol-
len, wichtig und gut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Meister – da komme ich jetzt so langsam zum
Schluss, weil meine Redezeit abläuft – sind auch deswe-
gen eine besonders wertvolle Spezies in diesem Land,
weil sie in ihren Unternehmen Wirtschaftsleistung gene-
rieren und junge Leute ausbilden und weil sie das Rück-
grat der deutschen Wirtschaft darstellen. Angesichts der
erfolgreichen Entwicklung, etwa in meinem Bundesland
Sachsen, in dem das zweite Jahr in Folge mehr Lehr-
verträge als vorher abgeschlossen worden sind – über
2,4 Prozent mehr –, ist es wichtig, dass wir etwas für die
Ausbildung der Meister tun. Wenn wir sehen, dass wir in
den nächsten beiden Jahren – die Prognosen schwanken
da etwas – zwischen 550 000 und 580 000 Unterneh-
mensnachfolgen regeln müssen – allein in Sachsen be-
trifft das über 5 000 Unternehmen –, ist es höchste Zeit,
dass wir attraktive Bedingungen für diejenigen schaffen,
die sich in dieser Art und Weise fortbilden wollen und
Unternehmen übernehmen können.

Als letzten Punkt möchte ich die Regulierung auf
europäischer Ebene ansprechen; ich denke, auch das ist
wichtig. Wenn wir über die Wichtigkeit von Meistern
in Deutschland diskutieren, dann erinnere ich mich da-
ran, dass 2004 einige Berufsgruppen und Berufe aus der
Meisterpflicht herausgenommen worden sind. Dies hat
dazu geführt, dass die Zahl größerer Unternehmen aus-
gedünnt worden ist und kleine Ein-Mann-Unternehmen
an den Markt kamen, die eben nicht mehr ausbilden. Ein
Beispiel ist das Fliesenlegerhandwerk. Bei Gesellenfrei-
sprechungen kann man sehen, wie wenige in diesem Be-
reich ausbilden – das ist verschwindend gering.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, abschlie-
ßend mein Appell: Wenn man einmal einen Fehler ge-
macht hat, dann kann man ihn als solchen benennen. Wir
sollten versuchen, diesen Fehler zu beseitigen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814902600

Vielen Dank, Kollege Feist. – Abschließender Redner

in der Debatte ist Swen Schulz für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Thomas Feist






(A) (C)



(B) (D)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1814902700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich zunächst sagen, dass ich mich freue, heute hier als
Mitglied des Haushaltsausschusses in der Fachdebatte
sprechen zu dürfen.

Wir Haushälter gelten gelegentlich als etwas schwierig.


(Zurufe von der SPD: Nein! – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Nur die SPD-Haushälter! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das sehen wir nicht so! Ihr wart doch fleißig!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir gelten voll-
kommen zu Recht als schwierig: Wenn etwas unsinnig
oder nicht finanzierbar ist, dann geht das nicht durch un-
seren Ausschuss; Frau Hübinger stimmt mir da zu. Aber
Sie wissen ja, dass die Bildungs- und Forschungspolitik
unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung
genießt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir Haushälter sind ja Dienstleister für die Fachpoli-
tik. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist tatsächlich das
Meister-BAföG.

Die Bundesregierung hat eine Gesetzesnovelle vor-
gelegt, die in voller Jahreswirkung 30 Millionen Euro
zusätzliche Ausgaben vorsah. Der Haushaltsausschuss
hat diese Summe nicht nur akzeptiert und unterstützt,
sondern wir haben noch mehr gemacht. Wir haben zur
hellen Freude der Ministerin Wanka den Betrag mehr als
verdoppelt, nämlich auf 70 Millionen Euro jährlich ver-
besserte Förderung des Bundes,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind das gewesen, nicht die CSU!)


und das noch vor Verabschiedung der Novelle. Das ist
ein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang, der zeigt, wie
wichtig uns Bildung ist.

Auf diesem Weg haben wir dem Fachausschuss finan-
ziellen Spielraum gegeben, um den guten Gesetzentwurf
der Bundesregierung weiter zu verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ihr seid großartig!)


Wir tragen damit Sorge dafür, dass das Meister-BAföG
zeitgleich mit dem BAföG für Schüler und Studierende
eine ordentliche Verbesserung erfährt, und wir verwirk-
lichen, was wir schon im Koalitionsvertrag als Grund-
satz verankert haben: Die berufliche Bildung ist uns
genauso wichtig wie die akademische Bildung. Mit uns
gibt es keine Bevorzugung oder Benachteiligung eines
Bildungsweges, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bildung ist von großer Bedeutung. Das ist nicht nur
ein Sonntagsredenspruch. Für die Menschen, ihre Chan-

cen, den sozialen Zusammenhalt, für Wirtschaft und
Arbeit ist Bildung zentral. Bildung darf nicht am leeren
Geldbeutel scheitern. Die Bildungsförderung liegt gera-
de uns von der SPD am Herzen. Wir wollen soziale Hür-
den abräumen. Darum war es uns so wichtig, das BAföG
zu verbessern, und darum verbessern wir auch das Meis-
ter-BAföG.

Aber das ist nicht alles. Wir haben uns im Koalitions-
vertrag noch einiges mehr vorgenommen. Wir haben uns
mit der Bildungsfinanzierung beschäftigt und Entschei-
dungen gefällt. Bereits im letzten Jahr haben wir die
Begabtenförderung für die berufliche Bildung gestärkt.
In diesem Jahr haben wir die Mittel für die Promotions-
förderung erhöht. Und wir starten im kommenden Jahr
eine Initiative für den wissenschaftlichen Nachwuchs im
Umfang von 100 Millionen Euro jährlich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Schü-
ler-BAföG, Studierenden-BAföG, Meister-BAföG, Be-
gabtenförderung berufliche Bildung und akademische
Förderung: Wir machen die Bildungsfinanzierung in
Deutschland leistungsstärker, besser und gerechter.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden uns noch genauer anschauen, wie es mit
der Förderung von Migrantinnen und Migranten weiter-
geht. Das Thema haben wir auch schon mit Blick auf das
Anerkennungsgesetz und auf nötige Qualifizierungsmaß-
nahmen in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Ange-
sichts der vielen Geflüchteten erhält dieses Thema noch
einmal eine ganz besondere, eine stärkere Bedeutung.


(Beifall bei der SPD)


Wir arbeiten also den Koalitionsvertrag bei der Bil-
dungsfinanzierung Punkt für Punkt ab, ja wir gehen sogar
deutlich darüber hinaus, mit einer prominenten Ausnah-
me – diesen Dissenspunkt innerhalb der Koalition will
ich auch gar nicht verschweigen –: das Deutschland-
stipendium.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!)


Dem Koalitionsvertrag zufolge sollen 2 Prozent der
Studierenden das Deutschlandstipendium erhalten. Doch
wir sehen eine Stagnation. Die zur Verfügung gestellten
Mittel werden nicht abgerufen. Das haben wir Sozialde-
mokraten immer kritisiert, und es zeigt sich jedes Jahr
aufs Neue, dass das Deutschlandstipendium keine gute
Idee war.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten stattdessen das Geld dafür verwenden, die
Begabtenförderwerke und das BAföG weiter zu stärken.


(Beifall bei der SPD)


Aber gut, wir sind eben in der Koalition unterschied-
liche Parteien mit unterschiedlichen programmatischen
Aussagen. Da wir in der Koalition ansonsten keine Pro-
bleme beim Thema Bildungsfinanzierung haben, kann






(A) (C)



(B) (D)


ich nur sagen: Das ist an dieser Stelle eine gute und er-
folgreiche Zusammenarbeit der Koalition auch und ge-
rade im Haushaltsausschuss und mit den Fachpolitikern.
Ich bedanke mich dafür.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814902800

Vielen Dank, lieber Kollege Schulz. – Damit schließe

ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7055, 18/7239 und 18/7234 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 5 a
und 5 b:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Mehr Klarheit für den Verbraucher bei der
Bezeichnung von Lebensmitteln – Das Deut-
sche Lebensmittelbuch und die Deutsche Le-
bensmittelbuch-Kommission reformieren

Drucksache 18/7238

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Harald Ebner, Friedrich Ostendorff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Echte Reform der Deutschen Lebensmittel-
buch-Kommission – Mehr Transparenz und
Beteiligung

Drucksache 18/7242

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze ein-
zunehmen bzw. zu wechseln.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen noch einmal,
Platz zu nehmen und Gespräche woanders zu führen, da-
mit ich die Aussprache eröffnen kann und damit die erste
Rednerin die gebührende Aufmerksamkeit bekommt.

Ich erteile der Kollegin Gitta Connemann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1814902900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Früher

war alles besser“, heißt es zu Unrecht. Früher war nicht
alles besser, aber manches einfacher, jedenfalls wenn es
um die Auswahl von Lebensmitteln ging. Das Angebot
war sehr klein. Tante Emma beriet und erklärte selbst,
und vieles wurde zu Hause hergestellt. Zuhause ist für
mich Holtland, ein kleines Dorf in Ostfriesland, wo sich
Himmel und Erde küssen. Dort gab es übrigens nur einen

einzigen Laden. Frau Böden verkaufte Tilsiter. Krautsa-
lat machte unsere Mutter selbst, natürlich mit Zucker;
sonst schmeckt es nicht. Wir wussten, was wir aßen.

Die Zeiten ändern sich. Frau Böden ging. Selbstbe-
dienungsläden kamen auch zu uns nach Holtland. Das
Sortiment wurde größer und internationaler. Nicht jeder
wusste mehr, was auf dem Teller lag. In dieser Zeit ent-
stand das Deutsche Lebensmittelbuch, über das wir heute
sprechen. Es regelt in Leitsätzen, wie ein Produkt heißen
darf, wie es hergestellt wird und was drin sein muss. Es
ist ein Leitfaden. Es soll den Herstellern Orientierung
geben, zum Beispiel was in eine Kalbsleberwurst gehört
und wann sich ein Eis Speiseeis nennen darf. Wer sich an
diese Regeln hält, ist auf der sicheren Seite. Es soll Ver-
braucher vor Täuschung schützen; denn der Verbraucher
kann dort lesen, was laut Verkehrsauffassung zum Bei-
spiel unter einem Produkt wie Schinkenbrot zu verstehen
ist. Das Lebensmittelbuch ist also Bedienungsanleitung
und Wörterbuch in einem.

Inzwischen gibt es 21 Leitsätze für rund 2 000 Lebens-
mittel, übrigens demokratisch erarbeitet von den Mit-
gliedern der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission.
Sie kamen und kommen aus der Verbraucherschaft, der
Wirtschaft, der Wissenschaft und der Lebensmittelüber-
wachung. Alle Mitglieder eint: Sie haben gearbeitet wie
Herkules und Sisyphus in einer Person, und zwar immer
ehrenamtlich. Vor dieser Leistung ziehe ich meinen Hut.
Ich sage im Namen meiner Fraktion für diesen Einsatz
aller Mitglieder in den letzten 53 Jahren herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Arbeit der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom-
mission hat sich grundsätzlich bewährt. Aber die Zeiten
ändern sich auch heute. Inzwischen gibt es Lebensmittel
im Überfluss, übrigens so sicher und preiswert wie nie
zuvor. Dies verdanken wir unseren Landwirten, Bäckern,
Schlachtern, Gärtnern und Fischern, aber auch unseren
Herstellern. Heute Abend wird die Internationale Grüne
Woche in Berlin eröffnet. Das ist das Schaufenster der
Land- und Ernährungswirtschaft. Für meine Fraktion
sage ich: Wir sind stolz auf unsere deutsche Landwirt-
schaft und unsere deutsche Ernährungswirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Vielfalt führt aber auch zu Herausforderungen.
Das kennen Sie vielleicht selbst: Sie stehen vor Hun-
derten von Produkten im Supermarkt. Meine Frau Bö-
den würde heutzutage nur noch ein Drittel der Käsesor-
ten kennen. Wir selbst wissen immer weniger über die
Herstellung von Lebensmitteln. Kalbsleberwurst enthält
zum größten Teil Schweinefleisch. Wussten Sie das? Was
heute nach einem ausgewachsenen Lebensmittelskandal
klingt, ist aber das Originalrezept. Anders wäre Kalbsle-
berwurst gar nicht herzustellen und würde im Übrigen
auch nicht schmecken. Aber für uns stellt sich damit na-
türlich die Frage: Ist diese Bezeichnung noch zeitgemäß?

Die Leitsätze sind zum Teil veraltet. Zum Teil haben
sie mit der gängigen Verbraucherauffassung nichts mehr
zu tun. Was verstehen Sie unter einem Schinkenbrot? Ich

Swen Schulz (Spandau)







(A) (C)



(B) (D)


persönlich verstehe darunter ein Brot mit Schinken. Der
Hersteller liest aber im entsprechenden Leitsatz:

Es weist einen herzhaft-aromatischen Geschmack
auf. Ein Zusatz von Schinken ist nicht üblich.

Die Begründung lautet, in einem Bauernbrot sei ja auch
kein Bauer. Wenn sich der Hersteller an die Regel hält,
dann wird der Verbraucher nicht getäuscht. Aber er fühlt
sich enttäuscht; denn für ihn ist das Schinkenbrot etwas
anderes. Übrigens versteht er unter Fruchtcreme auch
eine Creme mit Früchten, aber tatsächlich kann sie ohne
Früchte sein, wie auch ein Pfirsich-Maracuja-Saft aus-
schließlich aus Äpfeln und Orangen bestehen kann. Das
kann kein Verbraucher nachvollziehen.

Wer sich jetzt beschweren will, zum Beispiel bei der
Lebensmittelbuch-Kommission, muss gleich eine Be-
gründung mitliefern. Das können weder Sie noch ich;
ich jedenfalls nicht. Denn wer von uns ist Lebensmit-
teltechnologe? Es braucht am Ende Jahre, bis die Kom-
mission reagiert, auch reagieren kann. Das liegt an den
sehr schwierigen Verfahren und Abstimmungsprozessen.
Das ist übrigens nicht nur unsere Wahrnehmung, liebe
Elvira Drobinski-Weiß, lieber Alois Rainer, sondern auch
das Ergebnis eines Gutachtens, das das Bundesministe-
rium für Ernährung und Landwirtschaft, verehrte Frau
Kollegin, liebe Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth,
in Auftrag gegeben hat. Ich fand es herausragend, dass
unser Haus, das Ernährungsministerium, diesen Anlauf
gemacht hat – nicht nur kritisieren, sondern auch handeln
-; für diese Initiative gilt Ihnen, dem Minister und dem
Haus ein ganz herzlicher Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Gutachten bestätigte: Es besteht Handlungsbe-
darf. Deshalb sagen wir, die Koalitionsfraktionen: Wir
brauchen eine Reform des Deutschen Lebensmittelbuchs
und auch der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission,
besser heute als morgen; denn das Vertrauen der Verbrau-
cher ist eine wertvolle Währung, mit der nicht gespielt
werden darf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten schon vor zehn Jahren damit anfangen können!)


Wir als Fraktion wollen ein Lebensmittelbuch, das
seinen Namen verdient. Dafür muss der Anspruch von
Klarheit und Wahrheit gelten. Es muss drin sein, was
draufsteht; aber es muss eben auch draufstehen, was drin
ist. Irreführung und Täuschung darf es an dieser Stelle
nicht geben. Ich bin froh, dass sich auch die Fraktion der
Grünen dieser Erkenntnis angeschlossen hat und einen
entsprechenden Antrag nach unserem Antrag auf den
Weg gebracht hat.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


An der paritätischen Besetzung der Kommission wol-
len wir übrigens nicht rütteln; denn wir benötigen die
Sach- und Fachkenntnisse entlang der gesamten Kette
der Lebensmittelerzeugung. Wir brauchen die Lebens-
mittelüberwachung für die technischen Eigenschaften.

Wir brauchen die Wissenschaft, wenn es um Aspekte
der Lebensmittelsicherheit geht. Es geht natürlich auch
um Rezepturen; deswegen brauchen wir die Wirtschaft,
die Hersteller. Aber es geht auch ganz wesentlich um die
Verbraucherinnen und Verbraucher, darum: Was verste-
hen sie wirklich unter einem Produkt? Nur so können alle
Interessen unter einen Hut gebracht werden.

Was wir brauchen – das bestätigt das Gutachten –,
sind klare Ziele. Das ist schwer, wenn das Lebensmit-
telbuch Wörterbuch und Bedienungsanleitung in einem
sein will. Es stellt sich die Frage, wie man das besser
moderieren kann. Wir brauchen straffere Verfahren, übri-
gens auch für die Arbeit der Kommission. Wir brauchen
mehr Transparenz und eine bessere Verständigung zwi-
schen Kommission und Öffentlichkeit; denn eines darf
nicht entstehen: der Eindruck von Geheimniskrämerei.
Das führt zu Misstrauen.

Wichtige Erkenntnisse darüber, was wir zu tun haben,
lieferte uns übrigens auch – das tut es nach wie vor –
das Internetportal Lebensmittelklarheit.de. Es hat sich
bewährt. Das sage ich mit Dank an das Bundesministeri-
um für Ernährung und Landwirtschaft; denn es finanziert
dieses Portal ganz wesentlich. Ich sage das aber auch mit
Dank an die Verbraucherzentralen, die es initiiert haben
und die mit uns gemeinsam die Verbraucherrechte bewa-
chen und hüten. Herzlichen Dank an beide!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Etwa 30 Prozent der dort gemeldeten Produkte wur-
den von den Anbietern geändert. Insgesamt gab es Tau-
sende von Meldungen. Es gab inzwischen an dieser
Stelle 700 Platzierungen. Es wurden etliche Produkte
geändert; sie wurden verbraucherfreundlicher gestaltet.
Tees wurden umbenannt. Wenn ein Tee Himbeer-Vanil-
le-Traum heißt, dann muss er am Ende auch Himbeere
und Vanille enthalten. Wenn er es nicht tut, dann darf er
nicht so genannt werden. Die Verpackungen wurden neu
aufgemacht.

Die Einträge auf dieser Internetplattform sind für uns
wie eine Wünschelrute. Es lohnt sich, diesen zu folgen;
denn in vielen Fällen – nicht in allen – zeigen sie, wo
Handlungsbedarf besteht. Deshalb wollen wir, dass die
Internetplattform zukünftig stärker in die Arbeit einbezo-
gen wird; das muss nicht sein, aber es soll sein. Zudem
brauchen wir mehr Begleitforschung.

Wir müssen auch etwas an den Verfahren ändern. Sie
müssen gestrafft werden.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben zehn Jahre Zeit gehabt!)


Eine durchschnittliche Bearbeitungszeit von zweieinhalb
Jahren ist viel zu lang. Das verhindert Aktualisierungen
und neue Leitsätze. Dafür brauchen wir aber auch eine
bessere finanzielle und personelle Ausstattung des Sekre-
tariats. Eine Halbtagskraft kann die Arbeit nicht alleine
erledigen, und die ehrenamtlichen Mitglieder sollten sich
auf etwas anderes konzentrieren dürfen als auf Hotelbu-
chungen. Sie sollten übrigens auch eigene Anträge stel-
len dürfen.

Gitta Connemann






(A) (C)



(B) (D)


Wir sind davon überzeugt: Mehr Klarheit und Wahr-
heit bei Lebensmitteln, gerade auch beim Deutschen
Lebensmittelbuch, ist eine Chance für die Lebensmit-
telwirtschaft und ein Gewinn für Verbraucherinnen und
Verbraucher; denn das Vertrauen ist die wichtigste Wäh-
rung. Enttäuschen wir sie nicht! Dafür stehen wir ein.
Wir hoffen auf entsprechende Änderungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903000

Vielen Dank, Gitta Connemann. Danke auch für den

Hinweis, was das Bauernbrot nicht enthält.

Frau Haßelmann hat das Wort.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903100

Ich möchte, dass geklärt wird, wo der Minister ist.

Wir führen heute eine Debatte über das Thema Deutsche
Lebensmittelbuch-Kommission. Das ist ein TOP, den die
Koalition in der Kernzeit angesetzt hat. Ich glaube, der
Minister ist für morgen entschuldigt wegen der Internati-
onalen Grünen Woche, aber nicht für zwei Tage. Könnten
Sie das bitte klären? Ich sage das auch in Wertschätzung
der Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die heute
sprechen, und des Themas insgesamt, das der Koalition
sehr wichtig zu sein scheint; sonst würde man das nicht
in der Kernzeit debattieren.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903200

Darf ich das jetzt als Zitierantrag verstehen?


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903300

Ja.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903400

Dann haben die anderen PGFler das Wort. – Herr

Grosse-Brömer.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1814903500

Erstens. Hier ist die Parlamentarische Staatssekretärin

anwesend, die im Übrigen auch auf der Rednerliste steht.
Infolgedessen ist das Ministerium vertreten. Zweitens.
Der Minister ist zurzeit mit dem Bundespräsidenten beim
Presserundgang auf der Internationalen Grünen Woche.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Morgen!)


Ich würde empfehlen, das zumindest jetzt als Ent-
schuldigung zu akzeptieren. Wenn Ihnen der Bundesprä-
sident nicht als Entschuldigung ausreicht, dann müssen
wir darüber diskutieren. Ich finde aber, das ist eine ange-
messene Entschuldigung. Obwohl ich für das Ministeri-
um gar nicht zuständig bin, übermittele ich Ihnen diese
Information hiermit gerne.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903600

Frau Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903700

Dann bestehen wir nicht auf einer Abstimmung. Aber

ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde das nicht in Ord-
nung.


(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Wenn sich Dienstag die Parlamentarischen Geschäfts-
führer darauf verständigen, wer vonseiten der Bundesre-
gierung als entschuldigt gilt oder nicht und der Minister
Schmidt für den heutigen Tag nicht entschuldigt wird,
dann können meine Fraktion und ich nicht wissen, dass
er sich auf der Grünen Woche befindet.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Richtig!)


Der Minister ist für morgen entschuldigt, und das war
von uns sofort akzeptiert. Wenn es aber zwei Debatten in
der Kernzeit zu einem ihn betreffenden Thema gibt und
er nicht da ist, dann ist es doch selbstverständlich, dass
man seine Anwesenheit einfordert. Das ist unser gutes
Recht. Ich habe jetzt die Begründung für seine Abwe-
senheit gehört. Mich wundert sehr, dass Sie diesen TOP
trotzdem in der Kernzeit ansetzen. Wir bestehen aber
nicht auf einer Abstimmung.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Grüne Woche beginnt morgen früh! Es gibt überhaupt noch keine Stände, die man besuchen kann!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814903800

Es gibt also keinen Zitierantrag, über den wir abstim-

men müssen. Vielleicht können wir diese Frage auch im
Ältestenrat behandeln.

Mit Ihrer Zustimmung fahren wir jetzt in der Debatte
fort. Ich gebe Karin Binder das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814903900

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Auch ich finde das sehr kritikwürdig, was
Kollegin Haßelmann gerade angesprochen hat, vor allem
vor dem Hintergrund, dass wir heute zu diesem Tages-
ordnungspunkt, den ich für sehr beratungswürdig halte,
eine Sofortabstimmung durchführen sollen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin der Meinung, dass dieses Thema zusätzlicher
Vorschläge und Anregungen im Ausschuss bedarf. Wir
hätten aus dem Antrag der Regierungskoalition sicher-
lich noch ein bisschen mehr machen können, wenn Sie
uns die Möglichkeit gegeben hätten, mit den Fachpoli-
tikerinnen und Fachpolitikern im Ausschuss zu beraten;
denn ich glaube schon, dass es an der einen oder anderen

Gitta Connemann






(A) (C)



(B) (D)


Stelle durchaus noch Möglichkeiten gäbe, etwas zu ver-
bessern.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum reden wir heute über die Deutsche Lebensmit-
telbuch-Kommission und das Deutsche Lebensmittel-
buch? Wir reden darüber erstens, weil die Grüne Woche
beginnt – sonst hätten wir diesen prominenten Aufset-
zungstermin heute nicht –,


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und zweitens, weil seit Jahren heftige Kritik von Ver-
braucherinnen und Verbrauchern sowie den Verbänden
an der Arbeit dieser Einrichtung geübt wird, und zwar
sehr berechtigte Kritik.

Was ist denn eigentlich die Deutsche Lebensmittel-
buch-Kommission? Sie ist eine paritätische Zusammen-
setzung aus 32 Vertreterinnen und Vertretern aus der
Wissenschaft, aus der Lebensmittelüberwachung, aus
Verbraucherverbänden und aus der Wirtschaft. Wie sieht
die Arbeit dieser Kommission aus? Sie soll beraten, was
für die Verkehrsbezeichnung von Lebensmitteln sinnvoll
ist, damit Verbraucherinnen und Verbraucher möglichst
nicht getäuscht werden. Wir haben allerdings das Pro-
blem, dass diese Kommission in ihren Entscheidungen
durch die Lebensmittelwirtschaft mehr oder weniger
ständig blockiert wird; denn die acht Vertreter der Le-
bensmittelwirtschaft, die gegen alles sind, was eine ehr-
liche Verbraucheraufklärung eigentlich beinhaltet, haben
durch das Konsensprinzip, das diesem Gremium aufer-
legt ist, die Möglichkeit, alles zu unterlaufen.

Warum heißt Kalbsleberwurst „Kalbsleberwurst“, ob-
wohl keine Leber und nur ein kleiner Anteil Kalbfleisch
darin ist? Viele alte Menschen verlassen sich aber da-
rauf. Kalbfleisch ist für ihren Cholesterinspiegel weitaus
besser als Schweinefleisch. Aber in Kalbsleberwurst ist
85 Prozent Schweinefleisch.


(Zurufe der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU] und Alois Rainer [CDU/CSU])


Was ist an der Bezeichnung ehrlich? Ich muss sagen: Die
Leitsätze helfen doch nicht, wenn es hier eine Blockade-
haltung der Wirtschaftsvertreter gibt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt keine Transparenz bei diesem Gremium.
Nichts wird öffentlich gemacht. Es gibt keine Protokol-
le. Was soll das? Wir loben Lebensmittelklarheit und
-wahrheit. Es gibt ein Portal, in dem sich die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher beschweren dürfen. Prima!
Und was wird dann daraus? In der Deutschen Lebens-
mittelbuch-Kommission spielt das alles keine Rolle. Es
geht eben nicht darum, was die Verbraucher erwarten. Es
geht darum: Was ist die allgemeine Verkehrsauffassung?
Da haben sich bisher leider die Wirtschaftsvertreter sehr
stark durchgesetzt. Das Absurde im Zusammenhang mit
der Kalbsleberwurst habe ich Ihnen gerade schon erklärt.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Da ist aber Kalb drin!)


– Es ist Kalb drin. Wunderbar! Bisher waren es 15 Pro-
zent. Jetzt müssen es 25 Prozent sein. Na prima!

Mehr Klarheit für Verbraucherinnen und Verbraucher
finden die Damen und Herren, die sich dafür interessie-
ren, auf der Rückseite in 0,8 Millimeter großer Schrift.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da bekommt die Lesebrille eine ganz neue Bedeutung!)


Das lesen natürlich alle Konsumentinnen und Konsu-
menten während des Einkaufs so nebenher: 0,8 Millime-
ter. Ich habe meine Lupe heute vergessen. So ein Pech!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von daher: Es muss vorne draufstehen, was drin ist. Nur
dann gibt es wirklich Wahrheit und Klarheit.

Ich muss es noch einmal sagen: Die Sofortabstim-
mung heute halte ich für völlig daneben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der eine ganz große Kritikpunkt, weshalb wir uns
auf jeden Fall enthalten werden, obwohl ich zugestehe,
dass in Ihrem Antrag durchaus Ansätze sind, die wir un-
terstützen können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Ihre Analyse teile ich. Nur leider ist das, was dann daraus
wird, wieder das Problem: Es sollte. Es könnte. Es wäre
schön, wenn.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Sie haben den Antrag nicht genau gelesen!)


Das ist dann die Konsequenz. Ich würde mir wünschen,
dass wir daraus eine Verbindlichkeit machen. Das würde
ganz anders aussehen.


(Beifall bei der LINKEN – Elvira DrobinskiWeiß [SPD]: Das tun wir doch!)


Ihre Forderung ist, ein klares Ziel für das Deutsche
Lebensmittelbuch zu definieren:

Um die Arbeit der DLMBK zu erleichtern, ist die
Zielsetzung der Leitsätze klarzustellen. Der An-
spruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf
„Wahrheit und Klarheit“ soll prägende Wirkung auf
die Leitsätze entfalten.

So weit d’accord.


(Zuruf von der SPD: Aber?)


Diesem Ziel entsprechend sollten in die Gruppe
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch
Verbraucherforscher berufen werden.

Warum heißt es denn nicht „werden berufen“?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Elvira DrobinskiWeiß [SPD]: Werden doch auch!)


Unter „Verfahren zu vereinfachen und zu verkürzen“
heißt es dann:

Karin Binder






(A) (C)



(B) (D)


Zur Erhöhung der Effizienz der Arbeit der DLMBK
sollte die Arbeit der ehrenamtlichen Kommissions-
mitglieder aufgewertet … werden.

Es steht so oft das Wort „sollte“ in Ihren Vorschlägen. Ich
würde mir einfach wünschen, dass wir daraus eine Ver-
bindlichkeit machen. Dann wird ein Schuh daraus, und
dann können wir auch darüber reden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Völlig außen vor lassen Sie leider den Umstand, dass
es auch ganz andere Vorschläge gibt. Das möchte ich
heute der Vollständigkeit halber einmal erwähnen. Es
gibt durchaus Vorschläge von Verbraucherorganisatio-
nen. Foodwatch beispielsweise sagt, eine Überlegung
wäre, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission
aufzulösen und diese Aufgabe beim Bundesamt für Ver-
braucherschutz und Lebensmittelsicherheit anzusiedeln.
Dieser Vorschlag ist nach meinem Dafürhalten auf jeden
Fall bedenkenswert; denn ich sehe ein Problem: Nach
wie vor haben wir es mit einem ehrenamtlichen Gremi-
um zu tun. Alle Mitglieder mit Ausnahme der acht, die
von der Wirtschaft gestellt werden, müssen das neben ih-
rer beruflichen Tätigkeit machen oder werden von nicht
gewinnorientierten Organisationen dafür abgestellt. Alle
außer diesen acht haben es also wesentlich schwerer. Für
die acht, die von ihren Betrieben bezahlt werden, ist das
natürlich kein Problem. Alle anderen, die wirklich ehren-
amtlich arbeiten, müssen aber schauen, wie sie die Zeit
dafür aufbringen. Und ich behaupte: In einer Zeit, in der
Lebensmittel mittlerweile überwiegend als Fertigpro-
dukte konsumiert werden, für die dann die Überprüfung
stattfinden muss, sind Ehrenamtliche ganz schön gefor-
dert. Daher halte ich die Überlegungen von Foodwatch
für berechtigt. Man sollte im Ausschuss noch einmal da-
rüber nachdenken.


(Beifall bei der LINKEN)


Zwar ist in dem hier vorliegenden Koalitionsantrag
die Forderung enthalten:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, zeitnah Vorschläge zur Reform des DLMB
und der DLMBK vorzulegen.

Das kann ich nur begrüßen und unterstreichen. Aber
dann kommt es:

Ziel muss es dabei sein, die Akzeptanz der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher für die Leitsätze des
DLMB zu erhöhen …

Es soll also die Akzeptanz der Verbraucherinnen und
Verbraucher für diese Leitsätze erhöht werden, wobei wir
ja am Beispiel der Kalbsleberwurst festgestellt haben,
wie sinnvoll die sind. Dafür muss ich die Akzeptanz der
Verbraucherinnen und Verbraucher erhöhen? Das verste-
he ich nicht. Ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh dar-
aus: Die Leitsätze müssen sich an der Erwartungshaltung
der Verbraucherinnen und Verbraucher orientieren. Das
ist doch der Sinn und Zweck. Ich muss doch den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit geben, sich
anhand der aufgestellten Leitsätze zu entscheiden. Letzt-

endlich erwarten die Verbraucherinnen und Verbraucher,
dass das draufsteht, was drin ist.


(Beifall der Abg. Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Bisher ist das nicht der Fall, obwohl es, wie Frau
Connemann gesagt hat, 21 Leitsätze zu 2 000 Lebens-
mitteln gibt. Man sieht ganz deutlich, dass die Leitsätze
nicht der Erwartungshaltung entsprechen. Deshalb muss
umgekehrt angesetzt werden. Wir müssen erreichen, dass
die Leitsätze dem entsprechen, was Verbrauchererwar-
tung ist und was auch Verbraucherverbände erwarten.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Daher ist es für mich extrem wichtig, dass mit dieser Re-
form auch ein Verbandsklagerecht eingeräumt wird.

Ich bin dankbar, dass auch die Grünen einige Punkte
zur Kennzeichnung aufgegriffen haben; denn ich denke,
dass die Bezeichnung eines Lebensmittels auch ganz viel
mit der Lebensmittelkennzeichnung zu tun hat. Darüber
sollte im Zusammenhang mit dieser Reform ebenfalls
nachgedacht werden. Ich erwähne nur die Lebensmittel-
ampel. Auf jeden Fall sollten wir dieses Thema angehen
und dann auch eine Evaluierung durchführen, um heraus-
zufinden, was das bringt und ob man nicht vielleicht doch
eine ganz andere Lösung finden muss.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN])



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814904000

Vielen Dank, Kollegin Binder. – Nächste Rednerin ist

Elvira Drobinski-Weiß für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1814904100

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren

auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
hat wohl selten ein Antrag im Bundestag so schnell Wir-
kung gezeigt wie unser Antrag zur Reform des Lebens-
mittelbuches, den wir heute gemeinsam mit unserem Ko-
alitionspartner hier einbringen; denn gestern haben wir
überraschend erfahren, dass Minister Schmidt heute –
also, liebe Karin, doch sehr zeitnah – seine Eckpunkte
zur Reform des Lebensmittelbuches vorstellt. Das freut
uns natürlich;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


denn wir haben seit Monaten gewartet, und es ist nichts
passiert. Etwas befremdlich stimmt mich nur, dass wir
als Mitglieder der Regierungsfraktionen darüber so spät
informiert wurden,


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hui! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Opposition gar nicht!)


Karin Binder






(A) (C)



(B) (D)


obwohl wir doch immer nach dem Stand der Dinge ge-
fragt haben. Na ja, was wahr ist, muss wahr bleiben.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Nun gut. Dann kommt hoffentlich endlich Fahrt auf in
Sachen Lebensmittelbuchreform.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Fraktion, wenn wir mit unseren Anträgen so erfolg-
reich sind, dann fallen mir noch jede Menge Themen ein,
zu denen wir Anträge einbringen müssen, damit Sie aus
der Warteschleife kommen und endlich etwas passiert.
Ein Stichwort für mich ist natürlich – Sie sehen es mir
nach – die Gentechnik.

Doch nun zurück zum eigentlichen Thema. Schenken
wir der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission die
Aufmerksamkeit, die sie verdient. Die Grüne Woche ist
dafür eine gute Gelegenheit. Karin, ich sehe das sehr viel
positiver als du.

Für die große Mehrheit der Verbraucherinnen und Ver-
braucher dürfte das Lebensmittelbuch bislang ein Buch
mit sieben Siegeln sein.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Doch das Schattendasein, das die Deutsche Lebensmit-
telbuch-Kommission in der Öffentlichkeit führt, wird ih-
rer Bedeutung nicht gerecht; denn sie bestimmt maßgeb-
lich mit, was in den Lebensmitteln enthalten ist, die wir
als Konsumenten in den Regalen der Supermärkte wie-
derfinden. Inzwischen hat die Deutsche Lebensmittel-
buch-Kommission in ihren Leitsätzen mehr als 2 000 Le-
bensmittel aufgelistet und beschrieben; Frau Connemann
hat darüber schon informiert. Sie gelten als wichtige
Richtlinien dafür, auf welche Art und Weise Produkte
hergestellt werden müssen, wenn sie einen bestimmten
Namen tragen. Für die Unternehmen liegen die Vorteile
auf der Hand: Gemeinsame Standards garantieren einen
fairen Wettbewerb und verhindern, dass schwarze Scha-
fe Produkte, die von minderwertiger Qualität sind, unter
dem gleichen Namen verkaufen.

Vor allem sind gemeinsame Leitsätze aber wichtig, um
Verbraucherinnen und Verbraucher beim Griff ins Super-
marktregal vor Täuschung und Irreführung zu schützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


Wenn sie auf dem Etikett einer Verpackung „Pfirsich-Ma-
racuja“ lesen, dann sollen sie sicher sein können, dass
in dem Produkt auch solche Früchte enthalten sind und
nicht nur deren Aromen; denn Verbraucher sind keine
Detektive. Sie sollen ohne Lupe, Handy oder einen Ab-
schluss in Ernährungswissenschaft in der Lage sein, zu
erkennen, was sie kaufen. Und genau da liegt die Krux.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele der Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch
sind heute so formuliert, dass sie dem Verbraucherver-
ständnis widersprechen. Das heißt schlicht: Wir verste-
hen sie nicht. Schokoladenpudding muss demnach nicht

mehr als 1 Prozent Kakao enthalten. In Lammwurst darf
auch Schweinefleisch verarbeitet sein, und wer glaubt,
Kalbswürstchen enthielten vor allem Kalbfleisch, der
irrt. Doch das Bedürfnis der Menschen nach klaren,
wahrheitsgemäßen Informationen darüber, wie Lebens-
mittel hergestellt und verarbeitet wurden, ist in den letz-
ten Jahren gewachsen. Sie wollen sich darauf verlassen
können, dass Lebensmittel das enthalten, was der Name
auf der Verpackung ihnen verspricht. Kennzeichnungen,
die eine Qualität suggerieren, die nicht gegeben ist, wol-
len sie nicht. Davon zeugen die vielen Meldungen, die
beim Portal Lebensmittelklarheit.de von Verbraucherin-
nen und Verbrauchern eingehen, die sich durch Produkt-
kennzeichnungen getäuscht fühlen.

Im Koalitionsvertrag haben wir durchgesetzt, dass
sich die Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch künf-
tig klar an den Erwartungen der Konsumenten orien-
tieren. Damit kommt der Verbraucherforschung bei der
Erarbeitung der Leitsätze eine ganz wichtige Funktion
zu. Heute sind in der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom-
mission – Frau Binder hat es schon erwähnt – Rechts-
und Wirtschaftswissenschaftler, Ernährungsphysiologen
und Lebensmitteltechniker vertreten. Aber es gibt in der
Gruppe der Wissenschaftler niemanden, der systematisch
hinterfragt, welche Erwartungen die Verbraucherinnen
und Verbraucher tatsächlich mit einer bestimmten Pro-
duktkennzeichnung verknüpfen. Wir wollen deshalb,
dass künftig auch zwingend Vertreter der Verbraucher-
forschung in die Lebensmittelbuch-Kommission berufen
werden und die Ergebnisse der Verbraucherforschung
besser genutzt werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zudem müssen den Mitgliedern der Kommission mehr
eigene finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, damit sie,
wenn es notwendig ist, selbst Verbraucherbefragungen in
Auftrag geben können. Wir wollen, dass die Erkenntnisse,
die im Internetportal Lebensmittelklarheit.de gesammelt
werden, in die Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission
einfließen. Wird dort eine verwirrende Kennzeichnungs-
praxis offensichtlich, soll sich die Kommission mit die-
ser Problematik auseinandersetzen.

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, mit dem Antrag
haben wir eine gute Vorlage geschaffen, um ein neues
Kapitel in der Geschichte der Deutschen Lebensmittel-
buch-Kommission zu schreiben. Wenn wir den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern endlich die Rolle einräu-
men, die ihnen zusteht, dann bin ich auch sicher, dass es
ein Erfolg wird.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814904200

Nicole Maisch ist die nächste Rednerin für die Frakti-

on Bündnis 90/Die Grünen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814904300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission und ihre
Leitsätze, die häufig völlig an den Erwartungen der Ver-

Elvira Drobinski-Weiß






(A) (C)



(B) (D)


braucherinnen und Verbraucher vorbeigehen, stehen seit
Jahren zu Recht in der Kritik. Deshalb ist es gut, dass
sich die Koalition des Themas annimmt und einen Antrag
vorgelegt hat, den auch wir nicht komplett schlecht fin-
den. Ich finde es total interessant, dass der Minister seine
Eckpunkte heute der Öffentlichkeit, aber offensichtlich
weder dem Koalitionspartner noch dem Parlament prä-
sentieren will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wurde gesagt, er hätte wichtige Termine auf der
Grünen Woche. Wir haben noch einmal nachgefragt,
wann diese dann anfangen. Das ist um 12 Uhr. Offen-
sichtlich hat sich der Minister zu Fuß auf den Weg in die
Messehallen gemacht. Wir finden das ökologisch gut,
aber angesichts der Tatsache, dass wir als Parlament das
Recht haben, mit dem Minister zu sprechen, finde ich es
eine ziemliche Frechheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ein letzter Satz dazu: Die offizielle Eröffnung der
Grünen Woche beginnt heute Abend. Es wird auch über
Nacht noch an den Ständen geschraubt. Baut der Minister
den Stand des BMEL selbst? Was macht er jetzt eigent-
lich auf der Grünen Woche? Warum diskutiert er nicht
mit uns hier?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die Kolleginnen und Kol-
legen haben viele absurde Beispiele gebracht: Zitro-
nenlimo ohne eine Spur von Zitrone, Seelachs, der kein
Lachs, sondern ein dorschartiger Kohlfisch ist. Es gibt
eine ganze Menge zu verändern. Das ist natürlich keine
sinnvolle Verbraucherinformation, sondern quasi staat-
lich abgesicherte Verbrauchertäuschung. Dass das nicht
so bleiben kann, sehen Sie auch selbst. Deshalb haben
Sie einen Antrag vorgelegt. Dort stehen positive Sachen
drin. Wir haben noch zwei grundsätzliche Punkte, die
man verbessern müsste, damit mehr Klarheit und Wahr-
heit herrschen.

Der erste Punkt ist eine grundsätzliche Orientierung
der Bezeichnung an den Verbrauchererwartungen. Das
heißt, man muss hinterher die Verbraucher befragen:
Ist die Bezeichnung wirklich das, was ihr zum Beispiel
unter Schokocreme, Zitronenlimo und Schinkenbrot ver-
steht, oder ist es anders? Wenn die Bezeichnung an den
Verbrauchererwartungen vorbeigeht, dann ist sie nicht
brauchbar, dann muss eine neue gefunden werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich brauchen wir Transparenz darüber, was in
diesem Gremium passiert. Dazu gehört auch: Wer hat
welches Interesse vertreten? Das heißt: Ist eine bestimm-
te Verkehrsauffassung von der Industrie gepusht worden
oder von den Verbraucherschützerinnen und Verbrau-
cherschützern? Auch dazu gehören Klarheit und Wahr-
heit. Hier springt Ihr Antrag ein bisschen zu kurz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gibt einige gute Vorschläge von der Koalition. Im
letzten Jahr haben wir vor der Grünen Woche einen ganz
guten Antrag zum Thema Ernährung beraten. Das war
wunderbar. Was haben Sie nicht alles gefordert: gesün-
dere Lebensmittel im Supermarkt, Reduzierung von Zu-
cker, Salz und Fett, Verbesserung der Kita- und Schulver-
pflegung, Eindämmung der Lebensmittelverschwendung
und – weil Sie so schön dabei waren – keine Quengelkas-
sen mehr in Supermärkten. Ich würde den Minister ger-
ne fragen – das geht jetzt nicht, deswegen frage ich die
Staatssekretärin –: Was ist seitdem umgesetzt worden?
Ich kann Ihnen sagen: Nichts. Dieser Minister betreibt
Arbeitsverweigerung seit zweieinhalb Jahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn Sie mehr Transparenz und Täuschungsschutz für
Verbraucherinnen und Verbraucher wollen: Warum gam-
melt dann der Gesetzentwurf zum Lebens- und Futter-
mittelgesetzbuch seit Monaten auf dem Ministerschreib-
tisch? Ich habe gestern die Staatssekretärin gefragt, wie
lange er da noch Staub ansetzen soll. Sie hat mir gesagt –
Zitat –: Dies lässt sich im Moment in einer weiteren Kon-
kretisierung noch nicht darstellen. – Auf Deutsch: Der
Minister wird sich nicht damit beschäftigen, er weiß auch
nicht, wann; wir lassen es einfach liegen und hoffen, dass
die Bevölkerung es nicht merkt. – So, finde ich, kann
man keine Politik machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was ist bei der Qualitätsoffensive zur Verbesserung
des Schulessens in Deutschland eigentlich wirklich in den
Bundesländern, in den Schulen angekommen? 290 000
Euro machen Sie für alle 16 Vernetzungsstellen Schul-
verpflegung locker – das haben Sie der Kollegin Binder
in einer E-Mail geschrieben. Ich finde, das ist ziemlich
wenig. Die Studie, mit der sich Herr Schmidt erzählen
lassen hat, dass das Essen in den Schulen schlecht ist,
hat fast genauso viel gekostet. Da frage ich mich doch:
Gibt es in der Ernährungspolitik eine vernünftige Priori-
tätensetzung? Die Antwort muss leider lauten: Nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Wir finden: Wenn man es mit Transparenz für Ver-
braucher wirklich ernst meint, dann braucht man eine ge-
setzliche Pflicht zur Kennzeichnung der Art der Tierhal-
tung. Ich habe der Presse entnommen, dass sich seit drei
Tagen auch der Minister mit diesem Thema beschäftigt.
Er hat in einem Interview erwähnt, es wäre doch ganz
nett, wenn die Verbraucher wüssten, wie das Schwein
oder das Kalb, von dem das Schnitzel stammt, gehalten
würde. Nur hat man im Ministerium noch nicht wirklich
Ideen dazu entwickelt. Das ist schade; denn die entspre-
chende Arbeitsgruppe der Länder tagt seit über einem
Jahr, und der Tierschutzbund hat schon vor zwei Jahren
eine Tierschutzkennzeichnung eingeführt. Die Debatte
läuft und läuft und läuft, nur immer ohne den Minister.

Nicole Maisch






(A) (C)



(B) (D)


Zum Schluss. Ich finde, wenn wir über Klarheit und
Wahrheit reden, dann kommen wir an der Nährwertam-
pel nicht vorbei.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Verstößt gegen EU-Recht!)


Sie dachten, die Debatte ist tot. Das ist sie nicht. Wir wer-
den das immer wieder beantragen, werden die Debatte
weiter führen,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Verstößt trotzdem gegen EU-Recht!)


da wir finden: Jahresanfänge sind eine Zeit für gute Vor-
sätze. Für Klarheit und Wahrheit zu sorgen, ist ein guter
Vorsatz. Nur muss man als Minister auch entsprechend
dafür arbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814904400

Für die Bundesregierung hat nun die Parlamentarische

Staatssekretärin Maria Flachsbarth das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


D
Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1814904500


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-
nächst möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedan-
ken, dass Sie angesichts der Verpflichtungen, die Herr
Bundesminister im Rahmen der Internationalen Grünen
Woche hat, nun doch mit mir vorliebnehmen.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Eckpunkte für das Gesetz vorstellen!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, von A wie
Aachener Leberwurst bis Z wie Zwiebelwurst, dazwi-
schen noch die Bulette, die gebrühte Touristenwurst und
der Marmorkuchen – all das findet man im Deutschen
Lebensmittelbuch. Nachdem hier von Verbraucher-
erwartungen gesprochen wurde, möchte ich sagen: We-
der gebrühte noch abgebrühte Touristen befinden sich in
der Wurst, auch kein Marmor in dem nach ihm benann-
ten Kuchen. Im Deutschen Lebensmittelbuch findet man
21 Leitsätze und die Beschreibung von über 2 200 Le-
bensmitteln. Man kann darin nachsehen, was denn jetzt
die Inhaltsstoffe sein müssen. Die Beschreibungen wer-
den von der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission
erarbeitet, in der jeweils acht ehrenamtliche Mitglieder
aus den beteiligten Kreisen, also Wissenschaft, Wirt-
schaft, Verbraucherschaft und Lebensmittelüberwa-
chung, in sieben Fachausschüssen tätig sind.

Sie wissen – das ist heute schon mehrfach angeklun-
gen –, dass das Deutsche Lebensmittelbuch selbst, aber
auch die Struktur der Kommission Gegenstand vielfäl-
tiger kritischer Diskussionen sind. Es geht dabei vor-
wiegend um die mangelnde Transparenz der Entschei-
dungsfindung, um den Einfluss der Wirtschaft, um die
Dauer der Entscheidungswege und um die Erfüllung des
Anspruchs der Verbraucherinnen und Verbraucher auf

Klarheit und Wahrheit. Das ist hier heute schon von allen
Seiten angeklungen.

Diese Punkte finden sich erfreulicherweise auch in
den Anträgen aus dem Plenum wieder, die hier vorlie-
gen. Die Bundesregierung teilt viele der Kritikpunkte
ausdrücklich oder kann sie zumindest nachvollziehen.
So sind wir uns hinsichtlich der Maßnahmen an vielen
Stellen – um nicht zu sagen: den meisten Stellen – mit
den vorliegenden Anträgen einig.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Das Bundesministerium für Ernährung hat eine wis-
senschaftliche Evaluation beauftragt und die Eckpunkte
einer Reform der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom-
mission und des Deutschen Lebensmittelbuchs erar-
beitet, die ich Ihnen jetzt gerne vorstellen möchte. Die
Rahmenbedingungen der Reform ergeben sich aus dem
Anspruch auf Klarheit und Wahrheit, den Erkenntnissen
der Evaluationsstudie und den Stellungnahmen der betei-
ligten Kreise und Experten. Wir wollen mehr Effizienz,
mehr Akzeptanz und mehr Transparenz durch Straffung
und Stärkung der Strukturen erreichen. Dabei hat sich
die Grundstruktur der Lebensmittelbuch-Kommission
durchaus bewährt.

Bundesminister Christian Schmidt hat deshalb im
März 2015 entschieden, die Grundstruktur grundsätz-
lich beizubehalten. Deshalb bleibt es bei einer paritätisch
aus den vier Kreisen, also Wissenschaft, Lebensmittel-
überwachung, Verbraucherschaft und Lebensmittelwirt-
schaft, zusammengesetzten ehrenamtlichen Kommis-
sion mit 32 Personen. Sie wird weiter unabhängig von
Weisungen beschließen und soll fachlich, inhaltlich und
organisatorisch durch Personal im Bereich des BMEL
unterstützt werden. Im Konsens getroffene Entscheidun-
gen machen die Akzeptanz und die Glaubwürdigkeit der
DLMBK und der verschiedenen Leitsätze aus. Darum
werden wir das Konsensprinzip erhalten. Auch in Zu-
kunft wird keiner der vier beteiligten Kreise, sofern er
denn geschlossen abstimmt, überstimmt werden können.
Damit wird der Anspruch erfüllt, eine möglichst breit ge-
tragene Mehrheit zu erreichen.

Lassen Sie mich kurz auf das gesetzliche Umfeld des
Deutschen Lebensmittelbuches eingehen. Die Leitsätze
sind ein untergesetzliches Regelwerk. Sie dienen der
Auslegung des Artikels 17 der EU-Lebensmittelinfor-
mationsverordnung Nummer 1169/2011, indem sie die
Verkehrsauffassung der aufgeführten Lebensmittel be-
schreiben, für vorverpackte wie für lose Ware. Alle Wirt-
schaftsbeteiligten, insbesondere aber die Verbraucherin-
nen und Verbraucher, werden dadurch vor Irreführung
und Täuschung geschützt, der lautere Wettbewerb wird
gestärkt, und alle Beteiligten bekommen eine Hilfestel-
lung, um Rechtssicherheit zu erhalten. Diese Aufgaben
und Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind unsere
Richtschnur bei der Reform des Deutschen Lebensmit-
telbuches und der entsprechenden Kommission.

Mit einem Maßnahmenbündel aus regelmäßiger Über-
prüfung der Leitsätze, erleichterter Antragstellung, effi-
zienteren Abstimmungsverfahren, der Einführung eines
Schlichtungsverfahrens, einer höheren Sitzungsfrequenz
und systematischer Einbeziehung wissenschaftlicher Er-

Nicole Maisch






(A) (C)



(B) (D)


kenntnisse werden wir die DLMBK-Arbeit deutlich ef-
fizienter gestalten, Diskussionen versachlichen und die
Aktualität der Leitsätze spürbar erhöhen und damit auch
den Verbraucherbelangen mehr Geltung verschaffen.

Alle 21 Leitsätze sollen künftig innerhalb der weiter-
hin fünfjährigen Berufungsperiode systematisch über-
prüft und aktualisiert werden. Grundlage dieser Überprü-
fungen sollen unter anderem aktuelle Erkenntnisse aus
Markt- und Verbrauchererhebungen sein einschließlich
des Portals Lebensmittelklarheit.de. Dessen Redakti-
on soll künftig die Möglichkeit haben, im Präsidium
der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission über die
neuesten Ergebnisse des Portals zu berichten und damit
sicherzustellen, dass gerade der aktuelle Stand der Er-
kenntnisse auch zeitnah in die Kommissionsarbeit ein-
fließen kann. Bei Bedarf werden darüber hinaus, wie hier
aus der Runde gefordert, Verbrauchererwartungen und
Verbraucherverständnis sowie Marktgegebenheiten mit
Hilfe gezielter Forschung erfasst werden.

Wir beabsichtigen darüber hinaus, das Berufungs-
verfahren transparenter zu gestalten. Zum einen soll die
Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission möglichst he-
terogen zusammengesetzt bleiben, sodass ein möglichst
breites Feld fachlicher Expertise abgedeckt wird. Zum
anderen werden wir die Kriterien, die wir an die Aus-
wahl der Mitglieder stellen, veröffentlichen und die Mit-
glieder, deren Zustimmung vorausgesetzt, auf der Inter-
netseite der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission
vorstellen. Das Antragsverfahren soll insofern erleichtert
werden, als dass Formulierungsvorschläge nicht mehr
zwingend verlangt werden. Das wird insbesondere den
Verbrauchern helfen.

Der Bearbeitungsstand der Leitsätze und aktuel-
le Sachstandsberichte werden künftig zeitnah auf der
Homepage der Deutschen Lebensmittel-Kommission
veröffentlicht werden und nachvollziehbar sein. Neben
dem Fachchinesisch, das bleiben wird und bleiben muss,
damit die Angaben justiziabel sind, werden wir aber
auch aktuelle verbrauchernahe Informationen über die
Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission sowie Ziel
und Zweck der Leitsätze in verständlichem Deutsch er-
läutern, damit auch die Öffentlichkeitsarbeit letztendlich
professioneller und zielgruppenorientierter werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden darüber hinaus all diese Maßnahmen
selbstverständlich auch insofern unterstützen, als dass
entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt
werden. Dafür in dieser Runde einen ganz herzlichen
Dank an den Haushaltsgesetzgeber.

Dort allerdings – das will ich auch sagen –, wo die
Kapazitäten der 32 nach wie vor ehrenamtlich tätigen
Mitglieder der Lebensmittelbuch-Kommission erschöpft
sind, werden die avisierten Reformmaßnahmen eine
Grenze finden. Als solche Grenze sehen wir 15 Präsenz-
tage pro Jahr und DLBMK-Mitglied.

Die Fachabteilung in unserem Haus wird nunmehr mit
der Umsetzung des Reformkonzeptes, insbesondere der
Erarbeitung einer neuen Geschäftsordnung beginnen. Pa-
rallel dazu laufen die Vorbereitungen für die Erstellung

einer Liste möglicher Kandidatinnen und Kandidaten für
die Berufung zum 1. Juli dieses Jahres, da die Amtszeit
der amtierenden Kommission am 30. Juni endet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die verschiedenen
Akteure der Lebensmittelkette – die Wirtschaft, die Über-
wachung, die Wissenschaft und die Verbraucherschaft –
haben naturgemäß unterschiedliche Blickwinkel auf die
Prozesse, die vom Acker bis zum Teller durchlaufen wer-
den. Die ehrenamtlichen Mitglieder der Deutschen Le-
bensmittelbuch-Kommission haben sich über Jahre hin-
weg fachlich engagiert, fachlich versiert und konstruktiv
in die Prozesse eingebracht, haben um Formulierungen
gerungen und Leitsätze formuliert. Dafür möchte ich
mich sehr herzlich und ausdrücklich bedanken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir tragen mit der Reform nun unseren Teil dazu bei,
die Lebensmittelbuch-Kommission bestmöglich zu un-
terstützen und die Rahmenbedingungen neu und so zu
gestalten, dass die Arbeit künftig noch effizienter, aktuel-
ler und transparenter erfolgen kann. Ziel ist es, die Kom-
mission zu befähigen, die Überarbeitung und die Aktua-
lisierung der Leitsätze entsprechend den Anforderungen
aus der Verbraucherschaft nicht zuletzt zügig anzugehen
und somit die redliche Herstellungspraxis und die be-
rechtigten Verbrauchererwartungen in Einklang zu brin-
gen. Damit stellen wir uns gemeinsam mit den Mitglie-
dern der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission der
obersten Maxime im Lebensmittelverkehr, nämlich dem
gesundheitlichen Verbraucherschutz und dem Schutz vor
der Irreführung und Täuschung.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814904600

Oliver Krischer erhält nun das Wort für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814904700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver-

braucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf,
dass die Verpackung eines Lebensmittels auf den ersten
Blick das deutlich macht, was das Produkt enthält. Das
sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Frau
Flachsbarth, selbstverständlich enthält Marmorkuchen
keinen Marmor, aber das wissen die Verbraucher auch.


(Ulli Nissen [SPD]: Nee!)


Was wir in den Supermärkten tagtäglich erleben, das
habe ich gestern Abend in einem Berliner Supermarkt
ausprobiert. Man kommt hinein und findet im Eingangs-
bereich Smoothies, so heißen diese Fruchtsaftgetränke.
Auf den Verpackungen steht: Brombeere, Erdbeere, Jo-
hannisbeere. Jeder erwartet natürlich, dass dieser Saft aus
diesen drei Früchten besteht. Wenn man die Lupe her-
ausholt und hinten auf das Kleingedruckte guckt, stellt
man aber fest: Diese drei Früchte machen nicht einmal
20 Prozent des Inhalts aus; der Rest ist Apfel- und Oran-
gensaft. Die Bezeichnung „Multifrucht“ wäre vielleicht
okay, das mag auch ganz lecker sein, aber das, was drauf-

Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth






(A) (C)



(B) (D)


steht, entspricht nicht dem, was drin ist. Das muss sich
dringend und schnell ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Beispiele sind unzählig. In jedem Supermarkt finden
sich Dutzende von Fällen. Da gibt es die Olivenpaste,
von der jeder erwartet, dass sie aus Oliven besteht. Wenn
man genau draufschaut, stellt man aber fest, dass sie nur
zu 2 Prozent aus Oliven besteht. Das ist Verbrauchertäu-
schung.

Das alles ist keine neue Erkenntnis. Wir diskutieren
über dieses Thema schon seit Jahren. Wir diskutieren
schon seit Jahren über die Lebensmittelbuch-Kommissi-
on. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie das alles richtig
adressiert. Das ist zweieinhalb Jahre her. Der Minister
hat vor knapp einem Jahr ein Gutachten vorgestellt, in
dem dieser Reformbedarf festgestellt wird. Er hat ange-
kündigt:

Ich will das Buch nicht neu schreiben, aber einzelne
Kapitel mit deutlicher Feder kräftig überarbeiten.

Dazu hatte er ein Jahr lang Zeit. Nichts ist passiert.
Jetzt, pünktlich zur Internationalen Grünen Woche, wird
hier ein Schaufensterantrag vorgelegt.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist kein Schaufensterantrag!)


Es wird angekündigt, dass das gemacht werden soll. Das
wird nicht umgesetzt, sondern die Umsetzung wird nur
angekündigt. Ich sage: Das ist ein Stück weit Arbeitsver-
weigerung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Allein die Tatsache, dass der Minister sich nicht hier
ins Parlament bewegt, um zu versuchen, seine Vorstel-
lungen deutlich zu machen, und sich möglicher Kritik zu
stellen, spricht Bände. Wenn er tatsächlich auf der IGW
den Stand des Ministeriums aufbaut, dann ist das ohne
Zweifel die größte Leistung, die er in dieser Legislatur-
periode vollbracht hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass Sie Regierungshandeln nur simulieren und nicht
tatsächlich handeln, das haben wir schon im letzten Jahr
erlebt. Da haben Sie hier einen Antrag unter der Über-
schrift „Gesunde Ernährung stärken – Lebensmittel wert-
schätzen“ eingebracht. Was ist in dieser Zeit umgesetzt
worden? Es wurden quengelfreie Kassen gefordert. Ich
habe nichts mehr davon gehört, dass die verboten wer-
den sollen. Der Anteil von Zucker, Fetten und Salz in
Fertigprodukten sollte reduziert werden. Was haben Sie
gemacht? Es ist nichts passiert.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wir sind keine Verbotspartei, Herr Kollege! Anders als Sie!)


Das Thema Lebensmittelverschwendung sollte angegan-
gen werden. Nichts ist passiert. Das alles haben Sie an-
gekündigt. Ich sage Ihnen: In einem Jahr, pünktlich zur
Grünen Woche, werden wir hier wieder diskutieren. Mit

der Lebensmittelbuch-Kommission ist es wieder bei der
Ankündigung der Umsetzung geblieben. Daran, ob das
ausreicht, kann man ganz erhebliche Zweifel haben.

Meine Damen und Herren, Minister Schmidt hat eine
neue Sportart erfunden, das Ministermikado: Wer sich
bewegt, verliert. Darin will er deutscher Meister werden.
Das kann angesichts der Herausforderungen, die wir in
der Agrar- und Ernährungspolitik haben, nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Alter Hut!)


Wir brauchen nicht nur eine Reform der Lebensmit-
telbuch-Kommission, sondern wir brauchen insgesamt
klare Kennzeichnungsregelungen vor allen Dingen beim
Fleisch. Es muss erkennbar sein, wie die Tiere gehalten
werden. Wir brauchen die Nährwertampel. Wir brauchen
eine klare Definition, was vegane und vegetarische Le-
bensmittel sind. Das erwarten die Verbraucherinnen und
Verbraucher. Wir brauchen auch endlich eine vernünftige
EU-weite Regionalkennzeichnung. Das sind Punkte, die
Sie anpacken müssten, genauso wie insgesamt eine Re-
form der Agrarpolitik.

Es kann doch nicht so weitergehen. Am Samstag wer-
den hier wieder Tausende Menschen dafür demonstrie-
ren, dass wir endlich eine andere Agrarpolitik, dass wir
Lebensmittel ohne Pestizide und Gifte, dass wir artge-
rechte Tierhaltung statt Massentierhaltung bekommen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dass Landwirtschaft Verbraucherinteressen dient und
eben nicht den Agrarkonzernen und nicht der industriel-
len Landwirtschaft. Das wäre die Herausforderung. Aber
da muss man einfach sagen: Die Große Koalition und
insbesondere der Mikadominister Schmidt sind an dieser
Stelle nicht Teil der Lösung. Sie sind das Problem. Das
müssen wir ändern.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814904800

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Carsten Träger

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Carsten Träger (SPD):
Rede ID: ID1814904900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich
debattieren wir heute über ein echtes Luxusproblem, über
ein Problem des Luxus im wahrsten Sinne des Wortes.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben den Luxus, dass wir nie ein größeres Angebot
an ständig verfügbaren Lebensmitteln hatten. Nie hatten
wir mehr Freiheit, genau das zu essen, worauf wir gerade
Lust haben. Zu jeder Jahreszeit, tagtäglich und überall
stehen wir einem reichhaltigen Angebot von Lebensmit-

Oliver Krischer






(A) (C)



(B) (D)


teln gegenüber. Alles gut also? Leider nein. Denn mit
dem Übermaß wachsen auch die unerfreulichen Beglei-
terscheinungen: Umweltprobleme, Höfesterben, gesund-
heitliche Folgewirkungen.

Deshalb geht es in Deutschland heute beim Essen
schon lange nicht mehr darum, einfach nur satt zu wer-
den. Essen ist heute nicht einfach nur mehr Essen. Essen
ist Politik. Essen ist Lifestyle, Mode, Gesinnung. Für
manche ist Essen Religion. Da ist festzustellen: Immer
mehr Menschen sind unzufrieden mit den Bedingungen,
die ihren vermeintlich freien Kaufentscheidungen zu-
grunde liegen. Viele haben es längst satt. Unter diesem
Motto werden wir auch an diesem Wochenende wieder
Zehntausende sehen, die auf die Straße gehen und gegen
die industrielle Landwirtschaft demonstrieren, vielleicht
sogar Hunderttausende. Der Protest wächst und geht
durch sämtliche gesellschaftliche Schichten. Lassen Sie
uns diese Mahnrufe ernst nehmen. Lassen Sie uns etwas
tun.


(Beifall des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber was? Ich bin nicht der Meinung, dass uns hier
Vorschriften wirklich weiterhelfen. Es kann nicht darum
gehen, den Menschen vorzuschreiben, was sie essen sol-
len.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will nicht die Debatte, die wir schon geführt haben.
Ich mag keine unnötigen Vorschriften, schon gar nicht
bei einer solch grundlegenden Frage wie: Was will ich
essen? Ich möchte, dass die Verbraucher selbst entschei-
den. Dazu müssen wir ihnen die notwendigen Infor-
mationen an die Hand geben. Verbraucher haben einen
Anspruch auf Wahrheit und Klarheit als Grundlage ihrer
Kaufentscheidungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es muss bei den Lebensmitteln draufstehen, was drin ist,
und es muss drin sein, was draufsteht.


(Ulli Nissen [SPD]: Und es muss deutlich zu lesen sein!)


Wenn sich die Verbraucher auf leicht lesbare Informati-
onen auf den Produkten verlassen können, dann bin ich
mir sicher, dass sie bei ihrem Einkauf in der Mehrheit
Entscheidungen für gute Produkte aus nachhaltiger Pro-
duktion treffen.


(Beifall bei der SPD)


Kaum jemand wird Geflügelfleischprodukte kaufen,
die hauptsächlich aus Schweinefleisch bestehen, oder
Fruchtcremes, die keine Früchte enthalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Deutsche Le-
bensmittelbuch leistet hier einen wertvollen Beitrag, und
es könnte einen noch weitaus wertvolleren Beitrag leis-
ten. Seine Leitsätze geben Orientierung, wie ein Produkt
hergestellt ist und was es enthält. Wir brauchen dringend

eine solche Institution mit hohem Sachverstand und mit
hoher Glaubwürdigkeit.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben diese Institution!)


Wir müssen dafür sorgen, dass es genau diese Institu-
tion mit hohem Sachverstand und hoher Glaubwürdig-
keit auch gibt. Wir müssen dafür sorgen, dass die zen-
tralen Informationen schneller bereitstehen. Wir leben
im Zeitalter des globalisierten Handels. Der Einkauf im
Netz erobert längst auch den Lebensmittelbereich. Da
müssen die wichtigsten Informationen schneller bereit-
stehen, wesentlich schneller. Die Informationen müssen
verständlicher aufbereitet werden als bisher. Hier gibt es
berechtigte Kritik am Deutschen Lebensmittelbuch. Las-
sen Sie uns diese Kritik ernst nehmen und die Verfahren
sowie die Kommunikation deutlich verbessern!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814905000

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der

Kollege Alois Rainer.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alois Rainer (CSU):
Rede ID: ID1814905100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Seit nunmehr über 50 Jahren erstellt
die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission Leitsätze
für das Deutsche Lebensmittelbuch und für die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, Leitsätze, die als Richtschnur
gleichermaßen für Unternehmen zur Herstellung als auch
und vor allem – das muss gesagt werden – für den Ver-
braucher zum Verzehr als untergesetzliche Standards
zur Verfügung stehen. Es sind ja schon viele Beispiele
genannt worden, etwa das eines Fruchtsaftgetränks bzw.
eines Fruchtsafts oder die Frage: Von welchem Tier
stammt das Wiener Schnitzel? Diese Fragen stellen sich
nicht nur Verbraucher, sondern auch der eine oder andere
Hersteller.

Liebe Kollegin, zur Kalbsleberwurst muss ich schon
etwas sagen. Als Metzgermeister, der mit Sicherheit
schon einige Hunderte von Kilos Kalbsleberwurst her-
gestellt hat, weiß ich, was da drin ist. Ich kann Ihnen nur
sagen: Es ist gut, dass jetzt 15 Prozent Kalbfleisch in der
Kalbfleischleberwurst drin sein müssen. In der Kalbsle-
berwurst muss sogar ein Teil Kalbsleber drin sein; wie
groß dieser Teil sein muss, ist aber nicht definiert. Ich
kann Ihnen sagen: Wenn die Kalbsleberwurst – nennen
wir sie jetzt einmal so – zu 100 Prozent aus Kalbfleisch
wäre, würde sie nicht schmecken, und sie wäre viel zu
teuer. Sie wäre für den Verbraucher schlichtweg nicht be-
zahlbar. Darum: Bitte seien Sie mit den Beispielen und
den Emotionen vorsichtig!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommis-
sion reformieren. Das ist der richtige Weg; das ist gut,

Carsten Träger






(A) (C)



(B) (D)


und wir machen das. Zusammen mit dem Ministerium
werden wir die richtigen Schritte einleiten.

Das Deutsche Lebensmittelbuch – das ist gesagt wor-
den – ist eine Sammlung von Leitsätzen, die die allge-
meine Verkehrsauffassung von Lebensmitteln widerspie-
geln. Das heißt auch, dass wir hier von untergesetzlichen
Standards sprechen, die im Vollzugsalltag als belastbare
Grundlage zur Feststellung der allgemeinen Verkehrsauf-
fassung zur Verfügung stehen. Denn grundsätzlich gilt,
dass die Leitsätze einer gerichtlichen Nachprüfung un-
terliegen sollten, jedoch keine verbindlichen Rechtsvor-
schriften darstellen.

Die Ziele der Leitsätze sind vielfältig. Es geht um die
Schaffung von Klarheit im Lebensmittelverkehr durch
klare und deutliche Definition. Auf den Verbraucher-
schutz muss großen Wert gelegt werden. Zu nennen ist
auch die Vereinfachung des Marktes für Hersteller und
Händler. Vor allem sind die Leitsätze auch ein Instrument
zur Einhaltung der Mindeststandards, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Diese Mindeststandards werden von der
Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission geprüft, un-
ter Berücksichtigung von nationalen und internationalen
Standards überarbeitet und im Einvernehmen mit dem
BMEL und dem Bundeswirtschaftsministerium entspre-
chend veröffentlicht.

Im Grunde hat sich dieses System bewährt. Der Eva-
luierungsbericht, der im März letzten Jahres vorgestellt
worden ist, sagt aus, dass dieses System alternativlos ist.
Ich zitiere:

Bei allen identifizierten alternativen Strukturen/
Institutionen, welche die Aufgaben der DLMBK
potentiell effektiver und effizienter umsetzen könn-
ten, bleibt festzuhalten, dass insbesondere bzgl. der
Akzeptanz bei den involvierten Kreisen sowie der
rechtlichen Legitimation der Entscheidungsfindung
keine Option eine eindeutige Vorteilhaftigkeit ge-
genüber der DLMBK aufweisen kann. Im Gegen-
teil, hier zeigen sich, insbesondere durch die paritä-
tische Zusammensetzung, die zentralen Stärken der
DLMBK in ihrer derzeitigen Konstruktion.

Genau darauf gehen wir in unserem Antrag ein.

Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Ja, wir ha-
ben ein System, das überarbeitet und angepasst werden
muss, aber ich möchte sagen, dass wir keine völlige Neu-
strukturierung oder Neugestaltung erzielen wollen. Viel-
mehr wollen wir mit unserem Antrag die in letzter Zeit
zu Recht häufig geäußerte Kritik an den Leitsätzen des
Deutschen Lebensmittelbuches bzw. an der Arbeit der
Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission angehen.

Ich denke hier insbesondere an die Kritik an der in-
transparenten und ineffizienten Struktur. So beträgt zum
Beispiel die durchschnittliche Bearbeitungszeit etwa
neun Monate. Bis zur endgültigen Beschlussfassung ver-
gehen durchschnittlich zweieinhalb Jahre. Das ist nicht
nur in der heutigen Zeit zu viel. Da ich ein sehr ungedul-
diger Mensch bin, stelle ich mir vor, dass die Bearbei-
tungszeit wesentlich verkürzt wird.

Zudem sind einige Leitsätze für die Verbraucherinnen
und Verbraucher nur schwer nachzuvollziehen. Die Ver-

braucherinnen und Verbraucher wollen informiert wer-
den, und das ist auch gut so. Sie sollen selbstbestimmt
entscheiden können, was sie kaufen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen – ich denke, darin sind wir uns alle ei-
nig – einen verbraucherfreundlichen Markt. Unser Ziel
ist es daher, dass sichere und gute Produkte unter fairen
und nachhaltigen Bedingungen hergestellt und angebo-
ten werden. Diese Vorgaben sollen aber nicht nur für die
Verbraucher, sondern gleichermaßen auch für die Le-
bensmittelwirtschaft gelten, und glauben Sie mir – ich
habe es eingangs schon gesagt –: Gerade in dieser Sa-
che weiß ich, wovon ich spreche; ich bin ein Stück weit
selbst betroffen.

Mit dem Ausdruck „Wahrheit und Klarheit“ sind wir
auf dem richtigen Weg. Wir wollen Sicherheit und Ver-
trauen für die Verbraucherinnen und Verbraucher.

Vielleicht war es dem einen oder anderen noch gar
nicht bewusst, bevor es vorhin angesprochen wurde: Alle
32 Mitglieder der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommis-
sion arbeiten ehrenamtlich. Es gilt, dieses Engagement
nicht mit Füßen zu treten, sondern die bisherige ehren-
amtliche Arbeit der Mitglieder zu unterstützen und auf-
zuwerten. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Deshalb
lautet unsere Forderung an das Bundeslandwirtschafts-
ministerium auch, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kom-
mission bei ihrer Arbeit personell und finanziell adäquat
zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Willi Brase [SPD])


Für eine effiziente und transparente Arbeit müssen
ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Nur so kann langfristig sichergestellt werden, dass die
Arbeit der Kommission produktiver, der jeweilige Ab-
lauf effizienter und die Öffentlichkeitsarbeit transparen-
ter gestaltet werden kann. Die Verbraucher haben ein
Recht darauf, zu erfahren, was sie kaufen und verzehren.

Ich komme jetzt noch ganz kurz zu dem Antrag der
Grünen. Es ist nett und sehr angenehm, dass Sie Teile
unseres Antrags befürworten und übernehmen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen es nur einmal umsetzen!)


In anderen Bereichen Ihres Antrages gehen Sie aber
über das heutige Thema, die Deutsche Lebensmittel-
buch-Kommission, hinaus.


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur an heute, sondern auch an morgen denken!)


Was machen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetz-
buch und die Kennzeichnung für die Tierhaltung in ei-
nem Antrag zur Deutschen Lebensmittelbuch-Kommis-
sion? Ich werde mich mit Ihnen über dieses Thema gerne
sehr ausführlich unterhalten, lieber Kollege Ebner. Wir
wissen ja, dass wir uns bei diesem Thema gerne aneinan-
der reiben. Bei der heutigen Behandlung der Reform der
Lebensmittelbuch-Kommission brauchen wir das aber

Alois Rainer






(A) (C)



(B) (D)


mit Sicherheit nicht. Vielleicht bringen Sie es übers Herz,
unserem Antrag zuzustimmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Schluss noch deutlich machen: Unser Antrag
stellt praktikable Lösungen für eine Reform des Deut-
schen Lebensmittelbuches und der Deutschen Lebens-
mittelbuch-Kommission dar. In dieser Reform finden
sich die Verbraucher und die Lebensmittelunternehmer
gleichermaßen wieder.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814905200

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Wiese das

Wort.


Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1814905300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gutes Essen ist wichtig. Es ist eine Frage von
Gesundheit, Genuss und Lebensqualität.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Und ganz besonders wichtig ist: Das Essen muss schme-
cken. Das ist den meisten Menschen deutlich bewusst. In
einem anstrengenden Alltag in Beruf und Familie ist es
jedoch oft nicht so einfach, auch noch auf eine ausgewo-
gene Ernährung zu achten. Ich glaube, viele von uns hier
im Raum können ein Lied davon singen.

Ich möchte die Debatte heute dazu nutzen, ganz zu
Beginn meiner Ausführungen im Namen der SPD-Bun-
destagsfraktion denjenigen Danke zu sagen, die in unse-
rem Land gute Produkte herstellen. Das sind die Land-
wirtinnen und Landwirte, die jeden Tag unterwegs sind.
Denen sage ich erst einmal ein großes Dankeschön für
die hervorragende Arbeit, die sie jeden Tag leisten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Geschmack al-
lein macht aber nicht gesundes Essen aus. Die Art, wie
Lebensmittel produziert und konsumiert werden, hat
weitreichende Konsequenzen für Menschen, Tiere und
Umwelt. Daher muss Politik Rahmenbedingungen dafür
schaffen, dass sichere und gesunde Lebensmittel erzeugt
werden. Sie muss durch einfache, verständliche und ver-
lässliche Verbraucherinformationen bewusste Konsum-
entscheidungen ermöglichen und gegen Verbraucher-
täuschung entschieden vorgehen. Viele diesbezügliche
Kennzeichnungen sind in den Leitsätzen des Deutschen
Lebensmittelbuches beschrieben.

Es gibt aber deutliche Kritik am Deutschen Lebens-
mittelbuch. Dabei handelt es sich um vier wesentliche
Punkte:

Erstens. Es fehlt an einer klaren Zielsetzung.

Zweitens. Es mangelt an einer effektiven Umsetzung
des Lebensmittelbuches. Hier spiele ich auf die langsame
Änderungs- bzw. Anpassungsgeschwindigkeit der Leit-
sätze an.

Drittens. Es fehlt an einer personellen und finanziellen
Ausstattung, die eine vernünftige Arbeit gewährleistet.

Viertens. Es fehlt – das ist schon angeklungen – an
Transparenz. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, fordern
mehr Transparenz über den Meinungsbildungsprozess
gerade innerhalb der Kommission. Das ist dringend not-
wendig.


(Beifall bei der SPD)


Beim Einkauf im Supermarkt fällt vielen von uns
mittlerweile auf, dass die Zusammensetzung der Lebens-
mittel nicht mehr dem entspricht, was eigentlich verspro-
chen wird. Produktverpackung und Werbung suggerieren
eine Qualität oder Herkunft, die in der Ware oft nicht
drinsteckt. Begriffe wie „Hausmacherkost“ oder „stärkt
die Abwehrkräfte“ täuschen zum einen über den eigentli-
chen industriellen Herstellungsprozess hinweg. Zum an-
deren suggerieren sie dem Verbraucher eine Extraportion
Gesundheit. Gerade das Onlineportal Lebensmittelklar-
heit.de ist ein unverzichtbares Projekt, wenn es darum
geht, mehr Transparenz für den Verbraucher herzustel-
len. Hier können Aufmachung und Kennzeichnungsprak-
tiken bei Lebensmitteln gemeldet werden, durch die sich
der Verbraucher offensichtlich getäuscht fühlt.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich dafür einge-
setzt, dass das Projekt Lebensmittelklarheit weiter vo-
rangetrieben und im Bundeshaushalt fest verankert wird.
Und das ist gut so.


(Beifall bei der SPD)


Zur Veranschaulichung will ich noch zwei Beispie-
le nennen. Dabei geht es einmal um Lebensmittelimi-
tate. Die kommen immer häufiger vor. Aus preiswerten
Rohstoffen entstehen Analogkäse oder Schinkenimitate.
Zwar sind diese Produkte nicht verboten, wichtig ist je-
doch, dass der Verbraucher erkennen kann, ob er ein ech-
tes oder nachgemachtes Lebensmittel kauft.

Ein anderes Beispiel betrifft die Kennzeichnung von
Fruchtsaftgetränken. Irreführende bunte Bilder wecken
falsche Erwartungen beim Verbraucher. Das darf nicht
sein. Dagegen muss man vorgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


Um es auf den Punkt zu bringen: Wichtig ist, dass nur
noch draufsteht, was drin ist, und drin ist, was draufsteht.
Und das sollte, bitte, für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher verständlich sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zunehmend wird
auch die Herkunft des Nahrungsmittels vom Verbraucher
als ein bestimmender Faktor der Kaufentscheidung gese-
hen. Ich glaube, jeder von uns stellt in seinem Wahlkreis
bzw. seiner Region fest, dass die regional hergestellten
Produkte immer wichtiger werden und regionale Produk-
te ein wesentlicher Grund für Kaufentscheidungen der
Verbraucherinnen und Verbraucher sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Alois Rainer






(A) (C)



(B) (D)


Meine Heimat Westfalen – oder besser gesagt: Süd-
westfalen – ist eine Region, in der zahlreiche kulinari-
sche Spezialitäten zu Hause sind.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


Dabei handelt es sich um die „westfälischen Fünf“.
Schinken, Mettwurst, Pumpernickel, Stuten und Korn
stehen gerade für traditionelle Produkte nationaler Her-
kunft und Qualität.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die gibt es in weiten Teilen Niedersachsens aber auch!)


Ich möchte an dieser Stelle gar nicht vom guten sauerlän-
dischen Bier sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber ein Blick auf den Kollegen Willi Brase zeigt mir:
Auch im Siegerland gibt es hervorragende Produkte, ge-
rade auch in flüssiger Form.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Auch in Ostfriesland! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Jetzt haben Sie was angerichtet!)


– Jetzt habe ich etwas angerichtet?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814905400

Aus prinzipiellen Gründen, Herr Kollege, muss ich

schon Wert auf den Hinweis legen, dass diese Auflistung
exemplarisch, aber nicht vollständig ist.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Genau! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Für Deutschland jedenfalls nicht!)



Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1814905500

Sehr geehrter Herr Präsident, ich muss an dieser Stel-

le sagen, dass ich keinen artikulierten Widerspruch vom
Minister höre. Unter Juristen gilt: Schweigen heißt Zu-
stimmung. Von daher, glaube ich, habe ich in diesem
Punkt recht.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein! Schweigen ist keine Willenserklärung! – Ulli Nissen [SPD]: Super Reaktion!)


Im Sauerland – um noch einmal auf meine Heimat-
region zu sprechen zu kommen – gibt es übrigens, ge-
rade was regionale Produkte anbelangt, eine Vielzahl
von Hofläden, die durch Regionalität und Qualität über-
zeugen. Gute Beispiele hierfür sind das Netzwerk hofla-
den-sauerland.de oder viele Bauern- und Geflügelhöfe,
die mit Produkten aus der Region werben und diese ver-
kaufen. Die Palette an Restaurants mit regionaler Kost ist
ebenfalls groß. Diese Angabe der geografischen Herkunft
funktioniert also auch als Qualitätssignal für die Verbrau-
cher.

Richten wir an diesem Punkt den Blick auf den glo-
balen Lebensmittelhandel. Wir müssen uns nicht immer

nur vor amerikanischen Chlorhühnchen oder kanadi-
schem Rindfleisch fürchten, sondern wir müssen uns
bereits auf nationaler Ebene für eine Pflicht zur Kenn-
zeichnung der Herkunft von Lebensmitteln einsetzen.
So können wir unsere nationalen Standards sichern und
weiterentwickeln. Daher müssen wir uns gemeinsam
für den Erhalt regionaler Kennzeichnungen im interna-
tionalen Freihandelsabkommen einsetzen; denn dies ist
ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für die deutsche
Landwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das heißt, wenn wir jetzt noch vor unserer eigenen Tür
kehren, also unsere Hausaufgaben machen, und das
Deutsche Lebensmittelbuch reformieren, dann können
wir uns dem Wettbewerb mit unseren Qualitätsprodukten
stellen.

Eine Anmerkung zum Schluss an die Kolleginnen und
Kollegen der Grünen: Wenn Frau Haßelmann schon kri-
tisiert, dass der Minister nicht anwesend ist, dann sollte
doch Frau Haßelmann selbst bitte bis zum Ende der De-
batte anwesend sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die ist auf der Grünen Woche!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814905600

Das Wort erhält nun die Kollegin Carola Stauche für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1814905700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Vor fast einem Jahr – das wurde heute
schon genannt –, am 15. Januar 2015, diskutierten wir
hier im Plenum des Deutschen Bundestags einen Antrag
unserer Regierungskoalition mit dem Titel „Gesunde
Ernährung stärken – Lebensmittel wertschätzen“. Darin
finden sich zwei wunderschöne Sätze:

Im Alltag der Verbraucherinnen und Verbraucher
spielen Ernährung und gesunde sowie sichere Le-
bensmittel eine zentrale Rolle. Nie zuvor waren Le-
bensmittel in Deutschland so sicher, bezahlbar und
vielfältig wie heute.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Sätze galten damals, und diese Sätze gelten auch
heute noch. Ich betone dies explizit, weil von mancher
Seite unterschwellig der Eindruck erweckt wird, die
deutsche Lebensmittelwirtschaft sei eine Bande von Be-
trügern und die Verbraucherinnen und Verbraucher stän-
den alle kurz vor einer Vergiftung.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber keiner gesagt!)


Dirk Wiese






(A) (C)



(B) (D)


Deshalb wiederhole ich:

Nie zuvor waren Lebensmittel in Deutschland so si-
cher, bezahlbar und vielfältig wie heute.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unsere Land- und Ernährungswirtschaft leistet zum
ganz überwiegenden Teil eine sehr gute Arbeit. Das
Deutsche Lebensmittelbuch und die Deutsche Lebens-
mittelbuch-Kommission haben hierzu in der Vergangen-
heit einen ganz wichtigen Beitrag geleistet. Dafür ge-
bührt ihr unser Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jedoch auch in diesem Bereich gilt: Das Bessere ist der
Feind des Guten. Ein im internationalen Vergleich hohes
Niveau und mündige Bürgerinnen und Bürger lassen na-
hezu folgerichtig die Forderung entstehen, sich nicht mit
dem Erreichten zufriedenzugeben, sondern immer weiter
nach Verbesserungen zu streben.

Unstrittig ist, dass das Lebensmittelbuch und die
Kommission reformiert werden müssen, um auch wei-
terhin die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen zu können.
Dabei geht es aber nicht um einen radikalen Umbau des
Systems, sondern um eine behutsame und zielorientierte
Weiterentwicklung des bewährten Instrumentes.

Deshalb finde ich es sehr schade, dass der Antrag der
Grünen Dinge vermischt: Einerseits fordert er, was ohne-
hin bereits politischer Wille ist, nämlich die Ergebnisse
der Evaluation des Lebensmittelbuches umzusetzen. Das
findet sich auch im Antrag unserer Regierungskoalition.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schön, dass wir uns mal einig sind!)


Ich denke, Details muss ich hierzu nicht weiter ausfüh-
ren. Das haben meine Vorredner bereits zur Genüge ge-
tan.

Andererseits verknüpft der Antrag damit Elemente,
die mit dem Lebensmittelbuch nichts oder nur am Rande
zu tun haben.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Das ist ja das Problem!)


– Ja, genau. – Dazu kann ich nur sagen: Insbesondere das
Mantra von der Lebensmittelampel wird nicht dadurch
richtig, dass es permanent wiederholt wird, obwohl es
gar nicht hierhergehört.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte meine Rede vom Juni 2010 zum Thema
Lebensmittelampel in Erinnerung rufen.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Land des Autos sind wir uns der Bedeutung von
Ampeln durchaus bewusst, allerdings gehören die-
se an Kreuzungen und nicht auf Lebensmittel. Auf
der Straße helfen sie, den Verkehr zu regeln; auf
Lebensmitteln führen sie dazu, den Verbraucher zu
verwirren. Es mag schön aussehen, wenn alle Le-
bensmittel mit grünen, gelben oder roten Punkten
gekennzeichnet sind. Aber ist das nicht zu kurz ge-

dacht? Sollen wir den Bürgern durch eine Ampel-
kennzeichnung die Entscheidung leicht machen,


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Ja!)


keine Margarine mehr zu kaufen, weil diese mit
einem roten Punkt gekennzeichnet ist? Das klingt
polemisch, aber genau das ist die Ampelkennzeich-
nung auch – Polemik oder vielmehr Aktionismus
und Alibipolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Außerdem widerspricht die Ampelkennzeichnung dem
EU-Recht.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: So ist es! – Ursula Schulte [SPD]: Quatsch!)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Aussa-
ge war damals so richtig, wie sie es heute ist. Ich finde es
schade, dass die Ampel doch immer wieder Eingang in
Anträge findet, noch dazu in Anträge, die sich mit ande-
ren Themen befassen.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Mit Lebensmitteln!)


Ich denke, wichtiger als eine umfassende Entmündi-
gung der Verbraucherinnen und Verbraucher durch we-
nig aussagekräftige Symbolpolitik wie eine Lebensmit-
telampel ist eine echte Information mündiger Bürger und
Bürgerinnen, auf deren Grundlage sie sich eine eigene
Meinung bilden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was Sie machen, ist Placebopolitik!)


Noch ein anderer Punkt ist mir in diesem Zusammen-
hang wichtig: Der Deutsche Bauernverband weist in ei-
ner Stellungnahme zu Recht darauf hin, dass so manche
Irritation von Verbrauchern auch durch verlorengegange-
nes Allgemeinwissen über die Erzeugung von Lebens-
mitteln hervorgerufen wird. So sind im Normalfall weder
Leber noch Käse Bestandteil von Leberkäse, weder frü-
her noch heute, und das wird auch in Zukunft so sein. Er
wird aber trotzdem Leberkäse heißen. Echte Aufklärung
über Lebensmittel und deren Herstellung erreichen wir
nicht mit einer Ampel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ähnliches gilt für die Tierhaltungskennzeichnung von
Fleisch: Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates
für Agrarpolitik beim BMEL hat darauf hingewiesen,
dass es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dass
die Größe eines Tiermastbetriebs Einfluss auf das Tier-
wohl hat. Das ist für mich ein wichtiger Hinweis darauf,
dass die Dinge nicht so einfach sind, wie manchmal be-
hauptet wird.

Ich betone noch einmal: Wir sollten in unseren De-
batten zu den Themen Ernährung und Landwirtschaft
sachlich und themenbezogen diskutieren und nicht Dinge
vermischen, die nicht vermischt gehören.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Carola Stauche






(A) (C)



(B) (D)


In diesem Sinne soll mein Schlusswort auch wieder
dem Antrag unserer Regierungskoalition gehören. Ich
bin der Meinung, dass mit unserem Antrag ein bewährtes
Konzept sinnvoll weiterentwickelt wird. Ich bin über-
zeugt, dass ein reformiertes Lebensmittelbuch unsere er-
folgreiche und verdienstvolle Land- und Ernährungswirt-
schaft auch weiterhin nach Kräften unterstützen wird.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Willi Brase [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814905800

Ursula Schulte ist für die SPD-Fraktion die letzte Red-

nerin zu diesem Tagesordnungspunkt.


(Beifall bei der SPD)



Ursula Schulte (SPD):
Rede ID: ID1814905900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich wirklich, dass wir heute in der
Kernzeit über mehr Klarheit für Verbraucherinnen und
Verbraucher sprechen, Klarheit insbesondere dann, wenn
es um die Bezeichnung von Lebensmitteln geht. Dabei
ist es mir völlig egal, ob Grüne Woche ist oder nicht;
denn mir ist einfach das Thema wichtig. Wenn die Grüne
Woche dazu beiträgt, dass wir dieses Thema in die Kern-
zeit hieven können, dann soll es mir recht sein.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letzten
Legislaturperiode deutlich gemacht, dass sie eine Ver-
braucherpolitik für alle Menschen machen will. Es bleibt
unser Ziel, alle Verbraucherinnen und Verbraucher in die
Lage zu versetzen, ihren Bedürfnissen entsprechend klug
einzukaufen und sich bewusst zu entscheiden. Das ist so-
zusagen unser verbraucherpolitisches Credo.


(Beifall bei der SPD)


Wir alle wissen, dass es den Verbraucher bzw. die Ver-
braucherin so nicht gibt. Die Bedürfnisse sind sehr unter-
schiedlich, die Kaufentscheidungen ebenso. Verbraucher
handeln auch nicht immer rational. Viele Kaufentschei-
dungen kommen aus dem Bauch heraus; das kenne ich
auch persönlich. Am Ende ärgert man sich oft. Trotzdem:
Wenn ich an der Ladentheke stehe und ein Produkt kau-
fen will, dann habe ich auch das Recht, zu wissen, was
drin ist. Das ist für mich Klarheit und Wahrheit.


(Beifall bei der SPD)


Es ist wichtig, dass wir über die Reform des Deut-
schen Lebensmittelbuches und der Deutschen Lebens-
mittelbuch-Kommission reden. Allerdings kennen viele
Verbraucher und Verbraucherinnen das Lebensmittel-
buch überhaupt nicht; auch das muss sich ändern. Das
Buch hat sich nach meiner Meinung bewährt. Es ist aber
in die Jahre gekommen. Wir müssen also Hand anlegen
und das Buch fit für die Zukunft machen. In diesem Zu-
sammenhang zitiere ich Herrn Minister Schmidt, der in
einer Pressemitteilung im März 2015 gesagt hat, dass
der Qualitätswettbewerb auf dem Lebensmittelmarkt

gestärkt werden müsse, damit Verbraucherinnen und
Verbraucher nachhaltige Kaufentscheidungen treffen
können. Dazu sind aber klare und eindeutige Informati-
onen über die Produkte notwendig. Dazu kann auch die
Lebensmittelampel beitragen. Frau Stauche, hier bin ich
ganz anderer Meinung als Sie. Ich will keinen Beipack-
zettel bei Lebensmittelprodukten lesen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Effizienz, Transparenz, mehr Kommunikation und die
daraus folgende Akzeptanz seien die Grundpfeiler des
anstehenden Reformprozesses, so der Bundesminister. –
Ich tue jetzt einfach einmal so, als ob der Minister an-
wesend sei. Die SPD-Fraktion freut sich, Herr Minister,


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


dass Sie nun den Ankündigungsmodus aufgegeben haben
und konkrete Eckpunkte vorlegen.


(Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Das hat doch recht lange gedauert. Aber es heißt nicht
umsonst: Gut Ding will Weile haben. Seltsam, dass mir
in diesem Zusammenhang auch das Wahljahr 2017 ein-
fällt.

Von unterschiedlichen Seiten wird derzeit Kritik am
Deutschen Lebensmittelbuch geäußert. In der Tat ist
vieles verbesserungswürdig. Es kann doch nicht ange-
hen, dass ich beispielsweise Geflügelleberpastete kaufen
möchte und dann feststellen muss, dass die Bestandteile
vorwiegend aus Schweinefleisch bestehen. Ich habe ein-
mal einen Blick in die Leitsätze zum Fleisch und zu den
Fleischerzeugnissen geworfen. Dort ist bei der erwähn-
ten Geflügelleberpastete von Gänseleber die Rede. Das
ist auch richtig. Aber dann heißt es weiter: fettgewebs-
und sehnenarmes Schweinefleisch, teilweise – das ist die
Krönung des Ganzen – auch ohne Fleisch. Man könnte
darüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


Für mich ist klar: Der Anspruch der Verbraucher auf
Wahrheit und Klarheit soll prägend für die Leitsätze des
Deutschen Lebensmittelbuches sein. Wir müssen wissen,
was wir kaufen. Wir können erwarten, dass in der Ge-
flügelleberpastete größtenteils Geflügelleber enthalten
ist. Für mich gilt: Was draufsteht, muss auch drin sein;
das hat schon mein Kollege Carsten Träger betont. So
einfach ist das eigentlich auch, selbst wenn der Deutsche
Bauernverband meint, dass Leberkäse kaum Leber oder
Käse enthalten würde und dass das immer schon so war.
Das mag richtig sein, aber dann ist nicht das Unwissen
der Verbraucher an dem Misstrauen gegenüber Lebens-
mittelbezeichnungen schuld, sondern es sind schlichtweg
die irreführenden Bezeichnungen.


(Beifall bei der SPD)


Carola Stauche






(A) (C)



(B) (D)


Gesunde Ernährung fängt damit an, dass wir uns auf
die Zutatenliste und die Kennzeichnung von Lebens-
mitteln verlassen können. Das ist nicht nur für Allergi-
ker von großer Bedeutung. Die allgemeinen Leitsätze
des Lebensmittelbuches dienen dabei der Orientierung.
Sie müssen aber verständlich formuliert und aktuell
sein. Umfassende Verbraucherinformation und mehr
Transparenz, das sind unsere Ziele. Deshalb hält meine
Fraktion eine enge Verzahnung der Arbeit der Lebens-
mittelbuch-Kommission mit dem Internetportal Lebens-
mittelklarheit für sinnvoll.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit den Erkenntnissen, die die Verbraucherinnen und
Verbraucher über diese Plattform mitteilen, hat sich die
Kommission dann auch zwingend zu befassen. Letztend-
lich sind doch die Verbraucher die Fachleute in eigener
Sache.

Die von Ihnen, Herr Minister, vorgelegten Eckpunkte
scheinen in die richtige Richtung zu gehen. Schön, dass
Sie damit unsere Forderung aufgreifen, die wir Sozialde-
mokraten schon lange verfolgen. Es ist immer gut, wenn
man lernfähig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Arbeit der
Kommission sagen. Wenn die Deutsche Lebensmittel-
buch-Kommission effektive, transparente und zielori-
entierte Ergebnisse liefern soll, muss sie materiell und
personell auch besser ausgestattet werden. Wir benötigen
zusätzlich eine Straffung der Verfahrensabläufe, wir be-
nötigen eine bessere Kommunikation, die dann zu mehr
Klarheit und Akzeptanz der Ergebnisse führt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dabei plädiere ich weiterhin auch für eine gleichge-
wichtige Interessenvertretung in der Kommission und
verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf das
SPD-Papier aus der letzten Wahlperiode. Wir haben da-
mit den Ausbau der Verbraucherforschung gefordert. Die
Verbraucherforschung gehört ganz selbstverständlich in
die Kommission.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


Wenn dann die Kommission zusätzlich von sich aus
noch Initiativen ergreifen kann, dann können wir ein
verbrauchergerechtes Lebensmittelbuch sowie eine noch
effizienter arbeitende Lebensmittelbuch-Kommission er-
reichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile bin ich
ein ausgesprochener Fan der regionalen Produkte und
der regionalen Vermarktung. Viele Verbraucherinnen
und Verbraucher wollen inzwischen bei ihrem Einkauf
ebenfalls wissen, woher die Produkte kommen. Wir dür-
fen den Begriff „regional“ aber nicht verwässern oder
inflationär benutzen. Meine Hoffnung ist, dass die Dis-
kussion über das Deutsche Lebensmittelbuch die regio-
nale Wertschöpfung politisch flankiert und einen Beitrag
zu einer nachhaltigen Entwicklung bäuerlicher Land-
wirtschaft leistet. Immer mehr Wachstum, immer mehr

Export, das ist nur für wenige große Betriebe die richtige
Richtung.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1814906000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der Druck-
sache 18/7238 mit dem Titel „Mehr Klarheit für den Ver-
braucher bei der Bezeichnung von Lebensmitteln – Das
Deutsche Lebensmittelbuch und die Deutsche Lebens-
mittelbuch-Kommission reformieren“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koa-
lition bei Enthaltung der Opposition angenommen.

Unter dem Tagesordnungspunkt 5 b stimmen wir ab
über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 18/7242 mit dem Titel „Echte Reform
der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission – Mehr
Transparenz und Beteiligung“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und
6 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Zusatzbeiträge abschaffen – Parität wieder-
herstellen

Drucksache 18/7237

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lasten und Kosten fair teilen – Paritätische
Beteiligung der Arbeitgeberinnen und Arbeit-
geber an den Beiträgen der gesetzlichen Kran-
kenversicherung wiederherstellen

Drucksache 18/7241

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.

Ursula Schulte






(A) (C)



(B) (D)


Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814906100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die gesetzliche Krankenversicherung ist eine
der wichtigsten sozialen Errungenschaften in unserem
Land. Die Grundidee war, dass Versicherte und Arbeitge-
ber eine Solidargemeinschaft gründen; denn jeder kann
krank werden und ist darauf angewiesen, dass die Kosten
von den Gesunden für die Kranken mitgetragen werden.

Doch, meine Damen und Herren von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und CDU/CSU, Sie haben dieses Er-
folgsmodell über die Jahre deutlich geschwächt und aus-
gehöhlt. Diese Entwicklung muss endlich gestoppt und
rückgängig gemacht werden.


(Beifall bei der LINKEN – Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das ist Quatsch! Das stimmt doch gar nicht! Ist doch gar nicht wahr!)


– Ich erzähle Ihnen gleich, wie das geht.

2005 wurden die Versicherten mit einem Sonderbei-
trag belastet und die Arbeitgeber entlastet. Damit wurde
die paritätische Finanzierung, also halbe-halbe, aufgege-
ben. Das, meine Damen und Herren, war der erste Schritt.


(Lothar Riebsamen [CDU/CSU]: Es wurden Arbeitsplätze geschaffen!)


Als Begründung diente, dass der Ausgabenanstieg
mit den Einnahmen nicht mithalten werde. Ein logischer
Schluss wäre gewesen, die Einnahmebasis zu verbrei-
tern. Dazu gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Man
hätte zum Beispiel Kapitalerträge heranziehen können,
oder man hätte die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen
können. Das wäre sozial gewesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Sie setzen diesen unsozialen Weg fort und greifen
den Versicherten mit immer höheren Zusatzbeiträgen im-
mer tiefer in die Tasche, und das ist ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir als Linke tragen das nicht mit.

Die Bundesregierung begründet diese Maßnahmen
auch damit, dass die Arbeitgeber von Lohnnebenkosten
entlastet werden müssen und dass damit Arbeitslosig-
keit verhindert wird. So wurde wieder einmal die Le-
gende vom Kapital als scheuem Reh bedient, und diese
Sichtweise hat sich eigentlich bis heute in dieser Bun-
desregierung festgesetzt: zu hohe Löhne, überbordende
Sozialversicherungsbeiträge usw. usf., Beschäftigte, die
den Arbeitgeber eigentlich nur Geld kosten. Man kann es
schon gar nicht mehr hören.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit dieser Verdrehung der Tatsachen muss endlich
Schluss sein.

Meine Damen und Herren, unternehmerischer Erfolg
hat sich noch nie durch niedrige Löhne und möglichst
geringe Sozialversicherungsbeiträge eingestellt, sondern
nur durch gute, innovative Produkte oder hochwertige
Dienstleistungen. Diese Wertschöpfung wird von den
Beschäftigten erbracht und getragen. Deshalb ist es nur
gerecht und logisch, dass sich der Arbeitgeber mindes-
tens hälftig an der Finanzierung der Krankenversiche-
rung seiner Beschäftigten beteiligt; denn deren Gesund-
heit muss auch in seinem ureigenen Interesse sein.

Aber ungläubig durfte man sich zum Jahreswechsel
die Augen reiben, dass nun ausgerechnet die SPD die
Rückkehr zur paritätischen Finanzierung fordert. Denn
Sie waren es doch gewesen – Edgar, du lachst mich so
an –, die den Ausstieg aus dem Solidarprinzip auf den
Weg gebracht haben. Falls, liebe Genossinnen und Ge-
nossen der SPD, Sie aus diesem Fehler tatsächlich ge-
lernt haben, begrüßen wir das.


(Beifall bei der LINKEN – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gib ihnen doch eine Chance!)


Besser spät als nie. Ob Sie allerdings den Willen haben,
dies auch in der Großen Koalition umzusetzen, das muss
erst bewiesen werden. Noch fehlt mir der Glaube daran.

Bei uns bleibt es nicht bei Ankündigungen. Wir for-
dern in unserem heutigen Antrag die Wiederherstellung
der paritätischen Finanzierung. Weg mit den Zusatzbei-
trägen, und das schnellstmöglich! Nur das ist gerecht.
Die gesetzliche Krankenversicherung hat eine elementa-
re soziale Schutzfunktion, und die muss gestärkt werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814906200

Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. – Nächste Red-

nerin: Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1814906300

Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Uns liegen
zwei Anträge der Oppositionsfraktionen vor, die Parität
in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder einzu-
führen. Liebe Frau Zimmermann, in einem Punkt sind
wir uns einig: Das Krankenversicherungssystem ist eine
elementare Säule des sozialen Sicherungssystems in
Deutschland, und diese muss immer finanzierbar blei-
ben. Es gilt immer noch der Grundsatz der Wertschöp-
fung und der Erarbeitung der Produkte über die Kreati-
vität und den Fleiß der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
der Arbeitnehmer. Aber sie bekommen ihren Lohn erst
dann, wenn der Arbeitgeber die Produkte auf dem Markt
verkaufen konnte; denn die Mittel für die Löhne finan-
ziert der Kunde. Dieser Grundsatz gilt immer noch. In-
sofern will ich versuchen, ein bisschen Systematik in das
Durcheinander der uns vorliegenden Anträge zu bringen.

Präsident Dr. Norbert Lammert






(A) (C)



(B) (D)


Gut, man kann zu Beginn eines Jahres, in dem der
durchschnittliche Zusatzbeitrag um 0,2 Prozent angestie-
gen ist, einmal grundsätzlich über das Finanzierungssys-
tem diskutieren. Das gibt uns auch die Gelegenheit, das
eine oder andere noch einmal aufzufrischen.

Schon einige Jahre bringen wir mit diesem bewährten
Prinzip – Sie haben die Zahlen genannt – wirtschaftliche
Entwicklung und Sicherung der Arbeitsplätze voran. Das
kann niemand in diesem Haus wegreden. Wir haben in
der Zwischenzeit nicht mit Defiziten zu kämpfen, son-
dern wir haben immer noch erhebliche Rücklagen, die
selbstverständlich unterschiedlich verteilt sind – das ist
wahr –; das hat aber andere Ursachen.

Ich finde es ein bisschen komisch, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie heu-
te mit einem Antrag die Bundesregierung dezidiert auf-
fordern, ein Gesetz vorzulegen, um die Parität wieder
einzuführen, wo Sie es doch in der rot-grünen Bundes-
regierung waren, die aus der Not heraus, die es damals
gab – zum Beispiel 5 Millionen Arbeitslose und schlech-
te wirtschaftliche Parameter –, Maßnahmen ergriffen ha-
ben, die die Finanzierbarkeit unseres bewährten solidari-
schen Gesundheitssystems sichern sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zusatzbeitrag!)


Wir als Union haben damals mitgestimmt, die Ent-
scheidung mitgetragen, weil es richtig war.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt es damals durchgesetzt!)


Komischerweise ist es jetzt so, dass wir fast die Ein-
zigen sind, die an diesen Prinzipien festhalten. Was in
schwierigen wirtschaftlichen Zeiten ökonomisch richtig
ist, das kann man nach Adam Riese auch in guten wirt-
schaftlichen Zeiten nicht einfach außer Kraft setzen; das
gilt auch dann. Deshalb ist das Grundprinzip heute mehr
denn je, in guten Zeiten für schlechte Zeiten zu sorgen.
Das tun wir an vielen Stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine Forderung der Linken hat mich etwas überrascht.
Sie haben in Ihrem Antrag unter anderem gefordert, den
damals wegen der notwendigen Finanzierung der Pfle-
geversicherung abgeschafften Feiertag Buß- und Bettag
wieder einzuführen.


(Martina Stamm-Fibich [SPD]: Jawohl!)


Sie verweisen sogar darauf, dass der Freistaat Sachsen
diesen Feiertag nie abgeschafft hat und deshalb die Ar-
beitgeber und Arbeitnehmer die zusätzlichen Kosten
tragen. Sie fordern für dieses Land eine Sonderregelung.
Das kann man ernsthaft diskutieren.

Ich frage Sie aber jetzt etwas. Sie sind ja in mehreren
Ländern mit in der Regierung. Warum führen Sie denn
in Thüringen den Feiertag Buß- und Bettag nicht wieder
ein? Das können Sie selber über die Länderparlamente
machen. Da müssen Sie uns als Bundesgesetzgeber über-
haupt nicht bemühen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Zimmermann hat kurz darauf hingewiesen, dass
die Abkopplung von den steigenden Kosten durch Fest-
schreibung eines einheitlichen Beitrags – erst Sonderbei-
trag, dann Zusatzbeitrag – eine bestimmte Entwicklung
genommen hat. Der damalige Sonderbeitrag sollte zum
Beispiel dazu dienen, die zusätzlichen Kosten für das
Krankengeld zu erwirtschaften. Das kann man in einem
großen Topf sowieso nicht machen; das ist auch nie ge-
schehen. Ich will damit sagen, dass es bestimmte Ent-
wicklungen gegeben hat.

Um Legendenbildung vorzubeugen – – Die Präsiden-
tin unterbricht mich.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814906400

Nein.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1814906500

Nein. Gut. – Zwei Minuten habe ich noch, und es

blinkt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie haben noch immer nicht zur Sache geredet!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814906600

Entschuldigung. Es hat tatsächlich angefangen, zu

blinken. Im Zweifelsfall war die Technik schuld.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1814906700

Aber Sie merken, wie ich auf Ihre Zeichen reagiert

habe, Frau Präsidentin.

Ich will in sieben Punkten noch einmal sagen, warum
wir es auch heute für richtig halten, an dem bewährten
System festzuhalten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist daran bewährt?)


Erstens. Die Krankenkassen erhielten mit dem festge-
schriebenen Arbeitgeberbeitrag und mit der Möglichkeit,
über den Zusatzbeitrag zu reagieren, ihre Beitragsauto-
nomie zurück. Sie haben die Möglichkeit, auf die Kon-
stellation in ihrer gesetzlichen Krankenkasse zu reagie-
ren. Das stärkt sie, und das fördert den Wettbewerb.

Zweitens. Der absolute Zusatzbeitrag wurde in einen
prozentualen Zusatzbeitrag umgewandelt. Ein solcher
ist immer, auch hier, transparenter und vor allen Dingen
gerechter. Der Versicherte kann sich das bei seinem Zu-
satzbeitrag vor Augen führen. 1,1 Prozent – das ist der
durchschnittliche Zusatzbeitrag – von 1 500 Euro brutto
ist weniger als 1,1 Prozent von 3 000 Euro brutto. Des-
halb ist das auch gerecht.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Die Mitglieder können selber besser ent-
scheiden, welche Kasse sie für ihre persönliche Situation
für richtig halten. Sie können das Preis-Leistungs-Ver-
hältnis überprüfen und damit notfalls auch kontrollieren,
ob die speziellen Satzungsleistungen oder auch die Ge-

Maria Michalk






(A) (C)



(B) (D)


schäftsstellendichte zu ihrer persönlichen Situation pas-
sen. Somit stärken wir auch die Rechte der Versicherten.

Viertens. Nicht der Arbeitgeber soll dafür entschei-
dend sein, wo ein Versicherter das aus seiner Sicht beste
Angebot findet. Auch dadurch wird die Autonomie des
Versicherten gestärkt.

Fünftens. Mit dem einheitlichen Arbeitgeberanteil ist
gewährleistet, dass sich der Arbeitgeber in allen Fällen
gleich am Kassenbeitrag beteiligt. Ich erinnere daran,
dass er die komplette Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
alleine tragen muss. In manchen Fällen macht das sogar
mehr aus als der Zusatzbeitrag. Das ist ein Wert an sich.

Sechstens weise ich deshalb auf das Präventionsge-
setz hin; denn auch die betriebliche Gesundheitsvorsorge
spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle und hat
direkte Auswirkungen auf den Zusatzbeitrag der Kran-
kenkassen.

Siebtens verweise ich auf das Sonderkündigungsrecht
für jeden Versicherten. Wenn die Kasse die Beiträge er-
höht, können die Versicherten selber entscheiden, was sie
tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Wettbewerb
und mehr Transparenz sind heute genauso richtig wie
damals, als wir das System grundhaft umgebaut haben.
Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814906800

Vielen Dank, Frau Kollegin Michalk. – Nächste Red-

nerin: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kolle-
ginnen und Kollegen hier im Hause! Frau Michalk, Sie
haben gerade gesagt: in guten Zeiten für schlechte Zei-
ten sorgen. Sie haben aber leider keine Argumentation
dafür geliefert, wie man eigentlich in guten Zeiten für
schlechte Zeiten sorgt. Ein sehr wichtiger Ansatz wäre,
den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade in Zeiten
guter Finanzlage so zu strukturieren, dass er funktioniert.
Das wäre die Aufgabe gewesen. Und genau das passiert
mit den Zusatzbeiträgen eben nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nicht ohne Grund diskutieren wir heute hier zwei An-
träge, die im Wesentlichen – auch wenn sie in anderen
Aspekten nicht gleich sind – darauf gerichtet sind, die
Parität wiederherzustellen. Das hat doch einen guten
Grund; denn ein Jahr, nachdem Sie die kassenindividuel-
len Zusatzbeiträge in Kraft gesetzt haben, haben wir erst-
malig eine Situation, in der sie spürbar sind. Wir wissen
schon heute: Die Entwicklung wird rasant fortschreiten,
wenn wir nicht gegensteuern, und es wird zu hohen Zu-

satzbeiträgen und einseitiger Belastung der Versicherten
kommen.

Da gilt es jetzt gegenzusteuern. Nicht umsonst plädie-
ren die Linke, die Grünen und auch die SPD dafür. Ihr
ganzer Parteitag hat sich dafür ausgesprochen; aber auch
Ihre Arbeitnehmervereinigung hat sich so geäußert.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Der Patientenbeauftragte, Herr Laumann, hat deutlich
gemacht: Wir müssen wieder hin zur Parität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wenn wir jetzt Zeiten mit der besten Konjunktur und
der besten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
überhaupt haben, dann muss das doch der Zeitpunkt sein,
zu dem wir die Arbeitgeber wieder gerecht beteiligen,
nämlich hälftig beteiligen, und dafür sorgen, dass sie ihre
Lasten genauso tragen wie die Arbeitnehmer. Es gibt kei-
nerlei Begründung dafür, dass ausgerechnet die gesetz-
lich versicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesen Zeiten eine extra Konjunkturbeihilfe zahlen.
Nichts anderes ist es ja.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie argumentieren, das würde Arbeitsplätze
sichern, dann lassen Sie sich doch zum Beispiel einmal
den Handwerkerlohn vor Augen führen. Das kann man
beispielsweise für Bayern gut darstellen. Der Geselle
verdient pro Stunde 13,50 Euro brutto. Wenn wir den Ar-
beitgeber wieder paritätisch beteiligen, zahlt er in diesem
Fall 6 Cent mehr für diese Handwerkerstunde, die im
Übrigen insgesamt 48 Euro kostet. Daran sehen Sie: Das
ist kein wirklicher Beitrag, um Arbeitsplätze zu sichern.
Im Gegenteil: Sie wälzen Kosten auf die Versicherten ab,
und das ist so nicht hinnehmbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Zusätzlich verlieren wir mit der Aufgabe des Prin-
zips der paritätischen Finanzierung die Arbeitgeber als
Wächter für Kostenkontrolle im Gesundheitswesen. Das
ist eine ganz wichtige Funktion gewesen, die sie immer
innehatten. Aber jetzt haben wir einen Mechanismus,
nach dem die Versicherten sämtliche Kosten im Gesund-
heitswesen zu tragen haben. Der Arbeitgeber ist nicht
mehr beteiligt. Wir wissen, dass es um mindestens 11 bis
12 Milliarden Euro pro Jahr geht, und wir wissen auch,
dass Sie durch die zahlreichen Reformen des letzten Jah-
res bis 2019 weitere Kosten in Höhe von 12 Milliarden
Euro verursacht haben. All das soll nur der Versicherte
zahlen. Das finden wir ungerecht.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Wenn die Löhne steigen, steigt auch der Arbeitgeberbeitrag!)


Da muss man gegensteuern, und ich würde mir sehr
wünschen, dass Sie diese gesellschaftliche Diskussion,
die ja von weiten Kreisen getragen wird, tatsächlich zum
Anlass nehmen, noch einmal innezuhalten und sich zu
fragen: Müssen wir nicht die Zusatzbeiträge abschaffen

Maria Michalk






(A) (C)



(B) (D)


und wieder eine paritätische Finanzierung herstellen? Ist
das nicht das, was gefragt ist? Wir brauchen nicht einen
Preiskampf zwischen den Krankenkassen um den güns-
tigsten Tarif, sondern wir brauchen Investitionen in den
gesellschaftlichen Zusammenhalt und einen Wettbewerb
der Kassen, gute Versorgung zu organisieren. Das ist die
Aufgabe, die jetzt anzugehen wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Aufgabe ist angesichts des demografischen
Wandels wichtiger denn je. Stattdessen beschäftigen Sie
unsere Krankenkassen damit, zu überleben. Eine der
größten Krankenkassen wird den Spitzensatz erheben
müssen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Von 100 sind es 22!)


Das wird zu enormen Verwerfungen führen. Es wird zu
einer enormen Abwanderung von Versicherten führen.
Da richten Sie ernsthaft Schaden an in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Das wiederum bitte ich Sie wirk-
lich mit in die Betrachtung zu nehmen. Das gehört mit in
die Anhörung und bitte schön auch in die Verhandlungen
zwischen SPD und CDU; denn es reicht nicht – das muss
ich an dieser Stelle schon noch einmal sagen –, Oppositi-
on in der Regierung zu spielen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich erwarte von Ihnen ganz klar: Verhandeln Sie ernst-
haft! Sorgen Sie dafür, dass wirklich Druck entsteht und
wir diese Zusatzbeitragsentwicklung stoppen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814906900

Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächster Red-

ner: Dr. Karl Lauterbach für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1814907000

Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren!

Zunächst einmal ist es richtig, dass wir damals den Zu-
satzbeitrag, den Sonderbeitrag von 0,9 Prozent einge-
führt haben. Das war notwendig und ist Zeichen eines
wichtigen gesamtgesellschaftlichen Bündnisses. Ich bitte
Sie, sich Folgendes in Erinnerung zu rufen: Wir hatten
damals, Anfang 2005, 5 Millionen Arbeitslose. 5 Millio-
nen Menschen waren nicht in Arbeit. Die Tatsache, dass
wir den Zusatzbeitrag eingeführt haben, war schmerz-
haft. Das ist uns als SPD sehr schwergefallen. Das ist
auch den Gewerkschaften, die uns zum Teil sehr kon-
struktiv begleitet haben, sehr schwergefallen. Aber dazu
muss man nicht nur stehen, sondern dafür muss man
sich auch bedanken. Das tue ich an dieser Stelle. Die Ar-
beitnehmerschaft hat einen wesentlichen Solidarbeitrag
geleistet, der dazu geführt hat, dass wir heute in Europa
zu den wenigen Ländern gehören, die anderen Ländern
helfen können. Jeden Tag kommen Menschen zu uns, die
unsere Hilfe dringend benötigen. Man stelle sich nur vor,
wir wären jetzt in einer wirtschaftlichen Lage, in der wir

selbst keine Arbeit hätten, in der wir selbst Unruhe hät-
ten. Dann wären wir nicht in der Lage, hier irgendjeman-
dem entgegenzukommen. Somit: Das war ein Bündnis,
zu dem wir stehen, das richtig war und das seine Wirkung
getan hat.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was ist jetzt?)


Trotzdem ist auch richtig, was die Kollegin Klein-
Schmeink gesagt hat: dass die Zeiten sich geändert ha-
ben. Das hat gewirkt. Die Arbeitslosigkeit ist stark zu-
rückgegangen. Wir haben Haushaltsüberschüsse, und wir
haben jetzt im Prinzip das ökonomische Profil, mit dem
wir es uns leisten könnten, die Sonderbelastungen für die
Arbeitnehmer wieder zurückzunehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist nicht gottgegeben!)


Es gibt keine ökonomischen Gründe mehr dafür, bei
diesen Sonderbelastungen zu bleiben. Zu einem gesell-
schaftlichen Bündnis gehört, dass Arbeitgeber und Ar-
beitnehmer sich in einer Notsituation gemeinsam helfen,
aber auch, dass man das nicht vergisst, wenn die Not-
situation behoben ist. Das ist jetzt unsere Forderung.
Auch wir als SPD kämpfen für die Wiedereinführung der
Parität; denn jetzt wäre die Gelegenheit, zu zeigen, dass
es damals um dieses gesellschaftliche Bündnis ging und
dass nicht eine Umverteilung vorgenommen wurde, die
ideologischen oder prinzipiellen Überlegungen folgt.


(Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir hätten ja eine Mehrheit im Bundestag, das abzuschaffen!)


Ich will darauf hinweisen, dass das eine sehr wichtige
Grundsatzentscheidung ist, und zwar mit folgendem Hin-
tergrund: Es gibt kein anderes Sozialsystem, weder das
Rentensystem noch das Pflegesystem noch die Arbeitslo-
senversicherung, in dem alle zukünftigen Kostensteige-
rungen allein von den Arbeitnehmern zu bezahlen sind.
In allen anderen Systemen beteiligen sich die Arbeitge-
ber an den Steigerungen. Das ist im Gesundheitssystem
von allergrößter Bedeutung; denn in diesem System wer-
den die Kosten am stärksten steigen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb habt ihr schlecht verhandelt!)


Wir haben drei Herausforderungen:

Erstens haben wir eine älter werdende Babyboo-
mer-Generation, also eine Kohorte von jetzt noch im Be-
ruf stehenden und einigermaßen gesunden Menschen, die
demnächst älter und kränker sein werden.

Zweitens werden wir einen technischen Fortschritt ha-
ben, der in einigen Bereichen großartig, aber auch sehr
teuer ist. Wir rechnen zum Beispiel damit, dass die Me-
dikamente, die für Krebsbehandlungen bezahlt werden
müssen – die Kosten liegen jetzt bei jährlich 6 Milliarden

Maria Klein-Schmeink






(A) (C)



(B) (D)


Euro –, in 30 Jahren 45 Milliarden Euro im Jahr kosten
werden.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Die Entwicklung geht aber ein bisschen weiter!)


Das kann nicht allein von den Arbeitnehmern bezahlt
werden. Wir können nicht einerseits die Arbeitnehmer
in guten Jahren in den Betrieben beschäftigen und damit
Wirtschaftswachstum erreichen und andererseits, wenn
sie älter sind, krebskrank werden und Hilfe benötigen,
sagen: Das bezahlt der Arbeitnehmer alleine. – Das kön-
nen wir nicht tun.


(Beifall bei der SPD)


Drittens ist es so, dass durch die Behandlungserfol-
ge, die wir haben, viele Menschen mehrere Krankhei-
ten erleben werden. Derjenige, der eine Krebskrankheit
überlebt, hat immer noch das Risiko, an Demenz zu
erkranken oder einen Herzinfarkt zu bekommen. Zum
Teil bedingen sich diese Krankheiten auch gegenseitig.
Das heißt, der Kostenanstieg im Gesundheitssystem ist
deutlich gravierender als in jedem anderen Sozialsystem.
Die Kostenanstiege in der Rentenversicherung oder der
Pflegeversicherung, die wir erwarten können, sind sehr
klein im Vergleich zu den Zusatzbelastungen, die wir im
Gesundheitssystem haben werden. Man kann davon aus-
gehen, dass aufgrund der drei genannten Faktoren in 20
oder 30 Jahren die zu erwartenden Zusatzbelastungen bei
den Sozialversicherungen zu 70 Prozent durch das Ge-
sundheitssystem bedingt sein werden.

Somit ist es richtig, hier jetzt die Weichen zu stellen
für eine paritätische Finanzierung ohne Wenn und Aber.
Es ist noch richtiger, dies im Rahmen einer Bürger-
versicherung zu tun. Es ist nicht einzusehen, dass sich
ausgerechnet Beamte, Gutverdienende, Selbstständige,
diejenigen, die des Solidarpaktes eigentlich überhaupt
nicht bedürfen, daraus entfernen können und nicht mit-
bezahlen. Somit treten wir für eine paritätisch finanzierte
Bürgerversicherung ein.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf dem Weg dahin wäre es aber gut, wenn wir jetzt einmal den Zusatzbeitrag abschaffen!)


Das ist seit vielen Jahren unsere Position. Das ist keine
neue Position. Ich trage hier keine Neuigkeiten vor. Wir
werden dafür weiterhin kämpfen.

Ich hoffe, dass wir auch bei der Union Verständnis fin-
den; denn wir haben ja gute Argumente. Wir setzen auf
die Überzeugung


(Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Wir setzen auf den Koalitionsvertrag!)


und auf die Bürger, die unsere wichtigste Unterstützung
sind. Die Bürger sehen es zu 70 bis 80 Prozent so, wie ich
es gerade vorgetragen habe. Das kann auch für eine ver-
meintliche Volkspartei nicht ohne Konsequenzen blei-
ben. Daher haben wir gute Chancen, das mittelfristig auf
dem Verhandlungsweg zu erreichen. Ich bin froh, dass
die Opposition das Kernanliegen der SPD, was Bürger-

versicherung und Parität angeht, unterstützt. Wir sind für
jede Unterstützung dankbar und nehmen das gerne mit.


(Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was macht ihr mit unserem Antrag?)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814907100

Vielen Dank, Karl Lauterbach. – Nächster Redner:

Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1814907200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

CDU, CSU und liebe Kollegen der SPD: Ich kann mich
noch an die Bundestagswahl 2013 erinnern. Im Anschluss
an die Wahl haben wir in den Koalitionsverhandlungen
gemeinsam den Rahmen für die Gesundheitspolitik der
Koalition für diese Wahlperiode beschlossen.

Der Koalitionsvertrag umfasst Vereinbarungen zur Si-
cherstellung und Verbesserung einer flächendeckenden
ärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik. Diese Ver-
einbarungen haben wir in erster Linie im GKV-Versor-
gungsstärkungsgesetz konkretisiert. Infolgedessen wer-
den zum Beispiel in zehn Tagen die Terminservicestellen
ihre Arbeit aufnehmen.

Mit dem Krankenhausstrukturgesetz haben wir wie-
derum die Ziele des Koalitionsvertrages in Bezug auf
die Weiterentwicklung der stationären Versorgung in ein
Gesetz gegossen. Im Zentrum der Reformen steht die
Sicherstellung und Steigerung der Qualität in den Klini-
ken – all diese Dinge, die uns sehr wichtig sind. Ebenso
gab es Reformen in der Pflege. Ich möchte schon daran
erinnern, dass all diese Dinge keine Schnellschüsse wa-
ren, sondern wir das sauber und ordentlich miteinander
vorbereitet haben. Mit den Reformen setzen wir eines
der für mich wichtigsten und vielleicht auch komple-
xesten Vorhaben dieser Großen Koalition um, und das
gilt auch für das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-
Weiterentwicklungsgesetz, das die unmögliche Abkür-
zung GKV-FQWG trägt und ein wahrer Zungenbrecher
ist. All das basiert auf Vereinbarungen des Koalitionsver-
trages, und darauf setzen wir auch.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Allen genannten Gesetzen ist gemeinsam, dass sie
das Ergebnis bewusster Entscheidungen sind. Ich möch-
te einmal grundsätzlich erläutern, weshalb die Finan-
zierung der gesetzlichen Krankenversicherung in der
heutigen Form aus meiner Sicht richtig ist. Die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes und von Eurostat zu den
Lohnnebenkosten in der Privatwirtschaft zeigen für 2014
folgendes Bild: Auf 100 Euro Bruttoverdienst entfielen
in Deutschland zusätzlich 28 Euro Lohnnebenkosten. Im
EU-Durchschnitt waren es 31 Euro. Im Durchschnitt der
Länder der Euro-Zone waren es 35 Euro. Deutschland
liegt also unter dem Durchschnitt, meine sehr geehrten
Damen und Herren. Ich sage in aller Deutlichkeit: Das ist
auch gut und notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Karl Lauterbach






(A) (C)



(B) (D)


Neben den Lohnnebenkosten spielt natürlich eine
Vielzahl anderer Faktoren für den wirtschaftlichen Er-
folg eines Landes eine Rolle. Beispielsweise betragen die
Lohnnebenkosten in Schweden 46 Prozent, in Dänemark
nur 15 Prozent, doch beides sind durchaus wirtschaftlich
starke Länder. Ich gestehe: Ich bin der Auffassung, dass
wir uns nicht an den Lohnnebenkosten Frankreichs in
Höhe von 47 Prozent oder Italiens in Höhe von 39 Pro-
zent ein Beispiel nehmen sollten. Ich möchte hier keine
wirtschaftliche Diskussion führen. Es scheint mir jedoch
offenkundig, dass eine Begrenzung der Lohnnebenkos-
ten durchaus sinnvoll und notwendig ist, um die Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufrechtzuer-
halten und zu gewährleisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi-
tion, Sie können mit Sicherheit vieles kritisieren und aus
Ihrem Blickwinkel sehen; aber ich glaube, Sie können
der Großen Koalition hier nicht vorwerfen, dass unsere
Wirtschaftsdaten nicht in Ordnung wären, dass sie nicht
gut wären.

Ich möchte auch sagen: Ein weiteres Indiz für die Re-
levanz der Lohnnebenkosten ist die Tatsache, dass die
Parität in der Finanzierung der gesetzlichen Krankenver-
sicherung – das wurde schon erwähnt – unter Rot-Grün
aufgegeben wurde, als Deutschland noch als kranker
Mann Europas tituliert wurde. Soweit es in einer solchen
Situation möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist, sollte
man die Arbeitgeber von Belastungen durch hohe Lohn-
nebenkosten etwas verschonen.

Man kann sich jetzt fragen, ob eine paritätische Finan-
zierung der gesetzlichen Krankenversicherung aus einem
anderen Grund geboten wäre – Sie tun das –, etwa weil
die Parität in allen anderen Bereichen der Sozialversiche-
rung besteht, nur in der Krankenversicherung nicht, also
aus ordnungspolitischen Gründen, oder weil die Parität
ein Wert an sich ist. Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob die
Parität ein Wert an sich ist. Im Allgemeinen bin ich aber
der Auffassung, dass eine allzu unausgewogene Vertei-
lung der Finanzierung von Sozialversicherungssystemen
weder wirtschaftspolitisch noch gesellschaftspolitisch
richtig wäre.

Allerdings befinden wir uns in Deutschland heute
nicht in der Lage, dass die Sozialversicherung unausge-
wogen finanziert wäre. Ich finde im Gegenteil, dass sie
ziemlich ausgewogen finanziert ist, auch unter Berück-
sichtigung der aktuellen Steigerung der Krankenversi-
cherungsbeiträge.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814907300


Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Fra-
ge von Frau Klein-Schmeink?


Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1814907400


Gerne. – Bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Irlstorfer, Sie haben in Ihren Ausführungen deut-
lich gemacht, dass es ordnungspolitisch unter Umstän-
den ein Argument für die Parität geben könnte. Das füh-
ren wir auch an. Ich habe hier eine Aufstellung über die
Kosten einer Handwerkerstunde, die die Arbeitsgemein-
schaft der bayerischen Handwerkskammern für 2013 er-
arbeitet hat. 48,51 Euro kostet allgemein die Handwerk-
erstunde, davon entfallen 13,50 Euro auf den Bruttolohn.
Das heißt, wenn wir eine Anpassung vornehmen und den
Beitrag wieder paritätisch gestalten würden, würde das
einem Plus von 6 Cent entsprechen. Das ist sehr wenig.

Schauen Sie sich die Aufteilung insgesamt an.
4,98 Euro fallen für die gesetzlichen Sozialaufwendun-
gen an. Für tarifliche Sozialaufwendungen sind 5,94 Euro
vorgesehen. Wir haben betriebliche Gemeinkosten von
14,45 Euro. Ein Teil entfällt auf die Mehrwertsteuer.
Das heißt, der Anteil an der gesetzlichen Krankenversi-
cherung ist erstens niedrig und zweitens überhaupt kein
Argument dafür, von der paritätischen Finanzierung ab-
zuweichen. Im Gegenteil: Ordnungspolitisch macht es
großen Sinn; denn wir wissen doch, dass die Arbeitgeber
dann mit dazu beitragen würden, die Entwicklung im Ge-
sundheitswesen kostengünstig zu gestalten.

Wir werden aufgrund unserer älter werdenden Gesell-
schaft sowieso hohe Kostensteigerungen haben. Daher
meine Frage: Ist es nicht wichtig, dass wir beide, Arbeit-
geber und Arbeitnehmer, im Boot haben, und zwar pari-
tätisch?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1814907500

Frau Kollegin, diese Aufstellung entspricht mit Si-

cherheit der Wahrheit. Aber ich glaube, das wäre ein
falsches Signal zum falschen Zeitpunkt. Deshalb ist es
richtig, dass wir so handeln, wie wir es vorhaben. Das ist
eine politische Entscheidung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen sind die Beitragsanpassungen nicht un-
erklärlich oder in irgendeiner Form beliebig getroffen
worden, sondern sie ergeben sich aufgrund der Verbes-
serungen in der Gesundheitsvorsorge, des medizinischen
Fortschritts und auch der demografischen Entwicklung,
die sich im solidarischen System der GKVen widerspie-
gelt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie for-
dern, genauso wie der Kollege Lauterbach, nahezu in je-
dem zweiten Antrag, den wir im Gesundheitsausschuss
beraten und im Plenum besprechen, die Einführung der
Bürgerversicherung. Wie das konkret und sinnvoll aus-
sehen soll, das habe ich von Ihrer Seite bis heute leider
noch nicht erfahren. Ich kann nur sagen: Aus dem vorlie-
genden Antrag geht das ebenfalls nicht hervor.

Außerdem wird im vorliegenden Antrag der Linken
die Abschaffung der Zusatzbeiträge gefordert. Diese
Zusatzbeiträge haben allerdings einen bestimmten Sinn
und Zweck. Wir als CDU/CSU wollen einen Versor-
gungswettbewerb zwischen den Kassen. Ebenso wollen

Erich Irlstorfer






(A) (C)



(B) (D)


wir die Krankenkassen zur Wirtschaftlichkeit anhalten.
Dafür nutzen wir eine ganze Reihe von Instrumenten.
Der Zusatzbeitrag ist eines davon. Die Abschaffung des
Zusatzbeitrags würde daher erfordern, eine Alternati-
ve anzubieten. Sie verweisen auf Ungenauigkeiten im
Morbi-RSA, doch dies ist in meinen Augen eine andere
Baustelle. Morbi-RSA und Zusatzbeitrag stehen zwar in
einem Zusammenhang, sie sind aber nicht austauschbar,
auch nicht, wenn man am Morbi-RSA Änderungen vor-
genommen hätte.

Abschließend noch ein letzter Gedanke. Wenn die
Parität als Prinzip beschworen wird und die Unausge-
wogenheit der Sozialversicherungsbeiträge thematisiert
wird, dann bitte ich, die Situation insgesamt zu betrach-
ten. Es ist doch so, dass eine paritätische Finanzierung
der Sozialversicherungssysteme nicht unbedingt von
Vorteil für alle Arbeitnehmer wäre. Beispielsweise wer-
den die Beiträge zur Unfallversicherung allein von der
Arbeitgeberseite getragen. Auch im Fall von Krankheit
wird die Entgeltfortzahlung allein vom Arbeitgeber ge-
tragen, bevor die Krankenkasse nach sechs Wochen ein-
springt und Krankengeld zahlt. Es gibt auch noch andere
Beispiele.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814907600

Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte?


Erich Irlstorfer (CSU):
Rede ID: ID1814907700

Selbstverständlich achte ich auf die Zeit. – Ich kom-

me zum Schluss. Ab einem gewissen Grad des Ungleich-
gewichts der Anteile der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
stellt sich gewiss die Frage nach einer Korrektur. Ich
möchte aber sagen, dass das heute nicht der Fall ist. Es
ist daher nicht der richtige Zeitpunkt.

An die Kollegen der SPD gerichtet möchte ich sagen:
Wir haben den Arbeitgeberanteil im Koalitionsvertrag
aus guten Gründen so festgeschrieben. Daran halten wir
uns auch. Es wäre schön, wenn Sie uns hier unterstützen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814907800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner:

Harald Weinberg für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814907900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte
auf ein paar Argumente eingehen, die hier vorgebracht
worden sind.

Zuerst möchte ich auf das Arbeitsplatzargument bzw.
Lohnnebenkostenargument eingehen. Dieses Argument
war damals falsch, und es ist heute nicht richtiger. Das
muss man meines Erachtens in aller Deutlichkeit sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieses Argument ist falsch, weil Unternehmer Arbeits-
kräfte nicht einfach sozusagen auf Vorrat einstellen und
auf Halde legen, nur weil sie gerade günstiger zu haben
sind. Diese Vorstellung steckt hinter diesem Argument.
Diese Vorstellung ist aber grundfalsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe Ihnen in der letzten Wahlperiode anhand ei-
nes deutschen Exportgutes, eines Golfs mit einem Lis-
tenpreis von etwa 25 000 Euro vorgerechnet, was die
Einführung der Parität ausmachen würde. Wenn man
das ausrechnet, kommt man bei einem Listenpreis von
25 000 Euro auf einen Unterschied von 40 Euro. Wäh-
rungsschwankungen und der derzeitige Abgasskandal bei
VW haben gravierendere Folgen für den Wettbewerb als
eine paritätische Finanzierung.


(Beifall bei der LINKEN)


Über welches Volumen reden wir? Das Volumen ist
ordentlich: Von 2005 bis 2015 wurden durch den Sonder-
beitrag von 0,9 Prozent von den Versicherten 102 Milli-
arden Euro mehr als von den Arbeitgebern gezahlt. Von
2016 bis 2020 wird die eine Seite geschätzt 115 Milliar-
den Euro mehr zahlen als die andere Seite.

Jetzt will ich auf die Frage eingehen, was dieser Zu-
satzbeitrag bewirkt. Sie sprechen ja immer von einem
Versorgungswettbewerb. Dieser Zusatzbeitrag führt mei-
nes Erachtens aber – das ist schon mehrmals gesagt wor-
den – zu einem Vermeidungswettbewerb und zu einem
Preiswettbewerb unter den Kassen, den wir nicht wollen.
Ich will Ihnen das einmal anhand einer deutschen Kran-
kenkasse deutlich machen.

Ein internes Papier des Vertriebsbereichs dieser Kran-
kenkasse liegt mir vor. Ich kann Ihnen das also durch-
aus nachweisen. In diesem internen Papier des Vertriebs
heißt es: Mit der Scharfstellung der Zusatzbeiträge wird
der Versorgungswettbewerb zum Preiswettbewerb. –
Das steht in einem Papier einer Krankenkasse. Das ist
wahrscheinlich nicht die einzige Krankenkasse, bei der
das in einem internen Papier steht. – Weiter heißt es dort:
Neuakquisitionen müssen durch Wertsteigerung der Ver-
sichertensubstanz ein qualitatives Wachstum sichern und
so ihren Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des Unterneh-
mens unter den Bedingungen des Morbi-RSA leisten.

Den ersten Teil dieses Satzes „Neuakquisitionen müs-
sen durch Wertsteigerung der Versichertensubstanz ...“
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das be-
deutet ja im Prinzip: Man versucht, alle mehrfach Er-
krankten und alle schwer Erkrankten wegzubekommen,
und man versucht, Junge und Gesunde anzuziehen. Das
wird dem Vertrieb einer Krankenkasse in einem solchen
Papier vorgegeben. Das ist der Wettbewerb, den Sie aus-
lösen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den wir nicht wollen! – Zuruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU])


Noch einen Satz zur Lohnfortzahlung, weil die immer
wieder angeführt wird. Die Lohnfortzahlung ist nach ei-

Erich Irlstorfer






(A) (C)



(B) (D)


nem sechswöchigen Streik 1956/57 in Schleswig-Hol-
stein eingeführt worden. Das ist also kein Almosen der
Arbeitgeber,


(Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Das behauptet doch niemand!)


sondern eine erkämpfte Errungenschaft.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist danach in Gesetzesform gegossen worden, weil
Adenauer nicht wollte, dass es wegen dieser Angelegen-
heit zu einem Flächenstreik kommt. Das ist die Situation
gewesen. Das muss noch einmal in aller Deutlichkeit ge-
sagt werden.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814908000

Herr Weinberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder

-bemerkung von Karl Lauterbach?


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814908100

Ja.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1814908200

Vielen Dank. – Die Anschuldigung, die Sie hier vor-

tragen, ist gravierend. Es ist natürlich wichtig, darauf ein-
zugehen. Ich kenne viele Krankenkassen, die auf diesen
Wettbewerb anders reagiert haben, die versucht haben,
ihre Mitglieder zu halten oder neue zu gewinnen durch
bessere Qualität. Wenn Sie so etwas vortragen – das ist
ein gravierender Vorwurf; da stimme ich Ihren Kollegin-
nen und Kollegen zu –, dann sollten Sie auch sagen, um
welche Krankenkasse es sich handelt.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Genau!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814908300

Herr Weinberg, bitte.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814908400

Ich habe ja gesagt, dass mir das vorliegt. Das ist ein

internes Papier einer Krankenkasse.


(Erich Irlstorfer [CDU/CSU]: Welche?)


– Das ist die KKH Allianz.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Vielen Dank!)


– Bitte sehr. – Und die HEK übrigens auch noch.

Zum Schluss möchte ich versuchen, eines herauszu-
arbeiten. Wir haben hier im Parlament eigentlich, wenn
man die Beschlusslagen ernst nähme, eine deutliche par-
lamentarische Mehrheit für die Wiedereinführung der
Parität.


(Rudolf Henke [CDU/CSU]: Die kommt durch Abstimmung zustande!)


– Die kommt am Ende durch Abstimmung zustande,
Herr Henke. Das ist richtig. – Die Grünen wollen, so sage
ich es einmal, den Sündenfall von 2005 jetzt korrigieren.
Sie haben deutlich hinzugelernt und jetzt einen Antrag
dazu vorgelegt. Es gibt bei der SPD auf allen möglichen

Klausuren und Sitzungen Beschlüsse, die in Richtung
Wiedereinführung der Parität gehen.

Es gibt – das will ich in aller Deutlichkeit sagen – auch
bei den Arbeitnehmerorganisationen der Union, bei der
CDA und bei der CSA, Beschlüsse, die eindeutig in die
Richtung gehen, die Wiedereinführung der Parität auf
die Tagesordnung zu setzen. Mit dem Vorsitzenden der
CDA, Herrn Laumann, haben wir da sogar jemanden, der
auch in der Regierung sitzt.

Wir hätten also eine deutliche parlamentarische Mehr-
heit, wenn alle gemäß der Beschlusslage handeln. Das
wäre schön; das wäre gut. Aber ich glaube und befürchte,
das werden wir nicht erleben. Dennoch freue ich mich
auf die weiteren Beratungen und denke, wir sollten die-
ses Thema auf jeden Fall immer wieder aufrufen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814908500

Vielen Dank, Kollege Weinberg. – Nächste Rednerin:

Hilde Mattheis für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1814908600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, wir als SPD haben in unseren Beschlüssen mehrfach
bestätigt: Wir wollen die Bürgerversicherung. Wir wol-
len zurück zur Parität. – Das haben wir in großer Ernst-
haftigkeit beschlossen. Das ist keine politische Luftblase,
sondern wir haben seit Beginn des Konzeptes der Bür-
gerversicherung, dem Sie von den Grünen sich ja ange-
schlossen haben, diese beiden Ziele immer wieder kom-
muniziert.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich kann mich erinnern, dass es in der Historie der Grü-
nen durchaus auch Debatten gab, die näher bei der FDP
waren als bei der Bürgerversicherung.


(Widerspruch des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Frau Bender, eine Ihrer Vorgängerinnen, hat sehr mas-
siv dafür gekämpft. Ich bin also froh, dass Sie dann An-
fang 2000 diesen Beschluss zur Bürgerversicherung ge-
fasst haben, nachdem die Heinrich-Böll-Stiftung Ihnen
ein Gutachten dazu geliefert hat.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten den eher als ihr! Aber ist egal!)


Da besteht bei uns große Einigkeit.

Es war klar: Mit Eintritt in die Große Koalition ist das
eine Frage, bei der wir mit unserem Partner nicht so nahe
zusammenkommen. Da sind wir auf unterschiedlichen
Sternen. Trotzdem muss man dieses Ziel unter diesen
politischen Vorzeichen und auch unter Beachtung der

Harald Weinberg






(A) (C)



(B) (D)


Historie immer wieder klar kommunizieren. Das tun wir
als SPD.

Damit kommunizieren wir auch klar: Wir wissen, dass
unser gutes Umlagesystem das krisenfesteste ist, das
es überhaupt gibt. Wir hoffen immer, dass es auch ein
Mehr an Einsicht bei anderen Parteien gibt. Denn gera-
de in der Zeit der Finanzmarktkrise ist das Prinzip nach
der Mackenroth-These – in der Zeit, in der ich Ausgaben
zu tätigen habe, sorge ich auch für die Einnahmen, und
zwar paritätisch – das sicherste Prinzip für die Menschen
überhaupt. Das immer wieder zu kommunizieren, ist un-
sere politische Aufgabe; diese haben wir angenommen.
Jede Art von Kapitaldeckung zeichnet irgendwie ein
Luftschloss, aber führt nicht zum Ziel. Dazu gibt es ganz
viele Berechnungen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir wissen – das mag ich hier gerne einräumen –, dass
es auch unter dem Druck gesellschaftlicher Debatten – an
diesen gesellschaftlichen Debatten beteiligten sich nicht
nur Wirtschaftsverbände, sondern auch Gewerkschaf-
ten, Sozialverbände, alle miteinander – am Anfang der
2000er-Jahre durchaus eine Kommunikation gab, die
auch die beiden Parteien hier vor mir mitgetragen haben,
nämlich dass man die Senkung von Lohnnebenkosten an-
streben muss. Diese Debatte hat sich überholt. In dieser
Debatte stecken wir jetzt nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU])


– Nein, das sage ich ganz offen. – Deshalb verlieren wir
das Ziel der Bürgerversicherung nicht aus dem Blick.

Wir sagen klar: Wir wollen, dass die Menschen in
unserem Land am medizinischen Fortschritt teilhaben
können und dass dies zu finanzieren ist. Deshalb haben
wir in unserem Koalitionsvertrag gern den Punkt aufge-
nommen, den medizinischen Fortschritt – entsprechende
Maßnahmen lagen bei der letzten Bundesregierung ja auf
Eis – miteinander voranzubringen. Was haben wir ge-
macht? Zu nennen ist das Palliativ- und Hospizgesetz,
das Versorgungsstärkungsgesetz, das Krankenhausstruk-
turgesetz, das Präventionsgesetz. Ich könnte noch ein
paar andere Punkte aufzählen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Pflegestärkungsgesetz!)


– Ja, den Bereich der Pflege will ich nicht vergessen; das
ist aber ein anderer Finanzierungsblock. – Das haben wir
miteinander auf den Weg gebracht, und zwar mit dem
Ziel, Versorgungslücken in diesem Land zu schließen.
Es ist nämlich klar, dass die Zugänge zur medizinischen
Versorgung sowohl im ländlichen als auch im städtischen
Bereich nicht für alle gleich sind. Durch die Gewährleis-
tung der Finanzierungssicherheit wollten wir sicherstel-
len, dass auch die Krankenhäuser ihren Platz als wich-
tiger Baustein im Versorgungssystem behalten. All das
haben wir gemacht.

Jetzt sehen wir, dass das Geld kostet – allerdings
nicht erst jetzt; bitte keine falschen Interpretationen. Wir
wussten, dass das mehr Geld kostet. Wir sind damit auch
offensiv in Wahlkämpfe gegangen. Wir als SPD haben

gesagt: Wer gute Pflege haben will, muss auch bereit
sein, dafür mehr zu zahlen. – Jetzt führen wir eine ge-
sellschaftliche Debatte. Wir sind in einer Phase, in der
die Wirtschaft boomt und in der es dem Land richtig gut
geht; die Wachstumsdaten bestätigen das. Darüber sind
wir alle froh. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass alle an
diesem Wachstum teilhaben. Das schaffen wir unter an-
derem mit einer fairen und paritätischen Finanzierung.
Dafür setzen wir uns ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Mehr Arbeitsplätze bringen auch mehr Wachstum!)


– Wachstum fällt nicht vom Himmel – Entschuldigung –,
sondern daran sind alle,


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig, genau!)


vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, beteiligt. Wir haben in dieser gesellschaftlichen
Debatte immer gesagt: Teilhabe lässt sich nicht allein
dadurch sicherstellen, dass man nur gute Löhne für gute
Arbeit zahlt, sondern man braucht auch ein Sozialversi-
cherungssystem, das paritätisch finanziert ist.

Meine abschließende Bemerkung: Nicht alle Versi-
cherungen sind paritätisch finanziert. Die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer finanzieren, und zwar über
die Steuer, ein Drittel der Ausgaben für die Rente. Im
Hinblick auf die Pflegeversicherung wurde schon gesagt,
dass die Entscheidung, den Buß- und Bettag als Feier-
tag abzuschaffen, ungefähr einen Beitragssatzpunkt aus-
macht. All das bitte ich zu bedenken.

Ich bin froh, dass wir die Unterstützung des Arbeit-
nehmerflügels der CDU haben. Ich bin zwar nicht immer
mit allen Äußerungen von Herrn Laumann einverstan-
den; das ist so im politischen Geschäft.


Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814908700

Denken Sie an Ihre Redezeit?


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1814908800

Ich komme zum Ende. – Aber in diesem Punkt ver-

traue ich auf seine starke Durchsetzungskraft und auf das
Gewinnen von Einsichten in den nächsten Wochen.

Ich danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814908900

Nächster Redner: Lothar Riebsamen für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1814909000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Wenn man diese Debatte, in der
der Begriff „Bürgerversicherung“ beinahe so häufig vor-
kommt wie „Parität“, verfolgt und sieht, dass in diesem

Hilde Mattheis






(A) (C)



(B) (D)


Jahr, 2016, nicht alle gesetzlichen Krankenkassen einen
höheren Zusatzbeitrag verlangen, dann wird doch klar,
dass in dieser Debatte nicht in erster Linie der Zusatzbei-
trag im Vordergrund steht, sondern dass Sie etwas an-
deres im Blick haben, nämlich die Landtagswahlen, die
bald stattfinden, und die Bundestagswahl im nächsten
Jahr.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja billig! – Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur weil Sie nicht betroffen sind als Beitragszahler, oder was? Es gibt aber haufenweise betroffene Beitragszahler!)


Es ist Ihr gutes Recht, den Finger in die Wunde zu
legen und zu sagen, dass die SPD eine andere Auffassung
zur Bürgerversicherung hat als die Union; das dürfen Sie
alles machen. Das hindert uns aber nicht daran, auf den
Koalitionsvertrag zu verweisen, den wir im Jahr 2013
vereinbart haben und den wir erfolgreich umgesetzt ha-
ben; Kollegin Mattheis hat all die guten Gesetzesvorha-
ben, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben,
aufgezählt. Das werden wir in den nächsten eineinhalb
Jahren fortsetzen. Wir werden uns an den Koalitionsver-
trag halten und gute Politik für unser Land machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814909100

Herr Riebsamen, erlauben Sie eine Zwischenfrage

von Frau Klein-Schmeink?


Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1814909200

Ja, aber gerne.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Riebsamen, Sie sprachen gerade vom Koalitions-
vertrag und sagten, dass er einzuhalten sei. Man könnte
natürlich auch sagen: Als der Koalitionsvertrag formu-
liert worden ist, war noch nicht absehbar, dass sich die
Konjunktur dauerhaft so gut entwickeln wird. Vielleicht
haben Sie damals auch nicht absehen können, welche
Kosten im Gesundheitswesen Sie durch die zahlreichen
Reformen des letzten Jahres zusätzlich auf den Weg ge-
bracht haben. Wir alle wissen, dass durch die Gesetze der
Großen Koalition ein dicker Batzen von 12 Milliarden
Euro bis 2019 obendrauf kommt, und wir wissen auch,
dass die Kosten im Gesundheitswesen jährlich um 3 bis
5 Prozent steigen.

Diese Kosten werden alleine bei den Versicherten ab-
geladen. Sie sind also nur von diesen zu tragen, und die
Arbeitgeber sind daran nicht mehr beteiligt. Vielleicht
haben Sie das in diesem Umfang zu Beginn der Verhand-
lungen über den Koalitionsvertrag nicht entsprechend im
Auge gehabt. Es sieht ja auch so aus, als ob Ihre Arbeit-
nehmervereinigung genau das thematisiert.

Meinen Sie nicht, dass dieser gesellschaftliche Dis-
kussionsprozess jetzt aufgenommen werden und man
nicht um jeden Preis auf die Einhaltung eines Vertrages
pochen sollte?


Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1814909300

Sehr geehrte Frau Klein-Schmeink, beim Abschluss

des Koalitionsvertrages haben wir wie heute auch im
Auge gehabt – darauf wäre ich noch zu sprechen gekom-
men –, dass es eben nicht von Gott gegeben ist, dass eine
Konjunktur immer so bleibt, wie sie ist. Zurzeit ist sie
Gott sei Dank sehr gut, aber gucken Sie sich heute doch
nur einmal die Wirtschaftsschlagzeilen an.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Ja!)


Gucken Sie sich an, wie die Entwicklung in China aus-
sieht, von der unsere Wirtschaft sehr stark abhängt.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Richtig!)


Gucken Sie sich auch die Entwicklung der Rohstoffprei-
se an. Sie sehen dann sehr deutliche Wolken am Horizont
auftauchen, und darauf müssen wir uns einstellen. Alles
andere wäre keine verantwortungsvolle Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die 6 Cent pro Handwerksstunde bringen es dann? Erstaunlich!)


Der Begriff „Solidarität“ wird auch in dieser Debat-
te sehr ausgiebig strapaziert. Ich möchte Sie schon noch
einmal darauf hinweisen, dass wir uns in Bezug auf die
Solidarität nicht zu verstecken brauchen. Wir geben im
Jahr über 200 Milliarden Euro – das sind über 11 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts – für den Gesundheitsbereich
aus und liegen damit gemeinsam mit anderen Ländern
an der Spitze in Europa, zum Beispiel mit der Schweiz,
mit den Niederlanden und mit Frankreich, die alle un-
terschiedliche Systeme haben. Die einen haben Arbeit-
geberbeiträge, aber nur geringe, die anderen haben keine
Arbeitgeberbeiträge, und wieder andere, wie Frankreich,
haben eine Kostenerstattung von 70 Prozent.

Wenn wir das alles einmal nebeneinanderbetrachten,
dann wird sehr deutlich, dass wir uns eben nicht zu ver-
stecken brauchen, sondern dass wir in unserem Land eine
ausgeprägte Solidarität zwischen Gesunden und Kranken
und zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die beschneiden Sie doch gerade! Genau die wird beschädigt!)


Weil dies so ist, haben wir eine gute Wettbewerbsfä-
higkeit. Wir sind hier mit an der Spitze in der Welt und
können anderen Ländern helfen, wie der Kollege Pro-
fessor Lauterbach völlig richtig ausgeführt hat, und das
wollen wir auch so beibehalten. Wir wollen diese gute
Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft besitzen. Vor zehn
Jahren haben das auch die Grünen einmal so gesehen, als
die Entlastung der Unternehmen eingeführt wurde.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das war eine ganz andere Situation! 10 Prozent Arbeitslosigkeit!)


Das war damals so richtig, wie es heute richtig ist. Des-
wegen: Wir sollten darauf schauen, dass wir hier in guten
Zeiten nicht Gesetze machen, die uns in einigen Jahren

Lothar Riebsamen






(A) (C)



(B) (D)


oder auch schon in kurzer Zeit wieder einholen können.
Das wird mit uns nicht zu machen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum Thema Kassenwettbewerb. Es geht ja nicht nur
um Geld und um Ent- und Belastungen an der einen oder
anderen Stelle, sondern es geht auch darum, dass die Ver-
sicherten in unserem Land – das war damals auch der
Grund dafür, warum man eine Entlastung der Unterneh-
men in Höhe von 0,9 Prozent eingeführt hat – in die Lage
versetzt werden, zu vergleichen. Es ist sicher wichtig,
die Beiträge zu vergleichen; aber auch die Leistungen
der einzelnen Kassen und der Service, den die einzelnen
Kassen anbieten, müssen untereinander verglichen wer-
den können.

Gerade in einer Zeit, in der die Kosten im Gesund-
heitswesen unter anderem aufgrund der Medikamenten-
preise und der Demografie in den nächsten Jahren in der
Tat nach oben gehen, ist es umso wichtiger, dass sich
auch die Versicherten in unserem Land mit diesem The-
ma auseinandersetzen und eine Auswahl treffen können,
welche Krankenkasse für sie die richtige ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der noch
gar nicht zur Sprache gekommen ist: Die Wirtschaft kann
den Euro nur einmal ausgeben.


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Die Bürger auch!)


Das ist doch eigentlich eine Binsenweisheit, und es ist
auch völlig klar: Wenn wir die Parität wiederherstellen
würden, dann würde die zusätzliche Belastung, die da-
durch bei den Unternehmen entsteht – sie mag nicht hoch
sein –, bei den Tarifverhandlungen eine Rolle spielen. Ob
das dann in Tarifverhandlungen bei den Unternehmen so
durchsetzbar sein wird, weiß ich nicht; aber es wird je-
denfalls Gegenstand sein.

Das heißt, wenn aufgrund einer konjunkturell guten
Lage oder eines guten Produktivitätsfortschritts 1 Euro
mehr zur Verfügung steht, dann würde dieser nicht zu
100 Prozent den Mitarbeitern zugutekommen, sondern
es werden vielleicht nur 90 Cent sein, weil 10 Cent für
die Wiederherstellung der Parität ausgegeben werden.
Auch damit muss man bei Tarifverhandlungen rechnen.
Insofern ist es doch auch eine gewisse Augenwischerei
gegenüber den Arbeitnehmern, zu sagen: Auch wenn die
Parität hergestellt ist, bekommst du das, was mehr erwirt-
schaftet wird, zu 100 Prozent. – Das ist nicht richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für ein Argument?)


Ich tue mich übrigens überhaupt nicht schwer, in Ver-
sammlungen zu erklären, warum wir jetzt einen höheren
Zusatzbeitrag von durchschnittlich 0,2 Prozent haben.
Wir haben in den letzten zwei Jahren eine nicht ganz bil-
lige Gesetzgebung gemacht. Nehmen wir zum Beispiel –
da bin ich Berichterstatter – das Krankenhauswesen. Mit
dem Pflegestellen-Förderprogramm und dem Pflegezu-
schlag erhalten die Krankenhäuser mehr Geld, um mehr
Pflegepersonal einstellen zu können. Das ist gut so. Die

Nutznießer sind vor allen Dingen die Patientinnen und
Patienten, die jetzt in den Krankenhäusern mehr Pflege
am Bett zur Verfügung haben. Und genau dies lässt sich
den Patientinnen und Patienten in Gesprächen erklären.
Ich schaffe das. Und jeder andere, der das ernsthaft will,
wird es auch schaffen.

Es geht, wenn man einmal ein Einkommen von
3 500 Euro zugrunde legt, um 7 Euro im Monat – bei
einer Halbtagsbeschäftigung ist es entsprechend weni-
ger –, die für diese besondere, gute Leistung zukünftig
eingesetzt werden. Das ist, meine Damen und Herren,
erklärbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es geht aber auch um die Tatsache – Kollege Irlstorfer
hat es richtigerweise angesprochen –, dass die Arbeit-
geber Berufsgenossenschaftsbeiträge und Unfallversi-
cherungsbeiträge leisten sowie die Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall zu tragen haben. Das zahlen sie allein; da
kann man von Parität gar nicht reden. Wenn man all das
einmal zusammenfasst, ist das, was wir heute debattie-
ren – ich habe das schon gesagt –, keine Frage der Parität
und des Interessenausgleichs. Es handelt sich in der Tat
um Wahlkampf. Insofern ist dieser Antrag ein Stück weit
nicht ganz ehrlich. Deswegen werden wir ihm auch nicht
zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814909400

Vielen Dank, Kollege Riebsamen. – Nächster Redner

ist Dr. Edgar Franke für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1814909500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es gibt einen klaren roten Faden sozialdemokratischer
Gesundheitspolitik. Dieser rote Faden besteht in einer
Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Men-
schen. Da haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,
in den letzten zwei Jahren viel erreicht. Ich nenne nur
einige Stichworte: Versorgungsstärkungsgesetz, Präven-
tionsgesetz, Regeln für den Palliativ- und Hospizbereich,
Pflegestärkungsgesetze und Krankenhausstrukturgesetz.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber kein Argument dafür, die Leute allein zahlen zu lassen!)


Frau Klein-Schmeink, wir sind die Probleme bei der
ambulanten ärztlichen Versorgung sowie bei der Qualität
der Krankenhausversorgung angegangen. Und wir ha-
ben, liebe Sabine Zimmermann – auch das darf man nicht
vergessen –, die pauschalen Zusatzbeiträge abgeschafft.
Weiterhin haben wir einkommensabhängige Zusatzbei-
träge eingeführt und den allgemeinen Beitragssatz sogar
auf 14,6 Prozent abgesenkt. Das war Politik für die Pati-
entinnen und Patienten, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Und für die Versicherten!)


Lothar Riebsamen






(A) (C)



(B) (D)


– Und natürlich für die Versicherten. Richtig.

Ich sage auch ganz deutlich: All diese Verbesserungen
sind – auch daran darf man einmal erinnern – gegen den
Willen der Opposition beschlossen worden. Heute for-
dert diese Opposition, dass Zusatzbeiträge abgeschafft
werden, um die Parität wiederherzustellen.

Ich darf zunächst daran erinnern – auch das darf man
nicht vergessen –, dass die Zusatzbeiträge unter Schwarz-
Gelb als Kopfpauschalen „scharf gestellt“ worden sind.
Die FDP mit ihren damaligen Gesundheitsministern
wollte nicht nur den Wettbewerb verschärfen, sie wollte
noch etwas ganz anderes: nämlich schrittweise die Bei-
träge zur Krankenversicherung vom Einkommen abkop-
peln und die Kopfpauschale einführen. Die pauschalen
Zusatzbeiträge waren eine Kopfpauschale. Gegen diese
Kopfpauschale hat die SPD immer Widerstand geleistet,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Es war unvernünftig, dass der Arbeitnehmer den gleichen
Zusatzbeitrag wie sein Chef bezahlt. Das gilt auch heute
noch.


(Beifall bei der SPD)


Es ist schon richtig, Harald Weinberg, dass die eine
oder andere Krankenkasse, um Zusatzbeiträge zu ver-
meiden, den Leistungskatalog oder auch die freiwilligen
Satzungsleistungen ausgedünnt hat. Die Kassen haben
Angst, durch erhöhte Zusatzbeiträge Versicherte zu ver-
lieren. Wir brauchen einen Leistungswettbewerb, aber
nicht primär einen Preiswettbewerb oder einen Zusatzbei-
tragsvermeidungswettbewerb; auch das ist richtig.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen jetzt die Taten folgen!)


Unsere Strukturreformen für eine verbesserte gesund-
heitliche Versorgung der Menschen haben mittelbar zu
Kostensteigerungen und damit auch zu steigenden Bei-
tragssätzen geführt. Natürlich diskutieren momentan die
Menschen angesichts eines Plus von 12 Milliarden Euro
in 2015 darüber, wie man damit in Zukunft umgehen
kann. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag ist um 0,2 Pro-
zentpunkte auf 1,1 Prozent gestiegen. Einige Kranken-
kassen – auch das muss man sagen – haben weitere Erhö-
hungen zumindest nicht ausgeschlossen.

Ich glaube – und hier sind wir fast alle einer Mei-
nung –, dass es sozial unausgewogen ist, wenn die zu-
künftigen Steigerungen allein zulasten der Arbeitnehmer
und der Rentner gehen. Das sollte nicht sein, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, zu hören! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nicht reden! Handeln! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


So führt eine Zementierung des Arbeitgeberbeitrages
perspektivisch dazu, dass sich die Schere zwischen Ar-
beitnehmer- und Arbeitgeberanteil weiter öffnen wird.

Damit muss man sich politisch beschäftigen. Das muss
man hier im Bundestag diskutieren.

Die SPD tritt für eine paritätische Finanzierung der
Krankenversicherung ein. Wir haben es gehört: Es gibt
momentan einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesem
Thema. Wir haben schon gehört, welche Arbeitnehmer-
organisationen sich dafür einsetzen. Wir alle wissen,
dass die Krankenversicherung seit 1883 besteht, dass sie
schon damals gemeinsam finanziert wurde, was sich be-
währt hat, und dass ab 1951 die paritätische Finanzierung
galt. Das sind Grundprinzipien unseres Sozialstaats und
unserer Sozialversicherung in Deutschland. Diese Prinzi-
pien haben sich bewährt.

Natürlich ist die SPD vertragstreu. Natürlich weiß die
SPD, dass wir uns in einer Koalition befinden. Ich habe
auch gerade gesagt, dass wir in dieser Koalition viele
Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung beschlos-
sen haben. Aber ich glaube schon, dass wir in der zweiten
Halbzeit noch einmal darüber nachdenken können, wie
wir eine hälftige Finanzierung erreichen können.

Abschließend muss ich sagen: Es ist – ich sage es noch
einmal – auf Dauer unsozial und ungerecht, wenn allein
die Beschäftigten, wenn Rentner und Arbeitnehmer für
den medizinischen Fortschritt zahlen müssen, jedenfalls
was die Zusatzbeiträge anbelangt. Das sollte man „in
Acht behalten“, wie man in Nordhessen so schön sagt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gebe ich Dir recht! Ausdrücklich!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in der
Frage der Parität, also der hälftigen Finanzierung der
Krankenkassenbeiträge, in verschiedenen Gremien si-
cherlich noch die eine oder andere Diskussion haben.
Hier werden wir auch Überzeugungsarbeit leisten müs-
sen. Aber ich denke, die Argumente sprechen dafür, die
Parität wiederherzustellen, weil es vernünftig, weil es so-
zial gerecht und weil es der Willen der Menschen ist, der
Versicherten und der Patienten.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814909600

Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der

Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814909700

Lieber Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Edgar Franke,
als der Reichstag im Jahr 1883 das Gesetz betreffend die
Krankenversicherung der Arbeiter verabschiedete, wur-
den die Arbeitgeber zum ersten Mal gezwungen, einen
Beitrag zu bezahlen. Ihr Beitrag lag damals bei einem
Drittel der Versicherungskosten. Der jeweils zur Hälfte
getragene Beitrag wurde dann im Jahr 1951 eingeführt.
Mir erscheint es ein bisschen verwegen, die Frage von
Solidarität, Gerechtigkeit und Vernunft alleine an dem
Unterschied von 0,2 Prozentpunkten festzumachen. Es

Dr. Edgar Franke






(A) (C)



(B) (D)


war Ulla Schmidt bzw. die SPD, die zusammen mit den
Grünen die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Die Differenz
von 0,9 Prozentpunkten durch die Zusatzbeiträge auf der
Arbeitnehmerseite ist also eine rot-grüne Errungenschaft.
Die Aufregung darüber war damals viel kleiner als jetzt
über die 0,2 Prozentpunkte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, das ist eine seltsam unterschiedliche Kategorie
der Bewertung.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814909800

Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Klein-Schmeink?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814909900

Wenn ich den Satz noch zu Ende führen darf.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814910000

Und danach ja?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814910100

Anschließend sofort. – Deswegen bin ich zwar der

Meinung, dass es nicht für ewige Zeiten so sein kann,
dass man praktisch nur auf der Arbeitnehmerseite Ent-
wicklungen hat. Aber dieses Prinzip gilt jetzt erst einmal
für diese Legislaturperiode. Denn ich hasse es, dass man
den Arbeitgebern Zusagen macht, um sie dann anschlie-
ßend wieder zur Disposition zu stellen.


(Hilde Mattheis [SPD]: Was?)


Wir haben als Koalition den Arbeitgebern einen Beitrags-
anteil von 7,3 Prozent zugesagt. Ich finde, es gehört zur
Planbarkeit, Vertrauensgrundlage und Verlässlichkeit
von Politik, dass man dann auch dazu steht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814910200

Frau Kollegin Klein-Schmeink, jetzt haben Sie das

Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke schön. – Herr Henke, Sie haben gerade selber
ausgeführt, dass eine solche Entscheidung nicht für die
Ewigkeit sein kann. Ich will noch einmal darauf hinwei-
sen, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen,
unter denen die Abkehr von der hälftigen Finanzierung
2001 entschieden worden ist, grundsätzlich dramatisch
andere waren und dass es damals insgesamt einen gro-
ßen Notstand gegeben hat. Uns drohten europäische Ver-
tragsverletzungsverfahren. Wir hatten eine dramatische
Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit und wirklich nega-
tive Vorzeichen in der wirtschaftlichen Entwicklung.

Wir sind heute ganz massiv in einer anderen Situation.
Gerade die Deutlichkeit, mit der wir sehen, dass wir auf
der einen Seite gesellschaftliche Aufgaben zu stemmen
haben und auf der anderen Seite gerade im wirtschaftli-

chen Bereich eine hohe Prosperität besteht, ist der Grund,
warum man nicht einfach weiter die Kosten auf die Ar-
beitnehmer abwälzen darf, sondern dahin kommen muss,
die gesellschaftliche Solidarität wieder zu stärken. Denn
wir haben gemeinsam im sozialen Bereich viele Aufga-
ben zu bewältigen. Deshalb sollte der soziale Zusam-
menhalt gestärkt werden. Ist das nicht auch die Aufgabe
als Gesamtgesellschaft und für Sie als CDU/CSU, die
auch den sozialen Zusammenhalt im Blick haben sollte?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814910300


Vielen Dank für die Frage, Frau Klein-Schmeink. Ich
will sie gerne in zwei Abschnitten behandeln, weil Sie
zum einen die Kosten auf der Arbeitnehmerseite und
zum anderen das Stichwort „Prosperität“ angesprochen
haben.

Der erste Teil. Ja, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht,
dass die Bilanz der Bundesregierungen unter Führung
von Angela Merkel seit 2009 zu einer Stärkung der Wirt-
schaftskraft Deutschlands geführt hat. Ich gebe Ihnen
ausdrücklich recht, dass wir Lichtjahre von der Situation
entfernt sind, die wir unter der Regierung Schröder ge-
habt haben.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Und ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass uns das in
den Stand versetzt, Ausgaben zu finanzieren, die wir frü-
her nicht hätten finanzieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage aber auch, dass diese erzielten Erfolge nicht
von allein eintreten. Einer der Schritte, die dabei zwin-
gend sind, ist, dass man in seinen Aussagen und Ankün-
digungen verlässlich bleibt. Deswegen kann man die
Kalkulationsgrundlage für die Unternehmen, die Zusage,
in dieser Legislaturperiode 7,3 Prozent nicht zu über-
schreiten, nicht einfach beliebig ändern. Denn das wäre
ein Beitrag dazu, Unzuverlässigkeit als zentrale Bot-
schaft zu verbreiten. Das ist das eine.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dabei würde ich lieber um mehr Wettbewerbsfähigkeit
als um weniger Verlässlichkeit ringen.

Nun zum zweiten Teil meiner Antwort. Sie sagen stän-
dig – Herr Weinberg und Frau Zimmermann haben das
ebenfalls vorgetragen; Herr Lauterbach hat das noch am
mildesten vorgetragen, während Frau Mattheis das etwas
stärker betont hat –, dass wir die Arbeitnehmer einseitig
belasten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Rudolf Henke






(A) (C)



(B) (D)


Jetzt gestehe ich Ihnen einmal etwas. Ich halte die Unter-
scheidung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbei-
trag für hoch künstlich.


(Lachen der Abg. Hilde Mattheis [SPD] – Ulli Nissen [SPD]: Was ist das für ein Verständnis?)


In der Wirklichkeit des Lebens wendet ein Unternehmen
selbst keinen Eurocent auf, egal ob es ihn in Investiti-
onen, die Betriebskosten, die Löhne der Arbeitnehmer,
die Sozialabgaben, die Gewerbesteuer oder andere Steu-
ern steckt, der nicht auf der Leistung und der Arbeit der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer basiert. Alles, was
verdient werden muss, müssen die in den Betrieben tä-
tigen Menschen erwirtschaften. Sie erwirtschaften den
kompletten Ertrag der Betriebe dadurch, dass sie ihre be-
triebliche Arbeitsleistung erbringen.


(Zuruf des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Weil das so ist, müssen die Arbeitnehmer es erwirtschaf-
ten, egal ob es sich um den Arbeitgeberbeitrag oder um
den Arbeitnehmerbeitrag handelt. Sie müssen beide Teile
der Sozialabgabe durch ihre Anstrengung, Leistung und
Kreativität erwirtschaften.


(Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Das Geschäftsmodell eines Unternehmens funktioniert
nur, wenn die Produktivität ausreicht, um alle Kosten zu
refinanzieren. Weil das so ist, ist die Frage, ob der Ar-
beitnehmerbeitrag 0,2 Prozentpunkte höher oder niedri-
ger ist, im Hinblick auf die betriebliche Realität und die
Ansprüche, die das System an die Arbeitnehmer stellt,
gleichgültig.


(Widerspruch bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814910400

Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine weitere Zwi-

schenfrage des Kollegen Lauterbach?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814910500

Ja.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1814910600

Nur ganz kurz. Zunächst einmal vielen Dank für Ihre

volkswirtschaftlichen Ausführungen. Wenn ich Ihrer
bestechenden Logik folge und es keinen Unterschied
macht, ob der Arbeitgeber- oder der Arbeitnehmerbeitrag
steigt, weil es sich sowieso um einen Beitrag handelt,
dann komme ich zu dem Schluss, dass der Arbeitgeber
die gesamte Sozialversicherung bezahlen könnte.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814910700

Jedenfalls ist es nicht zu begreifen, warum man, wenn

man der Argumentation der Linken in der Antragsbe-
gründung folgt – derjenige, der wenig hat, ist auf jeden

Eurocent angewiesen –, bei 50 Prozent Schluss macht.
Lieber Herr Lauterbach, worauf ich hinaus will, ist Fol-
gendes: Frau Klein-Schmeink hat uns vorgetragen, dass
das bei einer Handwerkerstunde einen Unterschied von
nur 6 Cent ausmacht. Herr Weinberg hat gesagt, dass es
bei einem Golf einen Unterschied von nur 40 Euro aus-
macht. Aber wer bezahlt das denn? Das bezahlt doch der-
jenige, der eine Handwerkerstunde in Anspruch nimmt
oder einen Golf kauft. Sind das keine Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer? Im Wesentlichen müssen die Men-
schen das über den Preis bezahlen, die dann belastet wer-
den.

Ich bin ein Anhänger des Systems unserer solidari-
schen Krankenversicherung. Aber was ich Ihnen mit
meinen Ausführungen klarmachen will, ist, dass es sich
hier um eine total künstliche Auseinandersetzung han-
delt, wenn man die Beantwortung der Frage, ob das Sys-
tem solidarisch, vernünftig und gerecht ist, alleine davon
abhängig macht, ob es einen Unterschied von 0,2 Pro-
zentpunkten gibt. Sie jazzen ein Thema hoch, das für die
Menschen gar keine zentrale Bedeutung hat. Damit tra-
gen Sie dazu bei, dass die Menschen plötzlich wie wild
auf den Beitragsunterschied schauen. Sie tun so, als wäre
ein etwas höherer Beitrag quasi eine Bestrafung für die
Versicherten, die ihn aufbringen müssen. Ich empfehle
den Menschen, weiterhin Mitglied der Krankenkasse, zu
der sie Vertrauen haben, zu bleiben und mit dieser wie
bisher zufrieden zu sein, auch wenn diese einen Zusatz-
beitrag erhebt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Welche Arroganz! – Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814910800

Herr Kollege Henke, Sie haben den Wunsch nach einer

weiteren Zwischenfrage bei der Kollegin Zimmermann
hervorgerufen.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814910900

Ja.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814911000

Vielen Dank, Herr Kollege Henke, dass Sie die Frage

noch zulassen. – Ich finde, Ihre Sichtweise ist natürlich
insofern klar, als Sie durch die Beitragsbemessungsgren-
ze hier voll geschützt sind. Nehmen wir aber einmal eine
Frau, die 2 500 Euro im Monat verdient. Die soll im Jahr
bis zu 540 Euro mehr Krankenversicherungsbeiträge
leisten. Meinen Sie nicht, dass das bei dem geringen Ein-
kommen etwas viel ist?


(Beifall bei der LINKEN)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814911100

Der Beitrag in dieser Höhe kommt nicht zustande.

Diese Differenz entsteht nicht. Das ist völlig illusionär.
Sie malen ein Gespenst an die Wand, das es nicht gibt.
Jeder, der rechnen kann, kann das nicht nachvollziehen.
Ich muss Ihnen sagen: Da kann ich Ihrer Mathematik

Rudolf Henke






(A) (C)



(B) (D)


nicht folgen. Es tut mir leid, aber das gilt vielleicht für
die meisten im Haus.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das spricht aber nicht für dieses Haus!)


Ich möchte auf die Frage der Differenzen zwischen
den Beiträgen zurückkommen und einen Blick zurück auf
1993 werfen, als das Gesetz zur Sicherung und Struktur-
verbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung den
Bürgern das Recht eingeräumt hat, ihre Krankenkasse ab
1996 frei zu wählen. Das ist insofern in dieser Debatte
von Bedeutung, als ein Versicherter heutzutage frei ent-
scheiden kann, bei welcher Krankenkasse er sich versi-
chern will. Dabei kann er die Zusatzbeiträge vergleichen,
er kann die Leistungsprogramme der Krankenkassen
vergleichen, er kann durch seine Entscheidung Leistun-
gen hinzugewinnen, oder er kann direkt Geld sparen. Die
Beitragssatzspanne zwischen den verschiedenen Kran-
kenkassen liegt heute bei 1,5 Prozent.

Bevor das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbes-
serung der gesetzlichen Krankenversicherung beschlos-
sen wurde, vor 1993, hatten wir große Beitragsspannen
der Versicherungen. Damals gab es ein Gefälle bei den
Beitragssätzen von bis zu 8 Prozent. Also es gab Arbeit-
nehmer, die in ihrer Krankenkasse, aus der sie nicht aus-
scheiden konnten, 8 Prozent mehr bezahlen mussten als
Arbeitnehmer in anderen Krankenkassen, die sich diese
auch nicht aussuchen konnten.

Darf ich eine Grafik hochhalten, Herr Präsident?


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814911200

Hochhalten geht, das ist erlaubt.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1814911300

Es ist kein Plakat. – Jedenfalls kann man im Zeitver-

lauf sehr gut erkennen,


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann nicht sehen, was draufsteht!)


dass die Spreizung der Beiträge über die Jahre hinweg
abgenommen und nicht zugenommen hat, und das ist ein
Verdienst der Unionspolitik. Deswegen finde ich, dass
wir an dieser Stelle keine starke Nachhilfe von Ihnen be-
nötigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger ist – das
haben alle Umfragen gezeigt – natürlich einverstanden,
dass sich Beiträge erhöhen, wenn sie durch eine qualita-
tiv bessere Versorgung profitieren.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Das hat Herr Franke dargelegt, das hat Frau Mattheis dar-
gelegt, das hat Herr Irlstorfer dargelegt, das haben Herr
Riebsamen und Maria Michalk dargelegt. Genau das ist
die Leistung, die in den vergangenen Jahren erbracht
worden ist.

Das zentrale Element von Solidarität ist, dass man
sich auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen
verlassen kann. Die Solidarität wird eher durchbrochen,
wenn die Länder den Krankenhäusern 3,3 Milliarden
Euro Investitionsmittel vorenthalten, die man dringend
bräuchte, um die Verlässlichkeit seitens der Krankenhäu-
ser zu erhöhen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Bund erfüllt seine Aufgabe, aber die Länder erfül-
len sie zum Teil nicht. Weil das so ist, liebe Leute, muss
unser primäres Bestreben sein, die Finanzkraft und die
Verlässlichkeit der Krankenkassen stabil zu halten; denn
das gehaltene Leistungsversprechen ist der Beleg für die
größte Solidarität, die es gibt.

Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814911400

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 18/7237 und 18/7241 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überwei-
sungen somit beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Mess- und Eichgesetzes

Drucksache 18/7194
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfach-
ten Verfahren ohne Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
den Ausschuss für Wirtschaft und Energie zu überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Fortgesetzte Militärkooperation mit Saudi-
Arabien und der Türkei

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der
Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814911500

Danke sehr. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben bereits gestern begonnen, über die-
ses Thema zu debattieren. Dies geschah in einer Aktuel-
len Stunde, die die Regierungskoalition beantragt hatte.
Es ist eine ganze Reihe weiterer Fragen zu klären. Ich
darf versuchen, dazu einen Beitrag zu leisten. Ich finde
es übrigens auch wichtig, dass wir solche Fragen in ei-

Rudolf Henke






(A) (C)



(B) (D)


ner großen Öffentlichkeit diskutieren, weil die Menschen
in unserem Land natürlich wissen wollen, was man da-
runter versteht, wenn von der Regierung häufiger gesagt
wird, man wolle die Fluchtursachen bekämpfen. Man
muss darüber reden, was Fluchtursachen sind, und das
will die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will nicht dabei zusehen, wie die deutsche Außen-
politik im Nahen Osten – und nicht nur dort – immer un-
glaubwürdiger wird. Ich finde, Deutschland beschmutzt
sich, wenn der Eindruck entsteht, dass wir die Hinrich-
tung oder, besser gesagt, die Morde in Saudi-Arabien
hinnehmen, einfach so weitermachen und sagen: Das
ist zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Doch, das
wäre zu ändern, wenn die internationale Gemeinschaft
einschließlich Deutschlands sagen würde: Wir sind nicht
mehr bereit, das hinzunehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das müssen wir in aller Öffentlichkeit deutlich machen.

47 Menschen wurden an einem Tag abgeschlachtet,
erschossen, erschlagen, enthauptet. Das ist der IS in Pra-
xis. Man kann den IS nicht bekämpfen, indem man seine
Methoden staatlich anwendet. Das geht überhaupt nicht,
und deswegen muss man dort konsequent gegenhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte, dass das Regierungsgerede von Sau-
di-Arabien als Stabilitätsanker in der Region aufhört. Bis
heute redet die Bundesregierung davon, dass Saudi-Ara-
bien ein Stabilitätsanker sei. Das kann doch in Riad nur
so verstanden werden, dass es keine ernsthafte Gegen-
wehr aus dem Westen gegen die Art und Weise des Vor-
gehens dieses Staates gibt.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Die Bundesregierung hat bis heute die Frage nicht be-
antwortet – ich hoffe, dass man heute eine Antwort darauf
bekommt –, warum sie dem Staat Saudi-Arabien nicht
sofort nach dieser politischen Mordorgie, die auch da-
rauf zielte, dass die Vereinbarungen zu Syrien scheitern,
angekündigt hat: Wir werden keine Waffen mehr liefern.
Es wird keine Waffenverträge mehr geben. – Einem sol-
chen Staat kann man keine Waffen anvertrauen. Das wäre
doch das Mindeste, was man von der Bundesregierung
hätte erwarten müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Bundesregierung nun behauptet, Saudi-Ara-
bien sei ein Anker der Stabilität, möchte ich entgegnen:
Diese Stabilität ist eine Stabilität der Friedhofsruhe, der
Vernichtung von Demokratie, der Unterdrückung von
Menschen. Das hat nichts mit Menschenrechten zu tun.
Die Bundesregierung hat noch einmal gesagt, dass die
Wahrung von Menschenrechten ein Kriterium dafür ist,
ob man Waffenexporte genehmigt oder nicht. Mindestens
das könnten Sie ja einhalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Saudi-Arabien ist durch Waffen- und Geldlieferungen
für den Aufschwung des IS mit verantwortlich. Ob da-
für, wie nun behauptet wird, reiche saudische Familien
verantwortlich sind und nicht der Staat, das ist nicht sehr
erheblich. Saudi-Arabien ist eine Kriegspartei in Syri-
en. Ohne Saudi-Arabien hätte es diesen Krieg in dieser
fruchtbaren Art und Weise in Syrien nicht gegeben, und
Saudi-Arabien führt Krieg im Jemen. Jemen und Syrien
unterscheiden sich kaum noch, was die Katastrophe für
die Menschen angeht. Was dort geschieht, das ist Mord,
und das ist auch die Vernichtung eines Staates, wie es der
Jemen ist. Wenn wir die Art und Weise des Umgangs mit
Saudi-Arabien weiter betreiben, bleibt den Menschen nur
eine Chance: fluchtartig ihre Region zu verlassen, in der
sie nicht leben können und nicht leben dürfen. Ich rede
gar nicht davon, wie man ein Leben gestalten könnte.

Ein Stabilitätsanker aus Sicht der Bundesregierung ist
auch die Türkei, ist Erdogan. Erdogan führt aber Krieg
gegen die Kurden. Wie kann man hier immer davon re-
den, dass man die Kurdinnen und Kurden unterstützt,
und gleichzeitig die Augen zumachen, wenn in den kur-
dischen Gebieten in der Türkei – und nicht nur dort –
Krieg gegen die Kurden geführt wird? Auch das hat mit
Demokratie nichts zu tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mich immer wieder gefragt, warum die Bun-
desregierung sich so verhält. Es lohnt ja nicht, zu unter-
stellen: Sie sind eben so. – Warum also verhält sich die
Bundesregierung so? Ich habe ein sehr altes Zitat gefun-
den, das ich zutreffend finde. Entschuldigen Sie die Spra-
che; das ist nicht meine Sprache; ich zitiere das nur. – Der
Ex-US-Präsident Roosevelt hat über den Diktator Nica-
raguas, Somoza, einmal gesagt: Er ist ein Hurensohn,
aber er ist unser Hurensohn.

Genau diese Denkweise – das sind unsere Verbünde-
ten; da kann man mal wegschauen, wo man nicht weg-
schauen darf – finde ich in der Politik der Bundesregie-
rung. Ich finde, das kann man nicht durchgehen lassen.

Dieses Parlament muss sagen: Schluss mit Waffenlie-
ferungen! Schluss damit, dass die Türkei als ein Land,
das die Flüchtlinge daran hindern soll, nach Europa zu
kommen, aufgerüstet wird! Demokratie ist nicht teilbar.
Das muss man auch öffentlich verfechten. Das hat nichts
damit zu tun, ob man miteinander redet oder nicht. Ich
bin dafür, dass man miteinander redet. Aber man muss zu
keinem Festival fahren, wenn man ernsthafte politische
Debatten führt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814911600

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Roderich

Kiesewetter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wolfgang Gehrcke






(A) (C)



(B) (D)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1814911700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Der Nahe und Mittlere Osten
steht vor einer ungeheuren Zerreißprobe. Ethnische, kul-
turelle, religiöse Konflikte überlagern sich. Es droht der
Zusammenbruch. Und wir machen eine Aktuelle Stunde
und betrachten ausschließlich die Türkei und Saudi-Ara-
bien. Meine Damen und Herren, das ist eine verfehlte
Themensetzung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war gestern auch nicht anders!)


Gut aber ist, dass wir uns in dieser Woche in zwei Ak-
tuellen Stunden um diese Thematik kümmern. Ich denke,
die Türkei und Saudi-Arabien in einen Topf zu werfen,
ist verfehlt. Die Türkei ist erprobter NATO-Partner.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Macht es das besser?)


Da müssen wir Einfluss nehmen mit Blick auf ihr Ver-
halten gegenüber den Kurden. Da müssen wir auch sehr
deutlich machen, dass im Bereich der IS-Unterstützung
einiges zu klären ist.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja!)


Aber die Türkei und Saudi-Arabien in einen Topf zu wer-
fen, ist schlichtweg falsch, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb möchte ich den Blick etwas weiten. Ich be-
trachte das Thema Militärkooperation als deutlich zu
verengt. Die Militärkooperation mit Saudi-Arabien ist
nämlich auf einem ganz minimalen Niveau. Zwischen
1965 und 2002 gab es eine intensive Ausbildungskoope-
ration. Ich selbst habe in der Führungsakademie noch
saudi-arabische Offiziere erlebt. Aber selbst wenn wir
deutscherseits keine Militärkooperation mit Saudi-Ara-
bien haben, so besucht doch jedes Jahr das NATO Defen-
se College mit einer Delegation aus arabischen Staaten
unseren Bundestag. Dabei haben wir Gelegenheit, den
Gesprächsfaden aufrechtzuerhalten, weil Militär dort
eine etwas andere Stellung hat als bei uns und unmittel-
bar an die jeweilige Staatsführung berichtet, was es im
Bundestag an Fragen und an Diskussionen gibt. Diesen
Einfluss müssen wir auch mit Blick auf Gespräche mit
Saudi-Arabien und anderen Staaten in der Golfregion
aufrechterhalten.

Was mir bei der Diskussion deutlich zu kurz kommt,
ist die Bedeutung der sich überlagernden Machtlinien
und dessen, dass inzwischen der Iran und Russland be-
ginnen, ein Vakuum auszufüllen. Wir Deutschen, wir Eu-
ropäer dürfen es nicht zulassen, dass dieses Vakuum von
Russland und von Iran so ausgefüllt wird, dass hier ein
Keil zwischen die USA und Europa getrieben wird und
wir Europäer zuschauen.

Das, was die Linke letztlich fordert, ist: keine Beteili-
gung; die Region machen lassen. – Das ist vollkommen
falsch. Der gesamte Bereich des Nahen und Mittleren
Ostens gehört zu unserem Interessengebiet.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glaube ich!)


Wir selbst sind persönlich in vielen Bereichen davon be-
troffen: in unseren Familien, in unseren Vereinen. Hun-
derttausende in Deutschland kümmern sich ehrenamtlich
um Flüchtlinge aus dieser Region. Diesen Menschen und
den vielen Gruppierungen mit ihrem bürgerschaftlichen
Engagement gilt es ganz herzlich zu danken, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.

In dem Zusammenhang müssen wir eindeutig heraus-
stellen, dass wir in den nächsten Wochen eine Eskalation
zu befürchten haben. Noch in diesem Monat, vermutlich
in der nächsten Woche, findet die Implementierung des
Nuklearabkommens mit dem Iran statt. Mit dem Tag
der Implementierung werden mindestens – und das sind
niedrige Schätzungen – 70 Milliarden US-Dollar freige-
geben, die zurzeit eingefroren sind, mit denen der Iran
arbeiten kann. Seien wir nicht so blauäugig, zu glauben,
der Iran werde das Geld in soziale und gesundheitspoli-
tische Maßnahmen im eigenen Land stecken. Er wird die
Nachbarschaftskriege im Jemen unterstützen und weiter
Aufstandsbekämpfung mit Blick auf Bekämpfung von
gemäßigten Rebellengruppen betreiben. Er wird weiter-
hin Assad unterstützen, und er wird in vielen Bereichen
mithelfen, zur Eskalation in Syrien beizutragen. Er wird
weiter dazu beitragen, Assad zu stabilisieren, und wird
alles tun, damit diese Mittel zur Entzweiung der gemä-
ßigten Kräfte beitragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen darauf
achten, dass die Stabilisierung dieser Regionen nicht
durch Macht- und Hegemonialfaktoren von Ländern wie
Russland und Iran erfolgt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb möchte ich mit einem Appell schließen. Die Eu-
ropäische Union hat alle Fähigkeiten für eine diplomati-
sche, ausgleichende, balancierende Politik. Wir müssen
uns darauf einstellen, Jordanien und auch den Libanon in
der Grenzsicherung zu unterstützen. Wir müssen uns sehr
stark auf die Türkei konzentrieren, damit sie im Kampf
gegen den IS alle Mittel freimacht. Wir sollten als EU
und als Deutsche in der EU dazu beitragen, dass nicht
nur das Welternährungsprogramm, sondern mit Blick
auf die palästinensischen Gebiete auch die United Na-
tions Relief and Works Agency for Palestine Refugees in
the Near East unterstützt wird, die einen hervorragenden
Beitrag für Bildung und Gesundheit und damit auch für
Menschenwürde leistet.

Es geht darum, die Organisationen, die in der Region
bereits aktiv sind, zu unterstützen, damit die Ernährung,
die Bildung und die Stabilisierung in den bereits vorhan-
denen Flüchtlingslagern weiter fortgesetzt werden kön-
nen. Das ist ein Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung.

Deshalb geht es – weit weg von dem Thema Militärko-
operation – um einen ganzheitlichen politischen Ansatz
mit dem Oberziel UN-Mandat und starker europäischer






(A) (C)



(B) (D)


Beitrag. Das kann Deutschland leisten. Hier müssen wir
unsere Interessen formulieren. An dieser Stelle bitte ich
auch um entsprechende Unterstützung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814911800

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin

Claudia Roth.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Der außenpolitische Kompass der Bundesrepublik
Deutschland war und ist aus gutem Grund anspruchsvoll.
Es geht um Wertebasiertheit, die sich in einem Dreieck
zwischen Multilateralismus, Frieden und Menschen-
rechten sowie globaler Gerechtigkeit bewegt. Wir Grüne
können einer solchen Ausrichtung folgen – da, wo sie
stattfindet.

Doch bei der Politik gegenüber Saudi-Arabien und der
Türkei vermissen wir diese formulierten Ziele schmerz-
lich; denn da muss ich schon fragen: Was hat es denn mit
einer wertebasierten und an Frieden orientierten Außen-
politik zu tun, ein Land wie Saudi-Arabien als sogenann-
ten strategischen Partner oder Stabilitätsanker zu päppeln
und mit Waffen aufzurüsten, ein Land, das seiner Bevöl-
kerung die elementaren Menschen- und Freiheitsrechte
verweigert, in dem eine blutrünstige Justiz zahlreiche
Menschen hinrichten lässt und das unter anderem den
Sacharow-Preis-Träger Raif Badawi mit Stockschlägen
traktiert?

Was hat es mit deutscher oder europäischer Interes-
senpolitik zu tun, wenn mit Saudi-Arabien genau das
Land gefördert wird, das die ideologische Grundlage für
Daesh und andere islamistische Fundamentalisten und
Terroristen liefert und das den Wahhabismus offensiv in
der Welt verbreitet?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Gleichzeitig geben wir aber vor, gegen genau diese Ge-
fahr des Terrorismus und des Terrors militärisch in Syri-
en vorzugehen.

Was hat es mit zukunftsgewandter Realpolitik zu tun,
wenn die Bundesregierung auch auf internationaler Ebe-
ne keine klare Verurteilung dafür findet, dass Saudi-Ara-
bien den Jemen ins Mittelalter zurückbombt, übrigens
unter Einsatz völkerrechtswidriger Streubomben?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Statt Kritik geht es wohl um Handelsbeziehungen, um
Waffenlieferungen, die übrigens in krassem Widerspruch
zu unseren Rüstungsexportlinien stehen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und um Prestigefeierlichkeiten zusammen mit dem sau-
dischen Königshaus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gleichen Fragen
stellen sich mir aber auch mit Blick auf die Türkei. Es

zieht sich in der Zwischenzeit eine Blutspur von Diyarba-
kir über Suruc und Ankara nach Istanbul, wo ja in diesen
Tagen deutsche Touristen von einem Selbstmordattentä-
ter in den Tod gerissen wurden. Gleichzeitig findet in den
kurdischen Gebieten der Türkei de facto ein gnadenloser
Bürgerkrieg statt, in dem die türkische Regierung mit
über 10 000 Soldaten massiv gegen die eigene Zivilbe-
völkerung vorgeht und in dem fast täglich Todesopfer zu
beklagen sind – auch heute wieder. Das muss deutlich
ausgesprochen werden, genauso wie natürlich eine klare
Kritik an der PKK nötig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Von der Bundesregierung, von der Europäischen Uni-
on, von der NATO hören wir dazu aber vor allem nur
ein lautes Schweigen. Genauso laut ist das Schweigen zu
der Entdemokratisierung in der Türkei, wo Vertreter der
freien Presse hinter Gittern sind, Andersdenkende krimi-
nalisiert werden, religiöse Minderheiten Unterdrückung
erleiden, die Rechte der Opposition ausgehebelt wer-
den und es Erdogan vor allem darum geht, die HDP zu
schwächen und ihre parlamentarische Kraft zu brechen.
Es ist ein Armutszeugnis deutscher Außenpolitik, wenn
sie aufgrund ihrer innenpolitisch motivierten Abhängig-
keit von Erdogan nicht mehr in der Lage ist, an diesen
Zuständen offensiv Kritik zu üben und eine glasklare
Haltung zu formulieren,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


oder wenn weiterhin völlig im Nebel bleibt, wie eine Ko-
operation mit dem NATO-Partner Türkei in Syrien ausse-
hen soll, der doch im Nordirak und in Syrien militärisch
gegen die Kurden vorgeht, und weiterhin der Verdacht
besteht, dass die Türkei einen Rückzugsraum für Daesh
darstellt.

Es ist richtig: Unser eigener Einfluss in der Region ist
begrenzt. Es braucht die starken Regionalmächte Türkei,
Saudi-Arabien und Iran für eine politische Perspektive,
die die Chance zum Frieden in der Region eröffnet.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Aber so weit kommen Sie nicht mit Ihrer Kritik!)


Deswegen muss auch weiterhin Einfluss auf den notwen-
digen Politikwechsel in diesen Ländern genommen wer-
den. Politische Einbindung, aktiver Einfluss auf die Öff-
nung dieser Länder und ein kritischer Dialog, das muss
doch der Ansatz deutscher Politik sein und eben nicht die
Ökonomisierung der Außenpolitik oder eine Flüchtlings-
abwehrpolitik zusammen mit Erdogan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser andere Ansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen –
Einbindung, Einfluss, kritischer Dialog –, stünde tatsäch-
lich für eine wertebasierte Außenpolitik.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Roderich Kiesewetter






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814911900

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz

Brunner für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1814912000

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist gerade mal et-
was mehr als 24 Stunden her, dass Attentäter, vermutlich
des IS, in Istanbul friedliche deutsche Touristen sinnlos
in den Tod gerissen haben. Das war ein Attentat, von dem
ich sage, dass es die letzten Zweifler überzeugen muss:
Die, die hier angeblich Krieg führen, schrecken vor
nichts zurück, ihren Terror zu verbreiten, auch nicht vor
Moscheen und Plätzen, von denen sie behaupten, dass sie
ihnen heilig sind. Das sind keine Gläubigen, wie sie sich
bezeichnen, sondern das sind Kriminelle, die es mit allen
Mitteln zu bekämpfen gilt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, auch nicht
bei dieser Aktuellen Stunde; denn dazu brauchen wir
strategische Partner. Wir können uns nicht immer aussu-
chen, mit wem wir reden, Kollege Gehrcke. Das ist nicht
das Ziel. Und es ist auch nicht die Zeit für Empörungsde-
batten und theoretische Spiele im Sandkasten;


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Jetzt aber!)


das ist die bittere Realität in dieser Welt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU])


So, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-
gen, ist es nun einmal auch mit der Türkei unter Recep
Erdogan und mit Saudi-Arabien mit seinem wahhabiti-
schen Königshaus. Ja, in Saudi-Arabien regiert ein au-
tokratisches, unterdrückerisches Regime, das mit seinem
Wahhabismus den Nährboden für den IS bildet. Niemand
zweifelt daran. Ja, Erdogan, der die Türkei geradewegs
ins Mittelalter führen will, verfolgt Kurden, tritt die Mei-
nungsfreiheit mit Füßen, und niemand in diesem Hohen
Haus zweifelt daran. Aber ich zweifle wirklich, ob die
Linke, lieber Kollege Gehrcke, den Ernst der internatio-
nalen Lage wirklich verstanden hat.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Ja, hat sie verstanden!)


Denn sie wird nie müde, die sogenannten Kriegstreiber,
also die NATO, für alles Unheil dieser Welt und für das
im Nahen Osten schon zweimal verantwortlich zu ma-
chen – von der Annexion der Krim mal gar nicht zu spre-
chen; denn da verschließt sie die Augen. Sie wird nicht
müde, Erdogans autokratische Herrschaft in der Türkei
anzuprangern, denunziert jedoch die Kritik an Putins Un-
terdrückungssystem als antirussische Einmischung; das
ist übrigens alles nachzulesen. Warum wohl? Die Türkei
gehört zur NATO, und die NATO will man abschaffen,
angeblich zugunsten einer europäischen Sicherheits-
struktur mit Russland. Lautstark prangern Sie daher die

Hinrichtungen in Saudi-Arabien an, verlangen das Ende
deutscher Wirtschaftsbeziehungen zu dem Regime in
Riad. Wenn es jedoch um die massenhaft vollstreckten
Todesurteile im Iran geht, höre ich von Ihnen nichts.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Diese Doppelzüngigkeit, meine Kolleginnen und Kol-
legen, vergiftet die öffentliche Diskussion. Sie zeigen
mit dem Finger auf die einen und verschließen die Au-
gen vor den anderen. Verstehen Sie mich richtig: Proble-
me müssen benannt werden, sie müssen ausgesprochen
werden, und wir müssen sie angehen. Genau das ist es,
was unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier und
unser Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel machen: Sie
verhandeln, sie bringen Feinde ins Gespräch, sie nutzen
alle Möglichkeiten, um eine weitere Eskalation zwischen
Teheran und Riad zu verhindern, und sie setzen auch die
Machthaber unter Druck. Sie setzen erstmals seit Jahren
klare Kriterien für Rüstungsexporte; denn sie wissen wie
wir alle: Nur mit markigen Sprüchen und Schuldzuwei-
sungen kommt die internationale Politik nie und nimmer
mehr voran.

Abschottung, Isolation und das Abbrechen von Kon-
takten sind das Gegenteil von dem, was wir jetzt brau-
chen. Wem nützt es denn, wenn wir Gesprächsfäden
abschneiden und Sanktionen verschärfen, wo es gerade
jetzt auf das Gespräch ankommt? Was dann passiert,
meine Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, sehen wir an den rhetorischen Fähigkeiten des
Herrn Putin. Sonst entwickelt sich da nichts fort.

Sollen wir die Kooperation mit der Türkei mit großem
Tamtam beenden? Erdogan würde sich als Opfer stilisie-
ren, sein System eher konsolidiert auf Kosten der Kurden
und der Meinungsfreiheit.

Es war richtig, dass wir auch die Rüstungsexporte
nach Saudi-Arabien eingeschränkt haben. Für Kleinwaf-
fen, für Pistolen, Maschinenpistolen und Gewehre gelten
die strengsten Regelungen, die wir haben. Ausfuhrge-
nehmigungen von G-36-Fabriken nach Saudi-Arabien
wurden grundsätzlich nicht mehr erteilt. Das ist unser
Verdienst, das Verdienst unserer Regierung. Es ist müh-
sam, aber es sind konkrete Schritte. Das ist verantwor-
tungsvolle Politik.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich wären die einfachen Wahrheiten toll. Darauf
stürzen sich die Medien, die Hysterie in den sozialen Me-
dien und Talkshows gern. Da ist Verschwörung hinter der
Sache. Doch wir sind die, die sich trauen, das auszuspre-
chen. Der ist gut, der ist böse – dass dabei jede Lösung
fehlt und dass die Welt ein wenig komplizierter ist, fällt
kaum auf. Aber ich kann diese Doppelmoral der Linken
nicht mehr hören. Sie generiert sich zum Sprecher einer
unterdrückten Wahrheit, ist aber nur noch Megafon von
Unwahrheiten.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814912100

Der Kollege Dr. Andreas Nick spricht jetzt für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Nick (CDU):
Rede ID: ID1814912200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die Themenstellung dieser Aktuellen Stunde ist unter
mindestens drei Gesichtspunkten verfehlt: Erstens wer-
den mit der Türkei und Saudi-Arabien zwei Länder auf
eine Stufe gestellt, die nicht miteinander vergleichbar
sind. Zweitens sind unsere Beziehungen zu diesen beiden
Ländern von sehr unterschiedlicher Qualität. Drittens
wird der falsche Eindruck erweckt, militärische Koope-
ration sei die vorrangige Dimension unserer Beziehun-
gen zu diesen beiden Ländern oder gar unserer Außen-
politik insgesamt.

Wenn wir in dieser Woche über die Türkei sprechen,
dann denken wir zuerst an den schrecklichen Terroran-
schlag am Dienstag in Istanbul. Wir sind zutiefst bestürzt
und trauern um die Opfer. Zehn Todesopfer kamen aus
Deutschland, darunter auch ein Ehepaar aus Mainz und
ein Mann aus Bad Kreuznach, meiner Heimat in Rhein-
land-Pfalz. Vor allem sprechen wir den Angehörigen der
Opfer unser Beileid und Mitgefühl aus. Den Verletzten
wünschen wir eine baldige und vollständige Genesung.
Mein Dank gilt aber auch den türkischen Behörden und
Einrichtungen für die Versorgung der Opfer.

Die Wahl des Tatorts ist symbolkräftig und beson-
ders perfide. Dort, im touristischen Zentrum Istanbuls,
zwischen Hagia Sophia, Blauer Moschee, Obelisk und
Deutschem Brunnen, sind die Spuren der vielfältigen
und großartigen Geschichte gegenwärtig. Hier begegnen
sich Orient und Okzident in unvergleichlicher Weise. In-
sofern zielt dieser Anschlag nicht nur auf den Tourismus
als wichtigen Wirtschaftsfaktor der Türkei, sondern be-
wusst auch auf die Rolle der Türkei als Brücke zwischen
den Kulturen und Ort der Begegnung.

Die Türkei ist NATO-Partner und eng an den Westen
gebunden. Seit Jahrzehnten hat sie sich als verlässlicher
Partner im Bündnis erwiesen, und sie befindet sich in
Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, auch
wenn deren Ergebnis offen ist. Bei aller berechtigten Kri-
tik, die man an bestimmten innenpolitischen Entwicklun-
gen in der Türkei, etwa im Bereich der Meinungs- und
Pressefreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und des Umgangs
mit Minderheiten üben kann – das habe ich im vergan-
genen Jahr nicht nur von dieser Stelle aus wiederholt ge-
tan –, bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass die Türkei
ein demokratischer Staat ist, dessen Präsident und dessen
Regierung aus demokratischen Wahlen hervorgegangen
sind. Natürlich beobachten wir manche aktuellen innenpo-
litischen Entwicklungen im Land mit Sorge. Es ist richtig:
Als NATO-Partner und EU-Beitrittskandidat muss sich die
Türkei an höheren Maßstäben messen lassen als andere.
Aber eines werden wir sicherlich nicht tun: Wir wollen
und werden uns nicht durch einseitige Parteinahmen zum
Schiedsrichter der türkischen Innenpolitik machen lassen.

Wir bedauern ausdrücklich, dass der Prozess der Ver-
söhnung mit der kurdischen Minderheit zum Erliegen

gekommen ist und dass es stattdessen zu neuen Ausbrü-
chen massiver Gewalt kam. Aber wir müssen festhalten:
Auch nach unserer Rechtsauffassung ist die PKK eine
terroristische und verfassungswidrige Organisation. Wir
müssen auch feststellen, dass gewaltbereite Jugendliche
der PKK-Jugend in einigen Regionen für Intifada-ähnli-
che Zustände gesorgt haben. Natürlich ist die Verhältnis-
mäßigkeit der Reaktion des türkischen Staates mehr als
fragwürdig.

Unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg eines in-
nerstaatlichen Versöhnungsprozesses sind aber zwei Din-
ge, nämlich einerseits die Offenheit für stärkere regionale
und kulturelle Autonomien in den kurdischen Gebieten,
andererseits eben auch das klare Bekenntnis der kurdi-
schen Vertreter zum Gewaltverzicht und zur territorialen
Integrität der Türkei. Wir appellieren eindringlich an alle
Beteiligten, den Versöhnungsprozess nicht aufzugeben,
sondern wiederzubeleben.

Die Türkei ist und bleibt für uns ein strategischer Part-
ner an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Das
geht über die aktuellen Bemühungen bei den Flüchtlings-
themen weit hinaus. Selbstverständlich spielt auch die
militärische Kooperation in unseren Beziehungen eine
Rolle, etwa bei der Nutzung der Militärbasis in Incirlik
im Kampf gegen den IS. Aber unsere Beziehungen zur
Türkei sind vielfältig. Sie betreffen die gesamte Band-
breite wirtschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher
und gesellschaftlicher Zusammenarbeit und Begegnung.
Die deutsch-türkischen Regierungskonsultationen später
in diesem Monat zeigen dies deutlich. Ich hoffe, dass wir
dort neue Initiativen auf den Weg bringen können, bis
hin zu Fragen des Jugendaustauschs und der besseren
Zusammenarbeit in der Auswärtigen Kulturpolitik, zum
Beispiel im Rahmen eines Engagements deutscher Insti-
tutionen in der Bildungsarbeit für Kinder und Jugendli-
che im Flüchtlingsbereich.

Es bleibt festzustellen: Die militärische Kooperation
steht nicht im Mittelpunkt unserer Beziehungen – nicht
zur Türkei und schon gar nicht zu Saudi-Arabien.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814912300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814912400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung – so haben wir es von den koali-
tionstragenden Fraktionen gehört – will weiterhin die
Bundeswehr, Rüstung und Waffen in die Türkei schi-
cken. Doch was für ein Land ist eigentlich die Türkei?
Wie sieht es in diesem Land aus?

Die Türkei ist das Land, in dem der türkische Staats-
präsident Erdogan einen Krieg gegen die Kurden führt.
Das Auswärtige Amt hat gestern im Auswärtigen Aus-






(A) (C)



(B) (D)


schuss selbst betont, dass schon über 200 Zivilisten von
türkischen Sicherheitskräften getötet worden sind.

Die Türkei ist das Land, in dem gestern Herr Erdogan
1 128 Akademiker, die an türkischen Universitäten leh-
ren, mit Entlassung und Strafverfolgung bedroht hat. Und
warum? Weil sie einen Appell für Freiheit und Deeska-
lation insbesondere im Osten der Türkei initiiert haben.

Die Türkei, das ist das Land, das die Grenze für wei-
teren Nachschub von Kämpfern und Waffen für die Ter-
rororganisation „Islamischer Staat“ in Syrien offen hält.

Herr de Maizière, es geht nicht um eine 1 000 Kilome-
ter lange Grenze, wie Sie gestern im Fernsehen erklärten,
sondern es geht lediglich um eine 100 Kilometer lange
Grenze zum IS. Und Sie wollen uns hier weismachen,
dass die zweitgrößte NATO-Armee mit 900 000 Sicher-
heitskräften seit Jahren nicht in der Lage ist, eine 100 Ki-
lometer lange Grenze zu schließen? Ich biete Ihnen allen
hier in diesem Haus an, mit Ihnen in die Region zu rei-
sen. Ich werde Ihnen zeigen, wie kurz die Grenze ist und
wie einfach man die Grenze schließen könnte, wenn man
den Nachschub für den IS tatsächlich stoppen wollte.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Türkei ist das Land, in dem der „Islamische Staat“
regelrecht hochgezüchtet wurde. Die Türkei ist das Land,
von dem der Bundesnachrichtendienst berichtet, dass es
Waffen an islamistische Terrorbanden in Syrien liefert.
Die Türkei ist das Land, in dem der Chefredakteur der
Tageszeitung Cumhuryiet, Can Dündar, seit fast zwei
Monaten im Gefängnis sitzt, weil er Dokumente ver-
öffentlicht hat, die die Verwicklung der türkischen Re-
gierung in die Waffenlieferungen an islamistische Ter-
rormilizen in Syrien belegen. Die Türkei ist das Land,
das unter Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention und
internationalen Rechts syrische Flüchtlinge in das Bür-
gerkriegsland abschiebt und dafür von der EU und von
Ihnen mit 3 Milliarden Euro belohnt wird. Ich weise auf
die heutige Monitor-Sendung in der ARD um 21.45 Uhr
hin, in der genau hierfür Belege geliefert werden.

Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dieser Situation? Sie zieht gar keine Konsequenzen
daraus. Ich sage Ihnen: Wer will, dass deutsche Waffen
weiterhin in die Türkei Erdogans geliefert werden, der ist
nicht nur politisch verantwortlich für diese Lieferungen,
mit denen Erdogan Krieg gegen die Kurden führt. Er ist
meiner Meinung nach auch persönlich verantwortlich. Er
trägt persönlich eine Mitverantwortung für die Verbre-
chen, die an der Zivilbevölkerung im Osten der Türkei
begangen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie legen mit an gegen die Kurden in der Türkei. Deshalb
fordern wir von der Linken: Stoppen Sie die Waffenex-
porte in die Türkei! Keinen Cent und keine Waffe an den
Terrorpaten Erdogan!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung will auch weiter Waffen an den
Terrorstaat Saudi-Arabien liefern. Wie sieht die Situation
dort aus? Massenhinrichtungen, man muss sagen: Mas-
senschlächterei, wie beim „Islamischen Staat“, ein An-

griffskrieg gegen den Jemen, Unterdrückung der eigenen
Bevölkerung, Export islamistischen Terrors weltweit und
Destabilisierung der gesamten Region, wie selbst der
Bundesnachrichtendienst mitgeteilt hat. – So sieht es aus,
wenn man nur ein paar Stichpunkte nennt. Und Sie? Was
machen Sie? Sie machen weiter wie bisher und liefern
Waffen an diese blutige Diktatur in Saudi-Arabien.

Als ich vor Kurzem auf einer Reise mit Herrn Frank-
Walter Steinmeier versuchte, ein Treffen mit dem geist-
lichen Führer der Schiiten Nimr al-Nimr und seinem
20-jährigen Neffen Ali al-Nimr, der ebenfalls verurteilt
wurde, zu organisieren, hat mir das Auswärtige Amt die-
sen Termin versagt. Und wissen Sie, mit welcher Begrün-
dung? Sie meinten, der Schlächter Salman, der König
dieser monarchistischen Diktatur, würde eventuell ver-
stimmt werden, wenn eine Abgeordnete der Opposition
es aus menschenrechtspolitischer Sicht für notwendig
erachtet, sich mit diesen Gefangenen zu treffen. Ich finde
einen solchen Umgang mit einem saudischen Terrorstaat
unerträglich. Das zeigt, dass Ihnen jedweder Wertekom-
pass verloren gegangen ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben keine Koordinaten mehr in Ihrer Außenpo-
litik. Die Linke fordert Sie deshalb auf: Kehren Sie um!
Eine Außenpolitik muss sich an Humanität, Gerechtig-
keit und der Einhaltung von Menschenrechten ausrich-
ten. Deshalb: Stoppen Sie die Rüstungsexporte! Stoppen
Sie die Waffenlieferungen an die Türkei und Saudi-Ara-
bien! Dabei – da bin ich mir sicher – haben Sie auf jeden
Fall die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung.
Hören Sie auf, diese Terrorpaten zu unterstützen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814912500

Die Kollegin Dr. Dorothee Schlegel spricht jetzt für

die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Dorothee Schlegel (SPD):
Rede ID: ID1814912600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle sind ent-
setzt und schockiert über die terroristischen Gewaltakte
des IS, die unschuldigen Menschen – vorgestern in Istan-
bul waren viele Deutsche darunter – das Leben rauben.
Der Terror rückt näher und kann überall geschehen. Die-
ses Mal wurde das Herz der Türkei getroffen, Istanbul,
die türkische Stadt, die Europa am nächsten ist. Der men-
schenverachtende IS-Terror bedroht uns alle. In unserer
Freiheit und unserer Lebensweise lassen wir uns aber
nicht einschränken. Hierzu sei Goethe zitiert:

Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
nimmer sich beugen,
kräftig sich zeigen,
...

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben gestern
im Europaausschuss mit Staatsminister Michael Roth in-

Sevim Dağdelen






(A) (C)



(B) (D)


tensiv über die aktuelle Situation in der Türkei – darauf
lege ich nun den Fokus – diskutiert. Die Lage in der Tür-
kei mit Sorge betrachtend waren wir uns einig, dass ein
struktureller Dialog mehr denn je nötig und wichtig ist.
Die Türkei ist für mich dabei nicht nur auf den Staatsprä-
sidenten zu reduzieren.

Mit David Bowie, der jüngst verstorben ist, könnte man
fragen: Where are we now? Die EU und die Türkei stehen
gemeinsam an einem Scheideweg. Ohne Not wurde der
Türkei in den letzten Jahren auch von der schwarz-gel-
ben Bundesregierung die Tür zum EU-Beitritt vor der
Nase zugeschlagen. Das war ein gravierender Fehler.
Unter Gerhard Schröder, also vor mehr als zehn Jahren,
waren wir, was den Beitrittsprozess der Türkei betrifft,
viel weiter. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses ist
es für die EU momentan zweifellos kompliziert, auf die
Türkei zuzugehen; denn die Türkei macht – das haben
meine Vorredner schon gesagt – erhebliche Rückschritte
in den Bereichen Meinungs- und Pressefreiheit, Rechts-
staatlichkeit und Minderheitenschutz. Doch wir müssen
ebenso in den Fokus nehmen, welche gemeinsamen Inte-
ressen – dabei geht es um mehr als um militärische und
Sicherheitsinteressen – Europa und die Türkei bei ihrer
Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise verfolgen. Mit
dem gemeinsamen Aktionsplan wurde im EU-Türkei-Di-
alog am 29. November letzten Jahres vereinbart, dass
Ankara das Rückübernahmeabkommen zwischen der EU
und der Türkei zum Juli 2016 implementieren wird.

Die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, die
sofortige Eröffnung des Kapitels zur Wirtschafts- und
Währungspolitik und die hoffentlich baldige Aufnahme
der Verhandlungen über die Kapitel Rechtsstaatlichkeit
und Menschenrechte liegen im ureigenen Interesse Eu-
ropas. Darum ist es wichtig, dass die EU halbjährlich
Gipfeltreffen mit der Türkei abhalten will; darum ist
es richtig, dass die EU einen ständigen und hochrangig
besetzten politischen Dialog einrichtet, beginnend mit
Wirtschafts- und Energiefragen.

Vielfach wurde auch hier kritisiert, dass der EU-Beitritt
instrumentalisiert werde. Das ist nicht falsch. Menschen-
rechtsorganisationen sprachen gar von einem schmut-
zigen Deal sowie dem Ausverkauf europäischer Werte.
Aber das sehe ich nicht so. Wir dürfen nicht vergessen,
dass sich die EU aus außen- und sicherheitspolitischen
Gründen für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen
hat. Diese Interessen stehen gerade heute, in Zeiten des
Staatenverfalls im Nahen Osten und angesichts seiner
Auswirkungen, vordringlicher denn je im Raum. Die
Türkei spielt als Haupttransitland eine Schlüsselrolle in
der aktuellen Flüchtlingsbewegung. Die EU ist derzeit
stärker denn je auf die Türkei angewiesen, stärker als
umgekehrt. Darum war es wichtig, die Türkei wieder für
eine Kooperation zu gewinnen. Die von Brüssel zugesag-
ten sofortigen und längerfristigen finanziellen Hilfen für
die Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei müs-
sen jetzt aber auch fließen. Alle EU-Mitgliedstaaten sind
dringend gehalten, ihre Hausaufgaben zu machen.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprach
vorgestern Abend bei der Auftaktveranstaltung zum
OSZE-Vorsitz Deutschlands von Kultur durch Dialog
und von Dialog durch Kultur. So ist es: Am Dialog auf

allen Ebenen geht kein Weg vorbei. Wir sollten daher die
Fortführung des Beitrittsprozesses als Chance begreifen.
Denn trotz des Spannungsverhältnisses wollen wir auf
ein gutes Verhältnis zur Türkei nicht verzichten.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will niemand!)


Dabei vergessen wir nicht, Rechtsstaatlichkeit und
Menschenrechte einzufordern, auch mit Blick auf die
Hinweise auf die Abschiebungen von syrischen und ira-
kischen Flüchtlingen an der türkischen Grenze und die
besorgniserregenden Entwicklungen im Südosten der
Türkei. Auch die internen Friedensverhandlungen müs-
sen dort wieder aufgenommen und fortgesetzt werden.

Ich komme zum Schluss. Parallel zu jeglicher Mili-
tärkooperation in und mit der Türkei müssen auch die
Kooperation und Kommunikation auf diplomatischer
und zwischenmenschlicher Ebene fortgeführt werden.
Hier müssen Deutschland und die EU ihr ganzes diplo-
matisches Gewicht in die Waagschale werfen. Es ist klar:
Das Instrument Beitrittsverhandlungen ist, um im militä-
rischen Jargon zu bleiben, das schärfste Schwert der EU.
Denn es gilt das Primat der Friedenssicherung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814912700

Nächster Redner ist Kollege Omid Nouripour für

Bündnis 90/Die Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814912800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:

Ich vergaß, dich darüber zu informieren, dass ich
mich mit deiner Abwesenheit praktisch abgefunden
habe, dass die Träume sich auf dem Weg zu deinen
Wünschen verirrt haben, dass mein Gedächtnis sich
langsam zersetzt und dass ich noch immer das Licht
verfolge – nicht weil ich den Wunsch habe, es zu
sehen, sondern weil die Dunkelheit beängstigend
bleibt, auch wenn wir uns daran gewöhnt haben!

Das sind Verse des palästinensisch-saudischen Dich-
ters Ashraf Fayadh. Ein Dichter kann sich nur in Worten
und Bildern ausdrücken. Genau das hat er getan. Dafür
ist er in Saudi-Arabien zum Tode verurteilt worden.
Heute gibt es weltweit einen Tag, an dem Menschen mit
Lesungen an ihn erinnern, um seinen Fall nicht in Ver-
gessenheit geraten zu lassen. Dieser Fall wie auch viele
andere, die wir kennen, Raif Badawi, al-Nimr junior oder
auch der des exekutierten Ajatollah, zeigen, mit welch
schwieriger Situation wir es zu tun haben, wenn wir über
Saudi-Arabien sprechen.

Wenn wir lautstark über eigene Werte sprechen, dann
ist es wichtig, dass wir uns selbst dabei ernst nehmen.
Das ist eine Frage der Selbstachtung. Wer sich selbst
nicht achtet, der wird auch nicht ernst genommen. Des-
halb ist eine Außenpolitik ohne Werte grundsätzlich eine
schlechte Außenpolitik. Ja, wir brauchen Diplomatie. Ja,
wir müssen mit Saudi-Arabien sprechen und mit der Tür-

Dr. Dorothee Schlegel






(A) (C)



(B) (D)


kei sowieso. Ja, ich teile, was mehrfach gesagt worden
ist: Die Gleichsetzung dieser beiden Länder ist völlig
falsch. Das ist richtig. Die Frage ist nur: Wie machen wir
Diplomatie, wie reden wir mit diesen Ländern?

Im Falle der Türkei zitiere ich den CDU-Generalse-
kretär Tauber aus 2014 – da gab es, wie so oft, wieder
einmal eine Entgleisung von Herrn Erdogan –:

Diese Entgleisungen zeigen einmal mehr, wie wenig
er von Freiheit und Pluralität hält.

Der Kollege Nick hat vorhin gesagt, dass wir uns auf
keinen Fall in die innenpolitischen Auseinandersetzun-
gen der Türkei einmischen wollen. Dann frage ich mich:
Warum fährt dann die Frau Bundeskanzlerin eine Wo-
che vor der Wahl hin und macht faktisch Wahlkampf für
Erdogan?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dieses Land steht mindestens an der Grenze zum Bür-
gerkrieg. Wir alle wissen, wer diesen angezettelt hat. Wir
alle wissen, dass die PKK eine fürchterliche Organisati-
on ist. Aber wir müssen natürlich auch zur Kenntnis neh-
men, dass so viele Journalisten in der Türkei in Gefäng-
nissen sitzen wie seit Dekaden nicht mehr.

Wir müssen, wenn wir unsere Werte nicht aufgeben
wollen, natürlich auch realistisch sein. Stabilitätsanker:
Saudi-Arabien, Katar, Ägypten, Jordanien und der Nord-
irak – all diese Länder und Regionen wurden von Kolle-
ginnen und Kollegen der CDU/CSU zu Stabilitätsankern
ausgerufen. Bei so vielen Stabilitätsankern fragt man
sich: Wo ist das Problem im Nahen Osten? Aber gerade
im Falle von Saudi-Arabien ist die Frage, ob wir es wirk-
lich mit einem Stabilitätsanker zu tun haben.

Der Kollege Brunner hat gerade die Menschenrechts-
verletzungen im Iran angesprochen. Ich glaube, ich ge-
höre zu den Menschen, denen man diese nicht beibringen
muss. Sie sind verheerend und brutal. Aber, mit Verlaub,
das ist der Grund, warum hier niemand fordert, dass wir
eine strategische Partnerschaft mit dem Iran unterhalten,
und warum hier niemand fordert, dass wir Waffen in den
Iran exportieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist genau das, was wir auch für die Türkei und Sau-
di-Arabien verlangen.

Seit dem 26. März 2015 ist Saudi-Arabien im Je-
men-Krieg involviert. Diesen haben sie nicht begonnen;
das stimmt. Aber die Gründe für das, was dort passiert,
muss man sich einfach mal anschauen: Das ist ein Thron-
folgekrieg in Saudi-Arabien selbst. Es gibt mindestens
drei Personen, die in dem Land König werden wollen.
Als Nebenschauplatz wird ein Land ruiniert.

Allein seit August letzten Jahres wurden fünf Schulen
weggebombt, zuletzt eine Blindenschule, UN-Flücht-
lingslager, Krankenhäuser von „Ärzte ohne Grenzen“,
Bibliotheken, Milch-, Zement- und Getränkefabri-
ken, Ausflugslokale, mehrere Hochzeitsgesellschaften,
Schwimmbäder, Fußballplätze, Kinderspielplätze und

Weltkulturerbestätten, just diese Woche ein ganzer Stra-
ßenzug in Sanaa.

Angesichts dieser Ereignisse – ich zitiere –

sind wir doch froh, dass wir mit deutscher Unter-
stützung einen Beitrag dazu leisten können, dass
Frieden in der Welt erhalten bzw. geschaffen wird.

Denn – ich zitiere –

Saudi-Arabien ist ja wohl unzweideutig seit Jahr-
zehnten ein verlässlicher Partner des Westens ...

Das sagte hier im Plenum Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.

Volker Kauder:

Saudi-Arabien ist in der Region sicher ein stabilisie-
render Faktor.

Das hat er vor dem Jemen-Krieg gesagt. Aber man muss
auch wissen, dass relativ kurz bevor er das gesagt hat,
saudische Panzer die freiheitsliebenden Demonstranten
in Bahrain niedergewalzt haben. Das ist einfach – es tut
mir leid – jenseits und entfernt von „sich selbst ernst neh-
men“, das ist jenseits und entfernt von den Gesetzen in
diesem Land, und das ist jenseits und entfernt von Selbst-
achtung und Anstand. Es ist realitätsfremd, also das, was
Sie uns immer vorwerfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist genauso realitätsfremd, dass deutsche Waffen
von den Saudis irgendwo über Al-Qaida-Gebiet in Kisten
abgeworfen werden, damit bitte irgendjemand die Huthis
bekämpfen möge. Ich glaube nicht, dass es für die Sicher-
heit der Bundesrepublik Deutschland von großem Vorteil
ist, wenn al-Qaida deutsche Waffen bekommt. Deshalb
gilt es, die Augen aufzumachen, sich anzuschauen, was
dort passiert, und die Stabilitätspartnerschaft bzw. die
strategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien endlich zu
beenden. Reden muss man – ja, bitte, unbedingt –, aber
wir wollen keine Rüstungsexporte und keine Partner-
schaft, die so ist, wie sie zurzeit ist.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814912900

Der Kollege Volker Mosblech hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Volker Mosblech (CDU):
Rede ID: ID1814913000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sicherheitspo-
litische Lage im Nahen und Mittleren Osten zeigt sich in-
stabiler denn je. Bereits im vergangenen Herbst fielen in
Ankara über 100 Menschen Selbstmordattentätern zum
Opfer. Erst vorgestern starben bei einem erneuten Terror-
anschlag zehn deutsche Bundesbürger in Istanbul. Das
Attentat in der türkischen Metropole hat uns alle, denke

Omid Nouripour






(A) (C)



(B) (D)


ich, tief getroffen. Dennoch dürfen wir uns durch Terror,
Mord und Gewalt nicht verängstigen lassen. Nach dem
erneuten Anschlag in der Türkei ist es selbstverständ-
lich, dass wir nun enger denn je an der Seite unseres
NATO-Partners stehen.

Die Bedrohungslage zeigt sich unverändert hoch; sie
hat auch Deutschland und deutsche Bürgerinnen und
Bürger längst erreicht. Ein Blick auf den Nahen und
Mittleren Osten zeigt wachsende Instabilität, ausgelöst
durch schwelende Konflikte und steigende zwischen-
staatliche Spannungen. Neben dem seit über fünf Jahren
wütenden Bürgerkrieg in Syrien mit einer schier unendli-
chen Anzahl verschiedener Konfliktparteien nehmen die
Spannungen zwischen den beiden Regionalmächten Sau-
di-Arabien und Iran mehr und mehr zu. Hinzu kommen
die ungelösten Konflikte zwischen dem jüdischen Staat
Israel und den Palästinensern sowie der jüngst entfachte
Krieg im Jemen.

Angesichts dieser prekären sicherheitspolitischen
Situation an der südöstlichen europäischen Peripherie –
speziell für unseren NATO-Bündnispartner Türkei –
kann es nur in unserem ureigenen Interesse liegen, uns
alle möglichen Gesprächskanäle offenzuhalten. Unser
Fokus muss hierbei zuerst auf unserem Bündnispartner
Türkei liegen. Gemeinsam mit Ankara sollten wir uns da-
rauf konzentrieren, auf die Konflikte Einfluss zu nehmen,
die uns direkt betreffen und auf die wir Einfluss haben.
Dabei spielt der Syrien-Konflikt als Ursache der Flucht-
bewegungen nach Europa für uns die entscheidende Rol-
le.

Generell nimmt die Türkei, allein geografisch, für
die Europäische Union eine außerordentlich wichtige
Stellung ein. Viele potenzielle Gefahren und destabili-
sierende Faktoren für Europa haben ihren Ursprung in
direkter Nachbarschaft der Türkei. Das macht unseren
NATO-Partner zu einem Schlüsselakteur in der Region.
Dieser Verantwortung ist sich das Land auch bewusst.
Die Türkei ist vom Terrorismus und vom Krieg in Syrien
länger und stärker betroffen als Europa und Deutschland
und ist zudem der einzige NATO-Partner in der Krisen-
region. Das Land hat darüber hinaus eine Schlüsselrolle,
wenn es um die Steuerung des Flüchtlingsstroms Rich-
tung Europa geht. Mit deutlich über 2 Millionen Men-
schen hat die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen als
jedes andere NATO-Mitglied.

So gesehen haben wir ein gemeinsames Problem und
damit ein gemeinsames Interesse, dieses zu lösen oder
zumindest einzudämmen. Das geht vom Syrien-Konflikt
selbst über die Sicherung der Außengrenzen der Europä-
ischen Union bis hin zur Aufrechterhaltung des Küsten-
schutzes gegenüber Schleppern und Menschenhändlern.

Selbstverständlich kann uns ebenso die innenpoliti-
sche Situation in der Türkei nicht egal sein. Wir müssen
daher auch immer betonen – und das tut unsere Bundes-
regierung –, dass die Beziehungen Deutschlands und der
Europäischen Union zur Türkei immer auch von einem
auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie basierenden po-
litischen System abhängen.

Es bringt uns nichts, wenn wir nun die Gespräche mit
jedem Staat abbrechen, der nicht nach unseren Wertvor-
stellungen handelt.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das hat ja keiner gefordert!)


Ich halte es für unabdingbar, alle Möglichkeiten zu nut-
zen, um den Syrien-Konflikt und seine Auswirkungen
einzudämmen und deeskalierend auf die nun auch ge-
spannteren Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und
dem Iran einzuwirken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Einfrieren der Beziehungen mit dem anderen hier
genannten Staat, Saudi-Arabien, würde auch unsere Ver-
handlungsposition im Hinblick auf Syrien schwächen.
Es kann doch nur in unserem Interesse sein, die Bezie-
hungen zu Saudi-Arabien aufrechtzuerhalten. Sollten wir
den Handel und die diplomatischen Beziehungen dorthin
abbrechen, würden wir zugleich auch alle Möglichkeiten
verringern, uns für eine Stabilisierung der Region einzu-
setzen.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wer will das denn?)


Eine weitere Eskalation der Beziehungen zwischen Sau-
di-Arabien und dem Iran wäre für die gesamte Region
fatal.

Deutschland hat ein großes Interesse an der Stabilität
im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere im Hinblick
auf die Wiener Verhandlungen über den Bürgerkrieg in
Syrien. Deshalb sollten und müssen wir die Lage dort re-
alistisch einschätzen.

Der Konflikt in Syrien und die daraus folgende Flucht-
bewegung nach Europa werden uns noch längere Zeit
beschäftigen. Als Schlussfolgerung daraus sollten wir
gerade nicht ziehen, alle Gespräche in und Verbindungen
zu den Konfliktregionen abzubrechen, um uns selbst auf
die Schulter klopfen zu können und uns besser zu fühlen.
Insofern kann ich die Position der Bundesregierung nur
weiterhin unterstützen: Nur durch eine fortgesetzte Mi-
litärkooperation mit Saudi-Arabien und der Türkei kann
wieder eine Balance erreicht werden.

Unser Ziel lautet, die Region zu stabilisieren und un-
sere Werte und Interessen in der Region durchzusetzen.
Dies kann nur erreicht werden, wenn wir uns mit den
Akteuren in den Krisenregionen auseinandersetzen. Vor
allem unser NATO-Partner Türkei übernimmt dabei eine
besondere Verantwortung.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814913100

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hitschler für

die SPD.


(Beifall bei der SPD)


Volker Mosblech






(A) (C)



(B) (D)



Thomas Hitschler (SPD):
Rede ID: ID1814913200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Diese Rede heute zu halten, fällt nicht leicht.
Einerseits ist das Thema dieser Debatte eines von Zwi-
schentönen, von Grau, andererseits ist es schwer, diese
Debatte von dem schrecklichen Verbrechen in Istanbul
vor zwei Tagen nicht einfärben zu lassen – in Schwarz.
Es ist schwer, nicht nach scheinbar einfachen Lösungen
für komplexe Probleme zu suchen. Aber genau für diese
Reflexion sind wir hier. Es ist unsere Aufgabe, eben nicht
in Schwarz-und-Weiß-Schablonen zu denken.

Ähnlich nimmt unser Land seine außenpolitische Ver-
antwortung wahr. Wir bemühen uns, für andere Staaten
ein guter Gesprächs-, Handels- und Bündnispartner zu
sein, etwa für die Türkei. Neben einer langen bilatera-
len Partnerschaft, ja Freundschaft verbindet uns die
Mitgliedschaft in der NATO. Im Rahmen dieses Ver-
teidigungsbündnisses kooperieren Berlin und Ankara
selbstverständlich auch militärisch miteinander. Wir ste-
hen an der Seite unseres Partnerlandes, wenn dieses an-
gegriffen wird. Das war in der Vergangenheit so, das ist
auch heute so, und das sollte nach Möglichkeit auch in
der Zukunft so sein.

Wir müssen gerade beim Kampf gegen den islamis-
tischen Terrorismus noch stärker mit unserem Partner
kooperieren. Dies muss auch ein Resultat des feigen An-
schlags von Istanbul sein: noch stärker zusammenzuste-
hen.

Und jetzt kommen die Grautöne: Die Türkei ist kein
perfekter Partner – wenn es so etwas überhaupt gibt. In
jüngster Zeit hat sich Ankara zunehmend von unserem
Wertekanon wegbewegt. Innenpolitisch werden Rechts-
staatlichkeit und Demokratie immer weiter beschnitten.
Der Kampf gegen den IS wird missbraucht, um den
Krieg gegen die Kurden weiter aufflammen zu lassen.
Grauenvolle Nachrichten dazu erreichen uns jeden Tag.

Gleichzeitig konnte man den bisherigen nichtmilitäri-
schen Einsatz der Türkei gegen den IS, etwa die Kontrol-
le des Grenzverkehrs oder die Unterbindung des Erdöl-
schmuggels, bestenfalls als halbherzig bezeichnen. Das
scheint jetzt zunehmend zum Problem für unseren Partner
zu werden. Gerade in dieser Situation wäre es eine ver-
antwortungslose und falsche Antwort, die Zusammenar-
beit mit der Türkei einzustellen. Lassen Sie uns – gerade
als Parlamentarier – lieber unsere Gesprächskanäle nut-
zen, um Veränderungen und Umdenken herbeizuführen,
Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei der SPD)


Auf der anderen Seite sehen wir Saudi-Arabien. Das
Land steht am Scheideweg. Lange Zeit hat das innenpo-
litische Rezept „vermeintlicher Wohlstand gegen Un-
terwerfung“ funktioniert. Dies scheint sich geändert zu
haben. Die Devisenreserven des Landes nehmen stark
ab, die Aussichten für eine gute wirtschaftliche Zukunft
nicht gerade zu. Ökonomische Reformen sind bereits in
Arbeit, aber leider gibt es noch keine Anzeichen eines
begleitenden gesellschaftlichen Reformprozesses. Im
Gegenteil: Seit einer Gesetzesverschärfung im Jahr 2014
kann jeder Widerspruch zur Politik der Herrscherfami-

lie als Terrorismus verfolgt werden. Im ersten Jahr der
Regentschaft des neuen Königs Salman sind mehr Men-
schen hingerichtet worden als in den 20 Jahren zuvor.
Bei den Frauenrechten hat sich nichts zum Positiven hin
verändert.

Auf diese Entwicklungen müssen wir Einfluss neh-
men, Kolleginnen und Kollegen. Auch hier kommen wir
erneut zu Grau. Wir brauchen Saudi-Arabien, um die
Konflikte in der Region zu lösen. Nicht zuletzt bei den
Wiener Gesprächen zur Beendigung des Syrien-Kon-
flikts werden Vertreter Riads mit am Tisch sitzen. Aber
gerade deshalb dürfen wir nicht wegsehen. Wir müssen
deutlich über die bestehenden Gesprächskanäle zum
Ausdruck bringen, dass die Entwicklung in diesem Land
nicht dazu führen wird, dass wir teilnahmslos an der
Seite stehen und wegschauen, wenn Menschen geköpft
und Menschenrechte missachtet werden. Gerade des-
halb ist es gut, dass unser Außenminister Frank-Walter
Steinmeier die offenen Gesprächskanäle nutzt, um dies
auch an Saudi-Arabien weiterzugeben.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wegschauen,
Gespräche beenden und sich wegdrehen – das wäre ge-
nau das falsche Rezept.

Kolleginnen und Kollegen, der Scheideweg Sau-
di-Arabiens sollte für uns auch als Chance verstanden
werden, unseren begrenzten Einfluss zu nutzen, um posi-
tive Veränderungen zu befördern. Erste Schritte in diese
Richtung ist Bundeswirtschaftsminister Gabriel im ver-
gangenen Jahr bereits gegangen. Rüstungskooperationen
wurden stark eingeschränkt. Und das ist auch gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diese Schritte waren gerechtfertigt und werden eine res-
triktive Linie zum Standard künftiger militärischer Ko-
operation machen. Auch hier, Kolleginnen und Kollegen,
dürfen wir das offene Wort nicht scheuen.

Deshalb noch ein weiteres offenes Wort. Lassen Sie
uns auch bei der Massenvernichtungswaffe Nummer
eins über weitere Schritte diskutieren, den Kleinwaf-
fen. Die Bundesregierung hat hierzu erste Änderungen
eingebracht. Ich meine aber, es ist an der Zeit, einmal
grundsätzlich über dieses Thema nachzudenken und den
Export von Kleinwaffen aus Deutschland noch deutlicher
zu begrenzen – gerade in diese Region.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie denn?)


Zwischen Partnern muss es möglich sein, kritische
Punkte deutlich anzusprechen. Aber lassen Sie uns nicht
in ein Schwarz-Weiß-Denken verfallen. Erinnern Sie sich
daran, dass ich von Grautönen gesprochen habe. Jedwede
Kooperation auf militärischer Ebene abzubrechen, wird
unseren Einfluss weder in Riad noch in Ankara stärken.
Nutzen wir Kooperation dort, wo wir dadurch Einfluss
gewinnen und Positives bewirken können. Aber lassen
Sie uns Kooperationen überdenken, wenn dies nicht
mehr der Fall ist.

Die Welt ist nun einmal nicht einfach nur Schwarz
und Weiß. Eine verantwortungsbewusste Politik sollte






(A) (C)



(B) (D)


deshalb weder in Schwarz und Weiß denken, noch sollte
sie nach diesem zu einfachen Prinzip handeln. Man kann
es sich nämlich auch zu einfach machen. Verfolgen wir
besser auch weiterhin eine Politik des klugen Abwägens
und der wohlüberlegten Entscheidungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es liegt an Ihnen, das auch mal zu machen!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814913300

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl für die

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1814913400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir an Saudi-Arabien und die Türkei denken, den-
ken wir auch an unsere sicherheitspolitische Strategie
sowie an jahrelange Kooperationen in diesem Bereich.
Die Türkei ist – das wissen wir – unser NATO-Partner.
Daher haben wir auch als Mitglied der NATO ein natür-
liches Interesse an der Stabilität der Süd-Ost-Flanke des
Bündnisses. Wir haben auch immer unseren Beitrag zur
Sicherheit geleistet. Das geschah auch durch die Statio-
nierung des Patriot-Raketenabwehrsystems im Rahmen
der Mission Active Fence zum Schutz vor syrischen
Luftangriffen.

Zurzeit stellt uns die Türkei in unserer Funktion als
Mitglied der Anti-IS-Koalition den Luftwaffenstützpunkt
Incirlik zur Verfügung, von wo aus seit letzter Woche un-
sere Aufklärungstornados Richtung Syrien fliegen.

Leider gibt es aber auch die andere Seite. Das immer
aggressivere Verhalten der türkischen Sicherheitskräf-
te gegen die Kurden im Südosten der Türkei, also im
NATO-Raum, führt zu Instabilität. So legitim das Sicher-
heitsinteresse der Türkei in Bezug auf die Aktionen der
PKK auch sein mag, so hat es doch den Anschein, dass
bei Erdogan die Bekämpfung des IS nicht im Vorder-
grund steht, sondern dass dies als Rechtfertigung dafür
benutzt wird, um seine eigenen politischen Ziele durch-
zusetzen, ein weiteres autonomes Kurdengebiet wie im
Norden Iraks zu verhindern.

Wir müssen uns schon fragen: Warum ist es nicht
möglich, die syrische Grenze zu schließen, um den Nach-
schub an Kämpfern und auch den Nachschub an Ausrüs-
tung nach Syrien hundertprozentig zu unterbinden?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Die Türkei hat sich als Transitland und in der Vergangen-
heit leider auch als Rückzugsgebiet für Dschihadisten zur
Verfügung gestellt.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt natürlich auch, dass inzwischen über
1 000 Schläfer allein in der Türkei zu finden sind. Daher
müssen wir auch als NATO-Bündnispartner Gespräche

mit der Türkei führen und sie auffordern, Eskalationen
im Kurdengebiet, Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung
zu unterlassen und die Verhandlungen mit der PKK wie-
der aufzunehmen.

Kommen wir zu Saudi-Arabien. Man muss sehen,
dass dieses Land in der Vergangenheit ein unverzicht-
barer Partner zur Beilegung von Konflikten in dieser
Region war. Wir alle wissen, dass eine Beendigung des
Syrien-Konflikts, der jetzt schon über fünf Jahre andau-
ert, bei dem über 280 000 Tote zu beklagen sind und der
zu Millionen von Flüchtlingen geführt hat, im Interesse
Deutschlands ist. Wir wissen auch: Um eine Beendigung
dieses Bürgerkrieges zu erreichen, brauchen wir die Ko-
operation mit Iran und mit Saudi-Arabien. Ich habe auch
Iran angesprochen, ein Land, das dem Regime Assad
Geld, Waffen und Truppen zur Verfügung stellt und so-
mit dazu beiträgt, dass dieser brutale Krieg verlängert
wird. Nichtsdestoweniger sind diese beiden Partner un-
verzichtbar, wenn wir auf ein Ende dieses Bürgerkriegs
hinarbeiten.

Saudi-Arabien hat sich von Anfang an darum bemüht,
den Konflikt beizulegen. Es ist Mitinitiator der Allianz
gegen den IS. Das Land bekämpft den IS mit militäri-
schen Luftschlägen und unterstützt die moderaten Oppo-
sitionsparteien durch Ausbildung auch im eigenen Land.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Wir pflegen bezüglich
der Terrorbekämpfung eine enge Kooperation mit den
Geheimdiensten Saudi-Arabiens.

Ein anderer Punkt, der in diesem Zusammenhang zu-
nehmend in Vergessenheit gerät: Hinter Saudi-Arabien
steht ein großer Teil der muslimischen Welt. Wenn der IS
im Rahmen seiner Propaganda erklärt, das Vorgehen des
Westens sei ein Kreuzzug gegen den Islam, dann wird
durch die Kooperation mit Saudi-Arabien der Beweis ge-
führt, dass dieser Behauptung die Grundlage fehlt.

Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass in Saudi-Ara-
bien Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Ich
glaube, jeder hier im Hause verurteilt das aufs Schärfste.
Aber wir wissen auch, dass die Eskalation zwischen Sau-
di-Arabien und Iran zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt
hätte kommen können. Hier zeigt sich uns eine hochex-
plosive Gemengelage. Die Gefahr nimmt zu, dass es zu
einer Intensivierung der zwei Stellvertreterkriege im Je-
men und in Syrien kommen könnte.

Wir stehen vor schwierigen Zeiten. In Iran stehen
Wahlen vor der Tür. Bei diesen Wahlen wird auch der
Wächterrat für eine Zeit von acht Jahren neu gewählt.
Das heißt: Hier könnten die Hardliner kurz vor den Wah-
len die Oberhand gewinnen, was nicht in unserem Inte-
resse sein kann. Wenn wir heute sehen, wie schwierig
und langwierig der Weg zur Wiener Konferenz war, wie
schwierig es war, auch Iran und Syrien mit an den Ver-
handlungstisch zu bekommen, dann müssen wir darauf
achten, dass dieser Weg in der Zukunft nicht versperrt
wird.

Jetzt kommen die Genfer Verhandlungen. Zum ersten
Mal werden hoffentlich auch Vertreter der syrischen Re-
gierung und die moderaten syrischen Oppositionellen mit
dabei sein. Da dürfen natürlich auch Iran und Saudi-Ara-

Thomas Hitschler






(A) (C)



(B) (D)


bien nicht fehlen. Ich glaube, das Schlimmste wäre, wenn
das Erreichte zunichtegemacht würde.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814913500

Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Rede-

zeit!


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1814913600

Denn das wäre der größte Sieg, den der IS sich wün-

schen könnte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD] – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir stimmen so weit zu!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814913700

Abschließender Redner in dieser Aktuellen Stunde ist

der Kollege Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1814913800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Die Debatte hat einmal mehr deut-
lich gemacht, dass man außenpolitische Debatten mit der
Bereitschaft zur Differenzierung führen muss, zu der Sie,
Herr Kollege Gehrcke und Frau Kollegin Dağdelen, heu-
te bedauerlicherweise erneut nicht in der Lage waren.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Nie in der Lage waren!)


Das fängt schon da an – das ist mehrfach betont wor-
den –, dass Sie die Debatte so gestalten, dass Sie zwei
Länder, zu denen wir unterschiedlich enge, zum Teil
partnerschaftliche, aber auch kritische Verhältnisse ha-
ben, in einen Topf werfen und eine gemeinsame Debatte
über den NATO-Partner Türkei und über Saudi-Arabien
führen wollen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die arbeiten doch eng zusammen! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die unterstützen beide den IS! Darum geht es! Das ist die Gemeinsamkeit!)


Nun bringen die ganze Debatte und Ihre Argumenta-
tion – gelegentlich auch die Argumentationen aus den
Kreisen von Bündnis 90/Die Grünen – die Unionsfrakti-
on in eine eigentümliche Lage. Wir werden nämlich Ver-
teidiger der Türkei, obwohl wir doch schon seit vielen
Jahrzehnten einen ziemlich realistischen Blick auf die
Türkei haben


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und schon seit längerer Zeit vor allzu großer Euphorie
warnen, etwa wenn es um die Frage des EU-Beitritts
geht.

Aber die Türkei ist und bleibt zum jetzigen Zeitpunkt
bei allem, was man daran zu kritisieren hat, was derzeit
geschieht – ich sage gleich noch etwas dazu –, ein demo-
kratischer Staat. Diejenigen, die dort handeln – ob sie uns

passen oder nicht; das gilt für den Präsidenten wie für die
Regierung –,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Auch die Opposition!)


sind demokratisch gewählt,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das war Assad auch!)


und die Türkei ist – das sollte man nie vergessen –
über viele Jahrzehnte hinweg ein verlässlicher Partner
in der NATO gewesen. Herr Kollege Gehrcke, es mag
in Moskaus Interesse liegen, einen Keil zwischen die
NATO, zwischen den Westen, zwischen Europa und An-
kara zu bringen. Unser Interesse ist es nicht, hier einen
Keil hineinzutreiben, sondern unser Interesse ist, Irritati-
onen auszuräumen und die Türkei an die Wertewelt Eu-
ropas heranzuführen und daran zu binden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es verlangt in der Tat, dass man auch das kritisch an-
spricht, was in den Kurdengebieten geschieht. Ich habe
mich auch kürzlich mit Vertretern der HDP getroffen und
kann das nur unterstützen. Es ist vollkommen klar, und es
gehört auch zur Notwendigkeit deutscher Außenpolitik,
dass man artikuliert, was dort schiefläuft.

Aber es gehört auch dazu – das haben Sie heute ver-
missen lassen –, dass man auch das, was die PKK an
Terror macht, kritisiert. Seien Sie bitte nicht auf diesem
Auge blind, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Keine Frage! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das sind wir auch nicht! Wir sind für den Friedensprozess!)


Ich finde, dass man die Rolle Saudi-Arabiens davon
deutlich unterscheiden muss und dass es selbstverständ-
lich für die deutsche Außenpolitik ist, Saudi-Arabien als
einen Partner zu betrachten, mit dem man in der Tat in
vielen Punkten kritische Debatten zu führen hat. Dass das
aktuell mehr zu geschehen hat als in der Vergangenheit –
Sie haben den Jemen-Krieg und auch die Todesurteile er-
wähnt –, ist vollkommen richtig. Das geschieht auch. Ich
folge dabei der gestern vom Vorsitzenden des Auswärti-
gen Ausschusses in diesem Hause formulierten These: Je
mehr die Außenpolitik für die innenpolitische Debatte in
Deutschland an Bedeutung gewinnt, desto mehr müssen
wir unser außenpolitisches Handeln auch vor dem Hin-
tergrund unserer Werte den Menschen in Deutschland
erklären. Diese These ist richtig. Das sollten wir machen,
und das geschieht in Deutschland auch.

Vor diesem Hintergrund ist es absolut richtig, dass
Bundesaußenminister Steinmeier auf seiner letzten Reise
nach Riad, an der auch einige Kolleginnen und Kollegen
teilgenommen haben, als Erstes mit Menschenrechtlern
und mit Frauen gesprochen hat, die sich in diesem Sys-
tem unter schwierigsten Voraussetzungen dafür einset-
zen, dass die Menschenrechtslage und die Lage der Frau-
en besser werden.

Dagmar G. Wöhrl






(A) (C)



(B) (D)


Deswegen ist es richtig – Kollege Annen hat gestern
skizziert, was das Festival bewirken kann –, dieses Fes-
tival zu besuchen und dafür zu sorgen, dass in der saudi-
schen Gesellschaft und Politik auch unsere Werte Platz
haben. Das macht die Bundesregierung, und darin sollten
wir sie unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe aber zum Teil bei einigen Kritikpunkten den
Eindruck gehabt, als läge es im deutschen oder internati-
onalen Interesse, einen Regime-Change in Saudi-Arabi-
en herbeizuführen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das kann sein!)


Herr Kollege Gehrcke, um das einmal grundsätzlich klar-
zustellen: Es sollte nie Ansatz unserer Politik sein, für
einen Regimewechsel in einem anderen Land – mit wel-
chen Mitteln auch immer – zu sorgen.


(Zurufe von der LINKEN: Aha! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: In Syrien! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Day-after-Project!)


Da hat sich Deutschland immer zurückgehalten. Das
sollte nicht unsere Politik sein. Wenn Sie diesen Ansatz
verfolgen sollten, fände ich es gut, wenn Sie das hier of-
fen einräumten.

Bei allem, was wir an Saudi-Arabien zu kritisieren
haben – da gibt es sehr viel; das steht außer Frage –, soll-
ten Sie die grundlegend stabilisierende Rolle, die dieses
Land innehat – darauf ist schon in der gestrigen Debatte
hingewiesen worden –, nicht unterschätzen. Herr Kolle-
ge Nouripour, Saudi-Arabien unterscheidet sich in einem
wesentlichen Punkt vom Iran. Der Iran erkennt Israel
nicht nur nicht an – das sollte Deutschland nicht verges-
sen –, sondern verfolgt nach wie vor auch eine Politik,
die letzten Endes auf die Eliminierung Israels ausgerich-
tet ist. Das ist ein zentraler Unterschied, den wir in der
außenpolitischen Gewichtung berücksichtigen sollten.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das einzige Hindernis für eine strategische Partnerschaft mit dem Iran?)


– Entschuldigung, das habe ich nicht gesagt.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollte ich hören! Herzlichen Dank!)


Sie haben das mögliche deutsche Verhältnis zu den bei-
den erwähnten Staaten auf ein Niveau gestellt. Das finde
ich falsch, weil es einen gewichtigen Unterschied zwi-
schen beiden Ländern gibt. Der Iran will die Existenz
Israels aufheben bzw. zumindest angreifen. Hier ist die
deutsche Rolle sicher und klar. Wir stehen an der Seite
Israels. An dieser Stelle gibt es auch die Unterstützung
Saudi-Arabiens. Das sollten wir berücksichtigen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814913900

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Multidimensionalen Integrierten Stabilisie-
rungsmission der Vereinten Nationen in Mali

(MINUSMA) auf Grundlage der Resolutionen

2100 (2013), 2164 (2014) und 2227 (2015) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
25. April 2013, 25. Juni 2014 und 29. Juni 2015

Drucksache 18/7206
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die Bundesregierung der Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Wenn wir in diesen Tagen über Einsätze der Bun-
deswehr sprechen, dann geht es meistens um Syrien und
Irak. Die Region zwischen Euphrat und Tigris sowie
Mali am Oberlauf des Niger haben auf den ersten Blick
nicht viel gemeinsam. Aber viele Orte in diesen Ländern
teilen das gemeinsame tragische Schicksal – schauen wir
nur auf die Stadt Sindschar im Irak und die vielen na-
menlosen kurdischen Dörfer im Nordosten Syriens sowie
auf die Stadt Gao in Mali –, dass sie wochen- und mo-
natelang in der Hand radikal-islamistischer Terroristen
gewesen sind. Nach der Rückeroberung dieser Gegenden
zeigen sich Bilder des Schreckens, und die geschundene
Bevölkerung erzählt von bestialischen Grausamkeiten,
die ihr widerfahren sind.

Auch die Wüstenstädte Hatra im Irak und Palmyra in
Syrien teilen eine traurige Gemeinsamkeit mit dem sa-
genumwobenen Timbuktu in Mali. Hier wurden willent-
lich unschätzbare Kulturgüter zerstört, sei es von Daesh,
Ansar Dine oder al-Qaida im Maghreb. Die Terroristen
mögen verschiedene Namen tragen. Aber eines haben
sie gemeinsam: Sie kennen keine Gnade. Sie sind hem-
mungslos in ihrer Zerstörungswut gegen Menschen, aber
auch gegen Kulturgüter. Die Terroristen zu bekämpfen,
heißt deshalb, ihnen mit Waffengewalt entgegenzutreten
und ihnen auch den Nährboden zu entziehen. Ganz oben
stehen dabei Aufbauhilfe und Aussöhnung. Es sind die

Dr. Johann Wadephul






(A) (C)



(B) (D)


politischen Prozesse und der Aufbau funktionierender
staatlicher Strukturen, die darüber entscheiden, ob sich
die Bevölkerung von den Terroristen abwendet. Es muss
für die Bevölkerung erfahrbar sein, dass es ihnen ohne
Terroristen und Rebellen besser geht. Genau darum geht
es in diesem Mandat.

Seit dem Waffenstillstand vom letzten Sommer besteht
die leise Hoffnung, dass sich die Versöhnung zwischen
den Rebellen und der Regierung in Mali entwickelt. Auch
die Tuareg-Gruppen sind dazu jetzt bereit; das haben sie
mir bei meinem letzten Besuch in Mali bestätigt. Aber es
braucht noch ganz viel Engagement, übrigens auch En-
gagement der malischen Regierung, wenn ich das sagen
darf. Es braucht vor allem Schutz vor denen, die genau
diesen Friedensprozess nicht wollen und ihn torpedieren
wollen. Es braucht Schutz vor den Terrorbanden, aber
auch vor der organisierten Kriminalität, die alles tut, da-
mit es keinen Frieden in Mali gibt, damit sie ungestört
ihren Handel mit Menschen, mit Waffen und mit Drogen
fortsetzen kann.

MINUSMA hat den Auftrag, diesen Waffenstillstand
zu überwachen und die Umsetzung des Friedensabkom-
mens zu begleiten; aber MINUSMA muss dazu auch
in die Lage versetzt werden. Es fehlt dieser Mission
vor allem an Aufklärung. Darum sind wir bereit, un-
ser Engagement in Mali bei MINUSMA zu verstärken.
MINUSMA ist eine große Mission mit circa 11 000 Sol-
datinnen und Soldaten; aber es fehlt ihr insbesondere an
Hochtechnologie, es fehlt ihr an Technik, an Logistik,
an Aufklärung. Wir selber hatten bisher bei MINUSMA
de facto nur einige wenige Soldatinnen und Soldaten in
den Stabsstellen in Bamako. Mit dem neuen Mandat sol-
len 500 Soldatinnen und Soldaten bis zum Sommer in
Mali sein; die Obergrenze liegt bei 650. Es sind Aufklä-
rer und die dazu notwendigen Schutzkräfte, Logistiker,
Sanitäter sowie Personal für den Lufttransport und mehr
Stabspersonal.

Zentraler Bestandteil dieser erweiterten Mission sol-
len die neuen Fähigkeiten werden, die wir einbringen, die
Drohnen. Es ist das System LUNA, das wir einbringen
werden. Sie wissen, dass die LUNA kleinere Bereiche von
rund 80 Kilometern in der Aufklärung überblicken kann.
Deshalb prüfen wir, ob wir im Herbst auch die Heron I
nach Mali bringen können. Es geht uns nämlich darum,
dass wir nicht nur die strategisch wichtigen Ballungszen-
tren um Gao und Gao selber, wo viele Menschen leben,
sondern auch die Verbindungsachsen zwischen den gro-
ßen Städten überwachen können. Das betrifft die Städte
Kidal und Timbuktu und die Verbindungen nach Gao. Es
geht darum, dass wir auch dort Aufklärung haben.

Meine Damen und Herren, der Einsatz in Mali ist
wichtig. Es ist ein größerer Einsatz, es ist ein gefährli-
cher Einsatz; aber er hilft dem Land. Er hilft auch un-
seren eigenen Sicherheitsinteressen, weil er den Terror
eindämmt, aber auch deshalb, weil Mali ein entscheiden-
des Herkunfts- und Transitland bei Fluchtbewegungen
ist. Dieser Einsatz stärkt die Vereinten Nationen, und er
ist praktisch geübte europäische Solidarität; denn mit un-
serem größeren Engagement entlasten wir auf die Dau-
er nicht nur die Niederländer, sondern vor allem unsere

französischen Freunde. Deshalb bitte ich das Haus um
Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814914000

Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814914100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-

nisterin, Sie haben hier vieles gesagt; aber eines haben
Sie verschwiegen, nämlich dass Sie deutsche Soldaten in
ein Kriegsgebiet schicken wollen.


(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Die Bundeswehrbeteiligung an der UN-Mission
MINUSMA in Mali wird massiv ausgeweitet. Bis zu
650 Soldaten können Sie schicken. Das wird der größ-
te laufende Afrikaeinsatz der Bundeswehr werden. Die
Soldaten sollen jetzt auch in die Kampfgebiete im Nor-
den Malis entsendet werden. Damit wird Deutschland
endgültig Kriegspartei in Mali, und die Linke wird dazu
Nein sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold [SPD]: Ist die UNO Kriegspartei?)


Bisher ist die Bundeswehr in Mali in der Ausbildung
von Soldaten und in der Betankung von Flugzeugen
aktiv gewesen. Doch nun wird dieser Einsatz zu einem
Kampfeinsatz. Der Wehrbeauftragte, Herr Dr. Bartels,
hat den Charakter dieses neuen Mali-Mandats präzise
beschrieben. Er sagte:

Es ist … eine gefährliche Mission, vergleichbar
mit Afghanistan zur Zeit des Kampfeinsatzes der
NATO …

Es müssen doch hier im Haus alle Alarmglocken schril-
len, wenn man so etwas hört.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir alle haben im Afghanistan-Krieg erlebt und er-
leben immer noch, wie trotz jahrelanger Militärinter-
vention die Taliban immer stärker werden, wie 55 Bun-
deswehrsoldaten ums Leben kamen, wie 20 000 bis
40 000 afghanische Zivilisten Opfer des Krieges wurden.
Trotzdem will die Bundesregierung eine Ausweitung des
Mali-Einsatzes – als hätte es Afghanistan nie gegeben.
Lernen Sie doch einmal ausnahmsweise aus Ihren Feh-
lern!


(Beifall bei der LINKEN)


Sie reden sich damit heraus, die deutschen Soldaten
seien an der Terrorbekämpfung nicht direkt beteiligt; fürs
Grobe sei nicht MINUSMA zuständig, sondern Frank-
reich mit seiner eigenen Antiterrormission Barkhane.
Wollen Sie uns eigentlich für dumm verkaufen? In Af-
ghanistan war es doch ganz genauso: Die US-geführte

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen






(A) (C)



(B) (D)


Operation Enduring Freedom war für die Kriegsführung
zuständig; die NATO-Mission ISAF, an der die Bundes-
wehr stark beteiligt war, sollte sich dagegen nicht direkt
an Kampfhandlungen beteiligen. Am Ende stand ISAF
mitten im Krieg. Man kann MINUSMA eben nicht von
der Antiterrorbekämpfung trennen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer Soldaten in ein Kriegsgebiet schickt, der wird dort
am Ende auch Krieg führen.


(Beifall bei der LINKEN)


Seien Sie deshalb ehrlich zur Bevölkerung, und erzählen
Sie nicht dieselben Märchen wie im Afghanistan-Krieg.

Aber Ehrlichkeit gehört ohnehin nicht zu den Stärken
der Bundesregierung. So behaupten Sie, dieser Bundes-
wehreinsatz diene vor allem der strukturellen Bekämp-
fung von Fluchtursachen.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Ja!)


Seit wann dienen Militäreinsätze dazu, Fluchtursachen
zu bekämpfen?


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das Lesen des Mandats würde helfen!)


Libyen wurde vom Westen in Schutt und Asche gelegt.
Über welches nordafrikanische Land kommen sehr viele
Flüchtlinge? Über Libyen. Der Irak wurde durch den US-
Krieg völlig destabilisiert. Wo kommen viele Flüchtlinge
her? Aus dem Irak. In Afghanistan war und ist die Bun-
deswehr seit Jahren, und auch von da kommen sehr viele
Flüchtlinge. Kriege beenden eben keine Fluchtursachen.
Kriege sind Fluchtursache Nummer eins.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Haben Sie den Mandatstext gelesen?)


Fangen Sie endlich einmal an, Fluchtursachen zu besei-
tigen. Dazu muss man die Ursachen von Krieg bekämp-
fen. Dazu gehört der Kampf gegen Hunger, Elend, Ar-
mut, und dazu gehört auch, werte Bundesregierung, dass
Sie die Waffenexporte in alle Welt, die Deutschland vor-
nimmt, endlich stoppen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Problem bei MINUSMA ist die strategische Aus-
richtung. Die UN-Truppe hat den Auftrag, die malische
Regierung darin zu unterstützen, die volle Kontrolle über
das Land zurückzugewinnen. Gleichzeitig hat sie den
Auftrag, neutraler Vermittler zwischen den Konfliktpar-
teien zu sein, zu denen auch die malische Regierung ge-
hört. Man kann aber nicht einerseits neutral sein und an-
dererseits Land zurückgewinnen wollen. MINUSMA ist
in einem Spannungsfeld, und das führt immer wieder zu
Konfrontationen mit der Zivilbevölkerung. So kam es in
der malischen Stadt Gao zu Protesten gegen MINUSMA.
Dabei erschossen UN-Truppen drei Zivilisten. Sie schi-
cken die Bundeswehr in ein Pulverfass, und das ist kom-
plett verantwortungslos.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Ihre Rede ist verantwortungslos!)


Die Bundesregierung behauptet, dieser Bundeswehr-
einsatz diene der Stabilisierung Malis. Aber wir sehen
doch, dass Mali immer instabiler wird, dass selbst der
Süden des Landes nicht mehr sicher ist, und das trotz der
massiven Militärpräsenz.


(Rainer Arnold [SPD]: Haben Sie nicht aufgepasst die letzten Jahre und gesehen, was los war?)


Die Ausweitung des Einsatzes wird 36 Millionen Euro
pro Jahr kosten. Diese 36 Millionen Euro könnten zur
Stabilität beitragen, wenn man sie richtig einsetzen
würde, wenn das Geld zur Armutsbekämpfung und zur
strukturellen Entwicklung des völlig abgehängten Nor-
dens Malis ausgegeben werden würde. Ein UN-Bericht
kommt zu dem Ergebnis, dass im Norden des Landes vie-
le Schulen seit drei Jahren geschlossen sind.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Weil die Sicherheitslage so fragil ist!)


Die Armut ist riesig. Es gab schon fünf Tuareg-Aufstän-
de. Nur ein echter innermalischer Dialog, ziviler Wieder-
aufbau und eine Beteiligung der breiten Bevölkerung am
Rohstoffreichtum können einen sechsten Aufstand ver-
hindern.

Die deutsche Strategie für Mali geht einen gefährli-
chen Weg, nämlich den einer Kriegsbeteiligung, den des
Krieges gegen den Terror. Zu dieser militärischen Logik
werden wir als Linke Nein sagen.


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814914200

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold für die

SPD.


(Beifall bei der SPD)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1814914300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Linken behaupten immer wieder, militärische Einsätze
hätten keine Wirkung oder verschlimmerten gar die Si-
tuation. Machen wir doch einmal einen Faktencheck zu
Mali.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Sehr gut! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Immer Militär!)


Schauen Sie einmal zurück auf das, was in Mali los
war: Viele Jahre lang gab es im Norden des Landes
rechtsfreie Räume mit kriminellen Bewegungen, die
auch uns bedrohen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Fahren Sie mal nach Afghanistan!)


Dann gab es einen Vormarsch einer Verbindung von Tu-
areg-Rebellen und Al-Qaida-Ablegern und weiteren kri-
minellen Energien auf die Hauptstadt Bamako.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ja! Aber wie kam es denn dazu?)


Niema Movassat






(A) (C)



(B) (D)


Ich sage Ihnen: Ohne das Engagement Frankreichs und
der Staatengemeinschaft hätten wir heute Terroristen in
Bamako


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Die Terroristen sind doch in Bamako! Haben Sie das nicht wahrgenommen? Da war doch der Terroranschlag!)


und einen weiteren zerfallenden Staat wie beispielsweise
Somalia, wodurch auch unser Leben und unsere Sicher-
heit bedroht wären. Was mit den Menschen in Mali pas-
siert wäre, daran darf man gar nicht denken. Dieser Ein-
satz hat solche Entwicklungen zunächst einmal gestoppt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dann gab es Friedensverhandlungen, und es kamen
Hilferufe der legitimen malischen Regierung an die UN
und an unsere französischen Freunde. Deutschland hat
diesen Einsatz von Anfang an logistisch unterstützt und
leistet Ausbildungsunterstützung im Süden des Landes.
Alle Menschen in Mali sagen: „Wir wollen hier Deutsch-
land sehen“, weil Deutschland traditionell sehr gute Bin-
dungen zur malischen Gesellschaft hat. Dies ist die Wirk-
lichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wir wissen gleichzeitig: Natürlich kann militärische
Intervention die Probleme nicht strukturell überwinden;


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Das steht aber im Antrag!)


aber sie schafft ein Zeitfenster, und dieses Zeitfenster
wurde in Mali zum Glück genutzt für den zivilen Auf-
bau, für den Aufbau von Polizei, für Beratung der Re-
gierung, besser zu regieren, Korruption zu bekämpfen.
Dieses Zeitfenster wurde vor allen Dingen genutzt, um
in diesem Land einen Friedens- und Versöhnungsprozess
einzuleiten. Der ist angesichts der Geschichte schwierig.
Es dauert, bis Menschen sich wieder vertrauen. Das ist
ganz eindeutig.

Jetzt sagen Sie, Deutschland würde zur Kriegspartei.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was denn sonst?)


Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass wir Teil
einer UN-Mission sind,


(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das sehen die Linken nicht! Die Vereinten Nationen sind für sie ein Fremdwort!)


die exakt die Aufgabe hat, diesen Friedens- und Versöh-
nungsprozess, übrigens mit einem klugen Fahrplan – der
liegt vor –, zu befördern und zu begleiten. Davon ist
Deutschland ein Teil. Ich weiß nicht, was linke Politik
sein soll,


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Dass Sie das nicht wissen, wundert mich wirklich nicht!)


wenn Sie Deutschland, wenn es um das Gewaltmonopol
der Vereinten Nationen geht, als politische Kriegspartei

bezeichnen. Wer, wenn nicht die Vereinten Nationen hat
dafür die Legitimation?


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt sind wir in der Situation, dass uns Partner und
die UN seit langem bitten, mehr zu tun. Deutschland hat
sich entschieden, mehr zu leisten, und zwar dort, wo den
Vereinten Nationen Fähigkeiten fehlen. Wir wissen seit
langem, dass die Industriestaaten, in West und in Ost üb-
rigens, die UN ziemlich im Stich lassen, vor allen Dingen
bei technologischen Fähigkeiten, insbesondere bei dem,
was Deutschland jetzt schwerpunktmäßig liefert, näm-
lich Aufklärungsfähigkeiten. Von den über 90 000 Sol-
daten in internationalen UN-Missionen kommen circa
130 aus Deutschland. Da können wir, glaube ich, schon
noch mehr machen, wenn wir die UN in ihren Aufgaben
wirklich stärken wollen, und wir Sozialdemokraten wol-
len dies.

Es gibt viele gute Gründe, sich in Mali zusätzlich zu
engagieren. Die UN sind ein Grund. Der zweite Grund ist
natürlich die Solidarität mit unserem französischen Part-
ner als engstem Verbündeten im schwierigen Europa, das
darauf angewiesen ist, dass Deutschland und Frankreich
den Karren weiter ziehen. In dieser Situation ist Solidari-
tät mit unseren französischen Freunden auch sichtbar zu
machen, nicht nur mit Schönwetterreden, sondern auch
mit Taten.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben mit den Niederländern eine extrem ausge-
prägte militärische Kooperation. Die Entlastung, die es
in Mali gibt, erfolgt in erster Linie bei unseren niederlän-
dischen Freunden. Wer europäische Sicherheitspolitik im
Alltag befördern will, der muss in solchen Fragen auch
den Praxistest bestehen und darf, wenn er gerufen wird,
nicht von vornherein, wie es die Linken immer tun, Nein
sagen.

Nicht zuletzt geht es um die Menschen in Mali. Eine
aktuelle Umfrage – sie wurde in diesen Tagen veröffent-
licht – besagt: Über 90 Prozent sehen in ihrem Land Si-
cherheit und Stabilität als Hauptproblem und als zweites
großes Problem die hohe Arbeitslosigkeit. – Die Men-
schen in Mali wissen im Gegensatz zu den Linken, dass
beides zusammengehört. Ohne Sicherheit wird es keine
wirtschaftliche Entwicklung geben. Deshalb ist alles,
was wir tun, auch immer eine Hilfe für den zivilen Auf-
bau. Unabhängig davon ist Mali ein wichtiges Zielgebiet
für deutsche wirtschaftliche Zusammenarbeit.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Aha!)


Wir tun hier sehr viel.

Ich sage ganz deutlich: Der Vergleich von Mali und
Afghanistan, den manche in den letzten Wochen gezogen
haben, hinkt nun wirklich.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Florian Hahn [CDU/CSU])


Mali ist nicht Afghanistan, weder politisch noch zivil-
gesellschaftlich noch von der Gefahr für die Soldaten
her noch ökonomisch. Aber in einem Punkt stimme ich

Rainer Arnold






(A) (C)



(B) (D)


den Skeptikern zu: Aus den Erfahrungen in Afghanistan
muss man für Mali lernen. Wir stimmen diesem Man-
dat aus Überzeugung zu, unter einer Voraussetzung: Es
darf nicht, wie es einige Jahre in Afghanistan der Fall
war, zu parallelem Arbeiten von militärischen und zivi-
len Strukturen kommen. Wir müssen vom ersten Tag an,
an dem wir im Norden mehr Engagement zeigen, dies in
Mali sichtbar verzahnen, indem auch Deutsche in wich-
tigen Funktionen der multinationalen Stäbe arbeiten. Wir
müssen auch hier in Deutschland als Parlament und als
Bundesregierung dafür sorgen, dass alle Ressorts, die für
die Entwicklung in Mali Verantwortung tragen, zusam-
menarbeiten, sich gut koordinieren und gut miteinander
kommunizieren. Unter dieser Voraussetzung ist es nicht
nur ein verantwortbarer, sondern auch ein notwendiger
Einsatz.

Nun wird von den Risiken gesprochen. Ich will sie
nicht verniedlichen. Militärische Einsätze sind nicht
ohne Gefahr. Sonst würden wir keine Soldaten dorthin
schicken. Die hohe Zahl der Opfer von MINUSMA-Sol-
daten ist traurig und tragisch, hat aber bei einer genauen
Betrachtung auch etwas damit zu tun, dass die Solda-
ten von MINUSMA teilweise schlecht ausgebildet und
im Großen und Ganzen auch sehr schlecht ausgestattet
sind. Wenn wir deutsche Soldaten dorthin schicken, ha-
ben die Soldaten, die die Gesprächsaufklärung auf der
Straße leisten müssen – das sind diejenigen, die gefährdet
sind; die anderen weniger –, den bestmöglichen Schutz.
Mit diesem Schutz können sie den normalen Gefahren
in Mali widerstehen. Aber niemand kann zusagen, dass
keine Gefahren bleiben, wenn Soldaten tun, was sie tun
müssen, nämlich mit den Menschen auf dem Marktplatz
und in den Häusern reden. Aber wir schätzen die Gefah-
ren so ein, dass wir sie verantworten können. Wir reden
auch nicht drum herum. Deswegen können wir hinsicht-
lich der Sicherheit für die deutsche Bundeswehr mit gu-
tem Gewissen sagen: Ja, das ist verantwortbar. Wir bitten
das Parlament, dem zuzustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814914400

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt,

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
einen guten Vorsatz für das neue Jahr hatte ich mir ei-
gentlich auch vorgenommen, mich in diesem Jahr nicht
aufzuregen, wenn jemand von der Linksfraktion sagt, die
UNO hätte nicht in Mali intervenieren sollen, sie solle
sich da raushalten und am besten abziehen. So habe ich
Sie verstanden, lieber Kollege Movassat. Ich schaffe es
aber einfach nicht, diesen Vorsatz einzuhalten.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Es war völlig richtig, dass die UNO in Mali interve-
niert hat, als nach dem Vormarsch der Islamisten und

Frankreichs unilateralem Gegenschlag der Staat vor ei-
nem möglichen Zusammenbruch stand. Was soll denn
anderes unsere politische Antwort sein, als zu sagen, dass
die Vereinten Nationen dann die Verantwortung überneh-
men müssen? Das ist doch ein zentrales Element unserer
Politik, wie wir internationale Verantwortung organisie-
ren wollen. Eigentlich hatte ich Sie immer so verstanden,
dass auch Sie das wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Dann kann man aber doch nicht sagen, das Problem sei,
dass sie da sind und versuchen, im Norden die Situati-
on zu bewältigen. Das allein beherrschende Element ist
eben nicht ein Konflikt zwischen der Zentralregierung
und Kämpfern im Norden, die für Autonomie oder Unab-
hängigkeit sind. Vielmehr kämpfen im Norden verschie-
dene Rebellengruppen gegeneinander, sodass eine ganz
unübersichtliche Lage entstanden ist. Die UNO versucht
jetzt, zum Erreichen eines politischen Friedensprozesses,
wofür es ja ein politisches Gesamtkonzept gibt, zwischen
diesen Gruppen zu vermitteln – deswegen die Verhand-
lungen in Algier, deswegen die Schritte zu einem Frie-
densvertrag – und das auch militärisch abzusichern. Das
ist doch die zentrale Aufgabenstellung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das mit der Lage in Afghanistan zu vergleichen, wird der
Sache überhaupt nicht gerecht. Das verballhornt die po-
litische Situation in Mali. Sie ist dort nun einmal anders.

Die entscheidende Frage ist: Ist das, was die UNO
versucht, richtig, und wollen wir sie unterstützen? Da
eiern Sie immer herum. Sie sagen nie klar, dass Sie die
UNO unterstützen wollen. Sie vermeiden es aber auch,
zu sagen: Raus mit der UNO. – Sie müssen einmal klä-
ren, was Sie an diesem Punkt eigentlich wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die militärischen Fronten sind kompliziert und un-
übersichtlich. Man muss auch klar sagen – das ist natür-
lich mit ein Teil des Problems –, dass immer wieder viele
Menschen im Norden vor diesen Kämpfen flüchten müs-
sen. Die humanitäre Not ist groß. Wir dürfen da nichts
schönreden. Aber auch hier ist die Antwort, dass wir in
dieser Situation Sicherheitskräfte der Vereinten Nationen
brauchen.

Es ist auch völlig richtig, wenn man darauf hinweist,
dass es in den letzten zwei Jahren immer wieder zu
schweren Rückschlägen bei dem Friedensprozess ge-
kommen ist. Das müssen wir – da stimme ich Ihnen zu –
der Bevölkerung in Deutschland auch klar sagen: Der
Einsatz in Mali gilt zu Recht als einer der gefährlichs-
ten UN-Einsätze, die es momentan gibt. Die Blauhelme
sind dort schon mehrfach aufgrund ungenügender Auf-
klärung zwischen die Fronten geraten. Wir müssen auch
die Zahlen nennen. In den letzten zweieinhalb Jahren hat
es 68 tote Blauhelmsoldaten gegeben. Das ist mit der
höchste Blutzoll, den die UNO bei einem friedensvermit-
telnden Einsatz bisher bezahlt hat. Das ist dramatisch. Im

Rainer Arnold






(A) (C)



(B) (D)


letzten Jahr gab es einen verheerenden Anschlag auf ein
Hotel in Bamako. Auch darüber muss man sprechen.

Aber trotz all dieser Schwierigkeiten ist die UNO
entscheidend vorangekommen. Sie hat es inzwischen
geschafft, fast alle bewaffneten Gruppen zu Friedens-
verhandlungen an einen Tisch zu bekommen. Sie hat es
geschafft – mit einigen Rückschritten zwischendurch –,
dass ein Friedensvertrag unterzeichnet worden ist, der
ein wichtiger Schritt in die Richtung ist, von einem Waf-
fenstillstand zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass einige Split-
tergruppen im Land den Waffenstillstand immer wieder
brechen und dass bewaffnete Islamisten aus den Nach-
barländern immer wieder versuchen, von dort aus zu
intervenieren. Aber die weitere Umsetzung dieses Frie-
densprozesses, für den es ein politisches Gesamtkonzept
gibt und der vorangekommen ist, kann in dieser Lage
natürlich nicht ohne die Absicherung durch eine starke
und auch militärisch robuste Präsenz der UNO im Land
gelingen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist wirklich klar sichtbar, dass dieser Einsatz der
Blauhelme geholfen hat, eine politische Lösung im Nor-
den durchzusetzen und zu implementieren. Das zentrale
Element ist doch immer, dass wir sagen: Es muss einer
politischen Lösung dienen. – Das unterscheidet die Situ-
ation in Mali ganz deutlich von der Situation in vielen an-
deren Ländern, in denen die UNO präsent ist. Das heißt,
das ist eine sinnvolle UN-Mission. Wir als Grüne haben
sie von Anfang an unterstützt. Wir finden es auch richtig,
wenn Deutschland sich in dieser durchaus gefährlichen
Lage stärker engagiert und wenn die Bundeswehr dort
Aufgaben von den Niederländern übernimmt, aber auch
unsere französischen Partner entlastet, gerade im Bereich
der Aufklärung, deren Schwächen mit dazu beigetragen
haben, dass es so viele tote UN-Soldaten zu beklagen
gibt. In diesem Bereich können wir die Unterstützung
leisten, die dort so dringend benötigt wird.

Noch einmal: Wir wissen, wie gefährlich dieser Ein-
satz ist. Aber es gibt eben im Fall Malis, anders als in
vielen anderen Fällen, eine Chance auf einen dauerhaften
Frieden – es gibt ein politisches Gesamtkonzept für den
Frieden, zumindest für den Norden; ich weiß, dass es ge-
rade bei der Frage des Staatsaufbaus auch viele Probleme
im Süden gibt –; aber diese Chance darf nicht verspielt
werden. Es hätte Folgen für den gesamten Norden Afri-
kas und die Sahelzone, wenn die Vereinten Nationen dies
zuließen. Deswegen werbe ich für die Zustimmung zu
diesem erweiterten Mandat.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1814914500

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter

Beyer.


(Beifall bei der CDU/CSU – Florian Hahn [CDU/CSU]: Guter Mann!)



Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1814914600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Heute diskutieren wir nicht nur über die Fortsetzung,
sondern zum ersten Mal auch über eine substanzielle
Ausweitung der deutschen Beteiligung an MINUSMA.
Bislang ist der Einsatz bei allen Schwierigkeiten, die
es dort zu verzeichnen gibt, durchaus als erfolgreich zu
bewerten. Die Sicherheitslage hat sich seit Beginn der
UN-Stabilisierungsmission MINUSMA verbessert. Auch
politisch ist Mali seit den Präsidial- und Parlamentswah-
len im November und Dezember des Jahres 2013 auf ei-
nem Weg zurück zur Stabilität, und das ist ja das Ziel,
das es zu erreichen gilt. Letztes Jahr konnte durch Ver-
mittlung von Algerien ein Friedensvertrag geschlossen
werden, dessen Umsetzung vorangeht, aber immer noch
viel zu langsam.

Wichtig ist: Der Bundeswehreinsatz ist lediglich ein
Element eines umfassenden Ansatzes der Bundesregie-
rung für Mali im Rahmen eines vernetzten Ansatzes mit
unterschiedlichen Instrumenten der Entwicklungs-, der
Außen- und der Sicherheitspolitik. Hier, Herr Kolle-
ge Movassat, möchte ich auch Sie noch einmal darauf
hinweisen – so wie mein Vorredner, Herr Dr. Schmidt,
das dankenswerterweise schon gemacht hat –, eben nicht
auszublenden, dass es letztlich nicht nur um ein Engage-
ment im Rahmen von MINUSMA geht, sondern auch da-
rum, dass Deutschland im Rahmen der Entwicklungszu-
sammenarbeit vereinbart hat, in den nächsten drei Jahren
Mittel in Höhe von 74 Millionen Euro zur Verfügung zu
stellen. Das ist, glaube ich, etwas, was wir an dieser Stel-
le auch einmal erwähnen sollten.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Immer, wenn es um Militär geht, gibt es Geld!)


Mit den Zusagen wird die Zusammenarbeit hinsichtlich
der Schwerpunkte Dezentralisierung, gute Regierungs-
führung, nachhaltige Landwirtschaft sowie Wasserver-
sorgung und Abwasserentsorgung fortgesetzt.

Für einen Erfolg des Friedensabkommens werden die
innermalische Versöhnung und Aussöhnung entschei-
dend sein, durch die traditionelle und durch den Kon-
flikt erst neu hervorgerufene Gräben in der malischen
Bevölkerung überwunden werden sollen. Nur so kann
innergesellschaftliche Stabilität geschaffen werden. Da-
mit dies gelingt, muss sich die Sicherheitslage, die vor
allem im Norden des Landes noch als volatil zu bewerten
ist, noch viel spürbarer verbessern. So mussten die für
Oktober vergangenen Jahres angesetzten Regionalwah-
len aufgrund der schlechten Sicherheitslage im Norden
abermals verschoben werden. Ihre baldige Durchführung
bleibt von entscheidender Bedeutung.

Der Mission MINUSMA kommt bei der Sicherung
und Stabilisierung des Landes und somit auch bei der Be-
gleitung und Umsetzung des Friedensabkommens wei-
terhin eine entscheidende Rolle zu, die von der malischen
Regierung nicht nur gewünscht, sondern auch gefordert
wird. Bislang hat sich Deutschland mit 150 Soldatinnen
und Soldaten beteiligt, und zwar in den Führungsstäben
der Mission, bei den Verbindungsoffizieren, beim tak-
tischen Lufttransport und mit Luftbetankungsfähigkei-
ten. Dies soll fortgeführt werden. Als Erweiterung der

Dr. Frithjof Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


deutschen Beteiligung sollen ab Februar dieses Jahres
eine verstärkte gemischte Aufklärungskompanie, Ob-
jektschutzkräfte und erforderliche Einsatz-, Logistik-,
Sanitäts- sowie Führungsunterstützungskräfte sowie
ein erhöhter deutscher Personalanteil in den Stäben der
Hauptstadt Bamako und im Norden Malis in Gao gestellt
werden. Dazu werden 500 Soldatinnen und Soldaten be-
nötigt.

Es ist die Wahrheit, wenn der Wehrbeauftragte er-
klärt, dass dies zurzeit der gefährlichste UN-Einsatz ist.
Vor allem im Norden des Landes – das haben wir gerade
schon in den Reden gehört – kommt es immer wieder
zu Angriffen islamistischer Rebellen, auch auf die inter-
nationalen Truppen. Rund 70 Blauhelmsoldaten sind in
den vergangenen drei Jahren dabei getötet worden. Es ist
ein Einsatz in einem Gebiet, in dem sich verschiedene
bewaffnete Gruppen im Konflikt miteinander befinden.
Die UN haben dort keinen Kampfauftrag, müssen sich
aber selbst schützen können. Deshalb ist es wichtig, sich
dort stark aufzustellen. Dies können die 500 zusätzlichen
Soldatinnen und Soldaten leisten.

Trotz der Gefahr ist der Einsatz auch in seiner erwei-
terten Form wichtig und richtig. Deutschland demonst-
riert dadurch nicht nur seine Bündnisfähigkeit gegenüber
seinen Partnern, sondern unterstützt die Bemühungen der
Vereinten Nationen zur Schaffung von Stabilität und zur
Förderung des politischen Prozesses substanziell.

Der Einsatz hat auch über Mali hinaus Auswirkun-
gen. Die Stabilisierung Malis und der Region ist nicht
nur zentraler Bestandteil der deutschen Afrikapolitik. Sie
besitzt vielmehr Strahlkraft auf die Lage im weiteren Sa-
hel-Raum, in Libyen und bei den regionalen Nachbarn.
Die Beteiligung an MINUSMA ergänzt auch sehr gut den
deutschen Beitrag an EUCAP Sahel Mali und an der mi-
litärischen Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Mali. Die Beteiligung an der UN-Mission MINUSMA
bleibt somit ein wichtiger Baustein in einem ganzheitli-
chen Ansatz der Bundesregierung zur Stabilisierung der
Lage in dem Land, in Mali.

Aus diesen Gründen, meine sehr verehrten Kollegin-
nen und Kollegen, werbe ich an dieser Stelle ausdrück-
lich für die Verlängerung und die Ausweitung dieses Ein-
satzes der Bundeswehr. Den Soldatinnen und Soldaten
wünschen wir für den Einsatz, in den wir sie senden, viel
Soldatenglück, viel Erfolg, Gesundheit und eine heile
Rückkehr.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814914700


Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1814914800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich spreche heute als
Entwicklungspolitikerin. Ich möchte das betonen und in
den Mittelpunkt meiner Rede stellen, weil ich glaube,
dass es für die innermalische Entwicklung von essenzi-
eller Bedeutung ist, wie es uns gelingen kann, Sicherheit
und Entwicklung voranzubringen. Der Kollege Arnold
hat es angesprochen: Wer mit der Bevölkerung in Mali
redet, sieht, was dort gewünscht ist. Mit über 90 Prozent
wird das Thema Sicherheit als das gravierendste Pro-
blem, und zwar in allen Landesteilen, gesehen. Dicht da-
rauf folgt die Fragestellung: Wie können wir ein Leben
selbst erwirtschaften? Wie können wir in Arbeit kom-
men? Wie können wir uns selbst ernähren? Bei diesen
Fragestellungen, glaube ich, müssen wir mehr tun, als
wir bisher getan haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Friedensvertrag von Algier sind ganz entscheiden-
de Punkte für die innermalische Entwicklung festgehal-
ten. Es geht in einem Punkt – das ist aus meiner Sicht ein
ganz entscheidender für das Gelingen des Friedenspro-
zesses – um die Frage der Dezentralisierung des Landes,
wie man die Regionen des Landes erreichen kann und
wie es in den Regionen möglich ist, Basisinfrastruk-
tur für die Menschen aufzubauen, um so eine Basis für
wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für Frieden und
Stabilität zu gewinnen. Das ist ein ganz entscheidender
Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In dem Friedensvertrag von Algier steht: 30 Prozent
der Staatseinnahmen in die Regionen. – Das kann man
in den Kapiteln 4 und 5 des Friedensvertrages von Al-
gier nachlesen. Jetzt wissen wir alle: Mali steht im Hu-
man Development Index, bei dem es um die menschliche
Entwicklung geht, auf Platz 179 von 188 gelisteten Län-
dern. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Ange-
sichts unserer Erfahrungen aus der Entwicklungspolitik
wissen wir, dass wir hier unheimliche Anstrengungen
vollbringen müssen, um die Verwaltung in dem Land fit
zu machen – das ist, was die Kollegen mit Staatsaufbau
meinten –, damit sie mit den Geldern, die hoffentlich im
Rahmen eines innermalischen Aussöhnungsprozesses
auch in die Regionen fließen, ordentlich umgehen kann
und es eine positive Entwicklung für die Menschen vor
Ort gibt. Das heißt, die Leute müssen mit den Finanzen
umgehen können. Sie müssen eine Basisinfrastruktur im
Wasserbereich, im Wohnungsbereich, im Bereich der ele-
mentaren Gesundheitsvorsorge schaffen können. Dazu
bedarf es Menschen, die das tun können, die dafür ausge-
bildet sind. Das ist Teil der Aufgabe, der wir uns bereits
widmen, aber der wir uns in den nächsten Jahren – das
sage ich auch – wesentlich stärker widmen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Seit 2013 sind für Mali 204 Millionen Euro Entwick-
lungsgelder ausgegeben worden. Deutschland ist mit

Peter Beyer






(A) (C)



(B) (D)


seinem Engagement im Bereich der Dezentralisierung in
einer der führenden Positionen; das ist richtig und wich-
tig. Ich betone noch einmal: Ich glaube, wir müssen hier
mehr tun. Und wir können auch mit anderen Ländern ge-
meinsam mehr tun.

Dass dies aber auch Sicherheit voraussetzt, sieht man
ganz deutlich. Ich habe vor einigen Tagen mit einem Ver-
treter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako telefoniert,
der mir die Lage verdeutlicht hat. Wie sieht es momen-
tan aus? In der Provinz Gao sitzen zum Beispiel 24 Su-
per-Präfekte, die eigentlich in ihre Gemeinden gehen
müssten, um das, was ich gerade geschildert habe, zu or-
ganisieren, in der Provinzhauptstadt Gao fest und trauen
sich nicht heraus, weil die Sicherheitslage so katastrophal
ist, dass sie nicht in die Dörfer und Regionen kommen
können. Damit muss man sich auseinandersetzen, wenn
30 Prozent der Staatseinnahmen in die Regionen fließen
sollen, um den Menschen dort zu helfen. Also ist die Fra-
ge entscheidend, wie wir dort Sicherheit erreichen, dass
diese Menschen ihre Arbeit aufnehmen können.

In einem zweiten Telefonat mit einem Mitarbeiter der
Stiftung habe ich erfahren, dass dessen Verwandte, die
in der Nähe von Gao leben, einen medizinischen Notfall
hatten, aber die Notfallambulanz nicht über die Stadt-
grenzen Gaos hinausfahren kann und niemanden, der ir-
gendwo in der Region ist, betreuen kann. Wenn man will,
dass Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Polizisten und
Verwaltungsbeamte in die Dörfer gehen, muss man ein
Mindestmaß an Sicherheit schaffen, um dies zu gewähr-
leisten. Deshalb ist es im Sinne der Entwicklung Malis
richtig, zur Schaffung von Sicherheit beizutragen, auch
im Rahmen des deutschen Beitrags zu MINUSMA.

Mit Verlaub – als letzter Punkt –: Das ist im Friedens-
vertrag von Algier auch so angelegt und vorgesehen. Wer
den Einsatz ablehnt, muss mir erklären, was die Folge für
den Friedensprozess von Algier ist.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Herr Movassat!)


Sollen wir ihn aufkündigen? Sollen wir etwas ganz Neu-
es beginnen? Was ist denn die Konsequenz? Der mühsam
ausgehandelte Prozess sieht diese Rolle der internationa-
len Gemeinschaft vor. Daran beteiligen wir uns. Es geht
um die Entwicklung Malis, insbesondere um die Frage,
wie wir Sicherheit schaffen können, um eine positive zi-
vile Entwicklung in dem Land voranzutreiben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814914900

Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1814915000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit Blick auf den Diskussionsbeitrag der Linken kann
ich nur sagen: Ich verstehe ja, dass Sie, weil Sie aus dog-
matischen Gründen grundsätzlich gegen jeden Einsatz
der Bundeswehr sind, immer versuchen müssen, Ihre

Ablehnung eines Einsatzes zu erklären und Argumente
zu finden. Aber so dünn wie heute waren die Argumente
schon lange nicht mehr. Das muss ich ganz ehrlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist richtig, dass in Mali nicht alles gut ist. Seit den
Attacken auf das Radisson-Hotel in Bamako gilt der Aus-
nahmezustand. Anschläge sind überall im Land möglich.
Armee und Sicherheitskräfte sind häufig noch überfor-
dert. Auch die politische Situation ist wenig dynamisch.
Hier gibt es nichts zu beschönigen.

Gerade die jungen Menschen im Lande fordern ein
Ende der Polizeikorruption, der Selbstbedienungsmenta-
lität der regierenden Klasse und die Schaffung von Ar-
beitsplätzen. Viele frustrierte Menschen folgen islamis-
tischen Brandstiftern. Nicht alles ist gut, aber einiges ist
besser, als wir es befürchten mussten. Wenn man sieht,
wo wir im Frühjahr 2012 waren, dann relativiert sich der
negative Eindruck ein wenig.

Mali ist eine Demokratie geblieben. An die lange de-
mokratische Tradition kann angeknüpft werden. Es gibt
seit letztem Jahr ein Friedensabkommen mit den wich-
tigsten Rebellengruppen, aber es ist ganz klar: Es gibt
noch viel zu tun.

Ja, richtig ist auch: Der Einsatz ist gefährlich. Die
Dschihadisten wurden nur in die Wüste vertrieben, es
gibt sie weiterhin. Die Sicherheitslage im ganzen Land
ist angespannt, vor allem im Norden. Islamistische
und kriminelle Gruppierungen greifen überall Auslän-
der, MINUSMA und die malischen Streitkräfte an. Die
jüngsten Angriffe auf MINUSMA-Liegenschaften und
den Flughafen in Gao sind ein Beleg für die ständige
Gefahr. Nicht umsonst ist MINUSMA der gefährlichste
VN-Blauhelmeinsatz weltweit. Trotzdem ist dieser Mili-
täreinsatz wichtig und richtig.

Wir haben ein VN-Mandat. Die Weltgemeinschaft
steht geschlossen, bis auf die Linke, hinter diesem Ein-
satz.


(Lachen der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Die Ziele dieser Mission sind richtig: Bevölkerungszen-
tren stabilisieren, staatliche Autorität im ganzen Land
wiederherstellen, Zugang für Entwicklungszusammen-
arbeit sicherstellen, nationalen politischen Dialog unter-
stützen, Waffenstillstand überwachen und Friedensab-
kommen umsetzen helfen. Nur bei einer Stabilisierung
der Sicherheitslage und einem echten politischen Prozess
hat die Umsetzung des Friedensabkommens eine Chan-
ce. Natürlich müssen sich malischer Staat und Gesell-
schaft in erster Linie selbst reformieren. Dafür brauchen
sie aber Basissicherheit und unsere Unterstützung.

Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Reihe von gu-
ten Gründen für die Ausweitung des deutschen Beitrags.
Deutschland hat ein Interesse an einer Stabilisierung der
Lage in Mali und der Sahelregion.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Solidarität mit Frankreich, ganz einfach!)


Dr. Bärbel Kofler






(A) (C)



(B) (D)


Ein weiterer Verfall staatlicher Autorität und Kontrolle
in dieser Region nützt kriminellen und terroristischen
Gruppen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Es geht doch nur um Bündnissolidarität!)


Zudem ist Mali eine wichtige Transitregion. Es ist in
unserem Interesse, dabei zu helfen, dass Nordmali kein
rechtsfreier Raum bleibt, indem Schleuserbanden un-
gehindert aktiv sein können. Durch die Ausweitung des
Einsatzes erfüllen wir außerdem auch unsere Zusagen,
uns stärker an VN-Missionen zu beteiligen. Der letzte
Punkt: Mit der Ausweitung des Einsatzes unterstützen
und entlasten wir unsere europäischen Partner, die Nie-
derlande und die Franzosen.

Eines muss uns bei diesem Mandat ganz klar sein: Der
Einsatz in Mali ist gefährlich. Unsere Einsatzkräfte müs-
sen entsprechend vorbereitet, ausgerüstet und beschützt
sein. Die Ausweitung des Mandats belegt auch: Deutsch-
land engagiert sich mehr. Mehr Engagement der Bundes-
wehr in Deutschland, in der NATO und in den Vereinten
Nationen hat aber auch weitreichende Konsequenzen für
den Umfang und die Ausstattung der Bundeswehr. Hier
werden wir noch mehr tun müssen. Unsere Soldatinnen
und Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass
ihnen alles an notwendigen Mitteln zur Verfügung ge-
stellt wird, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Dazu gehören
für mich auch ganz selbstverständlich die Entwicklung
und die Beschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen.

Gerade der Einsatz im Norden Malis zeigt, wie wich-
tig die erweiterten Aufklärungsfähigkeiten für die Truppe
und für den Erfolg dieser Mission sind. In diesem Zusam-
menhang begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung, als
Übergangslösung bis zur europäischen Eigenentwick-
lung weitere Heron-Drohnen zu leasen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich sind nicht
alle Probleme mit militärischen Mitteln lösbar, schon gar
nicht ethnische Konflikte, eine korrupte Gesellschafts-
ordnung oder die Ausbreitung des wahhabistischen Is-
lamverständnisses. Hier muss Mali selbst Lösungen fin-
den, aber wir müssen unterstützen. Wir wollen nur die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Waffenruhe
eingehalten wird, Basissicherheit herrscht und der Frie-
densprozess vorankommt. Die Malier sollen mit unserer
Hilfe selbst etwas aufbauen und selbst für Sicherheit
sorgen können. Wir müssen zu den Maliern stehen und
sie auf dem von ihnen gewählten Weg der Demokratisie-
rung, Versöhnung und Modernisierung unterstützen. Hier
sollten wir nicht zu kurzfristig planen. Auch hier werden
wir einen langen Atem brauchen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7206 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte zur Ausbildungsunterstüt-
zung der Sicherheitskräfte der Regierung der
Region Kurdistan-Irak und der irakischen
Streitkräfte

Drucksache 18/7207
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Dr. Ursula von der Leyen. – Bitte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Jetzt steht die Beratung des Antrags zur
Verlängerung des Mandats im Nordirak auf der Tages-
ordnung. Dabei geht es um die Ausbildung der Pesch-
merga.

Da ich die Debatte eben beobachtet habe, ahne ich,
welche Salve gleich von links kommen wird. Deshalb
sage ich gleich: Meine Damen und Herren, ich habe nicht
vergessen, wie der IS die Peschmerga vor anderthalb Jah-
ren überrannt hat, wie er versucht hat, die Jesiden auszu-
rotten, wie er die Jesiden abgeschlachtet und in das Sind-
schar-Gebirge gejagt hat. Ich habe nicht vergessen, was
es damals für Bilder gegeben hat. Ich habe auch nicht
vergessen, wie schwer wir uns getan haben, zu entschei-
den, tatsächlich zu intervenieren, in eine Krisenregion
Waffen zu liefern, die Peschmerga auszurüsten.


(Dr. Karl A. Lamers [CDU/CSU]: So ist es! Und das war gut!)


Aber wenn ich heute sehe, was gelungen ist – es ist ge-
lungen, die Flüchtlinge zu schützen, den IS zurückzu-
schlagen, ihm empfindliche Niederlagen beizubringen
und Territorium zurückzugewinnen –, dann kann ich nur
sagen: Diese Entscheidung war richtig, und ich halte es
für absolut gerechtfertigt, dass wir so gehandelt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Seit Mai letzten Jahres haben die Terroristen kein neu-
es Territorium mehr dazugewonnen, im Gegenteil. Es ist
nicht nur gelungen, ihnen Einhalt zu gebieten. Ich werde
nie vergessen, wie die Peschmerga uns geschildert ha-

Florian Hahn






(A) (C)



(B) (D)


ben, was für einen Unterschied diese Unterstützung für
sie gemacht hat. Anfangs standen sie ohnmächtig da,
wenn Daesh seine Lastwagen und Autos mit Sprengma-
terial gefüllt hat und sie quasi als rollende Bomben in die
kurdischen Dörfer oder in die Peschmerga-Linien gefah-
ren hat, um sie dort zur Explosion zu bringen. Sie haben
uns geschildert, was es für sie bedeutet hat, dass sie diese
terroristischen Bomben auf Distanz halten konnten, dass
sie ihre eigenen Leute schützen konnten. Sie haben uns
geschildert, wie viel Mut ihnen das gegeben hat.

Insofern ist dieser Erfolg zwar vorrangig ein Erfolg
der Peschmerga und des jesidischen Bataillons, das wir
ausgerüstet und ausgebildet haben; ohne diese Unter-
stützung seitens der Bundesrepublik Deutschland und
anderer Partner wäre das aber nicht möglich gewesen.
Die Bundeswehr hat in den vergangenen zwölf Mona-
ten mehr als 6 000 einheimische Kräfte ausgebildet, im
Nordirak und auch hier in Deutschland. Sie schlagen sich
tapfer. Wir wissen aber: Der Kampf wird noch lange dau-
ern; er ist noch lange nicht ausgestanden. Teile Nord- und
Westiraks leiden immer noch unter dem grausamen Joch
von Daesh.

Jetzt gilt es, den Erfolg zu verstetigen und fortzu-
setzen, aber auch aus den Erfahrungen zu lernen. Wir
werden Sie darum bitten, die Kontingentgröße dieses
Mandats zu erhöhen, von 100 auf 150 Soldatinnen und
Soldaten. Wir haben gelernt, welchen Bedarf es neben
der Grundausbildung gibt. Wir wollen die Ausbildung
erweitern um ABC-Fähigkeiten, um Fähigkeiten in den
Bereichen Sanitätsdienst und Logistik. Das wollen wir
den Kurden, den Peschmerga beibringen.

In diesem Kampf gegen den Terror wollen wir neben
der robusten militärischen Antwort, die Daesh braucht,
natürlich auch eine zivile Antwort geben, die immer wie-
der eingefordert wird. Wenn man in Erbil ist, spürt man
vor allem Dankbarkeit für die breite Hilfe, die geleistet
wird, nicht nur für das, worüber wir heute im Zusam-
menhang mit diesem Mandat sprechen, sondern vor al-
lem auch für die humanitäre Hilfe, die von Anfang an ge-
leistet worden ist. Wenn wir den Kampf gegen den Terror
gewinnen wollen, dann bedarf es vor allen Dingen eines
politischen Prozesses.

Neben dem Mandat, über das wir hier jetzt sprechen,
das wir hier auf den Weg bringen, ist vor allem Folgendes
wichtig – darüber müssen wir uns im Klaren sein –: An
dem Tag, an dem wir durch die Peschmerga Territorium
oder Städte zurückerobert haben, an dem wir Daesh zu-
rückgeschlagen haben, an dem Tag des Erfolges beginnt
eigentlich erst die entscheidende Arbeit, die auf einen
langfristigen und nachhaltigen Erfolg zielt, nämlich die
Stabilisierung, der Wiederaufbau, der Versöhnungspro-
zess. Wenn die Familien in die Region zurückkommen,
in der sie bitterste Erfahrungen gemacht haben, aus der
sie vertrieben worden sind – mit dieser Erfahrung sind
auch Enttäuschungen durch Nachbarn verbunden –, dür-
fen sie nicht Rache walten lassen, sondern müssen den
Versöhnungsprozess zusammen mit dem Aufbauprozess
verbinden. Das heißt, wir werden einen langen Atem
brauchen. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt Strecke
machen und dieses Momentum der Stärke, das ich an-

fangs geschildert habe, nutzen, um Daesh den Boden
vielfältig zu entziehen.

Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorlie-
genden Mandat, auch, um der Bitte der Kurden in der
Region nachzukommen.

Unser Beitrag zeigt, dass wir unserer Verantwortung
in der Region gerecht werden. Er zeigt, dass wir unseren
Partnern in Europa, aber auch in der Welt im gemeinsa-
men Kampf gegen Daesh unbeirrt zur Seite stehen, dass
auf uns Verlass ist und dass Gleichgültigkeit für ein Land
wie unseres keine Option ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915200

Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ent-

sendung deutscher Streitkräfte in den Nordirak zur Aus-
bildung der Peschmerga und anderer Kräfte ist Teil der
sogenannten Anti-IS-Koalition. Lassen Sie mich ganz
am Anfang sagen: Der sogenannte Krieg gegen den Ter-
ror hat nicht den Terror bekämpft, sondern er hat neuen
Terror geschaffen und die Spirale der Gewalt angeheizt.
Das sagt nicht nur die Linke, das sagt auch der Bundes-
nachrichtendienst. Die Lage – ich zitiere aus einer den
Medien zugespielten BND-Studie – sei „heute ungleich
gefährlicher“ als 2001. Die „Zone der Instabilität“ sei
„vom Hindukusch in die unmittelbare Nachbarschaft Eu-
ropas vorgerückt“. Man kann nicht oft genug betonen:
Den IS würde es heute nicht geben, wenn die USA nicht
2003 den Irak bombardiert und dann besetzt hätten.


(Beifall bei der LINKEN)


Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung daraus?
Sie ziehen Deutschland immer tiefer in einen Krieg im
Mittleren Osten hinein. Das ist die falsche Antwort.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine wichtige Motivation der Bundesregierung for-
mulieren Sie in Ihrem Antrag selbst: Die Intervention im
Irak stelle „einen weiteren Pfeiler der Intensivierung un-
seres sicherheitspolitischen Engagements dar“. Übersetzt
heißt das: Es geht um Glaubwürdigkeit, es geht darum,
als europäische Führungsmacht den wirtschaftlichen und
geopolitischen Interessen auch in Kriegszonen Geltung
verschaffen zu können. Darum geht es. Es vergeht auch
fast keine Woche, in der nicht eine neue Aufrüstungs-
oder Einsatzentscheidung gefasst wird. Frau Merkel hat
gestern auch im Verteidigungsausschuss deutlich ge-
macht, was die Marschrichtung der Großen Koalition für
die nächste Zeit sein wird: weitere Bundeswehreinsätze
und weitere Aufrüstung. Das lehnt die Linke ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen






(A) (C)



(B) (D)


Die Bundesregierung begründet die Fortsetzung des
Einsatzes mit den Erfolgen bei der Zurückdrängung des
IS.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Wenn Sie wenigstens die Wahrheit sagen würden!)


Städte wie Sindschar, Tikrit und Baidschi wurden vom IS
befreit. Das ist zunächst richtig, aber es ist nur das halbe
Bild. Offenbar erleben Bewohner dieser Orte die Rück-
eroberung nicht alle als Befreiung. Ramadi wurde weit-
räumig zerstört. Dazu hat übrigens auch der Abwurf von
630 US-Bomben beigetragen. An anderen Orten folgt der
Diktatur des IS die Willkürherrschaft radikal-schiitischer
Milizen, zum Beispiel in Tikrit. Dort haben diese Mili-
zen laut Human Rights Watch einige Hundert Gebäude
geplündert und vorsätzlich zerstört. 200 Sunniten wurden
entführt, darunter Kinder. Korrespondenten berichteten
im letzten Monat, dass auch Baidschi völlig von diesen
Milizen kontrolliert werde und eine – Zitat – Kampagne
gegen Einwohner und Rückkehrer geführt wird. So wird
der Irak nicht stabilisiert, in Wirklichkeit wird so neuer
Hass gesät. Denn in diesem Krieg gibt es nicht die eine
gute Seite.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Warum sagen Sie nie etwas gegen den IS?)


Mit Waffen und Ausbildern stützt Deutschland eine
Regionalregierung, die ihre Macht nicht auf das Parla-
ment, sondern auf die Waffen ihrer Streitkräfte stützt. Es
ist nicht transparent, was mit den deutschen Waffen pas-
siert, die Sie liefern. Der Präsident des kurdischen Regi-
onalparlaments, Yusuf Mohammed, hat jüngst in Berlin
die Befürchtung geäußert, sie könnten zum innerkurdi-
schen Machtkampf instrumentalisiert werden; denn der
deutsche Partner Präsident Barzani hat das Parlament für
aufgelöst erklärt. Der Parlamentspräsident darf die kurdi-
sche Hauptstadt Erbil nicht einmal betreten.

Aber diese Probleme interessieren Sie nicht sonder-
lich, weil sie nicht in Ihre Erzählung hineinpassen. Es ist
auch nicht neu, dass die Bundesregierung die Realitäten
nicht vollständig zur Kenntnis nimmt. So sind es auch
nicht die Peschmerga gewesen, die im Sommer 2014 die
Jesiden im Sindschar-Gebirge vor dem IS gerettet haben,
sondern die PKK und ihre Verbündeten.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Doch die PKK wird von der Bundesregierung weiterhin
als terroristische Vereinigung eingestuft. Das ist heuch-
lerisch. Das Verbot der PKK muss endlich aufgehoben
werden.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Warum sagen Sie nie etwas gegen den IS? – Florian Hahn [CDU/CSU]: Wollen Sie nun die PKK beliefern?)


Die Ausbildungsmission ist Teil einer überaus ge-
fährlichen Intervention. Sie begann im letzten Jahr mit
Waffenlieferungen und der Entsendung von Ausbildern.
Dann kamen der Tornadoeinsatz und nun die AWACS.
Wir befürchten, es wird weitergehen. Der Abschuss der
russischen Militärmaschine durch die Türkei und die ak-
tuelle Eskalation des Konflikts zwischen dem Iran und

Saudi-Arabien haben verdeutlicht, wie rasch der Kon-
flikt in einen internationalen Krieg der Regional- und
Großmächte umschlagen kann. Wir sind der Meinung,
die Bundeswehr hat weder in Syrien noch im Irak etwas
verloren.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Warum sagen Sie immer noch nichts gegen den IS?)


Die Linke stimmt gegen die Verlängerung und die
Ausweitung dieses Bundeswehreinsatzes. Beenden Sie
die Beteiligung am Krieg gegen den Terror!

Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915400

Das Wort hat der Staatsminister Michael Roth.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1814915500

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Wir sind sicher alle immer noch erschüt-
tert über den furchtbaren Terroranschlag von Istanbul,
dem am vergangenen Dienstag elf unschuldige Men-
schen zum Opfer gefallen sind. Seit vielen Jahren hat uns
Deutsche der Terror nicht mehr so schwer getroffen wie
nun in Istanbul. Dabei war uns immer klar: Dieser Terror
verschont niemanden. Er bedroht uns alle, ob in Syrien,
im Irak, in der Türkei oder eben auch hier bei uns, mitten
in Europa.

Insofern, liebe Frau Kollegin Buchholz, bin ich über
das Weltbild, das Sie uns hier präsentieren, erschüttert:
Schwarz und Weiß, die Bösen und die Guten. Ich finde
das zynisch gegenüber den vielen Opfern einer furchtba-
ren Terrororganisation.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Wenn Sie der Sache nicht auf den Grund gehen, können Sie auch nicht die richtige Lösung finden!)


Ich hätte mir zumindest in dieser Frage ein Stückchen
mehr Zusammenhalt gewünscht,


(Widerspruch bei der LINKEN)


und ich hätte zumindest erwartet, dass Sie Fakten nicht
ignorieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie liefern Waffen an Saudi-Arabien! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sagen Sie was zur Türkei! Beitrittsverhandlungen eröffnen Sie mit der Türkei!)


Aber wenn man Ihnen zuhört, könnte man meinen, dass
die Vereinigten Staaten und wir für all das verantwortlich
sind.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die IS-Unterstützer sind Ihre Freunde!)


Dass wir über einen solchen Einsatz streiten, finde ich
mehr als legitim.

Christine Buchholz






(A) (C)



(B) (D)


Dass wir darum ringen, welcher der richtige Weg sein
könnte, ist doch völlig klar. Denn der Anschlag von
Dienstag hat uns erneut auf grausame Weise vor Augen
geführt: Wir können uns vor Krieg und Terror in der Welt
nicht abschotten, weder durch stures Wegschauen noch
durch Mauern und Zäune. Die jüngsten Attentate der Ter-
rororganisation ziehen eine blutige Spur vom Nahen Os-
ten über Nordafrika bis hin zu uns nach Europa. Deshalb
brauchen wir Geschlossenheit. Wir brauchen Entschie-
denheit. Wir brauchen Besonnenheit im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus;


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wer unterstützt denn den IS?)


denn es geht letztlich auch um unsere eigene Sicherheit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir uns
doch – deshalb bin ich so entsetzt über Ihre Aussagen –:


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ja, ja!)


Als im Sommer 2014 die Terrororganisation „Islamischer
Staat“ weite Teile des irakischen Staatsgebietes einnahm
und dabei grausame Menschenrechtsverletzungen ge-
genüber der Zivilbevölkerung, vor allem gegenüber eth-
nischen und religiösen Minderheiten, beging, schallte
uns doch von allen Seiten entgegen: Tut endlich etwas!
Beendet dieses Morden Unschuldiger!

Wir haben damals in einer Sondersitzung des Bundes-
tages eine sehr emotionale Debatte über die Frage ge-
führt, ob die Bundesregierung Waffen und weitere militä-
rische Ausrüstung an die kurdischen Peschmerga liefern
soll.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Warum haben Sie sich nicht gegen das PKK-Verbot ausgesprochen?)


Viele von uns – in allen Fraktionen; das will ich Ihnen
ja noch zugutehalten – haben damals mit ihrem Gewis-
sen gerungen: Sind wir bereit, das Risiko einzugehen,
dass die von uns gelieferten Waffen später einmal in die
falschen Hände fallen könnten? Oder beschränken wir
uns auf rein humanitäre Unterstützung und riskieren da-
mit das weitere Erstarken eines menschenverachtenden
Terrorstaates und das Versinken einer ganzen Region in
Blut und Chaos? Das sind die Fragen, mit denen wir uns
damals, finde ich, sehr verantwortungsvoll auseinander-
gesetzt haben.

Dann haben wir einige Monate später abermals hier
im Bundestag beschlossen, neben der militärischen Aus-
rüstung auch deutsche Soldatinnen und Soldaten in den
Nordirak zu entsenden, um die kurdischen Sicherheits-
kräfte und irakische Streitkräfte an den Waffen auszu-
bilden. Ich erinnere mich noch gut: Das waren damals
keine einfachen Debatten, und es waren schon gar nicht
einfache Entscheidungen. Aber – dabei bleibe ich, und da
kann ich nur das unterstützen, was auch Frau Bundesmi-
nisterin von der Leyen sagte – wir haben damals richtig
entschieden; denn der Vormarsch des „Islamischen Staa-
tes“ konnte vorerst gestoppt werden. Vor allem im Nor-
den des Irak ist es den kurdischen Sicherheitskräften und
den Regierungstruppen mit Unterstützung der internatio-
nalen Allianz gelungen, den IS in die Defensive zu drän-

gen. In den vergangenen Monaten hat der „Islamische
Staat“ wichtige Teile der von ihm kontrollierten Gebiete
im Irak verloren. Die Kombination aus gut ausgebildeten
und ausgerüsteten Bodentruppen sowie Luftschlägen der
internationalen Anti-IS-Koalition gilt als ein Erfolgsmo-
dell.

Zu diesem militärischen Erfolg haben wir in Deutsch-
land einen Beitrag geleistet. Es wurde schon davon ge-
sprochen: Im November 2015 wurde die Stadt Sindschar
von Truppen befreit, die in Erbil von Bundeswehrsol-
daten ausgebildet und ausgerüstet wurden. Für diesen
Beitrag haben wir im Irak große Anerkennung erfahren.
Auch in anderen Landesteilen im Zentralirak, wo wir
nicht militärisch beteiligt sind, zeigt sich der Erfolg der
internationalen militärischen Unterstützung und Ausbil-
dung, etwa in der Raffineriestadt Baidschi oder in der
Provinzhauptstadt Ramadi, die inzwischen von Regie-
rungskräften weitgehend befreit wurden. Unsere militä-
rische Unterstützung der Peschmerga und der irakischen
Streitkräfte in ihrem Kampf gegen den IS zeigt also Wir-
kung.

Auch dank unserer Unterstützung konnten viele Men-
schen von der Schreckensherrschaft des IS befreit und
viele Menschenleben gerettet werden sowie Zehntausen-
de Vertriebene in ihre Heimat zurückkehren. Dies gilt
vor allem für die ethnischen und religiösen Minderheiten
im Irak, wie zum Beispiel die christlichen Gruppen oder
eben auch die Jesiden.

Machen wir uns aber nichts vor – und das gebe ich ja
auch gerne zu –: Es liegt noch ein sehr langer und be-
schwerlicher Weg vor uns; denn die militärische Rück-
eroberung war wirklich nur der erste Schritt. Noch viel
wichtiger ist, dass die Menschen, die vom IS-Terror be-
freit sind, ganz schnell spüren, dass sich ihre Lebensver-
hältnisse im Alltag konkret verändern und dass sie in ih-
rer Heimat wieder eine Perspektive haben. Dafür setzen
wir uns auch im Rahmen unseres Vorsitzes der Arbeits-
gruppe Stabilisierung in der internationalen Anti-IS-Ko-
alition ein.

Angesichts der starken Zerstörungen ist der Bedarf
groß. Deshalb haben wir bereits im Dezember vergan-
genen Jahres 20 Millionen Euro für den Wiederaufbau
zugesagt, die beispielsweise in die Lieferung von fünf
mobilen Krankenhäusern für den Einsatz in den befreiten
Gebieten geflossen sind. Auch im Ramadi sind bereits
erste Vorbereitungen zur Beschaffung von Basisausstat-
tung, wie Generatoren, Gesundheits- und Trinkwasser-
einrichtungen, im Gange.

Darüber hinaus leistet die Bundesregierung in ganz
erheblichem Umfang humanitäre Hilfe. Auch dank der
massiven finanziellen Ausweitung der humanitären Hil-
fe für das Haushaltsjahr 2016 wird der Irak ein Schwer-
punktland unseres humanitären Engagements bleiben.
Wir werden in diesem Jahr bis zu 70 Millionen Euro für
Hilfsprogramme bereitstellen, um die Not der Flüchtlin-
ge und der Vertriebenen im Irak zu lindern.

Es muss uns mit unseren Partnern vor Ort gelingen,
die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektiven
für die heimische Bevölkerung zu verbessern. Das ist
das beste Rezept, um dem IS und seiner barbarischen

Staatsminister Michael Roth






(A) (C)



(B) (D)


Ideologie die Grundlagen zu entziehen. Wenn es uns
gelingt, den Menschen in ihrer Heimat eine neue Per-
spektive zu verschaffen, dann wird auch die Zahl der
Menschen abnehmen, die sich in ihrer Not auf die lange,
beschwerliche und hochgefährliche Flucht nach Europa
machen.

Beispielshaft steht hier die Stadt Tikrit, wo es mit
deutscher Unterstützung gelungen ist, dass 90 Prozent
der vor dem IS geflohenen Bevölkerung in ihre Heimat
zurückkehren konnten. Das wollen wir nun auch in wei-
teren irakischen Städten erreichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das steht völ-
lig außer Frage: Terrorismus lässt sich nicht alleine und
in erster Linie mit militärischen Mitteln besiegen. Unser
militärisches Engagement ist daher stets in eine politi-
sche Gesamtstrategie eingebettet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Geschwätz!)


Worum geht es? Es geht um militärische Unterstüt-
zung, Stabilisierung, den Wiederaufbau der befreiten
Gebiete und humanitäre Hilfe. Das gehört zusammen.
All das muss miteinander verknüpft werden. Nur durch
diesen umfassenden Ansatz wird es möglich sein, das
terroristische Treiben des „Islamischen Staates“ endlich
einzudämmen.

Für uns ist klar: Die Krisen im Nahen Osten müssen
letztlich politisch gelöst werden. Deshalb engagieren wir
uns im sogenannten Wiener Prozess, und vor allem des-
halb sind wir der Resolution der Vereinten Nationen vom
18. Dezember 2015 verpflichtet, die noch einmal deut-
lich gemacht hat, dass es nach dem langen Stillstand in
Syrien eines politischen Prozesses bedarf. Hierfür setzt
sich die Bundesregierung – Außenminister Frank-Walter
Steinmeier auch ganz persönlich – ein. Deshalb bitten
wir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktio-
nen, um Unterstützung. Das ist eine historische Chance.
Wir können die Einigung schaffen. Ohne Fortschritte im
politischen Prozess in Syrien kann der IS nicht erfolg-
reich bekämpft werden.

Wir unterstützen auch die irakische Regierung bei
ihrem Reformkurs und ermutigen sie, dafür zu sorgen,
dass der Irak ein multireligiöser und multiethnischer
Staat bleibt. Je stärker der irakische Staat ist, umso mehr
schwächt das den „Islamischen Staat“.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle
möchte ich mich noch einmal ganz besonders bei unseren
Soldatinnen und Soldaten, aber auch bei den zivilen Auf-
bauhelfern bedanken, die unter schwierigsten Bedingun-
gen in der Region Kurdistan-Nordirak im Einsatz sind.
Sie haben im vergangenen Jahr die Ausbildungsunter-
stützung aufgebaut bzw. erfolgreich etabliert. Sie haben
den Einsatz mit unseren internationalen Partnern koor-
diniert, und sie haben sich auch um verwundete Pesch-
merga und ihre Behandlung in Deutschland gekümmert.
Ihnen gilt unser aller Dank und unser großer Respekt.

Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Un-
terstützung zur Verlängerung dieses Mandats.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915600

Die Kollegin Agnieszka Brugger hat für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Buchholz, ich finde, das, was Sie gesagt haben,
kann man hier nicht so stehen lassen. Erstens war es –
das gehört zur Wahrheit dazu – auch das Eingreifen der
USA, das dazu beigetragen hat, dass die Jesiden aus dem
Sindschar-Gebirge fliehen konnten.

Zweitens bekomme ich Folgendes in meinem Kopf
nicht zusammen: Eine Vertreterin der Linkspartei hat
sich gerade hier vorne hingestellt und eine VN-Friedens-
mission wahrheitswidrig als Kriegseinsatz diffamiert. Sie
teilte rundum aus, lobte aber die PKK und war blind ge-
genüber der Gewalt, für die diese verantwortlich ist. Ich
muss sagen: Das wird immer gruseliger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Schwarz-Grün, sage ich nur!)


Frau Ministerin, Sie haben die Ausbildung der Pesch-
merga neulich als Erfolgsmodell bezeichnet. Mit dem
uns vorgelegten Mandat will die Bundesregierung die-
sen Einsatz um ein weiteres Jahr verlängern. Dazu gehört
auch die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte und an-
derer Gruppen. Frau Ministerin, ich finde, die Bewertung
„Erfolgsmodell“ erfolgt zu früh bzw. etwas vorschnell.
Ausbildungsmissionen sind nicht per se gut. Sie sind
auch nicht per se schlecht. Ob sie erfolgreich waren oder
nicht, kann man oft erst nach einer längeren Zeit bewer-
ten. Der Erfolg hängt immer von den politischen Rah-
menbedingungen ab. Wer ausbildet, hat eine Verantwor-
tung dafür, was dann mit dem vermittelten Wissen bzw.
den erworbenen Fähigkeiten geschieht. Die Geschichte
kennt leider viele Beispiele, bei denen die Unterstüt-
zung einer Seite in einem Konflikt wirkungslos oder im
schlimmsten Fall sogar kontraproduktiv war.

Meine Damen und Herren, nicht dass Sie mich falsch
verstehen: Die kurdischen Kräfte sind unser wichtigster
und bester Partner in der Region. Es ist den Peschmer-
ga-Kräften gemeinsam mit den Jesiden gelungen, ISIS
empfindliche Niederlagen zuzufügen und zum Beispiel
Sindschar zurückzuerobern. Das war natürlich ein großer
Erfolg. Deshalb halten wir die Ausbildung auch grund-
sätzlich für richtig und sinnvoll.

Wenn die Bundesregierung aber die entscheidenden
politischen Fragen vernachlässigt, dann droht dieses
Ausbildungsengagement zu scheitern oder wirkungslos
zu bleiben. Ausbildung alleine reicht eben nicht aus. Die

Staatsminister Michael Roth






(A) (C)



(B) (D)


Unterstützung darf sich nicht auf das Militärische be-
schränken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der dramatischen Flüchtlingszahlen und
der wirtschaftlichen Probleme in der Region Kurdi-
stan-Irak muss die Bundesregierung ihre humanitäre
und politische Unterstützung deutlich verstärken. Die
Entwicklungen in den kurdischen Gebieten geben ak-
tuell auch Anlass zur Sorge. Es gibt große Spannungen
zwischen den verschiedenen Gruppen. Vor diesem Hin-
tergrund ist es von großer Bedeutung, dass Sie genau
schauen, wen Sie unter welchen Bedingungen womit und
woran ausbilden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jedes Mal, wenn wir Sie bzw. die Bundesregierung
fragen, wen genau Sie eigentlich ausbilden, dann schei-
nen Sie es selbst nicht so genau zu wissen. Sie, Frau Mi-
nisterin, aber auch Außenminister Steinmeier sprechen
immer von den Peschmerga. Aber die Peschmerga gibt
es so nicht, sondern hinter diesem Namen verbergen sich
verschiedene Gruppen, die teilweise miteinander kon-
kurrieren. Das ist eine sehr komplizierte Lage. Mit der
Beschreibung in Ihrer Rede sind Sie ihr nicht gerecht
geworden. Das war an dieser Stelle doch reichlich un-
terkomplex.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielmehr haben gerade auch die Bundesregierung und
die Bundeswehr angesichts der intensiven Zusammen-
arbeit hier die Pflicht, genau hinzuschauen und darauf
hinzuwirken, dass Konkurrenz und Konflikte ohne Ge-
walt ausgetragen werden. Wenn demokratische Prinzipi-
en ausgehebelt werden, wenn die Zivilgesellschaft und
Journalisten sowie Jesiden bedrängt und bedroht werden,
dann darf man an dieser Stelle nicht einfach wegschauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber nicht nur die Herausforderungen in der Region
Kurdistan-Irak sind immens. Stabilität im Irak und ein
Zurückschlagen von ISIS wird es nur geben, wenn alle
Bevölkerungsgruppen, Sunniten, Schiiten, Kurden und
andere, die tiefen Gräben untereinander überwinden kön-
nen und ihre Konflikte beilegen und sich aussöhnen. Die
Regierung von al-Abadi hat zwar viel guten Willen ge-
zeigt. Die realen Fortschritte aber sind bisher leider sehr
bescheiden geblieben. Deutschland genießt als Staat, der
sich aus guten Gründen nicht am Irakkrieg beteiligt hat,
ein hohes Ansehen und eine große Glaubwürdigkeit. Es
ist schade und ein Versäumnis, dass Sie aus diesem wert-
vollen Kapital so wenig machen. Sie müssen auch den
Weg der Aussöhnung viel stärker unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, auch wenn ich die Ausbil-
dung der Peschmerga trotz der angesprochenen Probleme
für sinnvoll halte, empfehle ich meiner Fraktion, nicht
mit Ja zu stimmen. Wir Grüne haben uns bei der letzten
Abstimmung mit großer Mehrheit enthalten, weil wir ein
gravierendes juristisches Problem in Ihrem Mandat se-
hen. So, wie Sie die Ausbildungsmission konzipiert ha-
ben, entspricht sie nicht den Grundsätzen, die das Bun-

desverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zu
den Auslandseinsätzen der Bundeswehr in der Auslegung
unseres Grundgesetzes aufgestellt hat.

So darf die Bundeswehr nur im Rahmen eines Sys-
tems kollektiver Sicherheit eingesetzt werden. Dazu zäh-
len Institutionen wie die Vereinten Nationen, die OSZE,
die Europäische Union oder die NATO. Die Bundeswehr
wird hier aber im Rahmen einer Koalition der Willigen
eingesetzt, obwohl Sie diesen Einsatz sehr gut als eu-
ropäische Mission auf den Weg hätten bringen können.
Unserer Auffassung nach ist das Mandat deshalb verfas-
sungswidrig. Das ist nicht nur eine Formalie, und das ist
auch keine Lappalie.

Meine Damen und Herren, wir können die Bundes-
regierung nur nochmals auffordern: Machen Sie diesen
Fehler rückgängig, und sorgen Sie für einen verfassungs-
gemäßen Rahmen. Aber tun Sie vor allem noch viel mehr,
um die politischen Weichen in der Region so zu stellen,
dass es langfristig eine Chance auf Stabilität, Frieden
und Sicherheit gibt. Dann, Frau Ministerin, können Sie
hoffentlich in ein paar Jahren wirklich sagen, dass die
Ausbildung im Nordirak ein Erfolgsmodell war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915700

Für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege

Dr. Johann Wadephul das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1814915800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Frau Kollegin Brugger, ich hatte mich über Ihre
sehr differenzierte Rede wirklich gefreut und schon die
Hoffnung gehabt, dass die grüne Fraktion einen Schritt
weitergehen und zustimmen würde; das hielte ich für an-
gemessen. Aber diesen letzten Schritt konnten Sie jetzt
noch nicht gehen.

Ich will ausdrücklich sagen, dass Sie berechtigte Fra-
gen gestellt haben, die uns und auch die Bundesregierung
bewegen. Natürlich ist die wirtschaftliche und politische
Situation in der Region Kurdistan fragil. Es steht außer
jeder Frage, dass wir darauf dringen müssen, dass auch
dort demokratische Grundsätze eingehalten werden und
dass Präsident Barzani darauf Rücksicht zu nehmen hat.


(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist hier vollkommen zu Recht angesprochen worden;
auch wir tun das. Ich bin kürzlich dort zu einem Besuch
gewesen. Es ist klar: Das muss thematisiert werden. Da-
rüber kann nicht hinweggegangen werden.

Ich will auch das unterstreichen, was Sie zur Fragilität
des Irak insgesamt gesagt haben. Ich nehme es schon so
wahr, dass Regierungschef al-Abadi den Versuch unter-
nimmt, die schiitischen Milizen, die es in der Tat gibt,
die – das ist der einzige Punkt, bei dem Frau Buchholz
recht hat – wirklich nicht besonders zimperlich vorge-
hen und bei denen man sicherlich sehr genau aufpassen
muss, wie sie im Irak im Kampf gegen den IS militärisch

Agnieszka Brugger






(A) (C)



(B) (D)


agieren, was an sich verdienstvoll ist, in die Armee zu
inkorporieren und dafür zu sorgen, dass sie zu staatlichen
Organen werden. Das ist außerordentlich schwierig, und
es ist mitnichten sicher, dass dies gelingt. Ich glaube, es
muss unsere Politik sein, alles zu unterstützen, was die
Einheit des Irak und den Aussöhnungsprozess zwischen
den Volksgruppen bzw. den verschiedenen Religions-
gruppen fördert. Wir dürfen auf keinen Fall darauf set-
zen, dass dieser Staat wie schon andere weiter zersplit-
tert, sondern wir müssen uns um dessen Erhalt bemühen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber zentral ist bei diesem Mandat, dass wir das zur
Kenntnis nehmen, was dort militärisch geleistet wor-
den ist. Die Ministerin hat eingangs dieser Debatte noch
einmal auf die katastrophale Situation insbesondere im
Sindschar-Gebirge hingewiesen. Ich bin selbst in Flücht-
lingslagern gewesen, und viele Kolleginnen und Kolle-
gen aus verschiedenen Ausschüssen sind auch schon in
Flüchtlingslagern gewesen. Kein Besuch irgendeines
Flüchtlingslagers ist schön. Viele sind belastend. Ich
muss sagen, dass ich diese Bilder nach wie vor mit mir
herumtrage, wenn die Jesiden einem schildern, in wel-
cher Art und Weise dieser Genozid, der unter dem Mantel
des Islam von den Terrorgruppen des IS verübt worden
ist, dort vonstattengegangen ist. Die Unionsfraktion bzw.
der Kollege Jung haben sich dankenswerterweise kürz-
lich noch einmal dieses Themas angenommen und auch
den bewegenden Film gesehen, der das dokumentarisch
festgehalten hat. Wenn Sie gesehen hätten, was dort ge-
schehen ist, Frau Kollegin Buchholz, und wenn Sie die
Menschen erleben würden, die misshandelt worden sind,
deren Angehörige auf brutalste Art und Weise getötet,
geschlagen oder vergewaltigt worden sind, dann würden
Sie hier nicht so reden.

In einer solchen Situation muss man wissen, wo man
steht. Und in einer solchen Situation muss man diejeni-
gen unterstützen, die einer derartigen Horrortruppe Ein-
halt gebieten.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das machen wir ja gerade nicht!)


Dann ist das moralisch gerechtfertigt. Ich finde sogar,
wir sind verpflichtet, diejenigen, die diese Barbarei ein-
grenzen und dem IS Einhalt gebieten, auch militärisch zu
unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Da sollte man nicht anfangen, kleinlich zu fragen, wel-
che kurdische Gruppe das ist. Wir haben doch an mehre-
ren Stellen – auch in Kobane – erlebt, dass Kurden Diffe-
renzen, die sie untereinander haben, überwunden haben.
Das mit der innenpolitischen Frage des PKK-Verbotes
zu verbinden, wird der außenpolitischen Dimension und
auch der menschlichen Dimension dieser Katastrophe in
keiner Weise gerecht, Frau Kollegin Buchholz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das finde ich absolut unangemessen. Man könnte zur
PKK an dieser Stelle mehr sagen.

Ich habe mir auch die Ausbildung der Bundeswehrsol-
daten dort angesehen und festgestellt, dass die Bundes-
wehrsoldaten das sehr verantwortungsvoll machen und
sehr genau darauf achten, welche Peschmerga dort hin-
kommen. Die Ministerin hätte das ansprechen können,
wenn sie mehr Redezeit gehabt hätte. Wenn sie jetzt re-
den würde, würde sie das wahrscheinlich auch ohne Wei-
teres ausführen. Es wird sehr genau darauf geachtet, dass
aus verschiedenen kurdischen Stämmen und Gruppierun-
gen ein Mix gebildet wird. Es wird darauf geachtet, dass
die Ausbildung fast nach unseren Bundeswehrmaßstäben
stattfindet.

Ich möchte abschließend in dieser Debatte sagen: Was
unsere Soldatinnen und Soldaten und auch zivilen Be-
schäftigten, die dort tätig sind, in Erbil und Umgebung
leisten, ist ganz beachtlich. Das ist ein schwieriger Ein-
satz auf engstem Raum mit nicht immer einfachem Per-
sonal, und ich denke, wir sind alle verpflichtet, unseren
Soldaten dafür herzlich zu danken.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814915900

Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1814916000

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Lis-

te der islamistischen Terroranschläge des Jahres 2015 ist
lang und düster. Die schrecklichen Anschläge in Istanbul
in dieser Woche zeigen, dass uns der IS-Terror auch 2016
keine Atempause lässt. Das ist eine schmerzliche Reali-
tät. Daesh hat seine Strategie geändert. Die Terrororgani-
sation konzentriert ihre Energie nicht mehr nur lokal und
regional. Wir müssen sie daher gerade lokal bekämpfen,
ihre Infrastruktur und Streitkräfte schwächen.

Die kurdischen Peschmerga sind für uns hierbei eine
entscheidende Bastion gegen den IS geworden. Am über
800 Kilometer langen bewaffneten Frontverlauf vertei-
digen sie nicht nur ihre eigene Sicherheit und Freiheit.

Der IS kann nicht totverhandelt werden. Daher ist
es entscheidend, ihn auch mit militärischen Mitteln zu
bekämpfen. Die tapferen kurdischen Kämpfer haben ge-
zeigt, wie effektiv sie die IS-Barbaren zurückdrängen
konnten. Das war allerdings nur mit unserer Unterstüt-
zung, mit Waffen und mit deutscher Ausbildung möglich.

Blicken wir zurück. Im August 2014 mussten die
Pesch merga-Kämpfer im Nordwesten des Irak zurück-
weichen. Sie waren der IS-Terrormiliz militärisch unter-
legen. Die Islamisten überrannten die strategisch wichti-
ge Stadt Sindschar regelrecht. Die Konsequenzen waren
katastrophal. Die IS-Kämpfer hinterließen blutige Spuren
in dem von den Jesiden besiedelten Sindschar-Gebirge.
Hunderte Männer wurden bestialisch ermordet, Frauen
verschleppt, versklavt und vergewaltigt, religiöse Heilig-

Dr. Johann Wadephul






(A) (C)



(B) (D)


tümer zerstört. Wir mussten in einer Abwägungssituati-
on eine Entscheidung treffen, die einen Tabubruch dar-
stellte: Waffenlieferungen in ein Spannungsgebiet. Die
Grünen waren damals dagegen. Die zukünftigen Risiken
seien höher als der kurzfristige Nutzen, so der Kollege
Hofreiter in der damaligen Plenardebatte. Die Sprecherin
der Arbeitsgemeinschaft Frieden wurde mit der Aussage
zitiert: Waffen machen Kriege nur noch blutiger. – Im
vergangenen Jahr soll der IS rund 14 Prozent seines
Territoriums verloren haben. Die Terroristen konnten
aus Sindschar und nun fast aus ganz Ramadi vertrieben
werden. Zudem sind die Peschmerga verantwortungsvoll
mit unseren Waffen umgegangen. Ich denke daher, wir
können heute von einem langfristigen Nutzen mit einem
kalkulierbaren Risiko sprechen. Außerdem haben wir da-
mit auch Menschenleben gerettet. Die Anzahl gefallener
kurdischer Kämpfer ist um über 90 Prozent zurückgegan-
gen.

Genauso wie in der Debatte über die Ausbildungs-
mission im Januar 2015 hat die Kollegin Brugger heu-
te erneut angekündigt, dass die Grünen zwar eigentlich
hinter dem Einsatz stehen, aber verfassungsrechtliche
Bedenken haben und sich deswegen enthalten. In diesem
Zusammenhang möchte ich mir erlauben, Cem Özdemir
zu zitieren: „Wenn das Haus brennt, nützt es wenig, wenn
die Feuerwehr aus der Brandschutzordnung vorliest.“
Diesen sehr richtigen Hinweis sollten Sie sich auch die-
ses Mal gewissenhaft vor Augen führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Rückeroberung der IS-Gebiete im Nordirak gibt
uns heute recht in unserer Entscheidung über die Waf-
fenlieferungen und die Ausbildungsmission. Unsere
Unterstützung hat Früchte getragen. Kurden und Jesi-
den ist es gelungen, den IS-Kämpfern schwere Schläge
zu versetzen. Mittlerweile sind mehr als 6 100 Pesch-
merga unter deutscher Beteiligung ausgebildet worden.
Die Anhebung der Personalobergrenze in unserer Aus-
bildungsmission ist ein folgerichtiger Schritt, um unser
Engagement zu intensivieren. Ich begrüße aber auch den
Beschluss über weitere Waffenlieferungen vom vergan-
genen Dezember, insbesondere die dringend notwendi-
gen 200 MILAN-Panzerabwehrraketen samt Material für
die Ausbildung. Wie wichtig gerade die MILAN-Waffen
sind, zeigt uns beispielsweise der 16. Dezember 2015.
Damals war nach langer Zeit eine erste Großoffensive
des IS – darunter 16 bis an die Decke mit Sprengstoff
beladene Fahrzeuge – gegen die Kurden gestartet. Die
Kurden konnten insgesamt 14 dieser Fahrzeuge mit MI-
LAN bekämpfen. Dann ist die Munition ausgegangen.
Die letzten beiden Fahrzeuge sind dann von der US-Luft-
waffe erfolgreich bekämpft worden. Das Ergebnis waren
200 tote IS-Kämpfer, aber auch sechs Tote aufseiten der
Peschmerga. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig gerade
diese Waffe für die Kurden im Kampf gegen den „Isla-
mischen Staat“ ist. Wir sollten weiterhin an der Seite der
Kurden sein und sie unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814916100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7207 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Luise
Amtsberg, Volker Beck (Köln), Katja Keul, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfah-
rensgesetzes – Streichung der obligatorischen
Widerrufsprüfung

Drucksache 18/6202
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814916200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisher

ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesetz-
lich dazu verpflichtet, seine Entscheidungen zur Aner-
kennung von Asyl und zur Zuerkennung der Flüchtlings-
eigenschaft spätestens nach drei Jahren zu überprüfen.
Hierbei wird im Rahmen von Widerrufsprüfverfahren
festgestellt, ob weiterhin erhebliche Gefahren bei einer
Rückkehr in das Herkunftsland drohen oder eben andere
Ausschlussgründe vorliegen. Dieses Verfahren ist obliga-
torisch, also routinemäßig und sehr aufwendig.

In unserem Gesetzentwurf, der hier vorliegt, schla-
gen wir vor, diese obligatorische Prüfung zu streichen.
Es sei gleich zu Anfang dazu gesagt: Die Durchführung
von Widerrufsverfahren in Einzelfällen wäre auch bei
einer Annahme unseres Gesetzentwurfs weiterhin mög-
lich. Die Ausländerbehörde kann demnach jederzeit beim
Bundesamt anfragen, ob nicht ein Widerrufsverfahren
in Betracht kommt. In der Praxis kommt dies auch vor,
wenn eine Ausländerbehörde ein Interesse an der Aufent-
haltsbeendigung hat, zum Beispiel bei der Verübung von
Straftaten. In unserem Gesetzentwurf geht es also ledig-
lich darum, diese routinemäßige Prüfung abzuschaffen.

Der Hintergrund ist, so denke ich, eindeutig. Wir wol-
len zügige und faire Asylverfahren und eine zeitnahe Re-
gistrierung von Asylsuchenden und – das ist zentral – die
Entlastung des Bundesamtes von unnötiger Arbeit, damit
die Asylverfahren schnell abgearbeitet werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Florian Hahn






(A) (C)



(B) (D)


Um das zu erreichen, haben wir uns angesehen, wel-
che Möglichkeiten es gibt, die Verfahren des Bundesam-
tes – das Bundesamt ist mit Arbeit überlastet – zu ver-
schlanken. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann
sieht man, dass unser Vorschlag durchaus sinnvoll ist.
Bis Ende November 2015 wurden laut der Geschäftssta-
tistik des Bundesamtes insgesamt 9 742 Entscheidungen
über Widerrufsprüfverfahren getroffen. Die meisten Ent-
scheidungen betrafen die Herkunftsländer Irak, Syrien,
Iran und Afghanistan, alles Länder mit einer schlechten
Menschenrechts- und Sicherheitsprognose, und das ist
entscheidend bei der Frage, ob Widerrufsprüfverfahren
durchgeführt werden müssen.

Aber viel wichtiger ist: In nur 5 Prozent der Fälle
erfolgte tatsächlich ein Widerruf der Asylberechtigung
durch das BAMF. Die Zahl der tatsächlich erfolgten Wi-
derrufe steht damit in überhaupt keinem angemessenen
Verhältnis zu dem erheblichen Prüfungsaufwand, der mit
der Einleitung der Widerrufsprüfverfahren einhergeht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die obligatorische Widerrufsprüfung sollte deshalb
abgeschafft werden. Noch einmal der Hinweis: Damit ist
unbenommen, dass auch weiterhin in Einzelfällen solche
Verfahren durchgeführt werden können.

Sie wollen das Asylpaket II in der nächsten Woche
auf den Weg bringen. Das wäre doch durchaus eine gute
Gelegenheit, diesen Vorschlag mit aufzunehmen und im
BAMF damit die Kapazitäten, die es dringend zur Be-
arbeitung und Entscheidung in Asylverfahren benötigt,
freizusetzen. Ihre Bilanz, liebe Bundesregierung, ist,
gerade was diese Frage angeht, wirklich ernüchternd
bis erschreckend; denn keines der bislang verabschiede-
ten Asylpakete entlastet tatsächlich das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge oder reduziert die Bearbei-
tungszeit von Asylanträgen, und das ist doch jetzt unsere
vornehmliche Aufgabe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zahl von 360 000 anhängigen Asylverfahren macht
das deutlich. Hinzu kommen die circa 300 000 Asylsu-
chenden, die zwar registriert wurden, aber noch keinen
Asylantrag stellen konnten. Wenn Sie sich im Detail mit
dem Ablauf eines Widerrufsprüfverfahrens und auch
mit seinen Erfolgsaussichten beschäftigen, dann werden
Sie mir zustimmen, dass sich die Bediensteten des Bun-
desamtes zurzeit sicherlich mit sinnvolleren Dingen be-
schäftigen könnten, zum Beispiel damit, die anhängigen
Asylanträge zu entscheiden.

Dazu gehört auch der Blick auf das, was künftig kom-
men wird. Sie schlagen vor, die Asylverfahren von ma-
rokkanischen und algerischen Staatsangehörigen priori-
siert zu behandeln, gar nicht zu sprechen von den über
14 weiteren Staaten, die der Freistaat Bayern als weitere
sichere Herkunftsländer eingestuft haben will, darunter
Staaten wie Mali und Nigeria. Wenn das auch noch alles
beim Bundesamt im priorisierten Verfahren bearbeitet

werden sollte, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, lie-
bes Bundesamt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Insofern verstehen Sie unseren Vorschlag tatsächlich
als einen Versuch, konstruktiv in die Debatte zu gehen,
Vorschläge zu machen, wo wir Kapazitäten sparen kön-
nen. Das ist nämlich unser Anliegen. Wenn Sie dem nicht
zustimmen können, dann würde mich schon interessie-
ren, mit welcher Rechtfertigung; denn die Zahlen spre-
chen für sich. Die meisten Widerrufsprüfverfahren sind
nicht erfolgreich. Sie binden wahnsinnig viele Kapazitä-
ten, und die brauchen wir derzeit ganz woanders.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gunkel [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814916300

Das Wort hat die Kollegin Andrea Lindholz für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1814916400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Asyl und
Flüchtlingsschutz sind grundsätzlich befristete Aufent-
haltstitel, die dem Schutz von Leib und Leben dienen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist daher
gemäß § 73 unseres Asylgesetzes verpflichtet, innerhalb
von drei Jahren zu prüfen, ob die Schutzgründe weiter-
bestehen und ob der Betroffene auch wahrheitsgemäße
Angaben gemacht hat. Das Ergebnis dieser Widerrufs-
prüfung teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlin-
ge dann auch den Ausländerbehörden mit, die über den
weiteren Aufenthalt entscheiden.

Der Antrag der Grünen zielt darauf ab, diese Wider-
rufsprüfung nunmehr abzuschaffen. Damit fordern Sie
letztendlich ein von Anfang an unbefristetes Bleiberecht
für jeden anerkannten Flüchtling,


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: So muss es auch sein!)


für jeden Asylberechtigten und auch für jeden subsidiär
Geschützten.

Diese Forderung ist gerade in der jetzigen Situation
mehr als absurd. Im letzten Jahr haben wir 1 Million
Flüchtlinge bei uns registriert, versorgt und unterge-
bracht. Die Bundesrepublik nimmt mehr als die Hälfte
aller Flüchtlinge der EU auf, und trotz des Winters kom-
men nach wie vor tagtäglich im Durchschnitt über 3 000
neue Migranten nach Deutschland. In dieser Lage wollen
Sie noch mehr Anreize für Migration nach Deutschland
schaffen, indem Sie einen von Anfang an unbefristeten
Aufenthaltstitel versprechen. Das ist aus meiner Sicht in
keiner Weise mehr nachvollziehbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Luise Amtsberg






(A) (C)



(B) (D)


Ja, Frau Kollegin Amtsberg, die Widerrufsprüfung ist
aufwendig, und genau deswegen haben wir im letzten
Jahr im Zuge der Reform des Bleiberechtes den bürokra-
tischen Aufwand reduziert. Hierauf gehen Sie in keiner
Weise, weder in Ihrem Antrag noch in Ihrer Rede, ein.
Seit August 2015 muss das Bundesamt der Ausländer-
behörde nur noch über diejenigen Widerrufsprüfungen
Auskunft geben, die für eine Aufhebung des Schutzes
plädieren. Da das Bundesamt bisher in 95 Prozent der
Fälle den Schutzanspruch nicht widerrufen hat, entfal-
len bei vielen Prüfverfahren die aufwendigen Prüfakten
und auch die Korrespondenz mit der zuständigen Aus-
länderbehörde. Wir haben also für eine bürokratische
Entlastung gesorgt. Laut einer Pressemitteilung des Bun-
desamtes vom 13. August letzten Jahres hat sich der Ar-
beitsaufwand deutlich verringert. Zudem haben wir über
4 000 neue Stellen für mehr Leistungsfähigkeit im Bun-
desamt geschaffen. Insofern, glaube ich, ist es ein nach
wie vor richtiges und notwendiges Verfahren.

Es steht im Übrigen in Übereinstimmung mit dem
Völkerrecht und ist auch in Artikel 44 der Asylverfah-
rensrichtlinie explizit verankert. Wenn wir eine europä-
ische Flüchtlingspolitik wollen, dann muss Europa sein
Asylrecht im Einklang mit dem Asylrecht seiner europä-
ischen Nachbarn halten und darf keine weiteren einseiti-
gen Anreize schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Deutschland ist das einzige EULand, das solche Prüfverfahren macht!)


– Vielleicht hören Sie einfach einmal eine Weile zu; dann
würde sich Ihr Einwurf erübrigen.

Österreich hat erst im letzten Jahr die Widerrufsprü-
fung im Asylrecht gestärkt. Künftig sollen die österrei-
chischen Behörden nach drei Jahren systematisch prüfen,
ob Schutzgründe im Einzelfall fortbestehen. Nur dann,
wenn das der Fall ist, wird der Aufenthaltsstatus verlän-
gert. Wien betont ganz bewusst, dass es nur ein Asyl auf
Zeit, also einen befristeten Schutz, gewährt.

Selbst im liberalen Schweden, liebe Frau Kollegin,
beginnt man, bei der Befristung umzudenken und sich
von dem bisher großzügigen Aufenthaltsrecht zu ver-
abschieden. Die Überforderung durch die aktuell große
Zuwanderung sorgt gerade auch in Schweden für eine
Kehrtwende in der Asylpolitik. Im November 2015 wur-
de verkündet, dass erwachsene Asylbewerber künftig nur
noch befristete Aufenthaltstitel erhalten sollen, und in der
Süddeutschen Zeitung war in der letzten Woche zu lesen,
dass in Schweden immer mehr Stimmen einen befristeten
Aufenthaltstitel auch für anerkannte Flüchtlinge fordern.
Erst nach einer Probezeit von drei Jahren und nach ei-
ner entsprechenden Prüfung soll es unbefristete Aufent-
haltstitel geben. Selbst Schweden nähert sich also dem
deutschen Recht an und nicht umgekehrt. Diese beiden
Beispiele zeigen doch, dass der Trend in Europa gera-
de zu einer konsequenteren Widerrufsprüfung geht. Wir
können bei den aktuellen Flüchtlingsströmen doch nicht
noch weitere Anreize für den Zustrom setzen. Genau das
fordern Sie aber mit Ihrem Gesetzentwurf. Ich halte das
in der jetzigen Situation für verantwortungslos.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich glaube im Übrigen, dass es auch kontraproduktiv
ist, wenn wir uns mit den anderen europäischen Ländern
über eine weitere europaweite Verteilung der Flüchtlin-
ge einigen, weil wir uns auch jetzt schon immer wieder
dem Vorwurf aussetzen müssen, dass wir keine gemein-
samen europäischen Regelungen finden und dass wir in
Deutschland einfach zu viele Zuzugsanreize setzen.

Die Widerrufsprüfung ist wichtig, auch im Hinblick
auf die Übergriffe in Köln und in anderen Städten. Es
muss nämlich ganz klar sein: Wer bei uns einen Flücht-
lingsstatus erhält, erhält damit keinen Freifahrtschein. Es
muss klar sein: Jeder Fall wird angeschaut, wird über-
prüft – wenn die Gründe weggefallen sind, wird die
Berechtigung widerrufen –, und das nicht irgendwann,
wenn ein Mitarbeiter zufälligerweise feststellen sollte,
dass sich die Voraussetzungen geändert haben,


(Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Nur wenn das Amt hinreichend ausgestattet ist!)


sondern durch eine systematische Prüfung, die ich nach
wie vor für richtig und auch für ein wichtiges Signal hal-
te. Es ist in manchen Fällen gut, wenn man manche Bü-
rokratie lässt, um Fehlanreize zu vermeiden.

Wir müssen, um die Flüchtlingskrise zu meistern,
die unkontrollierte und starke Zuwanderung schnell und
spürbar begrenzen. Ich würde mir von Ihnen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen der Grünen, hierzu einmal kon-
struktive Vorschläge wünschen.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist konstruktiv, was wir vorschlagen!)


Ich habe bisher keinen einzigen konstruktiven Vorschlag
vernommen. Dieser Gesetzentwurf samt der heutigen
Debatte ist im Grunde genommen absolut überflüssig,
kontraproduktiv und führt in keinster Weise dazu, dass
die Probleme in unserem Lande gelöst werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814916500

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du kannst mal die Frage beantworten, Ulla, ob Syrien in drei Jahren für Frauen und Kinder wieder sicher ist!)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814916600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grü-

nen haben hier eigentlich gar keine neue Debatte auf-
gemacht. Diese Debatte haben wir im Innenausschuss
mehrfach geführt. Auch die Linke ist für die klare Ab-
schaffung der obligatorischen Widerrufsprüfung. Sie ist
längst überfällig.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Nein!)


Andrea Lindholz






(A) (C)



(B) (D)


Im Moment muss jeder Einzelfall eines Flüchtlings in
der Tat drei Jahre nach der Anerkennung erneut geprüft
werden.


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Innerhalb von drei Jahren!)


Auch wir halten das für eine sinnlose Beschäftigung des
Personals des BAMF, das eh total überfordert ist. Auch
vor dem Hintergrund der hohen Anerkennungszahlen,
die wir derzeit haben, muss man davon ausgehen, dass
das BAMF im Grunde genommen kollabiert, wenn man
weiterhin an dieser obligatorischen Widerrufsprüfung
festhält.


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Wozu schaffen wir eigentlich neue Stellen?)


In keinem europäischen Land außer Deutschland wur-
de dieses Verfahren bisher praktiziert. Warum haben es
andere Länder nicht? Dass auch Österreich es jetzt ein-
führt,


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Ist ein klares Zeichen, Frau Kollegin!)


macht es nicht besser.

Die Zahlen sind folgende: 2014 hat es 12 527 Prüfver-
fahren gegeben. In nur 5 Prozent der Fälle ist die Asylbe-
rechtigung widerrufen worden.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war unser Punkt!)


Im dritten Quartal des letzten Jahres ist sogar nur noch
in 2,2 Prozent der Fälle widerrufen worden. Und die Ge-
richte haben in den meisten dieser Fälle den Widerruf zu-
rückgewiesen und das Asylrecht erneut bestätigt. Wenn
man das über Jahre feststellt, dann ist es doch völlig un-
sinnig, immer wieder noch Prüfungen durchzuführen.


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Da hatten wir ganz andere Zahlen und eine ganz andere Situation!)


Jetzt komme ich einmal zu Ihnen, Frau Lindholz.
Es geht hier um Menschen und nicht in erster Linie um
Anreize. Wenn zum Beispiel die Kinder in Deutschland
nur für drei Jahre zur Schule geschickt werden, dann ist
das integrationshemmend, wenn man den Leuten Angst
macht: Was passiert in drei Jahren?


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Das ist unser Asylrecht! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Wer nicht berechtigt ist, muss wieder nach Hause gehen!)


Wie wird es mit meiner Familie weitergehen? – Es ist
eine reine Schikane vor dem Hintergrund, dass man
weiß, dass diese Menschen sowieso hierbleiben dürfen.


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Unbefristet, klar! Für immer! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Sie sollten sich ans Recht halten!)


Deswegen ist es richtig, dass der Schutzstatus im
Grunde genommen eine Bleibeperspektive für die Men-
schen haben muss. Das halte ich für absolut wichtig.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen dürfen nicht verunsichert werden. Vor
allen Dingen ist die jetzige Regelung integrationshem-
mend. Das darf einfach nicht sein.

Das BAMF hat in der Tat eine Unmenge von Aufga-
ben. Wir haben das hier immer wieder diskutiert. Ihre
Fraktion und auch der Bundesinnenminister haben lange
Zeit alle Forderungen ignoriert, mehr Stellen zu schaf-
fen und eine Aufstockung des Personals vorzunehmen.
Das ist lange Zeit zurückgewiesen worden. Jetzt haben
wir mehr Stellen. Nun ist es wichtig, dass die entschei-
denden Aufgaben erledigt werden. Ich halte es für aus-
gesprochen konstruktiv, sich auch Gedanken darüber zu
machen, wie man Bürokratie abbauen kann, wenn sie im
Verfahren ohnehin nichts bringt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, bereits Ende 2014 lagen
169 000 unentschiedene Asylanträge beim BAMF vor.
Heute sind es 365 000 offene Verfahren. Die Menschen,
die hier im Verfahren sind, warten bis zu einem Jahr da-
rauf, dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen können.

Trotz dieser Zahlen werden wichtige Schritte zur Be-
schleunigung der Asylverfahren nicht gegangen. Es fehlt
zum Beispiel noch eine Altfallregelung. Auch damit
könnte man das BAMF entlasten.

Statt weiterhin für diejenigen Flüchtlinge, bei denen
sicher ist, dass sie hierbleiben werden – bei den Men-
schen aus Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea beträgt
die Anerkennungsquote ja über 99 Prozent –, schriftliche
Verfahren zu praktizieren, wie es in letzter Zeit der Fall
war, sorgen Sie für eine erhöhte Arbeitsbelastung beim
BAMF, indem jetzt wieder individuelle Befragungen
eingeführt werden. Auch das halten wir für falsch. Diese
Maßnahmen in der Behörde, die viel Zeit kosten, müssen
zurückgefahren werden, damit die Menschen schneller
anerkannt werden.

Frau Lindholz, Sie wissen genauso gut wie ich: Erst
wenn jemand anerkannt ist, hat er Zugang zu Integration.
Mit einem Jahr und mehr dauert das gegenwärtig viel zu
lange.


(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Die Maßnahmen starten bei einer guten Bleibeperspektive! Was Sie jetzt erzählen, ist einfach wieder falsch!)


Deswegen appelliere ich an Sie: Geben Sie der Integrati-
on eine Chance, und gehen Sie diese Schritte der Entbü-
rokratisierung!

Ihre hier geführte Anreizdebatte halte ich für in der
Sache völlig verfehlt. Gerade die Menschen, über die wir

Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


heute reden, haben einen Schutzstatus, den sie zu Recht
bekommen haben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der wird auch wieder überprüft!)


Sie stellen das in Zweifel, indem Sie so tun, als würden
diese Menschen hier nur irgendwelchen Anreizen folgen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814916700

Der Kollege Dr. Lars Castellucci hat für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Lars Castellucci (SPD):
Rede ID: ID1814916800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat vorgeschlagen, das Asylver-
fahrensgesetz zu verändern und dort die obligatorische
Widerrufsprüfung zu streichen. Dahinter steht eine Ziel-
setzung. Die eigentliche Zielsetzung ist, zu einer Be-
schleunigung unserer Asylverfahren zu kommen.

In dieser Zielsetzung stimmt die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Zielstellungen der Koalition und
dem Koalitionsvertrag überein. Auch wir sind dafür, die
Verfahren zu beschleunigen. Ich will die Gelegenheit
nutzen, zunächst einmal zu schauen, wo wir nach etwas
mehr als der Hälfte unserer Regierungszeit mit Blick auf
die Verfahren stehen.

Wenn ein Fahrstuhl für 20 Personen ausgelegt ist,
braucht man sich nicht zu wundern, wenn er mit 400 Per-
sonen stecken bleibt. So ähnlich ist es mit unseren
Asylverfahren. In den Jahren 2008 und 2009 hatten wir
23 000 bzw. 28 000 Asylsuchende in Deutschland – und
auch schon 20 000 aufgelaufene, also unerledigte Ver-
fahren. Es brauchte also nicht die knappe halbe Million
Anträge vom vergangenen Jahr, um diesen Apparat zu
überfordern. Der Apparat war längst überfordert. Wahr-
scheinlich wusste man noch nicht einmal, für wie viele
Personen – auf das Bild übertragen – der Fahrstuhl ei-
gentlich ausgelegt war.

Die Verfahrensdauer betrug in den Jahren 2008 und
2009 im Durchschnitt rund 15 Monate. Heute – das kann
man an dieser Stelle sachlich sagen – liegen wir trotz der
gewaltig gestiegenen Zahlen erheblich darunter. Je nach
Bundesland bewegte sich die Verfahrensdauer im ersten
Halbjahr 2015 – das sind die Zahlen, die mir vorliegen –
zwischen 3,3 Monaten, nämlich in Mecklenburg-Vor-
pommern, und 7,9 Monaten, nämlich in Schleswig-Hol-
stein. Die Jahreszahlen werden aufgrund der Dynamik
im zweiten Halbjahr wahrscheinlich schlechter ausfallen.
Der Durchschnitt verdeckt dabei, dass es natürlich eine
Vielzahl von Einzelfällen gibt, bei denen die Verfahrens-
dauer deutlich über diesem Mittelwert liegt.

Darüber hinaus gibt es die aufgelaufenen Fälle. Das
sind mit Stand Ende letzten Jahres – ich sage das jetzt
einmal sehr langsam – 364 664. Diese 364 664 Fälle ge-

hen nicht in die Berechnung der durchschnittlichen Ver-
fahrensdauer ein; denn in diesen Fällen ist ja noch nicht
einmal ein Verfahren eröffnet worden. All denjenigen,
die über Obergrenzen sprechen und begonnen haben, da-
für sogar Unterschriften zu sammeln, möchte ich sagen:
Mit diesen 364 664 Fällen ist für mich längst eine Ober-
grenze erreicht. Das kann so nicht bleiben. Wir müssen
unbedingt zu einem Abbau dieser aufgelaufenen Fälle
kommen.

Was weiterhin nicht eingerechnet wird, ist die Zeit, die
es braucht, bis überhaupt ein Verfahren eröffnet wird. Es
ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass wir an dieser
Stelle den Koalitionsvertrag unterschiedlich interpretie-
ren. Es heißt dort – ich zitiere –:

Vor dem Hintergrund der erheblich gestiegenen Zu-
gangszahlen im Asylbereich setzen wir uns – auch
im Interesse der Schutzsuchenden – mit besonde-
rem Vorrang für die Verkürzung der Bearbeitungs-
dauer bei den Asylverfahren ein.

Jetzt kommt der entscheidende Satz:

Die Verfahrensdauer bis zum Erstentscheid soll drei
Monate nicht übersteigen.

Egal wie man diesen Satz also interpretiert, müssen
wir feststellen: Wir verfehlen nach wie vor dieses Ziel.
Für mich und meine Fraktion ist völlig klar: Es ist na-
türlich Unsinn, von einer dreimonatigen Verfahrensdauer
beim BAMF zu sprechen und die Zeit, die es braucht, bis
überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, nicht mit einzu-
rechnen. Wir müssen von einer Zahl ausgehen, und wir
müssen die Verfahren so verkürzen, dass niemand länger
als drei Monate in Deutschland warten muss, bis eine
Asylentscheidung gefallen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Gleichzeitig gibt es bemerkenswerte Fortschritte
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Daran
sind die Große Koalition und die Politik natürlich nicht
unschuldig. Die Zahl der Entscheidungen ist im letzten
Jahr verdoppelt worden, obwohl es da noch gar nicht die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gab, deren Stellen wir
mit dem letzten Haushalt genehmigt haben. Der neue
Leiter des Bundesamtes stellt uns auch in Aussicht, dass
in diesem Jahr die Einhaltung der dreimonatigen Ver-
fahrensdauer und der Rückbau der aufgelaufenen fast
370 000 Verfahren gelingen können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, wenn wir das einmal in der
Zwischenbilanz anschauen, dann ist es sehr berechtigt,
hier Vorschläge zu unterbreiten, die zu einer weiteren
Verkürzung und Beschleunigung der Verfahren führen
können, und zwar im Interesse aller Beteiligten. Denn
überlange Verfahren sind für alle eine Belastung. Sie
sind nicht Ursache der Belastung. Die Ursache liegt da-
rin, dass die Menschen überhaupt fliehen müssen. Aber
wenn man nur einmal die Zeit ab dem Grenzübertritt
nimmt und unterstellt, dass eine Verfahrensdauer von
drei Monaten erreicht würde, dann könnten wir uns die
Beschäftigung mit einigen Problemen, die in der Folge

Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


entstehen, sparen. Sie wären abgemildert oder würden
gar nicht entstehen. Damit meine ich die Probleme, die
einfach entstehen, wenn Menschen in Massen in Unter-
künften zusammengepfercht sind, wenn sie keine klare
Zukunftsperspektive haben, wenn sie im Grunde immer
noch weitgehend zur Untätigkeit verdammt sind, wenn
sie nicht für sich selber sorgen können, wenn sie nicht
wissen, was mit ihren Angehörigen in der Heimat gerade
ist. Lange Verfahren bedeuten einen unsicheren Aufent-
haltsstatus. Sie bedeuten geringere Chancen auf Ausbil-
dung und Arbeit. Sie bedeuten auch, dass die Menschen,
die sich für die Integration engagieren, mit ihrer Arbeit
häufig ins Leere laufen; denn es werden Erfolge erreicht,
und irgendwann wird den Menschen dann gesagt, dass
sie nicht bleiben können. Das ist kein sinnvoller Zustand.
Im Interesse von allen Beteiligten – den Ehrenamtlichen,
den Hauptamtlichen, den Flüchtenden selbst – müssen
wir zu einer Verkürzung der Verfahren kommen, so wie
wir uns das im Koalitionsvertrag vorgenommen haben.

Dazu gibt es verschiedene Stellschrauben. Eine Stell-
schraube ist das Personal. Wir haben die Zahl der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter im Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge mehr als verdoppelt. Das muss jetzt erst
einmal bewältigt werden. Sie müssen eingearbeitet wer-
den, und dann müssen wir sehen, ob es reicht.

Eine weitere Stellschraube ist die Organisation. Dazu
wird es heute, am späteren Nachmittag, noch eine wei-
tere Debatte hier geben, nämlich zur Einführung des so-
genannten Ankunftsnachweises. Wir haben ja miterleben
müssen, dass in Deutschland bis zu viermal registriert
worden ist, aber gleichzeitig die eine Behörde nicht die
Daten der anderen nutzen konnte. Diesen Zustand wollen
wir mit dem sogenannten Ankunftsnachweis beenden.
Das ist eine überfällige und sehr richtige Maßnahme.

Auch die Flüchtlinge selbst können natürlich zur Be-
schleunigung der Verfahren beitragen. Eines der größten
Hindernisse für schnelle Verfahren ist die fehlende oder
mangelnde Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung.
Auch hier sind kreative Ideen gefragt, wie wir das ver-
bessern können. Wir müssen den Behörden möglicher-
weise mehr Mittel in die Hand geben, damit das funkti-
onieren kann.

Als Stellschraube gehört natürlich auch dazu, zu über-
legen, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
nicht von Aufgaben entlastet werden kann, die es eigent-
lich zu erledigen hat, die aber im Moment keinen Bei-
trag dazu leisten, die Verfahren zu beschleunigen. Des-
wegen bin ich dankbar – das diskutieren wir schon seit
längerem – für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Ich wünsche mir, dass wir darüber im Ausschuss
offen beraten.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehe ich nicht!)


Welche Dinge sind relevant? Wir haben jetzt Vor-
schläge dazu. Zum einen müssen sie – das ist klar – der
Sache dienen; das würde dieser Vorschlag. Zum Zweiten
muss die Sicherheit gewährleistet sein. Wir wollen weder
Hoppladihopp-Verfahren, die die Rechtsstaatlichkeit in-
frage stellen, was die Verfahren der Flüchtlinge angeht,
noch wollen wir zu weiterer Unsicherheit beitragen.

Auch hier besteht nicht die Gefahr, dass der Antrag einen
Beitrag in die falsche Richtung leistet.

Wir sind auch gefordert, in andere Länder zu schauen.
Der Kollege Meier hat die Schweiz genannt. Ich hatte
heute Gesprächspartner aus den Niederlanden im Büro.
Dort ist die Rechtsberatung eingewoben in das Asylver-
fahren. Damit spart man sich auf lange Sicht, dass die
Verfahren infrage gestellt werden und sich nach hinten
verzögern.

Kurzum: Alles, was helfen kann, sollte in der Situa-
tion, in der wir sind, ohne Schaum vor dem Mund und
ohne ideologische Scheuklappen betrachtet werden. Des-
wegen glaube ich, dass es sinnvoll ist, dass wir im Aus-
schuss noch einmal darüber reden.

Um wen geht es? Ich komme einmal auf die langen
Linien zu sprechen. Es geht um diejenigen, die hier als
Flüchtlinge anerkannt sind. Es geht um diejenigen, die
bereits drei Jahre hier leben. Es geht um diejenigen, die
ihre Kinder hier schon zur Schule schicken, die die Spra-
che bereits können – bei den Kindern geht das erstaun-
lich schnell –, die ihren Lebensunterhalt bereits selbst
finanzieren können, die in eigenen Wohnungen leben
können. Mit anderen Worten: Es geht um diejenigen, die
als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, aber schon auf
dem besten Weg sind, die Freunde, die Nachbarn und die
Kolleginnen und Kollegen der Zukunft zu werden. Mit
Blick auf die langen Linien prophezeie ich, dass wir den
Tag erleben – er wird nicht so schrecklich fern sein –,
wo sich die Lage insgesamt beruhigt. Dann werden wir
angesichts unserer demografischen Entwicklung froh
sein über jeden, der nach drei Jahren mit Kindern in der
Schule, mit Arbeit und Wohnung integriert ist. Abseits
von der humanitären Verpflichtung, die wir haben, droht
uns, dass wir, wenn wir Menschen nach drei Jahren zu-
rückschicken, gerade diejenigen zurückschicken, die wir
hier am besten brauchen können, die hier schon auf dem
Wege der Integration sind.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier sind wir schlecht beraten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Montesquieu
hat den berühmten Satz gesagt: „Wenn es nicht notwen-
dig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig,
kein Gesetz zu machen.“ Er hat auch gesagt: „Überflüs-
sige Gesetze tun den notwendigen an ihrer Wirkung Ab-
bruch.“ Das ist kein genialer Satz, aber ein richtiger.

Ich wünsche uns gute Beratungen im Ausschuss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814916900


Die Kollegin Barbara Woltmann hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Lars Castellucci






(A) (C)



(B) (D)



Barbara Woltmann (CDU):
Rede ID: ID1814917000


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
gen und Kolleginnen! Den eingebrachten Gesetzentwurf
von Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung der obliga-
torischen Widerrufsprüfung durch das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, das BAMF, lehnen wir von
der CDU/CSU-Fraktion ab. Das haben Sie schon den
Worten meiner Kollegin Andrea Lindholz sehr deutlich
entnehmen können.

Zur Erinnerung: Die Regelung ist unter der rot-grünen
Bundesregierung im Zuge des Zuwanderungsgesetzes,
das zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, beschlossen
worden. Das Gesetz wurde in Übereinstimmung mit EU-
und Völkerrecht eingeführt, wie es auch in den meisten
Ländern der Europäischen Union der Fall ist.


(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre später sind wir schlauer!)


Um was geht es? Nach Erteilung eines positiven Asyl-
bescheides ist das BAMF nach § 73 Absatz 2 a Satz 1
Asylgesetz dazu verpflichtet, spätestens nach Ablauf
oder innerhalb von drei Jahren zu überprüfen, ob die
anerkannten Asylvoraussetzungen weiterhin vorliegen
und deshalb Schutz in Deutschland gewährt werden
muss oder ob sich die Verhältnisse im Heimatland der
Betroffenen inzwischen geändert haben und dadurch die
Schutzgründe weggefallen sind. Dann teilt das BAMF
den zuständigen Ausländerbehörden das Ergebnis mit.

Das alles hat seinen Grund: Sowohl Asyl als auch
Flüchtlings- oder subsidiärer Schutz sind vorüberge-
hende Schutztitel. Auch Duldungsgründe bestehen nicht
zwingend dauerhaft. Eine Überprüfung und gegebenen-
falls Aufhebung des gewährten Status halte ich daher für
angemessen und absolut notwendig. Dies ist auch wich-
tig, lieber Kollege Castellucci, um einer Verfestigung
des Aufenthaltes vorzubeugen, wenn die Schutzgründe
entfallen sind, das heißt die Menschen in ihren Heimat-
ländern nicht mehr verfolgt werden. Die Anerkennung
als Flüchtling oder als Asylberechtigter soll eben nicht
automatisch zu einem dauerhaften Aufenthalt führen. Es
handelt sich um einen Schutz auf Zeit in einer lebens-
bedrohenden Notsituation für den Betroffenen. Dies ist
auch der Unterschied zu einer Einwanderung, um die es
hier ja gerade nicht geht. Das ist nämlich ein ganz an-
deres Rechtsinstitut. Es geht nicht um ein dauerhaftes
Bleiberecht.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch ein neues Einwanderungsgesetz!)


Schauen wir uns beispielsweise die Zahlen aus dem
Jahr 2009 an. Damals sind bei rund 15 000 Widerrufs-
prüfverfahren circa 4 800 Asylbescheide, also knapp ein
Drittel, widerrufen worden. Es ist zwar richtig, dass die
Widerrufsquote momentan mit rund 2,7 Prozent sehr ge-
ring ist und dass ein Großteil der Flüchtlinge für längere
Zeit in Deutschland bleibt. Das ist aber hauptsächlich der
seit fünf Jahren andauernden Kriegssituation in Syrien
und im Nordirak geschuldet. Solange dieser Kriegszu-

stand anhält, ist die Prüfung für Menschen aus diesen
Ländern relativ schnell abzuhandeln.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder ganz abzuschaffen!)


Eine geringe Widerrufsquote ist kein Grund, auf die
jetzige Regelung zu verzichten. Es tut mir leid, Frau
Amtsberg.

Wir haben aber im letzten Jahr auf die neue Situati-
on reagiert und mit dem Gesetz zur Neubestimmung des
Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, das zum
1. August 2015 in Kraft getreten ist, eine Entlastung des
BAMF herbeigeführt und das Verfahren vereinfacht. Es
ist auch in unserem Interesse, dass Verfahren vereinfacht
werden, und das haben wir mit diesem Gesetz im letz-
ten Jahr getan. Denn jetzt, nach der Neuregelung in § 26
Absatz 3 Aufenthaltsgesetz, kann die Ausländerbehörde
anerkannten Flüchtlingen nach drei Jahren eine Nieder-
lassungserlaubnis erteilen, wenn – das ist jetzt wichtig –
das BAMF nicht im Ausnahmefall mitgeteilt hat, dass
die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rück-
nahme des Schutzstatus vorliegen. Das heißt, da entfällt
der Austausch bzw. die Korrespondenz mit den Auslän-
derämtern. Damit ist es einfacher geworden. So entfällt
in einer Vielzahl von Verfahren die bisher erforderliche
aufwendige Anlage und Führung spezieller Widerrufs-
prüfakten und – wie bereits gesagt – die damit einherge-
hende Korrespondenz mit den Ausländerbehörden. Der
Aufwand für Einzelfallprüfungen, die das BAMF durch-
führen muss, verringert sich dadurch erheblich, da die
Prüfung jetzt viel pauschaler durchgeführt werden kann.

Die Voraussetzungen für die Bewältigung der hohen
Fallzahlen – seien es nun Asylanträge, Folgeanträge, was
auch immer – haben wir mit der Aufstockung des Perso-
nals geschaffen. In diesem Jahr sollen rund 4 000 neue
Stellen besetzt werden, und auch in den letzten zwei Jah-
ren haben wir mehr Stellen im BAMF geschaffen. Unser
Ziel ist eine dreimonatige Verfahrensbearbeitung. Bei
Asylbewerbern zum Beispiel aus sicheren Herkunftslän-
dern soll die Bearbeitungsdauer auf drei Wochen verkürzt
werden. Insofern ist auch die Planung von Registrierzen-
tren, die jeder Flüchtling durchlaufen muss, richtig.

Das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das wir heu-
te noch beraten werden, wird die Verfahrensabläufe und
die Zusammenarbeit aller Stellen deutlich verbessern
und auch zu einem effektiveren Verfahrensablauf füh-
ren. Der Ankunftsausweis wird die Identifizierung und
die Registrierung erleichtern. Seit Anfang Januar werden
die Flüchtlinge, die von Bayern aus verteilt werden, dort
auch registriert. Das heißt, wir kommen schon jetzt zu
geordneteren Verfahren als im letzten Jahr.

Das zweite Asylpaket, mit dem wir unter anderem
beschleunigte Asylverfahren für Anträge mit sehr ge-
ringen Erfolgsaussichten einführen wollen und mit dem
wir auch den Familiennachzug, zumindest für subsidiär
Schutzberechtigte, begrenzen wollen, steht kurz vor der
Einigung und wird ebenfalls zu spürbaren Verbesserun-
gen bis runter in die Kommunen führen.

Die Verfahrensänderungen, Leistungskürzungen und
auch Verschärfungen, die wir bisher durchgeführt haben,






(A) (C)



(B) (D)


sind, ich will es zugeben, für manch einen bitter, aber
angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen, die nach
Deutschland kommen, zwingend notwendig. Ich glaube
nicht, dass ich die Zahlen nennen muss; sie sind bekannt.
Wenn weiterhin pro Jahr etwas über 1 Million Flücht-
linge nach Deutschland kommen würden, dann wäre das
entschieden zu viel. Die bereits in 2014 und 2015 be-
schlossenen Gesetze, die wir auf den Weg gebracht ha-
ben, waren wichtige erste Schritte, um mit der jetzigen
Situation gut fertigzuwerden. Wir brauchen geordnete,
schnelle Verfahren, und wir müssen auch wissen, wer
sich in unserem Land aufhält.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist richtig, dass Flüchtlinge, die an der Grenze er-
klären, dass sie in Deutschland keinen Asylantrag stellen
wollen, bereits jetzt gemäß der Dublin-Verordnung zu-
rückgewiesen werden. Aber eines muss klar sein: Sollten
die Zahlen nicht deutlich runtergehen, werden wir über
weitere Einschnitte im bisherigen System diskutieren
müssen.

Auch die Frage nach der Einstufung weiterer Staaten
als sichere Herkunftsländer müssen wir uns stellen. Denn
das führt – das haben wir bei der Einstufung der Balkan-
staaten gesehen – zu einer deutlichen Reduzierung bzw.
zu einer Beschleunigung im Verfahren.

Im Dezember 2015 – das müssen wir uns einmal vor Au-
gen führen – machten Asylbewerber aus den Balkanstaa-
ten nur noch rund 8 Prozent aller Antragsteller aus. Im
Vergleich dazu: Im Sommer waren es rund 40 Prozent,
im März 2015 waren es sogar einmal 62 Prozent. Das ist
viel zu viel.

Ich denke, dass wir die richtigen Weichen gestellt ha-
ben. Mit den Asylpaketen II und III werden wir weitere
Weichen stellen. Aber alle – und das möchte ich an die-
ser Stelle auch noch einmal deutlich betonen – müssen
ihren Teil dazu beitragen, besonders die Länder. Ich halte
es für unerträglich, dass nicht konsequent abgeschoben
wird und die Möglichkeiten des ersten Asylpakets noch
nicht von allen Ländern voll umfänglich umgesetzt wer-
den, zum Beispiel Sachleistung vor Geldleistung, Leis-
tungsreduzierung bei schuldhafter Verhinderung der Ab-
schiebung.

Alles in allem bleibt festzuhalten, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren: Es ist Ziel der CDU/CSU, die
Flüchtlingszahlen spürbar zu verringern. Wir dürfen we-
der die vielen Ehrenamtlichen noch die Kommunen und
schon gar nicht die Integrationsfähigkeit unseres Landes
überfordern. Damit wäre niemandem geholfen, uns nicht
und auch den Flüchtlingen nicht, die unseres Schutzes
bedürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Noch einmal zum Schluss: Asylrecht ist Schutz auf
Zeit. Insofern lehnen wir den Gesetzentwurf der Grünen
ab. Die Gesetzesänderung, die wir 2015 dazu durchge-
führt haben, reicht völlig aus.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814917100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 18/6202 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
setzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse
und verwandte Erzeugnisse

Drucksache 18/7218
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen, Abspra-
chen und Abstimmungen zügig vorzunehmen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


D
Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1814917200


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Jahr sterben laut Suchtbericht 2015 der Dro-
genbeauftragten der Bundesregierung in Deutschland
110 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Als zu-
ständiger Minister für den gesundheitlichen Verbraucher-
schutz hat Bundesminister Schmidt deshalb den Entwurf
für ein Tabakerzeugnisgesetz zur Umsetzung der EU-Ta-
bakproduktrichtlinie eingebracht.

Für den gesundheitlichen Verbraucherschutz ist der
heute vorgelegte Gesetzentwurf ein wichtiger Meilen-
stein. Zugleich bleiben Zigaretten nach wie vor ein lega-
les Genussmittel. Es wird auch weiterhin eine nennens-
werte Erzeugung von Raucherzeugnissen in Deutschland
geben. Doch die hohe Zahl von Menschen, die an den
Folgen des Rauchens sterben bzw. schwer erkranken,
zeigt den dringenden Handlungsbedarf, Verbrauche-
rinnen und Verbraucher auf die möglichen Folgen des
Tabakkonsums hinzuweisen. Deshalb werden mit dem
Entwurf die Voraussetzungen für folgende Maßnahmen
getroffen:

Das Inverkehrbringen von solchen Zigaretten und von
solchem Tabak zum Selbstdrehen wird verboten, die ein
charakteristisches Aroma haben, die in ihren Bestand-
teilen Aromastoffe oder technische Merkmale enthal-
ten, mit denen sich Geruch, Geschmack oder Rauchin-
tensität verändern lässt, oder die in Filtern, Papier oder
Kapseln Tabak oder Nikotin enthalten. Daneben dürfen
Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen und Wasserpfeifen-

Barbara Woltmann






(A) (C)



(B) (D)


tabak nur noch mit gesundheitsbezogenen kombinierten
Text-Bild-Warnhinweisen in den Verkehr gebracht wer-
den.

Erstmals werden neben Tabakerzeugnissen und pflanz-
lichen Raucherzeugnissen auch elektronische Zigaretten
und Nachfüllbehälter geregelt. Für sie enthält der Gesetz-
entwurf unter anderem Vorschriften zu Inhaltsstoffen,
Produktsicherheit, Verpackungsgestaltung und Mittei-
lungspflichten. Um die Rückverfolgbarkeit und Echtheit
von Tabakerzeugnissen zu gewährleisten, müssen deren
Packungen ein individuelles Erkennungsmerkmal und
ein fälschungssicheres Sicherheitsmerkmal tragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das umfangreiche
Gesetzespaket gestaltet die Rechtslage damit neu und
behält gleichzeitig die Interessen aller im Blick. Wir
setzen die EU-Tabakproduktrichtlinie mit Sorgfalt, aber
eben auch mit Augenmaß eins zu eins um. Wir schützen
Verbraucherinnen und Verbraucher, schränken aber nicht
ihre Entscheidungsfreiheit ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Um einen kleinen Ausblick auf weitere Schritte, wei-
tere Initiativen aus dem Bundesministerium zu wagen:
Wenn die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auf
dem Spiel steht, dann muss die Politik handeln. Deshalb
werden Einschränkungen hinsichtlich der Abgabe von
E-Shishas an Kinder und Jugendliche bereits gesetzlich
verankert. Darüber hinaus will Bundesminister Schmidt
in einem weiteren Änderungsgesetz bei der Werbung vo-
rangehen – der entsprechende Entwurf ist bereits bei der
EU-Kommission notifiziert -; denn gerade Jugendliche
können sich der allgemein präsenten Außenwerbung nur
sehr schwer entziehen. Der Zusammenhang zwischen
dem Kontakt Jugendlicher mit Tabakwerbung und der
Wahrscheinlichkeit, zu rauchen oder mit dem Rauchen
zu beginnen, wurde in mehreren repräsentativen Studien
untersucht und ist statistisch belegt. Dieses zweite Ge-
setz wird über diese Werbeeinschränkung hinaus regeln,
dass auch nikotinfreie E-Zigaretten und E-Shishas unter
anderem bei Werbung und Sicherheit wie nikotinhal-
tige E-Zigaretten behandelt werden und auch unter das
Tabak erzeugnisgesetz fallen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gesundheitli-
che Verbraucherschutz steht im Zentrum unserer Politik.
Deshalb bitten wir um Ihre Unterstützung bei den anste-
henden parlamentarischen Beratungen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814917300

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814917400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Millionen Bürger wollen nun einmal leider
nicht auf ihre Zigarette verzichten. Wir wissen aber, dass
mit diesem Konsum erhebliche Risiken verbunden sind.

121 000 Todesfälle allein im Jahr 2013 werfen natürlich
auch die Frage des Verbots auf. Aber wir wissen: Genau
das funktioniert nicht. Die Inhaltsstoffe eines Schwarz-
markttabaks sind noch gefährlicher; denn sie unterliegen
keiner staatlichen Kontrolle. Zigaretten würden nicht
weniger, aber eben gefährlicher werden. Deshalb suchen
wir nach Möglichkeiten, durch präventive und regulie-
rende Maßnahmen die Schäden durch Tabakkonsum in
unserer Gesellschaft zu verringern. Diesen Weg fordert
die Linke übrigens auch bei anderen Drogen wie Canna-
bis deutlich ein.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mit der Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeug-
nisse sollen jetzt Maßnahmen eingeführt und durchge-
setzt werden, die das Ziel haben, gesundheitliche Risiken
zu minimieren und den Raucher zum Verzicht auf die
Zigarette oder zumindest zur Verringerung seines Rauch-
konsums zu bewegen. Es liegt in der Natur der Sache,
dass erst die Praxis zeigen wird, welche Maßnahmen
hilfreich und auch wirkungsvoll sind, zum Beispiel neue
Warnhinweise in einer Kombination von Bild und Text
auf der Verpackung, das Verbot von problematischen Zu-
satzstoffen oder die Beschränkung der Tabakwerbung.
Dass schadensminimierende Maßnahmen getroffen wer-
den müssen, steht für die Linke angesichts von Tausen-
den Todesfällen in jedem Jahr völlig außer Frage.

Es gibt große Reserven. Laut dem Tabakatlas des
Deutschen Krebsforschungszentrums hat Deutschland
gegenwärtig im europäischen Vergleich immer noch eine
der freizügigsten Regelungen bei der Tabakwerbung. We-
sentlich strengere Regelungen führen in Staaten wie zum
Beispiel Großbritannien mittlerweile zu einem Rückgang
der Raucherzahlen um sage und schreibe 11 Prozent.
Deutschland hinkt mit 3 Prozent nach wie vor hinterher
und ist weniger erfolgreich.

Die Linke wird aber auch genau beobachten und auf-
decken, welche Maßnahmen tatsächlich funktionieren
und welche nur den Schein einer präventiven Regulie-
rung erwecken. Ich will das an einem Beispiel verdeut-
lichen. Von 2002 bis 2005 gab es in Deutschland sehr
deutliche und spürbare Erhöhungen der Tabaksteuer um
jährlich rund 10 bis 16 Prozent. Daraufhin erfolgte re-
lativ sichtbar eine Verringerung des Tabakkonsums in
Deutschland. 2011 bis 2015 gab es kontinuierliche, aber
geringere Erhöhungen der Tabaksteuer um jährlich circa
2 Prozent. In der Entwicklung des Tabakkonsums wird
das nicht mehr deutlich. Durch solche angeblich präven-
tiven Maßnahmen, die derart verpuffen, tut man den Ta-
bakkonzernen nicht weh, der Umsatz bleibt stabil und der
Finanzminister hat etwas mehr Steuereinnahmen. Trotz-
dem glauben wir immer noch, dass wir hier eine präven-
tive Maßnahme durchsetzen.

Darüber, ob es beim Thema E-Zigaretten in der Richt-
linie wirklich vorrangig um Gesundheitsschutz oder doch
eher um die Konkurrenz zur klassischen Zigarette geht,
sollten wir ebenfalls noch einmal diskutieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth






(A) (C)



(B) (D)


Regulierende Maßnahmen zur Schadensminimierung
müssen jedenfalls im Verhältnis zum Schadenspotenzial
stehen; da dürften wir uns einig sein. Mit der Umsetzung
der Richtlinie werden E-Zigaretten und E-Shishas jetzt
mit den herkömmlichen Tabakzigaretten gleichgestellt.
Aber typische Verbrennungsprodukte und Inhaltsstoffe
des Tabaks – das wissen Sie alle – wie Kohlenmonoxyd,
Blausäure und Teer sind im Dampf der E-Zigarette nicht
enthalten. Die E-Zigarette ist natürlich kein harmloses
Produkt; auch das wissen wir. Auch hier brauchen wir
präventive Maßnahmen wie zum Beispiel Werbeverbote.
Aber wenn hier im Sinne der Konkurrenz mit der klassi-
schen Zigarette eine Gleichschaltung herbeigeführt wer-
den soll, muss das sehr kritisch hinterfragt werden.

Alles in allem, so schätze ich das ein, werden zumin-
dest einige der vorliegenden Maßnahmen dazu beitragen
können, Folgeerkrankungen und Todesfälle im Zusam-
menhang mit dem Tabakkonsum in Deutschland zu ver-
ringern. Ausgereizt haben wir diese Möglichkeiten aber
ganz sicher noch nicht. Es gibt weiter Diskussionsbedarf,
welche Maßnahmen zum Beispiel beim Nichtraucher-
schutz sinnvoll und auch durchsetzbar sind oder wie wir
noch erfolgreicher im Jugendschutz oder im Gesund-
heitsschutz agieren können.

Lassen Sie uns deswegen bei der Diskussion über die
Umsetzung der jetzigen Richtlinie nicht haltmachen. Es
wird ja auch eine Anhörung geben. Diese Richtlinie ist
nur ein begrenzter Fortschritt, den wir sicherlich machen
werden. Aber am Ende unseres Lateins sind wir damit
ganz sicher noch nicht.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814917500

Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Spiering (SPD):
Rede ID: ID1814917600

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe

Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir sprechen über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über
Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse.

Ich will mit den Bekenntnissen eines Rauchers anfan-
gen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das heißt, ich bin jemand, der unglücklicherweise in der
täglichen Praxis damit umgehen muss. Wenn ich meinen
Tagesablauf überprüfe und mit der Zeit vergleiche – sie
liegt noch gar nicht so lange zurück –, in der ich nicht ge-
raucht habe, dann muss ich feststellen, dass sich in mei-
nem Leben nicht unbedingt etwas verbessert hat. Wäh-
rend ich früher ein durchtrainierter Sportler war, stelle

ich heute teilweise eine differenzierte Kurzatmigkeit fest;
das alles ist nicht ermunternd.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Aber es war die Entscheidung eines nicht mehr ganz jun-
gen Herrn, die er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte –
das hoffe ich jedenfalls – getroffen hat; darum geht es am
Ende auch.

Wir haben es mit einem Produkt zu tun, das nicht zu
den gesundheitsfördernden Produkten in diesem Lande
gehört, das aber ein Konsumprodukt ist und für den einen
oder anderen ein Stück Lebensfreude ausmacht; auch das
muss man attestieren. Daher muss man es dem mündigen
Bürger anheimstellen, ob er oder sie rauchen will oder
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Vereinzelter Applaus vom Koalitionspartner! – Gegenruf des Abg. Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woran liegt das wohl? – Gegenruf des Abg. Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Mir geht es nur um die Mündigkeit!)


Wir müssen in diesem Zusammenhang Wert darauf
legen, dass das, was in einer Zigarette drin ist, nichts Fal-
sches suggeriert, also einen falschen Eindruck hinterlässt.
Wenn man sich ein bisschen in diese Thematik eingear-
beitet hat, dann weiß man, dass es bei der ursprünglichen
Herstellung von Zigaretten bzw. Tabakprodukten einen
Virginia Blend und einen American Blend gegeben hat.
Der Virginia Blend ist die reine Tabaksorte – das kann
man auch nachlesen – und mit keinen oder nur wenigen
Zusatzstoffen versehen; der Virginia Blend ist sozusagen
ein Naturprodukt. Weil aber die Nachfrage nach Zigaret-
ten ständig gestiegen ist, ist man zum American Blend
übergegangen. Der American Blend ist ein Konglomerat
aus unterschiedlichen Tabaksorten, die einzeln vermut-
lich nicht konsumierbar wären.

Jetzt kommen wir zu den Zusatzstoffen. Man hat Zu-
satzstoffe beigemengt, um sicherzustellen, dass die Zi-
garetten eine bestimmte Geschmacksintensität und damit
auch einen Produktmarkt haben. Wie in vielen vergleich-
baren Bereichen müssen sich unterschiedliche Produkte
natürlich durch Aussehen – das ist bei Zigaretten rela-
tiv schwierig –, Geschmack und Geruch unterscheiden.
Dazu braucht man die Zusatzstoffe; das ist nachvollzieh-
bar. Es wäre ja auch nicht schön, wenn es nur ein einziges
Parfum gäbe; auch bei Parfum erzeugt man Unterschiede
ja dadurch, dass man Aroma- und Zusatzstoffe beimengt.
Aber wir müssen bei diesen Zusatzstoffen ausgesprochen
gut aufpassen. Der Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,
geht sehr differenziert mit diesem Thema um; ich begrü-
ße das ausdrücklich. Er schränkt die Zusatzstoffe ein,
und zwar maßgeblich und vernünftig.

Nehmen Sie das Beispiel von Altkanzler Schmidt, der
ja die berühmten und nach einem eigentlich gesundheits-

Frank Tempel






(A) (C)



(B) (D)


fördernden Produkt riechenden Mentholzigaretten kon-
sumiert hat.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf ich Sie auf den nächsten Tagesordnungspunkt aufmerksam machen?)


Denkt man an das Einatmen von Menthol, wird der Ein-
druck erweckt: Das ist eine ganz tolle Sache; das kann ja
gar nicht schaden. – Das wird in Zukunft unterbunden,
und das ist auch richtig so.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE])


Alle Zusatzstoffe, die etwas suggerieren, was das Pro-
dukt nicht hergibt, kommen vom Markt; das ist auch gut
so. Wir werden, wenn wir uns mit dem Gesetzentwurf
auseinandersetzen, hinsichtlich der Zusammensetzung
der Zusatzstoffe zukünftig sehr genau der Frage nach-
gehen müssen: Was ist im Hinblick auf die Gesundheit
überhaupt noch verträglich, und wie kann man das Pro-
dukt so auf den Markt bringen, dass es nicht zunehmend
schädlich ist?

Ich glaube – das ist für mich eigentlich der Antrieb, für
die Verordnung in die Bütt zu gehen –, dass Deutschland
ein Standort ist, der ordnungsgemäß produziert. Nur we-
nige wissen, dass 65 Prozent der Zigaretten, die in ganz
Europa konsumiert werden, in Deutschland hergestellt
werden – in deutschen Fabriken, nach deutschen Stan-
dards, von deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern – und von deutschen Labors untersucht werden. Ich
möchte, dass sich das nicht ändert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es bedeutet nämlich Produktsicherheit, und es bedeutet
für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsplatzsi-
cherheit.

Wir werden bei der Herstellung hierzulande darauf
Rücksicht nehmen müssen, dass andere Länder ande-
re Gesetze haben und die Liste der Zusatzstoffe anders
formulieren. Deswegen ist nachträglich § 50 in den Ge-
setzentwurf eingefügt worden. Er stellt sicher, dass in
Deutschland für andere Länder nach deren Vorstellungen
produziert werden kann. Wir sollten anderen Ländern der
Welt nicht ihre Gesundheitsvorstellungen vorschreiben.
Das halte ich für gut und richtig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Eine sehr klare Meinung vertrete ich in der Frage der
Außenwerbung. Zigaretten sind ein Produkt, das gerade
auf junge Menschen einen Reiz ausübt, der für die Zu-
kunft dieser jungen Menschen nicht unbedingt förderlich
ist. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir uns in der
Frage der Außenwerbung ein Beispiel am europäischen
Ausland nehmen und die Außenwerbung nachdrücklich
und möglichst kurzfristig unterbinden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das wird in einem zweiten Teil des Gesetzentwurfs gere-
gelt. Wenn wir das mit vereinten Kräften anstreben, dann
werden wir das auch hinbekommen.

Bei der Umsetzung der gesamten Tabakrichtlinie
spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Das Europäische
Parlament hat in 2014 entschieden; die Ausführungen der
Richtlinie sind aber leider erst ziemlich spät in Deutsch-
land angekommen. Diese Tatsache ist dafür verantwort-
lich, dass wir erst heute darüber beraten und nicht schon
vor einem halben Jahr darüber beraten haben.

Ich habe mir den gesamten Herstellungsprozess der
Verpackung – also nicht der Zigarette; das ist hier von
zentraler Bedeutung – in entsprechenden mittelständi-
schen Betrieben angeschaut und festgestellt, dass er hoch
komplex ist. Die deutschen Hersteller der benötigten
Druckwalzen bedürfen eines gewissen Vorlaufes, um die
Zigarettenverpackungen im entsprechenden Design her-
zustellen.

Uns wurde durch das Europäische Parlament und die
Europäische Kommission vorgegeben, diese Richtlinie
bis zum 20. Mai 2016 umzusetzen. Ich persönlich habe
die große Befürchtung, dass wir diese Frist nicht wer-
den einhalten können. Ich glaube, wir sollten uns in der
zweiten und dritten Lesung im Interesse unserer Druck-
walzenhersteller nachhaltig Gedanken über entsprechen-
de Übergangsfristen machen, ohne unsere europäischen
Partner damit zu verstimmen.

Wir haben in großem Maße die Verantwortung für die
Zigarettenherstellung in Europa, und wir wollen unserer
mittelständischen Industrie auch die Zeit lassen, sich auf
die neuen Normen einzustellen. Lassen Sie uns deswegen
so verbleiben – das sage ich abschließend –, dass wir uns
in der zweiten und dritten Lesung über die Übergangs-
fristen noch den einen oder anderen Gedanken machen.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814917700

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Dr. Harald Terpe das Wort.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814917800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin schon erstaunt darüber, wie der Kollege Spiering
hier noch die Kurve gekriegt hat. Er hat sich mit seinen
Ausführungen zu einer bestimmten Tabaksorte – ich
habe den Namen schon wieder vergessen, weil ich kein
Raucher bin – aktuell zwar gesetzeskonform verhalten,
weil er keine Zigarettenwerbung im Hörfunk oder Fern-
sehen gemacht hat, aber ich fand das schon speziell. Er
hat dann aber noch irgendwie die Kurve gekriegt und
sich zur Werbung geäußert. Dazu werde ich auch noch
Stellung nehmen.

Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir als
Parlament natürlich handfeste Gründe haben, uns immer
wieder zu einer gesetzlichen Regulierung der Tabakpro-
dukte zu äußern. Diese handfesten Gründe – das ist bereits
gesagt worden – sind die vielen Todesfälle, die mittelbar
oder unmittelbar mit dem Rauchen zusammenhängen.
Deswegen war ich zunächst sehr enttäuscht darüber, dass
die Koalition bei der Umsetzung der europäischen Richt-

Rainer Spiering






(A) (C)



(B) (D)


linie im Grunde den Weg der geringsten Arbeit gegan-
gen ist. Nachdem auf diesem Gebiet jahrelang eigentlich
nichts gemacht wurde, haben Sie diese Gesetzesinitiative
genutzt, um etwas umzusetzen, was wir eigentlich schon
jahrelang hätten umsetzen müssen. Ich spreche hier von
dem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und
Verführung.

Es ist ja schon gesagt worden, dass es in der Gesell-
schaft handfeste Verführungen zum Rauchen gibt, wobei
ich jetzt nicht nur von der Außenwerbung spreche, die
Sie ja dankenswerterweise auch schon angesprochen ha-
ben. Ich denke übrigens, dass wir bei dem gemeinsamen
Versuch, die Außenwerbung zu verbieten, sicherlich zu
Verbündeten werden. Eigentlich müssten wir darüber
schon im Rahmen der Debatte über diesen Gesetzentwurf
sprechen. Ich hoffe jedenfalls, dass die Diskussionen in
den Ausschüssen und auch die Anhörung dazu beitragen,
dass wir das schon in diesem Gesetzentwurf regeln wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt aber auch noch andere Verführungen. Es ist
doch ein Unding, dass Studenten vor Berliner Universitä-
ten und Hochschulen mit unentgeltlichen Tabakproduk-
ten wie Gauloises und Croissants begrüßt werden. Was
ist das denn anderes als eine Verführung? Dem ist nicht
einfach nur mit einem Verbot der Außenwerbung beizu-
kommen, sondern das muss untersagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es muss auch untersagt werden, dass es in Deutsch-
land im Rahmen des Sponsorings von Veranstaltungen –
ich sage es einmal so – handfeste Werbung für Tabak
gibt. Ich hoffe, dass es nicht diese Sponsorings sind, die
dazu führen, dass wir als Parlamentarier nicht in der Lage
sind, diesen Verführungen der jungen Leute Einhalt zu
gebieten.

Mein deutliches Plädoyer ist also: Lassen Sie uns
schon in diesem Gesetzesverfahren handfeste Regelun-
gen treffen, was die Außenwerbung, das Sponsoring und
die unentgeltlich ausgegebenen Tabakprodukte betrifft.
Im Übrigen könnte so Schreibarbeit bei der Erstellung
des Gesetzes eingespart werden. Man müsste dann nicht
jeden besonderen Werbetatbestand, den man unterbinden
will, besonders herausheben. Vielmehr könnte man – das
ist unser Ziel – ein Werbeverbot in toto erlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich hoffe, dass es dabei bleiben wird, dass die Verspre-
chungen vonseiten der Staatssekretärin erfüllt werden
und dass wir das auf jeden Fall, und zwar zeitnah, durch-
setzen werden.

Lassen Sie mich dann noch zu einem anderen Punkt –
dabei handelt es sich um die E-Zigaretten – kurz Stel-
lung nehmen. Es ist besonders widersprüchlich, dass
wir einerseits trotz Todesfälle immer noch lax mit den
Tabakprodukten bzw. mit dem Tabakrauchen umgehen,
aber andererseits eine Regelung vorschlagen, die besagt,
dass die nikotinfreien Liquids nur dann auf dem Markt

angeboten werden können, wenn kein Risiko besteht. Es
gibt aber in der Gesellschaft überhaupt nichts Risikofrei-
es. Sogar Wasser ist risikobehaftet, wenn man davon zu
viel trinkt.

Ich plädiere also dringend dafür, uns auf einen For-
schungswissensstand zu bringen, auf dessen Grundlage
wir dann mit vernünftigen Argumenten belegen können,
was wir eigentlich bei diesen E-Zigaretten regulieren
müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814917900

Die Kollegin Kordula Kovac hat für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kordula Kovac (CDU):
Rede ID: ID1814918000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren oben auf der
Tribüne! Sie haben Ihren Mitmenschen erst kürzlich ei-
nen guten Start und vor allem viel Glück und Gesundheit
für 2016 gewünscht. Gesundheit ist ein hohes Gut, und
ein jeder von uns will gesund bleiben – und dies, obwohl
wir unserem Körper im Alltag viel zumuten: ungesunde
Ernährung, zu wenig Sport und das Rauchen.

Wir alle sind uns einig, dass bei uns das gesundheit-
liche Wohlergehen der Menschen Priorität genießt. Rau-
chen aber – das weiß jeder – schadet der Gesundheit.
Rauchen ist das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko
in Deutschland. Jährlich sterben – das haben wir heute
schon mehrfach gehört – etwa 110 000 Menschen an den
direkten Folgen des Rauchens, mein Vater übrigens auch.
Deshalb ist es nur konsequent, die Verbraucher bestmög-
lich vor den gesundheitlichen Folgen des Rauchens zu
schützen.

Die EU hat die Tabakproduktrichtlinie auf den Weg
gebracht. Sie kommt damit ihren Verpflichtungen im
Rahmen des WHO-Rahmenübereinkommens zur Ein-
dämmung des Tabakgebrauchs nach. Dies wird von
Deutschland ausdrücklich unterstützt. Bis zum 20. Mai
2016 – auch das haben wir schon gehört – muss die
Richtlinie umgesetzt werden. Das ist eine ambitionierte
Herausforderung. Über Übergangsfristen, lieber Kollege
Spiering, müssen wir uns in der Tat noch einmal unter-
halten. Auch ich war – wie Sie – im letzten Jahr vier Tage
unterwegs, habe mir in den Firmen angesehen, wie die
neuen Regelungen umgesetzt werden können, und habe
mich darüber informiert, ob der Zeitrahmen reicht.

Mit der Umsetzung der Richtlinie werden die Rechts-
und Verwaltungsvorschriften über die Herstellung, die
Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen
und verwandten Erzeugnissen in deutsches Recht um-
gewandelt. Damit stärken wir den gesundheitlichen Ver-
braucherschutz; denn künftig wird deutlicher auf die Ge-
fahren des Tabakkonsums hingewiesen.

Bei all dem steht vorrangig der Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor den Gefahren des Rauchens im
Mittelpunkt. Einen ersten Schritt dahin haben wir hier

Dr. Harald Terpe






(A) (C)



(B) (D)


im Bundestag bereits gemacht: Das Abgabeverbot von
E-Shishas und E-Zigaretten an Kinder und Jugendliche
soll im März dieses Jahres in Kraft treten. Indem wir den
Verkauf unterbinden, schützen wir die jungen Menschen
vor den Gefahren des „Dampfens“. So werden Jugend-
schutz und gesundheitlicher Verbraucherschutz in glei-
cher Weise mit einbezogen.

Diesen wollen wir auch bei nikotinfreien E-Zigaretten
verbessern, indem wir die Gleichstellung von nikotinhal-
tigen und nikotinfreien E-Zigaretten anstreben. Bei Zi-
garettenverpackungen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wird künftig mit kombinierten Text- und Bildwarnhin-
weisen noch deutlicher auf mögliche Gefahren hingewie-
sen. Für Tabakerzeugnisse und elektronische Zigaretten
werden verschiedene Zusatzstoffe verboten. Es darf nicht
sein, dass durch die Beifügung von Aromastoffen wie Zi-
trus oder Schokolade ein an sich gesundheitlich bedenk-
liches Produkt ein grundsätzlich neues Image erhält.

Bei den Regelungen zur Rückverfolgbarkeit ist der
Verwaltungsaufwand für die Industrie auf ein vernünf-
tiges Maß reduziert worden. Die E-Zigarette hat Fragen
des Gesundheitsschutzes beim Rauchen wieder stärker
in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion ge-
rückt. Wir haben das in dieser Woche bei einer Anhörung
eindrucksvoll erleben können. Für nikotinhaltige elek-
tronische Zigaretten und Nachfüllbehälter werden Min-
destanforderungen an die Produktsicherheit gestellt. Bei
den Werbebeschränkungen sollen sie den Tabakerzeug-
nissen gleichgestellt werden.

Der Gesetzgeber muss seinen verfassungsrechtlichen
Gestaltungsauftrag für einen wirksamen Verbraucher-
schutz erfüllen und diesen weiter verbessern. Darüber
besteht fraktionsübergreifend Einigkeit. Nur an der Fra-
ge des Wie scheiden sich die Geister. Durch Zwangsver-
pflichtungen oder bloße Verbote besteht die Gefahr der
Standortverlagerung ins Ausland. Dies, meine Damen
und Herren, würde weder den Verbrauchern noch den
Arbeitnehmern besonders dienen.

Wir wollen eine Bevormundung des Verbrauchers
ebenso wenig wie Eingriffe in die Privatsphäre. Die Ent-
scheidung, ob man für oder gegen seinen Körper handelt,
muss jeder für sich treffen. Nur, diese Entscheidung muss
auf der Grundlage von fundierten Informationen getrof-
fen werden. Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrie-
ben:

Wo Verbraucher sich nicht selbst schützen können
oder überfordert sind, muss der Staat Schutz und
Vorsorge bieten.

Die Tabakproduktrichtlinie kommt diesem Auftrag
nach. Ihre Weiterentwicklung muss deshalb auf der
Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter
Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Wettbe-
werbsfähigkeit stattfinden. Wir sind auf einem guten
Weg, einen Kompromiss zu finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen praxis-
nahe Lösungen, die im Sinne des mündigen Verbrauchers
liegen und im Einklang mit den EU-Vorgaben stehen und
die es der Industrie ermöglichen, auf die Vorlagen ange-
messen zu reagieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche uns allen eine schöne Grüne Woche.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814918100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/7218 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich bitte darum, die notwendigen Umgruppierungen
vorzunehmen. In der Zwischenzeit wechselt das Präsi-
dium.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814918200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-

ordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Patientenberatung unabhängig und gemein-
nützig ausgestalten

Drucksache 18/7042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Harald Weinberg, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814918300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen heu-
te über die Unabhängigkeit sprechen. Um von anderen
wirklich unabhängig zu sein, darf man nicht wirtschaft-
lich und organisatorisch mit ihnen verbandelt sein. Ist
man dies bei gewissen Themen doch und hat vielleicht
noch herausragende öffentliche Ämter inne, dann muss
man gewisse Konsequenzen ziehen, damit man nicht
auch nur in den Geruch einer fehlenden Unabhängigkeit
kommt.

Der Kollege Henke, der leider nicht da ist, ist nicht
nur CDU/CSU-Abgeordneter im Gesundheitsausschuss,
sondern auch Präsident der Ärztekammer Nordrhein. Er
vertritt also die Interessen der Ärztinnen und Ärzte. Aus
ebendiesem Grund hält sich Kollege Henke als Abgeord-
neter auffallend zurück, wenn es um Gesetze geht, die
insbesondere die Interessen der Ärztinnen und Ärzte be-
treffen. Sonst würde man ihm womöglich unterstellen,
sein Mandat als Ärztelobbyist zu missbrauchen.

Kordula Kovac






(A) (C)



(B) (D)


Oder der Kollege Lauterbach: Als er vor der letzten
Bundestagswahl in das SPD-Schattenkabinett berufen
wurde, legte er seinen Sitz im Aufsichtsrat der Rhön-Kli-
niken nieder. Das wäre für ihn als Gesundheitsminister in
spe auch nicht mit dem Amt vereinbar gewesen.

Ich erzähle das hier, weil wir alle – auch Sie, die lieben
Kolleginnen und Kollegen der Koalition – genau über
den Wert der Unabhängigkeit Bescheid wissen. Und Sie
alle wissen genau, dass es mehr als heikel ist, die un-
abhängige Patientenberatung einer Firma anzuvertrau-
en, die von Krankenkassen, Pharmafirmen und anderen
Playern im Gesundheitswesen abhängig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Aber das Ausschreibungsverfahren negieren Sie nicht?)


– Wir kommen schon noch zum Ausschreibungsver-
fahren. – Insbesondere ist es sehr bedenklich, wenn die
Mutterfirma Sanvartis als spezialisierte Callcenter-Be-
treiberin die gesetzlichen Krankenkassen als wichtigen
Kunden hat. Denn gerade Konflikte mit den Kranken-
kassen waren bisher der Grund Nummer eins, weswe-
gen sich Patientinnen und Patienten an die unabhängige
Patientenberatung gewendet hatten. Ob hier jetzt noch
eine Unabhängigkeit gewährleistet ist, wenn die Kassen
die Patientenberatung nicht nur finanzieren bzw. finan-
zieren müssen, sondern auch noch Herr über die Aus-
schreibungsverfahren und zudem ein wichtiger Kunde
der Muttergesellschaft des Beratungsunternehmens sind,
darf bezweifelt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich weiß, Sie entgegnen jetzt sicher, dass Sanvartis
eine gemeinnützige GmbH gegründet hat, die auf dem
Papier nichts mit der Muttergesellschaft zu tun hat. Aber
ich entgegne Ihnen, dass wir als Abgeordnete darüber
genauso wenig wissen wie die Öffentlichkeit, weil die
Verträge, die im Zusammenhang mit der Ausschreibung
gemacht wurden, uns gar nicht vorliegen; denn sie sind
geheim. Auch auf Anfragen von uns und von den Grünen
teilt die Bundesregierung dem Bundestag wenig Sub-
stanzielles mit – mit Verweis auf Geheimhaltungspflich-
ten. Ein solches Ausschreibungsverfahren ist das Gegen-
teil von Transparenz.

Aber auch ansonsten kann das Angebot von Sanvartis
nicht überzeugen. So gibt es zwar mehr Beratungsstel-
len als bisher, nämlich zukünftig 31 bundesweit. Aller-
dings scheinen sie kaum Beratungen anzubieten. Denn
nach einer Antwort der Bundesregierung auf die aktuelle
Anfrage der Grünen werden dort nur sechs Vollzeitäqui-
valente arbeiten. Es gibt also sechs Vollzeitstellen. Das
entspricht 240 Wochenarbeitsstunden verteilt auf 31 Be-
ratungsstellen. Das macht gerade einmal acht Stunden
pro Woche und Beratungsstelle, und davon ist noch kei-
nerlei Arbeitszeit für Büroorganisation oder Ähnliches
abgezogen. Die Beratungsstellen werden also weniger
als acht Stunden in der Woche geöffnet sein und tatsäch-
lich beraten können. Das hat die frühere Unabhängige

Patientenberatung Deutschland bisher mit weniger Geld
besser gekonnt.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt komme ich noch zu den Nachteilen des Aus-
schreibungsverfahrens an sich: Alle sieben Jahre gibt
es nun möglicherweise einen Bruch. Der alte Anbieter
kann schon Wochen vor Ende der Ausschreibung keine
komplizierten Beratungsfälle mehr annehmen. Der neue
Anbieter braucht drei oder sechs Monate, bis sein Ange-
bot funktioniert. So lange gucken die Patientinnen und
Patienten mit Beratungsbedarf in die Röhre.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wir können das Rad nicht zurückdrehen und die Aus-
schreibung rückgängig machen. Aber wir können dafür
sorgen, dass wir die Fehler dieser Ausschreibung nicht
wiederholen. Deswegen sind unsere wesentlichen Forde-
rungen:

Erstens: zukünftig keine Ausschreibungen mehr, son-
dern eine Beauftragung derjenigen unabhängigen Patien-
tenorganisationen, die der Bundestag bestimmt.

Zweitens: eine Finanzierung aus Steuermitteln statt
aus Beitragsmitteln. Damit wären auch die Privatversi-
cherten in die Finanzierung einbezogen, und die Kassen
hätten weniger Einflussmöglichkeiten und würden finan-
ziell entlastet.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens: einen Patientenbeauftragten des Bundesta-
ges statt der Bundesregierung. Dieser soll Aufsicht füh-
ren, dem Bundestag regelmäßig Bericht erstatten und
gegebenenfalls Änderungen vorschlagen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Unabhängigkeit
lässt sich nicht in Vergabekriterien pressen. Deswegen
war es ein Fehler, dass der Patientenbeauftragte der
Bundesregierung der Vergabeentscheidung der Kranken-
kassen zugestimmt hat. Er hätte auch sein Veto einlegen
können.

Sorgen wir gemeinsam dafür, dass in Zukunft klügere
und unabhängigere Entscheidungen getroffen werden!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814918400

Vielen Dank. – Nächster Redner ist jetzt der Kollege

Reiner Meier, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Reiner Meier (CSU):
Rede ID: ID1814918500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein modernes und hochentwickeltes Gesundheitssystem
wie das deutsche kann aufgrund der Vielzahl der Leistun-
gen auch einmal unübersichtlich werden. In besonders

Harald Weinberg






(A) (C)



(B) (D)


komplizierten Situationen sind deshalb Lotsen wichtig,
die den Versicherten den Weg durch die verschiedenen
Anträge, Ansprüche und Verfahren weisen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Neben dem Hausarzt oder den Selbsthilfegruppen hat
sich für viele Patienten die Unabhängige Patientenbe-
ratung als zuverlässige Beratungsinstanz etabliert. Die
Patientenberatung trägt entscheidend dazu bei, dass Pati-
enten über ihre Rechte informiert werden, und hilft ihnen
dabei, diese Rechte wirksam durchzusetzen. Gestatten
Sie mir den Nebenhinweis, dass es die christlich-libera-
le Bundesregierung war, die die UPD nach zehn Jahren
Modellversuch in die Regelversorgung übernommen hat.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war mehr als überfällig!)


Auch in dieser Legislaturperiode haben wir die UPD
stetig weiterentwickelt. Erst vor zwei Jahren haben wir
die Mittel auf 9 Millionen Euro fast verdoppelt und die
Förderperiode von fünf auf sieben Jahre verlängert. Da-
mit haben wir eine gute Grundlage für die neue UPD
ab 2016 gelegt. Lieber Kollege Weinberg, damals waren
wir uns über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass die
UPD weiterhin öffentlich ausgeschrieben werden sollte,
wohlgemerkt: Alle Fraktionen hier im Deutschen Bun-
destag waren sich darin einig. Diese Entscheidung war
nicht nur deshalb richtig, weil dadurch ein Wettbewerb
um neue Konzepte und Ideen im Sinne des Patienten
stattfinden kann, sondern auch deshalb, weil ein öffentli-
cher Auftrag nicht einfach nach Gutsherrenart vergeben
werden darf. Nach Recht und Gesetz muss das beste An-
gebot den Zuschlag erhalten. Das ist im Interesse aller
Patienten und Beitragszahler auch geschehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


So wird die neue UPD ab 2017 die Gesamtzahl der
Beratungen von heute 90 000 auf über 220 000 mehr als
verdoppeln. Auch wird die Zahl der regionalen Bera-
tungsstellen auf 30 Standorte erhöht,


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: 31!)


darunter das neue Büro in Würzburg. Weiterhin werden
durch mobile Beratungsstellen und Hausbesuche die An-
gebote der UPD künftig noch mehr Ratsuchenden und
einfacher als je zuvor zur Verfügung gestellt.

Es versteht sich doch von selbst, dass bei der UPD
die Unabhängigkeit der Beratung entscheidend ist für die
Akzeptanz und das Vertrauen der Versicherten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Deshalb sage ich: Genau das ist weiterhin gewährleistet.
Das fängt schon damit an, dass die UPD eben nicht als
Abteilung der Sanvartis GmbH, sondern als selbststän-
dige und gemeinnützige GmbH die Beratung organisiert
und leistet. Anders als früher sind die Berater direkt bei
der UPD angestellt und werden transparent nach dem Ta-
rifvertrag für den öffentlichen Dienst vergütet.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Minijobs!)


Gerade um Interessenkonflikte zu vermeiden, gilt zudem
ein striktes Verbot jeglicher Nebentätigkeit.

Erstmals wird der Beirat der UPD einen unabhängigen
Auditor einsetzen. Der Auditor hat das Recht, die UPD
und sogar einzelne Beratungsvorgänge auf Unabhängig-
keit zu prüfen. Der Beirat kann der Geschäftsführung
in Fragen der Unabhängigkeit sogar direkte Weisungen
erteilen. Schließlich: Als letztes Mittel kann der Förder-
vertrag sogar gekündigt werden, wenn die Unabhängig-
keit nicht gewährleistet ist. Deshalb halte ich fest: Die
Unabhängigkeit der neuen UPD ist an mehreren Stellen
schlagkräftig und nachhaltig abgesichert, und das ist
auch richtig so.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Tatsache, dass ein neuer Träger die Ausschreibung
gewonnen hat, ändert nichts an der wertvollen und enga-
gierten Arbeit der bisherigen UPD. Hierfür gebühren der
bisherigen UPD Dank und große Anerkennung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Kühn-Mengel [SPD])


Die neue UPD steht nun vor der Aufgabe, die hohen
Ansprüche zu erfüllen, die die Ratsuchenden in unserem
Land zu Recht an die Unabhängige Patientenberatung
stellen. Wir sollten der neuen UPD jedoch unvoreinge-
nommen gegenübertreten und ihr die faire Chance geben,
sich zu bewähren. Die neue UPD ist heute auf den Tag
genau 14 Tage alt. Wenn die Kollegen der Fraktion Die
Linke vorschlagen, die Spielregeln zu ändern, bevor das
Spiel eigentlich richtig begonnen hat, dann ist eine gehö-
rige Portion Skepsis angebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ändern die Spielregeln, und zwar unabhängig vom Gesetz!)


Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung nach
einem Patientenbeauftragten des Deutschen Bundestages
eingehen. Zunächst einmal finde ich es ausgesprochen
schade, dass die Forderung in den Raum gestellt wird,
ohne die gute Arbeit des Patientenbeauftragten der Bun-
desregierung, Karl-Josef Laumann, aber auch die seines
Vorgängers, Wolfgang Zöller, auch nur mit einem Wort
zu würdigen.

Wir in Bayern sind bekannt dafür, sparsam mit Lob
umzugehen. Bei uns sagt man: Nicht geschimpft ist ge-
lobt genug.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist wie in Baden-Württemberg!)


Heute mache ich aber einmal eine Ausnahme. Karl-Josef
Laumann leistet eine hervorragende Arbeit, insbesonde-
re bezüglich der Entbürokratisierung der Pflege oder der
Qualität von Hilfsmitteln, und ist ein großer Kämpfer für
die Rechte der Patientinnen und Patienten. Dafür gebührt
ihm der Dank dieses Hauses.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Genau das ist die Situation! Das muss einmal gesagt werden!)


Reiner Meier






(A) (C)



(B) (D)


Aber auch inhaltlich scheint mir Ihre Forderung nicht
durchdacht. Nach dem Grundgesetz sind Beauftragte des
Bundestages sogenannte Hilfsorgane, die nur dort tätig
werden dürfen, wo der Bundestag selbst seine Zuständig-
keit entfaltet. Sie schreiben nun selbst, dass es auch da-
rum geht, Aufsichtsfunktionen zum Beispiel gegenüber
der Selbstverwaltung auszuüben. Dabei reden wir aber
über klassische Aufgaben der Exekutive. Damit ist und
bleibt der Patientenbeauftragte bei der Bundesregierung
völlig richtig verortet. Im Übrigen dürfen wir Abgeord-
nete uns nach meinem Verständnis durchaus auch als
„kleine Patientenbeauftragte“ im Deutschen Bundestag
verstehen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814918600

Vielen Dank. – Als Nächstes hat jetzt für die Frakti-

on Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Maria Klein-
Schmeink das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch wenn sie im Ton sehr freundlich vorge-
tragen wurden, muss ich doch den meisten Ausführungen
des Herrn Meier massiv widersprechen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das kann man ja auch freundlich machen!)


Was wir im letzten Jahr mit der Vergabe der unabhän-
gigen Patientenberatung an ein privates Unternehmen
erleben mussten, dessen Kerngeschäft die Beratung von
Krankenkassen und Pharmaindustrie ist, war ein Trauer-
spiel. Das war ein ganz schwerer Schlag gegen die Be-
lange von Patientinnen und Patienten. Das geschah unter
Mitwirkung eines Patientenbeauftragten. Das – ich muss
es wiederholen – war ein Trauerspiel, und es ist noch im-
mer ein Trauerspiel. Dieses Trauerspiel wird uns noch
sieben Jahre lang beschäftigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das kann man auch nicht schönreden. Überlegen wir
uns: Wie lange hat es eigentlich gedauert, bis wir eine
unabhängige Patientenberatung aufgebaut haben? 2000
war der Startschuss. Frau Schmidt wird sich sehr gut er-
innern; denn auch das war keine einfache Geschichte. Es
ist modellhaft entwickelt worden. Über zehn Jahre lang
sind immens hohe Qualitätsanforderungen gestellt wor-
den. Immer wieder hat sich gerade die Krankenkassen-
seite durchaus sperrig gezeigt und gesagt: Diese Beratung
wollen wir eigentlich nicht haben. – Aber wir alle muss-
ten doch einsehen: Diese Beratung ist immens wichtig,
wenn es darum geht, die sozialen Bürgerrechte von Pati-
entinnen und Patienten zu stärken. Genau das stellen Sie
jetzt wieder infrage. Das haben Sie umgeschmissen. Die
neue UPD wird eine ganz andere UPD sein.


(Reiner Meier [CDU/CSU]: Eine bessere!)


Sie wird eine UPD sein, die im Kern Gesundheitsinfor-
mationen herausgibt.

Warum brauchen wir eine UPD? Jede Krankenkasse
bietet genau dies, also Beratung, an. Das ist das Kern-
geschäft von Sanvartis. Das brauchen wir nicht. Das,
was wir brauchen, was 80 Prozent aller Ratsuchenden
gebraucht haben, ist tätige Unterstützung bei Antrag-
stellung gegenüber den Krankenkassen, bei schwierigen
Fragen gegenüber der Ärzteschaft, bei Verdacht auf Be-
handlungsfehler. Das sind die wichtigen Fragen. In der
Regel geht es um Patientinnen und Patienten, die große
und schwere Probleme haben und die auch nicht durch-
blicken, welche Rechte und Möglichkeiten sie haben.
Das ist die Situation, die wir alle sehr gut kennen. Gerade
da ist es wichtig, dass wir dieses verlässlich unabhängige
Beratungsangebot haben – und das ist geschleift worden.
Das werfe ich Ihnen ganz massiv vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da muss ich auch den Patientenbeauftragten, Herrn
Laumann, ansprechen; denn er ist damit beauftragt, die-
ses Vergabeverfahren zu steuern. Er hätte darauf achten
müssen, dass wir eine gute Lösung bekommen, aber wir
haben keine gute Lösung bekommen. Das muss man ein-
fach feststellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Reiner Meier [CDU/CSU]: Wir haben eine unabhängige GmbH!)


Schauen Sie sich einmal genau an, was wir bekommen:
Die Gesundheitsberatung wird ausgebaut. 80 Prozent al-
ler Ratsuchenden brauchen aber vor Ort Unterstützung,
etwa psychosoziale Unterstützung, konkrete Beratung.
Was werden wir jetzt bekommen? Sechs Vollzeitäquiva-
lente, die zwischen 30 Beratungsstellen herumreisen und
dort einmal in der Woche präsent sind.


(Reiner Meier [CDU/CSU]: Zusätzlich!)


So wird das aussehen.

Wir hatten vorher ein viel breiteres Angebot. Alle Be-
ratungsstellen waren mit insgesamt 50 Vollzeitäquivalen-
ten besetzt; sie waren Ansprechpartner rund um die Uhr.
Das weiterhin zu leisten, war die Ausgangsvorausset-
zung. Ein solches Angebot hätten wir durch mehr Orte,
wo man präsent ist, und nicht durch das, was wir jetzt
bekommen, weiterentwickeln müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Traurige ist: Vor zwei Jahren hat der Bundestag
die gesamte Phase auf sieben Jahre verlängert. Er hat
mehr Geld bereitgestellt. Wir hätten die Chance gehabt,
wirklich eine patientenorientierte Beratung anzubieten.
Genau das ist jetzt nicht geschehen, sondern der Weg da-
hin ist verbaut, und das ist zutiefst traurig.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Da ist ein Kind geboren, und es wird von Anfang an gesagt, es wird nicht wachsen! – Reiner Meier [CDU/ CSU]: Sie wollten doch einen Zeitraum von zehn Jahren haben!)


Reiner Meier






(A) (C)



(B) (D)


Hinzu kommt: Wir haben keinerlei Transparenz. Herr
Laumann, Sie haben das Verfahren der europaweiten
Ausschreibung gewählt. Das führt dazu, dass wir null
Informationen haben. Sie können sich die Kleine An-
frage anschauen, die wir gestellt haben. Alle Fragen, die
irgendetwas mit dem Budget zu tun haben, wurden nicht
beantwortet mit dem Verweis darauf, dass ein Vertrau-
ensschutz gilt. Das ist das Gegenteil von Transparenz.
Das ist das Gegenteil von Vertrauen bei den Patienten
schaffen, die Rat suchen. Das ist vollständig danebenge-
gangen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])


Ich meine, das müssen Sie zugeben.

Wir werden alle gemeinsam daran arbeiten müssen,
wie wir die Stärkung der sozialen Bürgerrechte, gerade
der Patientinnen und Patienten, zustande bringen. Wir
müssen die Frage beantworten: Was machen wir in Zu-
kunft? Wir können uns nicht erlauben, dass da sieben
Jahre lang eine Lücke entsteht. Darüber werden wir nach-
denken müssen. Insofern bin ich dankbar, dass es diesen
Antrag gibt, wenngleich wir jetzt in einer Situation sind,
die davon gekennzeichnet ist, dass Sie 63 Millionen Euro
verplempert haben. Das muss man ganz klar sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ein bisschen übertrieben!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814918700

Vielen Dank. – Als Nächstes hat für die SPD-Fraktion

die Kollegin Helga Kühn-Mengel das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Übrigens, der Vollständigkeit halber: Sie war die erste
Patientenbeauftragte in Deutschland, und zwar zu Zeiten
der damaligen Großen Koalition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])



Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1814918800

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen

und Herren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher
auf den Tribünen! Frau Klein-Schmeink, ich will einen
Höhepunkt meiner Rede vorwegnehmen, indem ich di-
rekt auf Ihren Beitrag eingehe: Es liegt an uns, an der
Politik, wie wir diesen Prozess, der jetzt in Gang kommt,
kritisch begleiten, wie wir Transparenz einfordern


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden Sie kaum schaffen!)


und wie wir Unabhängigkeit, Qualitätssicherung und
Qualitätsaufbau in diesem Bereich begleiten und kom-
mentieren. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe, die
wir auch annehmen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum historischen Rahmen ist schon einiges gesagt
worden. Ursprünglich ist die Unabhängige Patienten-
beratung Deutschland als Modellprojekt entstanden.
Erst später, 2011, ist sie als Regelleistung etabliert und
schließlich über das GKV-Finanzstruktur- und Qua-
litäts-Weiterentwicklungsgesetz verbessert worden.
Schritt für Schritt haben wir Patientenrechte gestärkt.

Es ist von Ihnen auch schon erläutert worden: Die
Vorgaben, die jetzt zu einer Verbesserung führen sollen,
kommen von der Politik, nicht vom neuen Träger. Wir
haben gesagt: Erhöhung der Mittel von 5 Millionen Euro
auf 9 Millionen Euro, Erhöhung der Zahl der Beratungs-
stellen, Verlängerung der Laufzeit, damit Kontinuität,
auch personelle Kontinuität, entstehen kann, bessere
telefonische Erreichbarkeit. Es war doch so, dass nur
42 Prozent der Anrufer durchkamen,


(Dr. Katja Leikert [CDU/CSU]: So ist das! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, weil man nicht genug Mittel für die Mitarbeiter bereitgestellt hat!)


nicht deshalb, weil man dort nicht genug gearbeitet hat,
sondern deshalb, weil das Bedürfnis nach Information
so stark ist. Das wird mit den jetzigen Vorgaben dann
verbessert werden; jedenfalls gehen wir zunächst einmal
davon aus.

Warum haben wir das alles gemacht, haben viele
Bausteine der Patientenorientierung und -stärkung ein-
geführt? Weil sich der gut informierte Patient, der auf
qualifizierter und evidenzbasierter Grundlage informiert
wird, nicht nur sicherer und selbstbewusster im System
bewegt, sondern auch ökonomischer. Das ist ein wichti-
ger Punkt.

Viele fanden es schon etwas sonderbar, dass die
Krankenkassen diejenigen bezahlen sollen, die später
in Stellungnahmen auch Kritisches veröffentlichen. Im
Jahresbericht der UPD, der alten noch, wird deutlich:
29 000 Menschen gab es, die Informationen zum Verhal-
ten der Krankenkassen und anderer Träger haben wollten.
Da ging es um die Schnittstelle zwischen Krankengeld
und Verrentung, um Fragen wie: Was darf die Kranken-
kasse? Wann darf sie aufhören, Leistungen zu bezahlen?
Es ging aber auch um das Verhalten zwischen Arzt/Ärz-
tin und Patient, um Behandlungsfehler. Bei 19 Millionen
Menschen, die pro Jahr in eine Klinik kommen, gab es
190 000 Behandlungsfehler – in Prozent nicht viel, aber
in absoluten Zahlen doch eine Größenordnung, dass wir
uns darum zu kümmern haben.

Man muss über die alte UPD wirklich sagen: Sie hat
viel geleistet: für Evaluation, für Qualitätsaufbau und
Qualitätssicherung. Es ist natürlich bitter, wenn dieje-
nigen, die gute und auch neue Konzeptionen entworfen
haben, zum Beispiel für die Erreichbarkeit bestimmter
Zielgruppen – etwa Migranten und Migrantinnen oder
Bildungsschwächere –, die gute Arbeit gemacht haben,
an dieser Stelle plötzlich nicht mehr zum Zuge kommen.
Das, denke ich, ist aber zunächst einmal nicht zu korri-
gieren; die Vergabekammer war da eindeutig.

Wir müssen jetzt sehen: Werden die Vorgaben erfüllt?
Wird die Erreichbarkeit verbessert? Es sollen demnächst

Maria Klein-Schmeink






(A) (C)



(B) (D)


statt 80 000 Menschen 200 000 Menschen betreut wer-
den. Was ist mit der Unabhängigkeit, mit den verschiede-
nen Zugangswegen, telefonisch, schriftlich, online, per-
sönlich, was mit der Mehrsprachigkeit? Es wird Türkisch
und Russisch angeboten. Vieles soll sich da entwickeln.

Ich denke, wir als Politik haben vor allem darauf zu
achten, dass die Neutralität und die Unabhängigkeit ge-
währleistet werden und die Arbeit in Sachen Qualität und
Transparenz fortgeführt wird – übrigens: auch der Wis-
senschaftliche Beirat ist weisungsberechtigt –, dass also
das, was begonnen wurde, weitergeführt wird. Darauf
werden wir achten.

Im Übrigen gibt es im Gesundheitsbereich nach wie
vor viele Dinge zu verbessern. Wir als SPD sehen die
Notwendigkeit, die dritte Bank im Gemeinsamen Bun-
desausschuss zu stärken. Nordrhein-Westfalen hat eine
Koordinierungsstelle für die Patientenbeteiligung in den
Gremien eingerichtet – ein ganz wichtiger Punkt.

Wir sind also hier noch lange nicht an der Stelle, wo
wir sagen können: Alles ist gut. – Wir werden diesen Pro-
zess und die Ergebnisse dieses Prozesses mit Blick da-
rauf prüfen: Gibt es Verwerfungen im System? Werden
Interessen von Patienten und Patientinnen in der Arbeit
gestützt und offengelegt?

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814918900

Vielen Dank. – Dr. Georg Kippels ist jetzt der nächste

Redner für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Georg Kippels (CDU):
Rede ID: ID1814919000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer auf
der Besuchertribüne! Heute haben wir hier am späten
Nachmittag nicht nur eine politische Debatte, sondern
eigentlich auch eine Informationsveranstaltung für Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren, weil wir über
eine Institution reden, die die Politik zwar ins Leben ge-
rufen hat, die aber eigentlich für Sie und Ihr persönliches
Wohlbefinden im Umgang mit der Gesundheitswirtschaft
elementare Beiträge leisten sollte. Insofern ist das, was
wir gerade von den Kollegen von den Linken und von
den Grünen gehört haben, genau das Gegenteil einer
Werbeveranstaltung für eine Institution, die für Bürger
da ist; denn laut ihren Aussagen wissen wir schon nach
knapp 14 Tagen exakt und mit belastbaren Zahlen, dass
die neue Institution vollkommen ungeeignet sein wird,
Hilfeleistungen für die Bürger zu erbringen. Ich weiß
nicht, ob das die richtige Diskussionsführung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ausdrücklich untermauert wird das auch noch durch
die wunderbare Terminologie in dem gestellten Antrag.
Darin werden natürlich – wen wundert es? – die Klassen-
kampfbegriffe der alten Zeit wieder ein bisschen hervor-
geholt, um sich zwar nicht gegen das Thema zu wenden,
was inhaltlich eigentlich auch überhaupt nicht möglich

ist, aber jedenfalls einmal gegen die Ausführungsinstitu-
tion. Das ist immer das letzte Aufbäumen gegen vernünf-
tige Maßnahmen unserer Regierung.

Es fängt schon damit an, dass der Antrag eine ganze
Reihe von Fehlbeschreibungen enthält, die einen völlig
falschen Eindruck erwecken.

So schreiben Sie sehr schön, dass der derzeitige Be-
treiber dadurch ins Amt gekommen ist, dass dem bisheri-
gen gemeinnützigen Trägerverbund das Projekt entzogen
worden ist. Es war aber von vornherein auf fünf Jahre
befristet. Am 27. Januar 2011 ist ein Trägervertrag un-
terzeichnet worden. Jeder der Beteiligten wusste, dass
zum Ende des Jahres 2015 ein neuer Tätigkeitszeitraum
vereinbart, verhandelt und vorbereitet werden muss. Von
Entziehen kann also gar keine Rede sein.

Man muss allerdings schon einmal die Frage stellen:
Aufgrund welcher Umstände war es bei dieser immerhin
europaweiten Ausschreibung denn so, dass der bisherige
Träger, der ja über gute Rahmenkenntnisse über den Tä-
tigkeitsbereich, das Anforderungsprofil und die Bedürf-
nisse der Bürger verfügt, nicht ausreichend Fähigkeiten
hatte, diese so auszuwerten, um in der Ausschreibung mit
den besten Angeboten die Nase vorne zu haben? Ich will
hier kein Urteil abgeben. Es spricht aber zumindest dafür,
dass man an dieser Stelle im Hinblick auf die weiterge-
hende Ausschreibung nicht die erforderlichen Hausauf-
gaben gemacht hat.

Sehr verehrte Frau Kollegin Klein-Schmeink, Ihre
Aufregung eben ist in Ansehung Ihres eigenen Antrags
vom 19. Februar 2014, ehrlich gesagt, ein bisschen
schwer nachzuvollziehen. Sie selbst haben damals schon
nach knapp drei Jahren der ersten Laufzeit mit Vehemenz
dargestellt, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich darf
aus Ihrem Antrag sinngemäß zitieren: Immerhin ging
zwischen dem Jahre 2010 und dem Jahre 2013 die Er-
reichbarkeitsquote von 66 auf 42 Prozent zurück.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das wird nicht besser, wenn das ein Callcenter betreibt!)


Jetzt wird natürlich gerne der Hinweis verwendet,
dass dem bisherigen Trägerverbund keine ausreichen-
den Finanzierungsmittel zur Verfügung gestanden haben.
Meines Erachtens muss man sich aber, wenn in einer sol-
chen Situation größeres Beratungsvolumen entsteht, als
Betreiber doch sukzessive auf einen vermehrten Bedarf
einstellen.

Herr Kollege Weinberg, in Ihrem Antrag heißt es, es
habe ein Geschmäckle, dass das Volumen in der Aus-
schreibung jetzt auf 9 Millionen Euro erweitert worden
ist, und sei deshalb überhaupt nicht verwunderlich, dass
der neue Anbieter auch ein erhöhtes Angebotsvolumen
präsentieren kann.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte der alte Anbieter aber auch tun können!)


Es ist schlicht und ergreifend so, dass dieses erhöhte Vo-
lumen natürlich auch von dem damaligen Verbund im

Helga Kühn-Mengel






(A) (C)



(B) (D)


Rahmen der Teilnahme an der Ausschreibung hätte ein-
gesetzt werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814919100

Herr Kollege Kippels, gerade haben Sie den Wider-

spruch der Kollegin Klein-Schmeink geweckt. Sie bittet
darum, Ihnen eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden?


Dr. Georg Kippels (CDU):
Rede ID: ID1814919200

Sie hat ihre Gedanken gerade schon ausgeführt. Im

Moment möchte ich deshalb gern die Gelegenheit nut-
zen, meine Gedanken zu Ende zu bringen. Insoweit bitte
ich um Verständnis.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814919300

Bitte schön.


Dr. Georg Kippels (CDU):
Rede ID: ID1814919400

In der Tat war das erhöhte Finanzvolumen natürlich ab-
sehbar. Sie haben im Rahmen der Analysen schon 2014
formuliert – da komme ich gerne noch einmal auf Sie,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, zurück –, dass hier Handlungsbedarf besteht. Schon
damals wollten Sie ein Finanzvolumen von 10,5 Milli-
onen Euro in den Raum stellen und haben eine Reihe
von Anforderungsprofilen formuliert, die jetzt Eingang
in die Ausschreibung gefunden haben. Was also soll an
der neuen Betätigung so kritisch und problematisch sein?

Eins müssen wir allerdings im Rahmen dieser Tätig-
keit auf jeden Fall berücksichtigen und bewerten – ich
glaube, das ist der ausschlaggebende Gesichtspunkt –:
Richtig ist, dass der Bedarf der Bürgerinnen und Bürger,
kompetente Unterstützung im Umgang mit dem Gesund-
heitswesen zu erhalten, steigt. Aber er steigt nicht nur
quantitativ, sondern er steigt auch qualitativ. Insofern ist
natürlich auch die dauerhafte personelle Bewältigung
des Beratungsaufkommens, insbesondere durch geschul-
te Ärzte, dringend geboten. Das kann natürlich nur mit
einem geeigneten Finanzvolumen sichergestellt werden.

Zudem haben wir ein verändertes Nachfrageverhal-
ten. Jedem ist bekannt, dass die größte Horrorsituation
eines Hilfesuchenden das Einreihen in die Warteschlei-
fe am Telefon ist. Sie können dann zwar irgendwann die
Musik mitsummen oder den Text mitsingen, aber Sie
befinden sich möglicherweise in einer aktuellen Notlage
und wollen nach zwei- bis dreimaligem Klingeln einen
kompetenten Ansprechpartner haben, der Ihnen in dieser
Situation mit Ihren ganz vielfältigen Fragen die notwen-
digen Informationen zur Verfügung stellt oder zumindest
Führung gibt. Hinzu kommt dann heutzutage auch noch,
dass bei den komplexen Sachverhalten, mit denen sich
die Gesundheitswirtschaft und damit auch der Patient
auseinanderzusetzen hat, Verknüpfungen verschiedener
Sachbereiche erforderlich sind. Das heißt, man muss
dauerhaft eine sehr komplexe Beratungsstruktur vorhal-
ten. Das erfordert natürlich auch Organisationskompe-
tenzen eines Unternehmens.

Wir werden uns zunächst einmal sinnvollerweise kon-
struktiv mit den Ergebnissen auseinandersetzen. Die sie-
ben Jahre sind nun beileibe kein Zeitraum, der sich hier
als Menschheitsgeschichte darstellt. Die ersten fünf Jahre
haben uns schon gelehrt, dass vor allen Dingen ein dyna-
mischer Prozess entsteht. Den haben wir im Ausschrei-
bungsverfahren adäquat aufgenommen, und der wird be-
gleitet. Er wird durch den Auditor begleitet, er wird durch
den Patientenbeauftragten begleitet, und er wird durch
uns im Rahmen permanenter Rechenschaftsberichte be-
gleitet werden können. Wir haben vor allen Dingen auch
innerhalb der sieben Jahre das Kündigungsrecht. Wenn
wir der Auffassung sind, dass dieses Anforderungsprofil,
das – so verstehe ich die heutige Diskussion – inhaltlich
keiner Kritik unterliegt –


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


nur die hypothetische Unabhängigkeit ist der Kritikpunkt
an vorderster Front – nicht erfüllt wird, so haben wir die
Möglichkeit, vor Ablauf der sieben Jahre aus diesem Ver-
trag auszusteigen.

Ich glaube, gerade mit Rücksicht auf die Komplexi-
tät der Gesundheitswirtschaft ist ein dauerhafter Quali-
tätswettbewerb, auch zwischen denen, die die Leistun-
gen zu erbringen haben, wertvoll, sinnvoll und durchaus
den notwendigen Anpassungsgegebenheiten geschuldet.
Letzten Endes werden uns ja auch die Zahlen – ich glau-
be, damit sollten wir uns sinnvollerweise auseinanderset-
zen – eine Grundlage zur Reflexion geben und zeigen, ob
der Bürger, der Kunde, der Patient mit den Leistungen
dieser Patientenberatung in ausreichendem Maße zufrie-
den ist. Die Zufriedenheit wird sich in der Häufigkeit der
Inanspruchnahme zeigen, und es wird mit Sicherheit eine
lebhafte Diskussion über dieses neue Angebot geben.
Geben Sie dieser UPD in ihrem neuen Kleid eine Chan-
ce, sich am Markt zu bewähren. Wir und natürlich auch
Sie werden sie begleiten und an entscheidender Stelle
eingreifen. Aber hier und heute schon das endgültige Ur-
teil zu fällen, dass diese Institution nicht die erforderliche
Unabhängigkeit und möglicherweise auch keine ausrei-
chende Kompetenz aufweist, ist aus meiner Sicht zu früh.
Jeder muss eine adäquate Chance haben. Das ist im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814919500

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU])



Heike Baehrens (SPD):
Rede ID: ID1814919600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! „Zu Risiken und Ne-
benwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen
Sie Ihren Arzt oder Apotheker“, so hören wir es täglich in

Dr. Georg Kippels






(A) (C)



(B) (D)


der Werbung. Ja, es gibt Risiken und Nebenwirkungen in
unserem System der gesundheitlichen Versorgung, und
nicht immer reicht es, die Ärztin oder den Apotheker zu
fragen, sondern manchmal braucht man auch eine neutra-
le Anlaufstelle oder eine unabhängige Beratung.

Gesundheitsversorgung ist ein komplexes System, das
für Patientinnen und Patienten nur schwer zu durchschau-
en ist. Dies gilt umso mehr, je langwieriger oder auch
schwerwiegender eine Erkrankung ist. Es ist erfreulich,
dass die Behandlungsmöglichkeiten zunehmen. Gleich-
zeitig wird es aber auch schwieriger, Therapieentschei-
dungen zu fällen, ja überhaupt erst einmal Informationen
zu verstehen und zu bewerten, die wir von unserem Arzt
erhalten. Häufig trifft dann Fachsprache auf Nervosität
und Ängste. Hinzu kommen viele, oft widersprüchliche
Informationen im Internet. Manchmal braucht es Erklä-
rung, Übersetzung oder das Aufzeigen von Alternativen.
Ganz oft braucht es einfach Orientierung.

Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland ist
dann ein wichtiger Lotse im System. Sie gibt Rat, wo-
hin ich mich im konkreten Fall wenden kann oder wie
ich gegebenenfalls zu meinem Recht komme. Wenn bei-
spielsweise Fehler gemacht wurden, ist es gut, jemanden
Unabhängigen mit fachlicher Expertise an seiner Seite zu
haben. Darum sind wir als SPD-Fraktion – das hat Frau
Kühn-Mengel gerade deutlich gemacht – nicht glücklich
über den Trägerwechsel aufgrund des Ausschreibungs-
verfahrens. Denn diese sensible Beratungsaufgabe war
beim bisherigen frei-gemeinnützigen Trägerverbund
gerade deshalb gut verortet, weil der VdK, die Verbrau-
cherzentrale und der Verbund unabhängiger Patientenbe-
ratung auch über die UPD hinaus ganz maßgeblich die
Interessen der Patientinnen und Patienten vertreten ha-
ben und dieses auch zukünftig tun werden. Wenn diese
Aufgabe nun von einem Tochterunternehmen eines ge-
winnorientierten, privaten Beratungsunternehmens über-
nommen wird, das gleichzeitig Krankenkassen und an-
dere Gesundheitsdienstleister berät, ist Skepsis durchaus
angebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Neutralität und Qualität der Patientenberatung müs-
sen auch in der neuen Konstellation gewahrt bleiben.
Denn ganz häufig geht es bei der Beratung um Fragen
zu den Leistungen von Kostenträgern im Gesundheits-
wesen: Warum wurde meine Reha nicht genehmigt? Gibt
es günstigeren Zahnersatz? Warum bekomme ich kein
Krankengeld mehr? Zu solchen Fragen hat die UPD ei-
nerseits beraten und andererseits die Probleme auch an
die Politik oder Selbstverwaltung adressiert, damit Kor-
rekturen vorgenommen werden konnten. So hatten bei-
spielsweise viele Patienten in der Vergangenheit ihren
Anspruch auf Krankengeld verloren, weil sie ihrer Kran-
kenkasse nicht den lückenlosen Verlauf der Arbeitsunfä-
higkeit nachgewiesen haben. Das haben wir im letzten
Jahr politisch aufgegriffen, eine gesetzliche Klarstel-
lung vorgenommen und gleichzeitig das Antragsverfah-
ren deutlich vereinfacht. Ab diesem Jahr gibt es bei den
Krankschreibungen nur noch ein einheitliches Formular,
auf dem die Ärzte sowohl die Arbeitsunfähigkeit wäh-
rend der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber als
auch während der Krankengeldzahlung durch die Kran-

kenkasse bescheinigen. Der Patient erhält künftig einen
Durchschlag mit dem Hinweis, dass für den Bezug von
Krankengeld ein lückenloser Nachweis der Arbeitsunfä-
higkeit erforderlich ist.

Ein anderes großes Dauerthema in der UPD sind die
sogenannten IGeL-Leistungen, die individuellen Ge-
sundheitsleistungen, die von den Patienten selbst zu
bezahlen sind. Sie werden gern von Ärzten empfohlen,
obwohl die GKV diese Leistungen nicht bezahlt, wenn
die medizinische Indikation nicht eindeutig gegeben ist.
Wie gut ist es dann, dass man jemanden fragen kann, der
keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt.

Im Zentrum unserer Gesundheitspolitik stehen die Pa-
tientinnen und Patienten sowie die Qualität der medizini-
schen Versorgung. Um die Rechte der Patientinnen und
Patienten zu stärken, haben wir in den vergangenen zwei
Jahren in der Großen Koalition einiges auf den Weg ge-
bracht. So haben wir die Unterstützung der gesundheit-
lichen Selbsthilfe stärker gefördert, sodass die Kassen
zukünftig die Selbsthilfestrukturen auch finanziell unter-
stützen. Damit werden auch die Rechte der Patientinnen
und Patienten gestärkt.

Zum jetzigen Zeitpunkt bleibt uns nichts anderes üb-
rig, als das Ergebnis des Ausschreibungsverfahrens zu
respektieren. Wir sagen aber ebenso klar: Bei Risiken
und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre SPD. – Denn wir
werden sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern
und Kommunen darauf achten, dass den vollmundigen
Ankündigungen tatsächlich entsprechende Taten folgen,
dass die UPD tatsächlich die Netzwerkarbeit fortsetzt
und die Leistungen erbringt, die eingefordert werden.
Darauf können sich alle verlassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814919700

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7042 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
der Registrierung und des Datenaustau-
sches zu aufenthalts- und asylrechtlichen

(Datenaustauschverbesserungsgesetz)


Drucksache 18/7043

– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Registrie-
rung und des Datenaustausches zu aufent-

Heike Baehrens






(A) (C)



(B) (D)



(Datenaustauschverbesserungsgesetz)


Drucksache 18/7203

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses (4. Ausschuss)


Drucksache 18/7258


(8. Ausschuss)


Drucksache 18/7259

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch hier höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich darf Sie bitten, zügig Ihre Plätze einzunehmen.

Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält das Wort Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-
nern:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Ge-
setzentwurf, den wir heute beraten und verabschieden,
ist ein sehr wichtiger Schritt zur Steuerung und Ordnung
des Asylverfahrens gelungen. Mit diesem Gesetz wird
es gelingen, Asyl- und Schutzsuchende deutlich früher
als bisher, einmalig und zentral für alle und biometrisch
zweifelsfrei zu erfassen und zu identifizieren.

Das ist nötig. Denn wir müssen wissen, wer als Flücht-
ling in unser Land kommt. Wir wollen entscheiden, wo er
untergebracht wird. Wir wollen schnelle Verfahren ohne
Doppelarbeit, um schnell entscheiden zu können: Wer
darf bleiben und muss integriert werden, und wer darf
nicht bleiben? Wir wollen wissen, ob von einem Flücht-
ling eine Gefahr ausgeht. Das Gesetz hilft bei all diesen
Themen. Es ist aus drei Gründen wichtig:

Erstens: aus Gründen der Ordnung und Steuerung. Wir
wollen Selbstzuweisungen von Asylsuchenden unterbin-
den und selbst nach sachlichen Kriterien entscheiden,
wo ihr Verfahren durchgeführt wird. Es darf nicht sein,
dass sich einzelne Asylsuchende nicht an die Zuteilung
zu einer Aufnahmeeinrichtung halten oder sich immer
wieder zur Erstverteilung anstellen, um das Verfahren
an dem von ihnen gewünschten Ort durchzuführen. Die
Steuerungshoheit obliegt dem Staat und muss auch dort
verbleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das ist nicht nur Bedingung für eine gerechte Vertei-
lung auf die Länder nach dem Königsteiner Schlüssel,
sondern auch für die Weiterverteilung auf die Kommu-
nen. Auch für die Feststellung des zusätzlichen Bedarfs
an Unterkünften, an Schulen, an Integrationskursen und
für die Hinführung zu Berufen ist eine frühzeitige Kennt-
nis planungssicherer Zahlen wichtig.

Zweitens. Das Gesetz ist wichtig, um Schutzsuchende
bei jedem weiteren Behördenkontakt wiederzuerkennen

und Missbräuche zu unterbinden. Künftig wird nur der-
jenige ein Asylverfahren und entsprechende Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, der ord-
nungsgemäß registriert ist und einen gültigen Ankunfts-
nachweis vorweisen kann. Zu uns kommende Menschen
werden dafür möglichst bereits beim ersten Behörden-
kontakt erkennungsdienstlich behandelt und registriert,
und zwar im Wege des Prinzips „Einer für alle“. Einer re-
gistriert für alle; standardisiert und zentralisiert kommen
dann alle Daten auf eine Kerndatenbank. Alle zuständi-
gen Behörden von Bund und Ländern, die Landespolizei-
en, die Bundespolizei, das BAMF, die Ausländerbehör-
den, auf Wunsch des Bundesrates auch die Jugendämter,
haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit Zugriff auf die
Datei. Die Zeiten von Doppel- oder gar Mehrfacherfas-
sungen sind damit vorbei. Unsere Behörden können dann
schnell und zweifelsfrei überprüfen, ob jemand bereits
als Flüchtling erfasst ist, wo und seit wann. Das Auftre-
ten mit verschiedenen Identitäten und Mehrfachregis-
trierungen, um sich wiederholt Leistungszuwendungen
zu erschleichen oder um sich an einem Ort seiner Wahl
niederzulassen, all das wird es nicht mehr geben.

Drittens. Das Gesetz ist auch wichtig aus Gründen der
inneren Sicherheit. Viele Menschen in unserem Land fra-
gen sich: Sind wir davor geschützt, dass sich unter dem
Deckmantel des Asyls auch Kriminelle oder gar Terroris-
ten in unser Land begeben? Das neue Gesetz wird auch
hier für mehr Sicherheit sorgen. Unmittelbar nach der
Speicherung der Daten einer Person im Kerndatensystem
sollen die Sicherheitsbehörden einen Abgleich vorneh-
men und prüfen, ob zu einer Person terrorismusrelevante
Erkenntnisse oder sonstige schwerwiegende Sicherheits-
bedenken bestehen. So werden die Behörden frühzeitig
solche Personen erkennen können, zu denen sicherheits-
relevante Erkenntnisse bereits vorliegen, oder sie können
später entsprechend nachfragen. Auch wenn die Flücht-
linge erst in Deutschland kriminell werden, wie etwa in
Köln, werden wir sie künftig schneller identifizieren kön-
nen, und zwar dank eines bundeseinheitlichen Ankunfts-
nachweises mit Lichtbild und der im System hinterlegten
Daten.

Die Zeiten, in denen Menschen bis zur förmlichen
Antragstellung nur über die sogenannte BüMA identifi-
zierbar waren – gemeint ist die Bescheinigung über die
Meldung als Asylsuchender, die bisher weder bundesein-
heitlich ausgestaltet war noch ein Lichtbild hatte –, sind
vorbei. Mit dem neuen Gesetz ist eine schnelle Identi-
fizierung möglich. Damit kann man Integrationskurse
steuern. Damit fallen Doppelerfassungen und -beratun-
gen weg und vieles andere mehr.

Die Verabschiedung des Datenaustauschverbesse-
rungsgesetzes ist wichtiger denn je. Die Datenschutzbe-
auftragte hat übrigens im Wesentlichen keine Bedenken
gegen dieses Gesetz erhoben. Das ist gut. Ich bedanke
mich sehr herzlich für die zügige Beratung. Wir wollen
das Gesetz schnell in Kraft setzen. Allerdings verbirgt
sich hinter diesem Gesetz ein sehr kompliziertes IT-Pro-
jekt. Hier werden Schnittstellen gebraucht zwischen
Polizeidateien, Dateien der Bundesagentur für Arbeit,
Dateien des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
und verschiedensten Dateien der Länder, die wiederum

Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


oft nicht landeseinheitlich sind, sondern je nach Kommu-
ne unterschiedlich. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Wir werden das Projekt schnellstmöglich umsetzen. Wir
haben um schnelle Verabschiedung des Gesetzentwurfs
gebeten, auch den Bundesrat, damit das Gesetz am 1. Fe-
bruar in Kraft treten kann.

Wir wollen im Februar damit beginnen, das Verfahren
aufzurollen, vermutlich erst für diejenigen, die neu kom-
men, und dann nach und nach durch das Migrieren der
Daten derjenigen, die schon da sind. Wir hoffen, dass das
bis zum Sommer gelingt. Das ist ein wirklich anspruchs-
volles IT-Projekt. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass
wir den Zeitplan einhalten werden, aber wir arbeiten da-
ran.

Vielleicht könnte das Projekt ein Vorbild für andere
große IT-Projekte in unserem Land sein, indem wir Ego-
ismen zwischen Ressorts, zwischen Bund und Ländern
und zwischen Ländern und Kommunen zurückstellen.
Wir werden so eine vernünftige Lösung für ein Projekt
haben, das einer Aufgabenerfüllung dient. Wir sollten
nicht zuerst darauf gucken: Passt das zu meinem bis-
herigen IT-Projekt, oder muss ich mich vielleicht ein
bisschen umstellen? Ich hoffe, dass dieses aus der Not
geborene Projekt Vorbildcharakter für die Zusammenar-
beit zwischen Bund, Ländern und Kommunen auch auf
anderen Feldern haben kann.

Vielen Dank für die schnelle Beratung. Ich hoffe auf
eine breite Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814919800

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla

Jelpke, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814919900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch

die Linke ist der Meinung, dass eine zentrale Datenspei-
cherung zur Registrierung der Schutzsuchenden notwen-
dig ist und dass wir eine Erleichterung für die Behörden
brauchen. Das ist auch die Hoffnung der Länder und
Kommunen, die sich von diesem Gesetzesvorhaben vor
allen Dingen eine Beschleunigung der Aufnahme und der
Unterbringung von schutzsuchenden Flüchtlingen erhof-
fen.

Wenn mit diesem Gesetzentwurf dieses Versprechen
gehalten werden könnte, wären wir, wie gesagt, voll da-
bei; denn es gibt in der Tat Mehrfachbelastungen bei den
Behörden durch doppelte Arbeiten, zum Beispiel durch
Doppelregistrierungen. Der Versuch, diese abzuschaffen,
sollte sehr genau beobachtet und kontrolliert werden.

Nach EU-Vorgaben müssen Flüchtlinge innerhalb von
zwei Wochen nach ihrer Ankunft als Asylantragsteller
registriert werden. Davon sind wir gegenwärtig weit ent-
fernt. Ehe Flüchtlinge sich melden können, vergehen oft
Wochen. Ehe sie einen Asylantrag stellen können, verge-
hen im Moment bis zu zehn Monate. Das ist in der Tat
viel zu lang. Da muss schnellstens etwas passieren.

Anstatt die Registrierung gleich mit dem Asylverfah-
rensantrag zu verbinden, wird ein unnötiges, zusätzliches
Arbeitsverfahren eingeführt. Für die Flüchtlinge bedeu-
tet das eine nervenaufreibende, kräftezehrende Zeit, in
der sie darauf warten, zu erfahren, ob sie überhaupt ei-
nen Anspruch haben. Man muss sich das so vorstellen:
Zunächst wird der Flüchtling mit einer sogenannten
BüMA – das ist Bürokratensprache –, also einer Beschei-
nigung über die Meldung als Asylsuchender ausgestattet.
Diese wird in der Regel von der Polizei, den Ausländer-
behörden oder dem BAMF ausgestellt. Damit erfolgt
gleichzeitig eine Zuweisung zu einem Bundesland, zu
einer Kommune, in der der Flüchtling aufgenommen
wird. Jetzt soll ein Ankunftsnachweisausweis ausgege-
ben werden – er wird heute neu beschlossen –, der im
Grunde genommen besagt, dass der Flüchtling zu diesem
Zeitpunkt noch nicht einmal geduldet ist. Nach unseren
Gesetzen hat man aber nur dann Anspruch auf Leistun-
gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn man
als Flüchtling wenigstens eine Duldung hat.

Im Übrigen haben Kinder, die sich hier aufhalten,
deren Eltern nicht geduldet sind, keinen Zugang zum
Schul unterricht oder zu anderen Einrichtungen. Das ist
ein Riesenproblem. Ich habe in der letzten Woche unbe-
gleitete minderjährige Flüchtlinge getroffen, die seit zehn
Monaten darauf warten, dass sie ihren Asylantrag stellen
können. In dieser Zeit können sie nicht zur Schule gehen,
hängen also einfach in irgendeiner Einrichtung rum. Sie
werden zwar versorgt, aber es ist ein unerträglicher Zu-
stand – dabei geht es auch um das Kinderwohl –, dass
diese Kinder nicht zur Schule gehen können, dass sie kei-
ne Integrationsleistungen in Anspruch nehmen können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dadurch besteht natürlich die Gefahr, dass ihre Integra-
tion weiter verzögert wird. Wir sagen doch immer, dass
die Integration von Anfang an erfolgen muss, weil nur
das für die Integration sinnvoll ist, weil nur das auch im
Sinne des Schutzsuchenden ist.

Ein Problem gibt es meines Erachtens auch beim Da-
tenschutz. Es werden notwendige Kerndaten erhoben,
aber auch eine Unzahl weiterer Daten. Die Augenfarbe,
Informationen über den schulischen und den beruflichen
Weg usw. werden aufgenommen, obwohl diese Informati-
onen zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht nötig sind.
Ich sage das vor allen Dingen, weil es eine Datenpflege
geben muss, das heißt, die eingegebenen Daten, auf die
Kommunen und Länder zugreifen können, müssen stim-
men. Diese Datenpflege bedeutet für die Behörden einen
enormen Arbeitsaufwand. Darin sehe ich im Augenblick
eher eine zusätzliche Belastung als eine Entlastung.

Herr Innenminister, es geht noch ein bisschen weiter.
Die Geheimdienste führen nicht nur eine Überprüfung
durch. Ganz bestimmten Gruppen, zum Beispiel den
Flüchtlingen aus muslimischen Ländern, wird im Grun-
de genommen kategorisch Misstrauen entgegengebracht.
Das wird daran deutlich, dass man ihre Daten weiterhin
speichert, dass man weiterhin Zugriff auf die Daten die-

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière






(A) (C)



(B) (D)


ser Flüchtlinge hat. Das finden wir überhaupt nicht rich-
tig. Wir halten das für viel zu weitgehend.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Zusammenhang muss man wirklich kri-
tisieren, dass die Unionsfraktion – auch Sie haben das
eben wieder gemacht – hier von vornherein über Asyl-
missbrauch und über sogenannte terroristische Gefährder
spricht, also im Grunde genommen die Debatte über die-
ses Gesetz mit Parolen vergiftet. In der Flüchtlingspolitik
sollten wir einfach einmal sachlicher bleiben und sagen,
warum etwas notwendig ist, und es nicht immer gleich
ideologisch mit Missbrauchsdebatten verbrämen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das wäre mal schön!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814920000

Sie denken bitte an Ihre Redezeit.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814920100

Ja, ich komme zu meinem letzten Satz. – Sie haben

sich hier gerade dafür bedankt, dass das Verfahren sehr
schnell läuft. Erst gestern wurde diese Vorlage einge-
bracht, am Montag hatten wir schon eine Anhörung, und
heute verabschieden wir den Gesetzentwurf. Das hängt
vor allen Dingen damit zusammen, dass dieser Auftrag
schon bei der Druckerei ist und diese darauf wartet, ihn
endlich ausführen zu können. Das halte ich für einen
Skandal. Anstatt hier ein sauberes Gesetz zu machen,
machen wir im Grunde genommen einen Schnellschuss.
Ich glaube, damit ist niemandem geholfen.

Ich danke Ihnen. – Wir werden uns im Übrigen ent-
halten.


(Karsten Möring [CDU/CSU]: Das ist Handlungsfähigkeit, Frau Kollegin! – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wir tun was! – Gegenruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Deswegen sind auch nur wenige da von euch! Die sind noch erschöpft von der intensiven Beratung!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814920200

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das

Wort der Kollege Matthias Schmidt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Matthias Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814920300

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-

ten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über das
Datenaustauschverbesserungsgesetz, landläufig nennt
man das auch den Flüchtlingsausweis. Ich weiß, warum
dieser Begriff nicht in das Gesetz aufgenommen wurde.
Man hat stattdessen „Ankunftsnachweis“ als Begriff ge-
wählt. Wenn man einen Moment lang darüber nachdenkt,
kommt man zu dem Ergebnis, dass auch diese Begriff-

lichkeit nicht ganz gelungen ist. Aber egal, das Gesetz
an sich ist gelungen, und die Intention des Gesetzes ist
sehr wichtig.

Ich will das an einem zunächst etwas abseitigen Bei-
spiel versuchen zu erklären. Heute ist der 14. Tag des
neuen Jahres. Das heißt, wir sind langsam an der Grenze
angekommen, an der die guten Vorsätze über Bord ge-
worfen werden.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Nein!)


Meine guten Vorsätze waren gegen Churchill gerichtet,
der ja einst „no sports“ gesagt haben soll. Ich wollte mehr
Sport wagen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist gut! Kann ich nur unterstützen!)


Ich bin durch eine große Fitnesskette darin bestärkt wor-
den, die es mir ermöglicht hat, elf Tage lang umsonst
zum Training zu marschieren. Also habe ich am 2. Januar
mein Köfferchen gepackt und meine Turnhose hineinge-
tan. Ich habe mich dann zu meiner großen Überraschung
in einer langen Schlange angestellt. Dort standen mehre-
re Menschen so wie ich, die ihre asketische Phase schon
länger hinter sich haben und viele gute Vorsätze gefasst
haben. Sie alle wollten die Chance nutzen, dort kosten-
frei zu trainieren. In der Schlange gab es auch überhaupt
keine Rangeleien, keine Widersprüche. Jeder wartete ge-
duldig ab.

Als dann endlich ich dran war, wurden logischerwei-
se meine Daten registriert: Name, Vorname, Adresse,
Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Damit ich meinen
Ausweis nicht weitergeben kann, wurde ich auch foto-
grafiert. Denn so kann Missbrauch vorgebeugt werden.
All das lassen wir alle locker über uns ergehen, weil wir
die Bürokratie akzeptieren, selbst wenn sie nicht einmal
von einer Behörde kommt. Denn wir wissen, dass diese
Bürokratie Vorzüge hat, dass es gut ist, dass es so ge-
regelt ist, obwohl wir alle gerne mal Sprüche über die
Bürokratie ablassen, so wie ich es ja auch zu Beginn über
den Namen des Gesetzes gemacht habe.

Gleichwohl, Herr Minister – das hatte ich gesagt –,
ist das Gesetz absolut notwendig. Wir brauchen eine
sichere Identifizierung der Schutzsuchenden. Wir wol-
len Mehrfachregistrierungen vermeiden. Vorhin beim
Tagesordnungspunkt Asylverfahrensgesetz hat Kollege
Castellucci dargelegt, dass teilweise bis zu vier unter-
schiedliche Behörden das Gleiche aufnehmen, weil sie
nicht in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren.
Das hat jetzt ein Ende. Verwaltungsverfahren werden
sehr viel effizienter ausgestaltet. Die entsprechenden Be-
hörden bekommen Zugriff auf einen Kerndatensatz und,
Frau Jelpke, auch auf weitere Daten, zum Beispiel die
Schulbildung. Das hatten Sie ja ein bisschen kritisiert.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ich habe gesagt: Nicht zu diesem Zeitpunkt! Später!)


Aber gerade für die Integration brauchen wir den Zugriff
auf solche Daten. Darum ist das ganz gut so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ulla Jelpke






(A) (C)



(B) (D)


Wir brauchen den Ankunftsnachweis auch für eine
gerechtere Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel
und letztendlich für eine Beschleunigung der Asylver-
fahren. Die Beschleunigung der Asylverfahren ist aus
vielerlei Gründen wichtig und sinnvoll. Es geht darum,
die Kommunen und auch die öffentlichen Kassen zu ent-
lasten. Aber sehr viel wichtiger ist: Kurze Asylverfahren
bedeuten auch Akzeptanz in der Bevölkerung. Kollege
Castellucci hat vorhin beim Asylverfahrensgesetz sehr
genau dargestellt, wie lange die Phase ist, bis jemand
einen Asylantrag stellt. Wir alle müssen daran arbeiten,
dass diese Phase deutlich kürzer und das gesamte Verfah-
ren schneller wird.


(Beifall bei der SPD)


Aber dieses Thema ist nicht das einzige, auf das wir
Abgeordnete Gehirnschmalz verwenden sollten, sondern
wir sollten uns auch Gedanken darüber machen: Was
kommt nach dem Asylverfahren? Es folgt, grob gesagt,
eine Entscheidung: Ja oder nein, entweder darf jemand
bleiben oder nicht. Wenn der Schutzsuchende bleiben
darf, investieren wir alle sehr viel Energie, darüber nach-
zudenken, wie wir ihn integrieren können: durch Arbeit,
Sprache, Ausbildung, Wohnung und verschiedene ande-
re Sachen. Das ist alles sinnvoll und richtig; das sollten
wir auch weiterhin so machen. Aber wir dürfen auch die
zweite Möglichkeit nicht vergessen: Was ist, wenn je-
mand abgelehnt wird? Wie können wir bewirken, dass
er seiner Ausreisepflicht nachkommt? Bisher denken wir
relativ wenig darüber nach. Ich finde, wir sollten uns
überlegen, wie wir an dieser Stelle positive Anreize set-
zen können, weil auch das die Akzeptanz des gesamten
Verfahrens stärken würde.

Herr Minister, Sie haben gesagt, Sie möchten das Ge-
setz jetzt sehr schnell umsetzen; das ist auch gut und rich-
tig so. Sie haben angedeutet: Bis zum Sommer könnte
bzw. sollte es klappen. Sie wollen die Änderungen nach
und nach einführen; das ist sicherlich der richtige Weg.
Wir müssen das, was nun geschieht, im Blick behalten.
Letztendlich werden wir Sie auch daran messen, wie
schnell das Gesetz umgesetzt werden kann. Das war Ihre
Idee, und es ist ein sehr guter Vorschlag. Der Bundestag
wird den Gesetzentwurf heute verabschieden. Dann ist
die Exekutive am Zuge; sie muss das Gesetz dann um-
setzen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Vielen herz-
lichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814920400

Ich danke auch. – Nächste Rednerin ist Luise

Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814920500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die in unserem Land ankommenden Asylsuchenden ha-
ben einen Anspruch auf ein faires und transparentes Ver-
fahren. Es geht darum, dass wir ihnen mit Respekt, Pro-
fessionalität und der Rechtsstaatlichkeit begegnen, die

nicht nur das Recht gebietet, sondern natürlich auch der
Anspruch, den wir angesichts der Schicksale der Men-
schen, die nach oft mühevollen und teilweise lebensge-
fährlichen Strapazen unser Land erreicht haben, an uns
selbst haben.

Wir sind uns hier deshalb auch weitgehend einig, dass
die Ziele des vorgelegten Gesetzentwurfes überwiegend
richtig sind. Auch wir erwarten beim Umgang mit der
Situation, dass zahlreiche Flüchtlinge und Asylbewerber
zu uns gekommen sind, eine funktionierende öffentliche
Verwaltung. Wir brauchen eine effiziente Infrastruktur,
der alle elektronischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen,
um in der ohnehin total komplexen Zuständigkeitssituati-
on zwischen Kommunen, Ländern und Bund bei der Re-
gistrierung der Asylsuchenden effektiv voranzukommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Bund ist hier in der Pflicht, eine IT-Infrastruktur
auf die Beine zu stellen, die wesentliche Entlastungen für
alle an den Verfahren Beteiligten mit sich bringt. Damit
meine ich neben den zahlreichen unterschiedlichen Be-
hörden auch die Asylsuchenden selbst, für die die Situ-
ation derzeit wirklich eine Belastung ist. Es ist für uns
deshalb von entscheidender Bedeutung, dass schnelle
Verfahren – von der Registrierung über die Stellung ei-
nes Asylantrags bis hin zu den Bescheiden – zu eindeuti-
gen, fairen Entscheidungen führen. Leider – das sage ich
wirklich mit Bedauern – enttäuscht der heute vorgelegte
Gesetzentwurf diese berechtigten Erwartungen in vieler-
lei Hinsicht, und er wirft auch eine Vielzahl neuer Fragen
auf.

Zwar haben Sie per Änderungsantrag die Wirksam-
keitsdauer des Ankunftsnachweises verlängert; das ist
gut. Aber es bleibt bei der von den Sachverständigen
am Montag im Ausschuss kritisierten Lage, dass weiter-
hin, sowohl vor als auch nach der Ausgabe dieses Do-
kuments, weitere Dokumente ausgegeben und von den
Behörden gepflegt werden müssen. Das ist eine erhebli-
che Belastung; das haben uns die Sachverständigen am
Montag verdeutlicht.

Die Grundkonstruktion Ihrer neuen IT-Infrastruktur
ist wackelig; das kann man nicht anders bezeichnen. Wer,
wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sei-
ne IT an das Bundesverwaltungsamt outsourct, zugleich
aber diesen Datenbestand mit dem datenschutzrechtlich
ohnehin stets umstrittenen Ausländerzentralregister fusi-
oniert, braucht eine Klärung der Zuständigkeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage, die sich da stellt, ist ganz klar: Wer gewähr-
leistet für genau welchen Teil dieser riesigen Datenbank-
infrastruktur, in die ja Tausende von Behörden Informa-
tionen einmelden oder aus der sie Informationen abrufen
dürfen, dass kein Missbrauch erfolgt? Sie wissen: Der
Datenschutz ist ein grünes Kernthema. Wir sind nicht
überzeugt und haben erhebliche Bedenken – das hat auch
die Beauftragte für Datenschutz deutlich gemacht –, dass
das gelingen kann.

Die Erfassung jedes einzelnen Familienmitglieds führt
zu erheblichen Mehrbelastungen für die zuständigen
Behörden. Auch das haben uns einzelne Praktiker der

Matthias Schmidt (Berlin)







(A) (C)



(B) (D)


Ausländerbehörden in der Anhörung deutlich gemacht.
Gleiches gilt für die zusätzliche Erhebung von Erken-
nungsmerkmalen, wie das Lichtbild bei Minderjährigen
und sogar Säuglingen, obwohl die gängigen Erhebungen
aus fachlicher Sicht zur Identifizierung bisher absolut
ausreichen.

Sehr verehrte Damen und Herren, so richtig es ist, mit
einer modernen IT-Infrastruktur und einer Vernetzung
der beteiligten Behörden auf diese ungeheure logisti-
sche Herausforderung aufgrund der Flüchtlingssituation
zu antworten, so wichtig ist es auch, die rechtsstaatli-
chen Vorgaben für die Schaffung einer solchen giganti-
schen Infrastruktur zu wahren. Wir sind der Auffassung,
dass für alle nach diesem Gesetzentwurf datenmäßig
erfassten Menschen gelten muss, dass sie einen vollen
Anspruch auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte ha-
ben, und dem muss der Gesetzgeber natürlich Rechnung
tragen.

Wenn künftig neben Arbeits- und Sozialbehörden so-
wie noch mehr Polizeibehörden auch noch – das ist Ihre
jüngste Erweiterung im Änderungsantrag – Gesund-
heits- und Jugendbehörden einmelden und auf Daten
zugreifen, dann verlangt das kompensierend eben mehr
Datenschutz. Sie haben versucht, mit einer gesetzlichen
Festlegung auf regelmäßige Kontrollen durch die Da-
tenschutzbehörden ein solches Gegengewicht zu schaf-
fen. Das erkennen wir auch durchaus an. Wir betonen
aber – und das ist eben auch die Einschätzung der Da-
tenschutzbeauftragten –, dass dies nur funktionieren
kann, wenn eine solche Forderung auch haushaltsmäßig
unterlegt ist. Sonst überfordern Sie die Aufsichtsbehör-
den selbstverständlich, und die Kontrolle ist dann nicht
gewährleistet.

Zum Ende möchte ich noch einmal ganz eindeutig
ansprechen, dass die Dringlichkeit und die besondere
Herausforderung durch den hohen Zugang von Asylsu-
chenden von uns allen ein besonnenes Handeln verlan-
gen. Auch wir sind bereit, hier in andere Richtungen zu
denken.

Wir stellen uns diesem Anliegen grundsätzlich über-
haupt nicht entgegen, doch die Liste der fachlichen Kri-
tikpunkte, die wir hier haben, ist lang. Ich kann sie jetzt
nicht alle auflisten, aber zum Beispiel auch die Errei-
chung des Ziels, die Verfahren zu beschleunigen, steht
aufgrund der einzelnen Punkte, die ich angeführt habe,
infrage. Daher werden wir uns bei der Abstimmung über
den Gesetzentwurf enthalten, was ich, Herr Minister,
wirklich außerordentlich bedaure, weil wir schon die
Hoffnung hatten, dass wir hier endlich auch einmal in
einer asylpolitischen Frage auf einen gemeinsamen Nen-
ner kommen.

Ich finde es wirklich bedauerlich und schade, dass
die Kritikpunkte, die am Montag im Ausschuss von den
Sachverständigen geäußert wurden, nicht in den Gesetz-
entwurf eingegangen sind, obwohl sie von Menschen aus
der Praxis geäußert wurden. Dadurch werden wir in Zu-
kunft natürlich entsprechende Probleme haben.

Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier vielleicht doch
noch zu einer Zustimmung kommen können. Unsere Kri-

tik an den einzelnen fachlichen Punkten lässt das aber
leider nicht zu. Deshalb enthalten wir uns.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814920600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Nina Warken,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Nina Warken (CDU):
Rede ID: ID1814920700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das wir heute
beschließen wollen, ist ein wichtiger Baustein, um den
Zustrom von Menschen in unser Land bewältigen zu
können. Sie, Frau Kollegin Jelpke, können, glaube ich,
auch nicht von der Hand weisen, dass Schnelligkeit hier
jetzt wirklich wichtig ist.

Gleichwohl ist natürlich auch Gründlichkeit wichtig.
Ich denke, wir sind hier sehr gründlich vorgegangen,
und wir werden auch in Zukunft bei der Umsetzung sehr
gründlich vorgehen. Ich darf den Vorwurf zurückweisen,
dass man hier nicht gründlich gearbeitet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Gesetz wird dafür sorgen, dass jeder Flüchtling
und jeder, der unerlaubt einreist, durch ein einheitliches
und vereinfachtes System umgehend zweifelsfrei regis-
triert wird. Die notwendigen Daten, wie Name, Herkunft,
Fingerabdrücke, aber auch Informationen zur beruflichen
Qualifikation und zu mit eingereisten Kindern, stehen
allen beteiligten Behörden sofort zur Verfügung. Die
Zuwanderung und die Asylverfahren können so besser
gesteuert und geordnet werden, und angesichts der aktu-
ellen Lage ist das unverzichtbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an-
hand einiger Beispiele ein wenig näher erläutern, warum
wir eine lückenlose Erfassung der Einreisenden und ei-
nen verbesserten Datenaustausch dringend brauchen:

Einen unkontrollierten Zustrom darf es nicht länger
geben. Schon aus Sicherheitsgründen müssen und wollen
wir kontrollieren, wer mit welcher Absicht zu uns kommt
und wo sich die Neuankömmlinge aufhalten. Dass dies
dringend notwendig ist, wird angesichts der erhöhten
Terrorgefahr und auch aufgrund der jüngsten Ereignisse
in Köln, Stuttgart und Hamburg niemand mehr bestrei-
ten.

Ebenso müssen wir entscheiden können, wo die Asyl-
verfahren durchgeführt werden. 2015 sind über 1 Mil-
lion Asylbewerber zu uns gekommen. Aufgrund dieser
hohen Zahl sind die Aufnahmekapazitäten inzwischen
überall in Deutschland knapp. Es kann daher nicht sein,
dass rund 30 Prozent der Asylbewerber einfach aus den
Erstaufnahmeeinrichtungen in den neuen Bundesländern

Luise Amtsberg






(A) (C)



(B) (D)


verschwinden und dort hingehen, wo es ihnen am bes-
ten gefällt. Dagegen müssen wir dringend etwas tun. Mit
dem Ankunftsnachweis und dem automatisierten Daten-
austausch werden hierfür die notwendigen Voraussetzun-
gen geschaffen. Weitere Schritte müssen folgen.

Nur wenn es uns gelingt, die Flüchtlinge in Deutsch-
land wirklich gleichmäßig zu verteilen und die Flücht-
lingszahlen deutlich zu reduzieren, werden wir in der
Lage sein, unsere Kapazitäten bestmöglich zu nutzen.
Nur so können wir auch die Mammutaufgabe Integration
bewältigen.

Deutschland hat für die Integration der Menschen, die
zu uns gekommen sind, bereits sehr viel getan und wird
dies in Zukunft erst recht tun. Aber: Integration ist keine
Einbahnstraße. Integration braucht Verbindlichkeit für
beide Seiten. Meine Damen und Herren, wir brauchen
das Datenaustauschverbesserungsgesetz, um die Integra-
tion besser zu koordinieren, und wir brauchen es für alle
Folgefragen, die sich nach der Ankunft ergeben. So weiß
zum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit künftig, wo
wie viele Flüchtlinge untergebracht sind, wie alt sie sind
und welche Qualifikation sie mitbringen. Aber auch die
Länder und die Verantwortlichen vor Ort in den Kom-
munen wissen beispielsweise, wo wie viele Familien mit
Kindern leben und wie viele zusätzliche Lehrer und Stel-
len in der Kinderbetreuung benötigt werden.

Meine Damen und Herren, auch der Datenschutz – das
wurde bereits angesprochen – muss natürlich Berücksich-
tigung finden. Er wird mit diesem Gesetz auch gewahrt.
Was zum Beispiel die besonders sensiblen Gesundheits-
daten angeht, so wird nur erfasst, ob eine Untersuchung
bereits stattgefunden hat. Das dient gerade dazu, Dop-
peluntersuchungen zu vermeiden, also auch dem Schutz
derjenigen, die zu uns kommen.

Obendrein werden im Gesetzentwurf dem Daten-
schutzbeauftragten und den Datenschützern der Länder
effektive Kontrollmöglichkeiten eingeräumt. Das war
unter anderem ein Anliegen der Länder im Bundesrat.
Deren Anregungen wurden auch im Übrigen überwie-
gend berücksichtigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am vergangenen
Montag haben wir den Gesetzentwurf bei einer Anhö-
rung mit mehreren Sachverständigen intensiv diskutiert.
Das Feedback war sehr positiv. Vor allem die Experten
aus der Asylpraxis haben betont, dass es sich um ein
gutes und wichtiges Gesetz handelt. Der Mehraufwand
wird eindeutig durch den Nutzen überwogen. Ein zentra-
les Anliegen aus der Praxis war die längere Gültigkeits-
dauer des Ankunftsnachweises, der den Asylbewerbern
künftig ausgestellt wird. Auch das haben wir noch be-
rücksichtigt.

Meine Damen und Herren, das Datenaustauschver-
besserungsgesetz spielt auch für die Strafverfolgung eine
wichtige Rolle. Mithilfe der biometrischen Daten kann in
vielen Fällen künftig leichter geklärt werden, ob Asylbe-
werber Straftaten begangen haben oder nicht. So können
zum Beispiel Fingerabdrücke und andere Daten eines
Tatverdächtigen von der Polizei mit dem Ausländerzen-
tralregister abgeglichen werden.

Meine Damen und Herren, Sie sehen an all diesen Bei-
spielen, warum wir eine lückenlose Erfassung mit biome-
trischen Daten und einen verbesserten Datenaustausch
dringend brauchen. Der vorliegende Gesetzentwurf hilft
Behörden auf allen Ebenen, für Recht und Ordnung zu
sorgen. Das ist sowohl im Interesse der Schutzsuchenden
als auch im Interesse unserer Sicherheit, für die wir 2016
mehr denn je kämpfen müssen. Sorgen wir also gemein-
sam dafür, dass das Gesetz so schnell wie möglich umge-
setzt werden kann!

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814920800

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die

Kollegin Daniela Kolbe.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1814920900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich will mich bei diesem wichtigen Ge-
setz auf den integrationspolitischen Mehrwert, den es
auch hat, konzentrieren. Wenn dieser Tage ein Flüchtling
nach Deutschland kommt, hat er oft eine sehr gefährli-
che Reise hinter sich und ist froh und dankbar, dass er in
Deutschland in Sicherheit ist.

Hier beginnt allerdings eine neue Reise, und zwar
durch den Behördendschungel Deutschlands. Nach
Aufnahme in die erste Notunterkunft wird er nach dem
Königsteiner Schlüssel weiterverteilt. Er lebt oft in un-
terschiedlichen Erstaufnahmeeinrichtungen, wird dann
an die Kommunen weiterverteilt und kann sich anschlie-
ßend womöglich eine Wohnung suchen. Er hat im Laufe
der Zeit Kontakt zu unzähligen Behörden, wird oft mehr-
fach registriert. Er hat Kontakt zur Bundespolizei, zur
Landespolizei, zu Ausländerbehörden, zum Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge sowie, wenn er Kinder hat,
zum Sozialamt, zum Jugendamt, zu Kitas, Schulen usw.

Wenn er sich dann – hoffentlich möglichst schnell – in
der Bundesagentur befindet oder, wenn er schon aner-
kannt ist, im Jobcenter einem Berater oder einer Beraterin
gegenübersitzt, dann weiß dieser bzw. diese nichts über
ihn, nicht, was der Flüchtling für einen Berufsabschluss
hat, nicht, wie er heißt und woher er kommt. Alles muss
mithilfe eines Dolmetschers mühselig eruiert werden.
Das ist im Moment der Stand. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, so konnte das eindeutig nicht weitergehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wissen, dass Arbeit zusammen mit Sprache eine
der wichtigsten Voraussetzungen für ein Gelingen der
Integration ist. Deshalb müssen wir investieren, damit
diese Integration möglichst schnell gelingt. Dazu braucht
es eine qualifizierte Beratung. Mit dem vorliegenden Ge-
setz, das wir heute beraten und verabschieden wollen,
wird genau das ermöglicht.

Nina Warken






(A) (C)



(B) (D)


Der starke Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 hat uns
ganz deutlich vor Augen geführt, dass wir in unserem
Asylverfahren und im Verwaltungsapparat starke Defizi-
te haben. Eines der gravierendsten Defizite bisher: zu we-
nig Kommunikation zwischen den Behörden, aber auch
zu wenig valide Daten. Das sieht man auch im Bereich
Arbeitsmarkt ganz klar.

Das IAB hat ein paar Kenntnisse über die berufliche
Qualifikation von Flüchtlingen, und zwar aus dem Pro-
jekt „Early Intervention“, einem sehr kleinen Projekt. Da-
rüber hinaus wissen wir recht wenig über die Menschen,
die gerade zu uns kommen. Das ist höchst bedenklich,
wenn man sich klarmacht, dass wir dabei sind, Program-
me für die Flüchtlinge aufzulegen. Eigentlich sollten wir
diese Programme auf Grundlage von validen Daten ent-
wickeln. Diese aber liegen leider noch nicht vor.

Deswegen bin ich froh und glücklich, dass jetzt das
Datenaustauschverbesserungsgesetz kommt. Im Aus-
länderzentralregister werden jetzt zusätzlich freiwillige
Daten über Schulbildung, Berufsausbildung und sonstige
Qualifikationen möglichst gleich beim Erstkontakt ge-
speichert. Alle öffentlichen Stellen können darauf zugrei-
fen, endlich auch die für Asylbewerberleistungen zustän-
digen Behörden und die Bundesagentur für Arbeit, also
die Stellen, die für die Grundsicherung zuständig sind,
und auch die Jugendämter – das ist für die unbegleite-
ten minderjährigen Flüchtlinge wichtig –; darauf hat der
Bundesrat hingewirkt.


(Beifall bei der SPD)


Sie können die Daten abrufen, aber auch welche über-
mitteln. Ein Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit
kann zum Beispiel eintragen, wenn ein Integrations-
kurs begonnen oder absolviert worden ist. Er kann eine
Adress änderung speichern. Auch hier ist das Ganze keine
Einbahnstraße, sondern hier ist eine vorbildliche Kom-
munikation vorgesehen.

Ein weiterer wegweisender Schritt: Das BAMF erhält
endlich Daten zu Forschungszwecken. Das ist enorm
wichtig, da eine große Zahl Menschen zu uns kommt,
über die wir noch recht wenig wissen. Wenn wir diese
Aufgabe aber gut bewältigen wollen, dann lohnt sich die
Neugierde, und dann lohnt sich jede Forschungsanstren-
gung, damit wir diese Menschen gut integrieren und gut
auf die Bedarfe reagieren können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Fazit: Das Gesetz ist wichtig. Es kommt endlich. Es ist
überfällig; da müssen wir uns nichts vormachen. Es wird
die Integration von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt
und die Arbeit der Menschen in der BA und in den Job-
centern stark verbessern und vereinfachen.

Ja, ich kann nur dafür werben, sich hier nicht einfach
zu enthalten, wie das die Opposition macht, sondern die-
sem wichtigen Schritt hin zu mehr Integration zuzustim-
men. Ich jedenfalls werde das mit großer Freude tun.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814921000

Vielen Dank. – Als letzte Rednerin zu diesem Tages-

ordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Andrea Lindholz
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Andrea Lindholz (CSU):
Rede ID: ID1814921100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben seit Monaten, wie der deutsche Staat ver-
sucht, die Migration bzw. den hohen Zuzug in Deutsch-
land zu steuern. Im September letzten Jahres schätzte
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass sich
rund 290 000 unregistrierte Migranten in Deutschland
aufhalten. Für einen hochentwickelten Rechtsstaat wie
Deutschland ist das untragbar. Flüchtlinge haben sich
teilweise selbst verteilt und haben selbst bestimmt, wo
sie hingehen. Wir als Staat müssen den Flüchtlingsstrom
steuern. Deswegen wollen wir heute mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf einen weiteren Baustein setzen, um
den deutschen Behörden bessere Handlungsmöglichkei-
ten zur Steuerung einzuräumen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zentrales Ziel dieses Gesetzentwurfes ist die schnelle
und flächendeckende Registrierung aller Asylsuchenden
und der systematische Datenaustausch zwischen allen
Behörden, die mit Asylbewerbern zu tun haben, damit
insbesondere Doppelerfassungen, so wie wir das in der
Vergangenheit erlebt haben, vermieden werden.

Wir schaffen damit ein neues Kerndatensystem, das
auf bestehenden Infrastrukturen des Ausländerzentralre-
gisters aufbaut und schon beim ersten Kontakt mit dem
Asylbewerber künftig einen umfassenden Datensatz an-
legt, der später durch die anderen Behörden weitergeführt
wird. Stammdaten wie Name, Herkunftsland, Geburtsda-
tum, Fingerabdruck, Lichtbild, Anschrift und Telefon-
nummer werden ebenso gespeichert wie Informationen
über den Aufenthaltsstatus, Gesundheitsprüfungen, Imp-
fungen, Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikationen
oder auch Integrationsleistungen.

Leistungsansprüche, sehr geehrte Frau Kollegin
Jelpke – das müssten Sie eigentlich am Montag in der
Anhörung mitbekommen haben, wenn Sie unserem
Staatssekretär Ole Schröder zugehört haben –, sind davon
nicht umfasst. Sie können im Gesetz nachlesen, dass der
Asylwunsch in Deutschland Leistungen nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz auslöst. Im Asylverfahrensge-
setz ist ganz klar geregelt, welche Leistungsansprüche
in Aufnahmeeinrichtungen bestehen. Insofern habe ich
manchmal den Eindruck, dass Sie bewusst versuchen,
Dinge nicht oder misszuverstehen, um gute Vorhaben zu
verhindern. Das neue Gesetz hat mit Leistungsanspruch
nichts, aber auch gar nichts zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Das komplexe Kerndatensystem sollen viele Behör-
den gleichzeitig nutzen: die Bundespolizei, das Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge, die Landespolizeien,

Daniela Kolbe






(A) (C)



(B) (D)


die Ausländerbehörden, die Bundesagentur für Arbeit,
die Sozial- und Verwaltungsgerichte und auch, liebe Frau
Kollegin Amtsberg, wie von den Kommunen und Län-
dern gefordert, Gesundheitsbehörden und Jugendämter.
Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind die Bundesländer
mehrheitlich rot-grün regiert. Es passiert uns oft, dass
hier von Ihnen etwas anderes gesagt wird als von Ihren
Kolleginnen und Kollegen in den Ländern,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


die da sind, wo die Arbeit geleistet wird, und für weniger
Bürokratie und weniger Doppelerfassungen eintreten.

Auch das BKA und die Nachrichtendienste sind betei-
ligt. Es wird künftig unverzüglich ein Sicherheitsabgleich
durchgeführt. Das ist wichtig, damit gefährliche Perso-
nen wie der letzte Woche in Paris getötete Attentäter, der
jahrelang unter verschiedenen Namen in Deutschland
gelebt hatte, leichter identifiziert werden können. In der
Anhörung am Montag haben uns die Sachverständigen
auf ausdrückliche Nachfrage bestätigt, dass das Kern-
datensystem auch die Strafverfolgung und Ausweisung
von Straftätern erleichtern kann. Dass der Fingerabdruck
schon beim Erstkontakt genommen und gespeichert
wird, ist dabei ein wichtiges Instrument. Der Asylbewer-
ber erhält einen fälschungssicheren Ankunftsnachweis,
der über einen QR-Code elektronisch auslesbar ist.

Ja, Frau Kollegin Jelpke, man erhält mehrere Beschei-
nigungen. Ich empfehle Ihnen, einmal das Wartezentrum
in Feldkirchen oder Erding zu besuchen. Schauen Sie sich
an, wie das ist, wenn man 3 000 bis 10 000 Menschen am
Tag im Erstkontakt registrieren muss! Dann ist völlig klar,
dass man beim ersten Mal aufgrund einer solchen Menge
nicht so viele Daten direkt sammeln kann, dass es für den
fälschungssicheren Ankunftsnachweis reicht, den man
dann bekommt, wenn man an dem Ort angekommen ist,
zu dem man hinverteilt worden ist. Das ist auch richtig so;
denn so können wir Migration endlich steuern.

Auch Ihnen empfehle ich: Schauen Sie sich einmal die
Realität vor Ort an! Reden Sie mit den Leuten, statt im-
mer nur hier Reden über Entbürokratisierung zu schwin-
gen, die nichts, aber auch gar nichts mit der Praxis zu tun
haben!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Wir wollen also mit diesem Gesetzentwurf für mehr
Sicherheit und gezieltere Integrationsarbeit sorgen. An
der einen oder anderen Stelle gibt es Mehraufwand, aber
alle oder zumindest die meisten Sachverständigen waren
sich einig, dass unter dem Strich mehr Arbeitsersparnis
herauskommt und dass es ein guter Gesetzentwurf ist.
Insbesondere die Vertreter der kommunalen Spitzenver-
bände haben ihn ausdrücklich befürwortet. Sie warten
dringend darauf. Deshalb kann ich nicht verstehen, wa-
rum die Grünen sich enthalten wollen.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt liegt es am Ton!)


Sie kneifen. Ich habe es schon einmal gesagt: Von Ihnen
kommen keine guten Vorschläge. Vorhin kam ein Vor-

schlag, der völlig überflüssig war. Jetzt wollen Sie sich
enthalten.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht liegt es am Ton und am Respekt!)


Das ist Ihre Politik. Das ist eine Verhinderungspolitik
auch bei guten Maßnahmen zulasten der Kommunen und
der Städte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814921200

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung der Registrierung und
des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrecht-
lichen Zwecken. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/7258, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/7043 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung bei Enthaltung der Opposition angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-
vor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses zu dem von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung der Registrierung und des Datenaustau-
sches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken. Der
Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/7258, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7203
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gesetz zur Regulierung der Prostitutionsstät-
ten vorlegen

Drucksache 18/7243
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss

Andrea Lindholz






(A) (C)



(B) (D)


b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Selbstbestimmungsrechte von Sexarbeiterin-
nen und Sexarbeitern stärken

Drucksache 18/7236
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich sehe dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte, den Platztausch zügig vorzunehmen und die
Gespräche draußen vor dem Plenarsaal fortzuführen.
Wenn dem dann so ist, können wir die Sitzung fortset-
zen. – Vielen Dank.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen.


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814921300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin Schwesig –
sie ist nicht anwesend –, ich erinnere mich gut an Ihre
Ankündigung, ein Gesetz mit klaren Regelungen für die
legale Prostitution in Deutschland vorzulegen, die dem
Schutz der Frauen dienen. Das waren die Worte der Mi-
nisterin. Wir können festhalten: Das ist Ihnen nicht ge-
lungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach zwei Verhandlungsjahren steckt der Entwurf eines
Prostitutionsgesetzes in einer totalen Sackgasse. Sie und
die Union haben es nicht hinbekommen, sich wenigstens
auf klare Ziele zur Verbesserung der Arbeitssituation von
Prostituierten zu verständigen. Dieses Desaster ist Ihre
Verantwortung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Frau Ministerin, den Namen „Prostituiertenschutzge-
setz“ hat Ihr Gesetzentwurf mitnichten verdient. Es geht
darin nicht um den Schutz von Prostituierten. Im Gegen-
teil: In erster Linie geht es um Entmündigung und die
Fortsetzung der Stigmatisierung von Prostituierten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Jetzt wurden Sie von der Realität der Praxis eingeholt.
Die Länder haben Alarm geschlagen, weil der Gesetzent-
wurf zudem Folgendes ist: ein teures Bürokratiemonster
für die Kommunen, ein Bürokratiemonster, das keiner
Prostituierten nutzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass
sich Prostituierte für jede sexuelle Dienstleistung ver-
pflichtend anmelden sollen, auch wenn sie nur gelegent-
lich stattfindet. Hinzu kommt: Die Behörde kann bei der
Anmeldung eine Beratungsstelle hinzuziehen ohne Ein-
verständnis der Prostituierten. Das ist paternalistisch und

beschneidet das Selbstbestimmungsrecht von Prostituier-
ten. Mit der Pflicht zur Anmeldung drängen Sie Prostitu-
ierte durchaus in die Illegalität, mit der Konsequenz, dass
ihnen dann jeglicher Schutz fehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Vor allem Sie von der Union behaupten, eine ver-
pflichtende Gesundheitsberatung sei hilfreich für die
Prostituierte. Glauben Sie das wirklich, Kollegin Pantel?
Glauben Sie wirklich, dass zum Beispiel mögliche Opfer
von Menschenhandel entdeckt werden können, weil sie
sich in einer Behörde in einem Gespräch jemand Frem-
dem anvertrauen? Selbst in Fachberatungsstellen für
Menschenhandel brauchen Betroffene Monate, um Ver-
trauen zu fassen und sich zu öffnen. Hier zeigt sich, so
finde ich, eines sehr klar: Es geht Ihnen um Kontrolle.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Es geht um Schutz!)


Es geht Ihnen nicht darum, Prostituierten wirklich zu hel-
fen. Darum geht es Ihnen nicht. Nein, meine Damen und
Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist eine Unterstellung!)


Ihre Vorschläge – das kommt hinzu; so argumentieren
Sie seit Monaten – bieten keine Lösung gegen Menschen-
handel und gegen Zwangsprostitution. Die Menschen-
händler brauchen die Prostituierten nur zur Anmeldung
und zur Gesundheitsberatung zu schicken und entziehen
sich jedem Verdacht. Sie riskieren mit Ihrem Vorschlag,
dass Zuhälter unter dem Deckmantel der Legalität Frau-
en als Zwangsprostituierte missbrauchen, anstatt wirk-
sam gegen Menschenhandel vorzugehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Wer hat Ihnen das denn zusammengeschrieben?)


– So ist das.

Wir Grüne fordern – das sage ich in aller Deutlich-
keit –, dass Sie die Menschenhandelsrichtlinie endlich
umsetzen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn Ihr Zögern geht auf Kosten der Opfer. Was wir
brauchen, sind effektive Maßnahmen, die die Strafver-
folgung verbessern und die Opfer stärken. Entkoppeln
Sie endlich das Aufenthaltsrecht von der Aussagebereit-
schaft der Opfer!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Erweitern Sie die Opferentschädigungsrechte, und über-
arbeiten Sie den Straftatbestand „Menschenhandel“, da-
mit er endlich praxistauglich wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Vizepräsidentin Ulla Schmidt






(A) (C)



(B) (D)


Liebes Ministerium, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Union und SPD, Ihre Aufgabe ist simpel: Legen
Sie den unstrittigen Teil Ihres Gesetzentwurfs vor, näm-
lich den, der den Schutz von Prostituierten verbessert,
das Prostitutionsstättengesetz. Genau darauf zielt unser
grüner Antrag ab: eine Erlaubnispflicht für Prostituti-
onsstätten mit Schutzregelungen, Geschäftsplan, Doku-
mentationspflichten und Überprüfung der Bordellbetrei-
benden. So können unter anderem auch ausbeuterische
Geschäftsmodelle erkannt und unterbunden werden. Sor-
gen Sie dann noch dafür, dass die freiwillige Beratung
bundesweit ausgebaut wird. Gehen Sie hier mit, damit
das gesamte Vorhaben, das vor zwei Jahren auf den Weg
gebracht wurde, jetzt nicht gegen die Wand fährt.

Unsere Forderung ist Teil Ihres eigenen Vorschlags
zur Regulierung von Prostitutionsstätten. Sie haben es in
der Hand, diese Reform jetzt nicht scheitern zu lassen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814921400

Vielen Dank. – Der Kollege Marcus Weinberg von der

CDU/CSU-Fraktion wird jetzt darauf antworten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1814921500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Frau Schauws, fangen wir einmal an: Sie haben
beim Thema Prostitution eine Geschichte.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Sie haben nicht weitergemacht!)


Sie haben 2002 ein Prostitutionsgesetz verabschiedet,
das in den letzten 14 Jahren elendig gescheitert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass Sie uns hier vorschreiben wollen, wie wir auf den
aktuellen Stand reagieren sollen, finde ich schon ziem-
lich frech.

Ich zitiere einfach einmal einen Reporter von VICE
Project, der vor wenigen Tagen in der Story im Ersten
zum Thema „Ware Mädchen“, die Sie sicherlich gesehen
haben, die Situation aktuell in Deutschland beleuchtet
hat. Er hat Folgendes gesagt: Als Deutschland und die
Schweiz die Prostitution legalisiert haben, war das eine
gute Nachricht für die Menschenhändler. – Das ist das
Ergebnis, das wir heute, 14 Jahre später, erleben. Wir
haben Ausbeutung, teilweise Sklaverei; wir haben eine
völlige Fremdbestimmung von weiten Teilen der Pros-
tituierten.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind denn Ihre Vorschläge gegen den Menschenhandel? Wo sind sie denn?)


– Zu meinen Vorschlägen komme ich gleich. – Ich kann
Ihnen Folgendes dazu sagen: Es sind heute mittlerwei-
le Hunderttausende von Prostituierten, die in Deutsch-

land gezwungen werden, zu arbeiten; davon sind 70 bis
80 Prozent aus Osteuropa, die nach Deutschland gelockt
werden und die aufgrund der legalen Prostitution nach
Deutschland gekommen sind. Wir haben mittlerweile
eine Armutsprostitution, die billig, widerlich und übri-
gens auch gefährlich ist. Deswegen haben wir als Union
gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass es um den Schutz von Frauen geht. Es geht auch um
die Rechte der Prostituierten; aber es geht erst einmal um
den Schutz der Prostituierten.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn gemacht?)


Das Thema ist uns wichtig. Deswegen werden wir das
aufnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man muss auch einmal darüber diskutieren, über wen wir
eigentlich reden. Die Verhältnisse müssten Ihnen bekannt
sein. Wenn nicht, sollten Sie sich darüber informieren, in
welchen Verhältnissen die jungen Mädchen leben.

Dann geht es um die Frage, was die Aufgabe eines
Prostituiertenschutzgesetzes ist. Der Staat hat sich um die
Schwachen der Gesellschaft zu kümmern. Wir reden hier
nicht in erster Linie über die Hausfrauen, die nebenbei
Geld verdienen, über die Studierenden, die sich ihr Studi-
um damit finanzieren, oder über einen Escortservice, bei
dem man Tausende Euro in einer Nacht verdient. Wir re-
den hier über die Frauen, die keiner sieht. Die Ministerin
Schwesig hat einmal gesagt: In meinem Fokus steht die
Frau, die nicht sichtbar ist. – Es ist unsere Aufgabe, die
zu schützen, die keinen Schutz haben, und das werden
wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz umsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die gesamte Diskussion über die Frage des Schutzes
von Frauen und die Stärkung der Rechte von Frauen ist
bei uns in der Union mit klaren Zielvorgaben mit Blick
auf das Prostituiertenschutzgesetz verbunden. Wenn wir
ein Gesetz machen – das haben wir nach dem Scheitern
Ihres Prostitutionsgesetzes gelernt –, dann muss es ge-
wisse Zielvorgaben erfüllen. Es hilft uns kein Gesetz,
das von der Branche umgangen wird. Es hilft uns kein
Gesetz, das weiße Salbe ist. Vielmehr muss das Gesetz
nachhaltig wirken. Deswegen brauchen wir klare, ver-
bindliche Regelungen zum Schutz der schwachen Frau-
en.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814921600

Herr Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Schulz-Asche?


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1814921700

Aber gerne.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Weinberg, ich möchte Sie nach Ihren
Ausführungen fragen, warum die Bundesregierung die
EU-Verordnung zum Kampf gegen Menschenhandel und
Arbeitsausbeutung bisher noch nicht vollständig umge-

Ulle Schauws






(A) (C)



(B) (D)


setzt hat? Diese Verordnung hat genau die prostituierten
Frauen, die Sie gerade erwähnt haben und deren Leid Sie
beschrieben haben, im Blick. Warum ist diese Verord-
nung noch nicht vollständig umgesetzt worden?


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1814921800

Wir werden sie gemeinsam mit unserem Koalitions-

partner, der SPD, zügig umsetzen ebenso wie die grund-
sätzlichen Regelungen, die wir im Prostituiertenschutz-
gesetz vorsehen werden.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn? Seit zwei Jahren machen Sie was und bringen nichts auf die Kette!)


Noch einmal: Es gilt der Grundsatz, dass wir das, was wir
machen, vernünftig und gut machen und keine Schnell-
schüsse produzieren, die am Ende nicht wirken.

Ich will zu dem entscheidenden Punkt kommen, der
immer wieder angesprochen wird. Ich meine die Frage:
Was muss ein Gesetz eigentlich gewährleisten? Ihre Re-
aktion auf die jetzige Situation ist, zu fordern, dass wir
die Beratung ausbauen. Vor allen Dingen müssen wir Ih-
rer Meinung nach dafür sorgen, dass Stigmatisierung ver-
hindert wird. Dagegen haben wir nichts. Auch wir wollen
keine Stigmatisierung. Wir wollen aber etwas mehr als
nur Beratung: Wir wollen den Schutz dieser Personen,


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch, nur nicht mit Zwang!)


und der ist dringend geboten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will in diesem Zusammenhang zitieren, was in der
erwähnten Reportage in der ARD eine verdeckte Ermitt-
lerin sagte: Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben,
dass sie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgen
ernst nehmen. Haben sie das Gefühl, dass man ernsthafte
Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel, dass man NGOs
einbindet, die eng an den Mädchen dran sind, und das
aufrechterhält, sagen sie aus. – Unser Ansatz ist: Wir
wollen nicht, dass sich diese Mädchen nur einmal irgend-
wo vorstellen. Wir wollen sehen, wie es diesen Mädchen
geht, und ihnen Angebote machen, dass sie dauerhaft,
nachhaltig dahin gehend beraten werden, aus dieser Sze-
ne auszusteigen.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden nicht über Menschenhandel! Wir reden über Prostitution! Sie kennen den Unterschied gar nicht, Herr Kollege!)


Deswegen werden wir bei gewissen Themen wie der
Gesundheitsberatung darauf achten, die Mädchen dauer-
haft zu begleiten, sie immer wieder zu beraten und zu
schauen, wie wir ihnen Angebote zum Ausstieg machen
können. Für uns gilt auch: Wir wollen mit der Anmelde-
pflicht für Prostituierte keine Stigmatisierung. Aber wenn
man diesen Mädchen, die für viele nicht sichtbar sind,
helfen will, dann muss man wissen, wo sie sich aufhalten

und wie man ihnen Schutz gewähren kann. Deshalb muss
die Anmeldepflicht im Gesetz verankert sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht verstanden, Herr Weinberg! Sie haben es immer noch nicht verstanden!)


Über diese Punkte befinden wir uns in der Koalition
in intensivsten Gesprächen; aber wir meistern das. Noch
einmal: Statt ein schlechtes Gesetz zu machen – wir ha-
ben Ihr Beispiel vor Augen –, machen wir lieber ein gutes
Gesetz. Wir bemühen uns, in den kommenden Wochen –
damit verbunden ist ein Appell in Richtung SPD – ei-
nen Gesetzentwurf vorzulegen; denn – das sagen wir als
Frauenpolitiker, die hier Verantwortung haben – wir kön-
nen es uns nicht erlauben, noch länger zu warten. Mit der
jetzigen Situation muss endlich Schluss gemacht werden.
Insofern bin ich guter Dinge, dass wir mit der SPD in den
nächsten Wochen zu einer Lösung kommen – im Sinne
der zu schützenden Frauen.

Ich will zum Schluss ein letztes Mal aus der Repor-
tage in der ARD zitieren. „Liane“ sagt dort Folgendes:
Mehr Kontrolle – eine Betroffene spricht also von mehr
Kontrolle –, mehr Aufmerksamkeit auf Prostitution, das
würde schon helfen. – Wenn man nachts durch die Bor-
delle in Berlin geht, dann findet man über 100 Mädchen,
die ihre Arbeit nicht machen möchten, und genau das ist
das Problem, vor dem wir stehen: Mehr und mehr Men-
schen werden zur Prostitution gezwungen. Immer weni-
ger machen diese Arbeit selbstbestimmt. Deswegen müs-
sen wir als Staat, der die Schwachen zu schützen hat, das
Grundelement des Schutzes stärken. Das machen wir mit
einem Prostituiertenschutzgesetz. Dabei wird es darauf
ankommen, den Schutz wirklich zu gewährleisten und
die Rechte zu stärken.

Frau Schauws, schauen Sie sich die Situation in die-
sem Land an; es ist vom „Bordell Deutschland“ die Rede.
Da reicht es bei allem Respekt nicht aus, die Beratungs-
angebote zu verbessern. Das machen wir auch. Aber da-
rüber hinaus haben wir die wirklichen Ursachen von Pro-
stitution zu bekämpfen, und das werden wir mit einem
Gesetz machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814921900

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Cornelia

Möhring, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Möhring (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814922000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Weinberg, ich finde das schon geradezu gruselig:
Sie sagen, Sie wollen keine Stigmatisierung, aber ma-
chen das in einer Tour.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kordula Schulz-Asche






(A) (C)



(B) (D)


Sie sagen, Sie wollen den Schutz der Prostituierten,
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter; doch Sie legen keinen
einzigen Vorschlag vor, wie diese tatsächlich geschützt
würden. Ich will Ihnen das beweisen.

Sie wollen mit Ihrem Prostituiertenschutzgesetz eine
Anmeldepflicht, eine verpflichtende Gesundheitsbera-
tung; Sie wollen Kondompflicht. Ich sage Ihnen: Lassen
Sie das einfach stecken! Sie verfehlen nämlich das Ziel
komplett.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie tun noch mehr. Sie schrammen nämlich mal eben an
einer Einschränkung von Grundrechten vorbei, und das
ist keineswegs akzeptabel.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Vor 14 Jahren – Sie haben es erwähnt – ist Prostitution
legalisiert worden. Seitdem fällt Prostitution auch unter
die Berufsfreiheit, geregelt in Artikel 12 des Grundge-
setzes.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ganz toll, ja!)


Das heißt im Übrigen nicht, dass Sexarbeit ein Beruf wie
jeder andere ist; aber das heißt – das ist der eigentliche
Punkt –: Prostitution ist legal, ist ein Beruf, und Prosti-
tuierte dürfen in ihrer Berufsfreiheit nicht eingeschränkt
werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen müssen die Berufsbedingungen geregelt, und
die Rechte derjenigen gesichert werden, die in dieser
Branche arbeiten, so wie es meine Fraktion in ihrem An-
trag fordert.

An den geltenden Bedingungen der Prostitution – da
haben Sie recht – ist viel zu verändern. Vor allem im
Bereich der Armutsprostitution herrschen entsetzliche
Zustände. Viele nehmen Drogen. Der Ausstieg ist schon
deswegen so schwer, weil oft niemand erfahren darf,
dass einer Arbeit im Prostitutionsgewerbe nachgegan-
gen wird. Viele Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter können
sich schlicht nicht outen. Aber mit einer Anmeldepflicht
wirken Sie zusätzlich stigmatisierend und erschweren
den Ausstieg, und Sie erschweren die Ausübung des Be-
rufs unverhältnismäßig.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns
doch nichts vor: In den letzten zwei Jahren, in denen wir
hier diese Debatte führen, ist die gesellschaftliche Stig-
matisierung gewachsen,


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Nein, die Anzahl der Armutsprostituierten ist gewachsen!)


und zwar genau deshalb, weil zwei Themen unzulässig
vermischt werden, wie Sie das hier eben auch wieder ge-
macht haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie vermischen die legale Prostitution mit den Straftat-
beständen – ich wiederhole: den Straftatbeständen – des
Menschenhandels und der Zwangsprostitution.

Ja, Regelungen im Prostitutionsgewerbe muss es ge-
ben. Aber Ausgangspunkt für diese Regelungen müssen
doch der konkrete Bedarf und der tatsächliche Schutz der
darin Tätigen sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist eben ein Unterschied, ob drei Frauen in einem Woh-
nungsbordell arbeiten, 150 Frauen in einem Großbordell
oder einzelne Frauen in ihrem eigenen Studio oder in ei-
ner Flatratebar. Deswegen müssen die Mindeststandards
angepasst sein; sie müssen zu den Bedingungen passen.
Es ist letztlich egal, wo Prostituierte arbeiten – es ist zu
gewährleisten, dass sie das ohne Beeinträchtigung ihrer
sexuellen Selbstbestimmung selbstständig tun können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Weinberg, Sie
schützen doch nicht wirklich die, die besonderen Schutz
brauchen. Keine einzige Zwangsprostituierte hätte auch
nur einen Fortschritt zu erwarten, wenn die Bundesre-
gierung ihr Vorhaben umsetzt. Sie regeln eben nicht die
dafür eigentlich erforderlichen Ausstiegsprogramme,
Sprachkurse, Arbeitsmöglichkeiten jenseits der Prosti-
tution. Sie regeln kein Aufenthaltsrecht unabhängig von
der Aussagebereitschaft. Armutsprostitution wird doch
nicht durch Regulierung verhindert. Dafür braucht es die
Bekämpfung von Armut. Dafür braucht es soziale Ga-
rantien, anständig bezahlte Arbeit und die Stärkung des
Selbstbestimmungsrechts.


(Beifall bei der LINKEN)


Für diejenigen, die sich nach rationalen Erwägungen
entschieden haben, diesem Broterwerb nachzugehen,
werden die Arbeitsbedingungen durch Ihre Vorhaben
erheblich erschwert. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter
brauchen, damit sie unabhängig zum Beispiel von Groß-
bordellbetreibern ihren Beruf frei ausüben können, eine
Stärkung ihrer Rechte und eine Verbesserung ihrer so-
zialen Situation. Konkret: Sie brauchen den Zugang zu
den Systemen der sozialen Absicherung. Sie brauchen
klare Mindeststandards für Prostitutionsstätten, einen
Ausbau der aufsuchenden und nicht der verpflichtenden
Beratungs- und Informationsangebote. Prostituierte oder
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter brauchen so starke
Rechte, dass ein Zwang unmöglich wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814922100


Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Ulrike Bahr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Cornelia Möhring






(A) (C)



(B) (D)



Ulrike Bahr (SPD):
Rede ID: ID1814922200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Prostitution – ein Thema, das auch
im 21. Jahrhundert und mehr denn je von kontroversen
Debatten begleitet wird, ein Thema, das, obwohl es vie-
le Emotionen weckt und manche auch in Rage bringt,
zumeist und vor allem von außen betrachtet wird, ein
Thema, das nach wie vor nicht selten neben oder gar
außerhalb der Gesellschaft zu laufen scheint. Dieses Au-
ßenstehen war ein Antrieb für das Prostitutionsgesetz,
das 2002 unter Rot-Grün in Kraft trat. Dieses Gesetz war
ein wichtiger Schritt und ein Paradigmenwechsel. Sein
Ziel war es, die Prostituierten aus der Schattenwelt der
Sittenwidrigkeit herauszuholen und ihnen mit der Mög-
lichkeit regulärer Beschäftigungsverhältnisse den Weg in
unser soziales Sicherungssystem zu öffnen.

Heute wissen wir, dass sich die Erwartungen, die die
Mütter und Väter dieses Gesetzes damals hatten, nur zum
Teil erfüllt haben. Hier besteht weiterhin großer Hand-
lungsbedarf. Insbesondere betrifft dies die Notwendig-
keit, Prostitutionsstätten besser zu regulieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darin besteht sowohl in der Regierung als auch in den
Koalitionsfraktionen durchaus große Einigkeit. Der Blick
auf die Anträge aus Ihren Reihen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Fraktionen von Grünen und Linken, signa-
lisiert mir ebenfalls Zustimmung für eine durchdachte
Konzessionierung von Prostitutionsstätten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
uns in der Großen Koalition durchaus bewusst, dass hier
politisches Handeln notwendig ist. Genau vor diesem
Hintergrund hatten wir uns bereits im Koalitionsvertrag
darauf verständigt, dass wir das Prostitutionsgesetz von
2002 mit Blick auf eine bessere Regulierung der Prosti-
tution überarbeiten wollen. Das ist für uns ein Arbeits-
auftrag, der schon damals ganz klar in Richtung einer
Prostitutionsstättenregelung zum Schutz der dort tätigen
Frauen und Männer zielte. Dass wir hier zusammen mit
dem Frauenministerium bessere Regelungen einführen
wollen, steht völlig außer Frage.

Dazu gehört unter anderem auch eine Erlaubnispflicht
für den Betrieb von Prostitutionsstätten. Diese Erlaub-
nispflicht, die auf der Einhaltung von Mindeststandards
fußt, ist ein ganz zentrales Element des geplanten Pro-
stituiertenschutzgesetzes. So soll und darf künftig die
Erteilung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitu-
tionsstätte erst erfolgen, wenn hygienische, räumliche
oder gesundheitliche Mindestanforderungen ausreichend
erfüllt sind und wenn zudem die Zuverlässigkeit des Be-
treibenden oder der Betreibenden zweifelsfrei feststeht.
Sofern sich anhand des vorzulegenden Betriebskonzepts
Hinweise ergeben, dass beispielsweise das Recht auf se-
xuelle Selbstbestimmung eingeschränkt werden könnte,
darf eine Erlaubnis natürlich gar nicht erst erteilt wer-
den. Es steht außer Frage, dass im Falle rechtskräftiger
Verurteilungen beispielsweise wegen Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen die körperli-
che Unversehrtheit die Zuverlässigkeit einer Betreiberin
oder eines Betreibers nicht gegeben ist. Natürlich muss

eine Betriebserlaubnis auch widerrufen werden, sollten
beispielsweise im Nachgang zur Erteilung der Erlaubnis
Verstöße offenkundig werden.

Darüber hinaus soll es ein Werbeverbot für unge-
schützten Geschlechtsverkehr geben. Selbstverständlich
wird es auch die Pflicht geben, Kondome bereitzuhalten
und in den Räumen auf die verpflichtende Verwendung
von Kondomen hinzuweisen.

Wie Sie sehen, gibt es durchaus Überschneidungen
zwischen unserem Vorhaben und Ihren Anträgen. Glei-
ches gilt bei der geplanten Präzisierung des § 3 des
Prostitutionsgesetzes. Wir wollen und werden ganz in
Ihrem wie auch im ursprünglichen Sinne noch einmal
klarstellen: Weisungen im Rahmen abhängiger Beschäf-
tigungsverhältnisse, die Art oder Ausmaß der Erbringung
sexueller Dienstleistungen vorschreiben, sind absolut un-
zulässig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Zusammenhang ist mir wichtig, noch ein-
mal zu betonen, dass sich dieses Gesetzesvorhaben ganz
konkret auf den Bereich der legalen Prostitution bezieht.
Zweifellos helfen transparente Rahmenbedingungen und
bessere Kontrollmöglichkeiten in diesem Gewerbe da-
bei, die Trennlinien zwischen freiwilliger, legaler Pros-
titution auf der einen Seite und Zwangsverhältnissen auf
der anderen Seite scharf zu ziehen. Der konkrete Kampf
gegen verabscheuungswürdige Verbrechen wie Zwangs-
prostitution und sexuelle Ausbeutung sowie Menschen-
handel ganz generell muss jedoch vor allem mit anderen
Mitteln, letztendlich mit den Waffen des Rechtsstaates,
geführt werden.


(Beifall bei der SPD – Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie aber auch machen!)


Im bereits laufenden Gesetzgebungsverfahren zum
Prostituiertenschutzgesetz ist es mir und meiner Frakti-
on wichtig, ein Prostituiertenschutzgesetz auf den Weg
zu bringen, das seinem Namen gerecht wird. Der Ansatz
des Bundesfrauenministeriums, hier mit einer klareren
Regulierung von Prostitutionsstätten mehr Rechtssicher-
heit und damit einen besseren Schutz vor Ausbeutung zu
schaffen, ist ein ganz zentraler Schritt, den wir vollends
unterstützen – am besten natürlich im Zusammenspiel
mit ausreichenden niedrigschwelligen und vertraulichen
Beratungsangeboten und Anlaufstellen in den Ländern.

Als zuständige Berichterstatterin ist mir im Laufe der
letzten beiden Jahre vor allem eines sehr stark aufge-
fallen: Wir beschäftigen uns hier mit einem politischen
Handlungsfeld in einem Bereich, in dem nach wie vor
mehr über als mit den zentralen Akteuren gesprochen
wird. Damit meine ich vor allem die Prostituierten selbst,
Fachberatungsstellen, Gesundheitsämter, Polizei und
Kommunalverantwortliche. In der SPD-Bundestagsfrak-
tion war es uns stets ein Anliegen, möglichst breitflächig
Raum für Gespräche und gegenseitigen Austausch zu er-
öffnen; denn wie so oft ist auch hier das Schubladenden-
ken weder angebracht noch spiegelt es die Realität wider.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dabei unterscheidet sich dieses Thema sehr wesent-
lich von anderen Bereichen, über die wir hier in der So-
zial- und Gesellschaftspolitik in der Regel entscheiden.
Familien- und Generationenpolitik betrifft jede und je-
den von uns oft unmittelbar. Über Familienleistungen,
Gleichstellung oder die bessere Vereinbarkeit von Fami-
lie, Pflege und Beruf wird in aller Offenheit gesprochen
und diskutiert. Anders beim Thema Prostitution: Nur we-
nige bekennen sich öffentlich dazu, Prostituierte genauso
wie Freier. Nur wenige reden wirklich mit den Betroffe-
nen statt über sie. Gesellschaftliche Stigmatisierung und
Diskriminierung sind hier nach wie vor sehr deutlich zu
spüren. Nur wenigen ist die große Bandbreite, die sich
unter einem weiten Begriff von Prostitution wiederfindet,
tatsächlich bewusst.

Dieser Vielschichtigkeit mit gesetzlichen Regelungen
gerecht zu werden, ohne erneut die Stigmatisierung von
Betroffenen zu fördern, ist sicherlich uns allen ein Anlie-
gen. Klar ist, dass das Gelingen dieses Vorhabens letzt-
lich auch von den Kapazitäten der Länder und vor allem
der Kommunen vor Ort abhängt. Der Bund kann und darf
hier nicht mit tauben Ohren auf Äußerungen und Hinwei-
se aus den Kommunen reagieren. Deren Blickwinkel und
deren Expertise sind ohne Zweifel unverzichtbar, damit
in der Praxis schließlich das herauskommt, worauf der
Titel des Gesetzes zielt: eine Regulierung des Prostituti-
onsgewerbes, die allem voran auch dem Schutz der in der
Prostitution tätigen Personen dient.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814922300

Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Paul Lehrieder,

CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1814922400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vorab ein Wort zum

letzten Satz meiner Vorrednerin: Das Gesetz dient nicht
„auch“, sondern „vorrangig“ dem Schutz der Prostitu-
ierten. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Ziel. Das
stand vielleicht falsch in Ihrem Manuskript. Ich wollte
das nur richtigstellen, damit es nicht falsch im Protokoll
auftaucht.


(Sönke Rix [SPD]: Herr Lehrer!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen! Liebe Kollegen! Frau Schauws, Frau Schauws,
Sie haben hier ausgeführt, das Gesetz wäre ein Bürokra-
tiemonster.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie sollten eigentlich aus der Vergangenheit gelernt ha-
ben. Uns in der Großen Koalition ist ein gutes Gesetz,
das ein paar Wochen mehr Zeit braucht, wichtiger als ein
Gesetz, das als Schnellschuss aus der Hüfte kommt. Das
Gesetz, das Sie 2002 mit unserem heutigen Koalitions-
partner gemacht haben, erfüllt längst nicht den Zweck,

für den es gedacht war. Da gilt der Spruch – da gibt es
eine Frage, Frau Präsidentin –: Gut gemeint ist nicht im-
mer gut gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814922500

Frau Kollegin Schulz-Asche, ich habe den Äußerun-

gen des Kollegen Lehrieder entnommen, dass er Ihnen
gerne Zeit für eine Zwischenfrage gibt, obwohl es nicht
seine Aufgabe war, das zu entscheiden. Das ist eine Aus-
nahme.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1814922600

Ich habe nur meine Bereitschaft erklärt.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814922700

Er hat im vorauseilenden Gehorsam die Bereitschaft

gezeigt. – Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank. Ich finde es ja immer schön, wenn man
entscheidungsfreudige Politiker vor sich hat. – Herr
Lehrieder, Sie haben gerade gesagt, man müsse aus der
Vergangenheit lernen. Es gibt seit 2011 eine EU-Richt-
linie gegen Menschenhandel und gegen Ausbeutung.
Bereits Anfang des Jahres 2013 hätte die damalige
schwarz-gelbe Bundesregierung die Richtlinie in deut-
sches Recht umsetzen müssen. Das ist nicht erfolgt. Es
gab dann kurz vor Ende der Legislaturperiode tatsäch-
lich einen entsprechenden Gesetzentwurf von Schwarz-
Gelb; aber selbst die Sachverständigen von CDU und
FDP haben in der Anhörung gesagt, dass die Richtlinie
damit nicht ausreichend umgesetzt wird. Letztendlich ist
der Gesetzentwurf dann von der Länderkammer gestoppt
worden.

Ich frage Sie, da Sie heute über die Bekämpfung von
Menschenhandel reden, inwieweit Sie in den Vorschlä-
gen, die Sie zurzeit machen, im Bereich der Prostitution
wirklich Maßnahmen ergreifen, die a) die EU-Richtlinie
umsetzen und b) tatsächlich dazu beitragen, dem Men-
schenhandel Herr zu werden.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1814922800

Sehr geehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für die

Frage, wenngleich ich mich des Eindrucks nicht erweh-
ren kann, dass ich etwas Ähnliches vorhin beim Kollegen
Weinberg schon einmal gehört hätte.


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat das aber leider nicht beantwortet!)


Gleichwohl muss ich sagen: Aufgrund des engen Sach-
zusammenhangs mit der Regelung der Prostitution im
Prostitutionsschutzgesetz sollen in diesem Zusammen-
hang auch Menschenhandel und Zwangsprostitution in
einem Paket geregelt werden. Wir sind dabei. Warten Sie
noch etwas, dann können Sie in der ersten Lesung und
der Sachverständigenanhörung konstruktiv mitwirken.
Ich darf Ihnen versichern: Was wir Ihnen vorlegen, ist

Ulrike Bahr






(A) (C)



(B) (D)


ausgewogener, ausgereifter und dient dem Schutz der
Prostituierten mehr als alles, was Sie seit 2002 gemacht
haben und Sie in Ihrer Verantwortung zu vertreten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kordula SchulzAsche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret war es jetzt nicht!)


– Ich könnte Ihnen noch mehr dazu sagen.

Frau Schauws, Sie haben die Gesundheitsberatung
moniert. – Ich warte, bis die Gespräche bei den Grünen
beendet sind, damit sie mir wieder zuhören.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814922900

Aber Ihre Zeit läuft weiter.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1814923000

Frau Schauws, Sie haben die Gesundheitsberatung

moniert. Ich will Ihnen dazu sagen: Die Gesundheitsbe-
ratung haben wir in den Verhandlungen, die wir bisher
geführt haben, kontrovers diskutiert. Ursprünglich woll-
ten wir eine Gesundheitsuntersuchung; denn wir wollen
niemanden stigmatisieren. Wir sind aber der Auffassung,
dass sehr viele Frauen in dem Milieu – hier handelt es
sich auch um 18- bis 21-jährige heranwachsende Frauen
aus dem osteuropäischen Ausland, die nicht unbedingt
freiwillig hier sind – einen regelmäßigen Kontakt durch
eine Gesprächsstelle außerhalb des Milieus erhalten sol-
len. Deshalb wollen wir die relativ enge Vertaktung für
die 18- bis 21-Jährigen. Wir stellen uns vor, dass zumin-
dest halbjährlich Kontakte verpflichtend sind. Das unter-
scheidet uns im Übrigen von den Linken und den Grü-
nen. Wir wollen keine freiwilligen Angebote, sondern es
muss verpflichtend sein, weil ansonsten möglicherweise
Interessen aus dem Milieu sie daran hindern können, die
Angebote der Beratungsstellen in Anspruch zu nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Schauws, wir haben nicht nur die 21-, 22-jährige
deutsche Jurastudentin, die diesem Beruf nachgeht. Wir
haben auch sehr viele unerfahrene, zum Teil der deut-
schen Sprache nicht mächtige heranwachsende junge
Frauen aus dem Ausland, die wir schützen müssen.


(Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Sprachkurse!)


– Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen. Sprachkur-
se sind zugegebenermaßen zurzeit in aller Munde, aber
das allein wird den Prostituierten nicht helfen. Aber sie
müssen wissen, wie sie es tun sollen.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen gar nicht mehr, was Sie am Anfang gesagt haben!)


Frau Kollegin Möhring, es erstaunt mich, weil gera-
de Sie Sprachkurse ansprechen. In Ihrem Antrag führen
Sie auf der einen Seite aus, dass Prostitutionsgesetz von
2002 hält fest,

dass das eingeschränkte Weisungsrecht des Arbeit-
gebers dem abhängigen Beschäftigungsverhältnis in
der Prostitution nicht entgegensteht. Das ProstG hat
die Rechtsposition von Sexarbeiterinnen und Sexar-

beitern gestärkt und damit auch einen Wandel in der
gesellschaftlichen Bewertung des Berufes vorange-
bracht.

Im nächsten Satz, Frau Möhring – das müssen Sie sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen –, schreiben Sie:

Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, dass sich das im
Prostitutionsgesetz beabsichtigte Modell des abhän-
gigen Beschäftigungsverhältnisses in Prostitutions-
stätten in der Praxis nicht etabliert hat …

Was gilt jetzt? Wollen Sie das Gesetz von 2002 verteidi-
gen, oder ist es, wie hier steht, tatsächlich Mist gewesen?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Kollege Weinberg hat da-
rauf hingewiesen: Laut Schätzungen der EU-Kommis-
sion arbeiten circa 200 000 Zwangsprostituierte in Eu-
ropa. Nicht alle sind freiwillig in der Branche. Die, die
freiwillig dort sind, haben laut einer Schweizer Studie zu
98 Prozent bleibende Schäden aus dieser Tätigkeit. Des-
halb müssen wir diesen Frauen Hilfsangebote machen,
wo immer wir es machen können.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814923100

Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Möhring?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1814923200

Ja, selbstverständlich.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist eine gute Serie!)


– Ja, es ist alles bestellt, Frau Präsidentin.


Cornelia Möhring (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814923300

Vielen Dank. – Sie haben mich direkt angesprochen,

Herr Kollege Lehrieder. Ich möchte einmal darauf auf-
merksam machen, dass es an dieser Stelle um zwei Punk-
te geht. Mit dem Gesetz von 2002 wurde Prostitution
legalisiert und damit gilt die Berufsfreiheit. Es hat sich
mittlerweile gezeigt, dass natürlich die Weisungsbefug-
nis problematisch ist, weil die höchstpersönliche Art und
Weise dieser sexuellen Dienstleistung voraussetzt, dass
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selber darüber ent-
scheiden, wie sie arbeiten und welche Leistungen sie er-
bringen. Das Problem ist aber, dass die Weisungsbefug-
nis eines Arbeitgebers Voraussetzung ist, um überhaupt
wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Deshalb fordern wir als
Linke, dass garantiert werden muss, dass die Selbstbe-
stimmung und die selbstständige Tätigkeit von Sexarbei-
terinnen und Sexarbeitern auch ohne Weisungsbefugnis
von Arbeitgebern möglich ist. Das Beschäftigungsver-
hältnis, so wie wir es normal in der Wirtschaft kennen, ist
für sexuelle Dienstleistungen nicht praktikabel. Deswe-
gen brauchen sie deutlich stärkere Rechte.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1814923400

Frau Möhring, wir sind uns in nicht vielen Punkten einig.
Aber wir sind uns hier einig. Es ist ein Arbeitsverhältnis

Paul Lehrieder






(A) (C)



(B) (D)


sui generis. Es ist kein weisungsabhängiges Arbeitsver-
hältnis, weil sowohl die Zeit als auch die Anzahl der Frei-
er, mit denen eine Prostituierte schlafen muss, überhaupt
nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen, wie wir
es verstehen, entsprechen. Deswegen wollen wir über
Gesundheitsprogramme Ausstiegshilfen anbieten. Ich
kann sagen: Okay, ich will da nicht rein, ich will das nicht
tun, aber ich muss manche Sachen tun. – Sie können aber
davon ausgehen, dass längst nicht jede Prostituierte, die
jetzt tätig ist, bei ihrer Tätigkeit absolut selbstbestimmt
ist. Es gibt genug Menschen – irgendwelche Zuhälter –,
die ein wirtschaftliches Interesse an der Tätigkeit der
Prostituierten haben. Sie sind sicherlich nicht so naiv,
dass Sie das in Abrede stellen wollen.

Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren, in dem es heißt –
Sie haben es ja eben bereits eingeräumt –, dass

… ein Weisungsrecht letztlich immer die sexuelle
Selbstbestimmung zu stark gefährden würde und
ein Beschäftigungsverhältnis ohne Weisungsrecht
für einen Arbeitgeber wirtschaftlich und rechtlich
nicht umzusetzen ist.

Das ist O-Ton der Linken. Da haben Sie, wie gesagt,
recht. Darum gehört das Weisungsrecht raus aus dem Ge-
setz. Wir wollen nicht, dass die Prostituierten weisungs-
abhängig tätig sein müssen.

Vielleicht noch ein Gedanke. Vorhin wurde die An-
meldung der Prostituierten angemahnt. Die Prostituierten
müssen heute nicht angemeldet werden. Wenn Sie mit
Polizeibeamten oder Sicherheitskräften sprechen, die die
Aufgabe haben, in diesem Milieu für Recht und Ordnung
zu sorgen


(Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– stellen Sie mir doch eine Frage, dann habe ich mehr
Zeit –, dann werden Sie sehr schnell zu hören bekom-
men: Wir können nur die Frauen schützen, von deren
Existenz wir wissen. – Es geht nicht darum, sie zu stig-
matisieren oder irgendwelche Listen aufzustellen, um zu
wissen, wo welche Prosituierte tätig ist. Wir brauchen
zum Schutz der Frauen deshalb einen gewissen bürokra-
tischen Aufwand der Anmeldung und der Gesundheits-
beratung. Wenn es uns das nicht wert wäre, dann würden
wir wieder ein stumpfes Schwert schaffen, so wie das
rot-grüne Prostitutionsgesetz von 2002.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lehrieder, in welchem Traumland leben Sie denn?)


Noch ein Satz dazu: In den nächsten Wochen wird
hoffentlich eine Regelung im Kabinett verabschiedet.

Liebe Frau Schauws, ich freue mich auf die Debatten
im Ausschuss. Wir werden etwas Besseres schaffen als
Sie damals.


(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie mal etwas gegen Menschenhandel machen würden, dann würden wir uns auf die Debatten mit Ihnen sehr freuen! Da machen Sie gar nichts!)


Ich wünsche Ihnen alles Gute und noch einen schönen
Abend. Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814923500

Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7243 und 18/7236 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD

Bevölkerungsstatistiken verbessern – Zivile
Registrierungssysteme stärken

Drucksachen 18/6549, 18/6994

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte, die Plätze einzunehmen, vor allen Dingen
die Rednerinnen und Redner.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Georg Kippels (CDU):
Rede ID: ID1814923600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Staatenlose leben im Niemandsland der
Weltgemeinschaft. Sie sind körperlich existent, aber sie
sind nicht Gegenstand der juristischen Anwendung. Sie
sind Individuen, aber sie werden nicht wahrgenommen.
Sie leben, aber sie werden von der Gesellschaft nicht als
vollwertiges Mitglied respektiert und vor allen Dingen
akzeptiert. Es ist ein globales Phänomen, keineswegs ein
Phänomen, das ausschließlich in den Ländern der Dritten
Welt bzw. in den Entwicklungsländern auftritt. Auch in
Weltstädten haben wir es zunehmend mit dem Phäno-
men zu tun, dass Menschen ohne Geburtenregistrierung
ihr Dasein fristen und in der Gesellschaft schlicht und
ergreifend nicht wahrgenommen werden. Sie sind im
Schatten der Gesellschaft. Sie sind nicht in der Lage, ihre
Menschen- und Bürgerrechte zu reklamieren und auf die-
se Art und Weise aktiver und gleichberechtigter Teil der
Gesellschaft zu sein.

Mit unserem Antrag „Bevölkerungsstatistiken ver-
bessern – Zivile Registrierungssysteme stärken“ fordern
wir das verbriefte Recht eines jeden Kindes auf eine
Registrierung direkt nach seiner Geburt. Nach Artikel 7
der UN-Kinderrechtskonvention hat ein jedes Kind das
Recht, seine Persönlichkeits-, Grund- und Menschen-
rechte auf der Grundlage einer Geburtenregistrierung
wahrzunehmen und vor allen Dingen sein individuellstes
Merkmal, nämlich seinen Namen, unwiederbringlich zu-
erkannt zu bekommen.

Paul Lehrieder






(A) (C)



(B) (D)


Jedes dritte Kind unter fünf Jahren weltweit ist offi-
ziell nicht registriert. Laut einem Bericht des UNHCR
kommt alle zehn Minuten ein Baby ohne Geburtenregis-
trierung zur Welt. Die Mehrzahl der nicht registrierten
Kinder kommt aus Südostasien; derzeit sind es 24 Milli-
onen. An zweiter Stelle steht die Subsahara-Region, wo
nahezu 20 Millionen Kinder ohne Geburtsurkunde leben.

Weltweit addiert sich die Anzahl der nicht registrier-
ten Kinder unter fünf Jahren auf immerhin 230 Millionen
Menschen. In den Entwicklungsländern sind immerhin
50 Prozent aller unter Fünfjährigen nicht offiziell ge-
meldet. Das heißt, alle zehn Sekunden fällt ein Kind,
ein Mensch durch das Auffangnetz der Gesellschaft und
kann sich deshalb nicht im Rahmen seiner individuellen
Möglichkeiten entwickeln und aktiv in seine Gesell-
schaft einbringen.

Die aktuelle Flüchtlingskrise verschärft diese Prob-
lemstellung in hohem Maße. Allein seit 2011 und dem
Beginn des Syrien-Konfliktes sind mehr als 50 000 Kin-
der auf der Flucht geboren worden. Sie sind juristisch
unsichtbar, aber sie sind natürlich Bestandteil unserer
Bevölkerung, sie sind Bestandteil unserer Weltgemein-
schaft, und sie haben natürlich das elementare Recht, ihre
Befähigungen, ihre Talente und auch ihre Wünsche im
Rahmen ihrer persönlichen Lebensgestaltung umzuset-
zen.

Seit dem Jahr 2000 gab es im Bereich der Registrie-
rung, der sehr stark verwaltungstechnisch geprägt ist, zu-
nächst sichtbare Erfolge, die allerdings durch die Zunah-
me der Krisen in den Entwicklungsstaaten und durch den
damit einhergehenden Zerfall von Verwaltungsstrukturen
zunehmend wieder rückläufig wurden. Gerade ethnische
Minderheiten, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge
und Asylsuchende sind in besonderem Maße von dieser
Problemstellung betroffen.

Angesichts der zunehmenden Bevölkerungsdichte er-
gibt sich eine Spirale des Chaos und der Rechtlosigkeit.
Die Menschen, die keiner offiziellen Zuordnung zugäng-
lich sind, ihren Heimatländern vielleicht moralisch und
mit ihrem Herzen, aber jedenfalls nicht juristisch verbun-
den sind, können in der Staatsplanung, in der Planung
der Infrastruktur von Gesundheitssystemen, von Sozial-
versicherungssystemen und Bildungssystemen nicht be-
rücksichtigt werden. Damit fehlt ihnen letztendlich die
Teilhabemöglichkeit.

Keine Geburtsurkunde – kein Name, keine Bürger-
rechte, die es zu artikulieren gilt; keine Geburtsurkun-
de – kein Schutz vor Ausbeutung; keine Geburtsurkun-
de – keine Gesundheitsversorgung und kein Recht auf
Bildung. Die Betroffenen sind weitestgehend vom politi-
schen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlos-
sen, und sie sind – ich glaube, das ist der Punkt, der be-
sonders beklagenswert ist – in den meisten Fällen Opfer
von Menschenrechtsverletzungen. Sie sind Gegenstand
von Kinderhandel, sie sind Gegenstand von Vergewal-
tigung und Prostitution, sie werden als Kindersoldaten
rekrutiert oder in Minen, Bergwerken und auf Plantagen
ausgebeutet. Sie sind aufgrund ihres Alters und ihrer
Herkunft nicht in der Lage, ihre Schutzbedürftigkeit zu
dokumentieren.

Insofern ist es im Rahmen unserer entwicklungspoli-
tischen Aufgabenstellung eines der elementarsten Ziele,
die Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit und in Rechtsträger-
schaft umzuwandeln, was allerdings nicht nur mit ent-
sprechenden Entwicklungshilfemitteln, mit finanzieller
Hilfe möglich ist; vielmehr müssen die Strukturen in den
betroffenen Ländern aufgebaut und unterhalten werden.

Da kommen uns in der Zwischenzeit die digitalen Er-
rungenschaften zugute. Mit digitalen Fingerabdrücken
und dem Scan der Iris des Auges ist zunächst die Un-
verwechselbarkeit des Individuums aufzunehmen, und
die Daten müssen dann in der gehörigen Form mit den
Personalpapieren, mit der Geburtsurkunde und mit dem
Register der Staaten abgeglichen und in Verbindung ge-
bracht werden.

Dies alles ist heutzutage leichter möglich. Gerade
UNICEF arbeitet intensiv an entsprechenden Projekten:
In Afrika verfügt jeder Fünfte über ein Smartphone; über
eine entsprechende App hätten Hebammen und sonsti-
ge Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, die von Geburten
Kenntnis erlangen, die Möglichkeit, sofort vor Ort eine
wirksame und vor allen Dingen dauerhaft nachverfolg-
bare Registrierung vorzunehmen.

Wir alle brauchen diese Erkenntnisse, allein weil wir
mit Rücksicht auf die ständig zunehmende Bevölke-
rungsdichte in den Bereichen Entwicklungshilfe, Städ-
tebau und Versorgung Planungen vornehmen müssen.
Aber nur wenn wir belastbare Zahlen haben, sind wir in
der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Ein
Staat, der seine Kinder nicht kennt, ist kein Staat. Die
demografische Entwicklung wird uns letztendlich in ir-
gendeiner Form überrollen, wenn wir nicht in der Lage
sind, Entwicklungen vorherzusehen und zu planen.

Natürlich sind auch die Rechte in Drittstaaten zuneh-
mend von Bedeutung – das sehen wir im Moment im
Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage –, sprich: die
Rechte in den Staaten, in die sich die Menschen bege-
ben, in denen sie Schutz suchen. Letzten Endes wird
sich diese Frage auch auf unseren Lebensbereich aus-
wirken und uns vor entsprechende Aufgaben stellen. Wir
werden uns dieser Frage zunehmend intensiver stellen
müssen. Wir müssen unsere Erfahrungen in diesen Pro-
zess einbringen und die modernen technischen Möglich-
keiten nutzen. Wir müssen in den Heimatländern der
Menschen, die sich auf den Weg in eine bessere Welt
begeben haben, Strukturen schaffen, die es diesen Staa-
ten ermöglichen, ihre Bürgerinnen und Bürger zu halten
und zu versorgen.

Dieser Prozess muss mit modernen Medien vorange-
trieben werden. Wir haben die Möglichkeiten dazu. Wir
müssen in dieser Frage international zusammenarbeiten,
und wir müssen die Projekte und Konzepte für alle trans-
parent und vor allen Dingen anwendbar gestalten. Das
ist nicht nur eine finanzielle Aufgabe, sondern auch eine
logistische, der wir uns in der nächsten Zeit intensiv wid-
men müssen.

Deshalb ist die Bevölkerungsstatistik nicht nur eine
theoretische Berechnungsgröße, sondern Lebensrealität
für jeden, der mit seinen Personalpapieren ausgestattet

Dr. Georg Kippels






(A) (C)



(B) (D)


seine Individualität jederzeit gegenüber Dritten und ge-
genüber dem Staat geltend machen kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814923700

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Movassat, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814923800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Weltweit wird fast jedes dritte Kind unter fünf Jahren
nicht registriert. Jährlich sind das 230 Millionen neuge-
borene Kinder auf der Welt, die keine Geburtsurkunde
erhalten. Was vielleicht harmlos klingt, ist dramatisch für
die Kinder; denn wer keine Geburtsurkunde bekommt,
startet mit großen Nachteilen ins Leben. Die Kinder
kommen meist aus armen Verhältnissen. Sie haben da-
durch sowieso schon Probleme, ein Grundrecht wie Bil-
dung einzufordern. Wenn sie aber keinen Identitätsnach-
weis besitzen, dann haben sie nicht einmal theoretisch
die Chance, irgendwelche Rechte einzuklagen. Außer-
dem werden diese Kinder häufiger Opfer von Menschen-
handel.

Jedes Kind hat ein verbrieftes Recht auf die Regist-
rierung seiner Geburt.

Das schreibt die Koalition in ihrem Antrag. Das unter-
stützt die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Michaela Engelmeier [SPD])


Aber allein damit ist den Kindern nicht geholfen;
denn jedes Kind hat auch das Menschenrecht auf Nah-
rung, auf Gesundheit, auf ein Leben in Würde. Das gilt
übrigens auch für Flüchtlingskinder. Wenn die CSU, die
hier Mitantragsteller ist, von Obergrenzen schwadroniert
und sagt: „Ab 200 000 machen wir zu“, dann verneint sie
de facto die Menschenrechte auch der Flüchtlingskinder,
und das steht dem Gedanken Ihres Antrags entgegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber schauen wir uns das Problem der Nichtregistrie-
rung genauer an. Häufig ist es Familien aus abgelegenen
Regionen nicht möglich, die weite Reise zu der nächsten
Meldestelle anzutreten. Häufig wissen sie gar nicht um
die Bedeutung einer Geburtsurkunde. In anderen Fällen
entscheiden sie sich bewusst für ein sogenanntes Phan-
tomkind, weil sie aufgrund ethnischer oder religiöser
Zugehörigkeit staatlichen Repressalien ausgesetzt sind.
Zudem wollen oder können einige Staaten keine Da-
seinsvorsorge für ihre Bürger anbieten, sodass eine Re-
gistrierung für die Betroffenen nutzlos erscheint. Meist
scheitert die Registrierung jedoch schlicht und einfach an
den Kosten. Deshalb brauchen wir unbedingt kostenlose
und niedrigschwellige Registrierungsangebote.


(Beifall bei der LINKEN)


So sind moderne Lösungen wie SMS-basierte Syste-
me angesichts der weltweiten Verbreitung von Handys
vielversprechend. Am Wichtigsten sind aber Aufklä-
rungskampagnen, um für das Thema zu sensibilisieren.
Die Registrierung ist auch bedeutsam, um staatliche
Maßnahmen planen zu können. Ohne die Kenntnis der
genauen Anzahl von Neugeborenen ist es eben schwer,
bedarfsdeckend Bildungs- und Gesundheitsangebote zu
planen. Deshalb begrüßen wir es sehr, dass die Vereinten
Nationen die universelle Geburtenregistrierung bis 2030
als Unterziel der SDG, der Entwicklungsziele, aufge-
nommen haben. Geburtenregistrierung muss ein wichti-
ges Thema der Entwicklungspolitik sein.


(Stefan Rebmann [SPD]: Jawohl! Da stimme ich dir zu!)


– Danke schön. – Die Forderung der Koalition nach einem
Forschungsauftrag über die Wirksamkeit von Registrie-
rungssystemen und die Möglichkeiten der Entwicklungs-
zusammenarbeit, hier voranzukommen, unterstützen
wir. Dennoch möchte ich zwei Punkte nennen, wie die
Bundesregierung selbst jederzeit die Lebenssituation be-
nachteiligter Kinder in Entwicklungsländern sehr schnell
verbessern könnte. Erstens. Ändern Sie Ihre Wirtschafts-
politik! Beenden Sie Dumpingexporte und neoliberalen
Freihandel!


(Beifall bei der LINKEN)


Denn das verhindert wirtschaftliche Entwicklung und hat
somit auch Auswirkungen auf die Situation der Kinder
in den Ländern des Südens. Zweitens. Liefern Sie keine
Waffen mehr ins Ausland! Auch das würde den Kindern
helfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fand übrigens spannend, was die Sprecherin von
UNICEF, Sylvia Trsek, zu dem Thema sagte:

Die leider immer noch große Zahl an unsichtbaren
Kindern ist ein Indikator für die Ungerechtigkeit,
der die ärmsten Menschen der Welt ausgesetzt sind.

Das bedeutet: Wenn wir gerechter verteilen, holen wir
Menschen aus der Armut. Wer nicht arm ist, lässt in der
Regel auch seine Kinder registrieren. Auch deshalb brau-
chen wir globale soziale Gerechtigkeit und Umverteilung
von oben nach unten.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1814923900

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die

Kollegin Michaela Engelmeier.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Michaela Engelmeier (SPD):
Rede ID: ID1814924000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Der Antrag „Bevölkerungsstatistiken verbessern –
Zivile Registrierungssysteme stärken“ hat durchaus
einen sehr sperrigen Titel. Wer Böses denkt, könnte mei-

Dr. Georg Kippels






(A) (C)



(B) (D)


nen, dass die Deutschen auch in der Entwicklungspolitik
das tun, was sie angeblich am besten können: verwalten
und bürokratisieren preußischer als jeder Preuße. Das ist
aber bei diesem Antrag wirklich nicht der Fall.

Es geht um Zukunftsfragen. Damit Kinder eine Zu-
kunft haben, damit unsere jüngst im letzten Jahr verab-
schiedeten nachhaltigen Entwicklungsziele auch bei der
zukünftigen Generation Chancen eröffnen, müssen wir
uns mit vielen Dingen befassen. Wir wollen mit unserem
Antrag eine Initiative ergreifen, um ein für uns in den
Industrienationen alltägliches Kinderrecht umzusetzen,
und zwar den Artikel 7 der Kinderrechtskonvention, in
welchem es um Geburtsregister, Name und Staatsange-
hörigkeit geht:

Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in
ein Register einzutragen und hat das Recht auf ei-
nen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staats-
angehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das
Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut
zu werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Vertragsstaaten stellen die Verwirklichung die-
ser Rechte im Einklang mit ihrem innerstaatlichen
Recht und mit ihren Verpflichtungen aufgrund der
einschlägigen internationalen Übereinkünfte in die-
sem Bereich sicher, insbesondere für den Fall, dass
das Kind sonst staatenlos wäre.

Dieses Kinderrecht ist nicht nur mir sehr wichtig, son-
dern auch wir in der Großen Koalition haben diese Initia-
tive gerne gestartet und miteinander den Antrag formu-
liert. Denn erst durch eine Registrierung wird in einem
modernen Staat mit seinem Erfordernis einer funktio-
nierenden Verwaltung ein Mensch zum Staatsbürger und
kann in den vollen Genuss der ihm zustehenden Rechte
gelangen.

Ich war im vergangenen Jahr natürlich viel unterwegs,
zum Beispiel beim Neujahrsempfang der UNICEF, und
habe immer wieder festgestellt, dass viele Leute das The-
ma Geburtenregistrierung gar nicht auf dem Schirm hat-
ten. Aber wenn man sie darauf angesprochen hat, ist man
wirklich auf offene Ohren gestoßen. Das hat uns natür-
lich motiviert, Herr Kippels, gemeinsam mit der Union
jetzt eine Initiative zu starten.

Mit diesem Bürgerrecht kann ich passiv und aktiv an
Wahlen teilnehmen. Ich erhalte die Möglichkeit, einen
Personalausweis, einen Reisepass und andere Dokumen-
te zu erhalten. Sozialleistungen kann ich beziehen, in
legalen Arbeitsverhältnissen beispielsweise Mindestlohn
beanspruchen und eine Sozialversicherungs- und Steuer-
nummer beantragen. Ich kann in die Schule gehen und
mir damit einen Ausweg aus der Armut ermöglichen.


(Beifall bei der SPD)


Ich kann Grundeigentum erwerben, ein Konto eröffnen
oder erben. Es bietet mir auch Schutz vor Verbrechen,
vor Kinderarbeit, vor dem Kriegsdienst und vor sexueller
Ausbeutung und Frühverheiratung. Es schützt vor Men-
schenhandel und illegaler internationaler Adoption. Kos-

tenlose Impfungen und andere Gesundheitsdienstleistun-
gen kann ich erhalten. Ich finde, es verhindert auch viele
Ungerechtigkeiten und Ungleichheit. Auf der Flucht in
einen anderen Staat – angesichts der Flüchtlingsthema-
tik ist das im Moment ganz wichtig – erleide ich keine
Staatenlosigkeit.


(Stefan Rebmann [SPD]: Sehr richtig!)


Wir setzen uns für das ein, was für uns in den Indus-
triestaaten selbstverständlich ist, und zwar nach der Ge-
burt unseres Kindes zum Standesamt zu gehen und eine
Geburtsurkunde zu bekommen, auf welcher der Name
des Kindes, seine Herkunft und seine Eltern niederge-
schrieben sind. Mit dieser Urkunde ist das Kind Träger
von Grundrechten, die es einklagen kann, und es kann ei-
nen Ausweis erhalten; es existiert. Es ist nicht unsichtbar,
wie Sie, Herr Kippels, gerade gesagt haben, und es kann
auch nicht einfach spurlos verschwinden.

Wir alle erinnern uns – ich möchte das an dieser Stel-
le deutlich sagen; denn es ist jetzt schon fast zwei Jahre
her –, dass 231 Mädchen in Nigeria verschwunden sind;
sie wurden von Boko Haram entführt. Ich glaube, nur ein
Bruchteil dieser Mädchen ist wieder aufgetaucht. Viele
von ihnen waren nicht geburtenregistriert. Das heißt, sie
sind de facto gar nicht da gewesen. Das, meine lieben
Freundinnen und Freunde, können wir nicht weiter zu-
lassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In vielen Entwicklungsländern findet leider keine Re-
gistrierung statt; wir haben es gerade gehört. Oft fehlt
einem Staat die Möglichkeit zur Registrierung. Oft sind
es Bürgerkrieg oder Armut und die Häufung von Natur-
katastrophen, die sie verhindern. Es liegt natürlich auch
an mangelnder Infrastruktur und am Fehlen eines Katas-
terwesens. Es ist kein Geld da, um ganz schlicht und ein-
fach ein System aufzubauen. UNICEF beziffert die Zahl
der Kinder unter fünf Jahren, deren Geburt nie registriert
wurde, auf 230 Millionen. Das können wir doch nicht
weiter zulassen.


(Beifall bei der SPD)


An dieser Stelle wollen wir ansetzen, damit sich an dieser
Sachlage etwas ändert.

Zur Verbesserung dieser Problemlagen befasst sich
unser Antrag mit der Geburtenregistrierung in Entwick-
lungsländern, den dabei auftretenden Problemen, und er
zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Er enthält einen Maß-
nahmenkatalog, mit dem die Verfahren zur Registrierung
seitens der Bundesregierung und des Parlaments unter-
stützt und weiterentwickelt werden können.

Unser Engagement muss darauf abzielen, sich mit
den Problemen zu befassen, die dazu führen, dass kei-
ne Registrierung erfolgt. Das liegt natürlich nicht immer
an einem reinen Mangel an administrativer Infrastruktur,
sondern an vielen unterschiedlichen Gründen. Ich habe
es gesagt: Die Registrierung kann Geld kosten, das viele
einfach nicht haben. Man ist nicht erreichbar, weil es nur
in den Städten oder im ganzen Land nur eine Meldestelle
gibt. Es gibt auch ein mangelndes Problembewusstsein,

Michaela Engelmeier






(A) (C)



(B) (D)


was übrigens auch am Bildungsgrad liegt. Teilweise ist
eine Registrierung legal nicht möglich, zum Beispiel
dann, wenn die Mutter und das Kind einer ethnischen
Minderheit angehören; auch das ist ein Grund, warum
nicht registriert wird. Oder das Kind ist gar unehelich,
und dadurch entstehen soziale Stigmatisierung oder Un-
terhaltsverpflichtungen.

Aus dieser Vielzahl von Gründen für die Nichtregis-
trierung von Geburten muss sich eine entsprechende
Vielzahl von Lösungsansätzen ergeben. Daher müssen
wir, wie es in unserem Antrag formuliert ist, unsere Ini-
tiativen erweitern: mit Aufklärung und Bildung, mit flä-
chendeckenden Registrierungsstellen, mit Unterstützung
der Reformen nationaler Gesetze, mit nationalen Partner-
schaften oder einfach nur mit Unterstützung eines Tele-
kommunikationsanbieters, also ganz niederschwellig.
Denken Sie nur an SMS-Dienste oder Handys in Afrika.
Kenia beispielsweise hat 42 Millionen Einwohner; davon
haben 38 Millionen ein Handy. Die Menschen dort ha-
ben zwar nicht solche Handys, wie wir sie haben, also
Smartphones, mit denen man sich im Internet bewegen
kann, aber SMS-fähig sind sie alle. Das ist vielleicht eine
Möglichkeit, um niederschwellig zu beginnen.

Es gibt Projekte, die wir jetzt schon unterstützen. Das
müssen wir fortsetzen, und ich bitte Sie um Unterstüt-
zung für unseren Antrag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814924100

Vielen Dank. – Als letzter Redner hat Uwe Kekeritz

von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814924200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben
schon sehr ausführlich klargemacht, worum es bei die-
sem Antrag geht. Sie beschreiben ja auch sehr deutlich,
welche Vorteile Kinder haben, wenn sie registriert sind,
und was die negativen Konsequenzen sind, wenn die
Kinder nicht registriert sind.

Ich denke, der Antrag ist von seiner Anlage her in Ord-
nung, aber ich möchte Ihnen auch sagen: Einen wirkli-
chen Erkenntnisgewinn haben wir dabei nicht. Das The-
ma wurde sowohl vom BMZ als auch von der GIZ schon
längst aufgegriffen


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Immer wieder mal!)


– immer wieder mal aufgegriffen. Auf der UN-Ebene ist
das breit diskutiert worden, die UNICEF hat sich damit
beschäftigt, die UN-Kinderrechtskommission hat das
aufgegriffen, und auch in den SDGs ist das verankert.

Ich frage mich natürlich schon, ob wir uns zu einem
Zeitpunkt wie dem heutigen Tag nicht lieber etwas über
die SDGs hätten unterhalten sollen. Ich stelle aber fest:
Die SDGs werden in der nächsten Sitzungswoche be-
sprochen – allerdings erst um 23.30 Uhr. Ich frage mich
natürlich schon, welche Motivation die Koalition hat,

die Diskussion über einen so wichtigen Punkt auf einen
Zeitpunkt zu schieben, an dem niemand mehr zuhört und
auch niemand mehr bereit ist, zu reden.


(Michaela Engelmeier [SPD]: Kann man nicht sagen!)


Das wollte ich schon einmal anmerken. Heute diskutie-
ren wir also über ein Thema, bei dem wir wirklich keinen
großartigen Erkenntnisgewinn erzielen.

Frau Engelmeier, Sie haben wirklich schön davon
gesprochen, dass Sie endlich Initiativen starten möch-
ten und hier ganz massiv in die Puschen kommen wol-
len. Wenn man den Antrag durchliest, dann muss man
allerdings ganz ernsthaft feststellen, dass Sie gar keine
Forderungen stellen. Sie richten stattdessen Bitten an die
Bundesregierung und sagen: Passt einmal auf: Ich habe
hier gute Vorschläge, und wenn ihr genügend Geld habt,
dann setzt das bitte um.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Nein!)


– Das ist so.

Ich frage mich natürlich schon, welche Bedeutung
dieses Thema hat. Wenn dieses Thema wirklich die Be-
deutung hat, die Sie hier vermitteln möchten, dann haben
Sie bitte schön auch die Verpflichtung, der Bundesregie-
rung zu sagen: Stellt dafür die Mittel zur Verfügung, und
macht das. – Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Ihrem Forderungskatalog kommen viele Punkte
vor, die tatsächlich extrem viel Geld kosten, und da frage
ich mich natürlich schon, was die Koalition in der Ver-
gangenheit gemacht hat, um diese Mittel zur Verfügung
zu stellen.

Sascha Raabe schaut mich jetzt an und freut sich,
dass endlich sein Thema „0,7-Prozent-Ziel“ wieder zur
Sprache kommt. Es ist völlig richtig: Wir versprechen
der Weltöffentlichkeit seit 45 Jahren, dass wir den An-
teil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt auf
0,7 Prozent steigern werden. Dann hätten wir auch mehr
Geld, um mitzuhelfen, so extrem teure Sachen wie zum
Beispiel die Registrierungssysteme in den betroffenen
Ländern umzusetzen. Das geschieht aber eben nicht.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Mich provozierst du heute nicht!)


An einem weiteren Punkt hat die Koalition, wie ich
glaube, massiv versagt – das ist mein zweites Beispiel
für ein solches Versagen –, genügend Finanzmittel be-
reitzustellen: Wir waren im Juli in Addis Abeba bei der
UN-Finanzierungskonferenz. Dort wurde ein Thema von
allen Ländern ganz intensiv besprochen, weil es bei die-
sem Punkt für alle Staaten um sehr viel Geld gegangen
ist. Man wollte nämlich auf UN-Ebene eine Steuerkom-
mission einführen, und es war ausgerechnet die Bundes-
republik Deutschland, die gemeinsam mit England und
den USA ganz massiv verhindert hat, dass auf UN-Ebene
eine solche Steuerkommission installiert wird.

Wir wissen, dass durch illegitime und illegale Steuer-
vermeidung und Steuerhinterziehung jedes Jahr Hunder-
te von Milliarden Euro an Steuern hinterzogen werden,

Michaela Engelmeier






(A) (C)



(B) (D)


und das trifft nicht nur die Entwicklungsländer, sondern
inzwischen auch ganz massiv die Industrieländer. Des-
wegen wäre es auch aus unserem Eigeninteresse heraus
einfach notwendig, ein faires und gerechtes Steuersystem
global zu verwirklichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie können noch so viele gutgemeinte Anträge ein-
reichen und verabschieden, das nutzt aber nichts, wenn
Sie an anderer Stelle mit Ihrem Handeln eine weltweit
nachhaltige Entwicklung konterkarieren. Die Forderung
nach Kohärenz sollte sich auch in Ihren Anträgen wider-
spiegeln, aber da haben Sie leider versagt.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir?)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814924300

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Da-

mit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel
„Bevölkerungsstatistiken verbessern – Zivile Registrie-
rungssysteme stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6994, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 18/6549 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Wer enthält sich? – Damit erleben wir etwas, was
selten vorkommt, dass nämlich alle Fraktionen zustim-
men.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Damit ist natürlich auch die Beschlussempfehlung ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben

Drucksache 18/6875
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen, und ich eröffne die Aussprache.

Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze ein-
genommen haben, können wir die Debatte dann auch tat-
sächlich beginnen.

Als erste Rednerin in der Debatte hat Frau Dr. Hein
von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814924400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen, ich hätte auch nichts dagegen gehabt,
wenn die anderen geblieben wären. – Wir haben es Ihnen
vor Weihnachten versprochen, und wir halten Wort. Wir
bieten Ihnen erneut einen Anlass, um über die notwen-
dige Verbesserung der Zusammenarbeit von Bund und
Ländern in Bildungsfragen im Ausschuss und hier im
Plenum zu diskutieren.

Ich weiß, dass viele von Ihnen darauf brennen, endlich
diesen unbefriedigenden Zustand zu beenden, dass der
Bund immer wieder mal über Bildung reden, aber wenig
verändern kann. Insbesondere in der schulischen Bildung
ist der Druck inzwischen sehr groß, und alle Welt erwar-
tet von uns, dass wir endlich etwas tun.

Derzeit sind aber auch die Chancen groß, endlich das
Verbot der Zusammenarbeit in der Bildung aufzuheben.
Wir – Bund, Länder und Kommunen – haben eine ge-
meinsame Verantwortung, die Substanz des Bildungs-
systems zu erhalten und es auf den neuesten Stand zu
bringen. Sonst bleibt nämlich von der viel gepriesenen
Bildungsrepublik bald nichts mehr übrig.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wird uns dann auch nicht mehr helfen, dass wir uns
immer in Zahlen sonnen. Die Koalition macht das ja so
gerne, heute früh auch wieder;


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Kommt heute auch wieder!)


denn die aufgewendeten Mittel reichen ja nicht, um die
grundlegenden Probleme zu lösen. Ich weiß schon, dass
Sie das wieder machen werden, aber es wird nicht helfen.
Wir haben das alles schon oft debattiert, und eigentlich
könnte man es leid sein. Darum möchte ich heute versu-
chen, das mit einem Beispiel zu erläutern, das vielleicht
ein bisschen ungewöhnlich ist. Vielleicht macht es aber
deutlich, was wir wollen und was wir nicht wollen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Verwalter eines Hauses
mit 16 Eigentumswohnungen, und Sie dürfen immer
nur für die Malerarbeiten im Treppenhaus sorgen. In die
Wohnungen dürfen Sie nicht hinein.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir sind nicht mehr im Sozialismus!)


– Nein, da gab es keine Eigentumswohnungen – jeden-
falls nicht so viele. – Nun begibt es sich aber – es handelt
sich um ein altes und ehrwürdiges Haus –,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Dann ist es Volkseigentum! – Heiterkeit bei der CDU/ CSU)


dass es vom Keller aus feucht wird. Und im Souterrain,
wo die Stadtstaaten wohnen, sind schon nasse Flecken an
den Wänden zu sehen. Die kann man noch einmal über-

Uwe Kekeritz






(A) (C)



(B) (D)


streichen, aber die Nässe kommt immer wieder durch.
Eine grundlegende Sanierung kann aber nicht stattfinden;
denn die Eigentümer des Lofts – also die aus Bayern –
merken von der Feuchtigkeit noch nichts. Die werden
erst munter, wenn es durchs Dach regnet. Und die Hessen
merken es erst, wenn es durch die Fenster zieht.

Dabei wäre es ganz einfach: Man könnte die Substanz
des Hauses gemeinsam erhalten, es auch noch energe-
tisch sanieren und barrierefrei machen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Machen wir ein Kollektiv!)


Das würde allen nutzen. Der Aufzug ginge dann auch bis
nach oben zu den Bayern. Dann blieben immer noch die
Eigentumswohnungen. Man könnte dann aber Durchbrü-
che zwischen den Zimmern schaffen, Parkett oder Tep-
pichboden legen. Man kann die Möbel selber wählen und
so fort. Nur die tragenden Wände darf man nicht einrei-
ßen. Dann wäre es immer noch ein föderalistisches Haus,
aber eines mit einer soliden Substanz.


(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Wir sind aber schon noch im Bildungsausschuss? Oder?)


Genau das wollen wir.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Aufzählung der Hausaufgaben in unserem Antrag,
die sehr umfangreich ist, macht nur deutlich, wie groß
die Aufgabe ist, die vor uns liegt. Wir sollten da rum end-
lich den Mut beweisen und selbst etwas vorlegen, was
die Länder nicht ablehnen können. Dies könnte man
dann durch eine Bildungsrahmenvereinbarung oder ein
Bildungsrahmengesetz, wie Sie es lieber nennen würden,
Herr Rabanus, sichern,


(Martin Rabanus [SPD]: Bundesbildungsgesetz!)


in dem Rechtsansprüche wie Qualitätsstandards festge-
schrieben werden; eben ein Rahmen, der Vielfalt ermög-
licht und Vergleichbarkeit und Anerkennung sichert. Das
wäre doch für alle etwas. Deshalb schlagen wir Ihnen
heute vor, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu
nehmen und die komplette Aufhebung des Kooperations-
verbotes in der Bildung in Angriff zu nehmen. Ich glau-
be, die Länder wären gut beraten, dem zu folgen.

GEW und VBE, die Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft und der Verband Bildung und Erziehung,
haben das kurz vor Weihnachten in ihren Pressemittei-
lungen erklärt. Ich glaube, ihnen kann man glauben,
weil sie von Bildung etwas verstehen. Sie wollen diese
Aufhebung. Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes
Bildung und Erziehung, hat in seiner Presseerklärung
vorgeschlagen, das Jahr 2016 zum Jahr der Bildungsge-
rechtigkeit zu machen. Na, das wäre doch mal was.


(Beifall bei der LINKEN)


Dem könnten wir gut folgen.

Politik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wird
am Ende nicht danach beurteilt, wie gut die Zahlen sind,
die man nennen kann, sondern sie wird danach beurteilt,
welche Probleme gelöst werden können; da brauchen wir

einen langen Atem. Das müssen wir jetzt angehen und
dürfen nicht mehr warten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814924500

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt Tankred Schipanski.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1814924600

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Frau Hein, Und täglich grüßt das Murmeltier –
das fällt mir zu Ihrem Antrag ein. Wir debattieren wieder
einmal die Abschaffung eines angeblichen Kooperations-
verbotes in der Bildung, das angeblich im Grundgesetz
verankert ist.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Angeblich“? Das steht in der Verfassung, Mann!)


Bereits begrifflich ist das in dieser Debatte eine Irre-
führung. Es gibt kein „Kooperationsverbot“,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch mal das Grundgesetz!)


sondern eine föderale Kooperationskultur.


(Beifall des Abg. Albert Rupprecht [CDU/ CSU])


Bund, Länder und Gemeinden, also Kommunen, enga-
gieren sich seit Jahrzehnten gemeinsam im Bildungsbe-
reich unserer Bundesrepublik. In unserem Grundgesetz
ist von einem „kooperativen Bildungsföderalismus“ mit
einer klaren Aufgabenzuteilung und somit klaren Zustän-
digkeiten die Rede.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher haben wir,
so glaubte ich, auf Bundesebene einen gesellschaftli-
chen Konsens und ein gemeinsames Ziel, nämlich mehr
Einheitlichkeit, mehr Vergleichbarkeit und mehr Trans-
parenz im deutschen Schulsystem. Wir wollen inner-
deutsche Mobilität ermöglichen. Wir wollen Mindest-
standards. Wir wollen einen Grundkanon an Wissen. Wir
wollen Verbindlichkeit bei den Bildungsvereinbarungen
der Bundesländer untereinander.

Das war bisher in dieser Debatte unter dem Stichwort
„Aufhebung eines angeblichen Kooperationsverbotes“
das eigentliche Anliegen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Haben Sie das nicht verfolgt?)


Dabei haben wir festgestellt, dass die Arbeit der Kultus-
ministerkonferenz stark verbesserungswürdig ist. Daher
werben wir für einen Staatsvertrag der Bundesländer in
diesem Bereich, ähnlich wie wir das bereits beim Rund-
funk kennen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute bekommt
unsere langjährige Debatte einen ganz neuen Zungen-

Dr. Rosemarie Hein






(A) (C)



(B) (D)


schlag. Der Linken geht es nicht um Vergleichbarkeit und
mehr Vereinheitlichung im deutschen Schulsystem. Sie
will einfach nur Geld: Geld für Schulen und für Kinder-
gärten, für Sozialarbeit und interkulturelle Bildung, Geld
für Inklusion,


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Dann haben Sie aber nicht gut gelesen!)


einfach nur Geld im Verantwortungsbereich der Bundes-
länder. Diese sollen das nach Gutdünken ausgeben kön-
nen. Der Bund soll die Gießkanne füllen, und die Länder
schütten aus. Nicht mit uns!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Heute lässt die Linke ihre Maske fallen.


(Lachen bei der LINKEN)


Es geht ihr nicht um Inhalte. Es geht ihr nicht um die
Stärkung unserer schulischen Bildung. Nein, es geht ihr
nur um Geld für die Bundesländer. Dann sollte die Linke
einen Antrag stellen, die Bund-Länder-Finanzbeziehun-
gen neu zu ordnen, aber keinen Antrag auf Verfassungs-
änderung mit dem Ziel, dass die Bundesländer noch mehr
Geld vom Bund erhalten.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Beschränkte Sichtweise!)


Für meine Fraktion stelle ich fest, dass eine Verfassungs-
änderung das falsche Instrument ist, um das Ziel der Lin-
ken zu erreichen.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Warum haben Sie es dann bei der Hochschule gemacht?)


Inhaltlich ist der hier gestellte Antrag völlig falsch. Es
wird behauptet, der Bund engagiere sich nicht im Bereich
der Bildung. Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist
der Fall. Sie behaupten, der Bund leistet keine Unterstüt-
zung bei der Kinderbetreuung: eine glatte Lüge. Allein
für den Ausbau der U3-Kinderbetreuung gibt der Bund
Milliarden, und zwar zwischen 2008 und 2013 4 Milli-
arden Euro und zwischen 2013 und 2017 8,5 Milliarden
Euro im Bereich der frühkindlichen Bildung. Das sind
die Fakten.

Sie sprechen in Ihrem Antrag von sozialer Spaltung
im Bildungswesen, wenn der Bund kein Geld gibt. Ich
erinnere Sie höflich an das Bildungs- und Teilhabepaket,
das wir 2010 in diesem Hohen Hause beschlossen haben.
Mittagessenzuschuss, Lernförderung, Finanzierung von
Sportvereinen und persönlichem Schulbedarf, Geld für
Schulausflüge:


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Was ist da falsch?)


Das alles gibt es für bedürftige Kinder. Dafür stellen wir
wiederum Milliarden des Bundes im Bereich Bildung zur
Verfügung.

Es geht weiter. Sie beklagen in Ihrem Antrag mangeln-
des Engagement des Bundes bei Bildungsprogrammen
für Flüchtlingskinder: wieder eine Unrichtigkeit in Ihrem
Antrag. Ich erinnere an die Programme des BMBF: „Le-

sestart für Flüchtlingskinder“, „Kultur macht stark“ und
das Programm der Bildungskoordinatoren. Für all das
fließen Millionenbeträge in den Bildungsbereich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie sehen: Wir brauchen keine Verfassungsänderung,
um den Ländern und Kommunen Bundesgeld zur Verfü-
gung zu stellen. Das von Ihnen vorgeschlagene Instru-
ment ist untauglich, um dieses Ziel zu erreichen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814924700

Herr Schipanski, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1814924800

Nein, wir machen das schön fertig, und dann freue ich

mich über die Kurzintervention meiner Kollegin Hein.

Wir geben als Bund seit vielen Jahren Milliardenbe-
träge in den Bildungsbereich. Was wir brauchen, sind
eine Vereinheitlichung und eine bessere Vergleichbarkeit
im deutschen Schulsystem. Das erreichen wir über einen
gemeinsamen Staatsvertrag der Bundesländer. Für die-
sen werbe ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich.
Dem Bund steht dabei verfassungsrechtlich eine koordi-
nierende Rolle zu. Das ist ein pragmatischer Lösungs-
weg, dem sich die Bundesländer nicht länger verweigern
sollten. Diesen Lösungsweg sollten wir gemeinsam ver-
folgen. Daher lehnen wir den Antrag der Linken ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814924900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr Özcan

Mutlu das Wort.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Nein! Jetzt kommt die Kurzintervention!)


– Eine Kurzintervention muss man anmelden, sorry.


(Zurufe von der LINKEN: Das haben wir!)


– Nein, das ist etwas anderes als eine Zwischenfrage.
Wenn Sie das wollen, erhalten Sie dafür das Wort. Aber
es muss angemeldet werden.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814925000

Vielen Dank, dass Sie sie noch zulassen. – Herr

Schipanski, ich kann mich noch gut erinnern, dass Sie
uns immer mit wehenden Fahnen vorgeworfen haben,
wir wollten den alten Einheitsbrei wiederhaben. Heu-
te werfen Sie uns vor, dass wir genau das nicht wollen,
sondern dass wir Vielfalt wollen. Sie müssen sich schon
entscheiden, was Sie uns vorwerfen wollen.

Ich habe in meiner Rede ausdrücklich gesagt, dass es
uns um Vielfalt und darum geht, den Föderalismus zu
erhalten. Ich weiß nicht, ob Sie – Entschuldigung – die
Ohren nicht frei hatten oder sich mit anderen Dingen be-
schäftigt haben, aber es war nicht so. Ich glaube, dass
Sie mit jedem Ihrer Sätze und jedem Beispiel, das Sie
gebracht haben, unsere Forderungen eigentlich bestätigt
haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Tankred Schipanski






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814925100

Herr Schipanski.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können auch verzichten!)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1814925200

Ich habe Ihrer Rede zugehört. Wir sind aber heute

nicht im Bauausschuss – Sie haben von Häusern gespro-
chen und was noch alles –,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Einzige, was du verstanden hast! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Ich dachte, das verstehen Sie besser!)


sondern es geht um den Bildungsbereich

Ich habe Ihnen klar gesagt: Bisher haben wir immer
dafür geworben, dass wir mehr Vergleichbarkeit, mehr
Einheitlichkeit und mehr Transparenz in unserem Schul-
system haben wollen. Unter diesem Punkt haben wir
das auch immer diskutiert. Wir haben immer für den
Staatsvertrag geworben, den ich Ihnen heute noch einmal
dargeboten habe. Sie kommen mit dem von Ihnen vor-
geschlagenen Instrument einer Verfassungsänderung in
diesem Punkt nicht weiter. Daher haben wir Ihnen heute
unseren pragmatischen Weg aufgezeigt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie blockieren doch die Verfassungsänderung! Blockadepartei!)


– Nein, wir sind keine Blockadepartei.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Sie blockieren!)


Von daher kann ich Ihrer Argumentation nicht folgen. Ich
freue mich, wenn Sie uns bei den Zielen, die ich aufge-
zeigt habe, unterstützen wollen.

In Ihrem Antrag geht es nur darum, Geld vom Bund
zu den Bundesländern zu transferieren. Das wollen wir
weder mit einer Verfassungsänderung noch auf andere
Art und Weise.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Gut, das müssen Sie mit Ihren Leuten ausmachen!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814925300

Jetzt spricht als nächster Redner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen Özcan Mutlu.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814925400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Freundinnen und Freunde! Fangen wir einmal so an:
Nach der Märchenstunde von Herrn Schipanski kommen
wir zur Sachlichkeit zurück. Ich empfehle Ihnen, Herr
Kollege: Lesen Sie das Grundgesetz! Dann wissen Sie,
wovon die Kollegin Hein redet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


In keinem Land der Welt gibt es ein in der Verfassung
festgeschriebenes Verbot, dass Bund und Länder oder
regionale Provinzen in der Bildungspolitik zusammen-
arbeiten. Wir sind das einzige Land, das das gesetzlich
verbietet. Ich frage mich immer wieder: Was kann da-
ran falsch sein, wenn die verschiedenen Ebenen eines
Staates – in diesem Fall Bund und Länder – zusammen-
arbeiten, im Interesse der Schülerinnen und Schüler, im
Interesse der Schulen und im Interesse unseres Landes?
Sie haben das anscheinend nicht kapiert. Die grandiose
Fehlentscheidung, die 2006 von der GroKo im Grundge-
setz verankert wurde – mittlerweile wurde das Koopera-
tionsverbot im Hochschulbereich gelockert –, gehört in
Gänze revidiert, und zwar so schnell wie möglich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Zahlreiche Studien beweisen, dass fehlende Bil-
dungsgerechtigkeit eines der größten Probleme unseres
Bildungssystems ist. Ausgerechnet hier hält die Große
Koalition am Kooperationsverbot fest und manifestiert
aus meiner Sicht die Kleinstaaterei, die eigentlich längst
überholt sein sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Anbetracht der immer größer werdenden Herausfor-
derungen, vor denen unsere Schulen und andere Bil-
dungseinrichtungen stehen – Inklusion, digitale Bildung,
Sprachförderung und mehr Ganztagsschulen –, muss sich
der Bund in der Tat aktiver beteiligen. Aber er kann das
nicht, weil Sie am Kooperationsverbot festhalten. Ich
sage Ihnen: Die Herausforderungen und die Probleme
werden sogar zunehmen aufgrund der Tatsache, dass seit
letztem Jahr viele Menschen im schul- und ausbildungs-
fähigen Alter in unser Land kommen. Diese müssen
im Schulsystem integriert werden. Kollege Schipanski,
wir wissen, dass einige Koordinierungsstellen, die das
BMBF geschaffen hat, oder eine Deutsch-App einfach
nicht ausreichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir wissen, dass viele Städte und Gemeinden völlig
überfordert sind und längst an ihre finanziellen Grenzen
gestoßen sind. Ich bin dann sprachlos – und das kommt
selten vor –, wenn Frau Ministerin Wanka – sie ist heu-
te nicht anwesend – ganz unverblümt in der Presse sagt:
„Die Länder haben die Aufgabe, Willkommensklassen
einzurichten, da ist der Bund in keiner Weise tangiert.“
Toll! Das ist eine richtig gute Erklärung eines Problems,
das eigentlich gemeinschaftlich gelöst werden sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Wanka sollte sich stattdessen für eine flächende-
ckende Bildungsoffensive starkmachen und vielleicht
beim Kollegen Schäuble, der jetzt 12 Milliarden Euro
mehr im Säckle hat, ein bisschen mehr für Bildung und
Bildungsinvestitionen einfordern. Das wäre nötig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der deutsche Bildungsföderalismus hat eine zerklüf-
tete und ineffektive Schullandschaft mit 16 unterschied-
lichen Schulsystemen, Lehrplänen und Versetzungsord-






(A) (C)



(B) (D)


nungen geschaffen. Ich finde, dass dieser Zustand im
21. Jahrhundert, im Jahre 2016, nicht mehr hinnehmbar
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb haben wir Grüne in unseren zwei Anträgen in
dieser Legislaturperiode – genauso wie mehrfach in der
vergangenen Legislaturperiode – gefordert, konsequen-
terweise das Kooperationsverbot in Gänze abzuschaffen
und durch Kooperation zu ersetzen. Es geht in der Tat um
gemeinsame Bildungsstandards und gemeinsame Zie-
le in der Bildung. Aber das wollen Sie nicht. Sie halten
weiterhin am Kooperationsverbot fest.

Kooperation heißt aber nicht unbedingt und aus-
schließlich, dass die Bundesländer Kompetenzen abge-
ben müssen. Da gibt es sicherlich kreative Möglichkei-
ten, die Zusammenarbeit zu stärken. Ich erinnere an das
letzte Mal, als der Bund tatsächlich Geld für die Bildung
in die Hand nehmen durfte. Damals flossen unter Rot-
Grün 4 Milliarden Euro für 10 000 neue Ganztagsschu-
len. An diese Erfolgsstory sollten wir anknüpfen; dazu
rate ich Ihnen. Ich schaue hier insbesondere in die Reihen
der SPD. Es reicht nicht aus – ich bin noch nicht fertig –,
liebe Kollegen von der SPD, –


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814925500

Aber, Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kom-

men.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814925600

– in sämtlichen bildungspolitischen Papieren die Ab-
schaffung des Kooperationsverbotes festzuschreiben und
zu versprechen, aber hier keinerlei Aktivitäten diesbe-
züglich zu unternehmen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814925700

Ernst Dieter Rossmann spricht jetzt für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1814925800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schipanski erwähnte schon das Murmeltier hier im
Bundestag. Ich lasse es im Winterschlaf.

Ich möchte vier agitatorische Gedanken vortragen:

Erstens. Niemand soll daran zweifeln, dass die SPD
im Bundestag, wenn es zusammen mit einem Koalitions-
partner eine Mehrheit gibt, um das Kooperationsverbot
aufzuheben, voll dabei ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber wir möchten gern die Verhältnisse so zum Tan-
zen bringen, Herr Schipanski, dass Sie beklagen, dass
der Bund von den Ländern aufgefordert wird, ihnen Geld
blanko zu geben. Wir kommen jetzt in eine Situation, in
der sich die Länderministerpräsidenten im Rahmen der
Einigung über die Länderfinanzen 10 Milliarden Euro
zusätzlich auf Kosten des Bundes bewilligen wollen. Ist
das nicht eine Chance, zu sagen: „Cash gegen Präzisi-
on“?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Cash gegen Mitwirkung des Bundes; denn wir wollen
das Geld nicht blanko geben, weil wir wissen, dass die
Länder vor großen Aufgaben im Bereich der Bildung ste-
hen. Sie tragen fast 60 Prozent der Kosten.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das haben wir bei BAföG probiert! Das war in die Hose gegangen!)


Aber wir als Bund möchten dazu beitragen, dass es
Harmonie gibt und diese Gelder eine präzise Wirkung
in Richtung auf den Ausbau der Bildung entfalten. Die-
sen Gedanken möchten wir ihnen gerne präsentieren.
Wir müssen jetzt die Ministerpräsidenten Ramelow und
Kretschmann, unsere Ministerpräsidenten und Ihre da-
von überzeugen.


(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir unterstützen Sie dabei!)


Zweitens. Wenn wir in das Grundgesetz schauen, dann
sehen wir, dass der Bund und die Länder auch bei der
Bildung zusammenwirken können. Es gibt aber auch
die legendäre Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ oder die Gemeinschafts-
aufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-
tenschutzes“. Das ist wichtig.

Jetzt wäre eine Gemeinschaftsaufgabe „Demografie
und Integration“ wichtig. Das wäre eine echte, zukunfts-
gerichtete Gemeinschaftsaufgabe. Bei der wäre natürlich
auch der Bildungsanteil hochgradig enthalten. Auch da-
rüber sollten wir zusammen nachdenken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn wir schon nicht den ganzen Himmel bekommen,
dann wenigstens einen konkreten Himmel. Die Bedeu-
tung der Bildung wird anwachsen; deshalb müssen wir
unsere diesbezügliche Aufgabe erfüllen.

Drittens. Wenn dies nicht geht, dann sind wir zusam-
men aufgefordert, spätestens im März oder April im Bun-
destag nicht nur ein weiteres Asylpaket zu schnüren, son-
dern ein Asyl- und Integrationspaket vorzulegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist doch die gemeinschaftliche Aufgabe, die wir
haben, Bund, Länder und Kommunen konkret dazu zu
bringen, dass sie die große Bildungsaufgabe bewältigen,
die Chancen, die darin liegen, nutzen, aber auch die Ge-

Özcan Mutlu






(A) (C)



(B) (D)


fahren, die es gibt, erkennen. Alle drei Ebenen müssen
unterstützt werden, damit es eine effektive Bildungsinte-
gration gibt. Die Felder könnten wir hier alle benennen.
Wir können nur dafür werben, dieses Signal in die Ge-
sellschaft zu senden: Begrenzung und Integration. Dafür
brauchen wir ein Integrationspaket.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Viertens. Wenn auch das nicht reicht, werden wir
uns konkret überlegen müssen, ob wir die Initiative der
CDU-Bildungspolitiker aufgreifen, die zum Beispiel für
den Sprachenbereich statt 3,10 Euro 4,40 Euro fordern.
Das bedeutet Ausgaben von 200 Millionen Euro zusätz-
lich, wenn wir eine gute Sprachförderung wollen.

Andere Politiker sehen die Kindertagesstätten als Ein-
gangstor für die Integration der Kinder. Diesen Bereich
müssen wir verbessern, damit Familien nicht aufgrund
falscher Wertvorstellungen glauben, es seien die Frauen,
die im Haus bleiben müssten und nicht lernen dürften,
weil die Männer Kinder nicht betreuen könnten.

Wir müssen auch über die duale Ausbildung nach-
denken. Heute Morgen haben wir darüber gesprochen.
Lehrherren und Lehrfrauen bereiten sich jetzt auf den
Beginn der Ausbildung im August vor. Die müssen die
Sicherheit haben, dass die Ausbildungsverhältnisse, die
sie anbieten, nicht durch ausländerrechtliche Vorschrif-
ten gefährdet werden. Sie sollten sicher sein, dass es für
die Auszubildenden, die ihren Abschluss machen, später
auch eine Bleibeperspektive gibt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist abgesichert!)


Haben wir diese Gesetzesänderung schon vollzogen?
Nein. Das ist eine Gesetzesänderung, die wir brauchen,
so wie wir andere Gesetzesänderungen brauchen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Dafür brauchen wir keine Verfassungsänderung!)


Wir brauchen auch deshalb zusätzliches Geld, weil wir
alle wissen, dass jetzt junge Menschen kommen, die aus
der Unsicherheit herauswollen. Sie wollen Geld verdie-
nen. Oft wissen sie nicht, wie tragfähig die duale beruf-
liche Ausbildung ist. Viele gutwillige Handwerksmeister
und andere sagen: Es ist schwierig für uns, diese jungen
Leute auszubilden. – Wir brauchen daher Aufbauklassen
in den berufsbildenden Schulen, wir werden aber auch
ganz viel überbetriebliche, außerbetriebliche Ausbildung
im beruflichen Bereich für diese jungen Leute brauchen.
Auch dafür brauchen wir Geld. Also, das Plädoyer geht
in diese Richtung.

Wir werden noch einen langen Kampf in Sachen
Grundgesetz und Kooperationsverbot führen müssen,
aber vielleicht bewegen sich bei diesen schwierigen
Dingen, nämlich den Ländern 10 Milliarden Euro cash
für Bildung und anderes zu geben, auch noch manche
Geister. Wir haben die Möglichkeit, eine neue Gemein-
schaftsaufgabe zu etablieren, wir haben die Möglichkeit
eines Paktes. Hauptsache ist, dass wir etwas tun, und
zwar gemeinschaftlich, um die Probleme zu lösen, die

jetzt anstehen. Dann kann das Murmeltier auch noch ei-
nen Monat länger schlafen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manche schlafen die ganze Zeit!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814925900

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Xaver Jung

für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Xaver Jung (CDU):
Rede ID: ID1814926000

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Der Witz bei dem Murmeltier ist ja, dass es eben
nicht schläft und dass das Ganze jeden Morgen von neu-
em losgeht.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ach so! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Wenn Sie nicht lernen!)


Von Ihrer Rede, Herr Rossmann, ist bei mir hängen
geblieben „Cash gegen Präzision“. Da fällt mir das Bei-
spiel mit den BAföG-Milliarden ein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was ist bei den BAföG-Milliarden eigentlich genau pas-
siert? Wir haben den Ländern Geld gegeben und auf Prä-
zision gehofft, und bis heute warten wir auf die Rückmel-
dung von so manchem Land dazu, was mit diesem Geld
eigentlich passiert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und was folgt daraus? – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das Geld allein reicht nicht!)


Genau das ist der Grund, warum wir gegen die Auf-
hebung des Kooperationsverbotes sind. Wir sehen, dass
die BAföG-Sätze über Jahre nicht erhöht worden sind.
Woran lag das? Der Bund hat die Schuld auf die Län-
der geschoben, und die Länder haben die Schuld auf den
Bund geschoben. Herausgekommen ist: Es gab keine
Erhöhung. Jetzt haben wir klare Verhältnisse: Der Bund
ist zu 100 Prozent zuständig. Die Studenten bekommen
mehr Geld, und jeder weiß, wer dafür verantwortlich ist,
nämlich die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU –: Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Was wollen Sie uns damit sagen? – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Studenten warten immer noch auf die BAföG-Erhöhung!)


Das ist ein Beleg dafür, dass es gut ist, wenn Zustän-
digkeiten und Verantwortlichkeiten klar zugeteilt sind.
Ich kann mir schon vorstellen, wie es in Zukunft sein
wird, wenn wieder beide Seiten zuständig sind: Man
blockiert sich. Die einen wollen bezahlen. Die anderen

Dr. Ernst Dieter Rossmann






(A) (C)



(B) (D)


sagen: Das ist uns zu wenig; da machen wir besser gar
nichts. – Das haben wir alles schon gehabt, Frau Hein.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das habe ich noch nie erlebt!)


Ich wollte noch auf Ihren Antrag eingehen, in dem Sie
die Situation in Deutschland beschreiben. Ich muss sa-
gen: Sie haben sich bisher immer auf die OECD berufen,
nur in diesem Antrag nicht. Das ist auch kein Wunder;
denn seit November 2015 wissen wir, dass es dem deut-
schen Bildungssystem wesentlich besser geht, als es die
ganze Zeit von Ihnen behauptet wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da denke ich wieder an das Murmeltier: Immer wieder be-
haupten Sie, unsere Bildung sei schlecht, Deutschland hin-
ke hinterher. Das ist nicht so; die OECD hat es bestätigt.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Bildungsfinanzbericht anschauen!)


Wir haben festgestellt: Schulpolitik gehört zu den urei-
genen Kompetenzen der Länder, und die Länder wollen
diese Kompetenz auch gar nicht abgeben. Das ist Fakt
eins. Fakt zwei ist: Die Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern hat bisher sehr gut funktioniert. Sie hat so-
gar noch nie so gut funktioniert wie zurzeit. Ich verweise
auf den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative, den Pakt
für Forschung und Innovation, die Qualitätsoffensive
Lehrerbildung. Wir helfen gerne zeitweise bei norma-
ler Bildungsarbeit, Schulsozialarbeit, Erwachsenenbil-
dung, Alphabetisierung und jetzt auch, Herr Mutlu, im
Flüchtlingsbereich – und das ist auch gut so. Frau Hein,
wir bauen also Dächer. Wir renovieren das Parkett und
machen auch andere Dinge, und wir werden das auch in
Zukunft tun können.

Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, haben
wir, der Bund, mit unserer Bildungspolitik sehr viel zum
Positiven hin verändert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Bund hat sein Soll in vielen Bereichen sogar über-
erfüllt.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Vielleicht stimmt das Soll nicht!)


– Frau Hein, mit Ihrem Antrag gaukeln Sie den Leuten
draußen doch vor, Sie wollten Inhalte ändern. Das pas-
siert doch nicht. Herr Schipanski hat doch recht gehabt:
Es geht Ihnen nur um Geld. Der reiche Onkel Schäuble
hat jetzt Geld, und bei dem wollen Sie abgrasen. Sie wol-
len aber nicht, dass wir darauf achten, was mit diesem
Geld passieren wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Es ist ganz richtig – es wurde schon gesagt –: Bund
und Länder verhandeln demnächst wieder an anderer
Stelle darüber, wie man den Ländern genügend Mittel
zur Verfügung stellt. Wenn man gut verhandelt, dann
werden die Länder auch weiterhin die Verantwortung
für ihre Mittel haben. Wenn deren Mittel nicht reichen,

dann können wir das kritisieren, und wenn sie eine gute
Finanzpolitik machen, dann können sie stolz darauf sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich hoffe, dass viel von dem Geld, das die Länder
dann bekommen werden, in Bildung fließt und dass nicht
wieder an anderer Stelle gekürzt wird.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist das Prinzip Hoffnung! Das hilft ja nichts!)


Kurz: Geld allein sorgt noch nicht für eine bessere Bil-
dung. Die Punkte, die auch uns schon immer wichtig
waren, sind schon mehrmals genannt worden: Vergleich-
barkeit, Leistung, Erleichterung des Wechsels in ein an-
deres Bundesland. All das sind Dinge, über die wir gerne
reden. Der richtige Weg dazu ist ein Staatsvertrag. Das
wäre ein erster Schritt. Gucken wir doch einmal, ob wir
da zusammenkommen! Wenn das gelingt, haben wir et-
was erreicht, und vielleicht kann man darauf dann noch
aufbauen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was für ein Staatsvertrag?)


Es ist niemand dagegen, Herr Rossmann, dass wir sa-
gen: Wir wollen in der Flüchtlingsproblematik weiterhin
zusammenarbeiten, wieder ein Projekt auflegen. Das ist
keine Sache des Grundgesetzes. Das können wir unterei-
nander so vereinbaren, und wir werden in dieser Sache
viel tun.

Aber eines werden wir nicht tun: Wir werden nicht das
Grundgesetz ändern, um linken Ideologien nachzugehen,
sondern wir wollen auch weiterhin zielgerichtet und
treffsicher unsere Bildungspolitik hier machen, damit
auch das Jahr 2016 ein erfolgreiches Jahr für die Bildung
in Deutschland wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814926100

Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte

hat Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1814926200

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und
Herren! Als mir angekündigt wurde, dass die Linke über
das Kooperationsverbot sprechen wolle,


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Haben Sie sich gefreut!)


habe ich mich sehr gefreut. Meine Freude wurde aller-
dings ein klein wenig getrübt, als ich Ihren Antrag ge-
lesen habe: großes Potpourri mit vielen Ideen und von
allem etwas. Gleichwohl: Ihre Einladung zur Diskussion
nehmen wir in der SPD-Fraktion sehr gern an; Sie haben
es eben schon bei Ernst Dieter Rossmann gehört. Richtig
ist, dass in der Tat schon der Begriff „Kooperationsver-
bot“ deutlich macht, mit welchem Irrsinn wir es hier ei-
gentlich zu tun haben.

Xaver Jung






(A) (C)



(B) (D)


Herr Schipanski, es geht darum, dass Bund und Län-
der nicht dauerhaft und nicht offiziell miteinander ins
Gespräch kommen und zusammenarbeiten können.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Selbstverständlich machen wir das offiziell!)


In anderen Ländern – wenn Sie Auslandsreisen machen,
werden Sie das sehen – versteht das kein Mensch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – René Röspel [SPD]: Das versteht auch bei mir zu Hause kein Mensch!)


Wir reden gern über Bildungsketten – das tun wir auch
in der Großen Koalition zur Genüge –: über frühkind-
liche Bildung, berufliche Bildung – darüber haben wir
heute Morgen diskutiert –, Hochschulbildung. Dass wir
bei diesen Bildungsketten auf Bundesseite ausgerechnet
über die schulische Bildung nicht sprechen sollen, das
erschließt sich mir nicht.

Sie gehen dabei gern auf die Situation der Länder
ein – das ist richtig; das ist gut so –, aber wir sollten doch
jetzt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Heraus-
forderungen – ich meine damit die Integrationspolitik –
einmal gucken, ob wir nicht mit bisherigen Weisheiten
aufräumen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war nie weise!)


Ich will zugeben – lassen Sie mich das ausdrücklich
vor dem Hintergrund der Aktuellen Stunde von gestern
sagen –: Mich beunruhigen die Ereignisse von Köln au-
ßerordentlich. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warum
sich angesichts der großen Herausforderung, die wir in
der Integrationspolitik haben, jetzt nur diejenigen zu
Wort melden, die offensichtlich eine repressive Politik
verfolgen. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich finde,
es ist richtig, dass wir das Sexualstrafrecht reformieren,
dass wir Gewalt gegen Frauen, insbesondere sexuali-
sierte Gewalt, hart bestrafen. Aber wir können doch als
Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker zu diesen
Ereignissen nicht schweigen. Deshalb, denke ich, müs-
sen wir auch an der Stelle über Schulpolitik, über das
Kooperationsverbot und insbesondere über das Fallen
des Kooperationsverbotes sprechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814926300

Lassen Sie eine Zwischenfrage zu, Frau De Ridder?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1814926400

Ja, gern.


Elfi Scho-Antwerpes (SPD):
Rede ID: ID1814926500

Danke schön, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin,

haben Sie genaue Vorstellungen? Können Sie vielleicht
etwas entwickeln, so auf die Schnelle, in den drei Minu-

ten, so nebenher? Als Kölnerin interessiert mich das. Ich
habe auch Vorstellungen. Das wäre einmal interessant zu
hören; das passt jetzt.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie kann das denn sein, dass aus der eigenen Fraktion eine Zwischenfrage gestellt wird? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1814926600

Das ist jetzt natürlich eine Herausforderung. Ich ver-

stehe Ihre Frage, liebe Frau Scho-Antwerpes, dahin ge-
hend, dass wir noch einmal überlegen müssen: Was heißt
denn Integrationspolitik vor dem Hintergrund der Schul-
politik? Wir sehen an den Kölner Ereignissen – das wer-
den insbesondere Sie als Kölnerin bestätigen können –,
dass wir hier offensichtlich ein Genderproblem haben.
Welche Einrichtung, wenn nicht die Schule, ist beson-
ders dazu aufgerufen, genau dieses Thema aufzugreifen
und deutlich zu machen, wie sich die Geschlechter zu-
einander verhalten? Warum soll man Schülerinnen und
Schülern das nicht beibringen?

Im Übrigen geht es darum, Lehrerinnen und Lehrern
zu vermitteln, hier beispielsweise über Diversität zu
sprechen und möglicherweise auch über Vorurteile zu
sprechen, die gerade auch Lehrerinnen und Lehrer ha-
ben – sicher nicht alle –, besonders was Schülerinnen
und Schüler mit Migrationshintergrund angeht, und die
abgeräumt werden müssen. Ich denke, da können wir an-
setzen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Richtig ist vor allem, dass wir aus den Fehlern der
Vergangenheit lernen müssen und sie nicht wiederholen
dürfen. Nach zehn Jahren Kooperationsverbot, meine
ich, ist das endlich angesagt. Die Hochschulreform – das
werden die Kolleginnen und Kollegen aus der Union zu-
geben – war doch richtig. Aber wir dürfen nicht dabei
stehen bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, der
beste Weg aus der Armut – das ist keine Erfindung von
mir – ist der Schulweg. Ihn müssen wir beschreiten. Da-
bei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um gute
Ideen sowie darum, dass wir einen Bildungs- und Wer-
tekanon entwickeln. Das ist doch Ihre Debatte an dieser
Stelle.

Ich freue mich also darüber, dass wir die Diskussion
annehmen. In der Tat sollten wir alle gemeinsam auch
auf unsere Landespolitiker zugehen, das mit ihnen disku-
tieren und sie ermutigen, jetzt das Richtige und das Ge-
botene zu tun. Seien wir also tapfer und mutig! Beweisen
wir Größe! Nur Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie schaffen das schon.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir schaffen das!)


Dr. Daniela De Ridder






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814926700

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6875 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg,
Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Den Menschenrechtsrat der Vereinten Natio-
nen stärken
Drucksachen 18/4430, 18/6433

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihre
Plätze einzunehmen, damit wir in unserer Sitzung fort-
fahren können. – Auch die Kollegen von der SPD-Frakti-
on mögen bitte ihre Gespräche einstellen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser
Aussprache hat Frank Schwabe von der SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1814926800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben dankenswerterweise den Antrag der Grünen
zum Thema „Menschenrechtsrat der Vereinten Natio-
nen“ vorliegen. Er gibt Gelegenheit, am heutigen Abend
noch einmal gemeinsam auf das zurückzublicken, was
2015 unter der Präsidentschaft Deutschlands im Men-
schenrechtsrat passiert ist.

In der Tat brauchen wir Verbesserungen im Menschen-
rechtsrat. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir den
Menschenrechtsrat noch gar nicht so lange haben. Dass
wir ihn jetzt haben, ist zumindest schon eine Verbesse-
rung, nachdem wir vorher nur eine Menschenrechtskom-
mission hatten.

Wir haben als zentrales Element des Menschenrechts-
rats mittlerweile das sogenannte UPR-Verfahren. Das
hört sich kompliziert an, heißt aber nur, dass die Staaten
der Vereinten Nationen regelmäßig auf ihre menschen-
rechtlichen Standards überprüft werden.

Trotzdem ist noch viel zu tun. Deswegen ist es auch
gut, dass es diesen Denkanstoß der Grünen gibt, dem wir
heute zwar nicht zustimmen können, den wir aber als
Denkanstoß aufnehmen, um ihn entsprechend weiter zu
diskutieren.

Ich meine, dass Deutschland sich wirklich um die
Stärkung des Menschenrechtsrats kümmert und auch
Erfolge zu verzeichnen hat. In gewisser Weise wird das

wahrscheinlich auch dadurch gewürdigt, dass wir jetzt
zum dritten Mal in den Menschenrechtsrat gewählt wor-
den sind und von 2016 bis 2018 wiederum Mitglied die-
ses wichtigen Gremiums sind – auch wenn ich zugeben
muss, dass die Wahl in dieses Gremium nicht immer da-
für steht, dass man höchste menschenrechtliche Integrität
an den Tag legt, wie man sieht, wenn man sich einmal die
einzelnen Mitglieder anschaut.

2015 hatte Deutschland den Vorsitz des Menschen-
rechtsrats inne. Unser Dank geht wirklich – das kann
ich, glaube ich, für das ganze Haus sagen – an Botschaf-
ter Joachim Rücker, der dem Menschenrechtsrat seinen
Stempel aufgedrückt hat und Deutschland dort würdig
vertreten hat.


(Beifall im ganzen Hause)


Es waren seine vermittelnde Amtsführung, seine Dia-
logorientierung, der Versuch der Konsensbildung und die
Stärkung der aktiven Rolle der Zivilgesellschaft, die die-
se Präsidentschaft besonders ausgezeichnet haben – auch
wenn das nicht immer so einfach ist und es auch in einer
solchen Amtsführung Widersprüche gibt, die Joachim
Rücker in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung im
September des letzten Jahres selbst benannt hat, in dem
er die Gratwanderung im Umgang in diesem Menschen-
rechtsrat beschrieben hat und gefragt hat:

Gestalten wir eine Resolution so, dass im Men-
schenrechtsrat ein Konsens möglich wird, oder las-
sen wir es auf eine Kontroverse und eine Abstim-
mung ankommen?

Es ist eigentlich egal, wie man es macht, weil die Welt
so ist, wie sie ist. Am Ende gibt es bei beiden Verfah-
ren auch schlechte Ergebnisse und entsprechende Kritik.
Beim Thema Irak war es so, dass der Weg gewählt wur-
de, einen Konsens herbeizuführen, dem am Ende auch
der Irak zustimmen konnte. Dort gab es am Ende, wie
ich finde, durchaus berechtigte Kritik daran, dass zwar
die Gräueltaten des Daesh benannt worden sind, aber
entsprechende Gräueltaten von schiitischen Milizen zu-
mindest nicht ausreichend benannt worden sind. Das war
sozusagen durchaus ein an manchen Stellen fragwürdi-
ges Ergebnis eines solchen Konsensverfahrens.

Es gab aber auch das andere Verfahren, bei dem näm-
lich eine Resolution Ägyptens, die nun wirklich nicht an-
nahme- und konsensfähig war, im Konflikt abgestimmt
wurde und wir am Ende leider beschämenderweise die
Verabschiedung einer Resolution hatten, die Menschen-
rechtsfragen im Rahmen von Terrorbekämpfung relati-
viert. Das war sozusagen das Ergebnis eines Konfliktver-
fahrens. Aber noch einmal: Das ist eben die reale Welt,
wie wir sie haben. Wir haben 47 Mitgliedstaaten in die-
sem Menschenrechtsrat, und die meisten sind eben keine
lupenreinen Demokratien.

Die Menschenrechte sehen sich gerade zurzeit beson-
deren Belastungen ausgesetzt. Im Zuge von weltweiten
Krisen, aber auch mitten in Europa und in Deutschland
werden Menschenrechte zunehmend infrage gestellt.
Es gibt eine wachsende Zahl von Staaten weltweit mit
repressiver Gesetzgebung gegenüber Vereinigungen
der Zivilgesellschaft, sogenannten NGOs. Das findet






(A) (C)



(B) (D)


man leider in allen Teilen der Welt. Da macht leider das
schlechte Beispiel Schule.

Der Menschenrechtsrat hat in seiner letzten Sitzung
am Ende des vergangenen Jahres China, Russland, Sau-
di-Arabien und Kambodscha besonders kritisch disku-
tiert. Man könnte aber auch Staaten des Europarats wie
die Türkei oder Aserbaidschan hinzufügen und latein-
amerikanische Staaten wie Ecuador. Aber auch in an-
deren Teilen der Welt würden einem leider eine Menge
Beispiele einfallen. Auf der einen Seite sind die Men-
schenrechte also besonderen Belastungen ausgesetzt.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein wachsendes
Bewusstsein für die Bedeutung von internationaler Poli-
tik und dafür, dass man zu Hause auf Dauer nicht ordent-
lich leben kann, wenn Menschen in anderen Teilen der
Welt nicht ordentlich leben können. Das ist sozusagen
Außenpolitik und menschenrechtsorientierte Politik, wie
wir sie, glaube ich, verstehen sollten.


(Beifall bei der SPD)


Dabei sind die Menschenrechte eben nicht irgendein
Hindernis nationaler oder internationaler Politik, sondern
sie sind eigentlich das, worum es geht, warum wir im
Kern Politik betreiben. Man kann es auch mit Außenmi-
nister Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede vor dem
Menschenrechtsrat im März des letzten Jahres sagen:

Denn Missachtungen und Verletzungen der Men-
schenrechte sind nicht nur Folge, sondern Ursache
von Konflikten. Wo Menschenrechte systematisch
in Frage gestellt sind, bahnen sich soziale und po-
litische Krisen an, ist Unfrieden praktisch vorpro-
grammiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Fortschritte
in Menschenrechtsfragen – ich glaube, das müssen wir
uns gerade vor dem Hintergrund aktueller Debatten klar-
machen – sind gerade in Zeiten schwerster menschlicher
Tragödien oder nach schwersten menschlichen Tragödi-
en entwickelt worden. Dazu gehören sicherlich die Ver-
einten Nationen als solche mit ihren unterschiedlichen
Konventionen. Dazu gehören aber auch – das will ich
hier noch einmal besonders betonen – die Genfer Flücht-
lingskonvention und die Europäische Menschenrechts-
konvention. Sie sind entstanden nach bitterster, schwers-
ter Zeit, und sie sind gemacht worden für schwierigste
Zeiten. Sie sind eben nicht dafür gemacht worden, in
schwierigsten Zeiten genau diese Konventionen infrage
zu stellen, sondern dafür, sie in diesen schwierigen Zei-
ten zur Geltung zu bringen. Deshalb müssen sie gerade
jetzt für uns Leitschnur unseres Handelns sein. Ich bin
mir ganz sicher, dass wir uns aktuell genau daran mes-
sen lassen müssen und dass wir uns auch im historischen
Rückblick auf die aktuelle Situation genau daran messen
lassen müssen, ob wir in diesen schwierigen Zeiten Men-
schenrechte und ihre Standards zur Geltung gebracht ha-
ben.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814926900

Vielen Dank. – Inge Höger spricht jetzt für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1814927000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Viele von uns verfolgen zurzeit die Hilfsaktivitäten, die
viel zu spät im syrischen Madaja beginnen. Hungernde
Menschen erhalten das erste Mal seit Oktober Unter-
stützung mit Lebensmitteln und medizinische Hilfe. Das
gezielte Aushungern von Zivilpersonen ist nicht nur ein
Angriff auf die Menschenrechte, es ist völkerrechtlich
gesehen ein Kriegsverbrechen.

Dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Insti-
tution wie dem UN-Menschenrechtsrat. Schon im Juni
2015 hatte dieser in einem Bericht zu Syrien darauf hin-
gewiesen, dass alle Konfliktparteien in diesem Krieg das
systematische Aushungern als Kampfmethode einsetzen.
Es zeigt sich damit sogleich eines der Probleme bezüg-
lich der Handlungsfähigkeit des Menschenrechtsrates.
Erst nach einem halben Jahr wurde der diplomatische
Druck so stark, dass Hilfe für die Menschen gestartet
werden konnte.

Der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrates
für die israelisch besetzten Gebiete trat vor kurzem zu-
rück, weil ihm von Israel der Zugang zum Gazastreifen
und zu Teilen des Westjordanlandes verweigert wurde.
Seine Bemühungen, das Leben von palästinensischen
Opfern der israelischen Besatzung zu verbessern, sei-
en immer wieder zunichtegemacht worden, erklärte
Makarim Wibisono.

Die Beispiele zeigen, dass der Menschenrechtsrat ge-
stärkt werden muss. Das eklatante Missverhältnis zwi-
schen der Analyse einer menschenrechtlichen Notlage
oder von Verstößen gegen die Menschenrechte und der
politischen Handlungsfähigkeit muss überbrückt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen begrüßt die Fraktion Die Linke den vorliegen-
den Antrag ganz ausdrücklich.

Der Menschenrechtsrat erhält gerade einmal 40 Pro-
zent seiner laufenden Kosten aus dem Budget der Ver-
einten Nationen. Der große Rest ist abhängig von der
Bereitschaft der Mitgliedstaaten, zusätzliche Beiträge
zu leisten. Diese sind jedoch nicht selten an inhaltliche
Schwerpunkte geknüpft. Das schränkt die Handlungsfä-
higkeit des Rates ein.

Der momentan diskutierte Vorschlag, den Anteil des
Menschenrechtsrates am UN-Budget von 3 auf 5 Prozent
zu erhöhen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dies
darf allerdings nicht zulasten anderer wichtiger Aufga-
ben der Vereinten Nationen gehen.

Menschenrechtsarbeit ist nur glaubwürdig, wenn
Themen weniger nach politischer Opportunität als nach
tatsächlicher Dringlichkeit behandelt werden. Niemand
kann bestreiten, dass es keine Instanz gibt, die eine hun-
dertprozentig objektive Liste erstellen könnte, was auf
die Tagesordnung des Rates gehört und was nicht. Und

Frank Schwabe






(A) (C)



(B) (D)


alle hier wissen, dass Menschenrechtsfragen politisch
instrumentalisiert werden können und auch werden.
Deswegen sind unabhängige Mechanismen für die Be-
fassung mit Menschenrechtssituationen und die Stärkung
von Sonderberichterstattern und Sonderverfahren zu be-
grüßen.

Die Zusammensetzung des Menschenrechtsrates, in
dem auch zahlreiche autoritäre Staaten vertreten sind,
hat immer wieder zu Kritik geführt. Es wäre aber absurd,
wenn sich nur demokratische Staaten treffen würden. Das
würde auch ausblenden, dass angebliche Musterstaaten
Leichen im Keller haben. Deutschland selbst hat längst
nicht alle menschenrechtsrelevanten Konventionen und
Zusatzprotokolle unterzeichnet. Der Schutz der Wander-
arbeiter und Wanderarbeiterinnen oder der Schutz von
Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren vor Rekrutie-
rung in die Bundeswehr sind zwei von mehreren Baustel-
len des Menschenrechtsschutzes in Deutschland.

Ohne den Druck der UN wäre es im letzten Jahr wahr-
scheinlich kaum gelungen, dem Deutschen Institut für
Menschenrechte eine gesetzliche Grundlage zu geben.
Völlig unverständlich ist, warum Deutschland sich da-
gegen sperrt, bei den Vereinten Nationen das Menschen-
recht auf Frieden zu verankern.

Die Debatten und die regelmäßigen Überprüfungs-
verfahren im Rat sind also sinnvoll und notwendig und
haben auch immer wieder positive Effekte – für alle Be-
teiligten. Gerade in Zeiten, in denen auch in EU-Staaten
Menschen- und Freiheitsrechte gefährdet sind, brauchen
wir dringlicher denn je eine Instanz wie den UN-Men-
schenrechtsrat. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbei-
ten, die Bedingungen für seine Arbeit zu verbessern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814927100

Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Frank Heinrich

von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1814927200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wann, wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten, sind
die Vereinten Nationen und ihre Institutionen zu stär-
ken – gerade weil wir jetzt Dinge erleben, durch die wir
einiges bedroht sehen? Zum einen sehen wir die Welt-
sicherheitslage bedroht. Da fallen uns allen wahrschein-
lich die gleichen Schlagworte ein: Syrien, Nordirak, die
Ukraine, verschiedene Regionen Afrikas, die Fluchtbe-
wegungen, der näher rückende Terror. „Näher“ ist hier
subjektiv. Istanbul, Paris, Jakarta, Kairo und einige an-
dere Orte sind hier zu nennen. Auch die Menschenrechte
sehen wir bedroht, nicht nur in einzelnen Situationen. Da
könnte man jetzt konkret die Todesurteile in Saudi-Ara-
bien und den Fall des Bloggers Raif Badawi nennen, aber
auch den Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung vor
unserer eigenen Haustür, in Köln, in der vorletzten Wo-
che. Wir, die im Menschenrechtsausschuss mitarbeiten,
haben auch immer wieder Einzelpersonen vor Augen.

Insofern wiederhole ich: Es ist wichtiger denn je, die
Rolle der Vereinten Nationen zu stärken. Deshalb ist es
gut, das Thema auch durch solch eine Debatte ins Be-
wusstsein zu rufen, und das auch noch – Herr Kekeritz,
Sie haben es vorhin gesagt – zu einer angemessenen Zeit,
zu der auch noch zugehört wird. Das beginnt aber eben
nicht hochpolitisch, hier in unserem Hohen Haus, son-
dern bei der Wahrnehmung in den Köpfen der Menschen,
eben bei der Bewusstseinsbildung. Es ist also gut, das
Thema auf der Tagesordnung zu haben, auch wenn wir
nicht in allen Punkten mit dem Antrag übereinstimmen –
aus zwei Gründen, auf die ich gleich noch kommen wer-
de.

Zu Beginn nenne ich einige der Grundlagen; ein paar
Kollegen haben sie schon genannt. Die Charta der Ver-
einten Nationen vom 26. Juni 1945 hatte ziemlich großen
Einfluss auf uns als Bundesrepublik Deutschland. Sie
stand Pate für unser Grundgesetz, ein Grundwert, der in
der aktuellen Flüchtlingsdebatte immer wieder bemüht
wird – zu Recht. Darum will ich ein paar grundlegende
Passagen aus der Gründungsurkunde der Vereinten Nati-
onen zitieren, eben weil es so aktuell ist:

WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIO-
NEN – FEST ENTSCHLOSSEN,
künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu
bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsag-
bares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Men-
schen, an Würde und Wert der menschlichen Per-
sönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann
und Frau sowie von allen Nationen, ob groß
oder klein, erneut zu bekräftigen,
Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerech-
tigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen
aus Verträgen und anderen Quellen des Völker-
rechts gewahrt werden können,
den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebens-
standard in größerer Freiheit zu fördern …
HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜ-
HEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE
ZUSAMMENZUWIRKEN.

In Artikel 1 setzten sich die Vereinten Nationen dann
diese Ziele:

den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu
wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektiv-
maßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Frie-
dens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshand-
lungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken
und internationale Streitigkeiten oder Situationen,
die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch
friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerech-
tigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder bei-
zulegen …

So viel zum Zitat.

Heute, 70 Jahre später, spürt man zwischen den Zeilen
immer noch diesen Idealismus. Ein solcher Idealismus
muss aber mit einem politischen Realismus einhergehen.
Er besteht im Jahr 2016 auch in der Notwendigkeit, die
Vereinten Nationen zu stärken, damit die Inhalte dieser

Inge Höger






(A) (C)



(B) (D)


genialen Charta am Schluss nicht in Zynismus umschla-
gen.

Es folgten weitere Schritte in der Entwicklung der Ver-
einten Nationen: 1945 wurde die Menschenrechtskom-
mission eingesetzt und 2006 – Frank Schwabe, du hast es
vorhin gesagt – durch den Menschenrechtsrat ersetzt. Der
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen setzt sich aus
47 Mitgliedstaaten zusammen, hat ein umfassendes Man-
dat zur Behandlung von Menschenrechtsverletzungen in
einzelnen Ländern sowie zur Abgabe von Empfehlungen
und berichtet unmittelbar an die Hauptversammlung.

Zum dritten Mal seit der Gründung der Institution
2006 ist Deutschland von der Generalversammlung in
den Menschenrechtsrat gewählt worden, und zwar für
den Zeitraum 2016 bis 2018. Zudem leitete im letzten
Jahr, 2015, der deutsche Diplomat Joachim Rücker als
Präsident den Menschenrechtsrat. Der Menschenrechts-
rat hat folgende wesentliche Aufgaben: alle Menschen-
rechte und Grundfreiheiten zu schützen und zu fördern,
sich mit Menschenrechtsverletzungen zu befassen, Emp-
fehlungen abzugeben, Menschenrechtsfragen in das Sys-
tem der Vereinten Nationen zu integrieren sowie zur Wei-
terentwicklung des Völkerrechts beizutragen. Das ist in
vielen Fällen gelungen; es ist gerade in der Rede genannt
worden und steht auch in Ihrem Antrag. Da heißt es an
einer Stelle:

Dem Menschenrechtsrat ist es in den letzten Jahren
trotz aller Schwächen immer wieder gelungen, die-
ser Rolle gerecht zu werden.

Einige Beispiele aus dem Antrag sind: das Recht auf
Wasser, was mir ganz besonders nah ist, das Recht auf
gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die Teilnahme an
der Zivilgesellschaft als integraler Teil der Arbeit des
Rates und das Instrument des Allgemeinen Überprü-
fungsverfahrens, Universal Periodic Review. Ergänzen
könnte man: Einsetzung des Sonderberichterstatters zur
Bekämpfung der Straflosigkeit im Jahr 2011 und damit
ein Mandat zum Schutz von Menschenrechtsverteidi-
gern. Wir haben vor einigen Wochen über dieses Thema
diskutiert.

Noch einmal zu Ihrem Antrag. Er enthält eine Passa-
ge, bei der ich mich frage: Da die Dinge schon existent
sind, warum sollten wir sie dann fordern? Da steht:

Diese Chance

– also der Vorsitz im letzten Jahr –

kann die Bundesregierung nutzen, indem sie sich
für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und
Arbeitsweise des Rates einsetzt, seiner Politisie-
rung entgegenwirkt, über Regionalgruppen hinweg
diplomatische Allianzen aufbaut, innovative The-
menschwerpunkte setzt und auch im Inland den
Menschenrechtsschutz weiterhin ernst nimmt und
damit ihre Glaubwürdigkeit international unter Be-
weis stellt.

Was das betrifft, würde ich sagen – und da gebe ich
meinem Kollegen Schwabe recht –: Wir sind den größ-
ten Teil des Weges gegangen. Die Bundesregierung hat
sich während der deutschen Mitgliedschaften dafür ein-

gesetzt, das Profil des Rats als zentrales Gremium und
Frühwarnmechanismus des internationalen Menschen-
rechtsschutzes zu schärfen.

Zu den Forderungen der Bundesregierung, die sie
auch eingebracht hat, gehörte, dass der Menschenrechts-
rat konsequent kritische Menschenrechtssituationen an-
sprechen soll – das tut er inzwischen – und dazu alle ihm
verfügbaren Instrumente wie die gerade genannte uni-
verselle Staatenüberprüfung, Sonderberichterstatter und
Sondersitzungen nutzen soll. Er sollte nicht nur Impuls-
geber sein für neue Menschenrechtsstandards, sondern
sich auch stärker der Umsetzung von Menschenrechts-
standards zuwenden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bundesregierung nutzte den Vorsitz außerdem
dazu, als Brückenbauer zu wirken – so steht es im Antrag
der Grünen, aus dem ich eben schon zitiert habe –, dessen
Aufgabe auch darin besteht, der zunehmenden Polarisie-
rung des Menschenrechtsrates entgegenzuwirken; dieses
Argument wurde eben schon angeführt. Ein besonderes
Augenmerk richtete der Vorsitz auf die Wahrung und
Stärkung von Beteiligungsmöglichkeiten von Nicht-
regierungsorganisationen, auch im Menschenrechtsrat
selbst.

Darüber hinaus hat die Koalition mit der Schaffung ei-
ner gesetzlichen Grundlage für das Deutsche Institut für
Menschenrechte – auch das thematisieren Sie in Ihrem
Antrag – unterstrichen, dass Deutschland den Menschen-
rechtsschutz auch hier im Inland ernst nimmt, auch wenn
das einiges an Ringen bedeutet hat.

Wir unterstützen Menschenrechtsverteidiger weltweit
intensiv in ihrer Arbeit. Die Regierung wie auch wir als
Parlament beobachten kontinuierlich und engmaschig
deren Lage und arbeiten daran, das System noch weiter
zu verbessern. Wir kooperieren hier sehr stark mit ande-
ren Staaten der Europäischen Union. Zudem setzt sich
die Bundesregierung bei den Regierungen anderer Staa-
ten häufig für Menschenrechtsverteidiger ein; wir haben
auf viele Einzelfälle hingewiesen. Ihr Schutz ist wich-
tig – und wird es auch bleiben – und gehört als integraler
Bestandteil in den Aktionsplan der Bundesregierung.

Da der Antrag genau die von mir genannten Aktivitä-
ten benennt und einfordert, obwohl vorhanden, und da
Sie sich mit den Bezügen auf die deutsche Präsident-
schaft zeitlich überholen, haben wir uns entschlossen –
das ist die logische Konsequenz –, ihn abzulehnen.

Wie zu Beginn meiner Rede angekündigt, möchte ich
zwei konkrete Punkte benennen, denen wir zustimmen.
Erstens. Sie kritisieren in Ihrem Antrag die andauernde
Unterfinanzierung des Rates. Tatsächlich beträgt der An-
teil nur 3 Prozent des VN-Kernbudgets. Frau Höger, Sie
haben es angesprochen: Damit können nur 40 Prozent
der Kosten gedeckt werden. Wir freuen uns darüber, dass
der Anteil nun auf 5 Prozent aufgestockt wird. Auch Herr
Rücker hat das empfohlen.

Der zweite Punkt ist die ständig drohende Politisie-
rung der Arbeit; auch das ist richtig. Das Gesamtproblem
der Vereinten Nationen ist, dass Resolutionen – wir ha-
ben das Beispiel Syrien gut in Erinnerung – politisch mo-

Frank Heinrich (Chemnitz)







(A) (C)



(B) (D)


tiviert geblockt werden. Und doch gilt, was der deutsche
Präsident Rücker im September gegenüber der Süddeut-
schen Zeitung gesagt hat: Was wäre denn, wenn wir uns
auf internationaler Ebene ausschließlich mit denen, die
es gut machen, zusammensetzen? Ich meine, das wäre
ein reiner Club von Gleichgesinnten und würde nichts
bringen. – Wir unterstützen die Forderung, dass die In-
dikatoren, von denen auch Sie gesprochen haben, entwi-
ckelt werden und dazu beitragen, die Tagesordnung des
Rates nach objektiven Kriterien zu gestalten.

Ich komme zum Schluss. Das Unwort des letzten Jah-
res lautet – es ist uns allen präsent, auch durch die Nach-
richten dieser Woche –: Gutmensch. Beim Menschen-
rechtsrat geht es aber nicht darum, irgendwie einfach mal
gut zu sein. Was schlimmer ist, ist, dass dabei auch das
Wort „naiv“ mitschwingt. Die Vereinten Nationen ha-
ben drei Kernaufgaben: Menschenrechte, Sicherheit und
Entwicklung gewährleisten. Diese drei gehören nahtlos
zueinander: Ohne nachhaltige Entwicklung keine Si-
cherung der Menschenrechte und keine Beseitigung von
Fluchtursachen und in der Folge Bedrohung der Sicher-
heit, auch bei uns in Europa und Deutschland.

Die Vereinten Nationen in allen Bereichen zu stärken,
liegt in unserem ureigenen Interesse. Dazu werden wir
auch die erneute Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat
nutzen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814927300

Vielen Dank. – Als letzter Redner in der Aussprache

hat Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1814927400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Diskussionen im Menschenrechtsrat sind
äußerst kompliziert. Das ist hier von verschiedenen Kol-
legen auch besprochen worden. Eines der Probleme des
Menschenrechtsrates ist, dass da sehr verschiedene Staa-
ten drin sind, aber glücklicherweise sind sie drin, weil
man ja Brücken bauen will. Das erfordert aber einiges
an Kooperationswilligkeit und -fähigkeit. Was dem im-
mer wieder entgegensteht, ist eine Politisierung oder eine
Machtpolitik, die an die Stelle von Sachpolitik tritt, dass
also nicht über die Menschenrechte selbst, zum Beispiel
über das Menschenrecht auf Wasser, geredet wird, bei
dem es einen breiten Konsens geben könnte, sondern
man in Blöcken denkt. Das hindert die vernünftige De-
batte.

Schon in der Charta steht – Herr Heinrich hat es eben
gesagt –, dass das Ziel das Zusammenwirken ist. Da ist
einiges notwendig; da muss man auch über seinen Schat-
ten springen. Der Menschenrechtsrat schöpft da – das hat
Botschafter Rücker gesagt – sein Potenzial bedauerli-
cherweise nicht aus.

Die Tatsache, dass bei dem Antrag, den wir heute hier
vorgelegt haben, in 90 Prozent der Dinge ein Konsens
ist, es aber keine Möglichkeit gibt, im Menschenrechts-

ausschuss Brücken zu bauen und hier zu einer gemein-
samen Resolution zu kommen, der wir alle zustimmen
und damit natürlich auch den Menschenrechtsrat in Genf
stärken, ist ein Ausdruck von unnötiger Polarisierung,
unnötiger Politisierung und von Machtpolitik in unserem
Menschenrechtsausschuss. Das Potenzial des Menschen-
rechtsausschusses wird da nicht ausgeschöpft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da können Sie hier noch so oft sagen, dass wir uns ja alle
einig sind.

Ein zweiter Punkt, der den Menschenrechtsrat hemmt,
sind Double Standards. Das sind unterschiedliche Kri-
terien, die angewendet werden. Da kommt der Westen
von ganz oben mit seiner großen Wertegemeinschaft,
vom moral high ground, und wird dann wiedergefunden
in Abu Ghuraib und Guantánamo. Das sind Sachen der
Inkohärenz und der Unglaubwürdigkeit. Um da Gemein-
samkeit einzuführen, ist in dem neuen Menschenrechts-
rat das universelle Staatenüberprüfungsverfahren einge-
führt worden; diese Möglichkeit hatte die Kommission
noch nicht. Da gibt es die gleichen Standards für jeden.
Wir können Bemerkungen zu anderen Ländern machen;
andere Länder können Bemerkungen zu uns machen. Wir
müssen aber jede einzelne Bemerkung, die über unsere
Performance in Menschenrechtsfragen gemacht wird –
die sehr viel besser sein kann als woanders –, so ernst
nehmen, wie wir wollen, dass die anderen Länder die
Bemerkungen, die wir machen, ernst nehmen. Das ist die
Kunst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dann müssen wir zum Beispiel auch in die allgemei-
ne Politik übernehmen, ob ein Land die Sonderbericht-
erstatter des Menschenrechtsrats empfängt oder nicht.
Das Reden über Menschenrechte bei Wirtschaftsdelega-
tionen zum Beispiel heißt nicht nur: „Ja, die Menschen-
rechte ...“, sondern heißt auch: Empfangen Sie die De-
legationen, die Instrumente des Menschenrechtsrats, in
Saudi-Arabien, wenn wir mit Ihnen Wirtschaft treiben? –
Das wäre eine Aufgabe, die Brücken bauen könnte und
die auch die Kohärenz unserer Politik einfordert. Da ist
noch sehr viel zu tun. Da müssten wir zusammenarbeiten.

Ich könnte mir vorstellen, dass wir den Menschen-
rechtsrat auch dadurch stärken, indem wir kohärenter
sind, indem wir mehr bereit sind, Brücken zu bauen, und
indem wir die Standards, die wir an andere legen, auch an
uns anlegen und auch ertragen, dass sie an uns angelegt
werden, also dass wir das, was wir in der einen oder an-
deren Form predigen – Gottes Wort hat ja Herr Heinrich
verkündet eben aus der Charta –, auch selber so sehen.
Dass sich der Menschenrechtsausschuss immer wieder
blockiert, heißt, er bleibt unter seinen Möglichkeiten. Es
muss ja auch möglich sein, gemeinsame Resolutionen
zwischen CSU und den Linken zu machen, wenn wir ei-
ner Meinung sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Frank Heinrich (Chemnitz)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1814927500

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stär-
ken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/6433, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/4430 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koa-

lition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Debatte.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 15. Januar 2016, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
noch einen schönen Abend.