Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle zu unserer 149. Sitzung.Ich möchte vor Eintritt in die Tagesordnung einigeGratulationen und eine Gremienbesetzung vornehmen.In der parlamentarischen Weihnachtspause hat nebenanderen auch der Bundesminister des Auswärtigen,Dr. Frank-Walter Steinmeier, seinen 60. Geburtstaggefeiert. Ihm haben wir alle sicher auf die eine oder an-dere Weise ausdrücklich gratuliert. Aber ich möchte dashier im Namen des Hauses noch einmal ausdrücklich be-kräftigen.
Ebenfalls ihren 60. Geburtstag haben die Kollegin-nen Jutta Krellmann und Bettina Hagedorn sowie dieKollegen Erwin Rüddel, Klaus Barthel und gestern derKollege Johannes Selle gefeiert. Ihnen alle guten Wün-sche für das neue Lebensjahr.
Wir müssen eine Schriftführerwahl durchführen. DieSPD-Fraktion schlägt vor, die Kollegin Petra Rode-Bosse für den Kollegen Dennis Rohde als Schriftfüh-rerin zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? – Gut.Nach erkennbarem Zögern und genauso erkennbarer Zu-stimmung – dafür bedanke ich mich – ist die KolleginRode-Bosse als Schriftführerin gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, den Ent-wurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern und Ju-gendlichen vor den Gefahren des Konsums von elek-tronischen Zigaretten und elektronischen Shishas aufder Drucksache 18/6858 dem Ausschuss für Arbeit undSoziales zur Mitberatung zu überweisen. Ebenso soll derEntwurf eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung desLuftverkehrsgesetzes auf der Drucksache 18/6988 demVerteidigungsausschuss zur Mitberatung überwiesenwerden. Dem stimmen Sie zu? – Das ist so. Dann ist dasso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzeszur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförde-rungsgesetzesDrucksache 18/7055Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateWalter-Rosenheimer, Kai Gehring, Özcan Mutlu,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBildungszeit PLUS – Weiterbildung für alleermöglichen, lebenslanges Lernen fördernDrucksache 18/7239Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on DIE LINKEDurchlässigkeit in der Bildung sichern, För-derlücken zwischen beruflicher Bildung undStudium schließenDrucksache 18/7234Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Auch dazusehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so ver-fahren.
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Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Frak-tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eineder wichtigsten Zahlen im vergangenen Jahr war, dassDeutschland mit 7,7 Prozent die niedrigste Jugendar-beitslosenquote in der Europäischen Union hatte. In derEuropäischen Union beträgt die Erwerbslosenquote beiden 15- bis 24-Jährigen im Durchschnitt 22,2 Prozent. InLändern wie Griechenland und Spanien liegt die Arbeits-losenquote von Jugendlichen im Durchschnitt bei über50 Prozent.Ein wichtiger Grund, warum Jugendliche in der Bun-desrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren undJahrzehnten und auch in der schwierigen Wirtschafts- undFinanzkrise bessere Lebens- und Arbeitschancen hattenals anderswo, ist das duale Berufsausbildungssystem,in dem es eine enge Verbindung von Theorie und Praxisgibt, was den Übergang ins Arbeitsleben erleichtert.
Deswegen müssen wir alles dafür tun, um diesen deut-schen Vorteil und dieses deutsche Alleinstellungsmerk-mal zu stärken. Das heißt, wir müssen alles dafür tun, dasduale Ausbildungssystem zu stärken.
Ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der beruflichenBildung ist das sogenannte Aufstiegsfortbildungsförde-rungsgesetz, kurz das Meister-BAföG. Seit 1996 habeninsgesamt 1,7 Millionen Menschen in diesem Systemeine Förderung erhalten. Es ist das größte und wichtigsteFörderangebot für Qualifizierungen im dualen System.Diejenigen, die in die Förderung kommen, sind imDurchschnitt 30 Jahre alt, haben ihre erste Berufstätig-keit hinter sich, haben in aller Regel eine kleine Familieund sind darauf angewiesen, dass wir sie beim Durch-starten auf dem Weg hin zu einer höheren beruflichenVerantwortung unterstützen. Die Arbeitslosenquote der-jenigen, die in einer solchen Förderung waren und sichals Meister, Techniker, Erzieher oder Fachwirt weiter-qualifiziert haben, liegt im Durchschnitt bei 2,1 Prozentund damit deutlich unter der Arbeitslosenquote in derGesamtbevölkerung und auch deutlich unter der Arbeits-losenquote derer, die ein Studium haben. Das zeigt, wieattraktiv die duale Ausbildung ist und wie wichtig es ist,diese Leistungselite im beruflichen Bereich zu unterstüt-zen.
Deswegen sind das Meister-BAföG und die Reform,die wir heute miteinander beraten und auf den Weg brin-gen, ein ganz wichtiger weiterer Beitrag dazu, das dualeSystem zu stärken. Denn genau hier liegt die Zukunft fürdie jungen Leute, für bessere Beschäftigungsmöglichkei-ten, gute Arbeit, interessante Qualifizierungsmöglichkei-ten, neue Optionen und gute Löhne im beruflichen Be-reich.
Was wir tun, ist, den Unterhaltsbeitrag zu stärken. Wirsetzen uns für eine Erhöhung des Maßnahmebeitrags ein.Wir erhöhen die Zuschussanteile und die Freibeträge.Damit bringen wir ein Gesamtpaket auf den Weg, das amEnde das duale System beruflicher Bildung deutlich at-traktiver machen wird.Der Zuschussanteil zum Unterhaltsbeitrag wird von44 Prozent auf 50 Prozent steigen. Das entspricht demBeitrag, der auch im Bereich des Studiums möglich ist.Gerade die Familienaufschläge zum Basisunterhalt müs-sen oft das Familieneinkommen während einer Maß-nahme sichern und sind deshalb maßgebend für die Ent-scheidung, ob ein Meisterlehrgang aufgenommen wirdoder nicht.Wer seinen Meisterkurs erfolgreich abschließt, ver-wirklicht seinen individuellen Aufstieg und schafft einenvolkswirtschaftlichen Mehrwert. Dies wird schon heutedurch den Erfolgsbonus in Form eines Erlasses von der-zeit 25 Prozent auf das Restdarlehen belohnt. Wir werdendiesen Betrag auf 40 Prozent anheben. Das ist ein klaresSignal zum einen dazu, einen Meisterkurs anzugehen,zum anderen aber auch dazu, ihn zu bestehen und dieje-nigen zu belohnen, die sich durchkämpfen und am Endeerfolgreich sind.
Die Novelle ist ein ganz klarer Beitrag dazu, dieGleichwertigkeit von beruflicher Bildung und akademi-scher Bildung darzustellen.
Wir sind davon überzeugt. Wir wollen, dass akademischeBildung und berufliche Bildung als gleichwertig aner-kannt werden, weil beide Teile die Stärke der Bundes-republik Deutschland ausmachen. Noch einmal: Die ge-ringe Jugendarbeitslosigkeit hat etwas damit zu tun, dasswir die duale Ausbildung haben. Deswegen gilt es, dieduale Ausbildung zu stärken.
Wir leisten einen Beitrag zu einer stärkeren Durchläs-sigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildungin beide Richtungen, und wir wollen die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf gerade bei dieser Aufstiegsqua-lifizierung verbessern. Für uns gilt: kein Abschluss ohneAnschluss. Wir brauchen ein System, das wir in großenTeilen schon heute in der Bundesrepublik Deutschlandorganisiert haben, in dem es mit jedem Abschluss undjeder Qualifizierung eine weitere Möglichkeit zum Auf-stieg gibt.Es gilt der Satz des Handwerks: Entscheidend istnicht, wo du herkommst, sondern wo du hinwillst. DenPräsident Dr. Norbert Lammert
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jungen Leuten zu vermitteln, dass es in der Bundesrepu-blik Deutschland in diesem Bereich alle Chancen gibt,das ist Ziel dieser Novelle. Es ist wichtig für uns und dieWirtschaft, dass wir in Zukunft Leute haben, die sich ausihrer fachlichen Arbeit heraus qualifizieren, Verantwor-tung übernehmen und Dinge voranbringen, bis hin zurSelbstständigkeit. Heute ist ein guter Tag; denn mit die-ser Novelle leisten wir dazu einen ganz entscheidendenBeitrag.Vielen Dank.
Die Kollegin Hein ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Kretschmer, Sie verzeihen undverstehen wahrscheinlich auch, dass ich anders anfange.Eine der größten Kritiken am bundesdeutschen Bildungs-system ist die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgsvon der sozialen Situation der Lernenden. Dieser Befundzieht sich durch alle Bildungsstufen, von der Schule biszur Weiterbildung. Wenn man dies beheben will, mussman sehr früh anfangen, also schon in der frühkindlichenBildung. Man muss zudem Möglichkeiten des Bildungs-aufstiegs nach der Schule verbessern.
Die Aufstiegsfortbildung, also das sogenannte Meis-ter-BAföG, ist ein solcher Weg; darin sind wir uns ei-nig. Die Bundesregierung will nun mit der vorgelegtenGesetzesnovelle die Bedingungen dafür verbessern. Dasist auch dringend nötig. Seit Jahren stagniert nämlichder Zulauf zu den Maßnahmen und Bildungsgängen anden Fachschulen, die damit meistens befasst sind. Etwa172 000 Geförderte gab es im Jahr 2014. Das sind nur0,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das kann uns nichtzufriedenstellen, insbesondere nicht angesichts des ho-hen Bedarfs an qualifizierten Fachleuten, also an Meis-tern, Technikern und Betriebswirten zum Beispiel. Nunsoll es also besser werden.Ich möchte Ihnen anhand einiger Beispiele belegen,dass das Gesetz deutlich zu kurz greift, und – deshalb un-ser Antrag – auf ein Grundproblem aufmerksam machen.Zu den Berufsgruppen, die durch das Meister-BAföGihre Ausbildung finanzieren können, gehören angehendeErzieherinnen und Erzieher. Das Meister-BAföG ist fürdiese Gruppe vor einigen Jahren geöffnet worden.
Vor etwa zwei Jahren schrieb ein junger Mann an den Pe-titionsausschuss, dass der Abschluss seiner Ausbildunggefährdet sei – er wollte Erzieher werden –, weil über dasMeister-BAföG nur schulische Ausbildungen finanziertwürden und vorgeschriebene Praktika außen vor blieben.Das Bundesministerium hat diese Aussage bestätigt, undim Ergebnis konnte dem Petenten nicht geholfen werden.Der Petitionsausschuss hielt das Anliegen aber für sowichtig, dass er zum Zwecke der Beachtung diese Pe-tition an das BMBF, also an das Bildungsministerium,weitergeleitet hat, mit der Bitte, das bei der Novellierungdes Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes zu beach-ten. Ich weiß nicht, auf welchem Schreibtisch das gelan-det ist. Aber nach den neuen Gesetzesregeln wäre demPetenten noch immer nicht geholfen, und das, obgleichder Gesetzentwurf den Eindruck erweckt, es wäre ge-schehen.Im Regelfall sollen wie bisher Fortbildungsmaßnah-men gefördert werden, die 25 Unterrichtsstunden anmindestens vier Tagen der Woche umfassen. Künftigsoll es aber auch genügen, wenn diese Bedingung – 25Unterrichtsstunden an vier Tagen – in 70 Prozent derWochen eines Maßnahmenabschnitts eingehalten wird.Damit sind die Erzieherinnen und Erzieher wieder außenvor; denn die KMK hat im Sommer 2015 in der Rah-menvereinbarung zu den Fachschulen festgelegt, dassin den Fachschulrichtungen Sozialpädagogik und Heil-erziehungspflege mindestens ein Drittel der Stunden als„Praxis in sozialpädagogischen bzw. heilerziehungspfle-gerischen Tätigkeitsfeldern“ zu leisten ist. Wenn manzu 70 Prozent ein Drittel addiert, dann stellt man fest,dass mehr als 100 Prozent herauskommen. Das kannalso irgendwie nicht stimmen. Also ist auch künftig nichtvorgesehen, ausbildungsimmanente Praktika zu fördern.Da frage ich mich schon, was eigentlich eine Petition anden Bundestag bewirkt, die noch dazu vom Petitionsaus-schuss als berechtigt weitergeleitet wurde. Offensichtlichnichts!
Ein zweites Problem. Eine der wichtigsten Verände-rungen im Gesetz ist – Herr Kretschmer hat eben darübergesprochen – die Möglichkeit, auch mit einem Bache-lorabschluss eine geförderte Ausbildung nach dem Auf-stiegsfortbildungsförderungsgesetz zu erhalten. DieseRegelung reagiert auf Sorgen in der Arbeitswelt, dassman nicht mehr genügend qualifizierte Fachkräfte hat, diezum Beispiel ein kleines Unternehmen gründen können.Da ist etwas dran. Die gegenläufige Förderung jedoch,also dass einem Meister, Techniker oder Betriebswirt einBachelorstudium gefördert wird, ist ausgeschlossen. Dasist auch nicht vorgesehen. Das Bundesausbildungsförde-rungsgesetz schließt genau eine solche Förderung aus.Ein vollverzinsliches Bankdarlehen ist unter ganz be-stimmten Bedingungen noch möglich, mehr aber nicht.Das wurde mir in einer Antwort auf eine schriftliche Ein-zelfrage Ende des vergangenen Jahres bestätigt. In derBegründung wurde angeführt, dass der Abschluss einerFachschule im deutschen Qualifikationsrahmen dem Ba-chelorabschluss gleichgesetzt sei und zwei gleichwertigeAusbildungen nicht gefördert würden.Das gilt aber auch umgekehrt. Was will man dennnun? Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Das be-deutet nämlich zum Beispiel – ich bleibe wieder bei denSozialberufen –, dass ein Studium mit dem Schwerpunkt„frühe Kindheit“ für staatlich anerkannte Erzieherinnenund Erzieher nicht gefördert werden kann; denn solchein Studium wird fast ausschließlich als Bachelorstudi-Michael Kretschmer
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um angeboten. Man kann also künftig problemlos vonder Hochschule in die Fachschule wechseln, aber nichtumgekehrt. Durchlässigkeit in den Bildungswegen, aufdie Sie immer so gerne verweisen, sieht anders aus.
Ich kann hier nicht auf die vielen Facetten und Kon-ditionen der Förderungen eingehen. Wenn man sich ein-mal durch die ganzen Gesetze gewühlt hat, ist man wirrim Kopf. Das wird wahrscheinlich auch den Antragstel-lenden so gehen. Das brachte uns auf die Idee, dass dieunterschiedlichen Fördersysteme doch einmal nebenein-ander gelegt werden müssten, um Ausschlussgründe undLücken zu finden.Das haben wir Ende des Jahres getan, und wir ha-ben umfangreiche Recherchen von verschiedenen zu-ständigen Stellen des Bundes erbeten. Vom BMBF undvon der Bundesagentur für Arbeit haben wir sie aucherhalten, vom BMAS leider nicht; die haben uns sitzenlassen. Wir fordern nun in unserem Antrag, dass die un-terschiedlichen Wege der Ausbildungsförderung von derBerufsausbildungsbeihilfe nach SGB III bis hin zu denbeiden BAföG-Gesetzen harmonisiert und Förderlückengeschlossen werden.
Denn wir müssen doch auch zur Kenntnis nehmen,dass sich die Verläufe beruflicher Bildung und Weiter-bildung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ver-ändert haben. Berufsbiografien verlaufen heute andersund manchmal nicht einfach so geradeaus. Das betrifftsowohl die Reihenfolge der beruflichen Bildungswegeals auch das Einstiegsalter. Darum ist es auch nicht mehrzeitgemäß, Förderkonditionen so unterschiedlich zu ge-stalten.Ich möchte noch ein Beispiel nennen: Wieso sindzum Beispiel Kinder unterschiedlich viel wert? EineStudierende mit Kind, die nach BAföG gefördert wird,erhält künftig einen Kinderzuschlag von gerade einmal130 Euro. Eine Meisterschülerin mit Kind soll immerhin235 Euro erhalten. Ich kann mir den Unterschied nichterklären. Die können zum Beispiel auch beide gleich altsein. Unterschiedlich sind übrigens auch die Darlehens-höhe, die Rückzahlungskonditionen und anderes mehr.Ich verstehe nicht, warum.Insgesamt – diese Grundkritik bringen wir auch hierwieder an – orientieren sich alle diese Gesetze nicht hin-reichend an den konkreten Lebensbedingungen und Le-benshaltungskosten. So sind 250 Euro Wohnzuschuss inbeiden Gesetzen keineswegs angemessen. Das ist schonheute so. Das wird – überlegen wir einmal, wie oft wirsolche Gesetze ändern – in der Zukunft eine weitere Ver-schärfung bringen.Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat inseiner Stellungnahme wohlwollend signalisiert, dass dasein Schritt in die richtige Richtung sei, aber angemahnt,dass das eben nicht alles sein könne. Dieser letzten Fest-stellung, dass das nicht alles sein kann, möchten wir unsgerne anschließen.
Es geht uns um mehr Bildungsgerechtigkeit, um gutausgebildete Fachkräfte, die wir in dieser Gesellschaft anallen Ecken und Enden dringend brauchen. Hier, an die-ser Stelle – Kooperationsverbot hin oder her –, könnenwir Änderungen herbeiführen. Dafür brauchen wir dieLänder nicht. Hier können wir gesetzliche Pflöcke ein-schlagen. Ich habe der Rede meines Vorgängers schonentnommen, dass es offensichtlich doch eine Änderunggibt, was die Darlehenshöhen bzw. die Zuschusshöhenbetrifft, die noch nicht im Gesetz steht.
Ich freue mich, dass Sie das schon einmal der Regie-rung unterstellen, aber wir beschließen es. Da bin ich gu-ter Hoffnung. Vielleicht können wir die eine oder andereLücke, die sich in diesem Gesetz findet, auch noch mitschließen.
Dann hätten wir ein Stück des Weges geschafft, aber – esbleibt dabei – nicht den ganzen Weg.Ich will noch eine Anmerkung zum Antrag der Grü-nen machen. Die Aufstiegsfortbildung ist ganz sicher einBereich der Weiterbildung. Dem Ansatz in Ihrem Antrag,dass man auch andere Bereiche der Weiterbildung in dieFörderung einbeziehen und dies zusammenführen soll-te, kann ich etwas abgewinnen. Ich würde das jetzt nichtmit „Bildungszeit PLUS“ bezeichnen; denn ich finde,das „PLUS“ besagt noch gar nichts. Aber über mancheForderungen in Ihrem Antrag können wir uns gerne un-terhalten. Manche der dort dargestellten Probleme sehenwir auch.Ich gebe zu bedenken: Das Aufstiegsfortbildungsför-derungsgesetz ist mit der dualen Berufsausbildung unddem, was daraus folgt, verknüpft. Die duale Ausbildungist jetzt für unterschiedliche Berufsausbildungen geöff-net worden. Das bringt wahrscheinlich das Problem mitsich, dass dieses Gesetz nicht immer passt. Aber wennwir nun sozusagen die gesamte Weiterbildung entspre-chend gesetzlich regeln wollen, dann haben wir wirklichein Problem; denn Bildungsförderung ist zu einem gro-ßen Teil Ländersache.
Deswegen reden wir heute Abend noch einmal über dasKooperationsverbot.Vielen Dank.
Dr. Rosemarie Hein
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Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Aufstieg durch Bildung, das ist etwas,was sich leichter sagt, als man es realisiert; aber für unsist es ein Herzensanliegen. Denn die Frage, ob Menschenfrei und selbstbestimmt leben können, hängt im Wesent-lichen von der Erfüllung der Voraussetzung ab, durchBildung die Chance zu haben, einen Beruf zu ergreifenund dann selbstbestimmt, ohne Abhängigkeit seinen ei-genen Lebensweg gehen zu können, und zwar unabhän-gig von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht.Deshalb hat diese Koalition im Bereich des BAföGgehandelt und dafür gesorgt, dass Aufstieg durch Bil-dung – durch Unterstützung des Staates und unabhängigvon der Herkunft – leichter möglich ist in diesem Land.Seit 1972, als Willy Brandt Bundeskanzler war, gibt esdas BAföG. Diese Koalition hat mit der BAföG-Novelledafür gesorgt, dass wir auch in diesem Bereich auf derHöhe der Zeit sind.
Aber ganz klar ist für uns auch: Was für den Bereichder akademischen Ausbildung gilt, muss richtigerweiseauch für den Bereich der beruflichen Ausbildung gelten.
Denn die berufliche Ausbildung in Deutschland, die Artund Weise, wie wir die berufliche Ausbildung organisie-ren – vor allen Dingen, aber nicht nur in einem dualenSystem –, ist nicht nur gut für die Wirtschaft in diesemLand – weil die Wirtschaft im Bereich der beruflichenAusbildung in ihren eigenen Fachkräftenachwuchs in-vestiert –, sondern auch gut für die Menschen, die, wiegesagt, durch einen qualifizierten Berufsabschluss dieChance haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen,einen gesicherten Lebensunterhalt zu haben und so ebenauch ein gutes Leben führen zu können. Das ist gut fürunser Land insgesamt, weil wir dafür sorgen, dass wirwirtschaftlich und sozial vorankommen. Insofern ist dieberufliche Bildung nach wie vor das qualifikatorischeRückgrat der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft,auch des Arbeitsmarktes in diesem Land.Es ist kein Wunder, dass die internationale Nachfra-ge nach der Art und Weise, wie wir berufliche Bildungin Deutschland organisieren – dies führt dazu, HerrKretschmer hat es angesprochen, dass wir im internati-onalen und auch im europäischen Vergleich eine wesent-lich niedrigere Jugendarbeitslosigkeit haben –, nach wievor hoch ist. Das weiß das Bundeswirtschaftsministeri-um. Das weiß das Bundesministerium für Bildung undForschung. Die Anzahl der Anfragen, wie wir beruf-liche Bildung organisieren, ist nach wie vor sehr groß.Ich würde sogar sagen: Es gibt einige, die uns um diesesSystem beneiden.
Der wesentliche Vorteil, wie Deutschland die beruflicheBildung organisiert, ist eben die einzigartige Verknüp-fung von theoretischen Kenntnissen und praktischerAusbildung.Dieses System, die Verknüpfung von Theorie und Pra-xis, führt übrigens auch dazu, dass man flexibel ist, dassman sich auf neue Trends besser einstellen kann, bei-spielsweise auf die Frage der Digitalisierung. Wir müs-sen allerdings dafür sorgen, dass wir dieses gute Systemimmer wieder durch die richtigen Maßnahmen auf dieHöhe der Zeit bringen.Bei allem, was wir in diesem Bereich sagen – es istgut, dass inzwischen mehr über berufliche Bildung ge-sprochen wird –, gilt: Reden allein reicht natürlich nicht,sondern wir müssen auch handeln. Denn die beruflicheAusbildung in diesem Land ist nicht auf der Höhe derZeit. Das dürfen wir nicht nur in Sonntagsreden deutlichmachen, sondern wir müssen auch das Richtige tun. Ichwill deshalb etwas zu den Herausforderungen sagen, vordenen die berufliche Bildung steht.Wir haben in den letzten Jahren bei aller Freude überdie positive Entwicklung auch eine Reihe von negativenTrends zu verzeichnen gehabt. Zum Beispiel ist es drin-gend notwendig, darüber zu diskutieren, wie auch Aus-bildungsinhalte zukünftig auf die Höhe der Zeit gebrachtwerden. Ich habe das Thema Digitalisierung angespro-chen. Es geht vor allen Dingen um die digitale Qualifi-kation, auch im Bereich der beruflichen Bildung, als eineSchlüsselkompetenz.Wir haben vor allen Dingen aber auch erlebt, dass inden vergangenen Jahren die Zahl von Ausbildungsver-trägen eher zurückgegangen ist. Deshalb war es richtig,dass diese Regierung im Bereich der beruflichen Ausbil-dung gehandelt hat. Wir haben zweierlei getan:Wir haben zum einen durch Maßnahmen, die FrauWanka als Ministerin ergriffen hat, dafür gesorgt, dassdie Berufsorientierung, übrigens auch an Gymnasien, ge-stärkt wird, damit bewusst gemacht wird, was beruflicheAusbildung für ein Weg ist, den man im Leben gehenkann, und damit sich junge Menschen frühzeitig überle-gen, ob dies ein Weg für sie ist.Das Zweite. Wenn wir über drohenden Fachkräfte-mangel in diesem Land reden, dann reden wir vor allenDingen von der Gefahr, dass im Bereich der beruflichenAusbildung zu wenig qualifizierte Kräfte vorhandensind. Deshalb war es richtig, dass Sigmar Gabriel mit derAllianz für Aus- und Weiterbildung mit der Wirtschaft,mit den Gewerkschaften, mit den Ländern dafür gesorgthat, dass wir bei der Zahl der Ausbildungsverträge nachvielen Jahren des Schrumpfens eine Trendumkehr ge-schafft haben.
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In Deutschland gibt es mehr Ausbildungsverträge als inden vergangenen Jahren. Das ist ein richtig guter Weg,und das zeigt, dass wir jungen Menschen in diesem Landwirklich eine Chance geben.Es gibt diesen schillernden Begriff des Akademisie-rungswahns. Es wird immer wieder die Diskussion überGleichwertigkeit geführt, aber manchmal habe ich auchden Eindruck, dass berufliche Ausbildung gegen akade-mische Ausbildung ausgespielt wird. Das ist nicht das,was wir wollen.Richtig: Es ist in diesem Land zu wenig über den Wertder beruflichen Ausbildung gesprochen worden. Aberdas ist kein Nullsummenspiel. Wir wollen die beidenAusbildungsgänge nicht gegeneinander ausspielen, son-dern wir wollen über Gleichwertigkeit nicht nur reden,sondern für Gleichwertigkeit und für Durchlässigkeit imSystem sorgen. Das sind die zentralen Begriffe.
Ich bringe es auf einen Satz: Für unsere Volkswirt-schaft, für unser Land ist ein Meister mindestens genau-so wichtig wie ein Master. Das muss ganz klar sein indiesem Land.
Aber wir wollen keine Form von künstlicher Verknap-pung bei diesen beiden Möglichkeiten einer beruflichenAusbildung. Es geht nicht um künstliche Verknappung.Diejenigen, die die Möglichkeit, die Fähigkeit haben, deneinen oder den anderen Weg zu gehen, müssen in diesemLand auch die Chance haben, diesen Weg zu gehen.Deshalb handelt diese Koalition und legt nach demBerufsorientierungsprogramm und nach der Allianzfür Aus- und Weiterbildung diese Novelle zum Meis-ter-BAföG vor, meine Damen und Herren. Wir habeneinen guten Gesetzentwurf, den Frau Wanka vorgelegthat. Die Fallzahlen werden zunehmen. Entbürokratisie-rung ist wichtig, ebenso die Chance, die Förderhöhennach vorn zu bringen. Das sind die drei wesentlichenPunkte dieser Novelle. Aber wir werden aus einem gu-ten Gesetzentwurf, Frau Dr. Hein, im Verlaufe des Ge-setzgebungsverfahrens ein noch besseres Gesetz machenkönnen; denn wir haben mit den Haushältern der Regie-rungsfraktionen die Voraussetzungen dafür geschaffen,dass wir in diesem Bereich mehr machen können.Ich belege das am Beispiel der Frage, wie wir mit derGleichwertigkeit umgehen. Der Zuschussanteil zum Un-terhaltsbeitrag beim BAföG beträgt 50 Prozent. Bisherbetrug er im Bereich des Meister-BAföGs 44 Prozent.Der Gesetzentwurf sieht noch 47 Prozent vor. Wir wer-den jedoch im Gesetzgebungsverfahren für vollständigeGleichwertigkeit zwischen BAföG und Meister-BAföGsorgen und hier ebenfalls 50 Prozent erreichen, meineDamen und Herren. Das finde ich auch richtig.
Wenn wir über Gleichwertigkeit zwischen akademi-scher und beruflicher Ausbildung sprechen, dann müssenwir Schritte zur Gebührenfreiheit auch im Bereich derberuflichen Ausbildung unternehmen. Es ist richtig undgut, dass es in Deutschland inzwischen keine Studien-gebühren mehr gibt. Aber ich sage Ihnen: Wir wollen,dass es irgendwann auch keine Meistergebühren mehrgibt, die die Menschen so belasten, dass dieser Weg zumProblem wird.
Deshalb wird der Zuschuss zu den Kurs- und Prüfungs-gebühren von uns maßgeblich angehoben.Wir sagen auch: Anstrengung, Leistung und Erfolgmüssen sich lohnen. Deshalb wird im Rahmen der ge-setzgeberischen Beratung die Erfolgskomponente beimMeister-BAföG noch einmal gestärkt.
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Diese No-velle des Meister-BAföGs ist die größte Novelle seit demJahr 2002. Mit dem, was die Haushälter uns zur Verfü-gung gestellt haben, erreichen wir mit 80 Millionen Euroim Jahr die größte Ausweitung des Meister-BAföGs seit2002.Ich habe es vorhin gesagt: Wir stehen vor großen He-rausforderungen in diesem Land; an anderer Stelle ist da-rüber schon gesprochen worden. Wenn es um Integrationgeht, werden wir vor allen Dingen im Bereich der be-ruflichen Ausbildung eine ganze Menge Anstrengungenunternehmen müssen, damit nicht nur die Menschen, dieschon bei uns leben, sondern auch diejenigen, die jetzt zuuns kommen und eine Chance verdienen, über beruflicheAusbildung eine Chance auf gemeinschaftliches Lebenund auf Selbstbestimmung haben. Dafür müssen wirnoch eine ganze Menge mehr tun; ich habe jetzt nicht dieZeit, das deutlich zu machen.
Das ist richtig, Herr Kollege.
Aber Sie sind mit mir einer Meinung, Herr Präsident,
dass dieser wichtige Schritt beim Meister-BAföG in die
richtige Richtung geht. Darüber hinaus werden wir zu-
künftig die Berufsschulen stärken müssen.
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Freiheit
und selbstbestimmtes Leben, das geht nur mit gleichen
Bildungschancen, das geht nur mit Chancen auf eine gute
berufliche Ausbildung.
Deshalb ist dies ein guter Tag in diesem Land.
Herzlichen Dank.
Nun erhält die Kollegin Walter-Rosenheimer für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Hubertus Heil
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Zuhörerund Zuhörerinnen! Im Koalitionsvertrag heißt es – ichzitiere –:Angesichts des demographischen Wandels ist daslebenslange Lernen so wichtig wie nie. Diese ge-samtgesellschaftliche Aufgabe wollen wir im Rah-men der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ be-wältigen.Heute wissen wir, dass diese Aufgabe nicht so ganz ge-lungen ist.Richtig ist, dass das lebenslange Lernen in einer Ge-sellschaft, die sich derart rasant verändert, so wichtig istwie nie zuvor. Richtig ist auch, dass Sie mit der Öffnungdes Meister-BAföGs überfällige Anpassungen vollzogenhaben. Es ist tatsächlich höchste Zeit, dass auch Bache-lorabsolventinnen und Studienabbrecher beim Weiterler-nen ordentlich gefördert werden. Auch die Erhöhung vonLeistungen und Freibeträgen ist ein Schritt, der wirklichkommen musste.Beides – das sage ich in aller Deutlichkeit – begrüßenwir ausdrücklich.
– Ja, wir sehen das schon realistisch. Ein Aber kommtaber natürlich noch: In unseren Augen muss ein wegwei-sender Schritt für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabenämlich noch ein bisschen anders aussehen.Aufstieg durch Bildung ist in unserem Land immernoch viel zu wenigen vorbehalten. Es ist – Sie habenes gesagt, Frau Hein – immer noch auch eine sozialeFrage. Daran ändert leider auch die Öffnung des Meis-ter-BAföGs nicht so viel, wie wir uns das wünschen wür-den.
Nutzen Sie doch bitte Ihre große 80-Prozent-Mehrheitfür wegweisende Reformen, von denen dann alle Men-schen profitieren.
Uns geht es hier gar nicht um Pauschalkritik. Die Öff-nung des Meister-BAföGs ist wichtig. Darüber freuenwir uns auch. Das habe ich gesagt. Aber die Maßnahmegreift zu kurz, und sie vergisst, dass nicht alle, die sichweiterbilden möchten, Meister, Hochschulabsolventin-nen oder Studienabbrecher sind.Frau Ministerin, auf Ihrer Webseite steht der schöneWerbesatz: „Das Meister-BAföG: Für alle, die hoch hin-auswollen.“ Dieses Meister-BAföG hat viel Gutes, aberes steht definitiv nicht allen offen, die hoch hinauswollen.
– Ja, man braucht Voraussetzungen dafür. Man kann esaber auch so anpassen, dass mehr Menschen davon pro-fitieren können.Was sagen Sie zum Beispiel der russischen Erzieherin,die in einer Hamburger Kita arbeiten möchte und im Rah-men des Anerkennungsgesetzes eine Nachqualifizierungbraucht? Oder nehmen Sie den anerkannten Asylbewer-ber, der aus Syrien kommt und in München als Bäcker ar-beiten möchte. Diesen bildungsinteressierten Menschenmüssen Sie ehrlicherweise sagen, dass sie auf ihrem Wegzur Fachkraft in Deutschland keine Unterstützung durchdas Meister-BAföG bekommen.Das liegt nun ganz sicher nicht daran, dass diese Men-schen nicht hoch hinauswollen.
Nein, es liegt allein daran, dass Sie es bisher versäumthaben, die notwendigen Reformen vorzunehmen, damitauch Teilnehmende an Anpassungs- und Nachqualifi-zierungen durch das Meister-BAföG unterstützt werdenkönnen.Ruhen Sie sich also bitte nicht auf der Erhöhung vonFreibeträgen und Leistungen aus, sondern sorgen Sie da-für, dass in Zukunft wirklich alle Menschen, die lernenund sich weiterentwickeln wollen, ja alle, die hoch hin-auswollen, vernünftig gefördert werden.
Das größte Problem der Weiterbildung ist doch, dassviele erst gar keine Chance haben, an guten Bildungsan-geboten teilzunehmen. Zum Beispiel Menschen mit nied-rigem Bildungsabschluss, Migrationshintergrund odergeringem Einkommen, aber auch sehr viele Alleinerzie-hende, die in typischen Frauenberufen arbeiten, nehmenimmer noch viel zu wenig am lebenslangen Lernen teil.Das wissen wir aus vielen Statistiken.
– Es ist aber auch kein Zufall, liebe Kollegen. Sie ha-ben aufgrund ihrer Umstände einfach keine Chance aufberufliches Fortkommen. Das hat strukturelle Gründe.Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, da eine Lösung zufinden.
Mit unserem Antrag „Bildungszeit PLUS“ – der Titelist ein Titel, Frau Hein; aber der Inhalt ist ja das Wesent-liche – gibt meine Fraktion genau darauf Antworten. Wirsind davon überzeugt, dass aus einem Meister-BAföG fürwenige eine gerechte Weiterbildung für alle werden soll.
Dafür müssen die Maßnahmekosten und der Lebensun-terhalt auch für finanziell schlechter Gestellte bezahlbarwerden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 201614640
(C)
(D)
Deshalb fordern wir Sie auf, Frau Ministerin: BauenSie das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz so um,dass es diesen Namen auch verdient.Wir alle wissen, dass gute Bildung Zeit und Geld kos-tet und dass genau das oft Mangelware ist. Unser Modellder Bildungszeit PLUS basiert deshalb auf zwei Säulen:Erstens wollen wir einen individuellen Mix aus Zu-schuss und Darlehen verankern, der die Lebens- und Ein-kommenssituation berücksichtigt und gerade die Schwä-cheren fördert. Deshalb gilt bei uns der Grundsatz: Werweniger hat, bekommt mehr und umgekehrt.
Zweitens muss es in Zukunft wesentlich leichter wer-den, dass Berufstätige ihre Arbeitszeit für Fort- und Wei-terbildungen vorübergehend reduzieren können, ohneAngst, dass sie später nicht mehr im alten Stundenum-fang zurückkehren können.
Ihre Änderungen am Meister-BAföG werden leidernicht ausreichen, um die Weiterbildung so richtig vomKopf auf die Füße zu stellen. Seien Sie mutig! Wagen Siemit uns eine große Reform, damit in Zukunft wirklichalle, die hoch hinauswollen, auch hoch hinauskönnen.
Nun hat die Bundesministerin für Bildung und For-schung, Frau Professor Wanka, das Wort.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenvor kurzem hier im Bundestag über das EFI-Gutachtenund über die Bedeutung von Wissenschaft, Forschungund Innovation für Deutschland diskutiert. Die zweitewichtige und entscheidende Komponente für die Wirt-schaftsstärke Deutschlands ist die akademische und be-rufliche Fachkräftesituation. Wir reden verstärkt – HerrHeil hat es angesprochen – über Probleme in diesem Be-reich. Es gibt zu wenige, die sich dafür interessieren, undzu viele, die in andere Berufe gehen. Es gibt Schreckens-szenarien, auf welcher statistischen Basis auch immer. Esist richtig, das zu analysieren; aber entscheidend ist in derPolitik, dass man handelt, dass man etwas macht.Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute hier vorlegen,wird volkswirtschaftlich etwas sehr, sehr Wichtiges re-alisiert. Das ist ein entscheidender Beitrag. Es ist keinBeitrag, mit dem die gesamte Weiterbildungsthematikvon A bis Z geregelt wird. Vielmehr ist es ein Beitrag,mit dem wir dafür Sorge tragen, dass wir fachlich qualifi-zierte, praxiserfahrene Menschen in diesem Land haben;und die brauchen wir dringend. Sie sind die Basis unseresWohlstandes.
Vielleicht ist das nicht jedem so klar: Wenn Sie zumBeispiel Firmen – auch kleine Firmen – in den USAnehmen und fragen: „Wer leitet so eine Firma?“, dannwerden Sie feststellen, dass das immer Leute mit einerakademischen Ausbildung sind. Die steigen oben ein.Das geht natürlich bei uns in Deutschland auch, aberdass man einen Beruf lernt, dass man Geselle, Meisteretc. wird und dann die Führung übernimmt, das ist unserebesondere Stärke. Deswegen müssen wir diesen Weg, deruns so erfolgreich macht, weiter unterstützen.Nun nützt das dem Einzelnen, der eine Weiterqualifi-kation zum Meister machen will, nichts, wenn er weiß,dass das volkswirtschaftlich bedeutsam ist. Kann sein,dass er das weiß, aber entscheidend ist für ihn die Fra-ge: Was habe ich davon? Was habe ich davon, wenn ichzum Beispiel Frisör bin und Handwerksmeister werdenwill, wenn ich Kfz-Mechatroniker bin und Meister wer-den will, wenn ich Kauffrau bin und Fachwirtin werdenwill oder wenn ich Sozialassistent bin und Erzieher wer-den will? Da muss man sagen, dass die Perspektivenheute ausgezeichnet sind. Es wurde angesprochen: Dasniedrigste Risiko, arbeitslos zu werden, hatten über vie-le Jahrzehnte immer die mit einem akademischen Ab-schluss. Das ist mittlerweile auch bei den Meistern so. Siehaben ein ganz niedriges Risiko, jemals in ihrem Lebenarbeitslos zu werden. Und wenn man sich die Entwick-lung der Einkommen anschaut, dann muss man sagen:Der Trend bei den Meistern geht steiler nach oben alsbei den Hochschulabsolventen. Was natürlich sehr schönist, das ist diese Chance, unter Umständen eine hohe Ar-beitszufriedenheit zu erreichen, indem man einen Betriebselber leitet bzw. führt.
Aber um diese anspruchsvolle Aufstiegsprüfung wirk-lich zu bestehen, sind eine Reihe von Hürden zu bewäl-tigen – nicht nur tausend und mehr Unterrichtsstunden,die man bezahlen muss, sondern auch noch vieles ande-re mehr. Deswegen war es richtig und in der Geschich-te der Bundesrepublik ein entscheidender Schritt, 1996überhaupt dieses Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzeingeführt zu haben, das festlegt, dass eine Ausbildungzum Meister gefördert wird. Herr Heil, 2002 hatten wireine Novelle. 2009 gab es eine weitere Novelle. Seitdemgibt es zum Beispiel den pauschalen Kinderbetreuungs-zuschlag und die Regelung, dass einem im Falle einesguten Prüfungsergebnisses Teile des Darlehens erlassenwerden. Wir wollen auf dieser Basis gemeinsam anset-zen und das erfolgreichste, wichtigste und bedeutendsteFörderinstrument für die Qualifizierung im beruflichenBereich, dieses Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz –ich sage nicht so gerne Meister-BAföG, weil auch Erzie-herinnen und viele andere davon profitieren –, novellie-ren.Ich glaube, dass es ganz wichtig ist – da bin ich ganzanderer Meinung als manch andere, die hier schon vor-getragen haben; mir geht es nicht darum, dass man einInstrument für alle hat –, dass man ein Angebot hat, dasBeate Walter-Rosenheimer
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passgenau auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnit-ten ist.
Es ist nun einmal so, dass jemand, der Meister werdenwill, oft schon eine Familie und einen gut bezahlten Jobhat. Seine Situation ist eine ganz andere als die der gro-ßen Zahl der Studierenden, die mit 18 oder 19 Jahren indas soziale System, beispielsweise an der Hochschule,hineingehen. Deswegen bin ich dafür, dass wir passge-naue Angebote machen.Frau Hein, Sie haben nach dem Kinderbetreuungs-zuschlag gefragt. Es ist natürlich klar, dass jemand, derstudiert und ein Kind bekommt – das trifft auf viel zuwenige in dieser Lebensphase zu –, sehr stark unterstütztwird, beispielsweise über das Studierendenwerk. DieseUnterstützung erhält jemand, der eine Frau und zweiKinder hat und zum Meisterlehrgang geht, nicht. Deswe-gen ist die Frage des Unterhaltes für die Familie sehr zen-tral, deshalb ist der Kinderbetreuungszuschlag im AFBGauch einkommensunabhängig zu gewähren.Im Antrag der Grünen steht, dass sie einen sozial ge-staffelten Unterhalt wollen. Sozial gestaffelt ist vieles.Aber ich warne sehr davor: Wenn man einkommensun-abhängige Komponenten, die in diesem Gesetzentwurfenthalten sind, zum Beispiel den Kinderbetreuungszu-schlag und den Maßnahmebeitrag, einkommensabhängiggestaltet, fallen fast alle heraus, die arbeiten und sich inTeilzeit qualifizieren. Das ist nicht die Absicht. Das wäreein großer Nachteil.
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur um mehrGeld, sondern es geht auch um Modernisierung. Es gehtdarum, sich auf die Situation einzurichten, die wir jetztim beruflichen System vorfinden. Frau Hein, Sie habengesagt, es sei sehr schwierig, sich durch alle Gesetze zuwühlen. Sie haben sicherlich recht. Aber für die Erzie-herinnen – sie waren Ihr Beispiel – wird dieses Gesetz,dessen Entwurf uns jetzt vorliegt und den Sie hoffentlichgut finden, sichern, dass wir bei der Ausbildung zur Er-zieherin, wenn sie entsprechend geordnet ist, durchgän-gig fördern können. Wenn allerdings ein Land den Wegso wählt, dass erst die schulische Ausbildung stattfindetund dann ein Jahr Praxiszeit absolviert wird, dann mussdiejenige tariflich beschäftigt werden. Das halte ich auchfür richtig. Aber es ist in der Qualifizierung zur Erzie-herin möglich, durchgängig zu finanzieren. Das ist neu.Das gab es vorher nicht. Das ist eine Veränderung, diesich auf eine real notwendige Situation eingerichtet hat,meine Damen und Herren.
Beim Thema Praktikum verstehe ich überhaupt nicht,wie man generell fordern kann – das findet man so indem Antrag –, dass man eine Finanzierung des Prakti-kums durch dieses Gesetz realisieren soll. Warum sollein Meisterschüler, der voll qualifiziert ist und in einemBetrieb arbeitet, nicht sozialversicherungspflichtig be-schäftigt werden, statt mit einem Stipendium oder ei-nem entsprechenden Betrag über das AFBG abgespeistzu werden? Ich glaube, es ist an dieser Stelle notwendig,sich dies genau anzusehen. Man darf nicht glauben, einMaßstab für alle sei das Gerechte. Im Gegenteil, das isttotal ungerecht.
Die höheren und zeitgemäßen Förderleistungen, dieErhöhungsbeiträge im Familienbereich, die wir vorgese-hen haben, sind sehr gut. Ich bin sehr dankbar, dass dieKoalitionsfraktionen im Haushaltsausschuss verankerthaben, dass die Zuschussanteile im parlamentarischenVerfahren noch gestärkt werden.
Das ist nicht nur für den Einzelnen wichtig, sondern auchfür die Wahrnehmung. Draußen wird genau geschaut,was man macht, wie viele Millionen oder Milliarden manausgibt. Schon im Jahr 2014 haben wir eine halbe Milli-arde Euro an Förderleistung über das AFBG ausgegeben.Dieser Betrag wird noch einmal angehoben. Ich bin sehrerfreut über das, was dazugekommen ist.
Das heißt zum Beispiel, dass das Budget, das ein Ge-förderter bekommt, wächst. Das, was er zurückzahlenmuss, wird weniger als vorher. Das ist also eine echteVerbesserung. Dass das Restdarlehen bei erfolgreichemAbschluss reduziert oder erlassen wird, ist eine Leis-tungskomponente. Ich habe auf vielen Meisterfeiern er-lebt, wie engagiert die jungen Meister sind und welchenhohen persönlichen Aufwand sie betreiben. Wenn das sobelohnt wird, ist das ein richtiges Signal.
Aber es geht auch um die strukturellen Verbesserun-gen, um die Veränderungen. Angesprochen wurde derAbschluss als Bachelor. Ja, wir haben jetzt die Mög-lichkeit, dass Studienabbrecher, wenn sie keinen Erst-abschluss in dem Beruf haben, in diese Richtung gehenkönnen und den Meister machen können. Wenn ich sehe,wie viele Firmenchefs in den nächsten zehn Jahren imBereich des Handwerks wegfallen, dann wird das nichtnur durch die klassische Meisterausbildung kompensiert,und deshalb brauchen wir auch gute Leute mit einemBachelorabschluss. Das ermöglichen wir jetzt an dieserStelle.
Wir sind auch weitergekommen, was die Durchläs-sigkeit betrifft. Wenn heute jemand eine berufliche Aus-bildung gemacht – etwa zum Kfz-Mechatroniker – undin dem Beruf drei Jahre gearbeitet hat, kann er an dieHochschule gehen. Da braucht er keinen Meister zumachen. Er kann, wenn er das will, direkt an die Hoch-schule gehen, dort einen Bachelor machen und wird ge-gebenenfalls mit BAföG unterstützt. Wenn ein Meistermeint: „Ich muss mich weiterqualifizieren“, und er einenBundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Masterabschluss machen will, dann bekommt er gegebe-nenfalls auch BAföG. Das ist an dieser Stelle die Logik.Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieser Ge-setzentwurf ein starkes Signal ist; denn wir beseitigen dieHürden, die unter Umständen bestehen, wenn es darumgeht, eine Meisterausbildung anzufangen, wir agierenhier richtig, machen es familienfreundlicher, machenes – ein Punkt, der noch gar nicht erwähnt wurde – auchunbürokratischer. Das heißt, die Zahl der Unterlagen, dieman vorlegen muss, und der ganze bürokratische Auf-wand werden erheblich reduziert. Bürokratie abzubauen,wird immer gefordert, und ich fände es gut, wenn Siesich bei diesem Gesetz, bei dem wir es wirklich machen,darüber freuten und es auch vielleicht mal irgendwo er-wähnten.
– Das wäre auch mal eine Idee.Dazu eine Bemerkung. Ich war auch mal in der Op-position; man macht es so: Im besten Fall sagt man, dasses okay ist. Ansonsten sagt man entweder, dass das, wasvorgelegt wurde, ganz schlecht ist, oder man sagt: Es isteigentlich gut, aber … – Und dann listet man alles auf,was man sich noch vorstellen könnte, egal ob es dazupasst oder nicht. Das ist geübte Praxis. Hier muss ichaber sagen, dass man im Ausschuss über das diskutierensollte, was Sie vorhin angesprochen haben, zum Beispieldas Anerkennungsgesetz, das einer polnischen Näherinoder anderen zugutekommen soll. Denn das ist geregelt;dafür haben wir viele Mechanismen. Das ist bei der BAund im SGB verankert. In einer speziellen Situation gehtes um Integration durch Qualifikation, und wir denken daauch noch weiter.
Wir denken auch an jemanden, der gerade erst an-fängt, also nicht in den Bereich des Meister-BAföG fällt.Für ihn gibt es die Bildungsprämie. Wir haben sie evalu-iert und analysiert, wer sie besonders stark in Anspruchnimmt. Es sind insbesondere Frauen und Menschen mitMigrationshintergrund.Wir haben also viele Instrumente. Das Gesetz, dasheute vorliegt, ist mit Blick auf das Thema „Aufstieg inder beruflichen Bildung“ passgenau und richtig gut. Ichfreue mich, wenn wir es verabschieden können.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vie-
len Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner in der De-
batte: Martin Rabanus für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch von mei-ner Seite einen guten Morgen! Ich darf das sagen; dennich finde in der Tat: Es ist ein guter Morgen. Nachdemwir gestern in der Debatte über die abscheulichen Vor-kommnisse in der Silvesternacht diskutieren mussten,nachdem wir gestern über besorgniserregende Lagen imMittleren und Nahen Osten reden mussten, können wirheute Morgen über Chancen und Möglichkeiten spre-chen, über Perspektiven, über Bildung, über Qualifizie-rung, darüber, dass Menschen ihr Schicksal in die Handnehmen wollen. Wir als Koalition sprechen nicht nur da-rüber, sondern handeln auch tatsächlich: Wir diskutierenjetzt in erster Lesung den Entwurf eines dritten Gesetzeszur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgeset-zes, wir nehmen eine Novellierung vor. Das, meine sehrverehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, ist gut; das macht diesen Morgen zu einem gu-ten Morgen.
Ohne Zweifel ist das AFBG das zentrale Instrument derberuflichen Fortbildung, der Aufstiegsqualifizierung. Mitdieser Novelle machen wir einen wichtigen Schritt – dasist schon angeklungen – zu einer echten Gleichwertigkeitder beruflichen und der akademischen Bildung.Als wir in der Koalition vor ziemlich genau einemJahr begonnen haben, diese Novelle miteinander vorzu-bereiten, waren wir uns auf der Fachebene schnell sehreinig, was wir machen wollen. An dieser Stelle darf ichmeinem Kollegen Thomas Feist ganz herzlich danken
für die konstruktive und menschlich sehr angenehme Zu-sammenarbeit.
– Danke schön.
– Ja, das kann man ruhig mal anerkennen. – Ich darfauch das Ministerium in den Dank miteinbeziehen. DieGespräche, die wir mit Herrn Staatssekretär Müller undden Kolleginnen und Kollegen geführt haben, waren sehrgut, und wir haben schon eine ganze Menge konsentierenkönnen, was dann in den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung eingeflossen ist.Ich will es benennen: Wir haben die Erhöhung derförderfähigen Lehrgangs- und Prüfungsgebühren um fast50 Prozent verabredet, nämlich von gut 10 000 Euro aufjetzt 15 000 Euro.
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Wir haben verabredet, die Förderung des Meister-stücks um etwa 30 Prozent zu erhöhen, nämlich von gut1 500 Euro auf jetzt 2 000 Euro.
Wir haben verabredet, die Vermögensfreibeträge von gut35 000 Euro auf 45 000 Euro auszuweiten.
Wir haben viele andere Komponenten miteinbezogen:die Modernisierung, die Entbürokratisierung, die FrauMinisterin Wanka eben angesprochen hat, und natürlichauch die Durchlässigkeit für Bachelorabsolventen. Dasalleine, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht den Ge-setzentwurf, den wir vorgelegt haben, zu einem Meilen-stein.
Der Gesetzentwurf beinhaltet aber noch mehr; auch dasist bereits angeklungen. Er beinhaltet bereits Verbesse-rungen bei den Zuschusshöhen und beim Belohnungser-lass.Es ist natürlich kein Geheimnis, dass die bisher disku-tierten Maßnahmen den Koalitionsfraktionen insgesamtnicht ambitioniert genug waren. Deswegen bin ich sehrfroh, dass es in den Haushaltsberatungen gelungen ist,weitere Schritte – auch sie sind benannt worden – zu ver-abreden und haushalterisch abzusichern. Es ist ja nichtgerade üblich, dass wir die haushalterische Absicherunggeklärt haben, bevor wir den Gesetzentwurf durchexer-zieren. Das bedeutet, dass der Zuschussanteil zum Unter-haltsbeitrag auf 50 Prozent erhöht wird; das bedeutet ech-te Gleichwertigkeit mit dem BAföG. Der Zuschussanteilzum Maßnahmebeitrag wird von 30,5 auf 40 Prozent
und die Erlassquote beim Belohnungserlass von 25 auf40 Prozent erhöht. Das alles zeigt: Das ist in der Tat einegroße Reform, die hier bevorsteht.
Neben der großen Reform gibt es noch zwei kleineAnträge der Opposition, auf die ich in der gebotenenKürze eingehen möchte. Ich habe mich in der Tat sehrgefreut, als ich den Antrag der Grünen gelesen habe. Ichfreue mich, dass sie weitgehend zustimmen. Sie schrei-ben, dass sinnvolle Verbesserungen auf den Weg ge-bracht wurden und geplante Erhöhungen der Leistungenzu begrüßen sind. In der Tat – mein Kollege Rossmannhat es vorhin eingeworfen –: Mehr Lob kann man von derOpposition eigentlich kaum erwarten. Insofern freue ichmich auf die konstruktiven Beratungen.Lassen Sie mich noch einen Satz zur Idee eines Geset-zes zum lebensbegleitenden Lernen sagen. Aus meinerSicht steht es im Rahmen der Beratung der Gesetzes-novelle nicht an, darüber zu diskutieren. Aber die Frage,die dahintersteckt, nämlich: „Macht es nicht Sinn, sichrechtssystematisch genauer anzugucken, welche Berei-che wir auf Bundesebene in Sachen Bildung wie geregelthaben und diese möglicherweise in eine neue Rechtslo-gik zu bringen?“, ist ein Frage, mit der wir als SPD unsgelegentlich schon beschäftigt haben. Als Stichwort nen-ne ich ein „Bundesbildungsgesetzbuch“, in dem man inverschiedenen Bänden zusammenführen könnte, was wirzu besorgen haben. Darüber würde ich sehr gerne weiternachdenken und diskutieren, in der Perspektive selbst-verständlich.
Was den Antrag der Linken angeht, so will ich es re-lativ kurz machen. Im ersten Teil wird das AFBG sehrschön beschrieben, dann wird sich insgesamt noch mitein, zwei Punkten des AFBG befasst. Unter anderemwird die Forderung des Bundesrates nach vollständigerÜbernahme der Kosten durch den Bund aufgenommen.Damit kann ich zum Schluss kommen, Frau Präsiden-tin. Es gibt unterschiedliche Forderungen, auch des Bun-desrates. Ich freue mich, dass wir über all diese Forderun-gen in den kommenden Wochen konstruktiv diskutierenwerden. In einigen Wochen können wir dann sicherlichstolz sagen: Wir haben eine substanzielle BAföG-Re-form auf den Weg gebracht, wir haben eine substanzielleReform des Meister-BAföGs auf den Weg gebracht, undwir haben einen wichtigen Schritt zur Gleichwertigkeitvon akademischer und beruflicher Bildung getan.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, lieber Kollege Rabanus. Der nächste
Redner ist Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Frau Walter-Rosenheimer, zunächsteinmal sage ich Danke schön für das Lob und die Aner-kennung. In der Tat ist es relevant – und es wird immerrelevanter –, darüber nachzudenken, wie man lebenslan-ges Lernen und Fortbildung unterstützt und entsprechendin die Gesetzgebung einordnet. Aber Ihr Vorschlag, dasMeister-BAföG aufzublähen und zu einem allgemeinenlebenslangen Fortbildungsinstrument zu machen, wärenach meiner festen Überzeugung der völlig falsche Weg.Das wäre verheerend. Am Schluss würde das Meis-ter-BAföG vollkommen unter die Räder kommen unduntergehen.
– Weil es genau so ist, wie die Ministerin gesagt hat:Es bedarf einer passgenauen Lösung. Aus dem gleichenGrund können wir das Studierenden-BAföG und dasMeister-BAföG nicht zusammenlegen. Das BAföG mussMartin Rabanus
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an die unterschiedlichen Gegebenheiten präzise ange-passt werden. Das gilt übrigens auch für Ihren Vorschlag,die Flüchtlingsfrage einzubeziehen. Auch für die Flücht-linge benötigen wir spezifische, passgenaue Programme.
Das Meister-BAföG derart massiv zu verhunzen und auf-zublähen, wäre ein absolut falscher Weg. Ihr Vorschlagzeigt im Übrigen, dass die Grünen eine Partei von Aka-demikern ist, die von beruflicher Bildung herzlich wenigAhnung haben.
Herr Heil, Sie haben gesagt, dass das Parlament inder Regierungszeit von Willy Brandt das Studieren-den-BAföG beschlossen hat. Ich sage: In der Regie-rungszeit des Kanzlers Helmut Kohl haben wir dasMeister-BAföG beschlossen. Wir feiern in diesem Jahrden 20. Geburtstag des Meister-BAföGs. Das freut unsumso mehr, weil es ein Kind von CSU und CDU ist. Mankönnte fragen: Wieso hatten Willy Brandt und die So-zialdemokraten die berufliche Bildung damals nicht mitim Blick? Warum hat man damals nicht auch das Meis-ter-BAföG beschlossen?
In jedem Fall ist es so, dass CSU und CDU immer einstarkes Augenmerk auf die berufliche Bildung hatten. Ichbin heilfroh – das können wir jetzt feiern –, dass wir mitdem Meister-BAföG so viel hinbekommen haben.
– Ja, ich denke, da kann man ruhig klatschen. – Wir haben1,7 Millionen Aufstiegsfortbildungen ermöglicht; dasFördervolumen betrug 6,9 Milliarden Euro. Ich sage esnoch einmal: Ohne den damaligen Beschluss der Uniongäbe es heute Hunderte, ja Tausende von Facharbeitern,Meistern und Technikern nicht. Es gäbe auch wenigerUnternehmer in diesem Land; denn wir brauchen Meisterzur Führung der Handwerksbetriebe. Deswegen war das1996 eine weitreichende und richtige Entscheidung.Für uns war berufliche Bildung immer das Thema.So war das auch bei den Koalitionsverhandlungen. Je-der Partner hat andere Schwerpunkte. Am Schluss einigtman sich auf etwas. In den Koalitionsverhandlungen warklar, dass die Stärkung der beruflichen Bildung für unsein Topthema war.
Deswegen haben wir ein ganzes Maßnahmenbündel for-muliert. Vieles davon haben wir schon umgesetzt. Dabeiverfolgen wir ein Leitbild – es ist hier schon mehrfachangeklungen –: Akademische und berufliche Bildungsind gleichwertig; das sind zwei gleichwertige Säulen.Dieses Leitbild hat weitreichende Konsequenzen, zu-nächst für die persönliche Ebene. Was heißt das für denjungen Menschen? Er muss sich frei entscheiden können.Seine Entscheidung darf nicht durch Falschinformatio-nen oder öffentliche Diskussionen darüber, ob das eineoder andere mehr wert ist, verzerrt werden. Auf der ge-sellschaftspolitischen Ebene – auch die Ebene muss be-trachtet werden – braucht man ein vernünftiges Maß, einangemessenes Verhältnis zwischen akademischer undberuflicher Bildung. Dieses vernünftige Maß geht aberimmer mehr verloren. Das wird deutlich, wenn man sichdie Prognosen anschaut. Ich nenne die Zahlen: 2000 istein Drittel eines Jahrgangs, einer Alterskohorte an dieHochschulen gegangen, während zwei Drittel den Wegder beruflichen Bildung gewählt haben. Die KMK pro-gnostiziert für das Jahr 2020 – das ist in vier Jahren –,dass das Verhältnis dann genau umgekehrt sein wird. Dasheißt, dass zwei Drittel eines Jahrgangs an die Hochschu-len gehen wollen und ein Drittel die berufliche Bildungwählen wird, und das alles bei einer geringeren AnzahlSchulabgänger.Wenn diese Prognosen Wirklichkeit werden, dannwerden wir einen großen Fachkräftemangel haben. Dannwerden wir natürlich auch in manchen akademischenBerufen einen Fachkräftemangel haben, beispielsweisebei den Ingenieuren, aber der Fachkräftemangel im be-ruflichen Bereich wird um den Faktor zehn größer sein.Er wird eine Dimension annehmen, in dessen Folge –davor kann man nur warnen – unsere mittelständischenStrukturen und unsere Handwerksbetriebe in Gänze zurDisposition gestellt werden. Viele Firmen werden keineNachfolgeregelung finden können, werden Aufträge ab-lehnen müssen, weil es keine Mitarbeiter mehr gibt. Daskann nicht unser Weg sein.
Um es noch einmal klar zu sagen: Wir brauchen zweistarke Säulen. Hinsichtlich der Stärkung der akademi-schen Ausbildung brauchen wir uns von niemandem et-was vorwerfen zu lassen. Wir brauchen starke Hochschu-len, eine starke Lehre und eine exzellente Forschung. Esgibt keine politische Kraft in Deutschland, weder histo-risch noch aktuell, die mehr für die Hochschulen getanhat als diese unionsgeführte Regierung seit 2005.
Ich nenne einmal die Begriffe – ich will das eine nichtgegen das andere ausspielen –: Hochschulpakt – 20 Mil-liarden Euro vonseiten des Bundes, obwohl es Länder-aufgabe wäre; Exzellenzinitiative – 4,6 Milliarden Euro,wodurch wir einen Impuls in die Hochschulen hineinge-ben; Qualitätspakt Lehre – 2 Milliarden Euro, um hoheQualität an den Hochschulen zu schaffen. Es gibt nochvieles andere mehr. Ich sage noch einmal: Obwohl dasim Wesentlichen originär die Aufgabe der Länder wäre,machen wir das, weil wir starke Hochschulen wollen.Albert Rupprecht
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Das ändert aber nichts daran, dass wir eines nichtbrauchen: dass viele junge Menschen aufgrund von fal-schen Vorstellungen, falschen Informationen und fal-schen Werturteilen an die Hochschulen gehen und nachJahren dann feststellen, dass sie in der beruflichen Bil-dung eigentlich wesentlich besser aufgehoben wären.Wenn ein Drittel der Studierenden die Hochschulen ohneAbschlüsse wieder verlassen, ist das doch ein klares In-diz, dass die Entscheidung vorher nicht treffsicher undrichtig war.
Wir brauchen es nicht, dass zwei Drittel eines Jahr-gangs an die Hochschulen gehen, wenn zur selben ZeitLehrstellen umfänglich nicht besetzt werden können,wenn wir zu befürchten haben, dass wir in wenigen Jah-ren Millionen Facharbeiter zu wenig haben werden. Des-wegen ist es unabdingbar gewesen, nicht nur kosmetischein bisserl zu machen, sondern mit einem Maßnahmen-paket die berufliche Bildung wesentlich zu stärken. Die-ses Maßnahmenpaket steht im Koalitionsvertrag. Vielesdavon haben wir schon umgesetzt. Das Meister-BAföG,über das wir heute debattieren, ist ein gewichtiger undwesentlicher, aber nicht der einzige Baustein, den wirsetzen.
Wir brauchen dreierlei: Wir brauchen die Gleichwer-tigkeit von akademischer und beruflicher Bildung. DieseGleichwertigkeit darf nicht nur ein Motto sein, sondernsie muss sich materiell abbilden. Deswegen haben wirdas Meister-BAföG nicht nur punktuell ein bisschen an-gepasst, sondern wir werden es – das ist schon gesagtworden – im parlamentarischen Verfahren auf dieselbeEbene wie die akademische Förderung stellen. Das heißt,der Zuschussanteil wird von 44 Prozent gewichtig auf50 Prozent erhöht und ist dann gleichgestellt mit dembeim Studierenden-BAföG, der auch 50 Prozent beträgt.Ich glaube, das ist ein richtiges Signal und tolles Ergeb-nis.
Das war Kernanliegen der Unionsfraktion.
Wie ist es dazu gekommen? Wir haben mit der Ministe-rin das erste Paket vorbereitet, natürlich im Rahmen derhaushalterischen Mittel. Es war dann die Unionsfraktionin der Führungsklausur im September unter Führung vonVolker Kauder, die gesagt hat: Wir wollen die Gleichwer-tigkeit schon in diesem Schritt umsetzen.
– So war es, Herr Heil. Das ist historisch richtig. Den Be-schluss gab es bei uns in der Fraktionsführungsklausur,bei der SPD nicht. – Es war damals die klare Ansage,dass wir das wollen. Die Haushälter haben das mit un-terstützt, und ich bin heilfroh, dass die SPD diesen Wegmitgegangen ist.
Im Ergebnis heißt das, dass wir die Gleichwertigkeithinbekommen und 27 Millionen Euro im parlamentari-schen Verfahren noch einmal draufsetzen.
Wir stellen ein Gesamtpaket von 56 Millionen Eurovonseiten des Bundes inklusive – Kollege Heil hat esgesagt – des Länderanteils von 80 Millionen Euro zu-sätzlich für das Meister-BAföG pro Jahr zur Verfügung.Geld alleine reicht aber nicht. Wir brauchen darüberhinaus richtige und realistische Einschätzungen von Fä-higkeiten und Fertigkeiten bei jungen Menschen.
Deswegen ist es absolut wichtig, dass wir die Berufsori-entierung ausbauen, übrigens auch an den Gymnasien. Eskann nicht sein, dass sie dort bisher viel zu wenig gelebtwird.
Wir brauchen auch eine realistische Sicht auf Karri-ereperspektiven bei den jungen Menschen. Es ist einfachfalsch, zu glauben, dass ein Akademiker mehr verdient.Viele gehen der OECD hier auf den Leim. Das mag imDurchschnitt stimmen, aber wenn man konkret auf dieBerufsgruppen schaut, sieht man: Es ist sehr wohl derFall, dass der Weg der beruflichen Bildung in vielen Be-reichen auch aus finanzieller Sicht karriereperspektivischsehr attraktiv ist.Lassen Sie mich abschließend noch eine bemerkens-werte Sache ansprechen, die mich sehr freut. Das, waswir nach meiner Einschätzung am Ende des parlamen-tarischen Verfahrens beschließen werden, ist praktischdeckungsgleich mit dem, was die CSU-Landesgruppe inKreuth vor einem Jahr bei ihrer Klausur beschlossen hat.
Man sieht: Die CSU-Landesgruppe hat eine außerordent-liche Weitsicht. Ich freue mich, dass sich die SPD-Kol-legen dieser Weitsicht der CSU-Landesgruppe anschlie-ßen.Danke schön.
Danke, Herr Kollege Rupprecht.Albert Rupprecht
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Angesichts der fünften Jahreszeit, in der wir uns be-finden, begrüße ich recht herzlich auf der Tribüne dasKöln-Porzer Dreigestirn. Seien Sie herzlich willkommenbei uns.
Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Dörner ausBonn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Mit Blick auf die Tri-büne möchte ich sagen: Es heißt bei uns im Rheinland„Alaaf“.
Aber um ganz ernst zu werden: Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen, die Ministerin hat eben über die geübtePraxis der Opposition gesprochen. Mir scheint es so zusein, dass es die geübte Praxis der Regierung ist, die ei-genen Gesetzentwürfe trotz der diversen Mängel, die wirdarin sehen, ganz großartig zu finden.
Vielleicht sind das zwei Seiten einer Medaille, und wirkönnen uns darauf einigen, dass wir, wenn wir im parla-mentarischen Verfahren gemeinsam darüber diskutieren,im besten Fall zu einem besseren Ergebnis kommen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir befinden unsunzweifelhaft in einer Zeit sehr großer Veränderungen.Einiges ist schon angesprochen worden: Digitalisierung,neue technische Möglichkeiten, auch gesellschaftlicheVeränderungen; ganze Ausbildungsberufe verschwindeninnerhalb relativ kurzer Zeit, neue entstehen. Selbstver-ständlich hat das Auswirkungen auf die Erwerbsbiografi-en. Viele von uns werden das bedauern: 40-jährige oderauch 10-jährige Dienstjubiläen werden zunehmend sel-tener. Arbeitsplatzwechsel und berufliche Neuanfängewerden Realität, werden Normalität. Auf diese Verände-rungen muss sich auch unsere Bildungsförderung einstel-len. Darauf müssen die Ausbildungsförderung und auchdie Aufstiegsförderung reagieren. Wir sehen, dass IhrGesetzentwurf da deutlich zu kurz gesprungen ist.
Sie feiern eine Novelle, die ein Schritt ist; das will ichgar nicht bestreiten. Aber sie ist eben auch nicht mehr.Wir meinen, wir müssen hier ganz dringend den Blicköffnen. Wir dürfen uns nicht mehr nur auf die Aufstiegs-fortbildung innerhalb eines einmal gewählten Berufsfel-des konzentrieren. Das ist der Unterschied zu Ihnen undder Punkt, den wir in dieser Debatte betonen wollen. IhrGesetzentwurf greift diesen Aspekt aber gerade nicht auf.Deshalb hat er die Zukunft zu wenig im Blick.
Meine Kollegin hat schon gesagt: Es gibt in IhremGesetzentwurf auch eine ganze Reihe von Punkten, diewir begrüßen. Dazu gehört zum Beispiel die Anhebungder Leistungen und der Freibeträge. Ich habe mich auchgefreut, zu hören, dass wir beim Unterhaltsbeitrag miteiner Erhöhung auf 50 Prozent rechnen können; das un-terstützen wir natürlich. Das ist eine gute Entwicklung.
Aber auch hier gilt das, was wir bei der BAföG-Novel-le vorgetragen haben: Diese Erhöhung kommt sehr, sehrspät, und angesichts der tatsächlichen Preisentwicklungfällt sie einfach zu gering aus. Diese Kritik können wirIhnen nicht ersparen.
An einem weiteren Punkt ist Ihr Gesetzentwurf leidernicht mutig genug: Sie versprechen die Durchlässigkeitzwischen akademischer und beruflicher Bildung. Schautman aber genau hin, dann sieht man: Es entpuppt sichdiese Durchlässigkeit doch als Einbahnstraße. Es ist jasuper – wir finden das absolut richtig –, dass Bache-lorabsolventen und Studienabbrecher zukünftig Meis-ter-BAföG bekommen können. Aber warum wird einererfahrenen Fachkraft nicht das Masterstudium ermög-licht? Das wäre aus unserer Sicht tatsächliche und echteDurchlässigkeit.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir müssen dieBildungsförderung endlich für andere Weiter- und Fort-bildungsmaßnahmen öffnen. Sonst werden weiterhin zuviele von der Weiterbildungsförderung faktisch ausge-schlossen bleiben. Ich habe da insbesondere die älterenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick. Geradeeinmal 18 Prozent der Empfängerinnen und Empfängervon Meister-BAföG sind älter als 35 Jahre. Unter lebens-langem Lernen verstehen wir etwas anderes. Wir finden,an der Stelle besteht deutlicher Handlungsbedarf.
Ein weiterer Punkt: Gerade einmal 32 Prozent der Ge-förderten waren Frauen. Dabei gibt es beispielsweise ge-nug Krankenschwestern oder Verkäuferinnen, die schonlange nach einer neuen beruflichen Herausforderung odernach neuen Perspektiven suchen. Da ist die Frage – dieMinisterin hat eben davon gesprochen –: Was ist gerecht?Wir finden es nicht gerecht, dass diese Personengruppe,gerade Frauen, nicht in den Genuss dieser Förderungkommt. Auch an der Stelle wollen wir etwas verändern.
Denn es ist völlig richtig, wie wir hier gehört haben: Auf-stieg durch Bildung muss für jede und für jeden ein er-füllbarer Wunsch sein.Vizepräsidentin Claudia Roth
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 14647
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was sollte also pas-sieren? Wir brauchen endlich eine konsequente Förde-rung des lebenslangen Lernens. Es ist an der Zeit, dieWeiterbildungsförderung und auch die Aufstiegsförde-rung zu öffnen, sie unabhängiger zu machen, mehr Zu-gänge zu schaffen, auch für Ältere und auch für Men-schen mit geringer Vorbildung. Dafür haben wir mitunserer „Bildungszeit PLUS“ einen Vorschlag gemacht,der beinhaltet, dass alle zertifizierten Fort- und Weiter-bildungen gefördert werden können, die zu einem aner-kannten Abschluss führen. Weil das die Teilnehmerinnenund Teilnehmer natürlich Zeit und Geld kostet, schlagenwir diesen sozial gestaffelten, individuellen Mix aus Dar-lehen und Zuschüssen vor.
Ich muss zum Schluss kommen und will noch einmalversöhnlich sagen: Alles in allem sehen wir es durchausso, dass Sie mit dem Gesetzentwurf an wichtigen Schrau-ben drehen, und Sie drehen auch in die richtige Richtung.Etwas mehr Weitblick und die Öffnung der Förderungwären aus unserer Sicht aber gut und wichtig, um denWeiterbildungsbereich fit für die Zukunft zu machen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollegin Katja Dörner. – Nächster Red-
ner: Oliver Kaczmarek für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, dieser Gesetzentwurf wird zu Recht heute ander prominentesten Stelle im Plenarablauf besprochen;denn es geht um eine bildungspolitische Grundsatzfrage.Es geht nämlich um die hier schon zitierte Gleichwertig-keit von beruflicher und akademischer Bildung und imWesentlichen auch um die Wertschätzung für die beruf-liche Bildung.
Diese wird eben nicht durch Plakate oder Sonntagsredendokumentiert, sondern durch das, was bei den Menschenankommt, und dadurch, wie wir es schaffen, Karrierewe-ge zu eröffnen, und ich glaube, hier haben wir in dieserWahlperiode schon eine ganze Menge erreicht.
Ich will die BAföG-Novelle und das Meister-BAföGnoch einmal im Zusammenhang betrachten:Wir haben in allen Debatten – auch denen zurBAföG-Novelle – deutlich gemacht, dass das für uns zu-sammengehört und dass hier die gleichen Ziele verfolgtwerden.Wir haben erstens gesagt: Es muss eine substanzielleErhöhung geben. Das erreichen wir beim BAföG mit derErhöhung der Freibeträge und Bedarfssätze ab dem kom-menden Wintersemester um 7 Prozent. Das hat es in die-ser Größenordnung seit 2008 nicht mehr gegeben. BeimAFBG – dem Meister-BAföG – erreichen wir das überdie Erhöhung des Zuschussanteils. Bei beiden Gesetzenist also eine substanzielle Erhöhung gegeben.
Zweitens haben wir gesagt: Es soll eine strukturelleModernisierung geben, nämlich eine Annäherung an dieLebenswirklichkeit und an veränderte Bildungsbiogra-fien. Auch das werden wir erreichen. Wir haben beimBAföG die Bachelor-Master-Lücke geschlossen undviele andere Dinge gemacht, und wir werden auch beimMeister-BAföG neue Zielgruppen erreichen. Das Ge-setzgebungsverfahren dafür haben wir jetzt noch vor uns,und das eine oder andere an dem vorliegenden Gesetz-entwurf werden wir sicherlich noch verändern.Drittens haben wir gesagt: Eine besondere Bedeutungmuss sich nicht nur, aber auch darin niederschlagen, wieman das haushaltspolitisch unterlegt. Einige Beispieledafür möchte ich hier gerne noch einmal nennen:Beim BAföG werden nicht einmalig, sondern jedesJahr 1,2 Milliarden Euro zur Entlastung der Länder zurVerfügung gestellt, wie dies im Koalitionsvertrag vorge-sehen ist.
Darüber hinaus sind in der Novelle jährlich 500 Millio-nen Euro zusätzlich und 300 Millionen Euro für Darle-hensanteile am Studierenden-BAföG vorgesehen. DieseMittel werden nicht im BMBF-Etat zusammengekratzt,sondern obendrauf gelegt. Es sind also zusätzliche Aus-gaben. Das ist eine ganz klare Schwerpunktsetzung, diewir schon bei der BAföG-Novelle vorgenommen haben.
Das Schöne beim Aufstiegsfortbildungsförderungsge-setz ist, dass das, was wir im Gesetzgebungsverfahrenjetzt vielleicht noch vorhaben, durch die Weitsicht unse-rer Haushaltspolitiker schon im Haushalt vorgesehen ist,bevor der Gesetzentwurf überhaupt verabschiedet wurde.Das ist also auch on top, wurde obendrauf gelegt. Daszeigt: Wir wollen, dass die Mittel für die Weiterbildungs-förderung direkt bei den Menschen ankommen, und unshier nicht auf Sonntagsreden beschränken.
Meine Damen und Herren, es ist aber völlig klar:Nicht alle Aufgaben, die wir auf dem Weg in die Wis-sens- und Dienstleistungsgesellschaft für Fachkräfteschultern müssen, sind damit erledigt.Katja Dörner
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Ich habe mich ein bisschen über die Botschaft im An-trag der Grünen gewundert, die ich heute Morgen in denTickern gelesen habe: Sie wollen statt Meister-BAföG„für wenige“ Weiterbildung für alle.Erstens finde ich, dass 172 000 durch das Meis-ter-BAföG Geförderte gar nicht so wenig ist.
Zweitens. Es geht hier nicht um ein Instrument derElitenförderung oder sonst etwas, sondern um eine ge-zielte Förderung beim Übergang in die Wissensgesell-schaft. Letztlich geht es auch um die Verbesserung derPosition von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, de-nen wir mit diesem Gesetzentwurf einen Aufstieg durchQualifizierung ermöglichen wollen.
Insofern ist das auch etwas, was für breite Zielgruppen inBetracht kommt.
Wir müssen die Debatte jetzt weiterführen. Im Über-gang zur Wissensgesellschaft brauchen wir für alle, diesich darauf vorbereiten wollen – ob in der akademischenWeiterbildung oder für diejenigen, die Grundbildungsde-fizite haben –, Instrumente; wir brauchen Zeit, Geld undBeratung.Nicht alles muss aber der Staat leisten. Ich finde essehr bemerkenswert, dass in der Metall- und Elektroin-dustrie ein entsprechender Tarifvertrag mit Bildungszei-ten vereinbart wurde, den ich beispielgebend finde.
Aber wir müssen eben auch unsere Instrumente über-prüfen. Dafür finde ich auch hier in dieser Debatte vieleAnsätze, zum Beispiel Bildungsprämien und die Verbes-serung und Glättung der AFBG-BAföG-Schnittstellen,damit auch lebensbegleitendes Lernen ermöglicht wird.Ich freue mich auf die Ausschussdebatte darüber.Meine Damen und Herren, wir müssen deswegen je-weils auf die Lebenssituation schauen. Wir müssen aufdas schauen, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerbeim Übergang in die Wissensgesellschaft brauchen. Wirmüssen uns die Instrumente genau ansehen und sie sinn-voll miteinander verbinden, damit wir den Menschen denWeg in die Wissensgesellschaft, den wir alle gehen wol-len, erleichtern.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in der
Debatte: Dr. Thomas Feist für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine werten Kolle-
ginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Frau Dörner, was Sie erzählen, ist einfach nicht wahr.
Deswegen muss ich das am Anfang klarstellen. Wir ha-
ben – und zwar in beide Richtungen – eine Durchlässig-
keit zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Ich
bin der lebende Beweis. Wir können uns vielleicht ein-
mal darüber unterhalten.
Wissen Sie, ich habe einen Handwerksberuf – Hei-
zungsmonteur, also richtig mit Arbeit und Hände-dre-
ckig-Machen und so etwas – gelernt. Dann habe ich
Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie studiert.
Im Gegensatz zu Ihnen habe ich aber kein Abitur. All
das ist möglich in diesem Land. Und wenn Sie sagen:
„Das ist nicht möglich“, dann erzählen Sie zum Beispiel
den jungen Leuten, die da oben sitzen, die Unwahrheit.
Deswegen: Wir haben eine Durchlässigkeit nach beiden
Richtungen hin. Und dass wir das Meister-BAföG erhö-
hen, ist eine gute und richtige Sache.
Ich nehme aufgrund Ihres Nickens an, dass Sie eine
Zwischenfrage oder -bemerkung erlauben.
Aber mit großer Freude.
Frau Dörner, bitte.
Herr Feist, Sie haben mir ja offensichtlich zugehört.
Ich habe eine ganz kurze Zwischenfrage. Mitnichten
habe ich – das werden Sie mir doch sicher bestätigen – in
Abrede gestellt, dass ein Lebensweg wie der Ihre bzw.
eine Berufskarriere, wie Sie sie absolviert haben, in un-
serem Land nicht möglich sind, sondern ich habe gesagt,
dass es auch in Ihrem Falle bzw. generell nicht möglich
gewesen wäre, in diesem Kontext Meister-BAföG zu be-
ziehen. Das ist der Punkt, den ich gemacht habe. Es ging
um die Frage: Wann bekommt man welche Förderung?
Und da ist die Durchlässigkeit weiterhin nicht so gege-
ben, wie wir es uns wünschen würden.
Das ist ein ganz anderer Kontext als der, den Sie hier
erwähnt haben.
Das ist wirklich eine ganz interessante Vermutung, dieSie da anstellen, Frau Kollegin. Ja, ich habe studiert, undich habe dafür kein Meister-BAföG bekommen. Aber na-Oliver Kaczmarek
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türlich kann man Meister-BAföG bekommen, wenn manein Studium angefangen hat. Wir sorgen doch jetzt mitdieser Gesetzesnovelle gerade dafür, dass diejenigen, dieein Bachelorstudium angefangen und es auch vollendethaben, in den Genuss des Meister-BAföGs kommen.
Wenn Sie richtig – so wie ich es bei Ihnen getan habe –zugehört hätten, hätten Sie auch mitbekommen, dass je-mand, der ein Meisterstudium abgeschlossen hat, diesesauch anrechnen lassen kann und dafür BAföG bekommt.
Insofern geht Ihre Frage wirklich am Ziel vorbei. Wirhaben eine gute Durchlässigkeit, und wir verbessern die-se mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf noch er-heblich.
„Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ ist ein sper-riger Begriff; deswegen spricht man auch vom „Meis-ter-BAföG“. Ich möchte mich – weil schon viele Kollegenetwas zu den verschiedenen Teilen dieser Gesetzesnovel-le gesagt haben – heute auf das Meister-BAföG aus derSicht des Handwerks konzentrieren.Spätestens wenn man an einer Meisterfeier teilnimmt,wird man auf den Slogan des Handwerks „Die sichers-ten Wertpapiere gibt es im Handwerk“ aufmerksamgemacht. Da ist was dran. Denn ein Meisterbrief – dashaben wir gehört; man kann es aber nicht oft genug sa-gen, weil darüber noch viele Mythen in der Gesellschaftherumgeistern – sorgt dafür, dass man unterproportionalvon Arbeitslosigkeit betroffen ist. Die Gefahr, arbeitsloszu werden, ist um 2,1 Prozent geringer, als wenn man ei-nen akademischen Abschluss hat. Deswegen ist es wich-tig, junge Leute zu ermutigen, den Weg der beruflichenBildung und der Aufstiegsfortbildung – das heißt einesMeisterstudiums – zu gehen. Um dafür die Voraussetzun-gen zu schaffen, werden wir dieses Gesetz novellieren.
Wir werden – das ist angesprochen worden – denZuschuss wesentlich erhöhen. Aber wir werden geradedort besonders aufstocken, wo Leistung belohnt wer-den soll. Das heißt, demjenigen, der ein Meisterstudiumerfolgreich abgeschlossen hat, werden jetzt nicht mehr25 Prozent des Darlehens erlassen, sondern 40 Prozent.Leistung soll sich lohnen. Genau das ist Ausdruck diesesGesetzes. Deswegen ist dies ein guter Tag und ein gutesGesetz, ein Gesetz, das wir jetzt noch weiter verbessernwerden.
Warum habe ich mich so auf die Meister bezogen? Ichhabe mich auf die Meister bezogen, weil sie nicht nurBetriebe leiten und Ausbildungsplätze bereitstellen, son-dern weil sie in unserem Land auch Vorbilder sind. Dieszu unterstützen, das ist, denke ich, Aufgabe der Politik,wie sie sein sollte.Ich habe letztens in einer Diskussionsrunde mit Sozi-alpädagogen flapsig das wiederholt, was unser Kammer-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ein Meister ersetzt fünf
Sozialarbeiter. – Da ist durchaus was dran. Der Wider-
spruch war überschaubar. Meister sind nicht nur wich-
tig, weil wir sie für Unternehmensnachfolgen brauchen,
sondern auch deswegen, weil wir Meister brauchen, ge-
standene Frauen und Männer, die in ihrem Beruf etwas
zuwege gebracht haben und mit Lebenserfahrung und
Wissen junge Leute ausbilden. Deswegen ist die Ände-
rung dieses Gesetzes, wie wir sie jetzt vornehmen wol-
len, wichtig und gut.
Die Meister – da komme ich jetzt so langsam zum
Schluss, weil meine Redezeit abläuft – sind auch deswe-
gen eine besonders wertvolle Spezies in diesem Land,
weil sie in ihren Unternehmen Wirtschaftsleistung gene-
rieren und junge Leute ausbilden und weil sie das Rück-
grat der deutschen Wirtschaft darstellen. Angesichts der
erfolgreichen Entwicklung, etwa in meinem Bundesland
Sachsen, in dem das zweite Jahr in Folge mehr Lehr-
verträge als vorher abgeschlossen worden sind – über
2,4 Prozent mehr –, ist es wichtig, dass wir etwas für die
Ausbildung der Meister tun. Wenn wir sehen, dass wir in
den nächsten beiden Jahren – die Prognosen schwanken
da etwas – zwischen 550 000 und 580 000 Unterneh-
mensnachfolgen regeln müssen – allein in Sachsen be-
trifft das über 5 000 Unternehmen –, ist es höchste Zeit,
dass wir attraktive Bedingungen für diejenigen schaffen,
die sich in dieser Art und Weise fortbilden wollen und
Unternehmen übernehmen können.
Als letzten Punkt möchte ich die Regulierung auf
europäischer Ebene ansprechen; ich denke, auch das ist
wichtig. Wenn wir über die Wichtigkeit von Meistern
in Deutschland diskutieren, dann erinnere ich mich da-
ran, dass 2004 einige Berufsgruppen und Berufe aus der
Meisterpflicht herausgenommen worden sind. Dies hat
dazu geführt, dass die Zahl größerer Unternehmen aus-
gedünnt worden ist und kleine Ein-Mann-Unternehmen
an den Markt kamen, die eben nicht mehr ausbilden. Ein
Beispiel ist das Fliesenlegerhandwerk. Bei Gesellenfrei-
sprechungen kann man sehen, wie wenige in diesem Be-
reich ausbilden – das ist verschwindend gering.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, abschlie-
ßend mein Appell: Wenn man einmal einen Fehler ge-
macht hat, dann kann man ihn als solchen benennen. Wir
sollten versuchen, diesen Fehler zu beseitigen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Feist. – Abschließender Rednerin der Debatte ist Swen Schulz für die SPD.
Dr. Thomas Feist
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Siemich zunächst sagen, dass ich mich freue, heute hier alsMitglied des Haushaltsausschusses in der Fachdebattesprechen zu dürfen.Wir Haushälter gelten gelegentlich als etwas schwierig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir gelten voll-kommen zu Recht als schwierig: Wenn etwas unsinnigoder nicht finanzierbar ist, dann geht das nicht durch un-seren Ausschuss; Frau Hübinger stimmt mir da zu. AberSie wissen ja, dass die Bildungs- und Forschungspolitikunsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützunggenießt.
Wir Haushälter sind ja Dienstleister für die Fachpoli-tik. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist tatsächlich dasMeister-BAföG.Die Bundesregierung hat eine Gesetzesnovelle vor-gelegt, die in voller Jahreswirkung 30 Millionen Eurozusätzliche Ausgaben vorsah. Der Haushaltsausschusshat diese Summe nicht nur akzeptiert und unterstützt,sondern wir haben noch mehr gemacht. Wir haben zurhellen Freude der Ministerin Wanka den Betrag mehr alsverdoppelt, nämlich auf 70 Millionen Euro jährlich ver-besserte Förderung des Bundes,
und das noch vor Verabschiedung der Novelle. Das istein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang, der zeigt, wiewichtig uns Bildung ist.Auf diesem Weg haben wir dem Fachausschuss finan-ziellen Spielraum gegeben, um den guten Gesetzentwurfder Bundesregierung weiter zu verbessern.
Wir tragen damit Sorge dafür, dass das Meister-BAföGzeitgleich mit dem BAföG für Schüler und Studierendeeine ordentliche Verbesserung erfährt, und wir verwirk-lichen, was wir schon im Koalitionsvertrag als Grund-satz verankert haben: Die berufliche Bildung ist unsgenauso wichtig wie die akademische Bildung. Mit unsgibt es keine Bevorzugung oder Benachteiligung einesBildungsweges, meine sehr verehrten Damen und Her-ren.
Bildung ist von großer Bedeutung. Das ist nicht nurein Sonntagsredenspruch. Für die Menschen, ihre Chan-cen, den sozialen Zusammenhalt, für Wirtschaft undArbeit ist Bildung zentral. Bildung darf nicht am leerenGeldbeutel scheitern. Die Bildungsförderung liegt gera-de uns von der SPD am Herzen. Wir wollen soziale Hür-den abräumen. Darum war es uns so wichtig, das BAföGzu verbessern, und darum verbessern wir auch das Meis-ter-BAföG.Aber das ist nicht alles. Wir haben uns im Koalitions-vertrag noch einiges mehr vorgenommen. Wir haben unsmit der Bildungsfinanzierung beschäftigt und Entschei-dungen gefällt. Bereits im letzten Jahr haben wir dieBegabtenförderung für die berufliche Bildung gestärkt.In diesem Jahr haben wir die Mittel für die Promotions-förderung erhöht. Und wir starten im kommenden Jahreine Initiative für den wissenschaftlichen Nachwuchs imUmfang von 100 Millionen Euro jährlich.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Schü-ler-BAföG, Studierenden-BAföG, Meister-BAföG, Be-gabtenförderung berufliche Bildung und akademischeFörderung: Wir machen die Bildungsfinanzierung inDeutschland leistungsstärker, besser und gerechter.
Wir werden uns noch genauer anschauen, wie es mitder Förderung von Migrantinnen und Migranten weiter-geht. Das Thema haben wir auch schon mit Blick auf dasAnerkennungsgesetz und auf nötige Qualifizierungsmaß-nahmen in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Ange-sichts der vielen Geflüchteten erhält dieses Thema nocheinmal eine ganz besondere, eine stärkere Bedeutung.
Wir arbeiten also den Koalitionsvertrag bei der Bil-dungsfinanzierung Punkt für Punkt ab, ja wir gehen sogardeutlich darüber hinaus, mit einer prominenten Ausnah-me – diesen Dissenspunkt innerhalb der Koalition willich auch gar nicht verschweigen –: das Deutschland-stipendium.
Dem Koalitionsvertrag zufolge sollen 2 Prozent derStudierenden das Deutschlandstipendium erhalten. Dochwir sehen eine Stagnation. Die zur Verfügung gestelltenMittel werden nicht abgerufen. Das haben wir Sozialde-mokraten immer kritisiert, und es zeigt sich jedes Jahraufs Neue, dass das Deutschlandstipendium keine guteIdee war.
Wir sollten stattdessen das Geld dafür verwenden, dieBegabtenförderwerke und das BAföG weiter zu stärken.
Aber gut, wir sind eben in der Koalition unterschied-liche Parteien mit unterschiedlichen programmatischenAussagen. Da wir in der Koalition ansonsten keine Pro-bleme beim Thema Bildungsfinanzierung haben, kann
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ich nur sagen: Das ist an dieser Stelle eine gute und er-folgreiche Zusammenarbeit der Koalition auch und ge-rade im Haushaltsausschuss und mit den Fachpolitikern.Ich bedanke mich dafür.
Vielen Dank, lieber Kollege Schulz. – Damit schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7055, 18/7239 und 18/7234 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 5 a
und 5 b:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Mehr Klarheit für den Verbraucher bei der
Bezeichnung von Lebensmitteln – Das Deut-
sche Lebensmittelbuch und die Deutsche Le-
bensmittelbuch-Kommission reformieren
Drucksache 18/7238
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Harald Ebner, Friedrich Ostendorff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Reform der Deutschen Lebensmittel-
buch-Kommission – Mehr Transparenz und
Beteiligung
Drucksache 18/7242
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze ein-
zunehmen bzw. zu wechseln.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen noch einmal,
Platz zu nehmen und Gespräche woanders zu führen, da-
mit ich die Aussprache eröffnen kann und damit die erste
Rednerin die gebührende Aufmerksamkeit bekommt.
Ich erteile der Kollegin Gitta Connemann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Früherwar alles besser“, heißt es zu Unrecht. Früher war nichtalles besser, aber manches einfacher, jedenfalls wenn esum die Auswahl von Lebensmitteln ging. Das Angebotwar sehr klein. Tante Emma beriet und erklärte selbst,und vieles wurde zu Hause hergestellt. Zuhause ist fürmich Holtland, ein kleines Dorf in Ostfriesland, wo sichHimmel und Erde küssen. Dort gab es übrigens nur eineneinzigen Laden. Frau Böden verkaufte Tilsiter. Krautsa-lat machte unsere Mutter selbst, natürlich mit Zucker;sonst schmeckt es nicht. Wir wussten, was wir aßen.Die Zeiten ändern sich. Frau Böden ging. Selbstbe-dienungsläden kamen auch zu uns nach Holtland. DasSortiment wurde größer und internationaler. Nicht jederwusste mehr, was auf dem Teller lag. In dieser Zeit ent-stand das Deutsche Lebensmittelbuch, über das wir heutesprechen. Es regelt in Leitsätzen, wie ein Produkt heißendarf, wie es hergestellt wird und was drin sein muss. Esist ein Leitfaden. Es soll den Herstellern Orientierunggeben, zum Beispiel was in eine Kalbsleberwurst gehörtund wann sich ein Eis Speiseeis nennen darf. Wer sich andiese Regeln hält, ist auf der sicheren Seite. Es soll Ver-braucher vor Täuschung schützen; denn der Verbraucherkann dort lesen, was laut Verkehrsauffassung zum Bei-spiel unter einem Produkt wie Schinkenbrot zu verstehenist. Das Lebensmittelbuch ist also Bedienungsanleitungund Wörterbuch in einem.Inzwischen gibt es 21 Leitsätze für rund 2 000 Lebens-mittel, übrigens demokratisch erarbeitet von den Mit-gliedern der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission.Sie kamen und kommen aus der Verbraucherschaft, derWirtschaft, der Wissenschaft und der Lebensmittelüber-wachung. Alle Mitglieder eint: Sie haben gearbeitet wieHerkules und Sisyphus in einer Person, und zwar immerehrenamtlich. Vor dieser Leistung ziehe ich meinen Hut.Ich sage im Namen meiner Fraktion für diesen Einsatzaller Mitglieder in den letzten 53 Jahren herzlichen Dank.
Die Arbeit der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom-mission hat sich grundsätzlich bewährt. Aber die Zeitenändern sich auch heute. Inzwischen gibt es Lebensmittelim Überfluss, übrigens so sicher und preiswert wie niezuvor. Dies verdanken wir unseren Landwirten, Bäckern,Schlachtern, Gärtnern und Fischern, aber auch unserenHerstellern. Heute Abend wird die Internationale GrüneWoche in Berlin eröffnet. Das ist das Schaufenster derLand- und Ernährungswirtschaft. Für meine Fraktionsage ich: Wir sind stolz auf unsere deutsche Landwirt-schaft und unsere deutsche Ernährungswirtschaft.
Die Vielfalt führt aber auch zu Herausforderungen.Das kennen Sie vielleicht selbst: Sie stehen vor Hun-derten von Produkten im Supermarkt. Meine Frau Bö-den würde heutzutage nur noch ein Drittel der Käsesor-ten kennen. Wir selbst wissen immer weniger über dieHerstellung von Lebensmitteln. Kalbsleberwurst enthältzum größten Teil Schweinefleisch. Wussten Sie das? Washeute nach einem ausgewachsenen Lebensmittelskandalklingt, ist aber das Originalrezept. Anders wäre Kalbsle-berwurst gar nicht herzustellen und würde im Übrigenauch nicht schmecken. Aber für uns stellt sich damit na-türlich die Frage: Ist diese Bezeichnung noch zeitgemäß?Die Leitsätze sind zum Teil veraltet. Zum Teil habensie mit der gängigen Verbraucherauffassung nichts mehrzu tun. Was verstehen Sie unter einem Schinkenbrot? IchSwen Schulz
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persönlich verstehe darunter ein Brot mit Schinken. DerHersteller liest aber im entsprechenden Leitsatz:Es weist einen herzhaft-aromatischen Geschmackauf. Ein Zusatz von Schinken ist nicht üblich.Die Begründung lautet, in einem Bauernbrot sei ja auchkein Bauer. Wenn sich der Hersteller an die Regel hält,dann wird der Verbraucher nicht getäuscht. Aber er fühltsich enttäuscht; denn für ihn ist das Schinkenbrot etwasanderes. Übrigens versteht er unter Fruchtcreme aucheine Creme mit Früchten, aber tatsächlich kann sie ohneFrüchte sein, wie auch ein Pfirsich-Maracuja-Saft aus-schließlich aus Äpfeln und Orangen bestehen kann. Daskann kein Verbraucher nachvollziehen.Wer sich jetzt beschweren will, zum Beispiel bei derLebensmittelbuch-Kommission, muss gleich eine Be-gründung mitliefern. Das können weder Sie noch ich;ich jedenfalls nicht. Denn wer von uns ist Lebensmit-teltechnologe? Es braucht am Ende Jahre, bis die Kom-mission reagiert, auch reagieren kann. Das liegt an densehr schwierigen Verfahren und Abstimmungsprozessen.Das ist übrigens nicht nur unsere Wahrnehmung, liebeElvira Drobinski-Weiß, lieber Alois Rainer, sondern auchdas Ergebnis eines Gutachtens, das das Bundesministe-rium für Ernährung und Landwirtschaft, verehrte FrauKollegin, liebe Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth,in Auftrag gegeben hat. Ich fand es herausragend, dassunser Haus, das Ernährungsministerium, diesen Anlaufgemacht hat – nicht nur kritisieren, sondern auch handeln-; für diese Initiative gilt Ihnen, dem Minister und demHaus ein ganz herzlicher Dank.
Das Gutachten bestätigte: Es besteht Handlungsbe-darf. Deshalb sagen wir, die Koalitionsfraktionen: Wirbrauchen eine Reform des Deutschen Lebensmittelbuchsund auch der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission,besser heute als morgen; denn das Vertrauen der Verbrau-cher ist eine wertvolle Währung, mit der nicht gespieltwerden darf.
Wir als Fraktion wollen ein Lebensmittelbuch, dasseinen Namen verdient. Dafür muss der Anspruch vonKlarheit und Wahrheit gelten. Es muss drin sein, wasdraufsteht; aber es muss eben auch draufstehen, was drinist. Irreführung und Täuschung darf es an dieser Stellenicht geben. Ich bin froh, dass sich auch die Fraktion derGrünen dieser Erkenntnis angeschlossen hat und einenentsprechenden Antrag nach unserem Antrag auf denWeg gebracht hat.
An der paritätischen Besetzung der Kommission wol-len wir übrigens nicht rütteln; denn wir benötigen dieSach- und Fachkenntnisse entlang der gesamten Ketteder Lebensmittelerzeugung. Wir brauchen die Lebens-mittelüberwachung für die technischen Eigenschaften.Wir brauchen die Wissenschaft, wenn es um Aspekteder Lebensmittelsicherheit geht. Es geht natürlich auchum Rezepturen; deswegen brauchen wir die Wirtschaft,die Hersteller. Aber es geht auch ganz wesentlich um dieVerbraucherinnen und Verbraucher, darum: Was verste-hen sie wirklich unter einem Produkt? Nur so können alleInteressen unter einen Hut gebracht werden.Was wir brauchen – das bestätigt das Gutachten –,sind klare Ziele. Das ist schwer, wenn das Lebensmit-telbuch Wörterbuch und Bedienungsanleitung in einemsein will. Es stellt sich die Frage, wie man das bessermoderieren kann. Wir brauchen straffere Verfahren, übri-gens auch für die Arbeit der Kommission. Wir brauchenmehr Transparenz und eine bessere Verständigung zwi-schen Kommission und Öffentlichkeit; denn eines darfnicht entstehen: der Eindruck von Geheimniskrämerei.Das führt zu Misstrauen.Wichtige Erkenntnisse darüber, was wir zu tun haben,lieferte uns übrigens auch – das tut es nach wie vor –das Internetportal Lebensmittelklarheit.de. Es hat sichbewährt. Das sage ich mit Dank an das Bundesministeri-um für Ernährung und Landwirtschaft; denn es finanziertdieses Portal ganz wesentlich. Ich sage das aber auch mitDank an die Verbraucherzentralen, die es initiiert habenund die mit uns gemeinsam die Verbraucherrechte bewa-chen und hüten. Herzlichen Dank an beide!
Etwa 30 Prozent der dort gemeldeten Produkte wur-den von den Anbietern geändert. Insgesamt gab es Tau-sende von Meldungen. Es gab inzwischen an dieserStelle 700 Platzierungen. Es wurden etliche Produktegeändert; sie wurden verbraucherfreundlicher gestaltet.Tees wurden umbenannt. Wenn ein Tee Himbeer-Vanil-le-Traum heißt, dann muss er am Ende auch Himbeereund Vanille enthalten. Wenn er es nicht tut, dann darf ernicht so genannt werden. Die Verpackungen wurden neuaufgemacht.Die Einträge auf dieser Internetplattform sind für unswie eine Wünschelrute. Es lohnt sich, diesen zu folgen;denn in vielen Fällen – nicht in allen – zeigen sie, woHandlungsbedarf besteht. Deshalb wollen wir, dass dieInternetplattform zukünftig stärker in die Arbeit einbezo-gen wird; das muss nicht sein, aber es soll sein. Zudembrauchen wir mehr Begleitforschung.Wir müssen auch etwas an den Verfahren ändern. Siemüssen gestrafft werden.
Eine durchschnittliche Bearbeitungszeit von zweieinhalbJahren ist viel zu lang. Das verhindert Aktualisierungenund neue Leitsätze. Dafür brauchen wir aber auch einebessere finanzielle und personelle Ausstattung des Sekre-tariats. Eine Halbtagskraft kann die Arbeit nicht alleineerledigen, und die ehrenamtlichen Mitglieder sollten sichauf etwas anderes konzentrieren dürfen als auf Hotelbu-chungen. Sie sollten übrigens auch eigene Anträge stel-len dürfen.Gitta Connemann
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 14653
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Wir sind davon überzeugt: Mehr Klarheit und Wahr-heit bei Lebensmitteln, gerade auch beim DeutschenLebensmittelbuch, ist eine Chance für die Lebensmit-telwirtschaft und ein Gewinn für Verbraucherinnen undVerbraucher; denn das Vertrauen ist die wichtigste Wäh-rung. Enttäuschen wir sie nicht! Dafür stehen wir ein.Wir hoffen auf entsprechende Änderungen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Gitta Connemann. Danke auch für den
Hinweis, was das Bauernbrot nicht enthält.
Frau Haßelmann hat das Wort.
Ich möchte, dass geklärt wird, wo der Minister ist.
Wir führen heute eine Debatte über das Thema Deutsche
Lebensmittelbuch-Kommission. Das ist ein TOP, den die
Koalition in der Kernzeit angesetzt hat. Ich glaube, der
Minister ist für morgen entschuldigt wegen der Internati-
onalen Grünen Woche, aber nicht für zwei Tage. Könnten
Sie das bitte klären? Ich sage das auch in Wertschätzung
der Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die heute
sprechen, und des Themas insgesamt, das der Koalition
sehr wichtig zu sein scheint; sonst würde man das nicht
in der Kernzeit debattieren.
Darf ich das jetzt als Zitierantrag verstehen?
Ja.
Dann haben die anderen PGFler das Wort. – Herr
Grosse-Brömer.
Erstens. Hier ist die Parlamentarische Staatssekretärin
anwesend, die im Übrigen auch auf der Rednerliste steht.
Infolgedessen ist das Ministerium vertreten. Zweitens.
Der Minister ist zurzeit mit dem Bundespräsidenten beim
Presserundgang auf der Internationalen Grünen Woche.
Ich würde empfehlen, das zumindest jetzt als Ent-
schuldigung zu akzeptieren. Wenn Ihnen der Bundesprä-
sident nicht als Entschuldigung ausreicht, dann müssen
wir darüber diskutieren. Ich finde aber, das ist eine ange-
messene Entschuldigung. Obwohl ich für das Ministeri-
um gar nicht zuständig bin, übermittele ich Ihnen diese
Information hiermit gerne.
Frau Haßelmann.
Dann bestehen wir nicht auf einer Abstimmung. Aber
ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde das nicht in Ord-
nung.
Wenn sich Dienstag die Parlamentarischen Geschäfts-
führer darauf verständigen, wer vonseiten der Bundesre-
gierung als entschuldigt gilt oder nicht und der Minister
Schmidt für den heutigen Tag nicht entschuldigt wird,
dann können meine Fraktion und ich nicht wissen, dass
er sich auf der Grünen Woche befindet.
Der Minister ist für morgen entschuldigt, und das war
von uns sofort akzeptiert. Wenn es aber zwei Debatten in
der Kernzeit zu einem ihn betreffenden Thema gibt und
er nicht da ist, dann ist es doch selbstverständlich, dass
man seine Anwesenheit einfordert. Das ist unser gutes
Recht. Ich habe jetzt die Begründung für seine Abwe-
senheit gehört. Mich wundert sehr, dass Sie diesen TOP
trotzdem in der Kernzeit ansetzen. Wir bestehen aber
nicht auf einer Abstimmung.
Es gibt also keinen Zitierantrag, über den wir abstim-
men müssen. Vielleicht können wir diese Frage auch im
Ältestenrat behandeln.
Mit Ihrer Zustimmung fahren wir jetzt in der Debatte
fort. Ich gebe Karin Binder das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Auch ich finde das sehr kritikwürdig, wasKollegin Haßelmann gerade angesprochen hat, vor allemvor dem Hintergrund, dass wir heute zu diesem Tages-ordnungspunkt, den ich für sehr beratungswürdig halte,eine Sofortabstimmung durchführen sollen.
Ich bin der Meinung, dass dieses Thema zusätzlicherVorschläge und Anregungen im Ausschuss bedarf. Wirhätten aus dem Antrag der Regierungskoalition sicher-lich noch ein bisschen mehr machen können, wenn Sieuns die Möglichkeit gegeben hätten, mit den Fachpoli-tikerinnen und Fachpolitikern im Ausschuss zu beraten;denn ich glaube schon, dass es an der einen oder anderenGitta Connemann
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 201614654
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(D)
Stelle durchaus noch Möglichkeiten gäbe, etwas zu ver-bessern.
Warum reden wir heute über die Deutsche Lebensmit-telbuch-Kommission und das Deutsche Lebensmittel-buch? Wir reden darüber erstens, weil die Grüne Wochebeginnt – sonst hätten wir diesen prominenten Aufset-zungstermin heute nicht –,
und zweitens, weil seit Jahren heftige Kritik von Ver-braucherinnen und Verbrauchern sowie den Verbändenan der Arbeit dieser Einrichtung geübt wird, und zwarsehr berechtigte Kritik.Was ist denn eigentlich die Deutsche Lebensmittel-buch-Kommission? Sie ist eine paritätische Zusammen-setzung aus 32 Vertreterinnen und Vertretern aus derWissenschaft, aus der Lebensmittelüberwachung, ausVerbraucherverbänden und aus der Wirtschaft. Wie siehtdie Arbeit dieser Kommission aus? Sie soll beraten, wasfür die Verkehrsbezeichnung von Lebensmitteln sinnvollist, damit Verbraucherinnen und Verbraucher möglichstnicht getäuscht werden. Wir haben allerdings das Pro-blem, dass diese Kommission in ihren Entscheidungendurch die Lebensmittelwirtschaft mehr oder wenigerständig blockiert wird; denn die acht Vertreter der Le-bensmittelwirtschaft, die gegen alles sind, was eine ehr-liche Verbraucheraufklärung eigentlich beinhaltet, habendurch das Konsensprinzip, das diesem Gremium aufer-legt ist, die Möglichkeit, alles zu unterlaufen.Warum heißt Kalbsleberwurst „Kalbsleberwurst“, ob-wohl keine Leber und nur ein kleiner Anteil Kalbfleischdarin ist? Viele alte Menschen verlassen sich aber da-rauf. Kalbfleisch ist für ihren Cholesterinspiegel weitausbesser als Schweinefleisch. Aber in Kalbsleberwurst ist85 Prozent Schweinefleisch.
Was ist an der Bezeichnung ehrlich? Ich muss sagen: DieLeitsätze helfen doch nicht, wenn es hier eine Blockade-haltung der Wirtschaftsvertreter gibt.
Es gibt keine Transparenz bei diesem Gremium.Nichts wird öffentlich gemacht. Es gibt keine Protokol-le. Was soll das? Wir loben Lebensmittelklarheit und-wahrheit. Es gibt ein Portal, in dem sich die Verbrau-cherinnen und Verbraucher beschweren dürfen. Prima!Und was wird dann daraus? In der Deutschen Lebens-mittelbuch-Kommission spielt das alles keine Rolle. Esgeht eben nicht darum, was die Verbraucher erwarten. Esgeht darum: Was ist die allgemeine Verkehrsauffassung?Da haben sich bisher leider die Wirtschaftsvertreter sehrstark durchgesetzt. Das Absurde im Zusammenhang mitder Kalbsleberwurst habe ich Ihnen gerade schon erklärt.
– Es ist Kalb drin. Wunderbar! Bisher waren es 15 Pro-zent. Jetzt müssen es 25 Prozent sein. Na prima!Mehr Klarheit für Verbraucherinnen und Verbraucherfinden die Damen und Herren, die sich dafür interessie-ren, auf der Rückseite in 0,8 Millimeter großer Schrift.
Das lesen natürlich alle Konsumentinnen und Konsu-menten während des Einkaufs so nebenher: 0,8 Millime-ter. Ich habe meine Lupe heute vergessen. So ein Pech!
Von daher: Es muss vorne draufstehen, was drin ist. Nurdann gibt es wirklich Wahrheit und Klarheit.Ich muss es noch einmal sagen: Die Sofortabstim-mung heute halte ich für völlig daneben.
Das ist der eine ganz große Kritikpunkt, weshalb wir unsauf jeden Fall enthalten werden, obwohl ich zugestehe,dass in Ihrem Antrag durchaus Ansätze sind, die wir un-terstützen können.
Ihre Analyse teile ich. Nur leider ist das, was dann darauswird, wieder das Problem: Es sollte. Es könnte. Es wäreschön, wenn.
Das ist dann die Konsequenz. Ich würde mir wünschen,dass wir daraus eine Verbindlichkeit machen. Das würdeganz anders aussehen.
Ihre Forderung ist, ein klares Ziel für das DeutscheLebensmittelbuch zu definieren:Um die Arbeit der DLMBK zu erleichtern, ist dieZielsetzung der Leitsätze klarzustellen. Der An-spruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf„Wahrheit und Klarheit“ soll prägende Wirkung aufdie Leitsätze entfalten.So weit d’accord.
Diesem Ziel entsprechend sollten in die Gruppeder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auchVerbraucherforscher berufen werden.Warum heißt es denn nicht „werden berufen“?
Unter „Verfahren zu vereinfachen und zu verkürzen“heißt es dann:Karin Binder
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Zur Erhöhung der Effizienz der Arbeit der DLMBKsollte die Arbeit der ehrenamtlichen Kommissions-mitglieder aufgewertet … werden.Es steht so oft das Wort „sollte“ in Ihren Vorschlägen. Ichwürde mir einfach wünschen, dass wir daraus eine Ver-bindlichkeit machen. Dann wird ein Schuh daraus, unddann können wir auch darüber reden.
Völlig außen vor lassen Sie leider den Umstand, dasses auch ganz andere Vorschläge gibt. Das möchte ichheute der Vollständigkeit halber einmal erwähnen. Esgibt durchaus Vorschläge von Verbraucherorganisatio-nen. Foodwatch beispielsweise sagt, eine Überlegungwäre, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommissionaufzulösen und diese Aufgabe beim Bundesamt für Ver-braucherschutz und Lebensmittelsicherheit anzusiedeln.Dieser Vorschlag ist nach meinem Dafürhalten auf jedenFall bedenkenswert; denn ich sehe ein Problem: Nachwie vor haben wir es mit einem ehrenamtlichen Gremi-um zu tun. Alle Mitglieder mit Ausnahme der acht, dievon der Wirtschaft gestellt werden, müssen das neben ih-rer beruflichen Tätigkeit machen oder werden von nichtgewinnorientierten Organisationen dafür abgestellt. Alleaußer diesen acht haben es also wesentlich schwerer. Fürdie acht, die von ihren Betrieben bezahlt werden, ist dasnatürlich kein Problem. Alle anderen, die wirklich ehren-amtlich arbeiten, müssen aber schauen, wie sie die Zeitdafür aufbringen. Und ich behaupte: In einer Zeit, in derLebensmittel mittlerweile überwiegend als Fertigpro-dukte konsumiert werden, für die dann die Überprüfungstattfinden muss, sind Ehrenamtliche ganz schön gefor-dert. Daher halte ich die Überlegungen von Foodwatchfür berechtigt. Man sollte im Ausschuss noch einmal da-rüber nachdenken.
Zwar ist in dem hier vorliegenden Koalitionsantragdie Forderung enthalten:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, zeitnah Vorschläge zur Reform des DLMBund der DLMBK vorzulegen.Das kann ich nur begrüßen und unterstreichen. Aberdann kommt es:Ziel muss es dabei sein, die Akzeptanz der Verbrau-cherinnen und Verbraucher für die Leitsätze desDLMB zu erhöhen …Es soll also die Akzeptanz der Verbraucherinnen undVerbraucher für diese Leitsätze erhöht werden, wobei wirja am Beispiel der Kalbsleberwurst festgestellt haben,wie sinnvoll die sind. Dafür muss ich die Akzeptanz derVerbraucherinnen und Verbraucher erhöhen? Das verste-he ich nicht. Ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh dar-aus: Die Leitsätze müssen sich an der Erwartungshaltungder Verbraucherinnen und Verbraucher orientieren. Dasist doch der Sinn und Zweck. Ich muss doch den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit geben, sichanhand der aufgestellten Leitsätze zu entscheiden. Letzt-endlich erwarten die Verbraucherinnen und Verbraucher,dass das draufsteht, was drin ist.
Bisher ist das nicht der Fall, obwohl es, wie FrauConnemann gesagt hat, 21 Leitsätze zu 2 000 Lebens-mitteln gibt. Man sieht ganz deutlich, dass die Leitsätzenicht der Erwartungshaltung entsprechen. Deshalb mussumgekehrt angesetzt werden. Wir müssen erreichen, dassdie Leitsätze dem entsprechen, was Verbrauchererwar-tung ist und was auch Verbraucherverbände erwarten.
Daher ist es für mich extrem wichtig, dass mit dieser Re-form auch ein Verbandsklagerecht eingeräumt wird.Ich bin dankbar, dass auch die Grünen einige Punktezur Kennzeichnung aufgegriffen haben; denn ich denke,dass die Bezeichnung eines Lebensmittels auch ganz vielmit der Lebensmittelkennzeichnung zu tun hat. Darübersollte im Zusammenhang mit dieser Reform ebenfallsnachgedacht werden. Ich erwähne nur die Lebensmittel-ampel. Auf jeden Fall sollten wir dieses Thema angehenund dann auch eine Evaluierung durchführen, um heraus-zufinden, was das bringt und ob man nicht vielleicht docheine ganz andere Lösung finden muss.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollegin Binder. – Nächste Rednerin ist
Elvira Drobinski-Weiß für die SPD.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herrenauf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eshat wohl selten ein Antrag im Bundestag so schnell Wir-kung gezeigt wie unser Antrag zur Reform des Lebens-mittelbuches, den wir heute gemeinsam mit unserem Ko-alitionspartner hier einbringen; denn gestern haben wirüberraschend erfahren, dass Minister Schmidt heute –also, liebe Karin, doch sehr zeitnah – seine Eckpunktezur Reform des Lebensmittelbuches vorstellt. Das freutuns natürlich;
denn wir haben seit Monaten gewartet, und es ist nichtspassiert. Etwas befremdlich stimmt mich nur, dass wirals Mitglieder der Regierungsfraktionen darüber so spätinformiert wurden,
Karin Binder
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obwohl wir doch immer nach dem Stand der Dinge ge-fragt haben. Na ja, was wahr ist, muss wahr bleiben.
Nun gut. Dann kommt hoffentlich endlich Fahrt auf inSachen Lebensmittelbuchreform.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, wenn wir mit unseren Anträgen so erfolg-reich sind, dann fallen mir noch jede Menge Themen ein,zu denen wir Anträge einbringen müssen, damit Sie ausder Warteschleife kommen und endlich etwas passiert.Ein Stichwort für mich ist natürlich – Sie sehen es mirnach – die Gentechnik.Doch nun zurück zum eigentlichen Thema. Schenkenwir der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission dieAufmerksamkeit, die sie verdient. Die Grüne Woche istdafür eine gute Gelegenheit. Karin, ich sehe das sehr vielpositiver als du.Für die große Mehrheit der Verbraucherinnen und Ver-braucher dürfte das Lebensmittelbuch bislang ein Buchmit sieben Siegeln sein.
Doch das Schattendasein, das die Deutsche Lebensmit-telbuch-Kommission in der Öffentlichkeit führt, wird ih-rer Bedeutung nicht gerecht; denn sie bestimmt maßgeb-lich mit, was in den Lebensmitteln enthalten ist, die wirals Konsumenten in den Regalen der Supermärkte wie-derfinden. Inzwischen hat die Deutsche Lebensmittel-buch-Kommission in ihren Leitsätzen mehr als 2 000 Le-bensmittel aufgelistet und beschrieben; Frau Connemannhat darüber schon informiert. Sie gelten als wichtigeRichtlinien dafür, auf welche Art und Weise Produktehergestellt werden müssen, wenn sie einen bestimmtenNamen tragen. Für die Unternehmen liegen die Vorteileauf der Hand: Gemeinsame Standards garantieren einenfairen Wettbewerb und verhindern, dass schwarze Scha-fe Produkte, die von minderwertiger Qualität sind, unterdem gleichen Namen verkaufen.Vor allem sind gemeinsame Leitsätze aber wichtig, umVerbraucherinnen und Verbraucher beim Griff ins Super-marktregal vor Täuschung und Irreführung zu schützen.
Wenn sie auf dem Etikett einer Verpackung „Pfirsich-Ma-racuja“ lesen, dann sollen sie sicher sein können, dassin dem Produkt auch solche Früchte enthalten sind undnicht nur deren Aromen; denn Verbraucher sind keineDetektive. Sie sollen ohne Lupe, Handy oder einen Ab-schluss in Ernährungswissenschaft in der Lage sein, zuerkennen, was sie kaufen. Und genau da liegt die Krux.
Viele der Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuchsind heute so formuliert, dass sie dem Verbraucherver-ständnis widersprechen. Das heißt schlicht: Wir verste-hen sie nicht. Schokoladenpudding muss demnach nichtmehr als 1 Prozent Kakao enthalten. In Lammwurst darfauch Schweinefleisch verarbeitet sein, und wer glaubt,Kalbswürstchen enthielten vor allem Kalbfleisch, derirrt. Doch das Bedürfnis der Menschen nach klaren,wahrheitsgemäßen Informationen darüber, wie Lebens-mittel hergestellt und verarbeitet wurden, ist in den letz-ten Jahren gewachsen. Sie wollen sich darauf verlassenkönnen, dass Lebensmittel das enthalten, was der Nameauf der Verpackung ihnen verspricht. Kennzeichnungen,die eine Qualität suggerieren, die nicht gegeben ist, wol-len sie nicht. Davon zeugen die vielen Meldungen, diebeim Portal Lebensmittelklarheit.de von Verbraucherin-nen und Verbrauchern eingehen, die sich durch Produkt-kennzeichnungen getäuscht fühlen.Im Koalitionsvertrag haben wir durchgesetzt, dasssich die Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch künf-tig klar an den Erwartungen der Konsumenten orien-tieren. Damit kommt der Verbraucherforschung bei derErarbeitung der Leitsätze eine ganz wichtige Funktionzu. Heute sind in der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom-mission – Frau Binder hat es schon erwähnt – Rechts-und Wirtschaftswissenschaftler, Ernährungsphysiologenund Lebensmitteltechniker vertreten. Aber es gibt in derGruppe der Wissenschaftler niemanden, der systematischhinterfragt, welche Erwartungen die Verbraucherinnenund Verbraucher tatsächlich mit einer bestimmten Pro-duktkennzeichnung verknüpfen. Wir wollen deshalb,dass künftig auch zwingend Vertreter der Verbraucher-forschung in die Lebensmittelbuch-Kommission berufenwerden und die Ergebnisse der Verbraucherforschungbesser genutzt werden.
Zudem müssen den Mitgliedern der Kommission mehreigene finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, damit sie,wenn es notwendig ist, selbst Verbraucherbefragungen inAuftrag geben können. Wir wollen, dass die Erkenntnisse,die im Internetportal Lebensmittelklarheit.de gesammeltwerden, in die Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommissioneinfließen. Wird dort eine verwirrende Kennzeichnungs-praxis offensichtlich, soll sich die Kommission mit die-ser Problematik auseinandersetzen.Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, mit dem Antraghaben wir eine gute Vorlage geschaffen, um ein neuesKapitel in der Geschichte der Deutschen Lebensmittel-buch-Kommission zu schreiben. Wenn wir den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern endlich die Rolle einräu-men, die ihnen zusteht, dann bin ich auch sicher, dass esein Erfolg wird.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nicole Maisch ist die nächste Rednerin für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission und ihreLeitsätze, die häufig völlig an den Erwartungen der Ver-Elvira Drobinski-Weiß
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braucherinnen und Verbraucher vorbeigehen, stehen seitJahren zu Recht in der Kritik. Deshalb ist es gut, dasssich die Koalition des Themas annimmt und einen Antragvorgelegt hat, den auch wir nicht komplett schlecht fin-den. Ich finde es total interessant, dass der Minister seineEckpunkte heute der Öffentlichkeit, aber offensichtlichweder dem Koalitionspartner noch dem Parlament prä-sentieren will.
Es wurde gesagt, er hätte wichtige Termine auf derGrünen Woche. Wir haben noch einmal nachgefragt,wann diese dann anfangen. Das ist um 12 Uhr. Offen-sichtlich hat sich der Minister zu Fuß auf den Weg in dieMessehallen gemacht. Wir finden das ökologisch gut,aber angesichts der Tatsache, dass wir als Parlament dasRecht haben, mit dem Minister zu sprechen, finde ich eseine ziemliche Frechheit.
Ein letzter Satz dazu: Die offizielle Eröffnung derGrünen Woche beginnt heute Abend. Es wird auch überNacht noch an den Ständen geschraubt. Baut der Ministerden Stand des BMEL selbst? Was macht er jetzt eigent-lich auf der Grünen Woche? Warum diskutiert er nichtmit uns hier?
Meine Damen und Herren, die Kolleginnen und Kol-legen haben viele absurde Beispiele gebracht: Zitro-nenlimo ohne eine Spur von Zitrone, Seelachs, der keinLachs, sondern ein dorschartiger Kohlfisch ist. Es gibteine ganze Menge zu verändern. Das ist natürlich keinesinnvolle Verbraucherinformation, sondern quasi staat-lich abgesicherte Verbrauchertäuschung. Dass das nichtso bleiben kann, sehen Sie auch selbst. Deshalb habenSie einen Antrag vorgelegt. Dort stehen positive Sachendrin. Wir haben noch zwei grundsätzliche Punkte, dieman verbessern müsste, damit mehr Klarheit und Wahr-heit herrschen.Der erste Punkt ist eine grundsätzliche Orientierungder Bezeichnung an den Verbrauchererwartungen. Dasheißt, man muss hinterher die Verbraucher befragen:Ist die Bezeichnung wirklich das, was ihr zum Beispielunter Schokocreme, Zitronenlimo und Schinkenbrot ver-steht, oder ist es anders? Wenn die Bezeichnung an denVerbrauchererwartungen vorbeigeht, dann ist sie nichtbrauchbar, dann muss eine neue gefunden werden.
Natürlich brauchen wir Transparenz darüber, was indiesem Gremium passiert. Dazu gehört auch: Wer hatwelches Interesse vertreten? Das heißt: Ist eine bestimm-te Verkehrsauffassung von der Industrie gepusht wordenoder von den Verbraucherschützerinnen und Verbrau-cherschützern? Auch dazu gehören Klarheit und Wahr-heit. Hier springt Ihr Antrag ein bisschen zu kurz.
Es gibt einige gute Vorschläge von der Koalition. Imletzten Jahr haben wir vor der Grünen Woche einen ganzguten Antrag zum Thema Ernährung beraten. Das warwunderbar. Was haben Sie nicht alles gefordert: gesün-dere Lebensmittel im Supermarkt, Reduzierung von Zu-cker, Salz und Fett, Verbesserung der Kita- und Schulver-pflegung, Eindämmung der Lebensmittelverschwendungund – weil Sie so schön dabei waren – keine Quengelkas-sen mehr in Supermärkten. Ich würde den Minister ger-ne fragen – das geht jetzt nicht, deswegen frage ich dieStaatssekretärin –: Was ist seitdem umgesetzt worden?Ich kann Ihnen sagen: Nichts. Dieser Minister betreibtArbeitsverweigerung seit zweieinhalb Jahren.
Wenn Sie mehr Transparenz und Täuschungsschutz fürVerbraucherinnen und Verbraucher wollen: Warum gam-melt dann der Gesetzentwurf zum Lebens- und Futter-mittelgesetzbuch seit Monaten auf dem Ministerschreib-tisch? Ich habe gestern die Staatssekretärin gefragt, wielange er da noch Staub ansetzen soll. Sie hat mir gesagt –Zitat –: Dies lässt sich im Moment in einer weiteren Kon-kretisierung noch nicht darstellen. – Auf Deutsch: DerMinister wird sich nicht damit beschäftigen, er weiß auchnicht, wann; wir lassen es einfach liegen und hoffen, dassdie Bevölkerung es nicht merkt. – So, finde ich, kannman keine Politik machen.
Was ist bei der Qualitätsoffensive zur Verbesserungdes Schulessens in Deutschland eigentlich wirklich in denBundesländern, in den Schulen angekommen? 290 000Euro machen Sie für alle 16 Vernetzungsstellen Schul-verpflegung locker – das haben Sie der Kollegin Binderin einer E-Mail geschrieben. Ich finde, das ist ziemlichwenig. Die Studie, mit der sich Herr Schmidt erzählenlassen hat, dass das Essen in den Schulen schlecht ist,hat fast genauso viel gekostet. Da frage ich mich doch:Gibt es in der Ernährungspolitik eine vernünftige Priori-tätensetzung? Die Antwort muss leider lauten: Nein.
Wir finden: Wenn man es mit Transparenz für Ver-braucher wirklich ernst meint, dann braucht man eine ge-setzliche Pflicht zur Kennzeichnung der Art der Tierhal-tung. Ich habe der Presse entnommen, dass sich seit dreiTagen auch der Minister mit diesem Thema beschäftigt.Er hat in einem Interview erwähnt, es wäre doch ganznett, wenn die Verbraucher wüssten, wie das Schweinoder das Kalb, von dem das Schnitzel stammt, gehaltenwürde. Nur hat man im Ministerium noch nicht wirklichIdeen dazu entwickelt. Das ist schade; denn die entspre-chende Arbeitsgruppe der Länder tagt seit über einemJahr, und der Tierschutzbund hat schon vor zwei Jahreneine Tierschutzkennzeichnung eingeführt. Die Debatteläuft und läuft und läuft, nur immer ohne den Minister.Nicole Maisch
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Zum Schluss. Ich finde, wenn wir über Klarheit undWahrheit reden, dann kommen wir an der Nährwertam-pel nicht vorbei.
Sie dachten, die Debatte ist tot. Das ist sie nicht. Wir wer-den das immer wieder beantragen, werden die Debatteweiter führen,
da wir finden: Jahresanfänge sind eine Zeit für gute Vor-sätze. Für Klarheit und Wahrheit zu sorgen, ist ein guterVorsatz. Nur muss man als Minister auch entsprechenddafür arbeiten.
Für die Bundesregierung hat nun die Parlamentarische
Staatssekretärin Maria Flachsbarth das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedan-ken, dass Sie angesichts der Verpflichtungen, die HerrBundesminister im Rahmen der Internationalen GrünenWoche hat, nun doch mit mir vorliebnehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, von A wieAachener Leberwurst bis Z wie Zwiebelwurst, dazwi-schen noch die Bulette, die gebrühte Touristenwurst undder Marmorkuchen – all das findet man im DeutschenLebensmittelbuch. Nachdem hier von Verbraucher-erwartungen gesprochen wurde, möchte ich sagen: We-der gebrühte noch abgebrühte Touristen befinden sich inder Wurst, auch kein Marmor in dem nach ihm benann-ten Kuchen. Im Deutschen Lebensmittelbuch findet man21 Leitsätze und die Beschreibung von über 2 200 Le-bensmitteln. Man kann darin nachsehen, was denn jetztdie Inhaltsstoffe sein müssen. Die Beschreibungen wer-den von der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommissionerarbeitet, in der jeweils acht ehrenamtliche Mitgliederaus den beteiligten Kreisen, also Wissenschaft, Wirt-schaft, Verbraucherschaft und Lebensmittelüberwa-chung, in sieben Fachausschüssen tätig sind.Sie wissen – das ist heute schon mehrfach angeklun-gen –, dass das Deutsche Lebensmittelbuch selbst, aberauch die Struktur der Kommission Gegenstand vielfäl-tiger kritischer Diskussionen sind. Es geht dabei vor-wiegend um die mangelnde Transparenz der Entschei-dungsfindung, um den Einfluss der Wirtschaft, um dieDauer der Entscheidungswege und um die Erfüllung desAnspruchs der Verbraucherinnen und Verbraucher aufKlarheit und Wahrheit. Das ist hier heute schon von allenSeiten angeklungen.Diese Punkte finden sich erfreulicherweise auch inden Anträgen aus dem Plenum wieder, die hier vorlie-gen. Die Bundesregierung teilt viele der Kritikpunkteausdrücklich oder kann sie zumindest nachvollziehen.So sind wir uns hinsichtlich der Maßnahmen an vielenStellen – um nicht zu sagen: den meisten Stellen – mitden vorliegenden Anträgen einig.
Das Bundesministerium für Ernährung hat eine wis-senschaftliche Evaluation beauftragt und die Eckpunkteeiner Reform der Deutschen Lebensmittelbuch-Kom-mission und des Deutschen Lebensmittelbuchs erar-beitet, die ich Ihnen jetzt gerne vorstellen möchte. DieRahmenbedingungen der Reform ergeben sich aus demAnspruch auf Klarheit und Wahrheit, den Erkenntnissender Evaluationsstudie und den Stellungnahmen der betei-ligten Kreise und Experten. Wir wollen mehr Effizienz,mehr Akzeptanz und mehr Transparenz durch Straffungund Stärkung der Strukturen erreichen. Dabei hat sichdie Grundstruktur der Lebensmittelbuch-Kommissiondurchaus bewährt.Bundesminister Christian Schmidt hat deshalb imMärz 2015 entschieden, die Grundstruktur grundsätz-lich beizubehalten. Deshalb bleibt es bei einer paritätischaus den vier Kreisen, also Wissenschaft, Lebensmittel-überwachung, Verbraucherschaft und Lebensmittelwirt-schaft, zusammengesetzten ehrenamtlichen Kommis-sion mit 32 Personen. Sie wird weiter unabhängig vonWeisungen beschließen und soll fachlich, inhaltlich undorganisatorisch durch Personal im Bereich des BMELunterstützt werden. Im Konsens getroffene Entscheidun-gen machen die Akzeptanz und die Glaubwürdigkeit derDLMBK und der verschiedenen Leitsätze aus. Darumwerden wir das Konsensprinzip erhalten. Auch in Zu-kunft wird keiner der vier beteiligten Kreise, sofern erdenn geschlossen abstimmt, überstimmt werden können.Damit wird der Anspruch erfüllt, eine möglichst breit ge-tragene Mehrheit zu erreichen.Lassen Sie mich kurz auf das gesetzliche Umfeld desDeutschen Lebensmittelbuches eingehen. Die Leitsätzesind ein untergesetzliches Regelwerk. Sie dienen derAuslegung des Artikels 17 der EU-Lebensmittelinfor-mationsverordnung Nummer 1169/2011, indem sie dieVerkehrsauffassung der aufgeführten Lebensmittel be-schreiben, für vorverpackte wie für lose Ware. Alle Wirt-schaftsbeteiligten, insbesondere aber die Verbraucherin-nen und Verbraucher, werden dadurch vor Irreführungund Täuschung geschützt, der lautere Wettbewerb wirdgestärkt, und alle Beteiligten bekommen eine Hilfestel-lung, um Rechtssicherheit zu erhalten. Diese Aufgabenund Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind unsereRichtschnur bei der Reform des Deutschen Lebensmit-telbuches und der entsprechenden Kommission.Mit einem Maßnahmenbündel aus regelmäßiger Über-prüfung der Leitsätze, erleichterter Antragstellung, effi-zienteren Abstimmungsverfahren, der Einführung einesSchlichtungsverfahrens, einer höheren Sitzungsfrequenzund systematischer Einbeziehung wissenschaftlicher Er-Nicole Maisch
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kenntnisse werden wir die DLMBK-Arbeit deutlich ef-fizienter gestalten, Diskussionen versachlichen und dieAktualität der Leitsätze spürbar erhöhen und damit auchden Verbraucherbelangen mehr Geltung verschaffen.Alle 21 Leitsätze sollen künftig innerhalb der weiter-hin fünfjährigen Berufungsperiode systematisch über-prüft und aktualisiert werden. Grundlage dieser Überprü-fungen sollen unter anderem aktuelle Erkenntnisse ausMarkt- und Verbrauchererhebungen sein einschließlichdes Portals Lebensmittelklarheit.de. Dessen Redakti-on soll künftig die Möglichkeit haben, im Präsidiumder Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission über dieneuesten Ergebnisse des Portals zu berichten und damitsicherzustellen, dass gerade der aktuelle Stand der Er-kenntnisse auch zeitnah in die Kommissionsarbeit ein-fließen kann. Bei Bedarf werden darüber hinaus, wie hieraus der Runde gefordert, Verbrauchererwartungen undVerbraucherverständnis sowie Marktgegebenheiten mitHilfe gezielter Forschung erfasst werden.Wir beabsichtigen darüber hinaus, das Berufungs-verfahren transparenter zu gestalten. Zum einen soll dieDeutsche Lebensmittelbuch-Kommission möglichst he-terogen zusammengesetzt bleiben, sodass ein möglichstbreites Feld fachlicher Expertise abgedeckt wird. Zumanderen werden wir die Kriterien, die wir an die Aus-wahl der Mitglieder stellen, veröffentlichen und die Mit-glieder, deren Zustimmung vorausgesetzt, auf der Inter-netseite der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommissionvorstellen. Das Antragsverfahren soll insofern erleichtertwerden, als dass Formulierungsvorschläge nicht mehrzwingend verlangt werden. Das wird insbesondere denVerbrauchern helfen.Der Bearbeitungsstand der Leitsätze und aktuel-le Sachstandsberichte werden künftig zeitnah auf derHomepage der Deutschen Lebensmittel-Kommissionveröffentlicht werden und nachvollziehbar sein. Nebendem Fachchinesisch, das bleiben wird und bleiben muss,damit die Angaben justiziabel sind, werden wir aberauch aktuelle verbrauchernahe Informationen über dieArbeit der Lebensmittelbuch-Kommission sowie Zielund Zweck der Leitsätze in verständlichem Deutsch er-läutern, damit auch die Öffentlichkeitsarbeit letztendlichprofessioneller und zielgruppenorientierter werden kann.
Wir werden darüber hinaus all diese Maßnahmenselbstverständlich auch insofern unterstützen, als dassentsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung gestelltwerden. Dafür in dieser Runde einen ganz herzlichenDank an den Haushaltsgesetzgeber.Dort allerdings – das will ich auch sagen –, wo dieKapazitäten der 32 nach wie vor ehrenamtlich tätigenMitglieder der Lebensmittelbuch-Kommission erschöpftsind, werden die avisierten Reformmaßnahmen eineGrenze finden. Als solche Grenze sehen wir 15 Präsenz-tage pro Jahr und DLBMK-Mitglied.Die Fachabteilung in unserem Haus wird nunmehr mitder Umsetzung des Reformkonzeptes, insbesondere derErarbeitung einer neuen Geschäftsordnung beginnen. Pa-rallel dazu laufen die Vorbereitungen für die Erstellungeiner Liste möglicher Kandidatinnen und Kandidaten fürdie Berufung zum 1. Juli dieses Jahres, da die Amtszeitder amtierenden Kommission am 30. Juni endet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die verschiedenenAkteure der Lebensmittelkette – die Wirtschaft, die Über-wachung, die Wissenschaft und die Verbraucherschaft –haben naturgemäß unterschiedliche Blickwinkel auf dieProzesse, die vom Acker bis zum Teller durchlaufen wer-den. Die ehrenamtlichen Mitglieder der Deutschen Le-bensmittelbuch-Kommission haben sich über Jahre hin-weg fachlich engagiert, fachlich versiert und konstruktivin die Prozesse eingebracht, haben um Formulierungengerungen und Leitsätze formuliert. Dafür möchte ichmich sehr herzlich und ausdrücklich bedanken.
Wir tragen mit der Reform nun unseren Teil dazu bei,die Lebensmittelbuch-Kommission bestmöglich zu un-terstützen und die Rahmenbedingungen neu und so zugestalten, dass die Arbeit künftig noch effizienter, aktuel-ler und transparenter erfolgen kann. Ziel ist es, die Kom-mission zu befähigen, die Überarbeitung und die Aktua-lisierung der Leitsätze entsprechend den Anforderungenaus der Verbraucherschaft nicht zuletzt zügig anzugehenund somit die redliche Herstellungspraxis und die be-rechtigten Verbrauchererwartungen in Einklang zu brin-gen. Damit stellen wir uns gemeinsam mit den Mitglie-dern der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission derobersten Maxime im Lebensmittelverkehr, nämlich demgesundheitlichen Verbraucherschutz und dem Schutz vorder Irreführung und Täuschung.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Oliver Krischer erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ver-braucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf,dass die Verpackung eines Lebensmittels auf den erstenBlick das deutlich macht, was das Produkt enthält. Dassollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. FrauFlachsbarth, selbstverständlich enthält Marmorkuchenkeinen Marmor, aber das wissen die Verbraucher auch.
Was wir in den Supermärkten tagtäglich erleben, dashabe ich gestern Abend in einem Berliner Supermarktausprobiert. Man kommt hinein und findet im Eingangs-bereich Smoothies, so heißen diese Fruchtsaftgetränke.Auf den Verpackungen steht: Brombeere, Erdbeere, Jo-hannisbeere. Jeder erwartet natürlich, dass dieser Saft ausdiesen drei Früchten besteht. Wenn man die Lupe her-ausholt und hinten auf das Kleingedruckte guckt, stelltman aber fest: Diese drei Früchte machen nicht einmal20 Prozent des Inhalts aus; der Rest ist Apfel- und Oran-gensaft. Die Bezeichnung „Multifrucht“ wäre vielleichtokay, das mag auch ganz lecker sein, aber das, was drauf-Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
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steht, entspricht nicht dem, was drin ist. Das muss sichdringend und schnell ändern.
Die Beispiele sind unzählig. In jedem Supermarkt findensich Dutzende von Fällen. Da gibt es die Olivenpaste,von der jeder erwartet, dass sie aus Oliven besteht. Wennman genau draufschaut, stellt man aber fest, dass sie nurzu 2 Prozent aus Oliven besteht. Das ist Verbrauchertäu-schung.Das alles ist keine neue Erkenntnis. Wir diskutierenüber dieses Thema schon seit Jahren. Wir diskutierenschon seit Jahren über die Lebensmittelbuch-Kommissi-on. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie das alles richtigadressiert. Das ist zweieinhalb Jahre her. Der Ministerhat vor knapp einem Jahr ein Gutachten vorgestellt, indem dieser Reformbedarf festgestellt wird. Er hat ange-kündigt:Ich will das Buch nicht neu schreiben, aber einzelneKapitel mit deutlicher Feder kräftig überarbeiten.Dazu hatte er ein Jahr lang Zeit. Nichts ist passiert.Jetzt, pünktlich zur Internationalen Grünen Woche, wirdhier ein Schaufensterantrag vorgelegt.
Es wird angekündigt, dass das gemacht werden soll. Daswird nicht umgesetzt, sondern die Umsetzung wird nurangekündigt. Ich sage: Das ist ein Stück weit Arbeitsver-weigerung.
Allein die Tatsache, dass der Minister sich nicht hierins Parlament bewegt, um zu versuchen, seine Vorstel-lungen deutlich zu machen, und sich möglicher Kritik zustellen, spricht Bände. Wenn er tatsächlich auf der IGWden Stand des Ministeriums aufbaut, dann ist das ohneZweifel die größte Leistung, die er in dieser Legislatur-periode vollbracht hat.
Dass Sie Regierungshandeln nur simulieren und nichttatsächlich handeln, das haben wir schon im letzten Jahrerlebt. Da haben Sie hier einen Antrag unter der Über-schrift „Gesunde Ernährung stärken – Lebensmittel wert-schätzen“ eingebracht. Was ist in dieser Zeit umgesetztworden? Es wurden quengelfreie Kassen gefordert. Ichhabe nichts mehr davon gehört, dass die verboten wer-den sollen. Der Anteil von Zucker, Fetten und Salz inFertigprodukten sollte reduziert werden. Was haben Siegemacht? Es ist nichts passiert.
Das Thema Lebensmittelverschwendung sollte angegan-gen werden. Nichts ist passiert. Das alles haben Sie an-gekündigt. Ich sage Ihnen: In einem Jahr, pünktlich zurGrünen Woche, werden wir hier wieder diskutieren. Mitder Lebensmittelbuch-Kommission ist es wieder bei derAnkündigung der Umsetzung geblieben. Daran, ob dasausreicht, kann man ganz erhebliche Zweifel haben.Meine Damen und Herren, Minister Schmidt hat eineneue Sportart erfunden, das Ministermikado: Wer sichbewegt, verliert. Darin will er deutscher Meister werden.Das kann angesichts der Herausforderungen, die wir inder Agrar- und Ernährungspolitik haben, nicht sein.
Wir brauchen nicht nur eine Reform der Lebensmit-telbuch-Kommission, sondern wir brauchen insgesamtklare Kennzeichnungsregelungen vor allen Dingen beimFleisch. Es muss erkennbar sein, wie die Tiere gehaltenwerden. Wir brauchen die Nährwertampel. Wir braucheneine klare Definition, was vegane und vegetarische Le-bensmittel sind. Das erwarten die Verbraucherinnen undVerbraucher. Wir brauchen auch endlich eine vernünftigeEU-weite Regionalkennzeichnung. Das sind Punkte, dieSie anpacken müssten, genauso wie insgesamt eine Re-form der Agrarpolitik.Es kann doch nicht so weitergehen. Am Samstag wer-den hier wieder Tausende Menschen dafür demonstrie-ren, dass wir endlich eine andere Agrarpolitik, dass wirLebensmittel ohne Pestizide und Gifte, dass wir artge-rechte Tierhaltung statt Massentierhaltung bekommen,
dass Landwirtschaft Verbraucherinteressen dient undeben nicht den Agrarkonzernen und nicht der industriel-len Landwirtschaft. Das wäre die Herausforderung. Aberda muss man einfach sagen: Die Große Koalition undinsbesondere der Mikadominister Schmidt sind an dieserStelle nicht Teil der Lösung. Sie sind das Problem. Dasmüssen wir ändern.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Carsten Träger
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlichdebattieren wir heute über ein echtes Luxusproblem, überein Problem des Luxus im wahrsten Sinne des Wortes.
Wir haben den Luxus, dass wir nie ein größeres Angebotan ständig verfügbaren Lebensmitteln hatten. Nie hattenwir mehr Freiheit, genau das zu essen, worauf wir geradeLust haben. Zu jeder Jahreszeit, tagtäglich und überallstehen wir einem reichhaltigen Angebot von Lebensmit-Oliver Krischer
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teln gegenüber. Alles gut also? Leider nein. Denn mitdem Übermaß wachsen auch die unerfreulichen Beglei-terscheinungen: Umweltprobleme, Höfesterben, gesund-heitliche Folgewirkungen.Deshalb geht es in Deutschland heute beim Essenschon lange nicht mehr darum, einfach nur satt zu wer-den. Essen ist heute nicht einfach nur mehr Essen. Essenist Politik. Essen ist Lifestyle, Mode, Gesinnung. Fürmanche ist Essen Religion. Da ist festzustellen: Immermehr Menschen sind unzufrieden mit den Bedingungen,die ihren vermeintlich freien Kaufentscheidungen zu-grunde liegen. Viele haben es längst satt. Unter diesemMotto werden wir auch an diesem Wochenende wiederZehntausende sehen, die auf die Straße gehen und gegendie industrielle Landwirtschaft demonstrieren, vielleichtsogar Hunderttausende. Der Protest wächst und gehtdurch sämtliche gesellschaftliche Schichten. Lassen Sieuns diese Mahnrufe ernst nehmen. Lassen Sie uns etwastun.
Aber was? Ich bin nicht der Meinung, dass uns hierVorschriften wirklich weiterhelfen. Es kann nicht darumgehen, den Menschen vorzuschreiben, was sie essen sol-len.
Ich will nicht die Debatte, die wir schon geführt haben.Ich mag keine unnötigen Vorschriften, schon gar nichtbei einer solch grundlegenden Frage wie: Was will ichessen? Ich möchte, dass die Verbraucher selbst entschei-den. Dazu müssen wir ihnen die notwendigen Infor-mationen an die Hand geben. Verbraucher haben einenAnspruch auf Wahrheit und Klarheit als Grundlage ihrerKaufentscheidungen.
Es muss bei den Lebensmitteln draufstehen, was drin ist,und es muss drin sein, was draufsteht.
Wenn sich die Verbraucher auf leicht lesbare Informati-onen auf den Produkten verlassen können, dann bin ichmir sicher, dass sie bei ihrem Einkauf in der MehrheitEntscheidungen für gute Produkte aus nachhaltiger Pro-duktion treffen.
Kaum jemand wird Geflügelfleischprodukte kaufen,die hauptsächlich aus Schweinefleisch bestehen, oderFruchtcremes, die keine Früchte enthalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Deutsche Le-bensmittelbuch leistet hier einen wertvollen Beitrag, undes könnte einen noch weitaus wertvolleren Beitrag leis-ten. Seine Leitsätze geben Orientierung, wie ein Produkthergestellt ist und was es enthält. Wir brauchen dringendeine solche Institution mit hohem Sachverstand und mithoher Glaubwürdigkeit.
Wir müssen dafür sorgen, dass es genau diese Institu-tion mit hohem Sachverstand und hoher Glaubwürdig-keit auch gibt. Wir müssen dafür sorgen, dass die zen-tralen Informationen schneller bereitstehen. Wir lebenim Zeitalter des globalisierten Handels. Der Einkauf imNetz erobert längst auch den Lebensmittelbereich. Damüssen die wichtigsten Informationen schneller bereit-stehen, wesentlich schneller. Die Informationen müssenverständlicher aufbereitet werden als bisher. Hier gibt esberechtigte Kritik am Deutschen Lebensmittelbuch. Las-sen Sie uns diese Kritik ernst nehmen und die Verfahrensowie die Kommunikation deutlich verbessern!Herzlichen Dank.
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der
Kollege Alois Rainer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Seit nunmehr über 50 Jahren erstelltdie Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission Leitsätzefür das Deutsche Lebensmittelbuch und für die Verbrau-cherinnen und Verbraucher, Leitsätze, die als Richtschnurgleichermaßen für Unternehmen zur Herstellung als auchund vor allem – das muss gesagt werden – für den Ver-braucher zum Verzehr als untergesetzliche Standardszur Verfügung stehen. Es sind ja schon viele Beispielegenannt worden, etwa das eines Fruchtsaftgetränks bzw.eines Fruchtsafts oder die Frage: Von welchem Tierstammt das Wiener Schnitzel? Diese Fragen stellen sichnicht nur Verbraucher, sondern auch der eine oder andereHersteller.Liebe Kollegin, zur Kalbsleberwurst muss ich schonetwas sagen. Als Metzgermeister, der mit Sicherheitschon einige Hunderte von Kilos Kalbsleberwurst her-gestellt hat, weiß ich, was da drin ist. Ich kann Ihnen nursagen: Es ist gut, dass jetzt 15 Prozent Kalbfleisch in derKalbfleischleberwurst drin sein müssen. In der Kalbsle-berwurst muss sogar ein Teil Kalbsleber drin sein; wiegroß dieser Teil sein muss, ist aber nicht definiert. Ichkann Ihnen sagen: Wenn die Kalbsleberwurst – nennenwir sie jetzt einmal so – zu 100 Prozent aus Kalbfleischwäre, würde sie nicht schmecken, und sie wäre viel zuteuer. Sie wäre für den Verbraucher schlichtweg nicht be-zahlbar. Darum: Bitte seien Sie mit den Beispielen undden Emotionen vorsichtig!
Wir wollen die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommis-sion reformieren. Das ist der richtige Weg; das ist gut,Carsten Träger
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und wir machen das. Zusammen mit dem Ministeriumwerden wir die richtigen Schritte einleiten.Das Deutsche Lebensmittelbuch – das ist gesagt wor-den – ist eine Sammlung von Leitsätzen, die die allge-meine Verkehrsauffassung von Lebensmitteln widerspie-geln. Das heißt auch, dass wir hier von untergesetzlichenStandards sprechen, die im Vollzugsalltag als belastbareGrundlage zur Feststellung der allgemeinen Verkehrsauf-fassung zur Verfügung stehen. Denn grundsätzlich gilt,dass die Leitsätze einer gerichtlichen Nachprüfung un-terliegen sollten, jedoch keine verbindlichen Rechtsvor-schriften darstellen.Die Ziele der Leitsätze sind vielfältig. Es geht um dieSchaffung von Klarheit im Lebensmittelverkehr durchklare und deutliche Definition. Auf den Verbraucher-schutz muss großen Wert gelegt werden. Zu nennen istauch die Vereinfachung des Marktes für Hersteller undHändler. Vor allem sind die Leitsätze auch ein Instrumentzur Einhaltung der Mindeststandards, liebe Kolleginnenund Kollegen. Diese Mindeststandards werden von derDeutschen Lebensmittelbuch-Kommission geprüft, un-ter Berücksichtigung von nationalen und internationalenStandards überarbeitet und im Einvernehmen mit demBMEL und dem Bundeswirtschaftsministerium entspre-chend veröffentlicht.Im Grunde hat sich dieses System bewährt. Der Eva-luierungsbericht, der im März letzten Jahres vorgestelltworden ist, sagt aus, dass dieses System alternativlos ist.Ich zitiere:Bei allen identifizierten alternativen Strukturen/Institutionen, welche die Aufgaben der DLMBKpotentiell effektiver und effizienter umsetzen könn-ten, bleibt festzuhalten, dass insbesondere bzgl. derAkzeptanz bei den involvierten Kreisen sowie derrechtlichen Legitimation der Entscheidungsfindungkeine Option eine eindeutige Vorteilhaftigkeit ge-genüber der DLMBK aufweisen kann. Im Gegen-teil, hier zeigen sich, insbesondere durch die paritä-tische Zusammensetzung, die zentralen Stärken derDLMBK in ihrer derzeitigen Konstruktion.Genau darauf gehen wir in unserem Antrag ein.Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Ja, wir ha-ben ein System, das überarbeitet und angepasst werdenmuss, aber ich möchte sagen, dass wir keine völlige Neu-strukturierung oder Neugestaltung erzielen wollen. Viel-mehr wollen wir mit unserem Antrag die in letzter Zeitzu Recht häufig geäußerte Kritik an den Leitsätzen desDeutschen Lebensmittelbuches bzw. an der Arbeit derDeutschen Lebensmittelbuch-Kommission angehen.Ich denke hier insbesondere an die Kritik an der in-transparenten und ineffizienten Struktur. So beträgt zumBeispiel die durchschnittliche Bearbeitungszeit etwaneun Monate. Bis zur endgültigen Beschlussfassung ver-gehen durchschnittlich zweieinhalb Jahre. Das ist nichtnur in der heutigen Zeit zu viel. Da ich ein sehr ungedul-diger Mensch bin, stelle ich mir vor, dass die Bearbei-tungszeit wesentlich verkürzt wird.Zudem sind einige Leitsätze für die Verbraucherinnenund Verbraucher nur schwer nachzuvollziehen. Die Ver-braucherinnen und Verbraucher wollen informiert wer-den, und das ist auch gut so. Sie sollen selbstbestimmtentscheiden können, was sie kaufen.
Wir wollen – ich denke, darin sind wir uns alle ei-nig – einen verbraucherfreundlichen Markt. Unser Zielist es daher, dass sichere und gute Produkte unter fairenund nachhaltigen Bedingungen hergestellt und angebo-ten werden. Diese Vorgaben sollen aber nicht nur für dieVerbraucher, sondern gleichermaßen auch für die Le-bensmittelwirtschaft gelten, und glauben Sie mir – ichhabe es eingangs schon gesagt –: Gerade in dieser Sa-che weiß ich, wovon ich spreche; ich bin ein Stück weitselbst betroffen.Mit dem Ausdruck „Wahrheit und Klarheit“ sind wirauf dem richtigen Weg. Wir wollen Sicherheit und Ver-trauen für die Verbraucherinnen und Verbraucher.Vielleicht war es dem einen oder anderen noch garnicht bewusst, bevor es vorhin angesprochen wurde: Alle32 Mitglieder der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommis-sion arbeiten ehrenamtlich. Es gilt, dieses Engagementnicht mit Füßen zu treten, sondern die bisherige ehren-amtliche Arbeit der Mitglieder zu unterstützen und auf-zuwerten. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Deshalblautet unsere Forderung an das Bundeslandwirtschafts-ministerium auch, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kom-mission bei ihrer Arbeit personell und finanziell adäquatzu unterstützen.
Für eine effiziente und transparente Arbeit müssenausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.Nur so kann langfristig sichergestellt werden, dass dieArbeit der Kommission produktiver, der jeweilige Ab-lauf effizienter und die Öffentlichkeitsarbeit transparen-ter gestaltet werden kann. Die Verbraucher haben einRecht darauf, zu erfahren, was sie kaufen und verzehren.Ich komme jetzt noch ganz kurz zu dem Antrag derGrünen. Es ist nett und sehr angenehm, dass Sie Teileunseres Antrags befürworten und übernehmen.
In anderen Bereichen Ihres Antrages gehen Sie aberüber das heutige Thema, die Deutsche Lebensmittel-buch-Kommission, hinaus.
Was machen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetz-buch und die Kennzeichnung für die Tierhaltung in ei-nem Antrag zur Deutschen Lebensmittelbuch-Kommis-sion? Ich werde mich mit Ihnen über dieses Thema gernesehr ausführlich unterhalten, lieber Kollege Ebner. Wirwissen ja, dass wir uns bei diesem Thema gerne aneinan-der reiben. Bei der heutigen Behandlung der Reform derLebensmittelbuch-Kommission brauchen wir das aberAlois Rainer
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mit Sicherheit nicht. Vielleicht bringen Sie es übers Herz,unserem Antrag zuzustimmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich zum Schluss noch deutlich machen: Unser Antragstellt praktikable Lösungen für eine Reform des Deut-schen Lebensmittelbuches und der Deutschen Lebens-mittelbuch-Kommission dar. In dieser Reform findensich die Verbraucher und die Lebensmittelunternehmergleichermaßen wieder.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Wiese das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gutes Essen ist wichtig. Es ist eine Frage vonGesundheit, Genuss und Lebensqualität.
Und ganz besonders wichtig ist: Das Essen muss schme-cken. Das ist den meisten Menschen deutlich bewusst. Ineinem anstrengenden Alltag in Beruf und Familie ist esjedoch oft nicht so einfach, auch noch auf eine ausgewo-gene Ernährung zu achten. Ich glaube, viele von uns hierim Raum können ein Lied davon singen.Ich möchte die Debatte heute dazu nutzen, ganz zuBeginn meiner Ausführungen im Namen der SPD-Bun-destagsfraktion denjenigen Danke zu sagen, die in unse-rem Land gute Produkte herstellen. Das sind die Land-wirtinnen und Landwirte, die jeden Tag unterwegs sind.Denen sage ich erst einmal ein großes Dankeschön fürdie hervorragende Arbeit, die sie jeden Tag leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Geschmack al-lein macht aber nicht gesundes Essen aus. Die Art, wieLebensmittel produziert und konsumiert werden, hatweitreichende Konsequenzen für Menschen, Tiere undUmwelt. Daher muss Politik Rahmenbedingungen dafürschaffen, dass sichere und gesunde Lebensmittel erzeugtwerden. Sie muss durch einfache, verständliche und ver-lässliche Verbraucherinformationen bewusste Konsum-entscheidungen ermöglichen und gegen Verbraucher-täuschung entschieden vorgehen. Viele diesbezüglicheKennzeichnungen sind in den Leitsätzen des DeutschenLebensmittelbuches beschrieben.Es gibt aber deutliche Kritik am Deutschen Lebens-mittelbuch. Dabei handelt es sich um vier wesentlichePunkte:Erstens. Es fehlt an einer klaren Zielsetzung.Zweitens. Es mangelt an einer effektiven Umsetzungdes Lebensmittelbuches. Hier spiele ich auf die langsameÄnderungs- bzw. Anpassungsgeschwindigkeit der Leit-sätze an.Drittens. Es fehlt an einer personellen und finanziellenAusstattung, die eine vernünftige Arbeit gewährleistet.Viertens. Es fehlt – das ist schon angeklungen – anTransparenz. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, fordernmehr Transparenz über den Meinungsbildungsprozessgerade innerhalb der Kommission. Das ist dringend not-wendig.
Beim Einkauf im Supermarkt fällt vielen von unsmittlerweile auf, dass die Zusammensetzung der Lebens-mittel nicht mehr dem entspricht, was eigentlich verspro-chen wird. Produktverpackung und Werbung suggeriereneine Qualität oder Herkunft, die in der Ware oft nichtdrinsteckt. Begriffe wie „Hausmacherkost“ oder „stärktdie Abwehrkräfte“ täuschen zum einen über den eigentli-chen industriellen Herstellungsprozess hinweg. Zum an-deren suggerieren sie dem Verbraucher eine ExtraportionGesundheit. Gerade das Onlineportal Lebensmittelklar-heit.de ist ein unverzichtbares Projekt, wenn es darumgeht, mehr Transparenz für den Verbraucher herzustel-len. Hier können Aufmachung und Kennzeichnungsprak-tiken bei Lebensmitteln gemeldet werden, durch die sichder Verbraucher offensichtlich getäuscht fühlt.Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich dafür einge-setzt, dass das Projekt Lebensmittelklarheit weiter vo-rangetrieben und im Bundeshaushalt fest verankert wird.Und das ist gut so.
Zur Veranschaulichung will ich noch zwei Beispie-le nennen. Dabei geht es einmal um Lebensmittelimi-tate. Die kommen immer häufiger vor. Aus preiswertenRohstoffen entstehen Analogkäse oder Schinkenimitate.Zwar sind diese Produkte nicht verboten, wichtig ist je-doch, dass der Verbraucher erkennen kann, ob er ein ech-tes oder nachgemachtes Lebensmittel kauft.Ein anderes Beispiel betrifft die Kennzeichnung vonFruchtsaftgetränken. Irreführende bunte Bilder weckenfalsche Erwartungen beim Verbraucher. Das darf nichtsein. Dagegen muss man vorgehen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Wichtig ist, dass nurnoch draufsteht, was drin ist, und drin ist, was draufsteht.Und das sollte, bitte, für die Verbraucherinnen und Ver-braucher verständlich sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zunehmend wirdauch die Herkunft des Nahrungsmittels vom Verbraucherals ein bestimmender Faktor der Kaufentscheidung gese-hen. Ich glaube, jeder von uns stellt in seinem Wahlkreisbzw. seiner Region fest, dass die regional hergestelltenProdukte immer wichtiger werden und regionale Produk-te ein wesentlicher Grund für Kaufentscheidungen derVerbraucherinnen und Verbraucher sind.
Alois Rainer
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Meine Heimat Westfalen – oder besser gesagt: Süd-westfalen – ist eine Region, in der zahlreiche kulinari-sche Spezialitäten zu Hause sind.
Dabei handelt es sich um die „westfälischen Fünf“.Schinken, Mettwurst, Pumpernickel, Stuten und Kornstehen gerade für traditionelle Produkte nationaler Her-kunft und Qualität.
Ich möchte an dieser Stelle gar nicht vom guten sauerlän-dischen Bier sprechen.
Aber ein Blick auf den Kollegen Willi Brase zeigt mir:Auch im Siegerland gibt es hervorragende Produkte, ge-rade auch in flüssiger Form.
– Jetzt habe ich etwas angerichtet?
Aus prinzipiellen Gründen, Herr Kollege, muss ich
schon Wert auf den Hinweis legen, dass diese Auflistung
exemplarisch, aber nicht vollständig ist.
Sehr geehrter Herr Präsident, ich muss an dieser Stel-
le sagen, dass ich keinen artikulierten Widerspruch vom
Minister höre. Unter Juristen gilt: Schweigen heißt Zu-
stimmung. Von daher, glaube ich, habe ich in diesem
Punkt recht.
Im Sauerland – um noch einmal auf meine Heimat-
region zu sprechen zu kommen – gibt es übrigens, ge-
rade was regionale Produkte anbelangt, eine Vielzahl
von Hofläden, die durch Regionalität und Qualität über-
zeugen. Gute Beispiele hierfür sind das Netzwerk hofla-
den-sauerland.de oder viele Bauern- und Geflügelhöfe,
die mit Produkten aus der Region werben und diese ver-
kaufen. Die Palette an Restaurants mit regionaler Kost ist
ebenfalls groß. Diese Angabe der geografischen Herkunft
funktioniert also auch als Qualitätssignal für die Verbrau-
cher.
Richten wir an diesem Punkt den Blick auf den glo-
balen Lebensmittelhandel. Wir müssen uns nicht immer
nur vor amerikanischen Chlorhühnchen oder kanadi-
schem Rindfleisch fürchten, sondern wir müssen uns
bereits auf nationaler Ebene für eine Pflicht zur Kenn-
zeichnung der Herkunft von Lebensmitteln einsetzen.
So können wir unsere nationalen Standards sichern und
weiterentwickeln. Daher müssen wir uns gemeinsam
für den Erhalt regionaler Kennzeichnungen im interna-
tionalen Freihandelsabkommen einsetzen; denn dies ist
ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für die deutsche
Landwirtschaft.
Das heißt, wenn wir jetzt noch vor unserer eigenen Tür
kehren, also unsere Hausaufgaben machen, und das
Deutsche Lebensmittelbuch reformieren, dann können
wir uns dem Wettbewerb mit unseren Qualitätsprodukten
stellen.
Eine Anmerkung zum Schluss an die Kolleginnen und
Kollegen der Grünen: Wenn Frau Haßelmann schon kri-
tisiert, dass der Minister nicht anwesend ist, dann sollte
doch Frau Haßelmann selbst bitte bis zum Ende der De-
batte anwesend sein.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Carola Stauche für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Vor fast einem Jahr – das wurde heuteschon genannt –, am 15. Januar 2015, diskutierten wirhier im Plenum des Deutschen Bundestags einen Antragunserer Regierungskoalition mit dem Titel „GesundeErnährung stärken – Lebensmittel wertschätzen“. Darinfinden sich zwei wunderschöne Sätze:Im Alltag der Verbraucherinnen und Verbraucherspielen Ernährung und gesunde sowie sichere Le-bensmittel eine zentrale Rolle. Nie zuvor waren Le-bensmittel in Deutschland so sicher, bezahlbar undvielfältig wie heute.
Diese Sätze galten damals, und diese Sätze gelten auchheute noch. Ich betone dies explizit, weil von mancherSeite unterschwellig der Eindruck erweckt wird, diedeutsche Lebensmittelwirtschaft sei eine Bande von Be-trügern und die Verbraucherinnen und Verbraucher stän-den alle kurz vor einer Vergiftung.
Dirk Wiese
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Deshalb wiederhole ich:Nie zuvor waren Lebensmittel in Deutschland so si-cher, bezahlbar und vielfältig wie heute.
Unsere Land- und Ernährungswirtschaft leistet zumganz überwiegenden Teil eine sehr gute Arbeit. DasDeutsche Lebensmittelbuch und die Deutsche Lebens-mittelbuch-Kommission haben hierzu in der Vergangen-heit einen ganz wichtigen Beitrag geleistet. Dafür ge-bührt ihr unser Dank.
Jedoch auch in diesem Bereich gilt: Das Bessere ist derFeind des Guten. Ein im internationalen Vergleich hohesNiveau und mündige Bürgerinnen und Bürger lassen na-hezu folgerichtig die Forderung entstehen, sich nicht mitdem Erreichten zufriedenzugeben, sondern immer weiternach Verbesserungen zu streben.Unstrittig ist, dass das Lebensmittelbuch und dieKommission reformiert werden müssen, um auch wei-terhin die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen zu können.Dabei geht es aber nicht um einen radikalen Umbau desSystems, sondern um eine behutsame und zielorientierteWeiterentwicklung des bewährten Instrumentes.Deshalb finde ich es sehr schade, dass der Antrag derGrünen Dinge vermischt: Einerseits fordert er, was ohne-hin bereits politischer Wille ist, nämlich die Ergebnisseder Evaluation des Lebensmittelbuches umzusetzen. Dasfindet sich auch im Antrag unserer Regierungskoalition.
Ich denke, Details muss ich hierzu nicht weiter ausfüh-ren. Das haben meine Vorredner bereits zur Genüge ge-tan.Andererseits verknüpft der Antrag damit Elemente,die mit dem Lebensmittelbuch nichts oder nur am Randezu tun haben.
– Ja, genau. – Dazu kann ich nur sagen: Insbesondere dasMantra von der Lebensmittelampel wird nicht dadurchrichtig, dass es permanent wiederholt wird, obwohl esgar nicht hierhergehört.
Ich möchte meine Rede vom Juni 2010 zum ThemaLebensmittelampel in Erinnerung rufen.
Im Land des Autos sind wir uns der Bedeutung vonAmpeln durchaus bewusst, allerdings gehören die-se an Kreuzungen und nicht auf Lebensmittel. Aufder Straße helfen sie, den Verkehr zu regeln; aufLebensmitteln führen sie dazu, den Verbraucher zuverwirren. Es mag schön aussehen, wenn alle Le-bensmittel mit grünen, gelben oder roten Punktengekennzeichnet sind. Aber ist das nicht zu kurz ge-dacht? Sollen wir den Bürgern durch eine Ampel-kennzeichnung die Entscheidung leicht machen,
keine Margarine mehr zu kaufen, weil diese miteinem roten Punkt gekennzeichnet ist? Das klingtpolemisch, aber genau das ist die Ampelkennzeich-nung auch – Polemik oder vielmehr Aktionismusund Alibipolitik.
Außerdem widerspricht die Ampelkennzeichnung demEU-Recht.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Aussa-ge war damals so richtig, wie sie es heute ist. Ich finde esschade, dass die Ampel doch immer wieder Eingang inAnträge findet, noch dazu in Anträge, die sich mit ande-ren Themen befassen.
Ich denke, wichtiger als eine umfassende Entmündi-gung der Verbraucherinnen und Verbraucher durch we-nig aussagekräftige Symbolpolitik wie eine Lebensmit-telampel ist eine echte Information mündiger Bürger undBürgerinnen, auf deren Grundlage sie sich eine eigeneMeinung bilden können.
Noch ein anderer Punkt ist mir in diesem Zusammen-hang wichtig: Der Deutsche Bauernverband weist in ei-ner Stellungnahme zu Recht darauf hin, dass so mancheIrritation von Verbrauchern auch durch verlorengegange-nes Allgemeinwissen über die Erzeugung von Lebens-mitteln hervorgerufen wird. So sind im Normalfall wederLeber noch Käse Bestandteil von Leberkäse, weder frü-her noch heute, und das wird auch in Zukunft so sein. Erwird aber trotzdem Leberkäse heißen. Echte Aufklärungüber Lebensmittel und deren Herstellung erreichen wirnicht mit einer Ampel.
Ähnliches gilt für die Tierhaltungskennzeichnung vonFleisch: Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beiratesfür Agrarpolitik beim BMEL hat darauf hingewiesen,dass es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dassdie Größe eines Tiermastbetriebs Einfluss auf das Tier-wohl hat. Das ist für mich ein wichtiger Hinweis darauf,dass die Dinge nicht so einfach sind, wie manchmal be-hauptet wird.Ich betone noch einmal: Wir sollten in unseren De-batten zu den Themen Ernährung und Landwirtschaftsachlich und themenbezogen diskutieren und nicht Dingevermischen, die nicht vermischt gehören.
Carola Stauche
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In diesem Sinne soll mein Schlusswort auch wiederdem Antrag unserer Regierungskoalition gehören. Ichbin der Meinung, dass mit unserem Antrag ein bewährtesKonzept sinnvoll weiterentwickelt wird. Ich bin über-zeugt, dass ein reformiertes Lebensmittelbuch unsere er-folgreiche und verdienstvolle Land- und Ernährungswirt-schaft auch weiterhin nach Kräften unterstützen wird.Danke.
Ursula Schulte ist für die SPD-Fraktion die letzte Red-
nerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich wirklich, dass wir heute in derKernzeit über mehr Klarheit für Verbraucherinnen undVerbraucher sprechen, Klarheit insbesondere dann, wennes um die Bezeichnung von Lebensmitteln geht. Dabeiist es mir völlig egal, ob Grüne Woche ist oder nicht;denn mir ist einfach das Thema wichtig. Wenn die GrüneWoche dazu beiträgt, dass wir dieses Thema in die Kern-zeit hieven können, dann soll es mir recht sein.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letztenLegislaturperiode deutlich gemacht, dass sie eine Ver-braucherpolitik für alle Menschen machen will. Es bleibtunser Ziel, alle Verbraucherinnen und Verbraucher in dieLage zu versetzen, ihren Bedürfnissen entsprechend klugeinzukaufen und sich bewusst zu entscheiden. Das ist so-zusagen unser verbraucherpolitisches Credo.
Wir alle wissen, dass es den Verbraucher bzw. die Ver-braucherin so nicht gibt. Die Bedürfnisse sind sehr unter-schiedlich, die Kaufentscheidungen ebenso. Verbraucherhandeln auch nicht immer rational. Viele Kaufentschei-dungen kommen aus dem Bauch heraus; das kenne ichauch persönlich. Am Ende ärgert man sich oft. Trotzdem:Wenn ich an der Ladentheke stehe und ein Produkt kau-fen will, dann habe ich auch das Recht, zu wissen, wasdrin ist. Das ist für mich Klarheit und Wahrheit.
Es ist wichtig, dass wir über die Reform des Deut-schen Lebensmittelbuches und der Deutschen Lebens-mittelbuch-Kommission reden. Allerdings kennen vieleVerbraucher und Verbraucherinnen das Lebensmittel-buch überhaupt nicht; auch das muss sich ändern. DasBuch hat sich nach meiner Meinung bewährt. Es ist aberin die Jahre gekommen. Wir müssen also Hand anlegenund das Buch fit für die Zukunft machen. In diesem Zu-sammenhang zitiere ich Herrn Minister Schmidt, der ineiner Pressemitteilung im März 2015 gesagt hat, dassder Qualitätswettbewerb auf dem Lebensmittelmarktgestärkt werden müsse, damit Verbraucherinnen undVerbraucher nachhaltige Kaufentscheidungen treffenkönnen. Dazu sind aber klare und eindeutige Informati-onen über die Produkte notwendig. Dazu kann auch dieLebensmittelampel beitragen. Frau Stauche, hier bin ichganz anderer Meinung als Sie. Ich will keinen Beipack-zettel bei Lebensmittelprodukten lesen.
Effizienz, Transparenz, mehr Kommunikation und diedaraus folgende Akzeptanz seien die Grundpfeiler desanstehenden Reformprozesses, so der Bundesminister. –Ich tue jetzt einfach einmal so, als ob der Minister an-wesend sei. Die SPD-Fraktion freut sich, Herr Minister,
dass Sie nun den Ankündigungsmodus aufgegeben habenund konkrete Eckpunkte vorlegen.
Das hat doch recht lange gedauert. Aber es heißt nichtumsonst: Gut Ding will Weile haben. Seltsam, dass mirin diesem Zusammenhang auch das Wahljahr 2017 ein-fällt.Von unterschiedlichen Seiten wird derzeit Kritik amDeutschen Lebensmittelbuch geäußert. In der Tat istvieles verbesserungswürdig. Es kann doch nicht ange-hen, dass ich beispielsweise Geflügelleberpastete kaufenmöchte und dann feststellen muss, dass die Bestandteilevorwiegend aus Schweinefleisch bestehen. Ich habe ein-mal einen Blick in die Leitsätze zum Fleisch und zu denFleischerzeugnissen geworfen. Dort ist bei der erwähn-ten Geflügelleberpastete von Gänseleber die Rede. Dasist auch richtig. Aber dann heißt es weiter: fettgewebs-und sehnenarmes Schweinefleisch, teilweise – das ist dieKrönung des Ganzen – auch ohne Fleisch. Man könntedarüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre.
Für mich ist klar: Der Anspruch der Verbraucher aufWahrheit und Klarheit soll prägend für die Leitsätze desDeutschen Lebensmittelbuches sein. Wir müssen wissen,was wir kaufen. Wir können erwarten, dass in der Ge-flügelleberpastete größtenteils Geflügelleber enthaltenist. Für mich gilt: Was draufsteht, muss auch drin sein;das hat schon mein Kollege Carsten Träger betont. Soeinfach ist das eigentlich auch, selbst wenn der DeutscheBauernverband meint, dass Leberkäse kaum Leber oderKäse enthalten würde und dass das immer schon so war.Das mag richtig sein, aber dann ist nicht das Unwissender Verbraucher an dem Misstrauen gegenüber Lebens-mittelbezeichnungen schuld, sondern es sind schlichtwegdie irreführenden Bezeichnungen.
Carola Stauche
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Gesunde Ernährung fängt damit an, dass wir uns aufdie Zutatenliste und die Kennzeichnung von Lebens-mitteln verlassen können. Das ist nicht nur für Allergi-ker von großer Bedeutung. Die allgemeinen Leitsätzedes Lebensmittelbuches dienen dabei der Orientierung.Sie müssen aber verständlich formuliert und aktuellsein. Umfassende Verbraucherinformation und mehrTransparenz, das sind unsere Ziele. Deshalb hält meineFraktion eine enge Verzahnung der Arbeit der Lebens-mittelbuch-Kommission mit dem Internetportal Lebens-mittelklarheit für sinnvoll.
Mit den Erkenntnissen, die die Verbraucherinnen undVerbraucher über diese Plattform mitteilen, hat sich dieKommission dann auch zwingend zu befassen. Letztend-lich sind doch die Verbraucher die Fachleute in eigenerSache.Die von Ihnen, Herr Minister, vorgelegten Eckpunktescheinen in die richtige Richtung zu gehen. Schön, dassSie damit unsere Forderung aufgreifen, die wir Sozialde-mokraten schon lange verfolgen. Es ist immer gut, wennman lernfähig ist.
Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Arbeit derKommission sagen. Wenn die Deutsche Lebensmittel-buch-Kommission effektive, transparente und zielori-entierte Ergebnisse liefern soll, muss sie materiell undpersonell auch besser ausgestattet werden. Wir benötigenzusätzlich eine Straffung der Verfahrensabläufe, wir be-nötigen eine bessere Kommunikation, die dann zu mehrKlarheit und Akzeptanz der Ergebnisse führt.
Dabei plädiere ich weiterhin auch für eine gleichge-wichtige Interessenvertretung in der Kommission undverweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf dasSPD-Papier aus der letzten Wahlperiode. Wir haben da-mit den Ausbau der Verbraucherforschung gefordert. DieVerbraucherforschung gehört ganz selbstverständlich indie Kommission.
Wenn dann die Kommission zusätzlich von sich ausnoch Initiativen ergreifen kann, dann können wir einverbrauchergerechtes Lebensmittelbuch sowie eine nocheffizienter arbeitende Lebensmittelbuch-Kommission er-reichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile bin ichein ausgesprochener Fan der regionalen Produkte undder regionalen Vermarktung. Viele Verbraucherinnenund Verbraucher wollen inzwischen bei ihrem Einkaufebenfalls wissen, woher die Produkte kommen. Wir dür-fen den Begriff „regional“ aber nicht verwässern oderinflationär benutzen. Meine Hoffnung ist, dass die Dis-kussion über das Deutsche Lebensmittelbuch die regio-nale Wertschöpfung politisch flankiert und einen Beitragzu einer nachhaltigen Entwicklung bäuerlicher Land-wirtschaft leistet. Immer mehr Wachstum, immer mehrExport, das ist nur für wenige große Betriebe die richtigeRichtung.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der Druck-sache 18/7238 mit dem Titel „Mehr Klarheit für den Ver-braucher bei der Bezeichnung von Lebensmitteln – DasDeutsche Lebensmittelbuch und die Deutsche Lebens-mittelbuch-Kommission reformieren“. Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koa-lition bei Enthaltung der Opposition angenommen.Unter dem Tagesordnungspunkt 5 b stimmen wir abüber den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufder Drucksache 18/7242 mit dem Titel „Echte Reformder Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission – MehrTransparenz und Beteiligung“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und6 b:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Sabine Zimmermann ,Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEZusatzbeiträge abschaffen – Parität wieder-herstellenDrucksache 18/7237Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Sozialesb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLasten und Kosten fair teilen – ParitätischeBeteiligung der Arbeitgeberinnen und Arbeit-geber an den Beiträgen der gesetzlichen Kran-kenversicherung wiederherstellenDrucksache 18/7241Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und SozialesNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ursula Schulte
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion DieLinke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die gesetzliche Krankenversicherung ist eine
der wichtigsten sozialen Errungenschaften in unserem
Land. Die Grundidee war, dass Versicherte und Arbeitge-
ber eine Solidargemeinschaft gründen; denn jeder kann
krank werden und ist darauf angewiesen, dass die Kosten
von den Gesunden für die Kranken mitgetragen werden.
Doch, meine Damen und Herren von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und CDU/CSU, Sie haben dieses Er-
folgsmodell über die Jahre deutlich geschwächt und aus-
gehöhlt. Diese Entwicklung muss endlich gestoppt und
rückgängig gemacht werden.
– Ich erzähle Ihnen gleich, wie das geht.
2005 wurden die Versicherten mit einem Sonderbei-
trag belastet und die Arbeitgeber entlastet. Damit wurde
die paritätische Finanzierung, also halbe-halbe, aufgege-
ben. Das, meine Damen und Herren, war der erste Schritt.
Als Begründung diente, dass der Ausgabenanstieg
mit den Einnahmen nicht mithalten werde. Ein logischer
Schluss wäre gewesen, die Einnahmebasis zu verbrei-
tern. Dazu gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Man
hätte zum Beispiel Kapitalerträge heranziehen können,
oder man hätte die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen
können. Das wäre sozial gewesen.
Aber Sie setzen diesen unsozialen Weg fort und greifen
den Versicherten mit immer höheren Zusatzbeiträgen im-
mer tiefer in die Tasche, und das ist ungerecht.
Wir als Linke tragen das nicht mit.
Die Bundesregierung begründet diese Maßnahmen
auch damit, dass die Arbeitgeber von Lohnnebenkosten
entlastet werden müssen und dass damit Arbeitslosig-
keit verhindert wird. So wurde wieder einmal die Le-
gende vom Kapital als scheuem Reh bedient, und diese
Sichtweise hat sich eigentlich bis heute in dieser Bun-
desregierung festgesetzt: zu hohe Löhne, überbordende
Sozialversicherungsbeiträge usw. usf., Beschäftigte, die
den Arbeitgeber eigentlich nur Geld kosten. Man kann es
schon gar nicht mehr hören.
Mit dieser Verdrehung der Tatsachen muss endlich
Schluss sein.
Meine Damen und Herren, unternehmerischer Erfolg
hat sich noch nie durch niedrige Löhne und möglichst
geringe Sozialversicherungsbeiträge eingestellt, sondern
nur durch gute, innovative Produkte oder hochwertige
Dienstleistungen. Diese Wertschöpfung wird von den
Beschäftigten erbracht und getragen. Deshalb ist es nur
gerecht und logisch, dass sich der Arbeitgeber mindes-
tens hälftig an der Finanzierung der Krankenversiche-
rung seiner Beschäftigten beteiligt; denn deren Gesund-
heit muss auch in seinem ureigenen Interesse sein.
Aber ungläubig durfte man sich zum Jahreswechsel
die Augen reiben, dass nun ausgerechnet die SPD die
Rückkehr zur paritätischen Finanzierung fordert. Denn
Sie waren es doch gewesen – Edgar, du lachst mich so
an –, die den Ausstieg aus dem Solidarprinzip auf den
Weg gebracht haben. Falls, liebe Genossinnen und Ge-
nossen der SPD, Sie aus diesem Fehler tatsächlich ge-
lernt haben, begrüßen wir das.
Besser spät als nie. Ob Sie allerdings den Willen haben,
dies auch in der Großen Koalition umzusetzen, das muss
erst bewiesen werden. Noch fehlt mir der Glaube daran.
Bei uns bleibt es nicht bei Ankündigungen. Wir for-
dern in unserem heutigen Antrag die Wiederherstellung
der paritätischen Finanzierung. Weg mit den Zusatzbei-
trägen, und das schnellstmöglich! Nur das ist gerecht.
Die gesetzliche Krankenversicherung hat eine elementa-
re soziale Schutzfunktion, und die muss gestärkt werden.
Danke schön.
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. – Nächste Red-
nerin: Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Uns liegenzwei Anträge der Oppositionsfraktionen vor, die Paritätin der gesetzlichen Krankenversicherung wieder einzu-führen. Liebe Frau Zimmermann, in einem Punkt sindwir uns einig: Das Krankenversicherungssystem ist eineelementare Säule des sozialen Sicherungssystems inDeutschland, und diese muss immer finanzierbar blei-ben. Es gilt immer noch der Grundsatz der Wertschöp-fung und der Erarbeitung der Produkte über die Kreati-vität und den Fleiß der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,der Arbeitnehmer. Aber sie bekommen ihren Lohn erstdann, wenn der Arbeitgeber die Produkte auf dem Marktverkaufen konnte; denn die Mittel für die Löhne finan-ziert der Kunde. Dieser Grundsatz gilt immer noch. In-sofern will ich versuchen, ein bisschen Systematik in dasDurcheinander der uns vorliegenden Anträge zu bringen.Präsident Dr. Norbert Lammert
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Gut, man kann zu Beginn eines Jahres, in dem derdurchschnittliche Zusatzbeitrag um 0,2 Prozent angestie-gen ist, einmal grundsätzlich über das Finanzierungssys-tem diskutieren. Das gibt uns auch die Gelegenheit, daseine oder andere noch einmal aufzufrischen.Schon einige Jahre bringen wir mit diesem bewährtenPrinzip – Sie haben die Zahlen genannt – wirtschaftlicheEntwicklung und Sicherung der Arbeitsplätze voran. Daskann niemand in diesem Haus wegreden. Wir haben inder Zwischenzeit nicht mit Defiziten zu kämpfen, son-dern wir haben immer noch erhebliche Rücklagen, dieselbstverständlich unterschiedlich verteilt sind – das istwahr –; das hat aber andere Ursachen.Ich finde es ein bisschen komisch, liebe Kolleginnenund Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie heu-te mit einem Antrag die Bundesregierung dezidiert auf-fordern, ein Gesetz vorzulegen, um die Parität wiedereinzuführen, wo Sie es doch in der rot-grünen Bundes-regierung waren, die aus der Not heraus, die es damalsgab – zum Beispiel 5 Millionen Arbeitslose und schlech-te wirtschaftliche Parameter –, Maßnahmen ergriffen ha-ben, die die Finanzierbarkeit unseres bewährten solidari-schen Gesundheitssystems sichern sollten.
Wir als Union haben damals mitgestimmt, die Ent-scheidung mitgetragen, weil es richtig war.
Komischerweise ist es jetzt so, dass wir fast die Ein-zigen sind, die an diesen Prinzipien festhalten. Was inschwierigen wirtschaftlichen Zeiten ökonomisch richtigist, das kann man nach Adam Riese auch in guten wirt-schaftlichen Zeiten nicht einfach außer Kraft setzen; dasgilt auch dann. Deshalb ist das Grundprinzip heute mehrdenn je, in guten Zeiten für schlechte Zeiten zu sorgen.Das tun wir an vielen Stellen.
Eine Forderung der Linken hat mich etwas überrascht.Sie haben in Ihrem Antrag unter anderem gefordert, dendamals wegen der notwendigen Finanzierung der Pfle-geversicherung abgeschafften Feiertag Buß- und Bettagwieder einzuführen.
Sie verweisen sogar darauf, dass der Freistaat Sachsendiesen Feiertag nie abgeschafft hat und deshalb die Ar-beitgeber und Arbeitnehmer die zusätzlichen Kostentragen. Sie fordern für dieses Land eine Sonderregelung.Das kann man ernsthaft diskutieren.Ich frage Sie aber jetzt etwas. Sie sind ja in mehrerenLändern mit in der Regierung. Warum führen Sie dennin Thüringen den Feiertag Buß- und Bettag nicht wiederein? Das können Sie selber über die Länderparlamentemachen. Da müssen Sie uns als Bundesgesetzgeber über-haupt nicht bemühen.
Frau Zimmermann hat kurz darauf hingewiesen, dassdie Abkopplung von den steigenden Kosten durch Fest-schreibung eines einheitlichen Beitrags – erst Sonderbei-trag, dann Zusatzbeitrag – eine bestimmte Entwicklunggenommen hat. Der damalige Sonderbeitrag sollte zumBeispiel dazu dienen, die zusätzlichen Kosten für dasKrankengeld zu erwirtschaften. Das kann man in einemgroßen Topf sowieso nicht machen; das ist auch nie ge-schehen. Ich will damit sagen, dass es bestimmte Ent-wicklungen gegeben hat.Um Legendenbildung vorzubeugen – – Die Präsiden-tin unterbricht mich.
Nein.
Nein. Gut. – Zwei Minuten habe ich noch, und es
blinkt.
Entschuldigung. Es hat tatsächlich angefangen, zu
blinken. Im Zweifelsfall war die Technik schuld.
Aber Sie merken, wie ich auf Ihre Zeichen reagierthabe, Frau Präsidentin.Ich will in sieben Punkten noch einmal sagen, warumwir es auch heute für richtig halten, an dem bewährtenSystem festzuhalten.
Erstens. Die Krankenkassen erhielten mit dem festge-schriebenen Arbeitgeberbeitrag und mit der Möglichkeit,über den Zusatzbeitrag zu reagieren, ihre Beitragsauto-nomie zurück. Sie haben die Möglichkeit, auf die Kon-stellation in ihrer gesetzlichen Krankenkasse zu reagie-ren. Das stärkt sie, und das fördert den Wettbewerb.Zweitens. Der absolute Zusatzbeitrag wurde in einenprozentualen Zusatzbeitrag umgewandelt. Ein solcherist immer, auch hier, transparenter und vor allen Dingengerechter. Der Versicherte kann sich das bei seinem Zu-satzbeitrag vor Augen führen. 1,1 Prozent – das ist derdurchschnittliche Zusatzbeitrag – von 1 500 Euro bruttoist weniger als 1,1 Prozent von 3 000 Euro brutto. Des-halb ist das auch gerecht.
Drittens. Die Mitglieder können selber besser ent-scheiden, welche Kasse sie für ihre persönliche Situationfür richtig halten. Sie können das Preis-Leistungs-Ver-hältnis überprüfen und damit notfalls auch kontrollieren,ob die speziellen Satzungsleistungen oder auch die Ge-Maria Michalk
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schäftsstellendichte zu ihrer persönlichen Situation pas-sen. Somit stärken wir auch die Rechte der Versicherten.Viertens. Nicht der Arbeitgeber soll dafür entschei-dend sein, wo ein Versicherter das aus seiner Sicht besteAngebot findet. Auch dadurch wird die Autonomie desVersicherten gestärkt.Fünftens. Mit dem einheitlichen Arbeitgeberanteil istgewährleistet, dass sich der Arbeitgeber in allen Fällengleich am Kassenbeitrag beteiligt. Ich erinnere daran,dass er die komplette Lohnfortzahlung im Krankheitsfallalleine tragen muss. In manchen Fällen macht das sogarmehr aus als der Zusatzbeitrag. Das ist ein Wert an sich.Sechstens weise ich deshalb auf das Präventionsge-setz hin; denn auch die betriebliche Gesundheitsvorsorgespielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle und hatdirekte Auswirkungen auf den Zusatzbeitrag der Kran-kenkassen.Siebtens verweise ich auf das Sonderkündigungsrechtfür jeden Versicherten. Wenn die Kasse die Beiträge er-höht, können die Versicherten selber entscheiden, was sietun.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Wettbewerbund mehr Transparenz sind heute genauso richtig wiedamals, als wir das System grundhaft umgebaut haben.Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Michalk. – Nächste Red-nerin: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grü-nen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kolle-ginnen und Kollegen hier im Hause! Frau Michalk, Siehaben gerade gesagt: in guten Zeiten für schlechte Zei-ten sorgen. Sie haben aber leider keine Argumentationdafür geliefert, wie man eigentlich in guten Zeiten fürschlechte Zeiten sorgt. Ein sehr wichtiger Ansatz wäre,den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade in Zeitenguter Finanzlage so zu strukturieren, dass er funktioniert.Das wäre die Aufgabe gewesen. Und genau das passiertmit den Zusatzbeiträgen eben nicht.
Nicht ohne Grund diskutieren wir heute hier zwei An-träge, die im Wesentlichen – auch wenn sie in anderenAspekten nicht gleich sind – darauf gerichtet sind, dieParität wiederherzustellen. Das hat doch einen gutenGrund; denn ein Jahr, nachdem Sie die kassenindividuel-len Zusatzbeiträge in Kraft gesetzt haben, haben wir erst-malig eine Situation, in der sie spürbar sind. Wir wissenschon heute: Die Entwicklung wird rasant fortschreiten,wenn wir nicht gegensteuern, und es wird zu hohen Zu-satzbeiträgen und einseitiger Belastung der Versichertenkommen.Da gilt es jetzt gegenzusteuern. Nicht umsonst plädie-ren die Linke, die Grünen und auch die SPD dafür. Ihrganzer Parteitag hat sich dafür ausgesprochen; aber auchIhre Arbeitnehmervereinigung hat sich so geäußert.
Der Patientenbeauftragte, Herr Laumann, hat deutlichgemacht: Wir müssen wieder hin zur Parität.
Wenn wir jetzt Zeiten mit der besten Konjunktur undder besten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungüberhaupt haben, dann muss das doch der Zeitpunkt sein,zu dem wir die Arbeitgeber wieder gerecht beteiligen,nämlich hälftig beteiligen, und dafür sorgen, dass sie ihreLasten genauso tragen wie die Arbeitnehmer. Es gibt kei-nerlei Begründung dafür, dass ausgerechnet die gesetz-lich versicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin diesen Zeiten eine extra Konjunkturbeihilfe zahlen.Nichts anderes ist es ja.
Wenn Sie argumentieren, das würde Arbeitsplätzesichern, dann lassen Sie sich doch zum Beispiel einmalden Handwerkerlohn vor Augen führen. Das kann manbeispielsweise für Bayern gut darstellen. Der Geselleverdient pro Stunde 13,50 Euro brutto. Wenn wir den Ar-beitgeber wieder paritätisch beteiligen, zahlt er in diesemFall 6 Cent mehr für diese Handwerkerstunde, die imÜbrigen insgesamt 48 Euro kostet. Daran sehen Sie: Dasist kein wirklicher Beitrag, um Arbeitsplätze zu sichern.Im Gegenteil: Sie wälzen Kosten auf die Versicherten ab,und das ist so nicht hinnehmbar.
Zusätzlich verlieren wir mit der Aufgabe des Prin-zips der paritätischen Finanzierung die Arbeitgeber alsWächter für Kostenkontrolle im Gesundheitswesen. Dasist eine ganz wichtige Funktion gewesen, die sie immerinnehatten. Aber jetzt haben wir einen Mechanismus,nach dem die Versicherten sämtliche Kosten im Gesund-heitswesen zu tragen haben. Der Arbeitgeber ist nichtmehr beteiligt. Wir wissen, dass es um mindestens 11 bis12 Milliarden Euro pro Jahr geht, und wir wissen auch,dass Sie durch die zahlreichen Reformen des letzten Jah-res bis 2019 weitere Kosten in Höhe von 12 MilliardenEuro verursacht haben. All das soll nur der Versichertezahlen. Das finden wir ungerecht.
Da muss man gegensteuern, und ich würde mir sehrwünschen, dass Sie diese gesellschaftliche Diskussion,die ja von weiten Kreisen getragen wird, tatsächlich zumAnlass nehmen, noch einmal innezuhalten und sich zufragen: Müssen wir nicht die Zusatzbeiträge abschaffenMaria Michalk
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und wieder eine paritätische Finanzierung herstellen? Istdas nicht das, was gefragt ist? Wir brauchen nicht einenPreiskampf zwischen den Krankenkassen um den güns-tigsten Tarif, sondern wir brauchen Investitionen in dengesellschaftlichen Zusammenhalt und einen Wettbewerbder Kassen, gute Versorgung zu organisieren. Das ist dieAufgabe, die jetzt anzugehen wäre.
Diese Aufgabe ist angesichts des demografischenWandels wichtiger denn je. Stattdessen beschäftigen Sieunsere Krankenkassen damit, zu überleben. Eine dergrößten Krankenkassen wird den Spitzensatz erhebenmüssen.
Das wird zu enormen Verwerfungen führen. Es wird zueiner enormen Abwanderung von Versicherten führen.Da richten Sie ernsthaft Schaden an in der gesetzlichenKrankenversicherung. Das wiederum bitte ich Sie wirk-lich mit in die Betrachtung zu nehmen. Das gehört mit indie Anhörung und bitte schön auch in die Verhandlungenzwischen SPD und CDU; denn es reicht nicht – das mussich an dieser Stelle schon noch einmal sagen –, Oppositi-on in der Regierung zu spielen.
Ich erwarte von Ihnen ganz klar: Verhandeln Sie ernst-haft! Sorgen Sie dafür, dass wirklich Druck entsteht undwir diese Zusatzbeitragsentwicklung stoppen.
Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächster Red-
ner: Dr. Karl Lauterbach für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren!Zunächst einmal ist es richtig, dass wir damals den Zu-satzbeitrag, den Sonderbeitrag von 0,9 Prozent einge-führt haben. Das war notwendig und ist Zeichen eineswichtigen gesamtgesellschaftlichen Bündnisses. Ich bitteSie, sich Folgendes in Erinnerung zu rufen: Wir hattendamals, Anfang 2005, 5 Millionen Arbeitslose. 5 Millio-nen Menschen waren nicht in Arbeit. Die Tatsache, dasswir den Zusatzbeitrag eingeführt haben, war schmerz-haft. Das ist uns als SPD sehr schwergefallen. Das istauch den Gewerkschaften, die uns zum Teil sehr kon-struktiv begleitet haben, sehr schwergefallen. Aber dazumuss man nicht nur stehen, sondern dafür muss mansich auch bedanken. Das tue ich an dieser Stelle. Die Ar-beitnehmerschaft hat einen wesentlichen Solidarbeitraggeleistet, der dazu geführt hat, dass wir heute in Europazu den wenigen Ländern gehören, die anderen Ländernhelfen können. Jeden Tag kommen Menschen zu uns, dieunsere Hilfe dringend benötigen. Man stelle sich nur vor,wir wären jetzt in einer wirtschaftlichen Lage, in der wirselbst keine Arbeit hätten, in der wir selbst Unruhe hät-ten. Dann wären wir nicht in der Lage, hier irgendjeman-dem entgegenzukommen. Somit: Das war ein Bündnis,zu dem wir stehen, das richtig war und das seine Wirkunggetan hat.
Trotzdem ist auch richtig, was die Kollegin Klein-Schmeink gesagt hat: dass die Zeiten sich geändert ha-ben. Das hat gewirkt. Die Arbeitslosigkeit ist stark zu-rückgegangen. Wir haben Haushaltsüberschüsse, und wirhaben jetzt im Prinzip das ökonomische Profil, mit demwir es uns leisten könnten, die Sonderbelastungen für dieArbeitnehmer wieder zurückzunehmen.
Es gibt keine ökonomischen Gründe mehr dafür, beidiesen Sonderbelastungen zu bleiben. Zu einem gesell-schaftlichen Bündnis gehört, dass Arbeitgeber und Ar-beitnehmer sich in einer Notsituation gemeinsam helfen,aber auch, dass man das nicht vergisst, wenn die Not-situation behoben ist. Das ist jetzt unsere Forderung.Auch wir als SPD kämpfen für die Wiedereinführung derParität; denn jetzt wäre die Gelegenheit, zu zeigen, dasses damals um dieses gesellschaftliche Bündnis ging unddass nicht eine Umverteilung vorgenommen wurde, dieideologischen oder prinzipiellen Überlegungen folgt.
Ich will darauf hinweisen, dass das eine sehr wichtigeGrundsatzentscheidung ist, und zwar mit folgendem Hin-tergrund: Es gibt kein anderes Sozialsystem, weder dasRentensystem noch das Pflegesystem noch die Arbeitslo-senversicherung, in dem alle zukünftigen Kostensteige-rungen allein von den Arbeitnehmern zu bezahlen sind.In allen anderen Systemen beteiligen sich die Arbeitge-ber an den Steigerungen. Das ist im Gesundheitssystemvon allergrößter Bedeutung; denn in diesem System wer-den die Kosten am stärksten steigen.
Wir haben drei Herausforderungen:Erstens haben wir eine älter werdende Babyboo-mer-Generation, also eine Kohorte von jetzt noch im Be-ruf stehenden und einigermaßen gesunden Menschen, diedemnächst älter und kränker sein werden.Zweitens werden wir einen technischen Fortschritt ha-ben, der in einigen Bereichen großartig, aber auch sehrteuer ist. Wir rechnen zum Beispiel damit, dass die Me-dikamente, die für Krebsbehandlungen bezahlt werdenmüssen – die Kosten liegen jetzt bei jährlich 6 MilliardenMaria Klein-Schmeink
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Euro –, in 30 Jahren 45 Milliarden Euro im Jahr kostenwerden.
Das kann nicht allein von den Arbeitnehmern bezahltwerden. Wir können nicht einerseits die Arbeitnehmerin guten Jahren in den Betrieben beschäftigen und damitWirtschaftswachstum erreichen und andererseits, wennsie älter sind, krebskrank werden und Hilfe benötigen,sagen: Das bezahlt der Arbeitnehmer alleine. – Das kön-nen wir nicht tun.
Drittens ist es so, dass durch die Behandlungserfol-ge, die wir haben, viele Menschen mehrere Krankhei-ten erleben werden. Derjenige, der eine Krebskrankheitüberlebt, hat immer noch das Risiko, an Demenz zuerkranken oder einen Herzinfarkt zu bekommen. ZumTeil bedingen sich diese Krankheiten auch gegenseitig.Das heißt, der Kostenanstieg im Gesundheitssystem istdeutlich gravierender als in jedem anderen Sozialsystem.Die Kostenanstiege in der Rentenversicherung oder derPflegeversicherung, die wir erwarten können, sind sehrklein im Vergleich zu den Zusatzbelastungen, die wir imGesundheitssystem haben werden. Man kann davon aus-gehen, dass aufgrund der drei genannten Faktoren in 20oder 30 Jahren die zu erwartenden Zusatzbelastungen beiden Sozialversicherungen zu 70 Prozent durch das Ge-sundheitssystem bedingt sein werden.Somit ist es richtig, hier jetzt die Weichen zu stellenfür eine paritätische Finanzierung ohne Wenn und Aber.Es ist noch richtiger, dies im Rahmen einer Bürger-versicherung zu tun. Es ist nicht einzusehen, dass sichausgerechnet Beamte, Gutverdienende, Selbstständige,diejenigen, die des Solidarpaktes eigentlich überhauptnicht bedürfen, daraus entfernen können und nicht mit-bezahlen. Somit treten wir für eine paritätisch finanzierteBürgerversicherung ein.
Das ist seit vielen Jahren unsere Position. Das ist keineneue Position. Ich trage hier keine Neuigkeiten vor. Wirwerden dafür weiterhin kämpfen.Ich hoffe, dass wir auch bei der Union Verständnis fin-den; denn wir haben ja gute Argumente. Wir setzen aufdie Überzeugung
und auf die Bürger, die unsere wichtigste Unterstützungsind. Die Bürger sehen es zu 70 bis 80 Prozent so, wie iches gerade vorgetragen habe. Das kann auch für eine ver-meintliche Volkspartei nicht ohne Konsequenzen blei-ben. Daher haben wir gute Chancen, das mittelfristig aufdem Verhandlungsweg zu erreichen. Ich bin froh, dassdie Opposition das Kernanliegen der SPD, was Bürger-versicherung und Parität angeht, unterstützt. Wir sind fürjede Unterstützung dankbar und nehmen das gerne mit.
Vielen Dank, Karl Lauterbach. – Nächster Redner:
Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!CDU, CSU und liebe Kollegen der SPD: Ich kann michnoch an die Bundestagswahl 2013 erinnern. Im Anschlussan die Wahl haben wir in den Koalitionsverhandlungengemeinsam den Rahmen für die Gesundheitspolitik derKoalition für diese Wahlperiode beschlossen.Der Koalitionsvertrag umfasst Vereinbarungen zur Si-cherstellung und Verbesserung einer flächendeckendenärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik. Diese Ver-einbarungen haben wir in erster Linie im GKV-Versor-gungsstärkungsgesetz konkretisiert. Infolgedessen wer-den zum Beispiel in zehn Tagen die Terminservicestellenihre Arbeit aufnehmen.Mit dem Krankenhausstrukturgesetz haben wir wie-derum die Ziele des Koalitionsvertrages in Bezug aufdie Weiterentwicklung der stationären Versorgung in einGesetz gegossen. Im Zentrum der Reformen steht dieSicherstellung und Steigerung der Qualität in den Klini-ken – all diese Dinge, die uns sehr wichtig sind. Ebensogab es Reformen in der Pflege. Ich möchte schon daranerinnern, dass all diese Dinge keine Schnellschüsse wa-ren, sondern wir das sauber und ordentlich miteinandervorbereitet haben. Mit den Reformen setzen wir einesder für mich wichtigsten und vielleicht auch komple-xesten Vorhaben dieser Großen Koalition um, und dasgilt auch für das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz, das die unmögliche Abkür-zung GKV-FQWG trägt und ein wahrer Zungenbrecherist. All das basiert auf Vereinbarungen des Koalitionsver-trages, und darauf setzen wir auch.
Allen genannten Gesetzen ist gemeinsam, dass siedas Ergebnis bewusster Entscheidungen sind. Ich möch-te einmal grundsätzlich erläutern, weshalb die Finan-zierung der gesetzlichen Krankenversicherung in derheutigen Form aus meiner Sicht richtig ist. Die Zahlendes Statistischen Bundesamtes und von Eurostat zu denLohnnebenkosten in der Privatwirtschaft zeigen für 2014folgendes Bild: Auf 100 Euro Bruttoverdienst entfielenin Deutschland zusätzlich 28 Euro Lohnnebenkosten. ImEU-Durchschnitt waren es 31 Euro. Im Durchschnitt derLänder der Euro-Zone waren es 35 Euro. Deutschlandliegt also unter dem Durchschnitt, meine sehr geehrtenDamen und Herren. Ich sage in aller Deutlichkeit: Das istauch gut und notwendig.
Dr. Karl Lauterbach
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Neben den Lohnnebenkosten spielt natürlich eineVielzahl anderer Faktoren für den wirtschaftlichen Er-folg eines Landes eine Rolle. Beispielsweise betragen dieLohnnebenkosten in Schweden 46 Prozent, in Dänemarknur 15 Prozent, doch beides sind durchaus wirtschaftlichstarke Länder. Ich gestehe: Ich bin der Auffassung, dasswir uns nicht an den Lohnnebenkosten Frankreichs inHöhe von 47 Prozent oder Italiens in Höhe von 39 Pro-zent ein Beispiel nehmen sollten. Ich möchte hier keinewirtschaftliche Diskussion führen. Es scheint mir jedochoffenkundig, dass eine Begrenzung der Lohnnebenkos-ten durchaus sinnvoll und notwendig ist, um die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufrechtzuer-halten und zu gewährleisten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi-tion, Sie können mit Sicherheit vieles kritisieren und ausIhrem Blickwinkel sehen; aber ich glaube, Sie könnender Großen Koalition hier nicht vorwerfen, dass unsereWirtschaftsdaten nicht in Ordnung wären, dass sie nichtgut wären.Ich möchte auch sagen: Ein weiteres Indiz für die Re-levanz der Lohnnebenkosten ist die Tatsache, dass dieParität in der Finanzierung der gesetzlichen Krankenver-sicherung – das wurde schon erwähnt – unter Rot-Grünaufgegeben wurde, als Deutschland noch als krankerMann Europas tituliert wurde. Soweit es in einer solchenSituation möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist, sollteman die Arbeitgeber von Belastungen durch hohe Lohn-nebenkosten etwas verschonen.Man kann sich jetzt fragen, ob eine paritätische Finan-zierung der gesetzlichen Krankenversicherung aus einemanderen Grund geboten wäre – Sie tun das –, etwa weildie Parität in allen anderen Bereichen der Sozialversiche-rung besteht, nur in der Krankenversicherung nicht, alsoaus ordnungspolitischen Gründen, oder weil die Paritätein Wert an sich ist. Meine sehr geehrten Damen undHerren, ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob dieParität ein Wert an sich ist. Im Allgemeinen bin ich aberder Auffassung, dass eine allzu unausgewogene Vertei-lung der Finanzierung von Sozialversicherungssystemenweder wirtschaftspolitisch noch gesellschaftspolitischrichtig wäre.Allerdings befinden wir uns in Deutschland heutenicht in der Lage, dass die Sozialversicherung unausge-wogen finanziert wäre. Ich finde im Gegenteil, dass sieziemlich ausgewogen finanziert ist, auch unter Berück-sichtigung der aktuellen Steigerung der Krankenversi-cherungsbeiträge.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Fra-
ge von Frau Klein-Schmeink?
Gerne. – Bitte.
Herr Irlstorfer, Sie haben in Ihren Ausführungen deut-
lich gemacht, dass es ordnungspolitisch unter Umstän-
den ein Argument für die Parität geben könnte. Das füh-
ren wir auch an. Ich habe hier eine Aufstellung über die
Kosten einer Handwerkerstunde, die die Arbeitsgemein-
schaft der bayerischen Handwerkskammern für 2013 er-
arbeitet hat. 48,51 Euro kostet allgemein die Handwerk-
erstunde, davon entfallen 13,50 Euro auf den Bruttolohn.
Das heißt, wenn wir eine Anpassung vornehmen und den
Beitrag wieder paritätisch gestalten würden, würde das
einem Plus von 6 Cent entsprechen. Das ist sehr wenig.
Schauen Sie sich die Aufteilung insgesamt an.
4,98 Euro fallen für die gesetzlichen Sozialaufwendun-
gen an. Für tarifliche Sozialaufwendungen sind 5,94 Euro
vorgesehen. Wir haben betriebliche Gemeinkosten von
14,45 Euro. Ein Teil entfällt auf die Mehrwertsteuer.
Das heißt, der Anteil an der gesetzlichen Krankenversi-
cherung ist erstens niedrig und zweitens überhaupt kein
Argument dafür, von der paritätischen Finanzierung ab-
zuweichen. Im Gegenteil: Ordnungspolitisch macht es
großen Sinn; denn wir wissen doch, dass die Arbeitgeber
dann mit dazu beitragen würden, die Entwicklung im Ge-
sundheitswesen kostengünstig zu gestalten.
Wir werden aufgrund unserer älter werdenden Gesell-
schaft sowieso hohe Kostensteigerungen haben. Daher
meine Frage: Ist es nicht wichtig, dass wir beide, Arbeit-
geber und Arbeitnehmer, im Boot haben, und zwar pari-
tätisch?
Frau Kollegin, diese Aufstellung entspricht mit Si-cherheit der Wahrheit. Aber ich glaube, das wäre einfalsches Signal zum falschen Zeitpunkt. Deshalb ist esrichtig, dass wir so handeln, wie wir es vorhaben. Das isteine politische Entscheidung.
Im Übrigen sind die Beitragsanpassungen nicht un-erklärlich oder in irgendeiner Form beliebig getroffenworden, sondern sie ergeben sich aufgrund der Verbes-serungen in der Gesundheitsvorsorge, des medizinischenFortschritts und auch der demografischen Entwicklung,die sich im solidarischen System der GKVen widerspie-gelt.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie for-dern, genauso wie der Kollege Lauterbach, nahezu in je-dem zweiten Antrag, den wir im Gesundheitsausschussberaten und im Plenum besprechen, die Einführung derBürgerversicherung. Wie das konkret und sinnvoll aus-sehen soll, das habe ich von Ihrer Seite bis heute leidernoch nicht erfahren. Ich kann nur sagen: Aus dem vorlie-genden Antrag geht das ebenfalls nicht hervor.Außerdem wird im vorliegenden Antrag der Linkendie Abschaffung der Zusatzbeiträge gefordert. DieseZusatzbeiträge haben allerdings einen bestimmten Sinnund Zweck. Wir als CDU/CSU wollen einen Versor-gungswettbewerb zwischen den Kassen. Ebenso wollenErich Irlstorfer
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wir die Krankenkassen zur Wirtschaftlichkeit anhalten.Dafür nutzen wir eine ganze Reihe von Instrumenten.Der Zusatzbeitrag ist eines davon. Die Abschaffung desZusatzbeitrags würde daher erfordern, eine Alternati-ve anzubieten. Sie verweisen auf Ungenauigkeiten imMorbi-RSA, doch dies ist in meinen Augen eine andereBaustelle. Morbi-RSA und Zusatzbeitrag stehen zwar ineinem Zusammenhang, sie sind aber nicht austauschbar,auch nicht, wenn man am Morbi-RSA Änderungen vor-genommen hätte.Abschließend noch ein letzter Gedanke. Wenn dieParität als Prinzip beschworen wird und die Unausge-wogenheit der Sozialversicherungsbeiträge thematisiertwird, dann bitte ich, die Situation insgesamt zu betrach-ten. Es ist doch so, dass eine paritätische Finanzierungder Sozialversicherungssysteme nicht unbedingt vonVorteil für alle Arbeitnehmer wäre. Beispielsweise wer-den die Beiträge zur Unfallversicherung allein von derArbeitgeberseite getragen. Auch im Fall von Krankheitwird die Entgeltfortzahlung allein vom Arbeitgeber ge-tragen, bevor die Krankenkasse nach sechs Wochen ein-springt und Krankengeld zahlt. Es gibt auch noch andereBeispiele.
Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte?
Selbstverständlich achte ich auf die Zeit. – Ich kom-
me zum Schluss. Ab einem gewissen Grad des Ungleich-
gewichts der Anteile der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
stellt sich gewiss die Frage nach einer Korrektur. Ich
möchte aber sagen, dass das heute nicht der Fall ist. Es
ist daher nicht der richtige Zeitpunkt.
An die Kollegen der SPD gerichtet möchte ich sagen:
Wir haben den Arbeitgeberanteil im Koalitionsvertrag
aus guten Gründen so festgeschrieben. Daran halten wir
uns auch. Es wäre schön, wenn Sie uns hier unterstützen.
Danke schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner:
Harald Weinberg für die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchteauf ein paar Argumente eingehen, die hier vorgebrachtworden sind.Zuerst möchte ich auf das Arbeitsplatzargument bzw.Lohnnebenkostenargument eingehen. Dieses Argumentwar damals falsch, und es ist heute nicht richtiger. Dasmuss man meines Erachtens in aller Deutlichkeit sagen.
Dieses Argument ist falsch, weil Unternehmer Arbeits-kräfte nicht einfach sozusagen auf Vorrat einstellen undauf Halde legen, nur weil sie gerade günstiger zu habensind. Diese Vorstellung steckt hinter diesem Argument.Diese Vorstellung ist aber grundfalsch.
Ich habe Ihnen in der letzten Wahlperiode anhand ei-nes deutschen Exportgutes, eines Golfs mit einem Lis-tenpreis von etwa 25 000 Euro vorgerechnet, was dieEinführung der Parität ausmachen würde. Wenn mandas ausrechnet, kommt man bei einem Listenpreis von25 000 Euro auf einen Unterschied von 40 Euro. Wäh-rungsschwankungen und der derzeitige Abgasskandal beiVW haben gravierendere Folgen für den Wettbewerb alseine paritätische Finanzierung.
Über welches Volumen reden wir? Das Volumen istordentlich: Von 2005 bis 2015 wurden durch den Sonder-beitrag von 0,9 Prozent von den Versicherten 102 Milli-arden Euro mehr als von den Arbeitgebern gezahlt. Von2016 bis 2020 wird die eine Seite geschätzt 115 Milliar-den Euro mehr zahlen als die andere Seite.Jetzt will ich auf die Frage eingehen, was dieser Zu-satzbeitrag bewirkt. Sie sprechen ja immer von einemVersorgungswettbewerb. Dieser Zusatzbeitrag führt mei-nes Erachtens aber – das ist schon mehrmals gesagt wor-den – zu einem Vermeidungswettbewerb und zu einemPreiswettbewerb unter den Kassen, den wir nicht wollen.Ich will Ihnen das einmal anhand einer deutschen Kran-kenkasse deutlich machen.Ein internes Papier des Vertriebsbereichs dieser Kran-kenkasse liegt mir vor. Ich kann Ihnen das also durch-aus nachweisen. In diesem internen Papier des Vertriebsheißt es: Mit der Scharfstellung der Zusatzbeiträge wirdder Versorgungswettbewerb zum Preiswettbewerb. –Das steht in einem Papier einer Krankenkasse. Das istwahrscheinlich nicht die einzige Krankenkasse, bei derdas in einem internen Papier steht. – Weiter heißt es dort:Neuakquisitionen müssen durch Wertsteigerung der Ver-sichertensubstanz ein qualitatives Wachstum sichern undso ihren Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des Unterneh-mens unter den Bedingungen des Morbi-RSA leisten.Den ersten Teil dieses Satzes „Neuakquisitionen müs-sen durch Wertsteigerung der Versichertensubstanz ...“muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das be-deutet ja im Prinzip: Man versucht, alle mehrfach Er-krankten und alle schwer Erkrankten wegzubekommen,und man versucht, Junge und Gesunde anzuziehen. Daswird dem Vertrieb einer Krankenkasse in einem solchenPapier vorgegeben. Das ist der Wettbewerb, den Sie aus-lösen.
Noch einen Satz zur Lohnfortzahlung, weil die immerwieder angeführt wird. Die Lohnfortzahlung ist nach ei-Erich Irlstorfer
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nem sechswöchigen Streik 1956/57 in Schleswig-Hol-stein eingeführt worden. Das ist also kein Almosen derArbeitgeber,
sondern eine erkämpfte Errungenschaft.
Das ist danach in Gesetzesform gegossen worden, weilAdenauer nicht wollte, dass es wegen dieser Angelegen-heit zu einem Flächenstreik kommt. Das ist die Situationgewesen. Das muss noch einmal in aller Deutlichkeit ge-sagt werden.
Herr Weinberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Karl Lauterbach?
Ja.
Vielen Dank. – Die Anschuldigung, die Sie hier vor-
tragen, ist gravierend. Es ist natürlich wichtig, darauf ein-
zugehen. Ich kenne viele Krankenkassen, die auf diesen
Wettbewerb anders reagiert haben, die versucht haben,
ihre Mitglieder zu halten oder neue zu gewinnen durch
bessere Qualität. Wenn Sie so etwas vortragen – das ist
ein gravierender Vorwurf; da stimme ich Ihren Kollegin-
nen und Kollegen zu –, dann sollten Sie auch sagen, um
welche Krankenkasse es sich handelt.
Herr Weinberg, bitte.
Ich habe ja gesagt, dass mir das vorliegt. Das ist ein
internes Papier einer Krankenkasse.
– Das ist die KKH Allianz.
– Bitte sehr. – Und die HEK übrigens auch noch.
Zum Schluss möchte ich versuchen, eines herauszu-
arbeiten. Wir haben hier im Parlament eigentlich, wenn
man die Beschlusslagen ernst nähme, eine deutliche par-
lamentarische Mehrheit für die Wiedereinführung der
Parität.
– Die kommt am Ende durch Abstimmung zustande,
Herr Henke. Das ist richtig. – Die Grünen wollen, so sage
ich es einmal, den Sündenfall von 2005 jetzt korrigieren.
Sie haben deutlich hinzugelernt und jetzt einen Antrag
dazu vorgelegt. Es gibt bei der SPD auf allen möglichen
Klausuren und Sitzungen Beschlüsse, die in Richtung
Wiedereinführung der Parität gehen.
Es gibt – das will ich in aller Deutlichkeit sagen – auch
bei den Arbeitnehmerorganisationen der Union, bei der
CDA und bei der CSA, Beschlüsse, die eindeutig in die
Richtung gehen, die Wiedereinführung der Parität auf
die Tagesordnung zu setzen. Mit dem Vorsitzenden der
CDA, Herrn Laumann, haben wir da sogar jemanden, der
auch in der Regierung sitzt.
Wir hätten also eine deutliche parlamentarische Mehr-
heit, wenn alle gemäß der Beschlusslage handeln. Das
wäre schön; das wäre gut. Aber ich glaube und befürchte,
das werden wir nicht erleben. Dennoch freue ich mich
auf die weiteren Beratungen und denke, wir sollten die-
ses Thema auf jeden Fall immer wieder aufrufen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Weinberg. – Nächste Rednerin:
Hilde Mattheis für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, wir als SPD haben in unseren Beschlüssen mehrfachbestätigt: Wir wollen die Bürgerversicherung. Wir wol-len zurück zur Parität. – Das haben wir in großer Ernst-haftigkeit beschlossen. Das ist keine politische Luftblase,sondern wir haben seit Beginn des Konzeptes der Bür-gerversicherung, dem Sie von den Grünen sich ja ange-schlossen haben, diese beiden Ziele immer wieder kom-muniziert.
– Ich kann mich erinnern, dass es in der Historie der Grü-nen durchaus auch Debatten gab, die näher bei der FDPwaren als bei der Bürgerversicherung.
Frau Bender, eine Ihrer Vorgängerinnen, hat sehr mas-siv dafür gekämpft. Ich bin also froh, dass Sie dann An-fang 2000 diesen Beschluss zur Bürgerversicherung ge-fasst haben, nachdem die Heinrich-Böll-Stiftung Ihnenein Gutachten dazu geliefert hat.
Da besteht bei uns große Einigkeit.Es war klar: Mit Eintritt in die Große Koalition ist daseine Frage, bei der wir mit unserem Partner nicht so nahezusammenkommen. Da sind wir auf unterschiedlichenSternen. Trotzdem muss man dieses Ziel unter diesenpolitischen Vorzeichen und auch unter Beachtung derHarald Weinberg
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Historie immer wieder klar kommunizieren. Das tun wirals SPD.Damit kommunizieren wir auch klar: Wir wissen, dassunser gutes Umlagesystem das krisenfesteste ist, dases überhaupt gibt. Wir hoffen immer, dass es auch einMehr an Einsicht bei anderen Parteien gibt. Denn gera-de in der Zeit der Finanzmarktkrise ist das Prinzip nachder Mackenroth-These – in der Zeit, in der ich Ausgabenzu tätigen habe, sorge ich auch für die Einnahmen, undzwar paritätisch – das sicherste Prinzip für die Menschenüberhaupt. Das immer wieder zu kommunizieren, ist un-sere politische Aufgabe; diese haben wir angenommen.Jede Art von Kapitaldeckung zeichnet irgendwie einLuftschloss, aber führt nicht zum Ziel. Dazu gibt es ganzviele Berechnungen.
Wir wissen – das mag ich hier gerne einräumen –, dasses auch unter dem Druck gesellschaftlicher Debatten – andiesen gesellschaftlichen Debatten beteiligten sich nichtnur Wirtschaftsverbände, sondern auch Gewerkschaf-ten, Sozialverbände, alle miteinander – am Anfang der2000er-Jahre durchaus eine Kommunikation gab, dieauch die beiden Parteien hier vor mir mitgetragen haben,nämlich dass man die Senkung von Lohnnebenkosten an-streben muss. Diese Debatte hat sich überholt. In dieserDebatte stecken wir jetzt nicht.
– Nein, das sage ich ganz offen. – Deshalb verlieren wirdas Ziel der Bürgerversicherung nicht aus dem Blick.Wir sagen klar: Wir wollen, dass die Menschen inunserem Land am medizinischen Fortschritt teilhabenkönnen und dass dies zu finanzieren ist. Deshalb habenwir in unserem Koalitionsvertrag gern den Punkt aufge-nommen, den medizinischen Fortschritt – entsprechendeMaßnahmen lagen bei der letzten Bundesregierung ja aufEis – miteinander voranzubringen. Was haben wir ge-macht? Zu nennen ist das Palliativ- und Hospizgesetz,das Versorgungsstärkungsgesetz, das Krankenhausstruk-turgesetz, das Präventionsgesetz. Ich könnte noch einpaar andere Punkte aufzählen.
– Ja, den Bereich der Pflege will ich nicht vergessen; dasist aber ein anderer Finanzierungsblock. – Das haben wirmiteinander auf den Weg gebracht, und zwar mit demZiel, Versorgungslücken in diesem Land zu schließen.Es ist nämlich klar, dass die Zugänge zur medizinischenVersorgung sowohl im ländlichen als auch im städtischenBereich nicht für alle gleich sind. Durch die Gewährleis-tung der Finanzierungssicherheit wollten wir sicherstel-len, dass auch die Krankenhäuser ihren Platz als wich-tiger Baustein im Versorgungssystem behalten. All dashaben wir gemacht.Jetzt sehen wir, dass das Geld kostet – allerdingsnicht erst jetzt; bitte keine falschen Interpretationen. Wirwussten, dass das mehr Geld kostet. Wir sind damit auchoffensiv in Wahlkämpfe gegangen. Wir als SPD habengesagt: Wer gute Pflege haben will, muss auch bereitsein, dafür mehr zu zahlen. – Jetzt führen wir eine ge-sellschaftliche Debatte. Wir sind in einer Phase, in derdie Wirtschaft boomt und in der es dem Land richtig gutgeht; die Wachstumsdaten bestätigen das. Darüber sindwir alle froh. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass alle andiesem Wachstum teilhaben. Das schaffen wir unter an-derem mit einer fairen und paritätischen Finanzierung.Dafür setzen wir uns ein.
– Wachstum fällt nicht vom Himmel – Entschuldigung –,sondern daran sind alle,
vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer, beteiligt. Wir haben in dieser gesellschaftlichenDebatte immer gesagt: Teilhabe lässt sich nicht alleindadurch sicherstellen, dass man nur gute Löhne für guteArbeit zahlt, sondern man braucht auch ein Sozialversi-cherungssystem, das paritätisch finanziert ist.Meine abschließende Bemerkung: Nicht alle Versi-cherungen sind paritätisch finanziert. Die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer finanzieren, und zwar überdie Steuer, ein Drittel der Ausgaben für die Rente. ImHinblick auf die Pflegeversicherung wurde schon gesagt,dass die Entscheidung, den Buß- und Bettag als Feier-tag abzuschaffen, ungefähr einen Beitragssatzpunkt aus-macht. All das bitte ich zu bedenken.Ich bin froh, dass wir die Unterstützung des Arbeit-nehmerflügels der CDU haben. Ich bin zwar nicht immermit allen Äußerungen von Herrn Laumann einverstan-den; das ist so im politischen Geschäft.
Denken Sie an Ihre Redezeit?
Ich komme zum Ende. – Aber in diesem Punkt ver-
traue ich auf seine starke Durchsetzungskraft und auf das
Gewinnen von Einsichten in den nächsten Wochen.
Ich danke fürs Zuhören.
Nächster Redner: Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Wenn man diese Debatte, in derder Begriff „Bürgerversicherung“ beinahe so häufig vor-kommt wie „Parität“, verfolgt und sieht, dass in diesemHilde Mattheis
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Jahr, 2016, nicht alle gesetzlichen Krankenkassen einenhöheren Zusatzbeitrag verlangen, dann wird doch klar,dass in dieser Debatte nicht in erster Linie der Zusatzbei-trag im Vordergrund steht, sondern dass Sie etwas an-deres im Blick haben, nämlich die Landtagswahlen, diebald stattfinden, und die Bundestagswahl im nächstenJahr.
Es ist Ihr gutes Recht, den Finger in die Wunde zulegen und zu sagen, dass die SPD eine andere Auffassungzur Bürgerversicherung hat als die Union; das dürfen Siealles machen. Das hindert uns aber nicht daran, auf denKoalitionsvertrag zu verweisen, den wir im Jahr 2013vereinbart haben und den wir erfolgreich umgesetzt ha-ben; Kollegin Mattheis hat all die guten Gesetzesvorha-ben, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben,aufgezählt. Das werden wir in den nächsten eineinhalbJahren fortsetzen. Wir werden uns an den Koalitionsver-trag halten und gute Politik für unser Land machen.
Herr Riebsamen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
von Frau Klein-Schmeink?
Ja, aber gerne.
Herr Riebsamen, Sie sprachen gerade vom Koalitions-
vertrag und sagten, dass er einzuhalten sei. Man könnte
natürlich auch sagen: Als der Koalitionsvertrag formu-
liert worden ist, war noch nicht absehbar, dass sich die
Konjunktur dauerhaft so gut entwickeln wird. Vielleicht
haben Sie damals auch nicht absehen können, welche
Kosten im Gesundheitswesen Sie durch die zahlreichen
Reformen des letzten Jahres zusätzlich auf den Weg ge-
bracht haben. Wir alle wissen, dass durch die Gesetze der
Großen Koalition ein dicker Batzen von 12 Milliarden
Euro bis 2019 obendrauf kommt, und wir wissen auch,
dass die Kosten im Gesundheitswesen jährlich um 3 bis
5 Prozent steigen.
Diese Kosten werden alleine bei den Versicherten ab-
geladen. Sie sind also nur von diesen zu tragen, und die
Arbeitgeber sind daran nicht mehr beteiligt. Vielleicht
haben Sie das in diesem Umfang zu Beginn der Verhand-
lungen über den Koalitionsvertrag nicht entsprechend im
Auge gehabt. Es sieht ja auch so aus, als ob Ihre Arbeit-
nehmervereinigung genau das thematisiert.
Meinen Sie nicht, dass dieser gesellschaftliche Dis-
kussionsprozess jetzt aufgenommen werden und man
nicht um jeden Preis auf die Einhaltung eines Vertrages
pochen sollte?
Sehr geehrte Frau Klein-Schmeink, beim Abschlussdes Koalitionsvertrages haben wir wie heute auch imAuge gehabt – darauf wäre ich noch zu sprechen gekom-men –, dass es eben nicht von Gott gegeben ist, dass eineKonjunktur immer so bleibt, wie sie ist. Zurzeit ist sieGott sei Dank sehr gut, aber gucken Sie sich heute dochnur einmal die Wirtschaftsschlagzeilen an.
Gucken Sie sich an, wie die Entwicklung in China aus-sieht, von der unsere Wirtschaft sehr stark abhängt.
Gucken Sie sich auch die Entwicklung der Rohstoffprei-se an. Sie sehen dann sehr deutliche Wolken am Horizontauftauchen, und darauf müssen wir uns einstellen. Allesandere wäre keine verantwortungsvolle Politik.
Der Begriff „Solidarität“ wird auch in dieser Debat-te sehr ausgiebig strapaziert. Ich möchte Sie schon nocheinmal darauf hinweisen, dass wir uns in Bezug auf dieSolidarität nicht zu verstecken brauchen. Wir geben imJahr über 200 Milliarden Euro – das sind über 11 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts – für den Gesundheitsbereichaus und liegen damit gemeinsam mit anderen Ländernan der Spitze in Europa, zum Beispiel mit der Schweiz,mit den Niederlanden und mit Frankreich, die alle un-terschiedliche Systeme haben. Die einen haben Arbeit-geberbeiträge, aber nur geringe, die anderen haben keineArbeitgeberbeiträge, und wieder andere, wie Frankreich,haben eine Kostenerstattung von 70 Prozent.Wenn wir das alles einmal nebeneinanderbetrachten,dann wird sehr deutlich, dass wir uns eben nicht zu ver-stecken brauchen, sondern dass wir in unserem Land eineausgeprägte Solidarität zwischen Gesunden und Krankenund zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern haben.
Weil dies so ist, haben wir eine gute Wettbewerbsfä-higkeit. Wir sind hier mit an der Spitze in der Welt undkönnen anderen Ländern helfen, wie der Kollege Pro-fessor Lauterbach völlig richtig ausgeführt hat, und daswollen wir auch so beibehalten. Wir wollen diese guteWettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft besitzen. Vor zehnJahren haben das auch die Grünen einmal so gesehen, alsdie Entlastung der Unternehmen eingeführt wurde.
Das war damals so richtig, wie es heute richtig ist. Des-wegen: Wir sollten darauf schauen, dass wir hier in gutenZeiten nicht Gesetze machen, die uns in einigen JahrenLothar Riebsamen
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oder auch schon in kurzer Zeit wieder einholen können.Das wird mit uns nicht zu machen sein.
Zum Thema Kassenwettbewerb. Es geht ja nicht nurum Geld und um Ent- und Belastungen an der einen oderanderen Stelle, sondern es geht auch darum, dass die Ver-sicherten in unserem Land – das war damals auch derGrund dafür, warum man eine Entlastung der Unterneh-men in Höhe von 0,9 Prozent eingeführt hat – in die Lageversetzt werden, zu vergleichen. Es ist sicher wichtig,die Beiträge zu vergleichen; aber auch die Leistungender einzelnen Kassen und der Service, den die einzelnenKassen anbieten, müssen untereinander verglichen wer-den können.Gerade in einer Zeit, in der die Kosten im Gesund-heitswesen unter anderem aufgrund der Medikamenten-preise und der Demografie in den nächsten Jahren in derTat nach oben gehen, ist es umso wichtiger, dass sichauch die Versicherten in unserem Land mit diesem The-ma auseinandersetzen und eine Auswahl treffen können,welche Krankenkasse für sie die richtige ist.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der nochgar nicht zur Sprache gekommen ist: Die Wirtschaft kannden Euro nur einmal ausgeben.
Das ist doch eigentlich eine Binsenweisheit, und es istauch völlig klar: Wenn wir die Parität wiederherstellenwürden, dann würde die zusätzliche Belastung, die da-durch bei den Unternehmen entsteht – sie mag nicht hochsein –, bei den Tarifverhandlungen eine Rolle spielen. Obdas dann in Tarifverhandlungen bei den Unternehmen sodurchsetzbar sein wird, weiß ich nicht; aber es wird je-denfalls Gegenstand sein.Das heißt, wenn aufgrund einer konjunkturell gutenLage oder eines guten Produktivitätsfortschritts 1 Euromehr zur Verfügung steht, dann würde dieser nicht zu100 Prozent den Mitarbeitern zugutekommen, sondernes werden vielleicht nur 90 Cent sein, weil 10 Cent fürdie Wiederherstellung der Parität ausgegeben werden.Auch damit muss man bei Tarifverhandlungen rechnen.Insofern ist es doch auch eine gewisse Augenwischereigegenüber den Arbeitnehmern, zu sagen: Auch wenn dieParität hergestellt ist, bekommst du das, was mehr erwirt-schaftet wird, zu 100 Prozent. – Das ist nicht richtig.
Ich tue mich übrigens überhaupt nicht schwer, in Ver-sammlungen zu erklären, warum wir jetzt einen höherenZusatzbeitrag von durchschnittlich 0,2 Prozent haben.Wir haben in den letzten zwei Jahren eine nicht ganz bil-lige Gesetzgebung gemacht. Nehmen wir zum Beispiel –da bin ich Berichterstatter – das Krankenhauswesen. Mitdem Pflegestellen-Förderprogramm und dem Pflegezu-schlag erhalten die Krankenhäuser mehr Geld, um mehrPflegepersonal einstellen zu können. Das ist gut so. DieNutznießer sind vor allen Dingen die Patientinnen undPatienten, die jetzt in den Krankenhäusern mehr Pflegeam Bett zur Verfügung haben. Und genau dies lässt sichden Patientinnen und Patienten in Gesprächen erklären.Ich schaffe das. Und jeder andere, der das ernsthaft will,wird es auch schaffen.Es geht, wenn man einmal ein Einkommen von3 500 Euro zugrunde legt, um 7 Euro im Monat – beieiner Halbtagsbeschäftigung ist es entsprechend weni-ger –, die für diese besondere, gute Leistung zukünftigeingesetzt werden. Das ist, meine Damen und Herren,erklärbar.
Es geht aber auch um die Tatsache – Kollege Irlstorferhat es richtigerweise angesprochen –, dass die Arbeit-geber Berufsgenossenschaftsbeiträge und Unfallversi-cherungsbeiträge leisten sowie die Lohnfortzahlung imKrankheitsfall zu tragen haben. Das zahlen sie allein; dakann man von Parität gar nicht reden. Wenn man all daseinmal zusammenfasst, ist das, was wir heute debattie-ren – ich habe das schon gesagt –, keine Frage der Paritätund des Interessenausgleichs. Es handelt sich in der Tatum Wahlkampf. Insofern ist dieser Antrag ein Stück weitnicht ganz ehrlich. Deswegen werden wir ihm auch nichtzustimmen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Riebsamen. – Nächster Redner
ist Dr. Edgar Franke für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es gibt einen klaren roten Faden sozialdemokratischerGesundheitspolitik. Dieser rote Faden besteht in einerVerbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Men-schen. Da haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,in den letzten zwei Jahren viel erreicht. Ich nenne nureinige Stichworte: Versorgungsstärkungsgesetz, Präven-tionsgesetz, Regeln für den Palliativ- und Hospizbereich,Pflegestärkungsgesetze und Krankenhausstrukturgesetz.
Frau Klein-Schmeink, wir sind die Probleme bei derambulanten ärztlichen Versorgung sowie bei der Qualitätder Krankenhausversorgung angegangen. Und wir ha-ben, liebe Sabine Zimmermann – auch das darf man nichtvergessen –, die pauschalen Zusatzbeiträge abgeschafft.Weiterhin haben wir einkommensabhängige Zusatzbei-träge eingeführt und den allgemeinen Beitragssatz sogarauf 14,6 Prozent abgesenkt. Das war Politik für die Pati-entinnen und Patienten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lothar Riebsamen
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– Und natürlich für die Versicherten. Richtig.Ich sage auch ganz deutlich: All diese Verbesserungensind – auch daran darf man einmal erinnern – gegen denWillen der Opposition beschlossen worden. Heute for-dert diese Opposition, dass Zusatzbeiträge abgeschafftwerden, um die Parität wiederherzustellen.Ich darf zunächst daran erinnern – auch das darf mannicht vergessen –, dass die Zusatzbeiträge unter Schwarz-Gelb als Kopfpauschalen „scharf gestellt“ worden sind.Die FDP mit ihren damaligen Gesundheitsministernwollte nicht nur den Wettbewerb verschärfen, sie wolltenoch etwas ganz anderes: nämlich schrittweise die Bei-träge zur Krankenversicherung vom Einkommen abkop-peln und die Kopfpauschale einführen. Die pauschalenZusatzbeiträge waren eine Kopfpauschale. Gegen dieseKopfpauschale hat die SPD immer Widerstand geleistet,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es war unvernünftig, dass der Arbeitnehmer den gleichenZusatzbeitrag wie sein Chef bezahlt. Das gilt auch heutenoch.
Es ist schon richtig, Harald Weinberg, dass die eineoder andere Krankenkasse, um Zusatzbeiträge zu ver-meiden, den Leistungskatalog oder auch die freiwilligenSatzungsleistungen ausgedünnt hat. Die Kassen habenAngst, durch erhöhte Zusatzbeiträge Versicherte zu ver-lieren. Wir brauchen einen Leistungswettbewerb, abernicht primär einen Preiswettbewerb oder einen Zusatzbei-tragsvermeidungswettbewerb; auch das ist richtig.
Unsere Strukturreformen für eine verbesserte gesund-heitliche Versorgung der Menschen haben mittelbar zuKostensteigerungen und damit auch zu steigenden Bei-tragssätzen geführt. Natürlich diskutieren momentan dieMenschen angesichts eines Plus von 12 Milliarden Euroin 2015 darüber, wie man damit in Zukunft umgehenkann. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag ist um 0,2 Pro-zentpunkte auf 1,1 Prozent gestiegen. Einige Kranken-kassen – auch das muss man sagen – haben weitere Erhö-hungen zumindest nicht ausgeschlossen.Ich glaube – und hier sind wir fast alle einer Mei-nung –, dass es sozial unausgewogen ist, wenn die zu-künftigen Steigerungen allein zulasten der Arbeitnehmerund der Rentner gehen. Das sollte nicht sein, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
So führt eine Zementierung des Arbeitgeberbeitragesperspektivisch dazu, dass sich die Schere zwischen Ar-beitnehmer- und Arbeitgeberanteil weiter öffnen wird.Damit muss man sich politisch beschäftigen. Das mussman hier im Bundestag diskutieren.Die SPD tritt für eine paritätische Finanzierung derKrankenversicherung ein. Wir haben es gehört: Es gibtmomentan einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesemThema. Wir haben schon gehört, welche Arbeitnehmer-organisationen sich dafür einsetzen. Wir alle wissen,dass die Krankenversicherung seit 1883 besteht, dass sieschon damals gemeinsam finanziert wurde, was sich be-währt hat, und dass ab 1951 die paritätische Finanzierunggalt. Das sind Grundprinzipien unseres Sozialstaats undunserer Sozialversicherung in Deutschland. Diese Prinzi-pien haben sich bewährt.Natürlich ist die SPD vertragstreu. Natürlich weiß dieSPD, dass wir uns in einer Koalition befinden. Ich habeauch gerade gesagt, dass wir in dieser Koalition vieleMaßnahmen zur Verbesserung der Versorgung beschlos-sen haben. Aber ich glaube schon, dass wir in der zweitenHalbzeit noch einmal darüber nachdenken können, wiewir eine hälftige Finanzierung erreichen können.Abschließend muss ich sagen: Es ist – ich sage es nocheinmal – auf Dauer unsozial und ungerecht, wenn alleindie Beschäftigten, wenn Rentner und Arbeitnehmer fürden medizinischen Fortschritt zahlen müssen, jedenfallswas die Zusatzbeiträge anbelangt. Das sollte man „inAcht behalten“, wie man in Nordhessen so schön sagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in derFrage der Parität, also der hälftigen Finanzierung derKrankenkassenbeiträge, in verschiedenen Gremien si-cherlich noch die eine oder andere Diskussion haben.Hier werden wir auch Überzeugungsarbeit leisten müs-sen. Aber ich denke, die Argumente sprechen dafür, dieParität wiederherzustellen, weil es vernünftig, weil es so-zial gerecht und weil es der Willen der Menschen ist, derVersicherten und der Patienten.Danke schön.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
Lieber Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Edgar Franke,als der Reichstag im Jahr 1883 das Gesetz betreffend dieKrankenversicherung der Arbeiter verabschiedete, wur-den die Arbeitgeber zum ersten Mal gezwungen, einenBeitrag zu bezahlen. Ihr Beitrag lag damals bei einemDrittel der Versicherungskosten. Der jeweils zur Hälftegetragene Beitrag wurde dann im Jahr 1951 eingeführt.Mir erscheint es ein bisschen verwegen, die Frage vonSolidarität, Gerechtigkeit und Vernunft alleine an demUnterschied von 0,2 Prozentpunkten festzumachen. EsDr. Edgar Franke
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war Ulla Schmidt bzw. die SPD, die zusammen mit denGrünen die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Die Differenzvon 0,9 Prozentpunkten durch die Zusatzbeiträge auf derArbeitnehmerseite ist also eine rot-grüne Errungenschaft.Die Aufregung darüber war damals viel kleiner als jetztüber die 0,2 Prozentpunkte.
Ich finde, das ist eine seltsam unterschiedliche Kategorieder Bewertung.
Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Klein-Schmeink?
Wenn ich den Satz noch zu Ende führen darf.
Und danach ja?
Anschließend sofort. – Deswegen bin ich zwar der
Meinung, dass es nicht für ewige Zeiten so sein kann,
dass man praktisch nur auf der Arbeitnehmerseite Ent-
wicklungen hat. Aber dieses Prinzip gilt jetzt erst einmal
für diese Legislaturperiode. Denn ich hasse es, dass man
den Arbeitgebern Zusagen macht, um sie dann anschlie-
ßend wieder zur Disposition zu stellen.
Wir haben als Koalition den Arbeitgebern einen Beitrags-
anteil von 7,3 Prozent zugesagt. Ich finde, es gehört zur
Planbarkeit, Vertrauensgrundlage und Verlässlichkeit
von Politik, dass man dann auch dazu steht.
Frau Kollegin Klein-Schmeink, jetzt haben Sie das
Wort.
Danke schön. – Herr Henke, Sie haben gerade selber
ausgeführt, dass eine solche Entscheidung nicht für die
Ewigkeit sein kann. Ich will noch einmal darauf hinwei-
sen, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen,
unter denen die Abkehr von der hälftigen Finanzierung
2001 entschieden worden ist, grundsätzlich dramatisch
andere waren und dass es damals insgesamt einen gro-
ßen Notstand gegeben hat. Uns drohten europäische Ver-
tragsverletzungsverfahren. Wir hatten eine dramatische
Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit und wirklich nega-
tive Vorzeichen in der wirtschaftlichen Entwicklung.
Wir sind heute ganz massiv in einer anderen Situation.
Gerade die Deutlichkeit, mit der wir sehen, dass wir auf
der einen Seite gesellschaftliche Aufgaben zu stemmen
haben und auf der anderen Seite gerade im wirtschaftli-
chen Bereich eine hohe Prosperität besteht, ist der Grund,
warum man nicht einfach weiter die Kosten auf die Ar-
beitnehmer abwälzen darf, sondern dahin kommen muss,
die gesellschaftliche Solidarität wieder zu stärken. Denn
wir haben gemeinsam im sozialen Bereich viele Aufga-
ben zu bewältigen. Deshalb sollte der soziale Zusam-
menhalt gestärkt werden. Ist das nicht auch die Aufgabe
als Gesamtgesellschaft und für Sie als CDU/CSU, die
auch den sozialen Zusammenhalt im Blick haben sollte?
Vielen Dank für die Frage, Frau Klein-Schmeink. Ichwill sie gerne in zwei Abschnitten behandeln, weil Siezum einen die Kosten auf der Arbeitnehmerseite undzum anderen das Stichwort „Prosperität“ angesprochenhaben.Der erste Teil. Ja, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht,dass die Bilanz der Bundesregierungen unter Führungvon Angela Merkel seit 2009 zu einer Stärkung der Wirt-schaftskraft Deutschlands geführt hat. Ich gebe Ihnenausdrücklich recht, dass wir Lichtjahre von der Situationentfernt sind, die wir unter der Regierung Schröder ge-habt haben.
Und ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass uns das inden Stand versetzt, Ausgaben zu finanzieren, die wir frü-her nicht hätten finanzieren können.
Ich sage aber auch, dass diese erzielten Erfolge nichtvon allein eintreten. Einer der Schritte, die dabei zwin-gend sind, ist, dass man in seinen Aussagen und Ankün-digungen verlässlich bleibt. Deswegen kann man dieKalkulationsgrundlage für die Unternehmen, die Zusage,in dieser Legislaturperiode 7,3 Prozent nicht zu über-schreiten, nicht einfach beliebig ändern. Denn das wäreein Beitrag dazu, Unzuverlässigkeit als zentrale Bot-schaft zu verbreiten. Das ist das eine.
Dabei würde ich lieber um mehr Wettbewerbsfähigkeitals um weniger Verlässlichkeit ringen.Nun zum zweiten Teil meiner Antwort. Sie sagen stän-dig – Herr Weinberg und Frau Zimmermann haben dasebenfalls vorgetragen; Herr Lauterbach hat das noch ammildesten vorgetragen, während Frau Mattheis das etwasstärker betont hat –, dass wir die Arbeitnehmer einseitigbelasten.
Rudolf Henke
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Jetzt gestehe ich Ihnen einmal etwas. Ich halte die Unter-scheidung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbei-trag für hoch künstlich.
In der Wirklichkeit des Lebens wendet ein Unternehmenselbst keinen Eurocent auf, egal ob es ihn in Investiti-onen, die Betriebskosten, die Löhne der Arbeitnehmer,die Sozialabgaben, die Gewerbesteuer oder andere Steu-ern steckt, der nicht auf der Leistung und der Arbeit derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer basiert. Alles, wasverdient werden muss, müssen die in den Betrieben tä-tigen Menschen erwirtschaften. Sie erwirtschaften denkompletten Ertrag der Betriebe dadurch, dass sie ihre be-triebliche Arbeitsleistung erbringen.
Weil das so ist, müssen die Arbeitnehmer es erwirtschaf-ten, egal ob es sich um den Arbeitgeberbeitrag oder umden Arbeitnehmerbeitrag handelt. Sie müssen beide Teileder Sozialabgabe durch ihre Anstrengung, Leistung undKreativität erwirtschaften.
Das Geschäftsmodell eines Unternehmens funktioniertnur, wenn die Produktivität ausreicht, um alle Kosten zurefinanzieren. Weil das so ist, ist die Frage, ob der Ar-beitnehmerbeitrag 0,2 Prozentpunkte höher oder niedri-ger ist, im Hinblick auf die betriebliche Realität und dieAnsprüche, die das System an die Arbeitnehmer stellt,gleichgültig.
Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Lauterbach?
Ja.
Nur ganz kurz. Zunächst einmal vielen Dank für Ihre
volkswirtschaftlichen Ausführungen. Wenn ich Ihrer
bestechenden Logik folge und es keinen Unterschied
macht, ob der Arbeitgeber- oder der Arbeitnehmerbeitrag
steigt, weil es sich sowieso um einen Beitrag handelt,
dann komme ich zu dem Schluss, dass der Arbeitgeber
die gesamte Sozialversicherung bezahlen könnte.
Jedenfalls ist es nicht zu begreifen, warum man, wenn
man der Argumentation der Linken in der Antragsbe-
gründung folgt – derjenige, der wenig hat, ist auf jeden
Eurocent angewiesen –, bei 50 Prozent Schluss macht.
Lieber Herr Lauterbach, worauf ich hinaus will, ist Fol-
gendes: Frau Klein-Schmeink hat uns vorgetragen, dass
das bei einer Handwerkerstunde einen Unterschied von
nur 6 Cent ausmacht. Herr Weinberg hat gesagt, dass es
bei einem Golf einen Unterschied von nur 40 Euro aus-
macht. Aber wer bezahlt das denn? Das bezahlt doch der-
jenige, der eine Handwerkerstunde in Anspruch nimmt
oder einen Golf kauft. Sind das keine Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer? Im Wesentlichen müssen die Men-
schen das über den Preis bezahlen, die dann belastet wer-
den.
Ich bin ein Anhänger des Systems unserer solidari-
schen Krankenversicherung. Aber was ich Ihnen mit
meinen Ausführungen klarmachen will, ist, dass es sich
hier um eine total künstliche Auseinandersetzung han-
delt, wenn man die Beantwortung der Frage, ob das Sys-
tem solidarisch, vernünftig und gerecht ist, alleine davon
abhängig macht, ob es einen Unterschied von 0,2 Pro-
zentpunkten gibt. Sie jazzen ein Thema hoch, das für die
Menschen gar keine zentrale Bedeutung hat. Damit tra-
gen Sie dazu bei, dass die Menschen plötzlich wie wild
auf den Beitragsunterschied schauen. Sie tun so, als wäre
ein etwas höherer Beitrag quasi eine Bestrafung für die
Versicherten, die ihn aufbringen müssen. Ich empfehle
den Menschen, weiterhin Mitglied der Krankenkasse, zu
der sie Vertrauen haben, zu bleiben und mit dieser wie
bisher zufrieden zu sein, auch wenn diese einen Zusatz-
beitrag erhebt.
Herr Kollege Henke, Sie haben den Wunsch nach einer
weiteren Zwischenfrage bei der Kollegin Zimmermann
hervorgerufen.
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Henke, dass Sie die Frage
noch zulassen. – Ich finde, Ihre Sichtweise ist natürlich
insofern klar, als Sie durch die Beitragsbemessungsgren-
ze hier voll geschützt sind. Nehmen wir aber einmal eine
Frau, die 2 500 Euro im Monat verdient. Die soll im Jahr
bis zu 540 Euro mehr Krankenversicherungsbeiträge
leisten. Meinen Sie nicht, dass das bei dem geringen Ein-
kommen etwas viel ist?
Der Beitrag in dieser Höhe kommt nicht zustande.Diese Differenz entsteht nicht. Das ist völlig illusionär.Sie malen ein Gespenst an die Wand, das es nicht gibt.Jeder, der rechnen kann, kann das nicht nachvollziehen.Ich muss Ihnen sagen: Da kann ich Ihrer MathematikRudolf Henke
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nicht folgen. Es tut mir leid, aber das gilt vielleicht fürdie meisten im Haus.
Ich möchte auf die Frage der Differenzen zwischenden Beiträgen zurückkommen und einen Blick zurück auf1993 werfen, als das Gesetz zur Sicherung und Struktur-verbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung denBürgern das Recht eingeräumt hat, ihre Krankenkasse ab1996 frei zu wählen. Das ist insofern in dieser Debattevon Bedeutung, als ein Versicherter heutzutage frei ent-scheiden kann, bei welcher Krankenkasse er sich versi-chern will. Dabei kann er die Zusatzbeiträge vergleichen,er kann die Leistungsprogramme der Krankenkassenvergleichen, er kann durch seine Entscheidung Leistun-gen hinzugewinnen, oder er kann direkt Geld sparen. DieBeitragssatzspanne zwischen den verschiedenen Kran-kenkassen liegt heute bei 1,5 Prozent.Bevor das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbes-serung der gesetzlichen Krankenversicherung beschlos-sen wurde, vor 1993, hatten wir große Beitragsspannender Versicherungen. Damals gab es ein Gefälle bei denBeitragssätzen von bis zu 8 Prozent. Also es gab Arbeit-nehmer, die in ihrer Krankenkasse, aus der sie nicht aus-scheiden konnten, 8 Prozent mehr bezahlen mussten alsArbeitnehmer in anderen Krankenkassen, die sich dieseauch nicht aussuchen konnten.Darf ich eine Grafik hochhalten, Herr Präsident?
Hochhalten geht, das ist erlaubt.
Es ist kein Plakat. – Jedenfalls kann man im Zeitver-
lauf sehr gut erkennen,
dass die Spreizung der Beiträge über die Jahre hinweg
abgenommen und nicht zugenommen hat, und das ist ein
Verdienst der Unionspolitik. Deswegen finde ich, dass
wir an dieser Stelle keine starke Nachhilfe von Ihnen be-
nötigen.
Ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger ist – das
haben alle Umfragen gezeigt – natürlich einverstanden,
dass sich Beiträge erhöhen, wenn sie durch eine qualita-
tiv bessere Versorgung profitieren.
Das hat Herr Franke dargelegt, das hat Frau Mattheis dar-
gelegt, das hat Herr Irlstorfer dargelegt, das haben Herr
Riebsamen und Maria Michalk dargelegt. Genau das ist
die Leistung, die in den vergangenen Jahren erbracht
worden ist.
Das zentrale Element von Solidarität ist, dass man
sich auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen
verlassen kann. Die Solidarität wird eher durchbrochen,
wenn die Länder den Krankenhäusern 3,3 Milliarden
Euro Investitionsmittel vorenthalten, die man dringend
bräuchte, um die Verlässlichkeit seitens der Krankenhäu-
ser zu erhöhen.
Der Bund erfüllt seine Aufgabe, aber die Länder erfül-
len sie zum Teil nicht. Weil das so ist, liebe Leute, muss
unser primäres Bestreben sein, die Finanzkraft und die
Verlässlichkeit der Krankenkassen stabil zu halten; denn
das gehaltene Leistungsversprechen ist der Beleg für die
größte Solidarität, die es gibt.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 18/7237 und 18/7241 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überwei-
sungen somit beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Mess- und Eichgesetzes
Drucksache 18/7194
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfach-
ten Verfahren ohne Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
den Ausschuss für Wirtschaft und Energie zu überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Fortgesetzte Militärkooperation mit Saudi-
Arabien und der Türkei
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der
Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke.
Danke sehr. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Wir haben bereits gestern begonnen, über die-ses Thema zu debattieren. Dies geschah in einer Aktuel-len Stunde, die die Regierungskoalition beantragt hatte.Es ist eine ganze Reihe weiterer Fragen zu klären. Ichdarf versuchen, dazu einen Beitrag zu leisten. Ich findees übrigens auch wichtig, dass wir solche Fragen in ei-Rudolf Henke
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ner großen Öffentlichkeit diskutieren, weil die Menschenin unserem Land natürlich wissen wollen, was man da-runter versteht, wenn von der Regierung häufiger gesagtwird, man wolle die Fluchtursachen bekämpfen. Manmuss darüber reden, was Fluchtursachen sind, und daswill die Linke.
Ich will nicht dabei zusehen, wie die deutsche Außen-politik im Nahen Osten – und nicht nur dort – immer un-glaubwürdiger wird. Ich finde, Deutschland beschmutztsich, wenn der Eindruck entsteht, dass wir die Hinrich-tung oder, besser gesagt, die Morde in Saudi-Arabienhinnehmen, einfach so weitermachen und sagen: Dasist zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Doch, daswäre zu ändern, wenn die internationale Gemeinschafteinschließlich Deutschlands sagen würde: Wir sind nichtmehr bereit, das hinzunehmen.
Das müssen wir in aller Öffentlichkeit deutlich machen.47 Menschen wurden an einem Tag abgeschlachtet,erschossen, erschlagen, enthauptet. Das ist der IS in Pra-xis. Man kann den IS nicht bekämpfen, indem man seineMethoden staatlich anwendet. Das geht überhaupt nicht,und deswegen muss man dort konsequent gegenhalten.
Ich möchte, dass das Regierungsgerede von Sau-di-Arabien als Stabilitätsanker in der Region aufhört. Bisheute redet die Bundesregierung davon, dass Saudi-Ara-bien ein Stabilitätsanker sei. Das kann doch in Riad nurso verstanden werden, dass es keine ernsthafte Gegen-wehr aus dem Westen gegen die Art und Weise des Vor-gehens dieses Staates gibt.
Die Bundesregierung hat bis heute die Frage nicht be-antwortet – ich hoffe, dass man heute eine Antwort daraufbekommt –, warum sie dem Staat Saudi-Arabien nichtsofort nach dieser politischen Mordorgie, die auch da-rauf zielte, dass die Vereinbarungen zu Syrien scheitern,angekündigt hat: Wir werden keine Waffen mehr liefern.Es wird keine Waffenverträge mehr geben. – Einem sol-chen Staat kann man keine Waffen anvertrauen. Das wäredoch das Mindeste, was man von der Bundesregierunghätte erwarten müssen.
Wenn die Bundesregierung nun behauptet, Saudi-Ara-bien sei ein Anker der Stabilität, möchte ich entgegnen:Diese Stabilität ist eine Stabilität der Friedhofsruhe, derVernichtung von Demokratie, der Unterdrückung vonMenschen. Das hat nichts mit Menschenrechten zu tun.Die Bundesregierung hat noch einmal gesagt, dass dieWahrung von Menschenrechten ein Kriterium dafür ist,ob man Waffenexporte genehmigt oder nicht. Mindestensdas könnten Sie ja einhalten.
Saudi-Arabien ist durch Waffen- und Geldlieferungenfür den Aufschwung des IS mit verantwortlich. Ob da-für, wie nun behauptet wird, reiche saudische Familienverantwortlich sind und nicht der Staat, das ist nicht sehrerheblich. Saudi-Arabien ist eine Kriegspartei in Syri-en. Ohne Saudi-Arabien hätte es diesen Krieg in dieserfruchtbaren Art und Weise in Syrien nicht gegeben, undSaudi-Arabien führt Krieg im Jemen. Jemen und Syrienunterscheiden sich kaum noch, was die Katastrophe fürdie Menschen angeht. Was dort geschieht, das ist Mord,und das ist auch die Vernichtung eines Staates, wie es derJemen ist. Wenn wir die Art und Weise des Umgangs mitSaudi-Arabien weiter betreiben, bleibt den Menschen nureine Chance: fluchtartig ihre Region zu verlassen, in dersie nicht leben können und nicht leben dürfen. Ich redegar nicht davon, wie man ein Leben gestalten könnte.Ein Stabilitätsanker aus Sicht der Bundesregierung istauch die Türkei, ist Erdogan. Erdogan führt aber Krieggegen die Kurden. Wie kann man hier immer davon re-den, dass man die Kurdinnen und Kurden unterstützt,und gleichzeitig die Augen zumachen, wenn in den kur-dischen Gebieten in der Türkei – und nicht nur dort –Krieg gegen die Kurden geführt wird? Auch das hat mitDemokratie nichts zu tun.
Ich habe mich immer wieder gefragt, warum die Bun-desregierung sich so verhält. Es lohnt ja nicht, zu unter-stellen: Sie sind eben so. – Warum also verhält sich dieBundesregierung so? Ich habe ein sehr altes Zitat gefun-den, das ich zutreffend finde. Entschuldigen Sie die Spra-che; das ist nicht meine Sprache; ich zitiere das nur. – DerEx-US-Präsident Roosevelt hat über den Diktator Nica-raguas, Somoza, einmal gesagt: Er ist ein Hurensohn,aber er ist unser Hurensohn.Genau diese Denkweise – das sind unsere Verbünde-ten; da kann man mal wegschauen, wo man nicht weg-schauen darf – finde ich in der Politik der Bundesregie-rung. Ich finde, das kann man nicht durchgehen lassen.Dieses Parlament muss sagen: Schluss mit Waffenlie-ferungen! Schluss damit, dass die Türkei als ein Land,das die Flüchtlinge daran hindern soll, nach Europa zukommen, aufgerüstet wird! Demokratie ist nicht teilbar.Das muss man auch öffentlich verfechten. Das hat nichtsdamit zu tun, ob man miteinander redet oder nicht. Ichbin dafür, dass man miteinander redet. Aber man muss zukeinem Festival fahren, wenn man ernsthafte politischeDebatten führt.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege RoderichKiesewetter.
Wolfgang Gehrcke
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Der Nahe und Mittlere Ostensteht vor einer ungeheuren Zerreißprobe. Ethnische, kul-turelle, religiöse Konflikte überlagern sich. Es droht derZusammenbruch. Und wir machen eine Aktuelle Stundeund betrachten ausschließlich die Türkei und Saudi-Ara-bien. Meine Damen und Herren, das ist eine verfehlteThemensetzung.
Gut aber ist, dass wir uns in dieser Woche in zwei Ak-tuellen Stunden um diese Thematik kümmern. Ich denke,die Türkei und Saudi-Arabien in einen Topf zu werfen,ist verfehlt. Die Türkei ist erprobter NATO-Partner.
Da müssen wir Einfluss nehmen mit Blick auf ihr Ver-halten gegenüber den Kurden. Da müssen wir auch sehrdeutlich machen, dass im Bereich der IS-Unterstützungeiniges zu klären ist.
Aber die Türkei und Saudi-Arabien in einen Topf zu wer-fen, ist schlichtweg falsch, liebe Kolleginnen und Kolle-gen.
Deshalb möchte ich den Blick etwas weiten. Ich be-trachte das Thema Militärkooperation als deutlich zuverengt. Die Militärkooperation mit Saudi-Arabien istnämlich auf einem ganz minimalen Niveau. Zwischen1965 und 2002 gab es eine intensive Ausbildungskoope-ration. Ich selbst habe in der Führungsakademie nochsaudi-arabische Offiziere erlebt. Aber selbst wenn wirdeutscherseits keine Militärkooperation mit Saudi-Ara-bien haben, so besucht doch jedes Jahr das NATO Defen-se College mit einer Delegation aus arabischen Staatenunseren Bundestag. Dabei haben wir Gelegenheit, denGesprächsfaden aufrechtzuerhalten, weil Militär dorteine etwas andere Stellung hat als bei uns und unmittel-bar an die jeweilige Staatsführung berichtet, was es imBundestag an Fragen und an Diskussionen gibt. DiesenEinfluss müssen wir auch mit Blick auf Gespräche mitSaudi-Arabien und anderen Staaten in der Golfregionaufrechterhalten.Was mir bei der Diskussion deutlich zu kurz kommt,ist die Bedeutung der sich überlagernden Machtlinienund dessen, dass inzwischen der Iran und Russland be-ginnen, ein Vakuum auszufüllen. Wir Deutschen, wir Eu-ropäer dürfen es nicht zulassen, dass dieses Vakuum vonRussland und von Iran so ausgefüllt wird, dass hier einKeil zwischen die USA und Europa getrieben wird undwir Europäer zuschauen.Das, was die Linke letztlich fordert, ist: keine Beteili-gung; die Region machen lassen. – Das ist vollkommenfalsch. Der gesamte Bereich des Nahen und MittlerenOstens gehört zu unserem Interessengebiet.
Wir selbst sind persönlich in vielen Bereichen davon be-troffen: in unseren Familien, in unseren Vereinen. Hun-derttausende in Deutschland kümmern sich ehrenamtlichum Flüchtlinge aus dieser Region. Diesen Menschen undden vielen Gruppierungen mit ihrem bürgerschaftlichenEngagement gilt es ganz herzlich zu danken, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.In dem Zusammenhang müssen wir eindeutig heraus-stellen, dass wir in den nächsten Wochen eine Eskalationzu befürchten haben. Noch in diesem Monat, vermutlichin der nächsten Woche, findet die Implementierung desNuklearabkommens mit dem Iran statt. Mit dem Tagder Implementierung werden mindestens – und das sindniedrige Schätzungen – 70 Milliarden US-Dollar freige-geben, die zurzeit eingefroren sind, mit denen der Iranarbeiten kann. Seien wir nicht so blauäugig, zu glauben,der Iran werde das Geld in soziale und gesundheitspoli-tische Maßnahmen im eigenen Land stecken. Er wird dieNachbarschaftskriege im Jemen unterstützen und weiterAufstandsbekämpfung mit Blick auf Bekämpfung vongemäßigten Rebellengruppen betreiben. Er wird weiter-hin Assad unterstützen, und er wird in vielen Bereichenmithelfen, zur Eskalation in Syrien beizutragen. Er wirdweiter dazu beitragen, Assad zu stabilisieren, und wirdalles tun, damit diese Mittel zur Entzweiung der gemä-ßigten Kräfte beitragen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen daraufachten, dass die Stabilisierung dieser Regionen nichtdurch Macht- und Hegemonialfaktoren von Ländern wieRussland und Iran erfolgt.
Deshalb möchte ich mit einem Appell schließen. Die Eu-ropäische Union hat alle Fähigkeiten für eine diplomati-sche, ausgleichende, balancierende Politik. Wir müssenuns darauf einstellen, Jordanien und auch den Libanon inder Grenzsicherung zu unterstützen. Wir müssen uns sehrstark auf die Türkei konzentrieren, damit sie im Kampfgegen den IS alle Mittel freimacht. Wir sollten als EUund als Deutsche in der EU dazu beitragen, dass nichtnur das Welternährungsprogramm, sondern mit Blickauf die palästinensischen Gebiete auch die United Na-tions Relief and Works Agency for Palestine Refugees inthe Near East unterstützt wird, die einen hervorragendenBeitrag für Bildung und Gesundheit und damit auch fürMenschenwürde leistet.Es geht darum, die Organisationen, die in der Regionbereits aktiv sind, zu unterstützen, damit die Ernährung,die Bildung und die Stabilisierung in den bereits vorhan-denen Flüchtlingslagern weiter fortgesetzt werden kön-nen. Das ist ein Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung.Deshalb geht es – weit weg von dem Thema Militärko-operation – um einen ganzheitlichen politischen Ansatzmit dem Oberziel UN-Mandat und starker europäischer
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Beitrag. Das kann Deutschland leisten. Hier müssen wirunsere Interessen formulieren. An dieser Stelle bitte ichauch um entsprechende Unterstützung.Herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die KolleginClaudia Roth.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Der außenpolitische Kompass der BundesrepublikDeutschland war und ist aus gutem Grund anspruchsvoll.Es geht um Wertebasiertheit, die sich in einem Dreieckzwischen Multilateralismus, Frieden und Menschen-rechten sowie globaler Gerechtigkeit bewegt. Wir Grünekönnen einer solchen Ausrichtung folgen – da, wo siestattfindet.Doch bei der Politik gegenüber Saudi-Arabien und derTürkei vermissen wir diese formulierten Ziele schmerz-lich; denn da muss ich schon fragen: Was hat es denn miteiner wertebasierten und an Frieden orientierten Außen-politik zu tun, ein Land wie Saudi-Arabien als sogenann-ten strategischen Partner oder Stabilitätsanker zu päppelnund mit Waffen aufzurüsten, ein Land, das seiner Bevöl-kerung die elementaren Menschen- und Freiheitsrechteverweigert, in dem eine blutrünstige Justiz zahlreicheMenschen hinrichten lässt und das unter anderem denSacharow-Preis-Träger Raif Badawi mit Stockschlägentraktiert?Was hat es mit deutscher oder europäischer Interes-senpolitik zu tun, wenn mit Saudi-Arabien genau dasLand gefördert wird, das die ideologische Grundlage fürDaesh und andere islamistische Fundamentalisten undTerroristen liefert und das den Wahhabismus offensiv inder Welt verbreitet?
Gleichzeitig geben wir aber vor, gegen genau diese Ge-fahr des Terrorismus und des Terrors militärisch in Syri-en vorzugehen.Was hat es mit zukunftsgewandter Realpolitik zu tun,wenn die Bundesregierung auch auf internationaler Ebe-ne keine klare Verurteilung dafür findet, dass Saudi-Ara-bien den Jemen ins Mittelalter zurückbombt, übrigensunter Einsatz völkerrechtswidriger Streubomben?
Statt Kritik geht es wohl um Handelsbeziehungen, umWaffenlieferungen, die übrigens in krassem Widerspruchzu unseren Rüstungsexportlinien stehen,
und um Prestigefeierlichkeiten zusammen mit dem sau-dischen Königshaus.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gleichen Fragenstellen sich mir aber auch mit Blick auf die Türkei. Eszieht sich in der Zwischenzeit eine Blutspur von Diyarba-kir über Suruc und Ankara nach Istanbul, wo ja in diesenTagen deutsche Touristen von einem Selbstmordattentä-ter in den Tod gerissen wurden. Gleichzeitig findet in denkurdischen Gebieten der Türkei de facto ein gnadenloserBürgerkrieg statt, in dem die türkische Regierung mitüber 10 000 Soldaten massiv gegen die eigene Zivilbe-völkerung vorgeht und in dem fast täglich Todesopfer zubeklagen sind – auch heute wieder. Das muss deutlichausgesprochen werden, genauso wie natürlich eine klareKritik an der PKK nötig ist.
Von der Bundesregierung, von der Europäischen Uni-on, von der NATO hören wir dazu aber vor allem nurein lautes Schweigen. Genauso laut ist das Schweigen zuder Entdemokratisierung in der Türkei, wo Vertreter derfreien Presse hinter Gittern sind, Andersdenkende krimi-nalisiert werden, religiöse Minderheiten Unterdrückungerleiden, die Rechte der Opposition ausgehebelt wer-den und es Erdogan vor allem darum geht, die HDP zuschwächen und ihre parlamentarische Kraft zu brechen.Es ist ein Armutszeugnis deutscher Außenpolitik, wennsie aufgrund ihrer innenpolitisch motivierten Abhängig-keit von Erdogan nicht mehr in der Lage ist, an diesenZuständen offensiv Kritik zu üben und eine glasklareHaltung zu formulieren,
oder wenn weiterhin völlig im Nebel bleibt, wie eine Ko-operation mit dem NATO-Partner Türkei in Syrien ausse-hen soll, der doch im Nordirak und in Syrien militärischgegen die Kurden vorgeht, und weiterhin der Verdachtbesteht, dass die Türkei einen Rückzugsraum für Daeshdarstellt.Es ist richtig: Unser eigener Einfluss in der Region istbegrenzt. Es braucht die starken Regionalmächte Türkei,Saudi-Arabien und Iran für eine politische Perspektive,die die Chance zum Frieden in der Region eröffnet.
Deswegen muss auch weiterhin Einfluss auf den notwen-digen Politikwechsel in diesen Ländern genommen wer-den. Politische Einbindung, aktiver Einfluss auf die Öff-nung dieser Länder und ein kritischer Dialog, das mussdoch der Ansatz deutscher Politik sein und eben nicht dieÖkonomisierung der Außenpolitik oder eine Flüchtlings-abwehrpolitik zusammen mit Erdogan.
Dieser andere Ansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen –Einbindung, Einfluss, kritischer Dialog –, stünde tatsäch-lich für eine wertebasierte Außenpolitik.Vielen Dank.
Roderich Kiesewetter
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz
Brunner für die SPD.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist gerade mal et-was mehr als 24 Stunden her, dass Attentäter, vermutlichdes IS, in Istanbul friedliche deutsche Touristen sinnlosin den Tod gerissen haben. Das war ein Attentat, von demich sage, dass es die letzten Zweifler überzeugen muss:Die, die hier angeblich Krieg führen, schrecken vornichts zurück, ihren Terror zu verbreiten, auch nicht vorMoscheen und Plätzen, von denen sie behaupten, dass sieihnen heilig sind. Das sind keine Gläubigen, wie sie sichbezeichnen, sondern das sind Kriminelle, die es mit allenMitteln zu bekämpfen gilt.
Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, auch nichtbei dieser Aktuellen Stunde; denn dazu brauchen wirstrategische Partner. Wir können uns nicht immer aussu-chen, mit wem wir reden, Kollege Gehrcke. Das ist nichtdas Ziel. Und es ist auch nicht die Zeit für Empörungsde-batten und theoretische Spiele im Sandkasten;
das ist die bittere Realität in dieser Welt.
So, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle-gen, ist es nun einmal auch mit der Türkei unter RecepErdogan und mit Saudi-Arabien mit seinem wahhabiti-schen Königshaus. Ja, in Saudi-Arabien regiert ein au-tokratisches, unterdrückerisches Regime, das mit seinemWahhabismus den Nährboden für den IS bildet. Niemandzweifelt daran. Ja, Erdogan, der die Türkei geradewegsins Mittelalter führen will, verfolgt Kurden, tritt die Mei-nungsfreiheit mit Füßen, und niemand in diesem HohenHaus zweifelt daran. Aber ich zweifle wirklich, ob dieLinke, lieber Kollege Gehrcke, den Ernst der internatio-nalen Lage wirklich verstanden hat.
Denn sie wird nie müde, die sogenannten Kriegstreiber,also die NATO, für alles Unheil dieser Welt und für dasim Nahen Osten schon zweimal verantwortlich zu ma-chen – von der Annexion der Krim mal gar nicht zu spre-chen; denn da verschließt sie die Augen. Sie wird nichtmüde, Erdogans autokratische Herrschaft in der Türkeianzuprangern, denunziert jedoch die Kritik an Putins Un-terdrückungssystem als antirussische Einmischung; dasist übrigens alles nachzulesen. Warum wohl? Die Türkeigehört zur NATO, und die NATO will man abschaffen,angeblich zugunsten einer europäischen Sicherheits-struktur mit Russland. Lautstark prangern Sie daher dieHinrichtungen in Saudi-Arabien an, verlangen das Endedeutscher Wirtschaftsbeziehungen zu dem Regime inRiad. Wenn es jedoch um die massenhaft vollstrecktenTodesurteile im Iran geht, höre ich von Ihnen nichts.
Diese Doppelzüngigkeit, meine Kolleginnen und Kol-legen, vergiftet die öffentliche Diskussion. Sie zeigenmit dem Finger auf die einen und verschließen die Au-gen vor den anderen. Verstehen Sie mich richtig: Proble-me müssen benannt werden, sie müssen ausgesprochenwerden, und wir müssen sie angehen. Genau das ist es,was unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier undunser Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel machen: Sieverhandeln, sie bringen Feinde ins Gespräch, sie nutzenalle Möglichkeiten, um eine weitere Eskalation zwischenTeheran und Riad zu verhindern, und sie setzen auch dieMachthaber unter Druck. Sie setzen erstmals seit Jahrenklare Kriterien für Rüstungsexporte; denn sie wissen wiewir alle: Nur mit markigen Sprüchen und Schuldzuwei-sungen kommt die internationale Politik nie und nimmermehr voran.Abschottung, Isolation und das Abbrechen von Kon-takten sind das Gegenteil von dem, was wir jetzt brau-chen. Wem nützt es denn, wenn wir Gesprächsfädenabschneiden und Sanktionen verschärfen, wo es geradejetzt auf das Gespräch ankommt? Was dann passiert,meine Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren, sehen wir an den rhetorischen Fähigkeiten desHerrn Putin. Sonst entwickelt sich da nichts fort.Sollen wir die Kooperation mit der Türkei mit großemTamtam beenden? Erdogan würde sich als Opfer stilisie-ren, sein System eher konsolidiert auf Kosten der Kurdenund der Meinungsfreiheit.Es war richtig, dass wir auch die Rüstungsexportenach Saudi-Arabien eingeschränkt haben. Für Kleinwaf-fen, für Pistolen, Maschinenpistolen und Gewehre geltendie strengsten Regelungen, die wir haben. Ausfuhrge-nehmigungen von G-36-Fabriken nach Saudi-Arabienwurden grundsätzlich nicht mehr erteilt. Das ist unserVerdienst, das Verdienst unserer Regierung. Es ist müh-sam, aber es sind konkrete Schritte. Das ist verantwor-tungsvolle Politik.
Natürlich wären die einfachen Wahrheiten toll. Daraufstürzen sich die Medien, die Hysterie in den sozialen Me-dien und Talkshows gern. Da ist Verschwörung hinter derSache. Doch wir sind die, die sich trauen, das auszuspre-chen. Der ist gut, der ist böse – dass dabei jede Lösungfehlt und dass die Welt ein wenig komplizierter ist, fälltkaum auf. Aber ich kann diese Doppelmoral der Linkennicht mehr hören. Sie generiert sich zum Sprecher einerunterdrückten Wahrheit, ist aber nur noch Megafon vonUnwahrheiten.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Der Kollege Dr. Andreas Nick spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Themenstellung dieser Aktuellen Stunde ist unter
mindestens drei Gesichtspunkten verfehlt: Erstens wer-
den mit der Türkei und Saudi-Arabien zwei Länder auf
eine Stufe gestellt, die nicht miteinander vergleichbar
sind. Zweitens sind unsere Beziehungen zu diesen beiden
Ländern von sehr unterschiedlicher Qualität. Drittens
wird der falsche Eindruck erweckt, militärische Koope-
ration sei die vorrangige Dimension unserer Beziehun-
gen zu diesen beiden Ländern oder gar unserer Außen-
politik insgesamt.
Wenn wir in dieser Woche über die Türkei sprechen,
dann denken wir zuerst an den schrecklichen Terroran-
schlag am Dienstag in Istanbul. Wir sind zutiefst bestürzt
und trauern um die Opfer. Zehn Todesopfer kamen aus
Deutschland, darunter auch ein Ehepaar aus Mainz und
ein Mann aus Bad Kreuznach, meiner Heimat in Rhein-
land-Pfalz. Vor allem sprechen wir den Angehörigen der
Opfer unser Beileid und Mitgefühl aus. Den Verletzten
wünschen wir eine baldige und vollständige Genesung.
Mein Dank gilt aber auch den türkischen Behörden und
Einrichtungen für die Versorgung der Opfer.
Die Wahl des Tatorts ist symbolkräftig und beson-
ders perfide. Dort, im touristischen Zentrum Istanbuls,
zwischen Hagia Sophia, Blauer Moschee, Obelisk und
Deutschem Brunnen, sind die Spuren der vielfältigen
und großartigen Geschichte gegenwärtig. Hier begegnen
sich Orient und Okzident in unvergleichlicher Weise. In-
sofern zielt dieser Anschlag nicht nur auf den Tourismus
als wichtigen Wirtschaftsfaktor der Türkei, sondern be-
wusst auch auf die Rolle der Türkei als Brücke zwischen
den Kulturen und Ort der Begegnung.
Die Türkei ist NATO-Partner und eng an den Westen
gebunden. Seit Jahrzehnten hat sie sich als verlässlicher
Partner im Bündnis erwiesen, und sie befindet sich in
Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, auch
wenn deren Ergebnis offen ist. Bei aller berechtigten Kri-
tik, die man an bestimmten innenpolitischen Entwicklun-
gen in der Türkei, etwa im Bereich der Meinungs- und
Pressefreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und des Umgangs
mit Minderheiten üben kann – das habe ich im vergan-
genen Jahr nicht nur von dieser Stelle aus wiederholt ge-
tan –, bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass die Türkei
ein demokratischer Staat ist, dessen Präsident und dessen
Regierung aus demokratischen Wahlen hervorgegangen
sind. Natürlich beobachten wir manche aktuellen innenpo-
litischen Entwicklungen im Land mit Sorge. Es ist richtig:
Als NATO-Partner und EU-Beitrittskandidat muss sich die
Türkei an höheren Maßstäben messen lassen als andere.
Aber eines werden wir sicherlich nicht tun: Wir wollen
und werden uns nicht durch einseitige Parteinahmen zum
Schiedsrichter der türkischen Innenpolitik machen lassen.
Wir bedauern ausdrücklich, dass der Prozess der Ver-
söhnung mit der kurdischen Minderheit zum Erliegen
gekommen ist und dass es stattdessen zu neuen Ausbrü-
chen massiver Gewalt kam. Aber wir müssen festhalten:
Auch nach unserer Rechtsauffassung ist die PKK eine
terroristische und verfassungswidrige Organisation. Wir
müssen auch feststellen, dass gewaltbereite Jugendliche
der PKK-Jugend in einigen Regionen für Intifada-ähnli-
che Zustände gesorgt haben. Natürlich ist die Verhältnis-
mäßigkeit der Reaktion des türkischen Staates mehr als
fragwürdig.
Unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg eines in-
nerstaatlichen Versöhnungsprozesses sind aber zwei Din-
ge, nämlich einerseits die Offenheit für stärkere regionale
und kulturelle Autonomien in den kurdischen Gebieten,
andererseits eben auch das klare Bekenntnis der kurdi-
schen Vertreter zum Gewaltverzicht und zur territorialen
Integrität der Türkei. Wir appellieren eindringlich an alle
Beteiligten, den Versöhnungsprozess nicht aufzugeben,
sondern wiederzubeleben.
Die Türkei ist und bleibt für uns ein strategischer Part-
ner an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Das
geht über die aktuellen Bemühungen bei den Flüchtlings-
themen weit hinaus. Selbstverständlich spielt auch die
militärische Kooperation in unseren Beziehungen eine
Rolle, etwa bei der Nutzung der Militärbasis in Incirlik
im Kampf gegen den IS. Aber unsere Beziehungen zur
Türkei sind vielfältig. Sie betreffen die gesamte Band-
breite wirtschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher
und gesellschaftlicher Zusammenarbeit und Begegnung.
Die deutsch-türkischen Regierungskonsultationen später
in diesem Monat zeigen dies deutlich. Ich hoffe, dass wir
dort neue Initiativen auf den Weg bringen können, bis
hin zu Fragen des Jugendaustauschs und der besseren
Zusammenarbeit in der Auswärtigen Kulturpolitik, zum
Beispiel im Rahmen eines Engagements deutscher Insti-
tutionen in der Bildungsarbeit für Kinder und Jugendli-
che im Flüchtlingsbereich.
Es bleibt festzustellen: Die militärische Kooperation
steht nicht im Mittelpunkt unserer Beziehungen – nicht
zur Türkei und schon gar nicht zu Saudi-Arabien.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Bundesregierung – so haben wir es von den koali-tionstragenden Fraktionen gehört – will weiterhin dieBundeswehr, Rüstung und Waffen in die Türkei schi-cken. Doch was für ein Land ist eigentlich die Türkei?Wie sieht es in diesem Land aus?Die Türkei ist das Land, in dem der türkische Staats-präsident Erdogan einen Krieg gegen die Kurden führt.Das Auswärtige Amt hat gestern im Auswärtigen Aus-
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schuss selbst betont, dass schon über 200 Zivilisten vontürkischen Sicherheitskräften getötet worden sind.Die Türkei ist das Land, in dem gestern Herr Erdogan1 128 Akademiker, die an türkischen Universitäten leh-ren, mit Entlassung und Strafverfolgung bedroht hat. Undwarum? Weil sie einen Appell für Freiheit und Deeska-lation insbesondere im Osten der Türkei initiiert haben.Die Türkei, das ist das Land, das die Grenze für wei-teren Nachschub von Kämpfern und Waffen für die Ter-rororganisation „Islamischer Staat“ in Syrien offen hält.Herr de Maizière, es geht nicht um eine 1 000 Kilome-ter lange Grenze, wie Sie gestern im Fernsehen erklärten,sondern es geht lediglich um eine 100 Kilometer langeGrenze zum IS. Und Sie wollen uns hier weismachen,dass die zweitgrößte NATO-Armee mit 900 000 Sicher-heitskräften seit Jahren nicht in der Lage ist, eine 100 Ki-lometer lange Grenze zu schließen? Ich biete Ihnen allenhier in diesem Haus an, mit Ihnen in die Region zu rei-sen. Ich werde Ihnen zeigen, wie kurz die Grenze ist undwie einfach man die Grenze schließen könnte, wenn manden Nachschub für den IS tatsächlich stoppen wollte.
Die Türkei ist das Land, in dem der „Islamische Staat“regelrecht hochgezüchtet wurde. Die Türkei ist das Land,von dem der Bundesnachrichtendienst berichtet, dass esWaffen an islamistische Terrorbanden in Syrien liefert.Die Türkei ist das Land, in dem der Chefredakteur derTageszeitung Cumhuryiet, Can Dündar, seit fast zweiMonaten im Gefängnis sitzt, weil er Dokumente ver-öffentlicht hat, die die Verwicklung der türkischen Re-gierung in die Waffenlieferungen an islamistische Ter-rormilizen in Syrien belegen. Die Türkei ist das Land,das unter Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention undinternationalen Rechts syrische Flüchtlinge in das Bür-gerkriegsland abschiebt und dafür von der EU und vonIhnen mit 3 Milliarden Euro belohnt wird. Ich weise aufdie heutige Monitor-Sendung in der ARD um 21.45 Uhrhin, in der genau hierfür Belege geliefert werden.Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierungaus dieser Situation? Sie zieht gar keine Konsequenzendaraus. Ich sage Ihnen: Wer will, dass deutsche Waffenweiterhin in die Türkei Erdogans geliefert werden, der istnicht nur politisch verantwortlich für diese Lieferungen,mit denen Erdogan Krieg gegen die Kurden führt. Er istmeiner Meinung nach auch persönlich verantwortlich. Erträgt persönlich eine Mitverantwortung für die Verbre-chen, die an der Zivilbevölkerung im Osten der Türkeibegangen werden.
Sie legen mit an gegen die Kurden in der Türkei. Deshalbfordern wir von der Linken: Stoppen Sie die Waffenex-porte in die Türkei! Keinen Cent und keine Waffe an denTerrorpaten Erdogan!
Die Bundesregierung will auch weiter Waffen an denTerrorstaat Saudi-Arabien liefern. Wie sieht die Situationdort aus? Massenhinrichtungen, man muss sagen: Mas-senschlächterei, wie beim „Islamischen Staat“, ein An-griffskrieg gegen den Jemen, Unterdrückung der eigenenBevölkerung, Export islamistischen Terrors weltweit undDestabilisierung der gesamten Region, wie selbst derBundesnachrichtendienst mitgeteilt hat. – So sieht es aus,wenn man nur ein paar Stichpunkte nennt. Und Sie? Wasmachen Sie? Sie machen weiter wie bisher und liefernWaffen an diese blutige Diktatur in Saudi-Arabien.Als ich vor Kurzem auf einer Reise mit Herrn Frank-Walter Steinmeier versuchte, ein Treffen mit dem geist-lichen Führer der Schiiten Nimr al-Nimr und seinem20-jährigen Neffen Ali al-Nimr, der ebenfalls verurteiltwurde, zu organisieren, hat mir das Auswärtige Amt die-sen Termin versagt. Und wissen Sie, mit welcher Begrün-dung? Sie meinten, der Schlächter Salman, der Königdieser monarchistischen Diktatur, würde eventuell ver-stimmt werden, wenn eine Abgeordnete der Oppositiones aus menschenrechtspolitischer Sicht für notwendigerachtet, sich mit diesen Gefangenen zu treffen. Ich findeeinen solchen Umgang mit einem saudischen Terrorstaatunerträglich. Das zeigt, dass Ihnen jedweder Wertekom-pass verloren gegangen ist.
Sie haben keine Koordinaten mehr in Ihrer Außenpo-litik. Die Linke fordert Sie deshalb auf: Kehren Sie um!Eine Außenpolitik muss sich an Humanität, Gerechtig-keit und der Einhaltung von Menschenrechten ausrich-ten. Deshalb: Stoppen Sie die Rüstungsexporte! StoppenSie die Waffenlieferungen an die Türkei und Saudi-Ara-bien! Dabei – da bin ich mir sicher – haben Sie auf jedenFall die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung.Hören Sie auf, diese Terrorpaten zu unterstützen!Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Dorothee Schlegel spricht jetzt für
die SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle sind ent-setzt und schockiert über die terroristischen Gewaltaktedes IS, die unschuldigen Menschen – vorgestern in Istan-bul waren viele Deutsche darunter – das Leben rauben.Der Terror rückt näher und kann überall geschehen. Die-ses Mal wurde das Herz der Türkei getroffen, Istanbul,die türkische Stadt, die Europa am nächsten ist. Der men-schenverachtende IS-Terror bedroht uns alle. In unsererFreiheit und unserer Lebensweise lassen wir uns abernicht einschränken. Hierzu sei Goethe zitiert:Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten, nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, ...Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben gesternim Europaausschuss mit Staatsminister Michael Roth in-Sevim Dağdelen
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tensiv über die aktuelle Situation in der Türkei – darauflege ich nun den Fokus – diskutiert. Die Lage in der Tür-kei mit Sorge betrachtend waren wir uns einig, dass einstruktureller Dialog mehr denn je nötig und wichtig ist.Die Türkei ist für mich dabei nicht nur auf den Staatsprä-sidenten zu reduzieren.Mit David Bowie, der jüngst verstorben ist, könnte manfragen: Where are we now? Die EU und die Türkei stehengemeinsam an einem Scheideweg. Ohne Not wurde derTürkei in den letzten Jahren auch von der schwarz-gel-ben Bundesregierung die Tür zum EU-Beitritt vor derNase zugeschlagen. Das war ein gravierender Fehler.Unter Gerhard Schröder, also vor mehr als zehn Jahren,waren wir, was den Beitrittsprozess der Türkei betrifft,viel weiter. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses istes für die EU momentan zweifellos kompliziert, auf dieTürkei zuzugehen; denn die Türkei macht – das habenmeine Vorredner schon gesagt – erhebliche Rückschrittein den Bereichen Meinungs- und Pressefreiheit, Rechts-staatlichkeit und Minderheitenschutz. Doch wir müssenebenso in den Fokus nehmen, welche gemeinsamen Inte-ressen – dabei geht es um mehr als um militärische undSicherheitsinteressen – Europa und die Türkei bei ihrerZusammenarbeit in der Flüchtlingskrise verfolgen. Mitdem gemeinsamen Aktionsplan wurde im EU-Türkei-Di-alog am 29. November letzten Jahres vereinbart, dassAnkara das Rückübernahmeabkommen zwischen der EUund der Türkei zum Juli 2016 implementieren wird.Die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, diesofortige Eröffnung des Kapitels zur Wirtschafts- undWährungspolitik und die hoffentlich baldige Aufnahmeder Verhandlungen über die Kapitel Rechtsstaatlichkeitund Menschenrechte liegen im ureigenen Interesse Eu-ropas. Darum ist es wichtig, dass die EU halbjährlichGipfeltreffen mit der Türkei abhalten will; darum istes richtig, dass die EU einen ständigen und hochrangigbesetzten politischen Dialog einrichtet, beginnend mitWirtschafts- und Energiefragen.Vielfach wurde auch hier kritisiert, dass der EU-Beitrittinstrumentalisiert werde. Das ist nicht falsch. Menschen-rechtsorganisationen sprachen gar von einem schmut-zigen Deal sowie dem Ausverkauf europäischer Werte.Aber das sehe ich nicht so. Wir dürfen nicht vergessen,dass sich die EU aus außen- und sicherheitspolitischenGründen für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochenhat. Diese Interessen stehen gerade heute, in Zeiten desStaatenverfalls im Nahen Osten und angesichts seinerAuswirkungen, vordringlicher denn je im Raum. DieTürkei spielt als Haupttransitland eine Schlüsselrolle inder aktuellen Flüchtlingsbewegung. Die EU ist derzeitstärker denn je auf die Türkei angewiesen, stärker alsumgekehrt. Darum war es wichtig, die Türkei wieder füreine Kooperation zu gewinnen. Die von Brüssel zugesag-ten sofortigen und längerfristigen finanziellen Hilfen fürdie Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei müs-sen jetzt aber auch fließen. Alle EU-Mitgliedstaaten sinddringend gehalten, ihre Hausaufgaben zu machen.Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprachvorgestern Abend bei der Auftaktveranstaltung zum OSZE-Vorsitz Deutschlands von Kultur durch Dialogund von Dialog durch Kultur. So ist es: Am Dialog aufallen Ebenen geht kein Weg vorbei. Wir sollten daher dieFortführung des Beitrittsprozesses als Chance begreifen.Denn trotz des Spannungsverhältnisses wollen wir aufein gutes Verhältnis zur Türkei nicht verzichten.
Dabei vergessen wir nicht, Rechtsstaatlichkeit undMenschenrechte einzufordern, auch mit Blick auf dieHinweise auf die Abschiebungen von syrischen und ira-kischen Flüchtlingen an der türkischen Grenze und diebesorgniserregenden Entwicklungen im Südosten derTürkei. Auch die internen Friedensverhandlungen müs-sen dort wieder aufgenommen und fortgesetzt werden.Ich komme zum Schluss. Parallel zu jeglicher Mili-tärkooperation in und mit der Türkei müssen auch dieKooperation und Kommunikation auf diplomatischerund zwischenmenschlicher Ebene fortgeführt werden.Hier müssen Deutschland und die EU ihr ganzes diplo-matisches Gewicht in die Waagschale werfen. Es ist klar:Das Instrument Beitrittsverhandlungen ist, um im militä-rischen Jargon zu bleiben, das schärfste Schwert der EU.Denn es gilt das Primat der Friedenssicherung.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist Kollege Omid Nouripour für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:Ich vergaß, dich darüber zu informieren, dass ichmich mit deiner Abwesenheit praktisch abgefundenhabe, dass die Träume sich auf dem Weg zu deinenWünschen verirrt haben, dass mein Gedächtnis sichlangsam zersetzt und dass ich noch immer das Lichtverfolge – nicht weil ich den Wunsch habe, es zusehen, sondern weil die Dunkelheit beängstigendbleibt, auch wenn wir uns daran gewöhnt haben!Das sind Verse des palästinensisch-saudischen Dich-ters Ashraf Fayadh. Ein Dichter kann sich nur in Wortenund Bildern ausdrücken. Genau das hat er getan. Dafürist er in Saudi-Arabien zum Tode verurteilt worden.Heute gibt es weltweit einen Tag, an dem Menschen mitLesungen an ihn erinnern, um seinen Fall nicht in Ver-gessenheit geraten zu lassen. Dieser Fall wie auch vieleandere, die wir kennen, Raif Badawi, al-Nimr junior oderauch der des exekutierten Ajatollah, zeigen, mit welchschwieriger Situation wir es zu tun haben, wenn wir überSaudi-Arabien sprechen.Wenn wir lautstark über eigene Werte sprechen, dannist es wichtig, dass wir uns selbst dabei ernst nehmen.Das ist eine Frage der Selbstachtung. Wer sich selbstnicht achtet, der wird auch nicht ernst genommen. Des-halb ist eine Außenpolitik ohne Werte grundsätzlich eineschlechte Außenpolitik. Ja, wir brauchen Diplomatie. Ja,wir müssen mit Saudi-Arabien sprechen und mit der Tür-Dr. Dorothee Schlegel
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kei sowieso. Ja, ich teile, was mehrfach gesagt wordenist: Die Gleichsetzung dieser beiden Länder ist völligfalsch. Das ist richtig. Die Frage ist nur: Wie machen wirDiplomatie, wie reden wir mit diesen Ländern?Im Falle der Türkei zitiere ich den CDU-Generalse-kretär Tauber aus 2014 – da gab es, wie so oft, wiedereinmal eine Entgleisung von Herrn Erdogan –:Diese Entgleisungen zeigen einmal mehr, wie weniger von Freiheit und Pluralität hält.Der Kollege Nick hat vorhin gesagt, dass wir uns aufkeinen Fall in die innenpolitischen Auseinandersetzun-gen der Türkei einmischen wollen. Dann frage ich mich:Warum fährt dann die Frau Bundeskanzlerin eine Wo-che vor der Wahl hin und macht faktisch Wahlkampf fürErdogan?
Dieses Land steht mindestens an der Grenze zum Bür-gerkrieg. Wir alle wissen, wer diesen angezettelt hat. Wiralle wissen, dass die PKK eine fürchterliche Organisati-on ist. Aber wir müssen natürlich auch zur Kenntnis neh-men, dass so viele Journalisten in der Türkei in Gefäng-nissen sitzen wie seit Dekaden nicht mehr.Wir müssen, wenn wir unsere Werte nicht aufgebenwollen, natürlich auch realistisch sein. Stabilitätsanker:Saudi-Arabien, Katar, Ägypten, Jordanien und der Nord-irak – all diese Länder und Regionen wurden von Kolle-ginnen und Kollegen der CDU/CSU zu Stabilitätsankernausgerufen. Bei so vielen Stabilitätsankern fragt mansich: Wo ist das Problem im Nahen Osten? Aber geradeim Falle von Saudi-Arabien ist die Frage, ob wir es wirk-lich mit einem Stabilitätsanker zu tun haben.Der Kollege Brunner hat gerade die Menschenrechts-verletzungen im Iran angesprochen. Ich glaube, ich ge-höre zu den Menschen, denen man diese nicht beibringenmuss. Sie sind verheerend und brutal. Aber, mit Verlaub,das ist der Grund, warum hier niemand fordert, dass wireine strategische Partnerschaft mit dem Iran unterhalten,und warum hier niemand fordert, dass wir Waffen in denIran exportieren.
Das ist genau das, was wir auch für die Türkei und Sau-di-Arabien verlangen.Seit dem 26. März 2015 ist Saudi-Arabien im Je-men-Krieg involviert. Diesen haben sie nicht begonnen;das stimmt. Aber die Gründe für das, was dort passiert,muss man sich einfach mal anschauen: Das ist ein Thron-folgekrieg in Saudi-Arabien selbst. Es gibt mindestensdrei Personen, die in dem Land König werden wollen.Als Nebenschauplatz wird ein Land ruiniert.Allein seit August letzten Jahres wurden fünf Schulenweggebombt, zuletzt eine Blindenschule, UN-Flücht-lingslager, Krankenhäuser von „Ärzte ohne Grenzen“,Bibliotheken, Milch-, Zement- und Getränkefabri-ken, Ausflugslokale, mehrere Hochzeitsgesellschaften,Schwimmbäder, Fußballplätze, Kinderspielplätze undWeltkulturerbestätten, just diese Woche ein ganzer Stra-ßenzug in Sanaa.Angesichts dieser Ereignisse – ich zitiere –sind wir doch froh, dass wir mit deutscher Unter-stützung einen Beitrag dazu leisten können, dassFrieden in der Welt erhalten bzw. geschaffen wird.Denn – ich zitiere –Saudi-Arabien ist ja wohl unzweideutig seit Jahr-zehnten ein verlässlicher Partner des Westens ...Das sagte hier im Plenum Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.Volker Kauder:Saudi-Arabien ist in der Region sicher ein stabilisie-render Faktor.Das hat er vor dem Jemen-Krieg gesagt. Aber man mussauch wissen, dass relativ kurz bevor er das gesagt hat,saudische Panzer die freiheitsliebenden Demonstrantenin Bahrain niedergewalzt haben. Das ist einfach – es tutmir leid – jenseits und entfernt von „sich selbst ernst neh-men“, das ist jenseits und entfernt von den Gesetzen indiesem Land, und das ist jenseits und entfernt von Selbst-achtung und Anstand. Es ist realitätsfremd, also das, wasSie uns immer vorwerfen.
Es ist genauso realitätsfremd, dass deutsche Waffenvon den Saudis irgendwo über Al-Qaida-Gebiet in Kistenabgeworfen werden, damit bitte irgendjemand die Huthisbekämpfen möge. Ich glaube nicht, dass es für die Sicher-heit der Bundesrepublik Deutschland von großem Vorteilist, wenn al-Qaida deutsche Waffen bekommt. Deshalbgilt es, die Augen aufzumachen, sich anzuschauen, wasdort passiert, und die Stabilitätspartnerschaft bzw. diestrategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien endlich zubeenden. Reden muss man – ja, bitte, unbedingt –, aberwir wollen keine Rüstungsexporte und keine Partner-schaft, die so ist, wie sie zurzeit ist.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Volker Mosblech hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sicherheitspo-litische Lage im Nahen und Mittleren Osten zeigt sich in-stabiler denn je. Bereits im vergangenen Herbst fielen inAnkara über 100 Menschen Selbstmordattentätern zumOpfer. Erst vorgestern starben bei einem erneuten Terror-anschlag zehn deutsche Bundesbürger in Istanbul. DasAttentat in der türkischen Metropole hat uns alle, denkeOmid Nouripour
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ich, tief getroffen. Dennoch dürfen wir uns durch Terror,Mord und Gewalt nicht verängstigen lassen. Nach demerneuten Anschlag in der Türkei ist es selbstverständ-lich, dass wir nun enger denn je an der Seite unseres NATO-Partners stehen.Die Bedrohungslage zeigt sich unverändert hoch; siehat auch Deutschland und deutsche Bürgerinnen undBürger längst erreicht. Ein Blick auf den Nahen undMittleren Osten zeigt wachsende Instabilität, ausgelöstdurch schwelende Konflikte und steigende zwischen-staatliche Spannungen. Neben dem seit über fünf Jahrenwütenden Bürgerkrieg in Syrien mit einer schier unendli-chen Anzahl verschiedener Konfliktparteien nehmen dieSpannungen zwischen den beiden Regionalmächten Sau-di-Arabien und Iran mehr und mehr zu. Hinzu kommendie ungelösten Konflikte zwischen dem jüdischen StaatIsrael und den Palästinensern sowie der jüngst entfachteKrieg im Jemen.Angesichts dieser prekären sicherheitspolitischenSituation an der südöstlichen europäischen Peripherie –speziell für unseren NATO-Bündnispartner Türkei –kann es nur in unserem ureigenen Interesse liegen, unsalle möglichen Gesprächskanäle offenzuhalten. UnserFokus muss hierbei zuerst auf unserem BündnispartnerTürkei liegen. Gemeinsam mit Ankara sollten wir uns da-rauf konzentrieren, auf die Konflikte Einfluss zu nehmen,die uns direkt betreffen und auf die wir Einfluss haben.Dabei spielt der Syrien-Konflikt als Ursache der Flucht-bewegungen nach Europa für uns die entscheidende Rol-le.Generell nimmt die Türkei, allein geografisch, fürdie Europäische Union eine außerordentlich wichtigeStellung ein. Viele potenzielle Gefahren und destabili-sierende Faktoren für Europa haben ihren Ursprung indirekter Nachbarschaft der Türkei. Das macht unserenNATO-Partner zu einem Schlüsselakteur in der Region.Dieser Verantwortung ist sich das Land auch bewusst.Die Türkei ist vom Terrorismus und vom Krieg in Syrienlänger und stärker betroffen als Europa und Deutschlandund ist zudem der einzige NATO-Partner in der Krisen-region. Das Land hat darüber hinaus eine Schlüsselrolle,wenn es um die Steuerung des Flüchtlingsstroms Rich-tung Europa geht. Mit deutlich über 2 Millionen Men-schen hat die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen alsjedes andere NATO-Mitglied.So gesehen haben wir ein gemeinsames Problem unddamit ein gemeinsames Interesse, dieses zu lösen oderzumindest einzudämmen. Das geht vom Syrien-Konfliktselbst über die Sicherung der Außengrenzen der Europä-ischen Union bis hin zur Aufrechterhaltung des Küsten-schutzes gegenüber Schleppern und Menschenhändlern.Selbstverständlich kann uns ebenso die innenpoliti-sche Situation in der Türkei nicht egal sein. Wir müssendaher auch immer betonen – und das tut unsere Bundes-regierung –, dass die Beziehungen Deutschlands und derEuropäischen Union zur Türkei immer auch von einemauf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie basierenden po-litischen System abhängen.Es bringt uns nichts, wenn wir nun die Gespräche mitjedem Staat abbrechen, der nicht nach unseren Wertvor-stellungen handelt.
Ich halte es für unabdingbar, alle Möglichkeiten zu nut-zen, um den Syrien-Konflikt und seine Auswirkungeneinzudämmen und deeskalierend auf die nun auch ge-spannteren Beziehungen zwischen Saudi-Arabien unddem Iran einzuwirken.
Ein Einfrieren der Beziehungen mit dem anderen hiergenannten Staat, Saudi-Arabien, würde auch unsere Ver-handlungsposition im Hinblick auf Syrien schwächen.Es kann doch nur in unserem Interesse sein, die Bezie-hungen zu Saudi-Arabien aufrechtzuerhalten. Sollten wirden Handel und die diplomatischen Beziehungen dorthinabbrechen, würden wir zugleich auch alle Möglichkeitenverringern, uns für eine Stabilisierung der Region einzu-setzen.
Eine weitere Eskalation der Beziehungen zwischen Sau-di-Arabien und dem Iran wäre für die gesamte Regionfatal.Deutschland hat ein großes Interesse an der Stabilitätim Nahen und Mittleren Osten, insbesondere im Hinblickauf die Wiener Verhandlungen über den Bürgerkrieg inSyrien. Deshalb sollten und müssen wir die Lage dort re-alistisch einschätzen.Der Konflikt in Syrien und die daraus folgende Flucht-bewegung nach Europa werden uns noch längere Zeitbeschäftigen. Als Schlussfolgerung daraus sollten wirgerade nicht ziehen, alle Gespräche in und Verbindungenzu den Konfliktregionen abzubrechen, um uns selbst aufdie Schulter klopfen zu können und uns besser zu fühlen.Insofern kann ich die Position der Bundesregierung nurweiterhin unterstützen: Nur durch eine fortgesetzte Mi-litärkooperation mit Saudi-Arabien und der Türkei kannwieder eine Balance erreicht werden.Unser Ziel lautet, die Region zu stabilisieren und un-sere Werte und Interessen in der Region durchzusetzen.Dies kann nur erreicht werden, wenn wir uns mit denAkteuren in den Krisenregionen auseinandersetzen. Vorallem unser NATO-Partner Türkei übernimmt dabei einebesondere Verantwortung.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hitschler fürdie SPD.
Volker Mosblech
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Diese Rede heute zu halten, fällt nicht leicht.Einerseits ist das Thema dieser Debatte eines von Zwi-schentönen, von Grau, andererseits ist es schwer, dieseDebatte von dem schrecklichen Verbrechen in Istanbulvor zwei Tagen nicht einfärben zu lassen – in Schwarz.Es ist schwer, nicht nach scheinbar einfachen Lösungenfür komplexe Probleme zu suchen. Aber genau für dieseReflexion sind wir hier. Es ist unsere Aufgabe, eben nichtin Schwarz-und-Weiß-Schablonen zu denken.Ähnlich nimmt unser Land seine außenpolitische Ver-antwortung wahr. Wir bemühen uns, für andere Staatenein guter Gesprächs-, Handels- und Bündnispartner zusein, etwa für die Türkei. Neben einer langen bilatera-len Partnerschaft, ja Freundschaft verbindet uns dieMitgliedschaft in der NATO. Im Rahmen dieses Ver-teidigungsbündnisses kooperieren Berlin und Ankaraselbstverständlich auch militärisch miteinander. Wir ste-hen an der Seite unseres Partnerlandes, wenn dieses an-gegriffen wird. Das war in der Vergangenheit so, das istauch heute so, und das sollte nach Möglichkeit auch inder Zukunft so sein.Wir müssen gerade beim Kampf gegen den islamis-tischen Terrorismus noch stärker mit unserem Partnerkooperieren. Dies muss auch ein Resultat des feigen An-schlags von Istanbul sein: noch stärker zusammenzuste-hen.Und jetzt kommen die Grautöne: Die Türkei ist keinperfekter Partner – wenn es so etwas überhaupt gibt. Injüngster Zeit hat sich Ankara zunehmend von unseremWertekanon wegbewegt. Innenpolitisch werden Rechts-staatlichkeit und Demokratie immer weiter beschnitten.Der Kampf gegen den IS wird missbraucht, um denKrieg gegen die Kurden weiter aufflammen zu lassen.Grauenvolle Nachrichten dazu erreichen uns jeden Tag.Gleichzeitig konnte man den bisherigen nichtmilitäri-schen Einsatz der Türkei gegen den IS, etwa die Kontrol-le des Grenzverkehrs oder die Unterbindung des Erdöl-schmuggels, bestenfalls als halbherzig bezeichnen. Dasscheint jetzt zunehmend zum Problem für unseren Partnerzu werden. Gerade in dieser Situation wäre es eine ver-antwortungslose und falsche Antwort, die Zusammenar-beit mit der Türkei einzustellen. Lassen Sie uns – geradeals Parlamentarier – lieber unsere Gesprächskanäle nut-zen, um Veränderungen und Umdenken herbeizuführen,Kolleginnen und Kollegen!
Auf der anderen Seite sehen wir Saudi-Arabien. DasLand steht am Scheideweg. Lange Zeit hat das innenpo-litische Rezept „vermeintlicher Wohlstand gegen Un-terwerfung“ funktioniert. Dies scheint sich geändert zuhaben. Die Devisenreserven des Landes nehmen starkab, die Aussichten für eine gute wirtschaftliche Zukunftnicht gerade zu. Ökonomische Reformen sind bereits inArbeit, aber leider gibt es noch keine Anzeichen einesbegleitenden gesellschaftlichen Reformprozesses. ImGegenteil: Seit einer Gesetzesverschärfung im Jahr 2014kann jeder Widerspruch zur Politik der Herrscherfami-lie als Terrorismus verfolgt werden. Im ersten Jahr derRegentschaft des neuen Königs Salman sind mehr Men-schen hingerichtet worden als in den 20 Jahren zuvor.Bei den Frauenrechten hat sich nichts zum Positiven hinverändert.Auf diese Entwicklungen müssen wir Einfluss neh-men, Kolleginnen und Kollegen. Auch hier kommen wirerneut zu Grau. Wir brauchen Saudi-Arabien, um dieKonflikte in der Region zu lösen. Nicht zuletzt bei denWiener Gesprächen zur Beendigung des Syrien-Kon-flikts werden Vertreter Riads mit am Tisch sitzen. Abergerade deshalb dürfen wir nicht wegsehen. Wir müssendeutlich über die bestehenden Gesprächskanäle zumAusdruck bringen, dass die Entwicklung in diesem Landnicht dazu führen wird, dass wir teilnahmslos an derSeite stehen und wegschauen, wenn Menschen geköpftund Menschenrechte missachtet werden. Gerade des-halb ist es gut, dass unser Außenminister Frank-WalterSteinmeier die offenen Gesprächskanäle nutzt, um diesauch an Saudi-Arabien weiterzugeben.
Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wegschauen,Gespräche beenden und sich wegdrehen – das wäre ge-nau das falsche Rezept.Kolleginnen und Kollegen, der Scheideweg Sau-di-Arabiens sollte für uns auch als Chance verstandenwerden, unseren begrenzten Einfluss zu nutzen, um posi-tive Veränderungen zu befördern. Erste Schritte in dieseRichtung ist Bundeswirtschaftsminister Gabriel im ver-gangenen Jahr bereits gegangen. Rüstungskooperationenwurden stark eingeschränkt. Und das ist auch gut so.
Diese Schritte waren gerechtfertigt und werden eine res-triktive Linie zum Standard künftiger militärischer Ko-operation machen. Auch hier, Kolleginnen und Kollegen,dürfen wir das offene Wort nicht scheuen.Deshalb noch ein weiteres offenes Wort. Lassen Sieuns auch bei der Massenvernichtungswaffe Nummereins über weitere Schritte diskutieren, den Kleinwaf-fen. Die Bundesregierung hat hierzu erste Änderungeneingebracht. Ich meine aber, es ist an der Zeit, einmalgrundsätzlich über dieses Thema nachzudenken und denExport von Kleinwaffen aus Deutschland noch deutlicherzu begrenzen – gerade in diese Region.
Zwischen Partnern muss es möglich sein, kritischePunkte deutlich anzusprechen. Aber lassen Sie uns nichtin ein Schwarz-Weiß-Denken verfallen. Erinnern Sie sichdaran, dass ich von Grautönen gesprochen habe. JedwedeKooperation auf militärischer Ebene abzubrechen, wirdunseren Einfluss weder in Riad noch in Ankara stärken.Nutzen wir Kooperation dort, wo wir dadurch Einflussgewinnen und Positives bewirken können. Aber lassenSie uns Kooperationen überdenken, wenn dies nichtmehr der Fall ist.Die Welt ist nun einmal nicht einfach nur Schwarzund Weiß. Eine verantwortungsbewusste Politik sollte
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deshalb weder in Schwarz und Weiß denken, noch solltesie nach diesem zu einfachen Prinzip handeln. Man kannes sich nämlich auch zu einfach machen. Verfolgen wirbesser auch weiterhin eine Politik des klugen Abwägensund der wohlüberlegten Entscheidungen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl für die
CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir an Saudi-Arabien und die Türkei denken, den-ken wir auch an unsere sicherheitspolitische Strategiesowie an jahrelange Kooperationen in diesem Bereich.Die Türkei ist – das wissen wir – unser NATO-Partner.Daher haben wir auch als Mitglied der NATO ein natür-liches Interesse an der Stabilität der Süd-Ost-Flanke desBündnisses. Wir haben auch immer unseren Beitrag zurSicherheit geleistet. Das geschah auch durch die Statio-nierung des Patriot-Raketenabwehrsystems im Rahmender Mission Active Fence zum Schutz vor syrischenLuftangriffen.Zurzeit stellt uns die Türkei in unserer Funktion alsMitglied der Anti-IS-Koalition den LuftwaffenstützpunktIncirlik zur Verfügung, von wo aus seit letzter Woche un-sere Aufklärungstornados Richtung Syrien fliegen.Leider gibt es aber auch die andere Seite. Das immeraggressivere Verhalten der türkischen Sicherheitskräf-te gegen die Kurden im Südosten der Türkei, also im NATO-Raum, führt zu Instabilität. So legitim das Sicher-heitsinteresse der Türkei in Bezug auf die Aktionen derPKK auch sein mag, so hat es doch den Anschein, dassbei Erdogan die Bekämpfung des IS nicht im Vorder-grund steht, sondern dass dies als Rechtfertigung dafürbenutzt wird, um seine eigenen politischen Ziele durch-zusetzen, ein weiteres autonomes Kurdengebiet wie imNorden Iraks zu verhindern.Wir müssen uns schon fragen: Warum ist es nichtmöglich, die syrische Grenze zu schließen, um den Nach-schub an Kämpfern und auch den Nachschub an Ausrüs-tung nach Syrien hundertprozentig zu unterbinden?
Die Türkei hat sich als Transitland und in der Vergangen-heit leider auch als Rückzugsgebiet für Dschihadisten zurVerfügung gestellt.
Das heißt natürlich auch, dass inzwischen über1 000 Schläfer allein in der Türkei zu finden sind. Dahermüssen wir auch als NATO-Bündnispartner Gesprächemit der Türkei führen und sie auffordern, Eskalationenim Kurdengebiet, Vorgehen gegen die Zivilbevölkerungzu unterlassen und die Verhandlungen mit der PKK wie-der aufzunehmen.Kommen wir zu Saudi-Arabien. Man muss sehen,dass dieses Land in der Vergangenheit ein unverzicht-barer Partner zur Beilegung von Konflikten in dieserRegion war. Wir alle wissen, dass eine Beendigung desSyrien-Konflikts, der jetzt schon über fünf Jahre andau-ert, bei dem über 280 000 Tote zu beklagen sind und derzu Millionen von Flüchtlingen geführt hat, im InteresseDeutschlands ist. Wir wissen auch: Um eine Beendigungdieses Bürgerkrieges zu erreichen, brauchen wir die Ko-operation mit Iran und mit Saudi-Arabien. Ich habe auchIran angesprochen, ein Land, das dem Regime AssadGeld, Waffen und Truppen zur Verfügung stellt und so-mit dazu beiträgt, dass dieser brutale Krieg verlängertwird. Nichtsdestoweniger sind diese beiden Partner un-verzichtbar, wenn wir auf ein Ende dieses Bürgerkriegshinarbeiten.Saudi-Arabien hat sich von Anfang an darum bemüht,den Konflikt beizulegen. Es ist Mitinitiator der Allianzgegen den IS. Das Land bekämpft den IS mit militäri-schen Luftschlägen und unterstützt die moderaten Oppo-sitionsparteien durch Ausbildung auch im eigenen Land.Eines dürfen wir nicht vergessen: Wir pflegen bezüglichder Terrorbekämpfung eine enge Kooperation mit denGeheimdiensten Saudi-Arabiens.Ein anderer Punkt, der in diesem Zusammenhang zu-nehmend in Vergessenheit gerät: Hinter Saudi-Arabiensteht ein großer Teil der muslimischen Welt. Wenn der ISim Rahmen seiner Propaganda erklärt, das Vorgehen desWestens sei ein Kreuzzug gegen den Islam, dann wirddurch die Kooperation mit Saudi-Arabien der Beweis ge-führt, dass dieser Behauptung die Grundlage fehlt.Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass in Saudi-Ara-bien Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Ichglaube, jeder hier im Hause verurteilt das aufs Schärfste.Aber wir wissen auch, dass die Eskalation zwischen Sau-di-Arabien und Iran zu keinem ungünstigeren Zeitpunkthätte kommen können. Hier zeigt sich uns eine hochex-plosive Gemengelage. Die Gefahr nimmt zu, dass es zueiner Intensivierung der zwei Stellvertreterkriege im Je-men und in Syrien kommen könnte.Wir stehen vor schwierigen Zeiten. In Iran stehenWahlen vor der Tür. Bei diesen Wahlen wird auch derWächterrat für eine Zeit von acht Jahren neu gewählt.Das heißt: Hier könnten die Hardliner kurz vor den Wah-len die Oberhand gewinnen, was nicht in unserem Inte-resse sein kann. Wenn wir heute sehen, wie schwierigund langwierig der Weg zur Wiener Konferenz war, wieschwierig es war, auch Iran und Syrien mit an den Ver-handlungstisch zu bekommen, dann müssen wir daraufachten, dass dieser Weg in der Zukunft nicht versperrtwird.Jetzt kommen die Genfer Verhandlungen. Zum erstenMal werden hoffentlich auch Vertreter der syrischen Re-gierung und die moderaten syrischen Oppositionellen mitdabei sein. Da dürfen natürlich auch Iran und Saudi-Ara-Thomas Hitschler
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bien nicht fehlen. Ich glaube, das Schlimmste wäre, wenndas Erreichte zunichtegemacht würde.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Rede-
zeit!
Denn das wäre der größte Sieg, den der IS sich wün-
schen könnte.
Vielen Dank.
Abschließender Redner in dieser Aktuellen Stunde ist
der Kollege Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Die Debatte hat einmal mehr deut-lich gemacht, dass man außenpolitische Debatten mit derBereitschaft zur Differenzierung führen muss, zu der Sie,Herr Kollege Gehrcke und Frau Kollegin Dağdelen, heu-te bedauerlicherweise erneut nicht in der Lage waren.
Das fängt schon da an – das ist mehrfach betont wor-den –, dass Sie die Debatte so gestalten, dass Sie zweiLänder, zu denen wir unterschiedlich enge, zum Teilpartnerschaftliche, aber auch kritische Verhältnisse ha-ben, in einen Topf werfen und eine gemeinsame Debatteüber den NATO-Partner Türkei und über Saudi-Arabienführen wollen.
Nun bringen die ganze Debatte und Ihre Argumenta-tion – gelegentlich auch die Argumentationen aus denKreisen von Bündnis 90/Die Grünen – die Unionsfrakti-on in eine eigentümliche Lage. Wir werden nämlich Ver-teidiger der Türkei, obwohl wir doch schon seit vielenJahrzehnten einen ziemlich realistischen Blick auf dieTürkei haben
und schon seit längerer Zeit vor allzu großer Euphoriewarnen, etwa wenn es um die Frage des EU-Beitrittsgeht.Aber die Türkei ist und bleibt zum jetzigen Zeitpunktbei allem, was man daran zu kritisieren hat, was derzeitgeschieht – ich sage gleich noch etwas dazu –, ein demo-kratischer Staat. Diejenigen, die dort handeln – ob sie unspassen oder nicht; das gilt für den Präsidenten wie für dieRegierung –,
sind demokratisch gewählt,
und die Türkei ist – das sollte man nie vergessen –über viele Jahrzehnte hinweg ein verlässlicher Partnerin der NATO gewesen. Herr Kollege Gehrcke, es magin Moskaus Interesse liegen, einen Keil zwischen dieNATO, zwischen den Westen, zwischen Europa und An-kara zu bringen. Unser Interesse ist es nicht, hier einenKeil hineinzutreiben, sondern unser Interesse ist, Irritati-onen auszuräumen und die Türkei an die Wertewelt Eu-ropas heranzuführen und daran zu binden.
Es verlangt in der Tat, dass man auch das kritisch an-spricht, was in den Kurdengebieten geschieht. Ich habemich auch kürzlich mit Vertretern der HDP getroffen undkann das nur unterstützen. Es ist vollkommen klar, und esgehört auch zur Notwendigkeit deutscher Außenpolitik,dass man artikuliert, was dort schiefläuft.Aber es gehört auch dazu – das haben Sie heute ver-missen lassen –, dass man auch das, was die PKK anTerror macht, kritisiert. Seien Sie bitte nicht auf diesemAuge blind, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-fraktion!
Ich finde, dass man die Rolle Saudi-Arabiens davondeutlich unterscheiden muss und dass es selbstverständ-lich für die deutsche Außenpolitik ist, Saudi-Arabien alseinen Partner zu betrachten, mit dem man in der Tat invielen Punkten kritische Debatten zu führen hat. Dass dasaktuell mehr zu geschehen hat als in der Vergangenheit –Sie haben den Jemen-Krieg und auch die Todesurteile er-wähnt –, ist vollkommen richtig. Das geschieht auch. Ichfolge dabei der gestern vom Vorsitzenden des Auswärti-gen Ausschusses in diesem Hause formulierten These: Jemehr die Außenpolitik für die innenpolitische Debatte inDeutschland an Bedeutung gewinnt, desto mehr müssenwir unser außenpolitisches Handeln auch vor dem Hin-tergrund unserer Werte den Menschen in Deutschlanderklären. Diese These ist richtig. Das sollten wir machen,und das geschieht in Deutschland auch.Vor diesem Hintergrund ist es absolut richtig, dassBundesaußenminister Steinmeier auf seiner letzten Reisenach Riad, an der auch einige Kolleginnen und Kollegenteilgenommen haben, als Erstes mit Menschenrechtlernund mit Frauen gesprochen hat, die sich in diesem Sys-tem unter schwierigsten Voraussetzungen dafür einset-zen, dass die Menschenrechtslage und die Lage der Frau-en besser werden.Dagmar G. Wöhrl
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Deswegen ist es richtig – Kollege Annen hat gesternskizziert, was das Festival bewirken kann –, dieses Fes-tival zu besuchen und dafür zu sorgen, dass in der saudi-schen Gesellschaft und Politik auch unsere Werte Platzhaben. Das macht die Bundesregierung, und darin solltenwir sie unterstützen.
Ich habe aber zum Teil bei einigen Kritikpunkten denEindruck gehabt, als läge es im deutschen oder internati-onalen Interesse, einen Regime-Change in Saudi-Arabi-en herbeizuführen.
Herr Kollege Gehrcke, um das einmal grundsätzlich klar-zustellen: Es sollte nie Ansatz unserer Politik sein, füreinen Regimewechsel in einem anderen Land – mit wel-chen Mitteln auch immer – zu sorgen.
Da hat sich Deutschland immer zurückgehalten. Dassollte nicht unsere Politik sein. Wenn Sie diesen Ansatzverfolgen sollten, fände ich es gut, wenn Sie das hier of-fen einräumten.Bei allem, was wir an Saudi-Arabien zu kritisierenhaben – da gibt es sehr viel; das steht außer Frage –, soll-ten Sie die grundlegend stabilisierende Rolle, die diesesLand innehat – darauf ist schon in der gestrigen Debattehingewiesen worden –, nicht unterschätzen. Herr Kolle-ge Nouripour, Saudi-Arabien unterscheidet sich in einemwesentlichen Punkt vom Iran. Der Iran erkennt Israelnicht nur nicht an – das sollte Deutschland nicht verges-sen –, sondern verfolgt nach wie vor auch eine Politik,die letzten Endes auf die Eliminierung Israels ausgerich-tet ist. Das ist ein zentraler Unterschied, den wir in deraußenpolitischen Gewichtung berücksichtigen sollten.
– Entschuldigung, das habe ich nicht gesagt.
Sie haben das mögliche deutsche Verhältnis zu den bei-den erwähnten Staaten auf ein Niveau gestellt. Das findeich falsch, weil es einen gewichtigen Unterschied zwi-schen beiden Ländern gibt. Der Iran will die ExistenzIsraels aufheben bzw. zumindest angreifen. Hier ist diedeutsche Rolle sicher und klar. Wir stehen an der SeiteIsraels. An dieser Stelle gibt es auch die UnterstützungSaudi-Arabiens. Das sollten wir berücksichtigen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung und Erweiterung der Beteiligungbewaffneter deutscher Streitkräfte an derMultidimensionalen Integrierten Stabilisie-rungsmission der Vereinten Nationen in Mali
auf Grundlage der Resolutionen
2100 , 2164 (2014) und 2227 (2015) desSicherheitsrates der Vereinten Nationen vom25. April 2013, 25. Juni 2014 und 29. Juni 2015Drucksache 18/7206Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruchhöre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort fürdie Bundesregierung der Bundesministerin Dr. Ursulavon der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn wir in diesen Tagen über Einsätze der Bun-deswehr sprechen, dann geht es meistens um Syrien undIrak. Die Region zwischen Euphrat und Tigris sowieMali am Oberlauf des Niger haben auf den ersten Blicknicht viel gemeinsam. Aber viele Orte in diesen Ländernteilen das gemeinsame tragische Schicksal – schauen wirnur auf die Stadt Sindschar im Irak und die vielen na-menlosen kurdischen Dörfer im Nordosten Syriens sowieauf die Stadt Gao in Mali –, dass sie wochen- und mo-natelang in der Hand radikal-islamistischer Terroristengewesen sind. Nach der Rückeroberung dieser Gegendenzeigen sich Bilder des Schreckens, und die geschundeneBevölkerung erzählt von bestialischen Grausamkeiten,die ihr widerfahren sind.Auch die Wüstenstädte Hatra im Irak und Palmyra inSyrien teilen eine traurige Gemeinsamkeit mit dem sa-genumwobenen Timbuktu in Mali. Hier wurden willent-lich unschätzbare Kulturgüter zerstört, sei es von Daesh,Ansar Dine oder al-Qaida im Maghreb. Die Terroristenmögen verschiedene Namen tragen. Aber eines habensie gemeinsam: Sie kennen keine Gnade. Sie sind hem-mungslos in ihrer Zerstörungswut gegen Menschen, aberauch gegen Kulturgüter. Die Terroristen zu bekämpfen,heißt deshalb, ihnen mit Waffengewalt entgegenzutretenund ihnen auch den Nährboden zu entziehen. Ganz obenstehen dabei Aufbauhilfe und Aussöhnung. Es sind dieDr. Johann Wadephul
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politischen Prozesse und der Aufbau funktionierenderstaatlicher Strukturen, die darüber entscheiden, ob sichdie Bevölkerung von den Terroristen abwendet. Es mussfür die Bevölkerung erfahrbar sein, dass es ihnen ohneTerroristen und Rebellen besser geht. Genau darum gehtes in diesem Mandat.Seit dem Waffenstillstand vom letzten Sommer bestehtdie leise Hoffnung, dass sich die Versöhnung zwischenden Rebellen und der Regierung in Mali entwickelt. Auchdie Tuareg-Gruppen sind dazu jetzt bereit; das haben siemir bei meinem letzten Besuch in Mali bestätigt. Aber esbraucht noch ganz viel Engagement, übrigens auch En-gagement der malischen Regierung, wenn ich das sagendarf. Es braucht vor allem Schutz vor denen, die genaudiesen Friedensprozess nicht wollen und ihn torpedierenwollen. Es braucht Schutz vor den Terrorbanden, aberauch vor der organisierten Kriminalität, die alles tut, da-mit es keinen Frieden in Mali gibt, damit sie ungestörtihren Handel mit Menschen, mit Waffen und mit Drogenfortsetzen kann.MINUSMA hat den Auftrag, diesen Waffenstillstandzu überwachen und die Umsetzung des Friedensabkom-mens zu begleiten; aber MINUSMA muss dazu auchin die Lage versetzt werden. Es fehlt dieser Missionvor allem an Aufklärung. Darum sind wir bereit, un-ser Engagement in Mali bei MINUSMA zu verstärken. MINUSMA ist eine große Mission mit circa 11 000 Sol-datinnen und Soldaten; aber es fehlt ihr insbesondere anHochtechnologie, es fehlt ihr an Technik, an Logistik,an Aufklärung. Wir selber hatten bisher bei MINUSMAde facto nur einige wenige Soldatinnen und Soldaten inden Stabsstellen in Bamako. Mit dem neuen Mandat sol-len 500 Soldatinnen und Soldaten bis zum Sommer inMali sein; die Obergrenze liegt bei 650. Es sind Aufklä-rer und die dazu notwendigen Schutzkräfte, Logistiker,Sanitäter sowie Personal für den Lufttransport und mehrStabspersonal.Zentraler Bestandteil dieser erweiterten Mission sol-len die neuen Fähigkeiten werden, die wir einbringen, dieDrohnen. Es ist das System LUNA, das wir einbringenwerden. Sie wissen, dass die LUNA kleinere Bereiche vonrund 80 Kilometern in der Aufklärung überblicken kann.Deshalb prüfen wir, ob wir im Herbst auch die Heron Inach Mali bringen können. Es geht uns nämlich darum,dass wir nicht nur die strategisch wichtigen Ballungszen-tren um Gao und Gao selber, wo viele Menschen leben,sondern auch die Verbindungsachsen zwischen den gro-ßen Städten überwachen können. Das betrifft die StädteKidal und Timbuktu und die Verbindungen nach Gao. Esgeht darum, dass wir auch dort Aufklärung haben.Meine Damen und Herren, der Einsatz in Mali istwichtig. Es ist ein größerer Einsatz, es ist ein gefährli-cher Einsatz; aber er hilft dem Land. Er hilft auch un-seren eigenen Sicherheitsinteressen, weil er den Terroreindämmt, aber auch deshalb, weil Mali ein entscheiden-des Herkunfts- und Transitland bei Fluchtbewegungenist. Dieser Einsatz stärkt die Vereinten Nationen, und erist praktisch geübte europäische Solidarität; denn mit un-serem größeren Engagement entlasten wir auf die Dau-er nicht nur die Niederländer, sondern vor allem unserefranzösischen Freunde. Deshalb bitte ich das Haus umUnterstützung.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-nisterin, Sie haben hier vieles gesagt; aber eines habenSie verschwiegen, nämlich dass Sie deutsche Soldaten inein Kriegsgebiet schicken wollen.
Die Bundeswehrbeteiligung an der UN-Mission MINUSMA in Mali wird massiv ausgeweitet. Bis zu650 Soldaten können Sie schicken. Das wird der größ-te laufende Afrikaeinsatz der Bundeswehr werden. DieSoldaten sollen jetzt auch in die Kampfgebiete im Nor-den Malis entsendet werden. Damit wird Deutschlandendgültig Kriegspartei in Mali, und die Linke wird dazuNein sagen.
Bisher ist die Bundeswehr in Mali in der Ausbildungvon Soldaten und in der Betankung von Flugzeugenaktiv gewesen. Doch nun wird dieser Einsatz zu einemKampfeinsatz. Der Wehrbeauftragte, Herr Dr. Bartels,hat den Charakter dieses neuen Mali-Mandats präzisebeschrieben. Er sagte:Es ist … eine gefährliche Mission, vergleichbarmit Afghanistan zur Zeit des Kampfeinsatzes derNATO …Es müssen doch hier im Haus alle Alarmglocken schril-len, wenn man so etwas hört.
Wir alle haben im Afghanistan-Krieg erlebt und er-leben immer noch, wie trotz jahrelanger Militärinter-vention die Taliban immer stärker werden, wie 55 Bun-deswehrsoldaten ums Leben kamen, wie 20 000 bis40 000 afghanische Zivilisten Opfer des Krieges wurden.Trotzdem will die Bundesregierung eine Ausweitung desMali-Einsatzes – als hätte es Afghanistan nie gegeben.Lernen Sie doch einmal ausnahmsweise aus Ihren Feh-lern!
Sie reden sich damit heraus, die deutschen Soldatenseien an der Terrorbekämpfung nicht direkt beteiligt; fürsGrobe sei nicht MINUSMA zuständig, sondern Frank-reich mit seiner eigenen Antiterrormission Barkhane.Wollen Sie uns eigentlich für dumm verkaufen? In Af-ghanistan war es doch ganz genauso: Die US-geführteBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Operation Enduring Freedom war für die Kriegsführungzuständig; die NATO-Mission ISAF, an der die Bundes-wehr stark beteiligt war, sollte sich dagegen nicht direktan Kampfhandlungen beteiligen. Am Ende stand ISAFmitten im Krieg. Man kann MINUSMA eben nicht vonder Antiterrorbekämpfung trennen.
Wer Soldaten in ein Kriegsgebiet schickt, der wird dortam Ende auch Krieg führen.
Seien Sie deshalb ehrlich zur Bevölkerung, und erzählenSie nicht dieselben Märchen wie im Afghanistan-Krieg.Aber Ehrlichkeit gehört ohnehin nicht zu den Stärkender Bundesregierung. So behaupten Sie, dieser Bundes-wehreinsatz diene vor allem der strukturellen Bekämp-fung von Fluchtursachen.
Seit wann dienen Militäreinsätze dazu, Fluchtursachenzu bekämpfen?
Libyen wurde vom Westen in Schutt und Asche gelegt.Über welches nordafrikanische Land kommen sehr vieleFlüchtlinge? Über Libyen. Der Irak wurde durch den US-Krieg völlig destabilisiert. Wo kommen viele Flüchtlingeher? Aus dem Irak. In Afghanistan war und ist die Bun-deswehr seit Jahren, und auch von da kommen sehr vieleFlüchtlinge. Kriege beenden eben keine Fluchtursachen.Kriege sind Fluchtursache Nummer eins.
Fangen Sie endlich einmal an, Fluchtursachen zu besei-tigen. Dazu muss man die Ursachen von Krieg bekämp-fen. Dazu gehört der Kampf gegen Hunger, Elend, Ar-mut, und dazu gehört auch, werte Bundesregierung, dassSie die Waffenexporte in alle Welt, die Deutschland vor-nimmt, endlich stoppen.
Ein Problem bei MINUSMA ist die strategische Aus-richtung. Die UN-Truppe hat den Auftrag, die malischeRegierung darin zu unterstützen, die volle Kontrolle überdas Land zurückzugewinnen. Gleichzeitig hat sie denAuftrag, neutraler Vermittler zwischen den Konfliktpar-teien zu sein, zu denen auch die malische Regierung ge-hört. Man kann aber nicht einerseits neutral sein und an-dererseits Land zurückgewinnen wollen. MINUSMA istin einem Spannungsfeld, und das führt immer wieder zuKonfrontationen mit der Zivilbevölkerung. So kam es inder malischen Stadt Gao zu Protesten gegen MINUSMA.Dabei erschossen UN-Truppen drei Zivilisten. Sie schi-cken die Bundeswehr in ein Pulverfass, und das ist kom-plett verantwortungslos.
Die Bundesregierung behauptet, dieser Bundeswehr-einsatz diene der Stabilisierung Malis. Aber wir sehendoch, dass Mali immer instabiler wird, dass selbst derSüden des Landes nicht mehr sicher ist, und das trotz dermassiven Militärpräsenz.
Die Ausweitung des Einsatzes wird 36 Millionen Europro Jahr kosten. Diese 36 Millionen Euro könnten zurStabilität beitragen, wenn man sie richtig einsetzenwürde, wenn das Geld zur Armutsbekämpfung und zurstrukturellen Entwicklung des völlig abgehängten Nor-dens Malis ausgegeben werden würde. Ein UN-Berichtkommt zu dem Ergebnis, dass im Norden des Landes vie-le Schulen seit drei Jahren geschlossen sind.
Die Armut ist riesig. Es gab schon fünf Tuareg-Aufstän-de. Nur ein echter innermalischer Dialog, ziviler Wieder-aufbau und eine Beteiligung der breiten Bevölkerung amRohstoffreichtum können einen sechsten Aufstand ver-hindern.Die deutsche Strategie für Mali geht einen gefährli-chen Weg, nämlich den einer Kriegsbeteiligung, den desKrieges gegen den Terror. Zu dieser militärischen Logikwerden wir als Linke Nein sagen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold für die
SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieLinken behaupten immer wieder, militärische Einsätzehätten keine Wirkung oder verschlimmerten gar die Si-tuation. Machen wir doch einmal einen Faktencheck zuMali.
Schauen Sie einmal zurück auf das, was in Mali loswar: Viele Jahre lang gab es im Norden des Landesrechtsfreie Räume mit kriminellen Bewegungen, dieauch uns bedrohen.
Dann gab es einen Vormarsch einer Verbindung von Tu-areg-Rebellen und Al-Qaida-Ablegern und weiteren kri-minellen Energien auf die Hauptstadt Bamako.
Niema Movassat
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Ich sage Ihnen: Ohne das Engagement Frankreichs undder Staatengemeinschaft hätten wir heute Terroristen inBamako
und einen weiteren zerfallenden Staat wie beispielsweiseSomalia, wodurch auch unser Leben und unsere Sicher-heit bedroht wären. Was mit den Menschen in Mali pas-siert wäre, daran darf man gar nicht denken. Dieser Ein-satz hat solche Entwicklungen zunächst einmal gestoppt.
Dann gab es Friedensverhandlungen, und es kamenHilferufe der legitimen malischen Regierung an die UNund an unsere französischen Freunde. Deutschland hatdiesen Einsatz von Anfang an logistisch unterstützt undleistet Ausbildungsunterstützung im Süden des Landes.Alle Menschen in Mali sagen: „Wir wollen hier Deutsch-land sehen“, weil Deutschland traditionell sehr gute Bin-dungen zur malischen Gesellschaft hat. Dies ist die Wirk-lichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.Wir wissen gleichzeitig: Natürlich kann militärischeIntervention die Probleme nicht strukturell überwinden;
aber sie schafft ein Zeitfenster, und dieses Zeitfensterwurde in Mali zum Glück genutzt für den zivilen Auf-bau, für den Aufbau von Polizei, für Beratung der Re-gierung, besser zu regieren, Korruption zu bekämpfen.Dieses Zeitfenster wurde vor allen Dingen genutzt, umin diesem Land einen Friedens- und Versöhnungsprozesseinzuleiten. Der ist angesichts der Geschichte schwierig.Es dauert, bis Menschen sich wieder vertrauen. Das istganz eindeutig.Jetzt sagen Sie, Deutschland würde zur Kriegspartei.
Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass wir Teileiner UN-Mission sind,
die exakt die Aufgabe hat, diesen Friedens- und Versöh-nungsprozess, übrigens mit einem klugen Fahrplan – derliegt vor –, zu befördern und zu begleiten. Davon istDeutschland ein Teil. Ich weiß nicht, was linke Politiksein soll,
wenn Sie Deutschland, wenn es um das Gewaltmonopolder Vereinten Nationen geht, als politische Kriegsparteibezeichnen. Wer, wenn nicht die Vereinten Nationen hatdafür die Legitimation?
Jetzt sind wir in der Situation, dass uns Partner unddie UN seit langem bitten, mehr zu tun. Deutschland hatsich entschieden, mehr zu leisten, und zwar dort, wo denVereinten Nationen Fähigkeiten fehlen. Wir wissen seitlangem, dass die Industriestaaten, in West und in Ost üb-rigens, die UN ziemlich im Stich lassen, vor allen Dingenbei technologischen Fähigkeiten, insbesondere bei dem,was Deutschland jetzt schwerpunktmäßig liefert, näm-lich Aufklärungsfähigkeiten. Von den über 90 000 Sol-daten in internationalen UN-Missionen kommen circa130 aus Deutschland. Da können wir, glaube ich, schonnoch mehr machen, wenn wir die UN in ihren Aufgabenwirklich stärken wollen, und wir Sozialdemokraten wol-len dies.Es gibt viele gute Gründe, sich in Mali zusätzlich zuengagieren. Die UN sind ein Grund. Der zweite Grund istnatürlich die Solidarität mit unserem französischen Part-ner als engstem Verbündeten im schwierigen Europa, dasdarauf angewiesen ist, dass Deutschland und Frankreichden Karren weiter ziehen. In dieser Situation ist Solidari-tät mit unseren französischen Freunden auch sichtbar zumachen, nicht nur mit Schönwetterreden, sondern auchmit Taten.
Wir haben mit den Niederländern eine extrem ausge-prägte militärische Kooperation. Die Entlastung, die esin Mali gibt, erfolgt in erster Linie bei unseren niederlän-dischen Freunden. Wer europäische Sicherheitspolitik imAlltag befördern will, der muss in solchen Fragen auchden Praxistest bestehen und darf, wenn er gerufen wird,nicht von vornherein, wie es die Linken immer tun, Neinsagen.Nicht zuletzt geht es um die Menschen in Mali. Eineaktuelle Umfrage – sie wurde in diesen Tagen veröffent-licht – besagt: Über 90 Prozent sehen in ihrem Land Si-cherheit und Stabilität als Hauptproblem und als zweitesgroßes Problem die hohe Arbeitslosigkeit. – Die Men-schen in Mali wissen im Gegensatz zu den Linken, dassbeides zusammengehört. Ohne Sicherheit wird es keinewirtschaftliche Entwicklung geben. Deshalb ist alles,was wir tun, auch immer eine Hilfe für den zivilen Auf-bau. Unabhängig davon ist Mali ein wichtiges Zielgebietfür deutsche wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Wir tun hier sehr viel.Ich sage ganz deutlich: Der Vergleich von Mali undAfghanistan, den manche in den letzten Wochen gezogenhaben, hinkt nun wirklich.
Mali ist nicht Afghanistan, weder politisch noch zivil-gesellschaftlich noch von der Gefahr für die Soldatenher noch ökonomisch. Aber in einem Punkt stimme ichRainer Arnold
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den Skeptikern zu: Aus den Erfahrungen in Afghanistanmuss man für Mali lernen. Wir stimmen diesem Man-dat aus Überzeugung zu, unter einer Voraussetzung: Esdarf nicht, wie es einige Jahre in Afghanistan der Fallwar, zu parallelem Arbeiten von militärischen und zivi-len Strukturen kommen. Wir müssen vom ersten Tag an,an dem wir im Norden mehr Engagement zeigen, dies inMali sichtbar verzahnen, indem auch Deutsche in wich-tigen Funktionen der multinationalen Stäbe arbeiten. Wirmüssen auch hier in Deutschland als Parlament und alsBundesregierung dafür sorgen, dass alle Ressorts, die fürdie Entwicklung in Mali Verantwortung tragen, zusam-menarbeiten, sich gut koordinieren und gut miteinanderkommunizieren. Unter dieser Voraussetzung ist es nichtnur ein verantwortbarer, sondern auch ein notwendigerEinsatz.Nun wird von den Risiken gesprochen. Ich will sienicht verniedlichen. Militärische Einsätze sind nichtohne Gefahr. Sonst würden wir keine Soldaten dorthinschicken. Die hohe Zahl der Opfer von MINUSMA-Sol-daten ist traurig und tragisch, hat aber bei einer genauenBetrachtung auch etwas damit zu tun, dass die Solda-ten von MINUSMA teilweise schlecht ausgebildet undim Großen und Ganzen auch sehr schlecht ausgestattetsind. Wenn wir deutsche Soldaten dorthin schicken, ha-ben die Soldaten, die die Gesprächsaufklärung auf derStraße leisten müssen – das sind diejenigen, die gefährdetsind; die anderen weniger –, den bestmöglichen Schutz.Mit diesem Schutz können sie den normalen Gefahrenin Mali widerstehen. Aber niemand kann zusagen, dasskeine Gefahren bleiben, wenn Soldaten tun, was sie tunmüssen, nämlich mit den Menschen auf dem Marktplatzund in den Häusern reden. Aber wir schätzen die Gefah-ren so ein, dass wir sie verantworten können. Wir redenauch nicht drum herum. Deswegen können wir hinsicht-lich der Sicherheit für die deutsche Bundeswehr mit gu-tem Gewissen sagen: Ja, das ist verantwortbar. Wir bittendas Parlament, dem zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt,Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alseinen guten Vorsatz für das neue Jahr hatte ich mir ei-gentlich auch vorgenommen, mich in diesem Jahr nichtaufzuregen, wenn jemand von der Linksfraktion sagt, dieUNO hätte nicht in Mali intervenieren sollen, sie sollesich da raushalten und am besten abziehen. So habe ichSie verstanden, lieber Kollege Movassat. Ich schaffe esaber einfach nicht, diesen Vorsatz einzuhalten.
Es war völlig richtig, dass die UNO in Mali interve-niert hat, als nach dem Vormarsch der Islamisten undFrankreichs unilateralem Gegenschlag der Staat vor ei-nem möglichen Zusammenbruch stand. Was soll dennanderes unsere politische Antwort sein, als zu sagen, dassdie Vereinten Nationen dann die Verantwortung überneh-men müssen? Das ist doch ein zentrales Element unsererPolitik, wie wir internationale Verantwortung organisie-ren wollen. Eigentlich hatte ich Sie immer so verstanden,dass auch Sie das wollen.
Dann kann man aber doch nicht sagen, das Problem sei,dass sie da sind und versuchen, im Norden die Situati-on zu bewältigen. Das allein beherrschende Element isteben nicht ein Konflikt zwischen der Zentralregierungund Kämpfern im Norden, die für Autonomie oder Unab-hängigkeit sind. Vielmehr kämpfen im Norden verschie-dene Rebellengruppen gegeneinander, sodass eine ganzunübersichtliche Lage entstanden ist. Die UNO versuchtjetzt, zum Erreichen eines politischen Friedensprozesses,wofür es ja ein politisches Gesamtkonzept gibt, zwischendiesen Gruppen zu vermitteln – deswegen die Verhand-lungen in Algier, deswegen die Schritte zu einem Frie-densvertrag – und das auch militärisch abzusichern. Dasist doch die zentrale Aufgabenstellung.
Das mit der Lage in Afghanistan zu vergleichen, wird derSache überhaupt nicht gerecht. Das verballhornt die po-litische Situation in Mali. Sie ist dort nun einmal anders.Die entscheidende Frage ist: Ist das, was die UNOversucht, richtig, und wollen wir sie unterstützen? Daeiern Sie immer herum. Sie sagen nie klar, dass Sie dieUNO unterstützen wollen. Sie vermeiden es aber auch,zu sagen: Raus mit der UNO. – Sie müssen einmal klä-ren, was Sie an diesem Punkt eigentlich wollen.
Die militärischen Fronten sind kompliziert und un-übersichtlich. Man muss auch klar sagen – das ist natür-lich mit ein Teil des Problems –, dass immer wieder vieleMenschen im Norden vor diesen Kämpfen flüchten müs-sen. Die humanitäre Not ist groß. Wir dürfen da nichtsschönreden. Aber auch hier ist die Antwort, dass wir indieser Situation Sicherheitskräfte der Vereinten Nationenbrauchen.Es ist auch völlig richtig, wenn man darauf hinweist,dass es in den letzten zwei Jahren immer wieder zuschweren Rückschlägen bei dem Friedensprozess ge-kommen ist. Das müssen wir – da stimme ich Ihnen zu –der Bevölkerung in Deutschland auch klar sagen: DerEinsatz in Mali gilt zu Recht als einer der gefährlichs-ten UN-Einsätze, die es momentan gibt. Die Blauhelmesind dort schon mehrfach aufgrund ungenügender Auf-klärung zwischen die Fronten geraten. Wir müssen auchdie Zahlen nennen. In den letzten zweieinhalb Jahren hates 68 tote Blauhelmsoldaten gegeben. Das ist mit derhöchste Blutzoll, den die UNO bei einem friedensvermit-telnden Einsatz bisher bezahlt hat. Das ist dramatisch. ImRainer Arnold
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letzten Jahr gab es einen verheerenden Anschlag auf einHotel in Bamako. Auch darüber muss man sprechen.Aber trotz all dieser Schwierigkeiten ist die UNOentscheidend vorangekommen. Sie hat es inzwischengeschafft, fast alle bewaffneten Gruppen zu Friedens-verhandlungen an einen Tisch zu bekommen. Sie hat esgeschafft – mit einigen Rückschritten zwischendurch –,dass ein Friedensvertrag unterzeichnet worden ist, derein wichtiger Schritt in die Richtung ist, von einem Waf-fenstillstand zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass einige Split-tergruppen im Land den Waffenstillstand immer wiederbrechen und dass bewaffnete Islamisten aus den Nach-barländern immer wieder versuchen, von dort aus zuintervenieren. Aber die weitere Umsetzung dieses Frie-densprozesses, für den es ein politisches Gesamtkonzeptgibt und der vorangekommen ist, kann in dieser Lagenatürlich nicht ohne die Absicherung durch eine starkeund auch militärisch robuste Präsenz der UNO im Landgelingen.
Es ist wirklich klar sichtbar, dass dieser Einsatz derBlauhelme geholfen hat, eine politische Lösung im Nor-den durchzusetzen und zu implementieren. Das zentraleElement ist doch immer, dass wir sagen: Es muss einerpolitischen Lösung dienen. – Das unterscheidet die Situ-ation in Mali ganz deutlich von der Situation in vielen an-deren Ländern, in denen die UNO präsent ist. Das heißt,das ist eine sinnvolle UN-Mission. Wir als Grüne habensie von Anfang an unterstützt. Wir finden es auch richtig,wenn Deutschland sich in dieser durchaus gefährlichenLage stärker engagiert und wenn die Bundeswehr dortAufgaben von den Niederländern übernimmt, aber auchunsere französischen Partner entlastet, gerade im Bereichder Aufklärung, deren Schwächen mit dazu beigetragenhaben, dass es so viele tote UN-Soldaten zu beklagengibt. In diesem Bereich können wir die Unterstützungleisten, die dort so dringend benötigt wird.Noch einmal: Wir wissen, wie gefährlich dieser Ein-satz ist. Aber es gibt eben im Fall Malis, anders als invielen anderen Fällen, eine Chance auf einen dauerhaftenFrieden – es gibt ein politisches Gesamtkonzept für denFrieden, zumindest für den Norden; ich weiß, dass es ge-rade bei der Frage des Staatsaufbaus auch viele Problemeim Süden gibt –; aber diese Chance darf nicht verspieltwerden. Es hätte Folgen für den gesamten Norden Afri-kas und die Sahelzone, wenn die Vereinten Nationen dieszuließen. Deswegen werbe ich für die Zustimmung zudiesem erweiterten Mandat.Danke für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter
Beyer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Heute diskutieren wir nicht nur über die Fortsetzung,sondern zum ersten Mal auch über eine substanzielleAusweitung der deutschen Beteiligung an MINUSMA.Bislang ist der Einsatz bei allen Schwierigkeiten, diees dort zu verzeichnen gibt, durchaus als erfolgreich zubewerten. Die Sicherheitslage hat sich seit Beginn derUN-Stabilisierungsmission MINUSMA verbessert. Auchpolitisch ist Mali seit den Präsidial- und Parlamentswah-len im November und Dezember des Jahres 2013 auf ei-nem Weg zurück zur Stabilität, und das ist ja das Ziel,das es zu erreichen gilt. Letztes Jahr konnte durch Ver-mittlung von Algerien ein Friedensvertrag geschlossenwerden, dessen Umsetzung vorangeht, aber immer nochviel zu langsam.Wichtig ist: Der Bundeswehreinsatz ist lediglich einElement eines umfassenden Ansatzes der Bundesregie-rung für Mali im Rahmen eines vernetzten Ansatzes mitunterschiedlichen Instrumenten der Entwicklungs-, derAußen- und der Sicherheitspolitik. Hier, Herr Kolle-ge Movassat, möchte ich auch Sie noch einmal daraufhinweisen – so wie mein Vorredner, Herr Dr. Schmidt,das dankenswerterweise schon gemacht hat –, eben nichtauszublenden, dass es letztlich nicht nur um ein Engage-ment im Rahmen von MINUSMA geht, sondern auch da-rum, dass Deutschland im Rahmen der Entwicklungszu-sammenarbeit vereinbart hat, in den nächsten drei JahrenMittel in Höhe von 74 Millionen Euro zur Verfügung zustellen. Das ist, glaube ich, etwas, was wir an dieser Stel-le auch einmal erwähnen sollten.
Mit den Zusagen wird die Zusammenarbeit hinsichtlichder Schwerpunkte Dezentralisierung, gute Regierungs-führung, nachhaltige Landwirtschaft sowie Wasserver-sorgung und Abwasserentsorgung fortgesetzt.Für einen Erfolg des Friedensabkommens werden dieinnermalische Versöhnung und Aussöhnung entschei-dend sein, durch die traditionelle und durch den Kon-flikt erst neu hervorgerufene Gräben in der malischenBevölkerung überwunden werden sollen. Nur so kanninnergesellschaftliche Stabilität geschaffen werden. Da-mit dies gelingt, muss sich die Sicherheitslage, die vorallem im Norden des Landes noch als volatil zu bewertenist, noch viel spürbarer verbessern. So mussten die fürOktober vergangenen Jahres angesetzten Regionalwah-len aufgrund der schlechten Sicherheitslage im Nordenabermals verschoben werden. Ihre baldige Durchführungbleibt von entscheidender Bedeutung.Der Mission MINUSMA kommt bei der Sicherungund Stabilisierung des Landes und somit auch bei der Be-gleitung und Umsetzung des Friedensabkommens wei-terhin eine entscheidende Rolle zu, die von der malischenRegierung nicht nur gewünscht, sondern auch gefordertwird. Bislang hat sich Deutschland mit 150 Soldatinnenund Soldaten beteiligt, und zwar in den Führungsstäbender Mission, bei den Verbindungsoffizieren, beim tak-tischen Lufttransport und mit Luftbetankungsfähigkei-ten. Dies soll fortgeführt werden. Als Erweiterung derDr. Frithjof Schmidt
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deutschen Beteiligung sollen ab Februar dieses Jahreseine verstärkte gemischte Aufklärungskompanie, Ob-jektschutzkräfte und erforderliche Einsatz-, Logistik-,Sanitäts- sowie Führungsunterstützungskräfte sowieein erhöhter deutscher Personalanteil in den Stäben derHauptstadt Bamako und im Norden Malis in Gao gestelltwerden. Dazu werden 500 Soldatinnen und Soldaten be-nötigt.Es ist die Wahrheit, wenn der Wehrbeauftragte er-klärt, dass dies zurzeit der gefährlichste UN-Einsatz ist.Vor allem im Norden des Landes – das haben wir geradeschon in den Reden gehört – kommt es immer wiederzu Angriffen islamistischer Rebellen, auch auf die inter-nationalen Truppen. Rund 70 Blauhelmsoldaten sind inden vergangenen drei Jahren dabei getötet worden. Es istein Einsatz in einem Gebiet, in dem sich verschiedenebewaffnete Gruppen im Konflikt miteinander befinden.Die UN haben dort keinen Kampfauftrag, müssen sichaber selbst schützen können. Deshalb ist es wichtig, sichdort stark aufzustellen. Dies können die 500 zusätzlichenSoldatinnen und Soldaten leisten.Trotz der Gefahr ist der Einsatz auch in seiner erwei-terten Form wichtig und richtig. Deutschland demonst-riert dadurch nicht nur seine Bündnisfähigkeit gegenüberseinen Partnern, sondern unterstützt die Bemühungen derVereinten Nationen zur Schaffung von Stabilität und zurFörderung des politischen Prozesses substanziell.Der Einsatz hat auch über Mali hinaus Auswirkun-gen. Die Stabilisierung Malis und der Region ist nichtnur zentraler Bestandteil der deutschen Afrikapolitik. Siebesitzt vielmehr Strahlkraft auf die Lage im weiteren Sa-hel-Raum, in Libyen und bei den regionalen Nachbarn.Die Beteiligung an MINUSMA ergänzt auch sehr gut dendeutschen Beitrag an EUCAP Sahel Mali und an der mi-litärischen Ausbildungs- und Beratungsmission EUTMMali. Die Beteiligung an der UN-Mission MINUSMAbleibt somit ein wichtiger Baustein in einem ganzheitli-chen Ansatz der Bundesregierung zur Stabilisierung derLage in dem Land, in Mali.Aus diesen Gründen, meine sehr verehrten Kollegin-nen und Kollegen, werbe ich an dieser Stelle ausdrück-lich für die Verlängerung und die Ausweitung dieses Ein-satzes der Bundeswehr. Den Soldatinnen und Soldatenwünschen wir für den Einsatz, in den wir sie senden, vielSoldatenglück, viel Erfolg, Gesundheit und eine heileRückkehr.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Ich spreche heute alsEntwicklungspolitikerin. Ich möchte das betonen und inden Mittelpunkt meiner Rede stellen, weil ich glaube,dass es für die innermalische Entwicklung von essenzi-eller Bedeutung ist, wie es uns gelingen kann, Sicherheitund Entwicklung voranzubringen. Der Kollege Arnoldhat es angesprochen: Wer mit der Bevölkerung in Maliredet, sieht, was dort gewünscht ist. Mit über 90 Prozentwird das Thema Sicherheit als das gravierendste Pro-blem, und zwar in allen Landesteilen, gesehen. Dicht da-rauf folgt die Fragestellung: Wie können wir ein Lebenselbst erwirtschaften? Wie können wir in Arbeit kom-men? Wie können wir uns selbst ernähren? Bei diesenFragestellungen, glaube ich, müssen wir mehr tun, alswir bisher getan haben.
Im Friedensvertrag von Algier sind ganz entscheiden-de Punkte für die innermalische Entwicklung festgehal-ten. Es geht in einem Punkt – das ist aus meiner Sicht einganz entscheidender für das Gelingen des Friedenspro-zesses – um die Frage der Dezentralisierung des Landes,wie man die Regionen des Landes erreichen kann undwie es in den Regionen möglich ist, Basisinfrastruk-tur für die Menschen aufzubauen, um so eine Basis fürwirtschaftliche Entwicklung, aber auch für Frieden undStabilität zu gewinnen. Das ist ein ganz entscheidenderPunkt.
In dem Friedensvertrag von Algier steht: 30 Prozentder Staatseinnahmen in die Regionen. – Das kann manin den Kapiteln 4 und 5 des Friedensvertrages von Al-gier nachlesen. Jetzt wissen wir alle: Mali steht im Hu-man Development Index, bei dem es um die menschlicheEntwicklung geht, auf Platz 179 von 188 gelisteten Län-dern. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Ange-sichts unserer Erfahrungen aus der Entwicklungspolitikwissen wir, dass wir hier unheimliche Anstrengungenvollbringen müssen, um die Verwaltung in dem Land fitzu machen – das ist, was die Kollegen mit Staatsaufbaumeinten –, damit sie mit den Geldern, die hoffentlich imRahmen eines innermalischen Aussöhnungsprozessesauch in die Regionen fließen, ordentlich umgehen kannund es eine positive Entwicklung für die Menschen vorOrt gibt. Das heißt, die Leute müssen mit den Finanzenumgehen können. Sie müssen eine Basisinfrastruktur imWasserbereich, im Wohnungsbereich, im Bereich der ele-mentaren Gesundheitsvorsorge schaffen können. Dazubedarf es Menschen, die das tun können, die dafür ausge-bildet sind. Das ist Teil der Aufgabe, der wir uns bereitswidmen, aber der wir uns in den nächsten Jahren – dassage ich auch – wesentlich stärker widmen müssen.
Seit 2013 sind für Mali 204 Millionen Euro Entwick-lungsgelder ausgegeben worden. Deutschland ist mitPeter Beyer
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seinem Engagement im Bereich der Dezentralisierung ineiner der führenden Positionen; das ist richtig und wich-tig. Ich betone noch einmal: Ich glaube, wir müssen hiermehr tun. Und wir können auch mit anderen Ländern ge-meinsam mehr tun.Dass dies aber auch Sicherheit voraussetzt, sieht manganz deutlich. Ich habe vor einigen Tagen mit einem Ver-treter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako telefoniert,der mir die Lage verdeutlicht hat. Wie sieht es momen-tan aus? In der Provinz Gao sitzen zum Beispiel 24 Su-per-Präfekte, die eigentlich in ihre Gemeinden gehenmüssten, um das, was ich gerade geschildert habe, zu or-ganisieren, in der Provinzhauptstadt Gao fest und trauensich nicht heraus, weil die Sicherheitslage so katastrophalist, dass sie nicht in die Dörfer und Regionen kommenkönnen. Damit muss man sich auseinandersetzen, wenn30 Prozent der Staatseinnahmen in die Regionen fließensollen, um den Menschen dort zu helfen. Also ist die Fra-ge entscheidend, wie wir dort Sicherheit erreichen, dassdiese Menschen ihre Arbeit aufnehmen können.In einem zweiten Telefonat mit einem Mitarbeiter derStiftung habe ich erfahren, dass dessen Verwandte, diein der Nähe von Gao leben, einen medizinischen Notfallhatten, aber die Notfallambulanz nicht über die Stadt-grenzen Gaos hinausfahren kann und niemanden, der ir-gendwo in der Region ist, betreuen kann. Wenn man will,dass Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Polizisten undVerwaltungsbeamte in die Dörfer gehen, muss man einMindestmaß an Sicherheit schaffen, um dies zu gewähr-leisten. Deshalb ist es im Sinne der Entwicklung Malisrichtig, zur Schaffung von Sicherheit beizutragen, auchim Rahmen des deutschen Beitrags zu MINUSMA.Mit Verlaub – als letzter Punkt –: Das ist im Friedens-vertrag von Algier auch so angelegt und vorgesehen. Werden Einsatz ablehnt, muss mir erklären, was die Folge fürden Friedensprozess von Algier ist.
Sollen wir ihn aufkündigen? Sollen wir etwas ganz Neu-es beginnen? Was ist denn die Konsequenz? Der mühsamausgehandelte Prozess sieht diese Rolle der internationa-len Gemeinschaft vor. Daran beteiligen wir uns. Es gehtum die Entwicklung Malis, insbesondere um die Frage,wie wir Sicherheit schaffen können, um eine positive zi-vile Entwicklung in dem Land voranzutreiben.
Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit Blick auf den Diskussionsbeitrag der Linken kannich nur sagen: Ich verstehe ja, dass Sie, weil Sie aus dog-matischen Gründen grundsätzlich gegen jeden Einsatzder Bundeswehr sind, immer versuchen müssen, IhreAblehnung eines Einsatzes zu erklären und Argumentezu finden. Aber so dünn wie heute waren die Argumenteschon lange nicht mehr. Das muss ich ganz ehrlich sagen.
Es ist richtig, dass in Mali nicht alles gut ist. Seit denAttacken auf das Radisson-Hotel in Bamako gilt der Aus-nahmezustand. Anschläge sind überall im Land möglich.Armee und Sicherheitskräfte sind häufig noch überfor-dert. Auch die politische Situation ist wenig dynamisch.Hier gibt es nichts zu beschönigen.Gerade die jungen Menschen im Lande fordern einEnde der Polizeikorruption, der Selbstbedienungsmenta-lität der regierenden Klasse und die Schaffung von Ar-beitsplätzen. Viele frustrierte Menschen folgen islamis-tischen Brandstiftern. Nicht alles ist gut, aber einiges istbesser, als wir es befürchten mussten. Wenn man sieht,wo wir im Frühjahr 2012 waren, dann relativiert sich dernegative Eindruck ein wenig.Mali ist eine Demokratie geblieben. An die lange de-mokratische Tradition kann angeknüpft werden. Es gibtseit letztem Jahr ein Friedensabkommen mit den wich-tigsten Rebellengruppen, aber es ist ganz klar: Es gibtnoch viel zu tun.Ja, richtig ist auch: Der Einsatz ist gefährlich. DieDschihadisten wurden nur in die Wüste vertrieben, esgibt sie weiterhin. Die Sicherheitslage im ganzen Landist angespannt, vor allem im Norden. Islamistischeund kriminelle Gruppierungen greifen überall Auslän-der, MINUSMA und die malischen Streitkräfte an. Diejüngsten Angriffe auf MINUSMA-Liegenschaften undden Flughafen in Gao sind ein Beleg für die ständigeGefahr. Nicht umsonst ist MINUSMA der gefährlichsteVN-Blauhelmeinsatz weltweit. Trotzdem ist dieser Mili-täreinsatz wichtig und richtig.Wir haben ein VN-Mandat. Die Weltgemeinschaftsteht geschlossen, bis auf die Linke, hinter diesem Ein-satz.
Die Ziele dieser Mission sind richtig: Bevölkerungszen-tren stabilisieren, staatliche Autorität im ganzen Landwiederherstellen, Zugang für Entwicklungszusammen-arbeit sicherstellen, nationalen politischen Dialog unter-stützen, Waffenstillstand überwachen und Friedensab-kommen umsetzen helfen. Nur bei einer Stabilisierungder Sicherheitslage und einem echten politischen Prozesshat die Umsetzung des Friedensabkommens eine Chan-ce. Natürlich müssen sich malischer Staat und Gesell-schaft in erster Linie selbst reformieren. Dafür brauchensie aber Basissicherheit und unsere Unterstützung.Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Reihe von gu-ten Gründen für die Ausweitung des deutschen Beitrags.Deutschland hat ein Interesse an einer Stabilisierung derLage in Mali und der Sahelregion.
Dr. Bärbel Kofler
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Ein weiterer Verfall staatlicher Autorität und Kontrollein dieser Region nützt kriminellen und terroristischenGruppen.
Zudem ist Mali eine wichtige Transitregion. Es ist inunserem Interesse, dabei zu helfen, dass Nordmali keinrechtsfreier Raum bleibt, indem Schleuserbanden un-gehindert aktiv sein können. Durch die Ausweitung desEinsatzes erfüllen wir außerdem auch unsere Zusagen,uns stärker an VN-Missionen zu beteiligen. Der letztePunkt: Mit der Ausweitung des Einsatzes unterstützenund entlasten wir unsere europäischen Partner, die Nie-derlande und die Franzosen.Eines muss uns bei diesem Mandat ganz klar sein: DerEinsatz in Mali ist gefährlich. Unsere Einsatzkräfte müs-sen entsprechend vorbereitet, ausgerüstet und beschütztsein. Die Ausweitung des Mandats belegt auch: Deutsch-land engagiert sich mehr. Mehr Engagement der Bundes-wehr in Deutschland, in der NATO und in den VereintenNationen hat aber auch weitreichende Konsequenzen fürden Umfang und die Ausstattung der Bundeswehr. Hierwerden wir noch mehr tun müssen. Unsere Soldatinnenund Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dassihnen alles an notwendigen Mitteln zur Verfügung ge-stellt wird, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Dazu gehörenfür mich auch ganz selbstverständlich die Entwicklungund die Beschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen.Gerade der Einsatz im Norden Malis zeigt, wie wich-tig die erweiterten Aufklärungsfähigkeiten für die Truppeund für den Erfolg dieser Mission sind. In diesem Zusam-menhang begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung, alsÜbergangslösung bis zur europäischen Eigenentwick-lung weitere Heron-Drohnen zu leasen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich sind nichtalle Probleme mit militärischen Mitteln lösbar, schon garnicht ethnische Konflikte, eine korrupte Gesellschafts-ordnung oder die Ausbreitung des wahhabistischen Is-lamverständnisses. Hier muss Mali selbst Lösungen fin-den, aber wir müssen unterstützen. Wir wollen nur dieVoraussetzungen dafür schaffen, dass die Waffenruheeingehalten wird, Basissicherheit herrscht und der Frie-densprozess vorankommt. Die Malier sollen mit unsererHilfe selbst etwas aufbauen und selbst für Sicherheitsorgen können. Wir müssen zu den Maliern stehen undsie auf dem von ihnen gewählten Weg der Demokratisie-rung, Versöhnung und Modernisierung unterstützen. Hiersollten wir nicht zu kurzfristig planen. Auch hier werdenwir einen langen Atem brauchen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/7206 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte zur Ausbildungsunterstüt-zung der Sicherheitskräfte der Regierung derRegion Kurdistan-Irak und der irakischenStreitkräfteDrucksache 18/7207Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Dr. Ursula von der Leyen. – Bitte.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Jetzt steht die Beratung des Antrags zurVerlängerung des Mandats im Nordirak auf der Tages-ordnung. Dabei geht es um die Ausbildung der Pesch-merga.Da ich die Debatte eben beobachtet habe, ahne ich,welche Salve gleich von links kommen wird. Deshalbsage ich gleich: Meine Damen und Herren, ich habe nichtvergessen, wie der IS die Peschmerga vor anderthalb Jah-ren überrannt hat, wie er versucht hat, die Jesiden auszu-rotten, wie er die Jesiden abgeschlachtet und in das Sind-schar-Gebirge gejagt hat. Ich habe nicht vergessen, wases damals für Bilder gegeben hat. Ich habe auch nichtvergessen, wie schwer wir uns getan haben, zu entschei-den, tatsächlich zu intervenieren, in eine KrisenregionWaffen zu liefern, die Peschmerga auszurüsten.
Aber wenn ich heute sehe, was gelungen ist – es ist ge-lungen, die Flüchtlinge zu schützen, den IS zurückzu-schlagen, ihm empfindliche Niederlagen beizubringenund Territorium zurückzugewinnen –, dann kann ich nursagen: Diese Entscheidung war richtig, und ich halte esfür absolut gerechtfertigt, dass wir so gehandelt haben.
Seit Mai letzten Jahres haben die Terroristen kein neu-es Territorium mehr dazugewonnen, im Gegenteil. Es istnicht nur gelungen, ihnen Einhalt zu gebieten. Ich werdenie vergessen, wie die Peschmerga uns geschildert ha-Florian Hahn
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ben, was für einen Unterschied diese Unterstützung fürsie gemacht hat. Anfangs standen sie ohnmächtig da,wenn Daesh seine Lastwagen und Autos mit Sprengma-terial gefüllt hat und sie quasi als rollende Bomben in diekurdischen Dörfer oder in die Peschmerga-Linien gefah-ren hat, um sie dort zur Explosion zu bringen. Sie habenuns geschildert, was es für sie bedeutet hat, dass sie dieseterroristischen Bomben auf Distanz halten konnten, dasssie ihre eigenen Leute schützen konnten. Sie haben unsgeschildert, wie viel Mut ihnen das gegeben hat.Insofern ist dieser Erfolg zwar vorrangig ein Erfolgder Peschmerga und des jesidischen Bataillons, das wirausgerüstet und ausgebildet haben; ohne diese Unter-stützung seitens der Bundesrepublik Deutschland undanderer Partner wäre das aber nicht möglich gewesen.Die Bundeswehr hat in den vergangenen zwölf Mona-ten mehr als 6 000 einheimische Kräfte ausgebildet, imNordirak und auch hier in Deutschland. Sie schlagen sichtapfer. Wir wissen aber: Der Kampf wird noch lange dau-ern; er ist noch lange nicht ausgestanden. Teile Nord- undWestiraks leiden immer noch unter dem grausamen Jochvon Daesh.Jetzt gilt es, den Erfolg zu verstetigen und fortzu-setzen, aber auch aus den Erfahrungen zu lernen. Wirwerden Sie darum bitten, die Kontingentgröße diesesMandats zu erhöhen, von 100 auf 150 Soldatinnen undSoldaten. Wir haben gelernt, welchen Bedarf es nebender Grundausbildung gibt. Wir wollen die Ausbildungerweitern um ABC-Fähigkeiten, um Fähigkeiten in denBereichen Sanitätsdienst und Logistik. Das wollen wirden Kurden, den Peschmerga beibringen.In diesem Kampf gegen den Terror wollen wir nebender robusten militärischen Antwort, die Daesh braucht,natürlich auch eine zivile Antwort geben, die immer wie-der eingefordert wird. Wenn man in Erbil ist, spürt manvor allem Dankbarkeit für die breite Hilfe, die geleistetwird, nicht nur für das, worüber wir heute im Zusam-menhang mit diesem Mandat sprechen, sondern vor al-lem auch für die humanitäre Hilfe, die von Anfang an ge-leistet worden ist. Wenn wir den Kampf gegen den Terrorgewinnen wollen, dann bedarf es vor allen Dingen einespolitischen Prozesses.Neben dem Mandat, über das wir hier jetzt sprechen,das wir hier auf den Weg bringen, ist vor allem Folgendeswichtig – darüber müssen wir uns im Klaren sein –: Andem Tag, an dem wir durch die Peschmerga Territoriumoder Städte zurückerobert haben, an dem wir Daesh zu-rückgeschlagen haben, an dem Tag des Erfolges beginnteigentlich erst die entscheidende Arbeit, die auf einenlangfristigen und nachhaltigen Erfolg zielt, nämlich dieStabilisierung, der Wiederaufbau, der Versöhnungspro-zess. Wenn die Familien in die Region zurückkommen,in der sie bitterste Erfahrungen gemacht haben, aus dersie vertrieben worden sind – mit dieser Erfahrung sindauch Enttäuschungen durch Nachbarn verbunden –, dür-fen sie nicht Rache walten lassen, sondern müssen denVersöhnungsprozess zusammen mit dem Aufbauprozessverbinden. Das heißt, wir werden einen langen Atembrauchen. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt Streckemachen und dieses Momentum der Stärke, das ich an-fangs geschildert habe, nutzen, um Daesh den Bodenvielfältig zu entziehen.Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorlie-genden Mandat, auch, um der Bitte der Kurden in derRegion nachzukommen.Unser Beitrag zeigt, dass wir unserer Verantwortungin der Region gerecht werden. Er zeigt, dass wir unserenPartnern in Europa, aber auch in der Welt im gemeinsa-men Kampf gegen Daesh unbeirrt zur Seite stehen, dassauf uns Verlass ist und dass Gleichgültigkeit für ein Landwie unseres keine Option ist.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ent-sendung deutscher Streitkräfte in den Nordirak zur Aus-bildung der Peschmerga und anderer Kräfte ist Teil dersogenannten Anti-IS-Koalition. Lassen Sie mich ganzam Anfang sagen: Der sogenannte Krieg gegen den Ter-ror hat nicht den Terror bekämpft, sondern er hat neuenTerror geschaffen und die Spirale der Gewalt angeheizt.Das sagt nicht nur die Linke, das sagt auch der Bundes-nachrichtendienst. Die Lage – ich zitiere aus einer denMedien zugespielten BND-Studie – sei „heute ungleichgefährlicher“ als 2001. Die „Zone der Instabilität“ sei„vom Hindukusch in die unmittelbare Nachbarschaft Eu-ropas vorgerückt“. Man kann nicht oft genug betonen:Den IS würde es heute nicht geben, wenn die USA nicht2003 den Irak bombardiert und dann besetzt hätten.
Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung daraus?Sie ziehen Deutschland immer tiefer in einen Krieg imMittleren Osten hinein. Das ist die falsche Antwort.
Eine wichtige Motivation der Bundesregierung for-mulieren Sie in Ihrem Antrag selbst: Die Intervention imIrak stelle „einen weiteren Pfeiler der Intensivierung un-seres sicherheitspolitischen Engagements dar“. Übersetztheißt das: Es geht um Glaubwürdigkeit, es geht darum,als europäische Führungsmacht den wirtschaftlichen undgeopolitischen Interessen auch in Kriegszonen Geltungverschaffen zu können. Darum geht es. Es vergeht auchfast keine Woche, in der nicht eine neue Aufrüstungs-oder Einsatzentscheidung gefasst wird. Frau Merkel hatgestern auch im Verteidigungsausschuss deutlich ge-macht, was die Marschrichtung der Großen Koalition fürdie nächste Zeit sein wird: weitere Bundeswehreinsätzeund weitere Aufrüstung. Das lehnt die Linke ab.
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Die Bundesregierung begründet die Fortsetzung desEinsatzes mit den Erfolgen bei der Zurückdrängung desIS.
Städte wie Sindschar, Tikrit und Baidschi wurden vom ISbefreit. Das ist zunächst richtig, aber es ist nur das halbeBild. Offenbar erleben Bewohner dieser Orte die Rück-eroberung nicht alle als Befreiung. Ramadi wurde weit-räumig zerstört. Dazu hat übrigens auch der Abwurf von630 US-Bomben beigetragen. An anderen Orten folgt derDiktatur des IS die Willkürherrschaft radikal-schiitischerMilizen, zum Beispiel in Tikrit. Dort haben diese Mili-zen laut Human Rights Watch einige Hundert Gebäudegeplündert und vorsätzlich zerstört. 200 Sunniten wurdenentführt, darunter Kinder. Korrespondenten berichtetenim letzten Monat, dass auch Baidschi völlig von diesenMilizen kontrolliert werde und eine – Zitat – Kampagnegegen Einwohner und Rückkehrer geführt wird. So wirdder Irak nicht stabilisiert, in Wirklichkeit wird so neuerHass gesät. Denn in diesem Krieg gibt es nicht die einegute Seite.
Mit Waffen und Ausbildern stützt Deutschland eineRegionalregierung, die ihre Macht nicht auf das Parla-ment, sondern auf die Waffen ihrer Streitkräfte stützt. Esist nicht transparent, was mit den deutschen Waffen pas-siert, die Sie liefern. Der Präsident des kurdischen Regi-onalparlaments, Yusuf Mohammed, hat jüngst in Berlindie Befürchtung geäußert, sie könnten zum innerkurdi-schen Machtkampf instrumentalisiert werden; denn derdeutsche Partner Präsident Barzani hat das Parlament füraufgelöst erklärt. Der Parlamentspräsident darf die kurdi-sche Hauptstadt Erbil nicht einmal betreten.Aber diese Probleme interessieren Sie nicht sonder-lich, weil sie nicht in Ihre Erzählung hineinpassen. Es istauch nicht neu, dass die Bundesregierung die Realitätennicht vollständig zur Kenntnis nimmt. So sind es auchnicht die Peschmerga gewesen, die im Sommer 2014 dieJesiden im Sindschar-Gebirge vor dem IS gerettet haben,sondern die PKK und ihre Verbündeten.
Doch die PKK wird von der Bundesregierung weiterhinals terroristische Vereinigung eingestuft. Das ist heuch-lerisch. Das Verbot der PKK muss endlich aufgehobenwerden.
Die Ausbildungsmission ist Teil einer überaus ge-fährlichen Intervention. Sie begann im letzten Jahr mitWaffenlieferungen und der Entsendung von Ausbildern.Dann kamen der Tornadoeinsatz und nun die AWACS.Wir befürchten, es wird weitergehen. Der Abschuss derrussischen Militärmaschine durch die Türkei und die ak-tuelle Eskalation des Konflikts zwischen dem Iran undSaudi-Arabien haben verdeutlicht, wie rasch der Kon-flikt in einen internationalen Krieg der Regional- undGroßmächte umschlagen kann. Wir sind der Meinung,die Bundeswehr hat weder in Syrien noch im Irak etwasverloren.
Die Linke stimmt gegen die Verlängerung und dieAusweitung dieses Bundeswehreinsatzes. Beenden Siedie Beteiligung am Krieg gegen den Terror!Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Staatsminister Michael Roth.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir sind sicher alle immer noch erschüt-tert über den furchtbaren Terroranschlag von Istanbul,dem am vergangenen Dienstag elf unschuldige Men-schen zum Opfer gefallen sind. Seit vielen Jahren hat unsDeutsche der Terror nicht mehr so schwer getroffen wienun in Istanbul. Dabei war uns immer klar: Dieser Terrorverschont niemanden. Er bedroht uns alle, ob in Syrien,im Irak, in der Türkei oder eben auch hier bei uns, mittenin Europa.Insofern, liebe Frau Kollegin Buchholz, bin ich überdas Weltbild, das Sie uns hier präsentieren, erschüttert:Schwarz und Weiß, die Bösen und die Guten. Ich findedas zynisch gegenüber den vielen Opfern einer furchtba-ren Terrororganisation.
Ich hätte mir zumindest in dieser Frage ein Stückchenmehr Zusammenhalt gewünscht,
und ich hätte zumindest erwartet, dass Sie Fakten nichtignorieren.
Aber wenn man Ihnen zuhört, könnte man meinen, dassdie Vereinigten Staaten und wir für all das verantwortlichsind.
Dass wir über einen solchen Einsatz streiten, finde ichmehr als legitim.Christine Buchholz
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Dass wir darum ringen, welcher der richtige Weg seinkönnte, ist doch völlig klar. Denn der Anschlag vonDienstag hat uns erneut auf grausame Weise vor Augengeführt: Wir können uns vor Krieg und Terror in der Weltnicht abschotten, weder durch stures Wegschauen nochdurch Mauern und Zäune. Die jüngsten Attentate der Ter-rororganisation ziehen eine blutige Spur vom Nahen Os-ten über Nordafrika bis hin zu uns nach Europa. Deshalbbrauchen wir Geschlossenheit. Wir brauchen Entschie-denheit. Wir brauchen Besonnenheit im Kampf gegenden internationalen Terrorismus;
denn es geht letztlich auch um unsere eigene Sicherheit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir unsdoch – deshalb bin ich so entsetzt über Ihre Aussagen –:
Als im Sommer 2014 die Terrororganisation „IslamischerStaat“ weite Teile des irakischen Staatsgebietes einnahmund dabei grausame Menschenrechtsverletzungen ge-genüber der Zivilbevölkerung, vor allem gegenüber eth-nischen und religiösen Minderheiten, beging, schallteuns doch von allen Seiten entgegen: Tut endlich etwas!Beendet dieses Morden Unschuldiger!Wir haben damals in einer Sondersitzung des Bundes-tages eine sehr emotionale Debatte über die Frage ge-führt, ob die Bundesregierung Waffen und weitere militä-rische Ausrüstung an die kurdischen Peschmerga liefernsoll.
Viele von uns – in allen Fraktionen; das will ich Ihnenja noch zugutehalten – haben damals mit ihrem Gewis-sen gerungen: Sind wir bereit, das Risiko einzugehen,dass die von uns gelieferten Waffen später einmal in diefalschen Hände fallen könnten? Oder beschränken wiruns auf rein humanitäre Unterstützung und riskieren da-mit das weitere Erstarken eines menschenverachtendenTerrorstaates und das Versinken einer ganzen Region inBlut und Chaos? Das sind die Fragen, mit denen wir unsdamals, finde ich, sehr verantwortungsvoll auseinander-gesetzt haben.Dann haben wir einige Monate später abermals hierim Bundestag beschlossen, neben der militärischen Aus-rüstung auch deutsche Soldatinnen und Soldaten in denNordirak zu entsenden, um die kurdischen Sicherheits-kräfte und irakische Streitkräfte an den Waffen auszu-bilden. Ich erinnere mich noch gut: Das waren damalskeine einfachen Debatten, und es waren schon gar nichteinfache Entscheidungen. Aber – dabei bleibe ich, und dakann ich nur das unterstützen, was auch Frau Bundesmi-nisterin von der Leyen sagte – wir haben damals richtigentschieden; denn der Vormarsch des „Islamischen Staa-tes“ konnte vorerst gestoppt werden. Vor allem im Nor-den des Irak ist es den kurdischen Sicherheitskräften undden Regierungstruppen mit Unterstützung der internatio-nalen Allianz gelungen, den IS in die Defensive zu drän-gen. In den vergangenen Monaten hat der „IslamischeStaat“ wichtige Teile der von ihm kontrollierten Gebieteim Irak verloren. Die Kombination aus gut ausgebildetenund ausgerüsteten Bodentruppen sowie Luftschlägen derinternationalen Anti-IS-Koalition gilt als ein Erfolgsmo-dell.Zu diesem militärischen Erfolg haben wir in Deutsch-land einen Beitrag geleistet. Es wurde schon davon ge-sprochen: Im November 2015 wurde die Stadt Sindscharvon Truppen befreit, die in Erbil von Bundeswehrsol-daten ausgebildet und ausgerüstet wurden. Für diesenBeitrag haben wir im Irak große Anerkennung erfahren.Auch in anderen Landesteilen im Zentralirak, wo wirnicht militärisch beteiligt sind, zeigt sich der Erfolg derinternationalen militärischen Unterstützung und Ausbil-dung, etwa in der Raffineriestadt Baidschi oder in derProvinzhauptstadt Ramadi, die inzwischen von Regie-rungskräften weitgehend befreit wurden. Unsere militä-rische Unterstützung der Peschmerga und der irakischenStreitkräfte in ihrem Kampf gegen den IS zeigt also Wir-kung.Auch dank unserer Unterstützung konnten viele Men-schen von der Schreckensherrschaft des IS befreit undviele Menschenleben gerettet werden sowie Zehntausen-de Vertriebene in ihre Heimat zurückkehren. Dies giltvor allem für die ethnischen und religiösen Minderheitenim Irak, wie zum Beispiel die christlichen Gruppen odereben auch die Jesiden.Machen wir uns aber nichts vor – und das gebe ich jaauch gerne zu –: Es liegt noch ein sehr langer und be-schwerlicher Weg vor uns; denn die militärische Rück-eroberung war wirklich nur der erste Schritt. Noch vielwichtiger ist, dass die Menschen, die vom IS-Terror be-freit sind, ganz schnell spüren, dass sich ihre Lebensver-hältnisse im Alltag konkret verändern und dass sie in ih-rer Heimat wieder eine Perspektive haben. Dafür setzenwir uns auch im Rahmen unseres Vorsitzes der Arbeits-gruppe Stabilisierung in der internationalen Anti-IS-Ko-alition ein.Angesichts der starken Zerstörungen ist der Bedarfgroß. Deshalb haben wir bereits im Dezember vergan-genen Jahres 20 Millionen Euro für den Wiederaufbauzugesagt, die beispielsweise in die Lieferung von fünfmobilen Krankenhäusern für den Einsatz in den befreitenGebieten geflossen sind. Auch im Ramadi sind bereitserste Vorbereitungen zur Beschaffung von Basisausstat-tung, wie Generatoren, Gesundheits- und Trinkwasser-einrichtungen, im Gange.Darüber hinaus leistet die Bundesregierung in ganzerheblichem Umfang humanitäre Hilfe. Auch dank dermassiven finanziellen Ausweitung der humanitären Hil-fe für das Haushaltsjahr 2016 wird der Irak ein Schwer-punktland unseres humanitären Engagements bleiben.Wir werden in diesem Jahr bis zu 70 Millionen Euro fürHilfsprogramme bereitstellen, um die Not der Flüchtlin-ge und der Vertriebenen im Irak zu lindern.Es muss uns mit unseren Partnern vor Ort gelingen,die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektivenfür die heimische Bevölkerung zu verbessern. Das istdas beste Rezept, um dem IS und seiner barbarischenStaatsminister Michael Roth
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Ideologie die Grundlagen zu entziehen. Wenn es unsgelingt, den Menschen in ihrer Heimat eine neue Per-spektive zu verschaffen, dann wird auch die Zahl derMenschen abnehmen, die sich in ihrer Not auf die lange,beschwerliche und hochgefährliche Flucht nach Europamachen.Beispielshaft steht hier die Stadt Tikrit, wo es mitdeutscher Unterstützung gelungen ist, dass 90 Prozentder vor dem IS geflohenen Bevölkerung in ihre Heimatzurückkehren konnten. Das wollen wir nun auch in wei-teren irakischen Städten erreichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das steht völ-lig außer Frage: Terrorismus lässt sich nicht alleine undin erster Linie mit militärischen Mitteln besiegen. Unsermilitärisches Engagement ist daher stets in eine politi-sche Gesamtstrategie eingebettet.
Worum geht es? Es geht um militärische Unterstüt-zung, Stabilisierung, den Wiederaufbau der befreitenGebiete und humanitäre Hilfe. Das gehört zusammen.All das muss miteinander verknüpft werden. Nur durchdiesen umfassenden Ansatz wird es möglich sein, dasterroristische Treiben des „Islamischen Staates“ endlicheinzudämmen.Für uns ist klar: Die Krisen im Nahen Osten müssenletztlich politisch gelöst werden. Deshalb engagieren wiruns im sogenannten Wiener Prozess, und vor allem des-halb sind wir der Resolution der Vereinten Nationen vom18. Dezember 2015 verpflichtet, die noch einmal deut-lich gemacht hat, dass es nach dem langen Stillstand inSyrien eines politischen Prozesses bedarf. Hierfür setztsich die Bundesregierung – Außenminister Frank-WalterSteinmeier auch ganz persönlich – ein. Deshalb bittenwir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktio-nen, um Unterstützung. Das ist eine historische Chance.Wir können die Einigung schaffen. Ohne Fortschritte impolitischen Prozess in Syrien kann der IS nicht erfolg-reich bekämpft werden.Wir unterstützen auch die irakische Regierung beiihrem Reformkurs und ermutigen sie, dafür zu sorgen,dass der Irak ein multireligiöser und multiethnischerStaat bleibt. Je stärker der irakische Staat ist, umso mehrschwächt das den „Islamischen Staat“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stellemöchte ich mich noch einmal ganz besonders bei unserenSoldatinnen und Soldaten, aber auch bei den zivilen Auf-bauhelfern bedanken, die unter schwierigsten Bedingun-gen in der Region Kurdistan-Nordirak im Einsatz sind.Sie haben im vergangenen Jahr die Ausbildungsunter-stützung aufgebaut bzw. erfolgreich etabliert. Sie habenden Einsatz mit unseren internationalen Partnern koor-diniert, und sie haben sich auch um verwundete Pesch-merga und ihre Behandlung in Deutschland gekümmert.Ihnen gilt unser aller Dank und unser großer Respekt.Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Un-terstützung zur Verlängerung dieses Mandats.Vielen herzlichen Dank.
Die Kollegin Agnieszka Brugger hat für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegin Buchholz, ich finde, das, was Sie gesagt haben,kann man hier nicht so stehen lassen. Erstens war es –das gehört zur Wahrheit dazu – auch das Eingreifen derUSA, das dazu beigetragen hat, dass die Jesiden aus demSindschar-Gebirge fliehen konnten.Zweitens bekomme ich Folgendes in meinem Kopfnicht zusammen: Eine Vertreterin der Linkspartei hatsich gerade hier vorne hingestellt und eine VN-Friedens-mission wahrheitswidrig als Kriegseinsatz diffamiert. Sieteilte rundum aus, lobte aber die PKK und war blind ge-genüber der Gewalt, für die diese verantwortlich ist. Ichmuss sagen: Das wird immer gruseliger.
Frau Ministerin, Sie haben die Ausbildung der Pesch-merga neulich als Erfolgsmodell bezeichnet. Mit demuns vorgelegten Mandat will die Bundesregierung die-sen Einsatz um ein weiteres Jahr verlängern. Dazu gehörtauch die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte und an-derer Gruppen. Frau Ministerin, ich finde, die Bewertung„Erfolgsmodell“ erfolgt zu früh bzw. etwas vorschnell.Ausbildungsmissionen sind nicht per se gut. Sie sindauch nicht per se schlecht. Ob sie erfolgreich waren odernicht, kann man oft erst nach einer längeren Zeit bewer-ten. Der Erfolg hängt immer von den politischen Rah-menbedingungen ab. Wer ausbildet, hat eine Verantwor-tung dafür, was dann mit dem vermittelten Wissen bzw.den erworbenen Fähigkeiten geschieht. Die Geschichtekennt leider viele Beispiele, bei denen die Unterstüt-zung einer Seite in einem Konflikt wirkungslos oder imschlimmsten Fall sogar kontraproduktiv war.Meine Damen und Herren, nicht dass Sie mich falschverstehen: Die kurdischen Kräfte sind unser wichtigsterund bester Partner in der Region. Es ist den Peschmer-ga-Kräften gemeinsam mit den Jesiden gelungen, ISISempfindliche Niederlagen zuzufügen und zum BeispielSindschar zurückzuerobern. Das war natürlich ein großerErfolg. Deshalb halten wir die Ausbildung auch grund-sätzlich für richtig und sinnvoll.Wenn die Bundesregierung aber die entscheidendenpolitischen Fragen vernachlässigt, dann droht diesesAusbildungsengagement zu scheitern oder wirkungsloszu bleiben. Ausbildung alleine reicht eben nicht aus. DieStaatsminister Michael Roth
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Unterstützung darf sich nicht auf das Militärische be-schränken.
Angesichts der dramatischen Flüchtlingszahlen undder wirtschaftlichen Probleme in der Region Kurdi-stan-Irak muss die Bundesregierung ihre humanitäreund politische Unterstützung deutlich verstärken. DieEntwicklungen in den kurdischen Gebieten geben ak-tuell auch Anlass zur Sorge. Es gibt große Spannungenzwischen den verschiedenen Gruppen. Vor diesem Hin-tergrund ist es von großer Bedeutung, dass Sie genauschauen, wen Sie unter welchen Bedingungen womit undworan ausbilden.
Jedes Mal, wenn wir Sie bzw. die Bundesregierungfragen, wen genau Sie eigentlich ausbilden, dann schei-nen Sie es selbst nicht so genau zu wissen. Sie, Frau Mi-nisterin, aber auch Außenminister Steinmeier sprechenimmer von den Peschmerga. Aber die Peschmerga gibtes so nicht, sondern hinter diesem Namen verbergen sichverschiedene Gruppen, die teilweise miteinander kon-kurrieren. Das ist eine sehr komplizierte Lage. Mit derBeschreibung in Ihrer Rede sind Sie ihr nicht gerechtgeworden. Das war an dieser Stelle doch reichlich un-terkomplex.
Vielmehr haben gerade auch die Bundesregierung unddie Bundeswehr angesichts der intensiven Zusammen-arbeit hier die Pflicht, genau hinzuschauen und daraufhinzuwirken, dass Konkurrenz und Konflikte ohne Ge-walt ausgetragen werden. Wenn demokratische Prinzipi-en ausgehebelt werden, wenn die Zivilgesellschaft undJournalisten sowie Jesiden bedrängt und bedroht werden,dann darf man an dieser Stelle nicht einfach wegschauen.
Aber nicht nur die Herausforderungen in der RegionKurdistan-Irak sind immens. Stabilität im Irak und einZurückschlagen von ISIS wird es nur geben, wenn alleBevölkerungsgruppen, Sunniten, Schiiten, Kurden undandere, die tiefen Gräben untereinander überwinden kön-nen und ihre Konflikte beilegen und sich aussöhnen. DieRegierung von al-Abadi hat zwar viel guten Willen ge-zeigt. Die realen Fortschritte aber sind bisher leider sehrbescheiden geblieben. Deutschland genießt als Staat, dersich aus guten Gründen nicht am Irakkrieg beteiligt hat,ein hohes Ansehen und eine große Glaubwürdigkeit. Esist schade und ein Versäumnis, dass Sie aus diesem wert-vollen Kapital so wenig machen. Sie müssen auch denWeg der Aussöhnung viel stärker unterstützen.
Meine Damen und Herren, auch wenn ich die Ausbil-dung der Peschmerga trotz der angesprochenen Problemefür sinnvoll halte, empfehle ich meiner Fraktion, nichtmit Ja zu stimmen. Wir Grüne haben uns bei der letztenAbstimmung mit großer Mehrheit enthalten, weil wir eingravierendes juristisches Problem in Ihrem Mandat se-hen. So, wie Sie die Ausbildungsmission konzipiert ha-ben, entspricht sie nicht den Grundsätzen, die das Bun-desverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zuden Auslandseinsätzen der Bundeswehr in der Auslegungunseres Grundgesetzes aufgestellt hat.So darf die Bundeswehr nur im Rahmen eines Sys-tems kollektiver Sicherheit eingesetzt werden. Dazu zäh-len Institutionen wie die Vereinten Nationen, die OSZE,die Europäische Union oder die NATO. Die Bundeswehrwird hier aber im Rahmen einer Koalition der Willigeneingesetzt, obwohl Sie diesen Einsatz sehr gut als eu-ropäische Mission auf den Weg hätten bringen können.Unserer Auffassung nach ist das Mandat deshalb verfas-sungswidrig. Das ist nicht nur eine Formalie, und das istauch keine Lappalie.Meine Damen und Herren, wir können die Bundes-regierung nur nochmals auffordern: Machen Sie diesenFehler rückgängig, und sorgen Sie für einen verfassungs-gemäßen Rahmen. Aber tun Sie vor allem noch viel mehr,um die politischen Weichen in der Region so zu stellen,dass es langfristig eine Chance auf Stabilität, Friedenund Sicherheit gibt. Dann, Frau Ministerin, können Siehoffentlich in ein paar Jahren wirklich sagen, dass dieAusbildung im Nordirak ein Erfolgsmodell war.
Für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege
Dr. Johann Wadephul das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Frau Kollegin Brugger, ich hatte mich über Ihresehr differenzierte Rede wirklich gefreut und schon dieHoffnung gehabt, dass die grüne Fraktion einen Schrittweitergehen und zustimmen würde; das hielte ich für an-gemessen. Aber diesen letzten Schritt konnten Sie jetztnoch nicht gehen.Ich will ausdrücklich sagen, dass Sie berechtigte Fra-gen gestellt haben, die uns und auch die Bundesregierungbewegen. Natürlich ist die wirtschaftliche und politischeSituation in der Region Kurdistan fragil. Es steht außerjeder Frage, dass wir darauf dringen müssen, dass auchdort demokratische Grundsätze eingehalten werden unddass Präsident Barzani darauf Rücksicht zu nehmen hat.
Das ist hier vollkommen zu Recht angesprochen worden;auch wir tun das. Ich bin kürzlich dort zu einem Besuchgewesen. Es ist klar: Das muss thematisiert werden. Da-rüber kann nicht hinweggegangen werden.Ich will auch das unterstreichen, was Sie zur Fragilitätdes Irak insgesamt gesagt haben. Ich nehme es schon sowahr, dass Regierungschef al-Abadi den Versuch unter-nimmt, die schiitischen Milizen, die es in der Tat gibt,die – das ist der einzige Punkt, bei dem Frau Buchholzrecht hat – wirklich nicht besonders zimperlich vorge-hen und bei denen man sicherlich sehr genau aufpassenmuss, wie sie im Irak im Kampf gegen den IS militärischAgnieszka Brugger
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agieren, was an sich verdienstvoll ist, in die Armee zuinkorporieren und dafür zu sorgen, dass sie zu staatlichenOrganen werden. Das ist außerordentlich schwierig, undes ist mitnichten sicher, dass dies gelingt. Ich glaube, esmuss unsere Politik sein, alles zu unterstützen, was dieEinheit des Irak und den Aussöhnungsprozess zwischenden Volksgruppen bzw. den verschiedenen Religions-gruppen fördert. Wir dürfen auf keinen Fall darauf set-zen, dass dieser Staat wie schon andere weiter zersplit-tert, sondern wir müssen uns um dessen Erhalt bemühen.
Aber zentral ist bei diesem Mandat, dass wir das zurKenntnis nehmen, was dort militärisch geleistet wor-den ist. Die Ministerin hat eingangs dieser Debatte nocheinmal auf die katastrophale Situation insbesondere imSindschar-Gebirge hingewiesen. Ich bin selbst in Flücht-lingslagern gewesen, und viele Kolleginnen und Kolle-gen aus verschiedenen Ausschüssen sind auch schon inFlüchtlingslagern gewesen. Kein Besuch irgendeinesFlüchtlingslagers ist schön. Viele sind belastend. Ichmuss sagen, dass ich diese Bilder nach wie vor mit mirherumtrage, wenn die Jesiden einem schildern, in wel-cher Art und Weise dieser Genozid, der unter dem Manteldes Islam von den Terrorgruppen des IS verübt wordenist, dort vonstattengegangen ist. Die Unionsfraktion bzw.der Kollege Jung haben sich dankenswerterweise kürz-lich noch einmal dieses Themas angenommen und auchden bewegenden Film gesehen, der das dokumentarischfestgehalten hat. Wenn Sie gesehen hätten, was dort ge-schehen ist, Frau Kollegin Buchholz, und wenn Sie dieMenschen erleben würden, die misshandelt worden sind,deren Angehörige auf brutalste Art und Weise getötet,geschlagen oder vergewaltigt worden sind, dann würdenSie hier nicht so reden.In einer solchen Situation muss man wissen, wo mansteht. Und in einer solchen Situation muss man diejeni-gen unterstützen, die einer derartigen Horrortruppe Ein-halt gebieten.
Dann ist das moralisch gerechtfertigt. Ich finde sogar,wir sind verpflichtet, diejenigen, die diese Barbarei ein-grenzen und dem IS Einhalt gebieten, auch militärisch zuunterstützen.
Da sollte man nicht anfangen, kleinlich zu fragen, wel-che kurdische Gruppe das ist. Wir haben doch an mehre-ren Stellen – auch in Kobane – erlebt, dass Kurden Diffe-renzen, die sie untereinander haben, überwunden haben.Das mit der innenpolitischen Frage des PKK-Verboteszu verbinden, wird der außenpolitischen Dimension undauch der menschlichen Dimension dieser Katastrophe inkeiner Weise gerecht, Frau Kollegin Buchholz.
Das finde ich absolut unangemessen. Man könnte zurPKK an dieser Stelle mehr sagen.Ich habe mir auch die Ausbildung der Bundeswehrsol-daten dort angesehen und festgestellt, dass die Bundes-wehrsoldaten das sehr verantwortungsvoll machen undsehr genau darauf achten, welche Peschmerga dort hin-kommen. Die Ministerin hätte das ansprechen können,wenn sie mehr Redezeit gehabt hätte. Wenn sie jetzt re-den würde, würde sie das wahrscheinlich auch ohne Wei-teres ausführen. Es wird sehr genau darauf geachtet, dassaus verschiedenen kurdischen Stämmen und Gruppierun-gen ein Mix gebildet wird. Es wird darauf geachtet, dassdie Ausbildung fast nach unseren Bundeswehrmaßstäbenstattfindet.Ich möchte abschließend in dieser Debatte sagen: Wasunsere Soldatinnen und Soldaten und auch zivilen Be-schäftigten, die dort tätig sind, in Erbil und Umgebungleisten, ist ganz beachtlich. Das ist ein schwieriger Ein-satz auf engstem Raum mit nicht immer einfachem Per-sonal, und ich denke, wir sind alle verpflichtet, unserenSoldaten dafür herzlich zu danken.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Lis-te der islamistischen Terroranschläge des Jahres 2015 istlang und düster. Die schrecklichen Anschläge in Istanbulin dieser Woche zeigen, dass uns der IS-Terror auch 2016keine Atempause lässt. Das ist eine schmerzliche Reali-tät. Daesh hat seine Strategie geändert. Die Terrororgani-sation konzentriert ihre Energie nicht mehr nur lokal undregional. Wir müssen sie daher gerade lokal bekämpfen,ihre Infrastruktur und Streitkräfte schwächen.Die kurdischen Peschmerga sind für uns hierbei eineentscheidende Bastion gegen den IS geworden. Am über800 Kilometer langen bewaffneten Frontverlauf vertei-digen sie nicht nur ihre eigene Sicherheit und Freiheit.Der IS kann nicht totverhandelt werden. Daher istes entscheidend, ihn auch mit militärischen Mitteln zubekämpfen. Die tapferen kurdischen Kämpfer haben ge-zeigt, wie effektiv sie die IS-Barbaren zurückdrängenkonnten. Das war allerdings nur mit unserer Unterstüt-zung, mit Waffen und mit deutscher Ausbildung möglich.Blicken wir zurück. Im August 2014 mussten diePesch merga-Kämpfer im Nordwesten des Irak zurück-weichen. Sie waren der IS-Terrormiliz militärisch unter-legen. Die Islamisten überrannten die strategisch wichti-ge Stadt Sindschar regelrecht. Die Konsequenzen warenkatastrophal. Die IS-Kämpfer hinterließen blutige Spurenin dem von den Jesiden besiedelten Sindschar-Gebirge.Hunderte Männer wurden bestialisch ermordet, Frauenverschleppt, versklavt und vergewaltigt, religiöse Heilig-Dr. Johann Wadephul
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tümer zerstört. Wir mussten in einer Abwägungssituati-on eine Entscheidung treffen, die einen Tabubruch dar-stellte: Waffenlieferungen in ein Spannungsgebiet. DieGrünen waren damals dagegen. Die zukünftigen Risikenseien höher als der kurzfristige Nutzen, so der KollegeHofreiter in der damaligen Plenardebatte. Die Sprecherinder Arbeitsgemeinschaft Frieden wurde mit der Aussagezitiert: Waffen machen Kriege nur noch blutiger. – Imvergangenen Jahr soll der IS rund 14 Prozent seinesTerritoriums verloren haben. Die Terroristen konntenaus Sindschar und nun fast aus ganz Ramadi vertriebenwerden. Zudem sind die Peschmerga verantwortungsvollmit unseren Waffen umgegangen. Ich denke daher, wirkönnen heute von einem langfristigen Nutzen mit einemkalkulierbaren Risiko sprechen. Außerdem haben wir da-mit auch Menschenleben gerettet. Die Anzahl gefallenerkurdischer Kämpfer ist um über 90 Prozent zurückgegan-gen.Genauso wie in der Debatte über die Ausbildungs-mission im Januar 2015 hat die Kollegin Brugger heu-te erneut angekündigt, dass die Grünen zwar eigentlichhinter dem Einsatz stehen, aber verfassungsrechtlicheBedenken haben und sich deswegen enthalten. In diesemZusammenhang möchte ich mir erlauben, Cem Özdemirzu zitieren: „Wenn das Haus brennt, nützt es wenig, wenndie Feuerwehr aus der Brandschutzordnung vorliest.“Diesen sehr richtigen Hinweis sollten Sie sich auch die-ses Mal gewissenhaft vor Augen führen.
Die Rückeroberung der IS-Gebiete im Nordirak gibtuns heute recht in unserer Entscheidung über die Waf-fenlieferungen und die Ausbildungsmission. UnsereUnterstützung hat Früchte getragen. Kurden und Jesi-den ist es gelungen, den IS-Kämpfern schwere Schlägezu versetzen. Mittlerweile sind mehr als 6 100 Pesch-merga unter deutscher Beteiligung ausgebildet worden.Die Anhebung der Personalobergrenze in unserer Aus-bildungsmission ist ein folgerichtiger Schritt, um unserEngagement zu intensivieren. Ich begrüße aber auch denBeschluss über weitere Waffenlieferungen vom vergan-genen Dezember, insbesondere die dringend notwendi-gen 200 MILAN-Panzerabwehrraketen samt Material fürdie Ausbildung. Wie wichtig gerade die MILAN-Waffensind, zeigt uns beispielsweise der 16. Dezember 2015.Damals war nach langer Zeit eine erste Großoffensivedes IS – darunter 16 bis an die Decke mit Sprengstoffbeladene Fahrzeuge – gegen die Kurden gestartet. DieKurden konnten insgesamt 14 dieser Fahrzeuge mit MI-LAN bekämpfen. Dann ist die Munition ausgegangen.Die letzten beiden Fahrzeuge sind dann von der US-Luft-waffe erfolgreich bekämpft worden. Das Ergebnis waren200 tote IS-Kämpfer, aber auch sechs Tote aufseiten derPeschmerga. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig geradediese Waffe für die Kurden im Kampf gegen den „Isla-mischen Staat“ ist. Wir sollten weiterhin an der Seite derKurden sein und sie unterstützen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7207 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Luise
Amtsberg, Volker Beck , Katja Keul, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfah-
rensgesetzes – Streichung der obligatorischen
Widerrufsprüfung
Drucksache 18/6202
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisherist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesetz-lich dazu verpflichtet, seine Entscheidungen zur Aner-kennung von Asyl und zur Zuerkennung der Flüchtlings-eigenschaft spätestens nach drei Jahren zu überprüfen.Hierbei wird im Rahmen von Widerrufsprüfverfahrenfestgestellt, ob weiterhin erhebliche Gefahren bei einerRückkehr in das Herkunftsland drohen oder eben andereAusschlussgründe vorliegen. Dieses Verfahren ist obliga-torisch, also routinemäßig und sehr aufwendig.In unserem Gesetzentwurf, der hier vorliegt, schla-gen wir vor, diese obligatorische Prüfung zu streichen.Es sei gleich zu Anfang dazu gesagt: Die Durchführungvon Widerrufsverfahren in Einzelfällen wäre auch beieiner Annahme unseres Gesetzentwurfs weiterhin mög-lich. Die Ausländerbehörde kann demnach jederzeit beimBundesamt anfragen, ob nicht ein Widerrufsverfahrenin Betracht kommt. In der Praxis kommt dies auch vor,wenn eine Ausländerbehörde ein Interesse an der Aufent-haltsbeendigung hat, zum Beispiel bei der Verübung vonStraftaten. In unserem Gesetzentwurf geht es also ledig-lich darum, diese routinemäßige Prüfung abzuschaffen.Der Hintergrund ist, so denke ich, eindeutig. Wir wol-len zügige und faire Asylverfahren und eine zeitnahe Re-gistrierung von Asylsuchenden und – das ist zentral – dieEntlastung des Bundesamtes von unnötiger Arbeit, damitdie Asylverfahren schnell abgearbeitet werden können.
Florian Hahn
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Um das zu erreichen, haben wir uns angesehen, wel-che Möglichkeiten es gibt, die Verfahren des Bundesam-tes – das Bundesamt ist mit Arbeit überlastet – zu ver-schlanken. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dannsieht man, dass unser Vorschlag durchaus sinnvoll ist.Bis Ende November 2015 wurden laut der Geschäftssta-tistik des Bundesamtes insgesamt 9 742 Entscheidungenüber Widerrufsprüfverfahren getroffen. Die meisten Ent-scheidungen betrafen die Herkunftsländer Irak, Syrien,Iran und Afghanistan, alles Länder mit einer schlechtenMenschenrechts- und Sicherheitsprognose, und das istentscheidend bei der Frage, ob Widerrufsprüfverfahrendurchgeführt werden müssen.Aber viel wichtiger ist: In nur 5 Prozent der Fälleerfolgte tatsächlich ein Widerruf der Asylberechtigungdurch das BAMF. Die Zahl der tatsächlich erfolgten Wi-derrufe steht damit in überhaupt keinem angemessenenVerhältnis zu dem erheblichen Prüfungsaufwand, der mitder Einleitung der Widerrufsprüfverfahren einhergeht.
Die obligatorische Widerrufsprüfung sollte deshalbabgeschafft werden. Noch einmal der Hinweis: Damit istunbenommen, dass auch weiterhin in Einzelfällen solcheVerfahren durchgeführt werden können.Sie wollen das Asylpaket II in der nächsten Wocheauf den Weg bringen. Das wäre doch durchaus eine guteGelegenheit, diesen Vorschlag mit aufzunehmen und imBAMF damit die Kapazitäten, die es dringend zur Be-arbeitung und Entscheidung in Asylverfahren benötigt,freizusetzen. Ihre Bilanz, liebe Bundesregierung, ist,gerade was diese Frage angeht, wirklich ernüchterndbis erschreckend; denn keines der bislang verabschiede-ten Asylpakete entlastet tatsächlich das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge oder reduziert die Bearbei-tungszeit von Asylanträgen, und das ist doch jetzt unserevornehmliche Aufgabe.
Die Zahl von 360 000 anhängigen Asylverfahren machtdas deutlich. Hinzu kommen die circa 300 000 Asylsu-chenden, die zwar registriert wurden, aber noch keinenAsylantrag stellen konnten. Wenn Sie sich im Detail mitdem Ablauf eines Widerrufsprüfverfahrens und auchmit seinen Erfolgsaussichten beschäftigen, dann werdenSie mir zustimmen, dass sich die Bediensteten des Bun-desamtes zurzeit sicherlich mit sinnvolleren Dingen be-schäftigen könnten, zum Beispiel damit, die anhängigenAsylanträge zu entscheiden.Dazu gehört auch der Blick auf das, was künftig kom-men wird. Sie schlagen vor, die Asylverfahren von ma-rokkanischen und algerischen Staatsangehörigen priori-siert zu behandeln, gar nicht zu sprechen von den über14 weiteren Staaten, die der Freistaat Bayern als weiteresichere Herkunftsländer eingestuft haben will, darunterStaaten wie Mali und Nigeria. Wenn das auch noch allesbeim Bundesamt im priorisierten Verfahren bearbeitetwerden sollte, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, lie-bes Bundesamt.
Insofern verstehen Sie unseren Vorschlag tatsächlichals einen Versuch, konstruktiv in die Debatte zu gehen,Vorschläge zu machen, wo wir Kapazitäten sparen kön-nen. Das ist nämlich unser Anliegen. Wenn Sie dem nichtzustimmen können, dann würde mich schon interessie-ren, mit welcher Rechtfertigung; denn die Zahlen spre-chen für sich. Die meisten Widerrufsprüfverfahren sindnicht erfolgreich. Sie binden wahnsinnig viele Kapazitä-ten, und die brauchen wir derzeit ganz woanders.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lindholz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Asyl undFlüchtlingsschutz sind grundsätzlich befristete Aufent-haltstitel, die dem Schutz von Leib und Leben dienen.Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist dahergemäß § 73 unseres Asylgesetzes verpflichtet, innerhalbvon drei Jahren zu prüfen, ob die Schutzgründe weiter-bestehen und ob der Betroffene auch wahrheitsgemäßeAngaben gemacht hat. Das Ergebnis dieser Widerrufs-prüfung teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlin-ge dann auch den Ausländerbehörden mit, die über denweiteren Aufenthalt entscheiden.Der Antrag der Grünen zielt darauf ab, diese Wider-rufsprüfung nunmehr abzuschaffen. Damit fordern Sieletztendlich ein von Anfang an unbefristetes Bleiberechtfür jeden anerkannten Flüchtling,
für jeden Asylberechtigten und auch für jeden subsidiärGeschützten.Diese Forderung ist gerade in der jetzigen Situationmehr als absurd. Im letzten Jahr haben wir 1 MillionFlüchtlinge bei uns registriert, versorgt und unterge-bracht. Die Bundesrepublik nimmt mehr als die Hälftealler Flüchtlinge der EU auf, und trotz des Winters kom-men nach wie vor tagtäglich im Durchschnitt über 3 000neue Migranten nach Deutschland. In dieser Lage wollenSie noch mehr Anreize für Migration nach Deutschlandschaffen, indem Sie einen von Anfang an unbefristetenAufenthaltstitel versprechen. Das ist aus meiner Sicht inkeiner Weise mehr nachvollziehbar.
Luise Amtsberg
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Ja, Frau Kollegin Amtsberg, die Widerrufsprüfung istaufwendig, und genau deswegen haben wir im letztenJahr im Zuge der Reform des Bleiberechtes den bürokra-tischen Aufwand reduziert. Hierauf gehen Sie in keinerWeise, weder in Ihrem Antrag noch in Ihrer Rede, ein.Seit August 2015 muss das Bundesamt der Ausländer-behörde nur noch über diejenigen WiderrufsprüfungenAuskunft geben, die für eine Aufhebung des Schutzesplädieren. Da das Bundesamt bisher in 95 Prozent derFälle den Schutzanspruch nicht widerrufen hat, entfal-len bei vielen Prüfverfahren die aufwendigen Prüfaktenund auch die Korrespondenz mit der zuständigen Aus-länderbehörde. Wir haben also für eine bürokratischeEntlastung gesorgt. Laut einer Pressemitteilung des Bun-desamtes vom 13. August letzten Jahres hat sich der Ar-beitsaufwand deutlich verringert. Zudem haben wir über4 000 neue Stellen für mehr Leistungsfähigkeit im Bun-desamt geschaffen. Insofern, glaube ich, ist es ein nachwie vor richtiges und notwendiges Verfahren.Es steht im Übrigen in Übereinstimmung mit demVölkerrecht und ist auch in Artikel 44 der Asylverfah-rensrichtlinie explizit verankert. Wenn wir eine europä-ische Flüchtlingspolitik wollen, dann muss Europa seinAsylrecht im Einklang mit dem Asylrecht seiner europä-ischen Nachbarn halten und darf keine weiteren einseiti-gen Anreize schaffen.
– Vielleicht hören Sie einfach einmal eine Weile zu; dannwürde sich Ihr Einwurf erübrigen.Österreich hat erst im letzten Jahr die Widerrufsprü-fung im Asylrecht gestärkt. Künftig sollen die österrei-chischen Behörden nach drei Jahren systematisch prüfen,ob Schutzgründe im Einzelfall fortbestehen. Nur dann,wenn das der Fall ist, wird der Aufenthaltsstatus verlän-gert. Wien betont ganz bewusst, dass es nur ein Asyl aufZeit, also einen befristeten Schutz, gewährt.Selbst im liberalen Schweden, liebe Frau Kollegin,beginnt man, bei der Befristung umzudenken und sichvon dem bisher großzügigen Aufenthaltsrecht zu ver-abschieden. Die Überforderung durch die aktuell großeZuwanderung sorgt gerade auch in Schweden für eineKehrtwende in der Asylpolitik. Im November 2015 wur-de verkündet, dass erwachsene Asylbewerber künftig nurnoch befristete Aufenthaltstitel erhalten sollen, und in derSüddeutschen Zeitung war in der letzten Woche zu lesen,dass in Schweden immer mehr Stimmen einen befristetenAufenthaltstitel auch für anerkannte Flüchtlinge fordern.Erst nach einer Probezeit von drei Jahren und nach ei-ner entsprechenden Prüfung soll es unbefristete Aufent-haltstitel geben. Selbst Schweden nähert sich also demdeutschen Recht an und nicht umgekehrt. Diese beidenBeispiele zeigen doch, dass der Trend in Europa gera-de zu einer konsequenteren Widerrufsprüfung geht. Wirkönnen bei den aktuellen Flüchtlingsströmen doch nichtnoch weitere Anreize für den Zustrom setzen. Genau dasfordern Sie aber mit Ihrem Gesetzentwurf. Ich halte dasin der jetzigen Situation für verantwortungslos.
Ich glaube im Übrigen, dass es auch kontraproduktivist, wenn wir uns mit den anderen europäischen Ländernüber eine weitere europaweite Verteilung der Flüchtlin-ge einigen, weil wir uns auch jetzt schon immer wiederdem Vorwurf aussetzen müssen, dass wir keine gemein-samen europäischen Regelungen finden und dass wir inDeutschland einfach zu viele Zuzugsanreize setzen.Die Widerrufsprüfung ist wichtig, auch im Hinblickauf die Übergriffe in Köln und in anderen Städten. Esmuss nämlich ganz klar sein: Wer bei uns einen Flücht-lingsstatus erhält, erhält damit keinen Freifahrtschein. Esmuss klar sein: Jeder Fall wird angeschaut, wird über-prüft – wenn die Gründe weggefallen sind, wird dieBerechtigung widerrufen –, und das nicht irgendwann,wenn ein Mitarbeiter zufälligerweise feststellen sollte,dass sich die Voraussetzungen geändert haben,
sondern durch eine systematische Prüfung, die ich nachwie vor für richtig und auch für ein wichtiges Signal hal-te. Es ist in manchen Fällen gut, wenn man manche Bü-rokratie lässt, um Fehlanreize zu vermeiden.Wir müssen, um die Flüchtlingskrise zu meistern,die unkontrollierte und starke Zuwanderung schnell undspürbar begrenzen. Ich würde mir von Ihnen, liebe Kol-leginnen und Kollegen der Grünen, hierzu einmal kon-struktive Vorschläge wünschen.
Ich habe bisher keinen einzigen konstruktiven Vorschlagvernommen. Dieser Gesetzentwurf samt der heutigenDebatte ist im Grunde genommen absolut überflüssig,kontraproduktiv und führt in keinster Weise dazu, dassdie Probleme in unserem Lande gelöst werden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grü-nen haben hier eigentlich gar keine neue Debatte auf-gemacht. Diese Debatte haben wir im Innenausschussmehrfach geführt. Auch die Linke ist für die klare Ab-schaffung der obligatorischen Widerrufsprüfung. Sie istlängst überfällig.
Andrea Lindholz
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Im Moment muss jeder Einzelfall eines Flüchtlings inder Tat drei Jahre nach der Anerkennung erneut geprüftwerden.
Auch wir halten das für eine sinnlose Beschäftigung desPersonals des BAMF, das eh total überfordert ist. Auchvor dem Hintergrund der hohen Anerkennungszahlen,die wir derzeit haben, muss man davon ausgehen, dassdas BAMF im Grunde genommen kollabiert, wenn manweiterhin an dieser obligatorischen Widerrufsprüfungfesthält.
In keinem europäischen Land außer Deutschland wur-de dieses Verfahren bisher praktiziert. Warum haben esandere Länder nicht? Dass auch Österreich es jetzt ein-führt,
macht es nicht besser.Die Zahlen sind folgende: 2014 hat es 12 527 Prüfver-fahren gegeben. In nur 5 Prozent der Fälle ist die Asylbe-rechtigung widerrufen worden.
Im dritten Quartal des letzten Jahres ist sogar nur nochin 2,2 Prozent der Fälle widerrufen worden. Und die Ge-richte haben in den meisten dieser Fälle den Widerruf zu-rückgewiesen und das Asylrecht erneut bestätigt. Wennman das über Jahre feststellt, dann ist es doch völlig un-sinnig, immer wieder noch Prüfungen durchzuführen.
Jetzt komme ich einmal zu Ihnen, Frau Lindholz.Es geht hier um Menschen und nicht in erster Linie umAnreize. Wenn zum Beispiel die Kinder in Deutschlandnur für drei Jahre zur Schule geschickt werden, dann istdas integrationshemmend, wenn man den Leuten Angstmacht: Was passiert in drei Jahren?
Wie wird es mit meiner Familie weitergehen? – Es isteine reine Schikane vor dem Hintergrund, dass manweiß, dass diese Menschen sowieso hierbleiben dürfen.
Deswegen ist es richtig, dass der Schutzstatus imGrunde genommen eine Bleibeperspektive für die Men-schen haben muss. Das halte ich für absolut wichtig.
Die Menschen dürfen nicht verunsichert werden. Vorallen Dingen ist die jetzige Regelung integrationshem-mend. Das darf einfach nicht sein.Das BAMF hat in der Tat eine Unmenge von Aufga-ben. Wir haben das hier immer wieder diskutiert. IhreFraktion und auch der Bundesinnenminister haben langeZeit alle Forderungen ignoriert, mehr Stellen zu schaf-fen und eine Aufstockung des Personals vorzunehmen.Das ist lange Zeit zurückgewiesen worden. Jetzt habenwir mehr Stellen. Nun ist es wichtig, dass die entschei-denden Aufgaben erledigt werden. Ich halte es für aus-gesprochen konstruktiv, sich auch Gedanken darüber zumachen, wie man Bürokratie abbauen kann, wenn sie imVerfahren ohnehin nichts bringt.
Meine Damen und Herren, bereits Ende 2014 lagen169 000 unentschiedene Asylanträge beim BAMF vor.Heute sind es 365 000 offene Verfahren. Die Menschen,die hier im Verfahren sind, warten bis zu einem Jahr da-rauf, dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen können.Trotz dieser Zahlen werden wichtige Schritte zur Be-schleunigung der Asylverfahren nicht gegangen. Es fehltzum Beispiel noch eine Altfallregelung. Auch damitkönnte man das BAMF entlasten.Statt weiterhin für diejenigen Flüchtlinge, bei denensicher ist, dass sie hierbleiben werden – bei den Men-schen aus Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea beträgtdie Anerkennungsquote ja über 99 Prozent –, schriftlicheVerfahren zu praktizieren, wie es in letzter Zeit der Fallwar, sorgen Sie für eine erhöhte Arbeitsbelastung beimBAMF, indem jetzt wieder individuelle Befragungeneingeführt werden. Auch das halten wir für falsch. DieseMaßnahmen in der Behörde, die viel Zeit kosten, müssenzurückgefahren werden, damit die Menschen schnelleranerkannt werden.Frau Lindholz, Sie wissen genauso gut wie ich: Erstwenn jemand anerkannt ist, hat er Zugang zu Integration.Mit einem Jahr und mehr dauert das gegenwärtig viel zulange.
Deswegen appelliere ich an Sie: Geben Sie der Integrati-on eine Chance, und gehen Sie diese Schritte der Entbü-rokratisierung!Ihre hier geführte Anreizdebatte halte ich für in derSache völlig verfehlt. Gerade die Menschen, über die wirUlla Jelpke
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heute reden, haben einen Schutzstatus, den sie zu Rechtbekommen haben.
Sie stellen das in Zweifel, indem Sie so tun, als würdendiese Menschen hier nur irgendwelchen Anreizen folgen.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Lars Castellucci hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat vorgeschlagen, das Asylver-fahrensgesetz zu verändern und dort die obligatorischeWiderrufsprüfung zu streichen. Dahinter steht eine Ziel-setzung. Die eigentliche Zielsetzung ist, zu einer Be-schleunigung unserer Asylverfahren zu kommen.In dieser Zielsetzung stimmt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Zielstellungen der Koalition unddem Koalitionsvertrag überein. Auch wir sind dafür, dieVerfahren zu beschleunigen. Ich will die Gelegenheitnutzen, zunächst einmal zu schauen, wo wir nach etwasmehr als der Hälfte unserer Regierungszeit mit Blick aufdie Verfahren stehen.Wenn ein Fahrstuhl für 20 Personen ausgelegt ist,braucht man sich nicht zu wundern, wenn er mit 400 Per-sonen stecken bleibt. So ähnlich ist es mit unserenAsylverfahren. In den Jahren 2008 und 2009 hatten wir23 000 bzw. 28 000 Asylsuchende in Deutschland – undauch schon 20 000 aufgelaufene, also unerledigte Ver-fahren. Es brauchte also nicht die knappe halbe MillionAnträge vom vergangenen Jahr, um diesen Apparat zuüberfordern. Der Apparat war längst überfordert. Wahr-scheinlich wusste man noch nicht einmal, für wie vielePersonen – auf das Bild übertragen – der Fahrstuhl ei-gentlich ausgelegt war.Die Verfahrensdauer betrug in den Jahren 2008 und2009 im Durchschnitt rund 15 Monate. Heute – das kannman an dieser Stelle sachlich sagen – liegen wir trotz dergewaltig gestiegenen Zahlen erheblich darunter. Je nachBundesland bewegte sich die Verfahrensdauer im erstenHalbjahr 2015 – das sind die Zahlen, die mir vorliegen –zwischen 3,3 Monaten, nämlich in Mecklenburg-Vor-pommern, und 7,9 Monaten, nämlich in Schleswig-Hol-stein. Die Jahreszahlen werden aufgrund der Dynamikim zweiten Halbjahr wahrscheinlich schlechter ausfallen.Der Durchschnitt verdeckt dabei, dass es natürlich eineVielzahl von Einzelfällen gibt, bei denen die Verfahrens-dauer deutlich über diesem Mittelwert liegt.Darüber hinaus gibt es die aufgelaufenen Fälle. Dassind mit Stand Ende letzten Jahres – ich sage das jetzteinmal sehr langsam – 364 664. Diese 364 664 Fälle ge-hen nicht in die Berechnung der durchschnittlichen Ver-fahrensdauer ein; denn in diesen Fällen ist ja noch nichteinmal ein Verfahren eröffnet worden. All denjenigen,die über Obergrenzen sprechen und begonnen haben, da-für sogar Unterschriften zu sammeln, möchte ich sagen:Mit diesen 364 664 Fällen ist für mich längst eine Ober-grenze erreicht. Das kann so nicht bleiben. Wir müssenunbedingt zu einem Abbau dieser aufgelaufenen Fällekommen.Was weiterhin nicht eingerechnet wird, ist die Zeit, diees braucht, bis überhaupt ein Verfahren eröffnet wird. Esist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass wir an dieserStelle den Koalitionsvertrag unterschiedlich interpretie-ren. Es heißt dort – ich zitiere –:Vor dem Hintergrund der erheblich gestiegenen Zu-gangszahlen im Asylbereich setzen wir uns – auchim Interesse der Schutzsuchenden – mit besonde-rem Vorrang für die Verkürzung der Bearbeitungs-dauer bei den Asylverfahren ein.Jetzt kommt der entscheidende Satz:Die Verfahrensdauer bis zum Erstentscheid soll dreiMonate nicht übersteigen.Egal wie man diesen Satz also interpretiert, müssenwir feststellen: Wir verfehlen nach wie vor dieses Ziel.Für mich und meine Fraktion ist völlig klar: Es ist na-türlich Unsinn, von einer dreimonatigen Verfahrensdauerbeim BAMF zu sprechen und die Zeit, die es braucht, bisüberhaupt ein Verfahren eröffnet wird, nicht mit einzu-rechnen. Wir müssen von einer Zahl ausgehen, und wirmüssen die Verfahren so verkürzen, dass niemand längerals drei Monate in Deutschland warten muss, bis eineAsylentscheidung gefallen ist.
Gleichzeitig gibt es bemerkenswerte Fortschrittebeim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Daransind die Große Koalition und die Politik natürlich nichtunschuldig. Die Zahl der Entscheidungen ist im letztenJahr verdoppelt worden, obwohl es da noch gar nicht dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter gab, deren Stellen wirmit dem letzten Haushalt genehmigt haben. Der neueLeiter des Bundesamtes stellt uns auch in Aussicht, dassin diesem Jahr die Einhaltung der dreimonatigen Ver-fahrensdauer und der Rückbau der aufgelaufenen fast370 000 Verfahren gelingen können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kol-leginnen und Kollegen, wenn wir das einmal in derZwischenbilanz anschauen, dann ist es sehr berechtigt,hier Vorschläge zu unterbreiten, die zu einer weiterenVerkürzung und Beschleunigung der Verfahren führenkönnen, und zwar im Interesse aller Beteiligten. Dennüberlange Verfahren sind für alle eine Belastung. Siesind nicht Ursache der Belastung. Die Ursache liegt da-rin, dass die Menschen überhaupt fliehen müssen. Aberwenn man nur einmal die Zeit ab dem Grenzübertrittnimmt und unterstellt, dass eine Verfahrensdauer vondrei Monaten erreicht würde, dann könnten wir uns dieBeschäftigung mit einigen Problemen, die in der FolgeUlla Jelpke
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entstehen, sparen. Sie wären abgemildert oder würdengar nicht entstehen. Damit meine ich die Probleme, dieeinfach entstehen, wenn Menschen in Massen in Unter-künften zusammengepfercht sind, wenn sie keine klareZukunftsperspektive haben, wenn sie im Grunde immernoch weitgehend zur Untätigkeit verdammt sind, wennsie nicht für sich selber sorgen können, wenn sie nichtwissen, was mit ihren Angehörigen in der Heimat geradeist. Lange Verfahren bedeuten einen unsicheren Aufent-haltsstatus. Sie bedeuten geringere Chancen auf Ausbil-dung und Arbeit. Sie bedeuten auch, dass die Menschen,die sich für die Integration engagieren, mit ihrer Arbeithäufig ins Leere laufen; denn es werden Erfolge erreicht,und irgendwann wird den Menschen dann gesagt, dasssie nicht bleiben können. Das ist kein sinnvoller Zustand.Im Interesse von allen Beteiligten – den Ehrenamtlichen,den Hauptamtlichen, den Flüchtenden selbst – müssenwir zu einer Verkürzung der Verfahren kommen, so wiewir uns das im Koalitionsvertrag vorgenommen haben.Dazu gibt es verschiedene Stellschrauben. Eine Stell-schraube ist das Personal. Wir haben die Zahl der Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter im Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge mehr als verdoppelt. Das muss jetzt ersteinmal bewältigt werden. Sie müssen eingearbeitet wer-den, und dann müssen wir sehen, ob es reicht.Eine weitere Stellschraube ist die Organisation. Dazuwird es heute, am späteren Nachmittag, noch eine wei-tere Debatte hier geben, nämlich zur Einführung des so-genannten Ankunftsnachweises. Wir haben ja miterlebenmüssen, dass in Deutschland bis zu viermal registriertworden ist, aber gleichzeitig die eine Behörde nicht dieDaten der anderen nutzen konnte. Diesen Zustand wollenwir mit dem sogenannten Ankunftsnachweis beenden.Das ist eine überfällige und sehr richtige Maßnahme.Auch die Flüchtlinge selbst können natürlich zur Be-schleunigung der Verfahren beitragen. Eines der größtenHindernisse für schnelle Verfahren ist die fehlende odermangelnde Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung.Auch hier sind kreative Ideen gefragt, wie wir das ver-bessern können. Wir müssen den Behörden möglicher-weise mehr Mittel in die Hand geben, damit das funkti-onieren kann.Als Stellschraube gehört natürlich auch dazu, zu über-legen, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlingenicht von Aufgaben entlastet werden kann, die es eigent-lich zu erledigen hat, die aber im Moment keinen Bei-trag dazu leisten, die Verfahren zu beschleunigen. Des-wegen bin ich dankbar – das diskutieren wir schon seitlängerem – für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Ich wünsche mir, dass wir darüber im Ausschussoffen beraten.
Welche Dinge sind relevant? Wir haben jetzt Vor-schläge dazu. Zum einen müssen sie – das ist klar – derSache dienen; das würde dieser Vorschlag. Zum Zweitenmuss die Sicherheit gewährleistet sein. Wir wollen wederHoppladihopp-Verfahren, die die Rechtsstaatlichkeit in-frage stellen, was die Verfahren der Flüchtlinge angeht,noch wollen wir zu weiterer Unsicherheit beitragen.Auch hier besteht nicht die Gefahr, dass der Antrag einenBeitrag in die falsche Richtung leistet.Wir sind auch gefordert, in andere Länder zu schauen.Der Kollege Meier hat die Schweiz genannt. Ich hatteheute Gesprächspartner aus den Niederlanden im Büro.Dort ist die Rechtsberatung eingewoben in das Asylver-fahren. Damit spart man sich auf lange Sicht, dass dieVerfahren infrage gestellt werden und sich nach hintenverzögern.Kurzum: Alles, was helfen kann, sollte in der Situa-tion, in der wir sind, ohne Schaum vor dem Mund undohne ideologische Scheuklappen betrachtet werden. Des-wegen glaube ich, dass es sinnvoll ist, dass wir im Aus-schuss noch einmal darüber reden.Um wen geht es? Ich komme einmal auf die langenLinien zu sprechen. Es geht um diejenigen, die hier alsFlüchtlinge anerkannt sind. Es geht um diejenigen, diebereits drei Jahre hier leben. Es geht um diejenigen, dieihre Kinder hier schon zur Schule schicken, die die Spra-che bereits können – bei den Kindern geht das erstaun-lich schnell –, die ihren Lebensunterhalt bereits selbstfinanzieren können, die in eigenen Wohnungen lebenkönnen. Mit anderen Worten: Es geht um diejenigen, dieals Flüchtlinge zu uns gekommen sind, aber schon aufdem besten Weg sind, die Freunde, die Nachbarn und dieKolleginnen und Kollegen der Zukunft zu werden. MitBlick auf die langen Linien prophezeie ich, dass wir denTag erleben – er wird nicht so schrecklich fern sein –,wo sich die Lage insgesamt beruhigt. Dann werden wirangesichts unserer demografischen Entwicklung frohsein über jeden, der nach drei Jahren mit Kindern in derSchule, mit Arbeit und Wohnung integriert ist. Abseitsvon der humanitären Verpflichtung, die wir haben, drohtuns, dass wir, wenn wir Menschen nach drei Jahren zu-rückschicken, gerade diejenigen zurückschicken, die wirhier am besten brauchen können, die hier schon auf demWege der Integration sind.
Hier sind wir schlecht beraten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Montesquieuhat den berühmten Satz gesagt: „Wenn es nicht notwen-dig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig,kein Gesetz zu machen.“ Er hat auch gesagt: „Überflüs-sige Gesetze tun den notwendigen an ihrer Wirkung Ab-bruch.“ Das ist kein genialer Satz, aber ein richtiger.Ich wünsche uns gute Beratungen im Ausschuss.
Die Kollegin Barbara Woltmann hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Dr. Lars Castellucci
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-gen und Kolleginnen! Den eingebrachten Gesetzentwurfvon Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung der obliga-torischen Widerrufsprüfung durch das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge, das BAMF, lehnen wir vonder CDU/CSU-Fraktion ab. Das haben Sie schon denWorten meiner Kollegin Andrea Lindholz sehr deutlichentnehmen können.Zur Erinnerung: Die Regelung ist unter der rot-grünenBundesregierung im Zuge des Zuwanderungsgesetzes,das zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, beschlossenworden. Das Gesetz wurde in Übereinstimmung mit EU-und Völkerrecht eingeführt, wie es auch in den meistenLändern der Europäischen Union der Fall ist.
Um was geht es? Nach Erteilung eines positiven Asyl-bescheides ist das BAMF nach § 73 Absatz 2 a Satz 1Asylgesetz dazu verpflichtet, spätestens nach Ablaufoder innerhalb von drei Jahren zu überprüfen, ob dieanerkannten Asylvoraussetzungen weiterhin vorliegenund deshalb Schutz in Deutschland gewährt werdenmuss oder ob sich die Verhältnisse im Heimatland derBetroffenen inzwischen geändert haben und dadurch dieSchutzgründe weggefallen sind. Dann teilt das BAMFden zuständigen Ausländerbehörden das Ergebnis mit.Das alles hat seinen Grund: Sowohl Asyl als auchFlüchtlings- oder subsidiärer Schutz sind vorüberge-hende Schutztitel. Auch Duldungsgründe bestehen nichtzwingend dauerhaft. Eine Überprüfung und gegebenen-falls Aufhebung des gewährten Status halte ich daher fürangemessen und absolut notwendig. Dies ist auch wich-tig, lieber Kollege Castellucci, um einer Verfestigungdes Aufenthaltes vorzubeugen, wenn die Schutzgründeentfallen sind, das heißt die Menschen in ihren Heimat-ländern nicht mehr verfolgt werden. Die Anerkennungals Flüchtling oder als Asylberechtigter soll eben nichtautomatisch zu einem dauerhaften Aufenthalt führen. Eshandelt sich um einen Schutz auf Zeit in einer lebens-bedrohenden Notsituation für den Betroffenen. Dies istauch der Unterschied zu einer Einwanderung, um die eshier ja gerade nicht geht. Das ist nämlich ein ganz an-deres Rechtsinstitut. Es geht nicht um ein dauerhaftesBleiberecht.
Schauen wir uns beispielsweise die Zahlen aus demJahr 2009 an. Damals sind bei rund 15 000 Widerrufs-prüfverfahren circa 4 800 Asylbescheide, also knapp einDrittel, widerrufen worden. Es ist zwar richtig, dass dieWiderrufsquote momentan mit rund 2,7 Prozent sehr ge-ring ist und dass ein Großteil der Flüchtlinge für längereZeit in Deutschland bleibt. Das ist aber hauptsächlich derseit fünf Jahren andauernden Kriegssituation in Syrienund im Nordirak geschuldet. Solange dieser Kriegszu-stand anhält, ist die Prüfung für Menschen aus diesenLändern relativ schnell abzuhandeln.
Eine geringe Widerrufsquote ist kein Grund, auf diejetzige Regelung zu verzichten. Es tut mir leid, FrauAmtsberg.Wir haben aber im letzten Jahr auf die neue Situati-on reagiert und mit dem Gesetz zur Neubestimmung desBleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, das zum1. August 2015 in Kraft getreten ist, eine Entlastung desBAMF herbeigeführt und das Verfahren vereinfacht. Esist auch in unserem Interesse, dass Verfahren vereinfachtwerden, und das haben wir mit diesem Gesetz im letz-ten Jahr getan. Denn jetzt, nach der Neuregelung in § 26Absatz 3 Aufenthaltsgesetz, kann die Ausländerbehördeanerkannten Flüchtlingen nach drei Jahren eine Nieder-lassungserlaubnis erteilen, wenn – das ist jetzt wichtig –das BAMF nicht im Ausnahmefall mitgeteilt hat, dassdie Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rück-nahme des Schutzstatus vorliegen. Das heißt, da entfälltder Austausch bzw. die Korrespondenz mit den Auslän-derämtern. Damit ist es einfacher geworden. So entfälltin einer Vielzahl von Verfahren die bisher erforderlicheaufwendige Anlage und Führung spezieller Widerrufs-prüfakten und – wie bereits gesagt – die damit einherge-hende Korrespondenz mit den Ausländerbehörden. DerAufwand für Einzelfallprüfungen, die das BAMF durch-führen muss, verringert sich dadurch erheblich, da diePrüfung jetzt viel pauschaler durchgeführt werden kann.Die Voraussetzungen für die Bewältigung der hohenFallzahlen – seien es nun Asylanträge, Folgeanträge, wasauch immer – haben wir mit der Aufstockung des Perso-nals geschaffen. In diesem Jahr sollen rund 4 000 neueStellen besetzt werden, und auch in den letzten zwei Jah-ren haben wir mehr Stellen im BAMF geschaffen. UnserZiel ist eine dreimonatige Verfahrensbearbeitung. BeiAsylbewerbern zum Beispiel aus sicheren Herkunftslän-dern soll die Bearbeitungsdauer auf drei Wochen verkürztwerden. Insofern ist auch die Planung von Registrierzen-tren, die jeder Flüchtling durchlaufen muss, richtig.Das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das wir heu-te noch beraten werden, wird die Verfahrensabläufe unddie Zusammenarbeit aller Stellen deutlich verbessernund auch zu einem effektiveren Verfahrensablauf füh-ren. Der Ankunftsausweis wird die Identifizierung unddie Registrierung erleichtern. Seit Anfang Januar werdendie Flüchtlinge, die von Bayern aus verteilt werden, dortauch registriert. Das heißt, wir kommen schon jetzt zugeordneteren Verfahren als im letzten Jahr.Das zweite Asylpaket, mit dem wir unter anderembeschleunigte Asylverfahren für Anträge mit sehr ge-ringen Erfolgsaussichten einführen wollen und mit demwir auch den Familiennachzug, zumindest für subsidiärSchutzberechtigte, begrenzen wollen, steht kurz vor derEinigung und wird ebenfalls zu spürbaren Verbesserun-gen bis runter in die Kommunen führen.Die Verfahrensänderungen, Leistungskürzungen undauch Verschärfungen, die wir bisher durchgeführt haben,
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sind, ich will es zugeben, für manch einen bitter, aberangesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen, die nachDeutschland kommen, zwingend notwendig. Ich glaubenicht, dass ich die Zahlen nennen muss; sie sind bekannt.Wenn weiterhin pro Jahr etwas über 1 Million Flücht-linge nach Deutschland kommen würden, dann wäre dasentschieden zu viel. Die bereits in 2014 und 2015 be-schlossenen Gesetze, die wir auf den Weg gebracht ha-ben, waren wichtige erste Schritte, um mit der jetzigenSituation gut fertigzuwerden. Wir brauchen geordnete,schnelle Verfahren, und wir müssen auch wissen, wersich in unserem Land aufhält.
Es ist richtig, dass Flüchtlinge, die an der Grenze er-klären, dass sie in Deutschland keinen Asylantrag stellenwollen, bereits jetzt gemäß der Dublin-Verordnung zu-rückgewiesen werden. Aber eines muss klar sein: Solltendie Zahlen nicht deutlich runtergehen, werden wir überweitere Einschnitte im bisherigen System diskutierenmüssen.Auch die Frage nach der Einstufung weiterer Staatenals sichere Herkunftsländer müssen wir uns stellen. Denndas führt – das haben wir bei der Einstufung der Balkan-staaten gesehen – zu einer deutlichen Reduzierung bzw.zu einer Beschleunigung im Verfahren.Im Dezember 2015 – das müssen wir uns einmal vor Au-gen führen – machten Asylbewerber aus den Balkanstaa-ten nur noch rund 8 Prozent aller Antragsteller aus. ImVergleich dazu: Im Sommer waren es rund 40 Prozent,im März 2015 waren es sogar einmal 62 Prozent. Das istviel zu viel.Ich denke, dass wir die richtigen Weichen gestellt ha-ben. Mit den Asylpaketen II und III werden wir weitereWeichen stellen. Aber alle – und das möchte ich an die-ser Stelle auch noch einmal deutlich betonen – müssenihren Teil dazu beitragen, besonders die Länder. Ich haltees für unerträglich, dass nicht konsequent abgeschobenwird und die Möglichkeiten des ersten Asylpakets nochnicht von allen Ländern voll umfänglich umgesetzt wer-den, zum Beispiel Sachleistung vor Geldleistung, Leis-tungsreduzierung bei schuldhafter Verhinderung der Ab-schiebung.Alles in allem bleibt festzuhalten, meine sehr verehr-ten Damen und Herren: Es ist Ziel der CDU/CSU, dieFlüchtlingszahlen spürbar zu verringern. Wir dürfen we-der die vielen Ehrenamtlichen noch die Kommunen undschon gar nicht die Integrationsfähigkeit unseres Landesüberfordern. Damit wäre niemandem geholfen, uns nichtund auch den Flüchtlingen nicht, die unseres Schutzesbedürfen.
Noch einmal zum Schluss: Asylrecht ist Schutz aufZeit. Insofern lehnen wir den Gesetzentwurf der Grünenab. Die Gesetzesänderung, die wir 2015 dazu durchge-führt haben, reicht völlig aus.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 18/6202 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
setzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse
und verwandte Erzeugnisse
Drucksache 18/7218
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen, Abspra-
chen und Abstimmungen zügig vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jedes Jahr sterben laut Suchtbericht 2015 der Dro-genbeauftragten der Bundesregierung in Deutschland110 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Als zu-ständiger Minister für den gesundheitlichen Verbraucher-schutz hat Bundesminister Schmidt deshalb den Entwurffür ein Tabakerzeugnisgesetz zur Umsetzung der EU-Ta-bakproduktrichtlinie eingebracht.Für den gesundheitlichen Verbraucherschutz ist derheute vorgelegte Gesetzentwurf ein wichtiger Meilen-stein. Zugleich bleiben Zigaretten nach wie vor ein lega-les Genussmittel. Es wird auch weiterhin eine nennens-werte Erzeugung von Raucherzeugnissen in Deutschlandgeben. Doch die hohe Zahl von Menschen, die an denFolgen des Rauchens sterben bzw. schwer erkranken,zeigt den dringenden Handlungsbedarf, Verbrauche-rinnen und Verbraucher auf die möglichen Folgen desTabakkonsums hinzuweisen. Deshalb werden mit demEntwurf die Voraussetzungen für folgende Maßnahmengetroffen:Das Inverkehrbringen von solchen Zigaretten und vonsolchem Tabak zum Selbstdrehen wird verboten, die eincharakteristisches Aroma haben, die in ihren Bestand-teilen Aromastoffe oder technische Merkmale enthal-ten, mit denen sich Geruch, Geschmack oder Rauchin-tensität verändern lässt, oder die in Filtern, Papier oderKapseln Tabak oder Nikotin enthalten. Daneben dürfenZigaretten, Tabak zum Selbstdrehen und Wasserpfeifen-Barbara Woltmann
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tabak nur noch mit gesundheitsbezogenen kombiniertenText-Bild-Warnhinweisen in den Verkehr gebracht wer-den.Erstmals werden neben Tabakerzeugnissen und pflanz-lichen Raucherzeugnissen auch elektronische Zigarettenund Nachfüllbehälter geregelt. Für sie enthält der Gesetz-entwurf unter anderem Vorschriften zu Inhaltsstoffen,Produktsicherheit, Verpackungsgestaltung und Mittei-lungspflichten. Um die Rückverfolgbarkeit und Echtheitvon Tabakerzeugnissen zu gewährleisten, müssen derenPackungen ein individuelles Erkennungsmerkmal undein fälschungssicheres Sicherheitsmerkmal tragen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das umfangreicheGesetzespaket gestaltet die Rechtslage damit neu undbehält gleichzeitig die Interessen aller im Blick. Wirsetzen die EU-Tabakproduktrichtlinie mit Sorgfalt, abereben auch mit Augenmaß eins zu eins um. Wir schützenVerbraucherinnen und Verbraucher, schränken aber nichtihre Entscheidungsfreiheit ein.
Um einen kleinen Ausblick auf weitere Schritte, wei-tere Initiativen aus dem Bundesministerium zu wagen:Wenn die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aufdem Spiel steht, dann muss die Politik handeln. Deshalbwerden Einschränkungen hinsichtlich der Abgabe vonE-Shishas an Kinder und Jugendliche bereits gesetzlichverankert. Darüber hinaus will Bundesminister Schmidtin einem weiteren Änderungsgesetz bei der Werbung vo-rangehen – der entsprechende Entwurf ist bereits bei derEU-Kommission notifiziert -; denn gerade Jugendlichekönnen sich der allgemein präsenten Außenwerbung nursehr schwer entziehen. Der Zusammenhang zwischendem Kontakt Jugendlicher mit Tabakwerbung und derWahrscheinlichkeit, zu rauchen oder mit dem Rauchenzu beginnen, wurde in mehreren repräsentativen Studienuntersucht und ist statistisch belegt. Dieses zweite Ge-setz wird über diese Werbeeinschränkung hinaus regeln,dass auch nikotinfreie E-Zigaretten und E-Shishas unteranderem bei Werbung und Sicherheit wie nikotinhal-tige E-Zigaretten behandelt werden und auch unter dasTabak erzeugnisgesetz fallen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gesundheitli-che Verbraucherschutz steht im Zentrum unserer Politik.Deshalb bitten wir um Ihre Unterstützung bei den anste-henden parlamentarischen Beratungen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Millionen Bürger wollen nun einmal leidernicht auf ihre Zigarette verzichten. Wir wissen aber, dassmit diesem Konsum erhebliche Risiken verbunden sind.121 000 Todesfälle allein im Jahr 2013 werfen natürlichauch die Frage des Verbots auf. Aber wir wissen: Genaudas funktioniert nicht. Die Inhaltsstoffe eines Schwarz-markttabaks sind noch gefährlicher; denn sie unterliegenkeiner staatlichen Kontrolle. Zigaretten würden nichtweniger, aber eben gefährlicher werden. Deshalb suchenwir nach Möglichkeiten, durch präventive und regulie-rende Maßnahmen die Schäden durch Tabakkonsum inunserer Gesellschaft zu verringern. Diesen Weg fordertdie Linke übrigens auch bei anderen Drogen wie Canna-bis deutlich ein.
Mit der Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeug-nisse sollen jetzt Maßnahmen eingeführt und durchge-setzt werden, die das Ziel haben, gesundheitliche Risikenzu minimieren und den Raucher zum Verzicht auf dieZigarette oder zumindest zur Verringerung seines Rauch-konsums zu bewegen. Es liegt in der Natur der Sache,dass erst die Praxis zeigen wird, welche Maßnahmenhilfreich und auch wirkungsvoll sind, zum Beispiel neueWarnhinweise in einer Kombination von Bild und Textauf der Verpackung, das Verbot von problematischen Zu-satzstoffen oder die Beschränkung der Tabakwerbung.Dass schadensminimierende Maßnahmen getroffen wer-den müssen, steht für die Linke angesichts von Tausen-den Todesfällen in jedem Jahr völlig außer Frage.Es gibt große Reserven. Laut dem Tabakatlas desDeutschen Krebsforschungszentrums hat Deutschlandgegenwärtig im europäischen Vergleich immer noch eineder freizügigsten Regelungen bei der Tabakwerbung. We-sentlich strengere Regelungen führen in Staaten wie zumBeispiel Großbritannien mittlerweile zu einem Rückgangder Raucherzahlen um sage und schreibe 11 Prozent.Deutschland hinkt mit 3 Prozent nach wie vor hinterherund ist weniger erfolgreich.Die Linke wird aber auch genau beobachten und auf-decken, welche Maßnahmen tatsächlich funktionierenund welche nur den Schein einer präventiven Regulie-rung erwecken. Ich will das an einem Beispiel verdeut-lichen. Von 2002 bis 2005 gab es in Deutschland sehrdeutliche und spürbare Erhöhungen der Tabaksteuer umjährlich rund 10 bis 16 Prozent. Daraufhin erfolgte re-lativ sichtbar eine Verringerung des Tabakkonsums inDeutschland. 2011 bis 2015 gab es kontinuierliche, abergeringere Erhöhungen der Tabaksteuer um jährlich circa2 Prozent. In der Entwicklung des Tabakkonsums wirddas nicht mehr deutlich. Durch solche angeblich präven-tiven Maßnahmen, die derart verpuffen, tut man den Ta-bakkonzernen nicht weh, der Umsatz bleibt stabil und derFinanzminister hat etwas mehr Steuereinnahmen. Trotz-dem glauben wir immer noch, dass wir hier eine präven-tive Maßnahme durchsetzen.Darüber, ob es beim Thema E-Zigaretten in der Richt-linie wirklich vorrangig um Gesundheitsschutz oder docheher um die Konkurrenz zur klassischen Zigarette geht,sollten wir ebenfalls noch einmal diskutieren.
Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
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Regulierende Maßnahmen zur Schadensminimierungmüssen jedenfalls im Verhältnis zum Schadenspotenzialstehen; da dürften wir uns einig sein. Mit der Umsetzungder Richtlinie werden E-Zigaretten und E-Shishas jetztmit den herkömmlichen Tabakzigaretten gleichgestellt.Aber typische Verbrennungsprodukte und Inhaltsstoffedes Tabaks – das wissen Sie alle – wie Kohlenmonoxyd,Blausäure und Teer sind im Dampf der E-Zigarette nichtenthalten. Die E-Zigarette ist natürlich kein harmlosesProdukt; auch das wissen wir. Auch hier brauchen wirpräventive Maßnahmen wie zum Beispiel Werbeverbote.Aber wenn hier im Sinne der Konkurrenz mit der klassi-schen Zigarette eine Gleichschaltung herbeigeführt wer-den soll, muss das sehr kritisch hinterfragt werden.Alles in allem, so schätze ich das ein, werden zumin-dest einige der vorliegenden Maßnahmen dazu beitragenkönnen, Folgeerkrankungen und Todesfälle im Zusam-menhang mit dem Tabakkonsum in Deutschland zu ver-ringern. Ausgereizt haben wir diese Möglichkeiten aberganz sicher noch nicht. Es gibt weiter Diskussionsbedarf,welche Maßnahmen zum Beispiel beim Nichtraucher-schutz sinnvoll und auch durchsetzbar sind oder wie wirnoch erfolgreicher im Jugendschutz oder im Gesund-heitsschutz agieren können.Lassen Sie uns deswegen bei der Diskussion über dieUmsetzung der jetzigen Richtlinie nicht haltmachen. Eswird ja auch eine Anhörung geben. Diese Richtlinie istnur ein begrenzter Fortschritt, den wir sicherlich machenwerden. Aber am Ende unseres Lateins sind wir damitganz sicher noch nicht.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! LiebeZuhörerinnen und Zuhörer! Wir sprechen über den Ent-wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie überTabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse.Ich will mit den Bekenntnissen eines Rauchers anfan-gen.
Das heißt, ich bin jemand, der unglücklicherweise in dertäglichen Praxis damit umgehen muss. Wenn ich meinenTagesablauf überprüfe und mit der Zeit vergleiche – sieliegt noch gar nicht so lange zurück –, in der ich nicht ge-raucht habe, dann muss ich feststellen, dass sich in mei-nem Leben nicht unbedingt etwas verbessert hat. Wäh-rend ich früher ein durchtrainierter Sportler war, stelleich heute teilweise eine differenzierte Kurzatmigkeit fest;das alles ist nicht ermunternd.
Aber es war die Entscheidung eines nicht mehr ganz jun-gen Herrn, die er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte –das hoffe ich jedenfalls – getroffen hat; darum geht es amEnde auch.Wir haben es mit einem Produkt zu tun, das nicht zuden gesundheitsfördernden Produkten in diesem Landegehört, das aber ein Konsumprodukt ist und für den einenoder anderen ein Stück Lebensfreude ausmacht; auch dasmuss man attestieren. Daher muss man es dem mündigenBürger anheimstellen, ob er oder sie rauchen will odernicht.
Wir müssen in diesem Zusammenhang Wert darauflegen, dass das, was in einer Zigarette drin ist, nichts Fal-sches suggeriert, also einen falschen Eindruck hinterlässt.Wenn man sich ein bisschen in diese Thematik eingear-beitet hat, dann weiß man, dass es bei der ursprünglichenHerstellung von Zigaretten bzw. Tabakprodukten einenVirginia Blend und einen American Blend gegeben hat.Der Virginia Blend ist die reine Tabaksorte – das kannman auch nachlesen – und mit keinen oder nur wenigenZusatzstoffen versehen; der Virginia Blend ist sozusagenein Naturprodukt. Weil aber die Nachfrage nach Zigaret-ten ständig gestiegen ist, ist man zum American Blendübergegangen. Der American Blend ist ein Konglomerataus unterschiedlichen Tabaksorten, die einzeln vermut-lich nicht konsumierbar wären.Jetzt kommen wir zu den Zusatzstoffen. Man hat Zu-satzstoffe beigemengt, um sicherzustellen, dass die Zi-garetten eine bestimmte Geschmacksintensität und damitauch einen Produktmarkt haben. Wie in vielen vergleich-baren Bereichen müssen sich unterschiedliche Produktenatürlich durch Aussehen – das ist bei Zigaretten rela-tiv schwierig –, Geschmack und Geruch unterscheiden.Dazu braucht man die Zusatzstoffe; das ist nachvollzieh-bar. Es wäre ja auch nicht schön, wenn es nur ein einzigesParfum gäbe; auch bei Parfum erzeugt man Unterschiedeja dadurch, dass man Aroma- und Zusatzstoffe beimengt.Aber wir müssen bei diesen Zusatzstoffen ausgesprochengut aufpassen. Der Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,geht sehr differenziert mit diesem Thema um; ich begrü-ße das ausdrücklich. Er schränkt die Zusatzstoffe ein,und zwar maßgeblich und vernünftig.Nehmen Sie das Beispiel von Altkanzler Schmidt, derja die berühmten und nach einem eigentlich gesundheits-Frank Tempel
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fördernden Produkt riechenden Mentholzigaretten kon-sumiert hat.
Denkt man an das Einatmen von Menthol, wird der Ein-druck erweckt: Das ist eine ganz tolle Sache; das kann jagar nicht schaden. – Das wird in Zukunft unterbunden,und das ist auch richtig so.
Alle Zusatzstoffe, die etwas suggerieren, was das Pro-dukt nicht hergibt, kommen vom Markt; das ist auch gutso. Wir werden, wenn wir uns mit dem Gesetzentwurfauseinandersetzen, hinsichtlich der Zusammensetzungder Zusatzstoffe zukünftig sehr genau der Frage nach-gehen müssen: Was ist im Hinblick auf die Gesundheitüberhaupt noch verträglich, und wie kann man das Pro-dukt so auf den Markt bringen, dass es nicht zunehmendschädlich ist?Ich glaube – das ist für mich eigentlich der Antrieb, fürdie Verordnung in die Bütt zu gehen –, dass Deutschlandein Standort ist, der ordnungsgemäß produziert. Nur we-nige wissen, dass 65 Prozent der Zigaretten, die in ganzEuropa konsumiert werden, in Deutschland hergestelltwerden – in deutschen Fabriken, nach deutschen Stan-dards, von deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern – und von deutschen Labors untersucht werden. Ichmöchte, dass sich das nicht ändert.
Es bedeutet nämlich Produktsicherheit, und es bedeutetfür die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsplatzsi-cherheit.Wir werden bei der Herstellung hierzulande daraufRücksicht nehmen müssen, dass andere Länder ande-re Gesetze haben und die Liste der Zusatzstoffe andersformulieren. Deswegen ist nachträglich § 50 in den Ge-setzentwurf eingefügt worden. Er stellt sicher, dass inDeutschland für andere Länder nach deren Vorstellungenproduziert werden kann. Wir sollten anderen Ländern derWelt nicht ihre Gesundheitsvorstellungen vorschreiben.Das halte ich für gut und richtig.
Eine sehr klare Meinung vertrete ich in der Frage derAußenwerbung. Zigaretten sind ein Produkt, das geradeauf junge Menschen einen Reiz ausübt, der für die Zu-kunft dieser jungen Menschen nicht unbedingt förderlichist. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir uns in derFrage der Außenwerbung ein Beispiel am europäischenAusland nehmen und die Außenwerbung nachdrücklichund möglichst kurzfristig unterbinden.
Das wird in einem zweiten Teil des Gesetzentwurfs gere-gelt. Wenn wir das mit vereinten Kräften anstreben, dannwerden wir das auch hinbekommen.Bei der Umsetzung der gesamten Tabakrichtliniespielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Das EuropäischeParlament hat in 2014 entschieden; die Ausführungen derRichtlinie sind aber leider erst ziemlich spät in Deutsch-land angekommen. Diese Tatsache ist dafür verantwort-lich, dass wir erst heute darüber beraten und nicht schonvor einem halben Jahr darüber beraten haben.Ich habe mir den gesamten Herstellungsprozess derVerpackung – also nicht der Zigarette; das ist hier vonzentraler Bedeutung – in entsprechenden mittelständi-schen Betrieben angeschaut und festgestellt, dass er hochkomplex ist. Die deutschen Hersteller der benötigtenDruckwalzen bedürfen eines gewissen Vorlaufes, um dieZigarettenverpackungen im entsprechenden Design her-zustellen.Uns wurde durch das Europäische Parlament und dieEuropäische Kommission vorgegeben, diese Richtliniebis zum 20. Mai 2016 umzusetzen. Ich persönlich habedie große Befürchtung, dass wir diese Frist nicht wer-den einhalten können. Ich glaube, wir sollten uns in derzweiten und dritten Lesung im Interesse unserer Druck-walzenhersteller nachhaltig Gedanken über entsprechen-de Übergangsfristen machen, ohne unsere europäischenPartner damit zu verstimmen.Wir haben in großem Maße die Verantwortung für dieZigarettenherstellung in Europa, und wir wollen unserermittelständischen Industrie auch die Zeit lassen, sich aufdie neuen Normen einzustellen. Lassen Sie uns deswegenso verbleiben – das sage ich abschließend –, dass wir unsin der zweiten und dritten Lesung über die Übergangs-fristen noch den einen oder anderen Gedanken machen.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Dr. Harald Terpe das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin schon erstaunt darüber, wie der Kollege Spieringhier noch die Kurve gekriegt hat. Er hat sich mit seinenAusführungen zu einer bestimmten Tabaksorte – ichhabe den Namen schon wieder vergessen, weil ich keinRaucher bin – aktuell zwar gesetzeskonform verhalten,weil er keine Zigarettenwerbung im Hörfunk oder Fern-sehen gemacht hat, aber ich fand das schon speziell. Erhat dann aber noch irgendwie die Kurve gekriegt undsich zur Werbung geäußert. Dazu werde ich auch nochStellung nehmen.Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir alsParlament natürlich handfeste Gründe haben, uns immerwieder zu einer gesetzlichen Regulierung der Tabakpro-dukte zu äußern. Diese handfesten Gründe – das ist bereitsgesagt worden – sind die vielen Todesfälle, die mittelbaroder unmittelbar mit dem Rauchen zusammenhängen.Deswegen war ich zunächst sehr enttäuscht darüber, dassdie Koalition bei der Umsetzung der europäischen Richt-Rainer Spiering
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linie im Grunde den Weg der geringsten Arbeit gegan-gen ist. Nachdem auf diesem Gebiet jahrelang eigentlichnichts gemacht wurde, haben Sie diese Gesetzesinitiativegenutzt, um etwas umzusetzen, was wir eigentlich schonjahrelang hätten umsetzen müssen. Ich spreche hier vondem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung undVerführung.Es ist ja schon gesagt worden, dass es in der Gesell-schaft handfeste Verführungen zum Rauchen gibt, wobeiich jetzt nicht nur von der Außenwerbung spreche, dieSie ja dankenswerterweise auch schon angesprochen ha-ben. Ich denke übrigens, dass wir bei dem gemeinsamenVersuch, die Außenwerbung zu verbieten, sicherlich zuVerbündeten werden. Eigentlich müssten wir darüberschon im Rahmen der Debatte über diesen Gesetzentwurfsprechen. Ich hoffe jedenfalls, dass die Diskussionen inden Ausschüssen und auch die Anhörung dazu beitragen,dass wir das schon in diesem Gesetzentwurf regeln wer-den.
Es gibt aber auch noch andere Verführungen. Es istdoch ein Unding, dass Studenten vor Berliner Universitä-ten und Hochschulen mit unentgeltlichen Tabakproduk-ten wie Gauloises und Croissants begrüßt werden. Wasist das denn anderes als eine Verführung? Dem ist nichteinfach nur mit einem Verbot der Außenwerbung beizu-kommen, sondern das muss untersagt werden.
Es muss auch untersagt werden, dass es in Deutsch-land im Rahmen des Sponsorings von Veranstaltungen –ich sage es einmal so – handfeste Werbung für Tabakgibt. Ich hoffe, dass es nicht diese Sponsorings sind, diedazu führen, dass wir als Parlamentarier nicht in der Lagesind, diesen Verführungen der jungen Leute Einhalt zugebieten.Mein deutliches Plädoyer ist also: Lassen Sie unsschon in diesem Gesetzesverfahren handfeste Regelun-gen treffen, was die Außenwerbung, das Sponsoring unddie unentgeltlich ausgegebenen Tabakprodukte betrifft.Im Übrigen könnte so Schreibarbeit bei der Erstellungdes Gesetzes eingespart werden. Man müsste dann nichtjeden besonderen Werbetatbestand, den man unterbindenwill, besonders herausheben. Vielmehr könnte man – dasist unser Ziel – ein Werbeverbot in toto erlassen.
Ich hoffe, dass es dabei bleiben wird, dass die Verspre-chungen vonseiten der Staatssekretärin erfüllt werdenund dass wir das auf jeden Fall, und zwar zeitnah, durch-setzen werden.Lassen Sie mich dann noch zu einem anderen Punkt –dabei handelt es sich um die E-Zigaretten – kurz Stel-lung nehmen. Es ist besonders widersprüchlich, dasswir einerseits trotz Todesfälle immer noch lax mit denTabakprodukten bzw. mit dem Tabakrauchen umgehen,aber andererseits eine Regelung vorschlagen, die besagt,dass die nikotinfreien Liquids nur dann auf dem Marktangeboten werden können, wenn kein Risiko besteht. Esgibt aber in der Gesellschaft überhaupt nichts Risikofrei-es. Sogar Wasser ist risikobehaftet, wenn man davon zuviel trinkt.Ich plädiere also dringend dafür, uns auf einen For-schungswissensstand zu bringen, auf dessen Grundlagewir dann mit vernünftigen Argumenten belegen können,was wir eigentlich bei diesen E-Zigaretten regulierenmüssen.
Die Kollegin Kordula Kovac hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren oben auf derTribüne! Sie haben Ihren Mitmenschen erst kürzlich ei-nen guten Start und vor allem viel Glück und Gesundheitfür 2016 gewünscht. Gesundheit ist ein hohes Gut, undein jeder von uns will gesund bleiben – und dies, obwohlwir unserem Körper im Alltag viel zumuten: ungesundeErnährung, zu wenig Sport und das Rauchen.Wir alle sind uns einig, dass bei uns das gesundheit-liche Wohlergehen der Menschen Priorität genießt. Rau-chen aber – das weiß jeder – schadet der Gesundheit.Rauchen ist das größte vermeidbare Gesundheitsrisikoin Deutschland. Jährlich sterben – das haben wir heuteschon mehrfach gehört – etwa 110 000 Menschen an dendirekten Folgen des Rauchens, mein Vater übrigens auch.Deshalb ist es nur konsequent, die Verbraucher bestmög-lich vor den gesundheitlichen Folgen des Rauchens zuschützen.Die EU hat die Tabakproduktrichtlinie auf den Weggebracht. Sie kommt damit ihren Verpflichtungen imRahmen des WHO-Rahmenübereinkommens zur Ein-dämmung des Tabakgebrauchs nach. Dies wird vonDeutschland ausdrücklich unterstützt. Bis zum 20. Mai2016 – auch das haben wir schon gehört – muss dieRichtlinie umgesetzt werden. Das ist eine ambitionierteHerausforderung. Über Übergangsfristen, lieber KollegeSpiering, müssen wir uns in der Tat noch einmal unter-halten. Auch ich war – wie Sie – im letzten Jahr vier Tageunterwegs, habe mir in den Firmen angesehen, wie dieneuen Regelungen umgesetzt werden können, und habemich darüber informiert, ob der Zeitrahmen reicht.Mit der Umsetzung der Richtlinie werden die Rechts-und Verwaltungsvorschriften über die Herstellung, dieAufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissenund verwandten Erzeugnissen in deutsches Recht um-gewandelt. Damit stärken wir den gesundheitlichen Ver-braucherschutz; denn künftig wird deutlicher auf die Ge-fahren des Tabakkonsums hingewiesen.Bei all dem steht vorrangig der Schutz von Kindernund Jugendlichen vor den Gefahren des Rauchens imMittelpunkt. Einen ersten Schritt dahin haben wir hierDr. Harald Terpe
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im Bundestag bereits gemacht: Das Abgabeverbot vonE-Shishas und E-Zigaretten an Kinder und Jugendlichesoll im März dieses Jahres in Kraft treten. Indem wir denVerkauf unterbinden, schützen wir die jungen Menschenvor den Gefahren des „Dampfens“. So werden Jugend-schutz und gesundheitlicher Verbraucherschutz in glei-cher Weise mit einbezogen.Diesen wollen wir auch bei nikotinfreien E-Zigarettenverbessern, indem wir die Gleichstellung von nikotinhal-tigen und nikotinfreien E-Zigaretten anstreben. Bei Zi-garettenverpackungen, liebe Kolleginnen und Kollegen,wird künftig mit kombinierten Text- und Bildwarnhin-weisen noch deutlicher auf mögliche Gefahren hingewie-sen. Für Tabakerzeugnisse und elektronische Zigarettenwerden verschiedene Zusatzstoffe verboten. Es darf nichtsein, dass durch die Beifügung von Aromastoffen wie Zi-trus oder Schokolade ein an sich gesundheitlich bedenk-liches Produkt ein grundsätzlich neues Image erhält.Bei den Regelungen zur Rückverfolgbarkeit ist derVerwaltungsaufwand für die Industrie auf ein vernünf-tiges Maß reduziert worden. Die E-Zigarette hat Fragendes Gesundheitsschutzes beim Rauchen wieder stärkerin den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion ge-rückt. Wir haben das in dieser Woche bei einer Anhörungeindrucksvoll erleben können. Für nikotinhaltige elek-tronische Zigaretten und Nachfüllbehälter werden Min-destanforderungen an die Produktsicherheit gestellt. Beiden Werbebeschränkungen sollen sie den Tabakerzeug-nissen gleichgestellt werden.Der Gesetzgeber muss seinen verfassungsrechtlichenGestaltungsauftrag für einen wirksamen Verbraucher-schutz erfüllen und diesen weiter verbessern. Darüberbesteht fraktionsübergreifend Einigkeit. Nur an der Fra-ge des Wie scheiden sich die Geister. Durch Zwangsver-pflichtungen oder bloße Verbote besteht die Gefahr derStandortverlagerung ins Ausland. Dies, meine Damenund Herren, würde weder den Verbrauchern noch denArbeitnehmern besonders dienen.Wir wollen eine Bevormundung des Verbrauchersebenso wenig wie Eingriffe in die Privatsphäre. Die Ent-scheidung, ob man für oder gegen seinen Körper handelt,muss jeder für sich treffen. Nur, diese Entscheidung mussauf der Grundlage von fundierten Informationen getrof-fen werden. Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrie-ben:Wo Verbraucher sich nicht selbst schützen könnenoder überfordert sind, muss der Staat Schutz undVorsorge bieten.Die Tabakproduktrichtlinie kommt diesem Auftragnach. Ihre Weiterentwicklung muss deshalb auf derGrundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und unterBerücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Wettbe-werbsfähigkeit stattfinden. Wir sind auf einem gutenWeg, einen Kompromiss zu finden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen praxis-nahe Lösungen, die im Sinne des mündigen Verbrauchersliegen und im Einklang mit den EU-Vorgaben stehen unddie es der Industrie ermöglichen, auf die Vorlagen ange-messen zu reagieren.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche uns allen eine schöne Grüne Woche.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/7218 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich bitte darum, die notwendigen Umgruppierungen
vorzunehmen. In der Zwischenzeit wechselt das Präsi-
dium.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann , Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Patientenberatung unabhängig und gemein-
nützig ausgestalten
Drucksache 18/7042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Harald Weinberg, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen heu-te über die Unabhängigkeit sprechen. Um von anderenwirklich unabhängig zu sein, darf man nicht wirtschaft-lich und organisatorisch mit ihnen verbandelt sein. Istman dies bei gewissen Themen doch und hat vielleichtnoch herausragende öffentliche Ämter inne, dann mussman gewisse Konsequenzen ziehen, damit man nichtauch nur in den Geruch einer fehlenden Unabhängigkeitkommt.Der Kollege Henke, der leider nicht da ist, ist nichtnur CDU/CSU-Abgeordneter im Gesundheitsausschuss,sondern auch Präsident der Ärztekammer Nordrhein. Ervertritt also die Interessen der Ärztinnen und Ärzte. Ausebendiesem Grund hält sich Kollege Henke als Abgeord-neter auffallend zurück, wenn es um Gesetze geht, dieinsbesondere die Interessen der Ärztinnen und Ärzte be-treffen. Sonst würde man ihm womöglich unterstellen,sein Mandat als Ärztelobbyist zu missbrauchen.Kordula Kovac
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Oder der Kollege Lauterbach: Als er vor der letztenBundestagswahl in das SPD-Schattenkabinett berufenwurde, legte er seinen Sitz im Aufsichtsrat der Rhön-Kli-niken nieder. Das wäre für ihn als Gesundheitsminister inspe auch nicht mit dem Amt vereinbar gewesen.Ich erzähle das hier, weil wir alle – auch Sie, die liebenKolleginnen und Kollegen der Koalition – genau überden Wert der Unabhängigkeit Bescheid wissen. Und Siealle wissen genau, dass es mehr als heikel ist, die un-abhängige Patientenberatung einer Firma anzuvertrau-en, die von Krankenkassen, Pharmafirmen und anderenPlayern im Gesundheitswesen abhängig ist.
– Wir kommen schon noch zum Ausschreibungsver-fahren. – Insbesondere ist es sehr bedenklich, wenn dieMutterfirma Sanvartis als spezialisierte Callcenter-Be-treiberin die gesetzlichen Krankenkassen als wichtigenKunden hat. Denn gerade Konflikte mit den Kranken-kassen waren bisher der Grund Nummer eins, weswe-gen sich Patientinnen und Patienten an die unabhängigePatientenberatung gewendet hatten. Ob hier jetzt nocheine Unabhängigkeit gewährleistet ist, wenn die Kassendie Patientenberatung nicht nur finanzieren bzw. finan-zieren müssen, sondern auch noch Herr über die Aus-schreibungsverfahren und zudem ein wichtiger Kundeder Muttergesellschaft des Beratungsunternehmens sind,darf bezweifelt werden.
Ich weiß, Sie entgegnen jetzt sicher, dass Sanvartiseine gemeinnützige GmbH gegründet hat, die auf demPapier nichts mit der Muttergesellschaft zu tun hat. Aberich entgegne Ihnen, dass wir als Abgeordnete darübergenauso wenig wissen wie die Öffentlichkeit, weil dieVerträge, die im Zusammenhang mit der Ausschreibunggemacht wurden, uns gar nicht vorliegen; denn sie sindgeheim. Auch auf Anfragen von uns und von den Grünenteilt die Bundesregierung dem Bundestag wenig Sub-stanzielles mit – mit Verweis auf Geheimhaltungspflich-ten. Ein solches Ausschreibungsverfahren ist das Gegen-teil von Transparenz.Aber auch ansonsten kann das Angebot von Sanvartisnicht überzeugen. So gibt es zwar mehr Beratungsstel-len als bisher, nämlich zukünftig 31 bundesweit. Aller-dings scheinen sie kaum Beratungen anzubieten. Dennnach einer Antwort der Bundesregierung auf die aktuelleAnfrage der Grünen werden dort nur sechs Vollzeitäqui-valente arbeiten. Es gibt also sechs Vollzeitstellen. Dasentspricht 240 Wochenarbeitsstunden verteilt auf 31 Be-ratungsstellen. Das macht gerade einmal acht Stundenpro Woche und Beratungsstelle, und davon ist noch kei-nerlei Arbeitszeit für Büroorganisation oder Ähnlichesabgezogen. Die Beratungsstellen werden also wenigerals acht Stunden in der Woche geöffnet sein und tatsäch-lich beraten können. Das hat die frühere UnabhängigePatientenberatung Deutschland bisher mit weniger Geldbesser gekonnt.
Jetzt komme ich noch zu den Nachteilen des Aus-schreibungsverfahrens an sich: Alle sieben Jahre gibtes nun möglicherweise einen Bruch. Der alte Anbieterkann schon Wochen vor Ende der Ausschreibung keinekomplizierten Beratungsfälle mehr annehmen. Der neueAnbieter braucht drei oder sechs Monate, bis sein Ange-bot funktioniert. So lange gucken die Patientinnen undPatienten mit Beratungsbedarf in die Röhre.
Wir können das Rad nicht zurückdrehen und die Aus-schreibung rückgängig machen. Aber wir können dafürsorgen, dass wir die Fehler dieser Ausschreibung nichtwiederholen. Deswegen sind unsere wesentlichen Forde-rungen:Erstens: zukünftig keine Ausschreibungen mehr, son-dern eine Beauftragung derjenigen unabhängigen Patien-tenorganisationen, die der Bundestag bestimmt.Zweitens: eine Finanzierung aus Steuermitteln stattaus Beitragsmitteln. Damit wären auch die Privatversi-cherten in die Finanzierung einbezogen, und die Kassenhätten weniger Einflussmöglichkeiten und würden finan-ziell entlastet.
Drittens: einen Patientenbeauftragten des Bundesta-ges statt der Bundesregierung. Dieser soll Aufsicht füh-ren, dem Bundestag regelmäßig Bericht erstatten undgegebenenfalls Änderungen vorschlagen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Unabhängigkeitlässt sich nicht in Vergabekriterien pressen. Deswegenwar es ein Fehler, dass der Patientenbeauftragte derBundesregierung der Vergabeentscheidung der Kranken-kassen zugestimmt hat. Er hätte auch sein Veto einlegenkönnen.Sorgen wir gemeinsam dafür, dass in Zukunft klügereund unabhängigere Entscheidungen getroffen werden!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist jetzt der Kollege
Reiner Meier, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein modernes und hochentwickeltes Gesundheitssystemwie das deutsche kann aufgrund der Vielzahl der Leistun-gen auch einmal unübersichtlich werden. In besondersHarald Weinberg
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komplizierten Situationen sind deshalb Lotsen wichtig,die den Versicherten den Weg durch die verschiedenenAnträge, Ansprüche und Verfahren weisen.
Neben dem Hausarzt oder den Selbsthilfegruppen hatsich für viele Patienten die Unabhängige Patientenbe-ratung als zuverlässige Beratungsinstanz etabliert. DiePatientenberatung trägt entscheidend dazu bei, dass Pati-enten über ihre Rechte informiert werden, und hilft ihnendabei, diese Rechte wirksam durchzusetzen. GestattenSie mir den Nebenhinweis, dass es die christlich-libera-le Bundesregierung war, die die UPD nach zehn JahrenModellversuch in die Regelversorgung übernommen hat.
Auch in dieser Legislaturperiode haben wir die UPDstetig weiterentwickelt. Erst vor zwei Jahren haben wirdie Mittel auf 9 Millionen Euro fast verdoppelt und dieFörderperiode von fünf auf sieben Jahre verlängert. Da-mit haben wir eine gute Grundlage für die neue UPDab 2016 gelegt. Lieber Kollege Weinberg, damals warenwir uns über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass dieUPD weiterhin öffentlich ausgeschrieben werden sollte,wohlgemerkt: Alle Fraktionen hier im Deutschen Bun-destag waren sich darin einig. Diese Entscheidung warnicht nur deshalb richtig, weil dadurch ein Wettbewerbum neue Konzepte und Ideen im Sinne des Patientenstattfinden kann, sondern auch deshalb, weil ein öffentli-cher Auftrag nicht einfach nach Gutsherrenart vergebenwerden darf. Nach Recht und Gesetz muss das beste An-gebot den Zuschlag erhalten. Das ist im Interesse allerPatienten und Beitragszahler auch geschehen.
So wird die neue UPD ab 2017 die Gesamtzahl derBeratungen von heute 90 000 auf über 220 000 mehr alsverdoppeln. Auch wird die Zahl der regionalen Bera-tungsstellen auf 30 Standorte erhöht,
darunter das neue Büro in Würzburg. Weiterhin werdendurch mobile Beratungsstellen und Hausbesuche die An-gebote der UPD künftig noch mehr Ratsuchenden undeinfacher als je zuvor zur Verfügung gestellt.Es versteht sich doch von selbst, dass bei der UPDdie Unabhängigkeit der Beratung entscheidend ist für dieAkzeptanz und das Vertrauen der Versicherten.
Deshalb sage ich: Genau das ist weiterhin gewährleistet.Das fängt schon damit an, dass die UPD eben nicht alsAbteilung der Sanvartis GmbH, sondern als selbststän-dige und gemeinnützige GmbH die Beratung organisiertund leistet. Anders als früher sind die Berater direkt beider UPD angestellt und werden transparent nach dem Ta-rifvertrag für den öffentlichen Dienst vergütet.
Gerade um Interessenkonflikte zu vermeiden, gilt zudemein striktes Verbot jeglicher Nebentätigkeit.Erstmals wird der Beirat der UPD einen unabhängigenAuditor einsetzen. Der Auditor hat das Recht, die UPDund sogar einzelne Beratungsvorgänge auf Unabhängig-keit zu prüfen. Der Beirat kann der Geschäftsführungin Fragen der Unabhängigkeit sogar direkte Weisungenerteilen. Schließlich: Als letztes Mittel kann der Förder-vertrag sogar gekündigt werden, wenn die Unabhängig-keit nicht gewährleistet ist. Deshalb halte ich fest: DieUnabhängigkeit der neuen UPD ist an mehreren Stellenschlagkräftig und nachhaltig abgesichert, und das istauch richtig so.
Die Tatsache, dass ein neuer Träger die Ausschreibunggewonnen hat, ändert nichts an der wertvollen und enga-gierten Arbeit der bisherigen UPD. Hierfür gebühren derbisherigen UPD Dank und große Anerkennung.
Die neue UPD steht nun vor der Aufgabe, die hohenAnsprüche zu erfüllen, die die Ratsuchenden in unseremLand zu Recht an die Unabhängige Patientenberatungstellen. Wir sollten der neuen UPD jedoch unvoreinge-nommen gegenübertreten und ihr die faire Chance geben,sich zu bewähren. Die neue UPD ist heute auf den Taggenau 14 Tage alt. Wenn die Kollegen der Fraktion DieLinke vorschlagen, die Spielregeln zu ändern, bevor dasSpiel eigentlich richtig begonnen hat, dann ist eine gehö-rige Portion Skepsis angebracht.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung nacheinem Patientenbeauftragten des Deutschen Bundestageseingehen. Zunächst einmal finde ich es ausgesprochenschade, dass die Forderung in den Raum gestellt wird,ohne die gute Arbeit des Patientenbeauftragten der Bun-desregierung, Karl-Josef Laumann, aber auch die seinesVorgängers, Wolfgang Zöller, auch nur mit einem Wortzu würdigen.Wir in Bayern sind bekannt dafür, sparsam mit Lobumzugehen. Bei uns sagt man: Nicht geschimpft ist ge-lobt genug.
Heute mache ich aber einmal eine Ausnahme. Karl-JosefLaumann leistet eine hervorragende Arbeit, insbesonde-re bezüglich der Entbürokratisierung der Pflege oder derQualität von Hilfsmitteln, und ist ein großer Kämpfer fürdie Rechte der Patientinnen und Patienten. Dafür gebührtihm der Dank dieses Hauses.
Reiner Meier
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Aber auch inhaltlich scheint mir Ihre Forderung nichtdurchdacht. Nach dem Grundgesetz sind Beauftragte desBundestages sogenannte Hilfsorgane, die nur dort tätigwerden dürfen, wo der Bundestag selbst seine Zuständig-keit entfaltet. Sie schreiben nun selbst, dass es auch da-rum geht, Aufsichtsfunktionen zum Beispiel gegenüberder Selbstverwaltung auszuüben. Dabei reden wir aberüber klassische Aufgaben der Exekutive. Damit ist undbleibt der Patientenbeauftragte bei der Bundesregierungvöllig richtig verortet. Im Übrigen dürfen wir Abgeord-nete uns nach meinem Verständnis durchaus auch als„kleine Patientenbeauftragte“ im Deutschen Bundestagverstehen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Als Nächstes hat jetzt für die Frakti-on Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auch wenn sie im Ton sehr freundlich vorge-tragen wurden, muss ich doch den meisten Ausführungendes Herrn Meier massiv widersprechen.
Was wir im letzten Jahr mit der Vergabe der unabhän-gigen Patientenberatung an ein privates Unternehmenerleben mussten, dessen Kerngeschäft die Beratung vonKrankenkassen und Pharmaindustrie ist, war ein Trauer-spiel. Das war ein ganz schwerer Schlag gegen die Be-lange von Patientinnen und Patienten. Das geschah unterMitwirkung eines Patientenbeauftragten. Das – ich musses wiederholen – war ein Trauerspiel, und es ist noch im-mer ein Trauerspiel. Dieses Trauerspiel wird uns nochsieben Jahre lang beschäftigen.
Das kann man auch nicht schönreden. Überlegen wiruns: Wie lange hat es eigentlich gedauert, bis wir eineunabhängige Patientenberatung aufgebaut haben? 2000war der Startschuss. Frau Schmidt wird sich sehr gut er-innern; denn auch das war keine einfache Geschichte. Esist modellhaft entwickelt worden. Über zehn Jahre langsind immens hohe Qualitätsanforderungen gestellt wor-den. Immer wieder hat sich gerade die Krankenkassen-seite durchaus sperrig gezeigt und gesagt: Diese Beratungwollen wir eigentlich nicht haben. – Aber wir alle muss-ten doch einsehen: Diese Beratung ist immens wichtig,wenn es darum geht, die sozialen Bürgerrechte von Pati-entinnen und Patienten zu stärken. Genau das stellen Siejetzt wieder infrage. Das haben Sie umgeschmissen. Dieneue UPD wird eine ganz andere UPD sein.
Sie wird eine UPD sein, die im Kern Gesundheitsinfor-mationen herausgibt.Warum brauchen wir eine UPD? Jede Krankenkassebietet genau dies, also Beratung, an. Das ist das Kern-geschäft von Sanvartis. Das brauchen wir nicht. Das,was wir brauchen, was 80 Prozent aller Ratsuchendengebraucht haben, ist tätige Unterstützung bei Antrag-stellung gegenüber den Krankenkassen, bei schwierigenFragen gegenüber der Ärzteschaft, bei Verdacht auf Be-handlungsfehler. Das sind die wichtigen Fragen. In derRegel geht es um Patientinnen und Patienten, die großeund schwere Probleme haben und die auch nicht durch-blicken, welche Rechte und Möglichkeiten sie haben.Das ist die Situation, die wir alle sehr gut kennen. Geradeda ist es wichtig, dass wir dieses verlässlich unabhängigeBeratungsangebot haben – und das ist geschleift worden.Das werfe ich Ihnen ganz massiv vor.
Da muss ich auch den Patientenbeauftragten, HerrnLaumann, ansprechen; denn er ist damit beauftragt, die-ses Vergabeverfahren zu steuern. Er hätte darauf achtenmüssen, dass wir eine gute Lösung bekommen, aber wirhaben keine gute Lösung bekommen. Das muss man ein-fach feststellen.
Schauen Sie sich einmal genau an, was wir bekommen:Die Gesundheitsberatung wird ausgebaut. 80 Prozent al-ler Ratsuchenden brauchen aber vor Ort Unterstützung,etwa psychosoziale Unterstützung, konkrete Beratung.Was werden wir jetzt bekommen? Sechs Vollzeitäquiva-lente, die zwischen 30 Beratungsstellen herumreisen unddort einmal in der Woche präsent sind.
So wird das aussehen.Wir hatten vorher ein viel breiteres Angebot. Alle Be-ratungsstellen waren mit insgesamt 50 Vollzeitäquivalen-ten besetzt; sie waren Ansprechpartner rund um die Uhr.Das weiterhin zu leisten, war die Ausgangsvorausset-zung. Ein solches Angebot hätten wir durch mehr Orte,wo man präsent ist, und nicht durch das, was wir jetztbekommen, weiterentwickeln müssen.
Das Traurige ist: Vor zwei Jahren hat der Bundestagdie gesamte Phase auf sieben Jahre verlängert. Er hatmehr Geld bereitgestellt. Wir hätten die Chance gehabt,wirklich eine patientenorientierte Beratung anzubieten.Genau das ist jetzt nicht geschehen, sondern der Weg da-hin ist verbaut, und das ist zutiefst traurig.
Reiner Meier
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Hinzu kommt: Wir haben keinerlei Transparenz. HerrLaumann, Sie haben das Verfahren der europaweitenAusschreibung gewählt. Das führt dazu, dass wir nullInformationen haben. Sie können sich die Kleine An-frage anschauen, die wir gestellt haben. Alle Fragen, dieirgendetwas mit dem Budget zu tun haben, wurden nichtbeantwortet mit dem Verweis darauf, dass ein Vertrau-ensschutz gilt. Das ist das Gegenteil von Transparenz.Das ist das Gegenteil von Vertrauen bei den Patientenschaffen, die Rat suchen. Das ist vollständig danebenge-gangen.
Ich meine, das müssen Sie zugeben.Wir werden alle gemeinsam daran arbeiten müssen,wie wir die Stärkung der sozialen Bürgerrechte, geradeder Patientinnen und Patienten, zustande bringen. Wirmüssen die Frage beantworten: Was machen wir in Zu-kunft? Wir können uns nicht erlauben, dass da siebenJahre lang eine Lücke entsteht. Darüber werden wir nach-denken müssen. Insofern bin ich dankbar, dass es diesenAntrag gibt, wenngleich wir jetzt in einer Situation sind,die davon gekennzeichnet ist, dass Sie 63 Millionen Euroverplempert haben. Das muss man ganz klar sagen.
Vielen Dank. – Als Nächstes hat für die SPD-Fraktion
die Kollegin Helga Kühn-Mengel das Wort.
Übrigens, der Vollständigkeit halber: Sie war die erste
Patientenbeauftragte in Deutschland, und zwar zu Zeiten
der damaligen Großen Koalition.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucherauf den Tribünen! Frau Klein-Schmeink, ich will einenHöhepunkt meiner Rede vorwegnehmen, indem ich di-rekt auf Ihren Beitrag eingehe: Es liegt an uns, an derPolitik, wie wir diesen Prozess, der jetzt in Gang kommt,kritisch begleiten, wie wir Transparenz einfordern
und wie wir Unabhängigkeit, Qualitätssicherung undQualitätsaufbau in diesem Bereich begleiten und kom-mentieren. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe, diewir auch annehmen werden.
Zum historischen Rahmen ist schon einiges gesagtworden. Ursprünglich ist die Unabhängige Patienten-beratung Deutschland als Modellprojekt entstanden.Erst später, 2011, ist sie als Regelleistung etabliert undschließlich über das GKV-Finanzstruktur- und Qua-litäts-Weiterentwicklungsgesetz verbessert worden.Schritt für Schritt haben wir Patientenrechte gestärkt.Es ist von Ihnen auch schon erläutert worden: DieVorgaben, die jetzt zu einer Verbesserung führen sollen,kommen von der Politik, nicht vom neuen Träger. Wirhaben gesagt: Erhöhung der Mittel von 5 Millionen Euroauf 9 Millionen Euro, Erhöhung der Zahl der Beratungs-stellen, Verlängerung der Laufzeit, damit Kontinuität,auch personelle Kontinuität, entstehen kann, besseretelefonische Erreichbarkeit. Es war doch so, dass nur42 Prozent der Anrufer durchkamen,
nicht deshalb, weil man dort nicht genug gearbeitet hat,sondern deshalb, weil das Bedürfnis nach Informationso stark ist. Das wird mit den jetzigen Vorgaben dannverbessert werden; jedenfalls gehen wir zunächst einmaldavon aus.Warum haben wir das alles gemacht, haben vieleBausteine der Patientenorientierung und -stärkung ein-geführt? Weil sich der gut informierte Patient, der aufqualifizierter und evidenzbasierter Grundlage informiertwird, nicht nur sicherer und selbstbewusster im Systembewegt, sondern auch ökonomischer. Das ist ein wichti-ger Punkt.Viele fanden es schon etwas sonderbar, dass dieKrankenkassen diejenigen bezahlen sollen, die späterin Stellungnahmen auch Kritisches veröffentlichen. ImJahresbericht der UPD, der alten noch, wird deutlich:29 000 Menschen gab es, die Informationen zum Verhal-ten der Krankenkassen und anderer Träger haben wollten.Da ging es um die Schnittstelle zwischen Krankengeldund Verrentung, um Fragen wie: Was darf die Kranken-kasse? Wann darf sie aufhören, Leistungen zu bezahlen?Es ging aber auch um das Verhalten zwischen Arzt/Ärz-tin und Patient, um Behandlungsfehler. Bei 19 MillionenMenschen, die pro Jahr in eine Klinik kommen, gab es190 000 Behandlungsfehler – in Prozent nicht viel, aberin absoluten Zahlen doch eine Größenordnung, dass wiruns darum zu kümmern haben.Man muss über die alte UPD wirklich sagen: Sie hatviel geleistet: für Evaluation, für Qualitätsaufbau undQualitätssicherung. Es ist natürlich bitter, wenn dieje-nigen, die gute und auch neue Konzeptionen entworfenhaben, zum Beispiel für die Erreichbarkeit bestimmterZielgruppen – etwa Migranten und Migrantinnen oderBildungsschwächere –, die gute Arbeit gemacht haben,an dieser Stelle plötzlich nicht mehr zum Zuge kommen.Das, denke ich, ist aber zunächst einmal nicht zu korri-gieren; die Vergabekammer war da eindeutig.Wir müssen jetzt sehen: Werden die Vorgaben erfüllt?Wird die Erreichbarkeit verbessert? Es sollen demnächstMaria Klein-Schmeink
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statt 80 000 Menschen 200 000 Menschen betreut wer-den. Was ist mit der Unabhängigkeit, mit den verschiede-nen Zugangswegen, telefonisch, schriftlich, online, per-sönlich, was mit der Mehrsprachigkeit? Es wird Türkischund Russisch angeboten. Vieles soll sich da entwickeln.Ich denke, wir als Politik haben vor allem darauf zuachten, dass die Neutralität und die Unabhängigkeit ge-währleistet werden und die Arbeit in Sachen Qualität undTransparenz fortgeführt wird – übrigens: auch der Wis-senschaftliche Beirat ist weisungsberechtigt –, dass alsodas, was begonnen wurde, weitergeführt wird. Daraufwerden wir achten.Im Übrigen gibt es im Gesundheitsbereich nach wievor viele Dinge zu verbessern. Wir als SPD sehen dieNotwendigkeit, die dritte Bank im Gemeinsamen Bun-desausschuss zu stärken. Nordrhein-Westfalen hat eineKoordinierungsstelle für die Patientenbeteiligung in denGremien eingerichtet – ein ganz wichtiger Punkt.Wir sind also hier noch lange nicht an der Stelle, wowir sagen können: Alles ist gut. – Wir werden diesen Pro-zess und die Ergebnisse dieses Prozesses mit Blick da-rauf prüfen: Gibt es Verwerfungen im System? WerdenInteressen von Patienten und Patientinnen in der Arbeitgestützt und offengelegt?Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Dr. Georg Kippels ist jetzt der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer aufder Besuchertribüne! Heute haben wir hier am spätenNachmittag nicht nur eine politische Debatte, sonderneigentlich auch eine Informationsveranstaltung für Sie,meine sehr geehrten Damen und Herren, weil wir übereine Institution reden, die die Politik zwar ins Leben ge-rufen hat, die aber eigentlich für Sie und Ihr persönlichesWohlbefinden im Umgang mit der Gesundheitswirtschaftelementare Beiträge leisten sollte. Insofern ist das, waswir gerade von den Kollegen von den Linken und vonden Grünen gehört haben, genau das Gegenteil einerWerbeveranstaltung für eine Institution, die für Bürgerda ist; denn laut ihren Aussagen wissen wir schon nachknapp 14 Tagen exakt und mit belastbaren Zahlen, dassdie neue Institution vollkommen ungeeignet sein wird,Hilfeleistungen für die Bürger zu erbringen. Ich weißnicht, ob das die richtige Diskussionsführung ist.
Ausdrücklich untermauert wird das auch noch durchdie wunderbare Terminologie in dem gestellten Antrag.Darin werden natürlich – wen wundert es? – die Klassen-kampfbegriffe der alten Zeit wieder ein bisschen hervor-geholt, um sich zwar nicht gegen das Thema zu wenden,was inhaltlich eigentlich auch überhaupt nicht möglichist, aber jedenfalls einmal gegen die Ausführungsinstitu-tion. Das ist immer das letzte Aufbäumen gegen vernünf-tige Maßnahmen unserer Regierung.Es fängt schon damit an, dass der Antrag eine ganzeReihe von Fehlbeschreibungen enthält, die einen völligfalschen Eindruck erwecken.So schreiben Sie sehr schön, dass der derzeitige Be-treiber dadurch ins Amt gekommen ist, dass dem bisheri-gen gemeinnützigen Trägerverbund das Projekt entzogenworden ist. Es war aber von vornherein auf fünf Jahrebefristet. Am 27. Januar 2011 ist ein Trägervertrag un-terzeichnet worden. Jeder der Beteiligten wusste, dasszum Ende des Jahres 2015 ein neuer Tätigkeitszeitraumvereinbart, verhandelt und vorbereitet werden muss. VonEntziehen kann also gar keine Rede sein.Man muss allerdings schon einmal die Frage stellen:Aufgrund welcher Umstände war es bei dieser immerhineuropaweiten Ausschreibung denn so, dass der bisherigeTräger, der ja über gute Rahmenkenntnisse über den Tä-tigkeitsbereich, das Anforderungsprofil und die Bedürf-nisse der Bürger verfügt, nicht ausreichend Fähigkeitenhatte, diese so auszuwerten, um in der Ausschreibung mitden besten Angeboten die Nase vorne zu haben? Ich willhier kein Urteil abgeben. Es spricht aber zumindest dafür,dass man an dieser Stelle im Hinblick auf die weiterge-hende Ausschreibung nicht die erforderlichen Hausauf-gaben gemacht hat.Sehr verehrte Frau Kollegin Klein-Schmeink, IhreAufregung eben ist in Ansehung Ihres eigenen Antragsvom 19. Februar 2014, ehrlich gesagt, ein bisschenschwer nachzuvollziehen. Sie selbst haben damals schonnach knapp drei Jahren der ersten Laufzeit mit Vehemenzdargestellt, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich darfaus Ihrem Antrag sinngemäß zitieren: Immerhin gingzwischen dem Jahre 2010 und dem Jahre 2013 die Er-reichbarkeitsquote von 66 auf 42 Prozent zurück.
Jetzt wird natürlich gerne der Hinweis verwendet,dass dem bisherigen Trägerverbund keine ausreichen-den Finanzierungsmittel zur Verfügung gestanden haben.Meines Erachtens muss man sich aber, wenn in einer sol-chen Situation größeres Beratungsvolumen entsteht, alsBetreiber doch sukzessive auf einen vermehrten Bedarfeinstellen.Herr Kollege Weinberg, in Ihrem Antrag heißt es, eshabe ein Geschmäckle, dass das Volumen in der Aus-schreibung jetzt auf 9 Millionen Euro erweitert wordenist, und sei deshalb überhaupt nicht verwunderlich, dassder neue Anbieter auch ein erhöhtes Angebotsvolumenpräsentieren kann.
Es ist schlicht und ergreifend so, dass dieses erhöhte Vo-lumen natürlich auch von dem damaligen Verbund imHelga Kühn-Mengel
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Rahmen der Teilnahme an der Ausschreibung hätte ein-gesetzt werden können.
Herr Kollege Kippels, gerade haben Sie den Wider-
spruch der Kollegin Klein-Schmeink geweckt. Sie bittet
darum, Ihnen eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden?
Sie hat ihre Gedanken gerade schon ausgeführt. Im
Moment möchte ich deshalb gern die Gelegenheit nut-
zen, meine Gedanken zu Ende zu bringen. Insoweit bitte
ich um Verständnis.
Bitte schön.
In der Tat war das erhöhte Finanzvolumen natürlich ab-
sehbar. Sie haben im Rahmen der Analysen schon 2014
formuliert – da komme ich gerne noch einmal auf Sie,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen, zurück –, dass hier Handlungsbedarf besteht. Schon
damals wollten Sie ein Finanzvolumen von 10,5 Milli-
onen Euro in den Raum stellen und haben eine Reihe
von Anforderungsprofilen formuliert, die jetzt Eingang
in die Ausschreibung gefunden haben. Was also soll an
der neuen Betätigung so kritisch und problematisch sein?
Eins müssen wir allerdings im Rahmen dieser Tätig-
keit auf jeden Fall berücksichtigen und bewerten – ich
glaube, das ist der ausschlaggebende Gesichtspunkt –:
Richtig ist, dass der Bedarf der Bürgerinnen und Bürger,
kompetente Unterstützung im Umgang mit dem Gesund-
heitswesen zu erhalten, steigt. Aber er steigt nicht nur
quantitativ, sondern er steigt auch qualitativ. Insofern ist
natürlich auch die dauerhafte personelle Bewältigung
des Beratungsaufkommens, insbesondere durch geschul-
te Ärzte, dringend geboten. Das kann natürlich nur mit
einem geeigneten Finanzvolumen sichergestellt werden.
Zudem haben wir ein verändertes Nachfrageverhal-
ten. Jedem ist bekannt, dass die größte Horrorsituation
eines Hilfesuchenden das Einreihen in die Warteschlei-
fe am Telefon ist. Sie können dann zwar irgendwann die
Musik mitsummen oder den Text mitsingen, aber Sie
befinden sich möglicherweise in einer aktuellen Notlage
und wollen nach zwei- bis dreimaligem Klingeln einen
kompetenten Ansprechpartner haben, der Ihnen in dieser
Situation mit Ihren ganz vielfältigen Fragen die notwen-
digen Informationen zur Verfügung stellt oder zumindest
Führung gibt. Hinzu kommt dann heutzutage auch noch,
dass bei den komplexen Sachverhalten, mit denen sich
die Gesundheitswirtschaft und damit auch der Patient
auseinanderzusetzen hat, Verknüpfungen verschiedener
Sachbereiche erforderlich sind. Das heißt, man muss
dauerhaft eine sehr komplexe Beratungsstruktur vorhal-
ten. Das erfordert natürlich auch Organisationskompe-
tenzen eines Unternehmens.
Wir werden uns zunächst einmal sinnvollerweise kon-
struktiv mit den Ergebnissen auseinandersetzen. Die sie-
ben Jahre sind nun beileibe kein Zeitraum, der sich hier
als Menschheitsgeschichte darstellt. Die ersten fünf Jahre
haben uns schon gelehrt, dass vor allen Dingen ein dyna-
mischer Prozess entsteht. Den haben wir im Ausschrei-
bungsverfahren adäquat aufgenommen, und der wird be-
gleitet. Er wird durch den Auditor begleitet, er wird durch
den Patientenbeauftragten begleitet, und er wird durch
uns im Rahmen permanenter Rechenschaftsberichte be-
gleitet werden können. Wir haben vor allen Dingen auch
innerhalb der sieben Jahre das Kündigungsrecht. Wenn
wir der Auffassung sind, dass dieses Anforderungsprofil,
das – so verstehe ich die heutige Diskussion – inhaltlich
keiner Kritik unterliegt –
nur die hypothetische Unabhängigkeit ist der Kritikpunkt
an vorderster Front – nicht erfüllt wird, so haben wir die
Möglichkeit, vor Ablauf der sieben Jahre aus diesem Ver-
trag auszusteigen.
Ich glaube, gerade mit Rücksicht auf die Komplexi-
tät der Gesundheitswirtschaft ist ein dauerhafter Quali-
tätswettbewerb, auch zwischen denen, die die Leistun-
gen zu erbringen haben, wertvoll, sinnvoll und durchaus
den notwendigen Anpassungsgegebenheiten geschuldet.
Letzten Endes werden uns ja auch die Zahlen – ich glau-
be, damit sollten wir uns sinnvollerweise auseinanderset-
zen – eine Grundlage zur Reflexion geben und zeigen, ob
der Bürger, der Kunde, der Patient mit den Leistungen
dieser Patientenberatung in ausreichendem Maße zufrie-
den ist. Die Zufriedenheit wird sich in der Häufigkeit der
Inanspruchnahme zeigen, und es wird mit Sicherheit eine
lebhafte Diskussion über dieses neue Angebot geben.
Geben Sie dieser UPD in ihrem neuen Kleid eine Chan-
ce, sich am Markt zu bewähren. Wir und natürlich auch
Sie werden sie begleiten und an entscheidender Stelle
eingreifen. Aber hier und heute schon das endgültige Ur-
teil zu fällen, dass diese Institution nicht die erforderliche
Unabhängigkeit und möglicherweise auch keine ausrei-
chende Kompetenz aufweist, ist aus meiner Sicht zu früh.
Jeder muss eine adäquate Chance haben. Das ist im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! „Zu Risiken und Ne-benwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragenSie Ihren Arzt oder Apotheker“, so hören wir es täglich inDr. Georg Kippels
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der Werbung. Ja, es gibt Risiken und Nebenwirkungen inunserem System der gesundheitlichen Versorgung, undnicht immer reicht es, die Ärztin oder den Apotheker zufragen, sondern manchmal braucht man auch eine neutra-le Anlaufstelle oder eine unabhängige Beratung.Gesundheitsversorgung ist ein komplexes System, dasfür Patientinnen und Patienten nur schwer zu durchschau-en ist. Dies gilt umso mehr, je langwieriger oder auchschwerwiegender eine Erkrankung ist. Es ist erfreulich,dass die Behandlungsmöglichkeiten zunehmen. Gleich-zeitig wird es aber auch schwieriger, Therapieentschei-dungen zu fällen, ja überhaupt erst einmal Informationenzu verstehen und zu bewerten, die wir von unserem Arzterhalten. Häufig trifft dann Fachsprache auf Nervositätund Ängste. Hinzu kommen viele, oft widersprüchlicheInformationen im Internet. Manchmal braucht es Erklä-rung, Übersetzung oder das Aufzeigen von Alternativen.Ganz oft braucht es einfach Orientierung.Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland istdann ein wichtiger Lotse im System. Sie gibt Rat, wo-hin ich mich im konkreten Fall wenden kann oder wieich gegebenenfalls zu meinem Recht komme. Wenn bei-spielsweise Fehler gemacht wurden, ist es gut, jemandenUnabhängigen mit fachlicher Expertise an seiner Seite zuhaben. Darum sind wir als SPD-Fraktion – das hat FrauKühn-Mengel gerade deutlich gemacht – nicht glücklichüber den Trägerwechsel aufgrund des Ausschreibungs-verfahrens. Denn diese sensible Beratungsaufgabe warbeim bisherigen frei-gemeinnützigen Trägerverbundgerade deshalb gut verortet, weil der VdK, die Verbrau-cherzentrale und der Verbund unabhängiger Patientenbe-ratung auch über die UPD hinaus ganz maßgeblich dieInteressen der Patientinnen und Patienten vertreten ha-ben und dieses auch zukünftig tun werden. Wenn dieseAufgabe nun von einem Tochterunternehmen eines ge-winnorientierten, privaten Beratungsunternehmens über-nommen wird, das gleichzeitig Krankenkassen und an-dere Gesundheitsdienstleister berät, ist Skepsis durchausangebracht.
Neutralität und Qualität der Patientenberatung müs-sen auch in der neuen Konstellation gewahrt bleiben.Denn ganz häufig geht es bei der Beratung um Fragenzu den Leistungen von Kostenträgern im Gesundheits-wesen: Warum wurde meine Reha nicht genehmigt? Gibtes günstigeren Zahnersatz? Warum bekomme ich keinKrankengeld mehr? Zu solchen Fragen hat die UPD ei-nerseits beraten und andererseits die Probleme auch andie Politik oder Selbstverwaltung adressiert, damit Kor-rekturen vorgenommen werden konnten. So hatten bei-spielsweise viele Patienten in der Vergangenheit ihrenAnspruch auf Krankengeld verloren, weil sie ihrer Kran-kenkasse nicht den lückenlosen Verlauf der Arbeitsunfä-higkeit nachgewiesen haben. Das haben wir im letztenJahr politisch aufgegriffen, eine gesetzliche Klarstel-lung vorgenommen und gleichzeitig das Antragsverfah-ren deutlich vereinfacht. Ab diesem Jahr gibt es bei denKrankschreibungen nur noch ein einheitliches Formular,auf dem die Ärzte sowohl die Arbeitsunfähigkeit wäh-rend der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber alsauch während der Krankengeldzahlung durch die Kran-kenkasse bescheinigen. Der Patient erhält künftig einenDurchschlag mit dem Hinweis, dass für den Bezug vonKrankengeld ein lückenloser Nachweis der Arbeitsunfä-higkeit erforderlich ist.Ein anderes großes Dauerthema in der UPD sind diesogenannten IGeL-Leistungen, die individuellen Ge-sundheitsleistungen, die von den Patienten selbst zubezahlen sind. Sie werden gern von Ärzten empfohlen,obwohl die GKV diese Leistungen nicht bezahlt, wenndie medizinische Indikation nicht eindeutig gegeben ist.Wie gut ist es dann, dass man jemanden fragen kann, derkeine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt.Im Zentrum unserer Gesundheitspolitik stehen die Pa-tientinnen und Patienten sowie die Qualität der medizini-schen Versorgung. Um die Rechte der Patientinnen undPatienten zu stärken, haben wir in den vergangenen zweiJahren in der Großen Koalition einiges auf den Weg ge-bracht. So haben wir die Unterstützung der gesundheit-lichen Selbsthilfe stärker gefördert, sodass die Kassenzukünftig die Selbsthilfestrukturen auch finanziell unter-stützen. Damit werden auch die Rechte der Patientinnenund Patienten gestärkt.Zum jetzigen Zeitpunkt bleibt uns nichts anderes üb-rig, als das Ergebnis des Ausschreibungsverfahrens zurespektieren. Wir sagen aber ebenso klar: Bei Risikenund Nebenwirkungen fragen Sie Ihre SPD. – Denn wirwerden sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländernund Kommunen darauf achten, dass den vollmundigenAnkündigungen tatsächlich entsprechende Taten folgen,dass die UPD tatsächlich die Netzwerkarbeit fortsetztund die Leistungen erbringt, die eingefordert werden.Darauf können sich alle verlassen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/7042 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Verbesserungder Registrierung und des Datenaustau-sches zu aufenthalts- und asylrechtlichen
Drucksache 18/7043– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Verbesserung der Registrie-rung und des Datenaustausches zu aufent-Heike Baehrens
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Drucksache 18/7203Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses
Drucksache 18/7258
Drucksache 18/7259Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch hier höreich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich darf Sie bitten, zügig Ihre Plätze einzunehmen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierungerhält das Wort Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Ge-setzentwurf, den wir heute beraten und verabschieden,ist ein sehr wichtiger Schritt zur Steuerung und Ordnungdes Asylverfahrens gelungen. Mit diesem Gesetz wirdes gelingen, Asyl- und Schutzsuchende deutlich früherals bisher, einmalig und zentral für alle und biometrischzweifelsfrei zu erfassen und zu identifizieren.Das ist nötig. Denn wir müssen wissen, wer als Flücht-ling in unser Land kommt. Wir wollen entscheiden, wo eruntergebracht wird. Wir wollen schnelle Verfahren ohneDoppelarbeit, um schnell entscheiden zu können: Werdarf bleiben und muss integriert werden, und wer darfnicht bleiben? Wir wollen wissen, ob von einem Flücht-ling eine Gefahr ausgeht. Das Gesetz hilft bei all diesenThemen. Es ist aus drei Gründen wichtig:Erstens: aus Gründen der Ordnung und Steuerung. Wirwollen Selbstzuweisungen von Asylsuchenden unterbin-den und selbst nach sachlichen Kriterien entscheiden,wo ihr Verfahren durchgeführt wird. Es darf nicht sein,dass sich einzelne Asylsuchende nicht an die Zuteilungzu einer Aufnahmeeinrichtung halten oder sich immerwieder zur Erstverteilung anstellen, um das Verfahrenan dem von ihnen gewünschten Ort durchzuführen. DieSteuerungshoheit obliegt dem Staat und muss auch dortverbleiben.
Das ist nicht nur Bedingung für eine gerechte Vertei-lung auf die Länder nach dem Königsteiner Schlüssel,sondern auch für die Weiterverteilung auf die Kommu-nen. Auch für die Feststellung des zusätzlichen Bedarfsan Unterkünften, an Schulen, an Integrationskursen undfür die Hinführung zu Berufen ist eine frühzeitige Kennt-nis planungssicherer Zahlen wichtig.Zweitens. Das Gesetz ist wichtig, um Schutzsuchendebei jedem weiteren Behördenkontakt wiederzuerkennenund Missbräuche zu unterbinden. Künftig wird nur der-jenige ein Asylverfahren und entsprechende Leistungennach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, der ord-nungsgemäß registriert ist und einen gültigen Ankunfts-nachweis vorweisen kann. Zu uns kommende Menschenwerden dafür möglichst bereits beim ersten Behörden-kontakt erkennungsdienstlich behandelt und registriert,und zwar im Wege des Prinzips „Einer für alle“. Einer re-gistriert für alle; standardisiert und zentralisiert kommendann alle Daten auf eine Kerndatenbank. Alle zuständi-gen Behörden von Bund und Ländern, die Landespolizei-en, die Bundespolizei, das BAMF, die Ausländerbehör-den, auf Wunsch des Bundesrates auch die Jugendämter,haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit Zugriff auf dieDatei. Die Zeiten von Doppel- oder gar Mehrfacherfas-sungen sind damit vorbei. Unsere Behörden können dannschnell und zweifelsfrei überprüfen, ob jemand bereitsals Flüchtling erfasst ist, wo und seit wann. Das Auftre-ten mit verschiedenen Identitäten und Mehrfachregis-trierungen, um sich wiederholt Leistungszuwendungenzu erschleichen oder um sich an einem Ort seiner Wahlniederzulassen, all das wird es nicht mehr geben.Drittens. Das Gesetz ist auch wichtig aus Gründen derinneren Sicherheit. Viele Menschen in unserem Land fra-gen sich: Sind wir davor geschützt, dass sich unter demDeckmantel des Asyls auch Kriminelle oder gar Terroris-ten in unser Land begeben? Das neue Gesetz wird auchhier für mehr Sicherheit sorgen. Unmittelbar nach derSpeicherung der Daten einer Person im Kerndatensystemsollen die Sicherheitsbehörden einen Abgleich vorneh-men und prüfen, ob zu einer Person terrorismusrelevanteErkenntnisse oder sonstige schwerwiegende Sicherheits-bedenken bestehen. So werden die Behörden frühzeitigsolche Personen erkennen können, zu denen sicherheits-relevante Erkenntnisse bereits vorliegen, oder sie könnenspäter entsprechend nachfragen. Auch wenn die Flücht-linge erst in Deutschland kriminell werden, wie etwa inKöln, werden wir sie künftig schneller identifizieren kön-nen, und zwar dank eines bundeseinheitlichen Ankunfts-nachweises mit Lichtbild und der im System hinterlegtenDaten.Die Zeiten, in denen Menschen bis zur förmlichenAntragstellung nur über die sogenannte BüMA identifi-zierbar waren – gemeint ist die Bescheinigung über dieMeldung als Asylsuchender, die bisher weder bundesein-heitlich ausgestaltet war noch ein Lichtbild hatte –, sindvorbei. Mit dem neuen Gesetz ist eine schnelle Identi-fizierung möglich. Damit kann man Integrationskursesteuern. Damit fallen Doppelerfassungen und -beratun-gen weg und vieles andere mehr.Die Verabschiedung des Datenaustauschverbesse-rungsgesetzes ist wichtiger denn je. Die Datenschutzbe-auftragte hat übrigens im Wesentlichen keine Bedenkengegen dieses Gesetz erhoben. Das ist gut. Ich bedankemich sehr herzlich für die zügige Beratung. Wir wollendas Gesetz schnell in Kraft setzen. Allerdings verbirgtsich hinter diesem Gesetz ein sehr kompliziertes IT-Pro-jekt. Hier werden Schnittstellen gebraucht zwischenPolizeidateien, Dateien der Bundesagentur für Arbeit,Dateien des Bundesamtes für Migration und Flüchtlingeund verschiedensten Dateien der Länder, die wiederumVizepräsidentin Ulla Schmidt
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oft nicht landeseinheitlich sind, sondern je nach Kommu-ne unterschiedlich. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.Wir werden das Projekt schnellstmöglich umsetzen. Wirhaben um schnelle Verabschiedung des Gesetzentwurfsgebeten, auch den Bundesrat, damit das Gesetz am 1. Fe-bruar in Kraft treten kann.Wir wollen im Februar damit beginnen, das Verfahrenaufzurollen, vermutlich erst für diejenigen, die neu kom-men, und dann nach und nach durch das Migrieren derDaten derjenigen, die schon da sind. Wir hoffen, dass dasbis zum Sommer gelingt. Das ist ein wirklich anspruchs-volles IT-Projekt. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dasswir den Zeitplan einhalten werden, aber wir arbeiten da-ran.Vielleicht könnte das Projekt ein Vorbild für anderegroße IT-Projekte in unserem Land sein, indem wir Ego-ismen zwischen Ressorts, zwischen Bund und Ländernund zwischen Ländern und Kommunen zurückstellen.Wir werden so eine vernünftige Lösung für ein Projekthaben, das einer Aufgabenerfüllung dient. Wir solltennicht zuerst darauf gucken: Passt das zu meinem bis-herigen IT-Projekt, oder muss ich mich vielleicht einbisschen umstellen? Ich hoffe, dass dieses aus der Notgeborene Projekt Vorbildcharakter für die Zusammenar-beit zwischen Bund, Ländern und Kommunen auch aufanderen Feldern haben kann.Vielen Dank für die schnelle Beratung. Ich hoffe aufeine breite Zustimmung.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla
Jelpke, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auchdie Linke ist der Meinung, dass eine zentrale Datenspei-cherung zur Registrierung der Schutzsuchenden notwen-dig ist und dass wir eine Erleichterung für die Behördenbrauchen. Das ist auch die Hoffnung der Länder undKommunen, die sich von diesem Gesetzesvorhaben vorallen Dingen eine Beschleunigung der Aufnahme und derUnterbringung von schutzsuchenden Flüchtlingen erhof-fen.Wenn mit diesem Gesetzentwurf dieses Versprechengehalten werden könnte, wären wir, wie gesagt, voll da-bei; denn es gibt in der Tat Mehrfachbelastungen bei denBehörden durch doppelte Arbeiten, zum Beispiel durchDoppelregistrierungen. Der Versuch, diese abzuschaffen,sollte sehr genau beobachtet und kontrolliert werden.Nach EU-Vorgaben müssen Flüchtlinge innerhalb vonzwei Wochen nach ihrer Ankunft als Asylantragstellerregistriert werden. Davon sind wir gegenwärtig weit ent-fernt. Ehe Flüchtlinge sich melden können, vergehen oftWochen. Ehe sie einen Asylantrag stellen können, verge-hen im Moment bis zu zehn Monate. Das ist in der Tatviel zu lang. Da muss schnellstens etwas passieren.Anstatt die Registrierung gleich mit dem Asylverfah-rensantrag zu verbinden, wird ein unnötiges, zusätzlichesArbeitsverfahren eingeführt. Für die Flüchtlinge bedeu-tet das eine nervenaufreibende, kräftezehrende Zeit, inder sie darauf warten, zu erfahren, ob sie überhaupt ei-nen Anspruch haben. Man muss sich das so vorstellen:Zunächst wird der Flüchtling mit einer sogenanntenBüMA – das ist Bürokratensprache –, also einer Beschei-nigung über die Meldung als Asylsuchender ausgestattet.Diese wird in der Regel von der Polizei, den Ausländer-behörden oder dem BAMF ausgestellt. Damit erfolgtgleichzeitig eine Zuweisung zu einem Bundesland, zueiner Kommune, in der der Flüchtling aufgenommenwird. Jetzt soll ein Ankunftsnachweisausweis ausgege-ben werden – er wird heute neu beschlossen –, der imGrunde genommen besagt, dass der Flüchtling zu diesemZeitpunkt noch nicht einmal geduldet ist. Nach unserenGesetzen hat man aber nur dann Anspruch auf Leistun-gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn manals Flüchtling wenigstens eine Duldung hat.Im Übrigen haben Kinder, die sich hier aufhalten,deren Eltern nicht geduldet sind, keinen Zugang zumSchul unterricht oder zu anderen Einrichtungen. Das istein Riesenproblem. Ich habe in der letzten Woche unbe-gleitete minderjährige Flüchtlinge getroffen, die seit zehnMonaten darauf warten, dass sie ihren Asylantrag stellenkönnen. In dieser Zeit können sie nicht zur Schule gehen,hängen also einfach in irgendeiner Einrichtung rum. Siewerden zwar versorgt, aber es ist ein unerträglicher Zu-stand – dabei geht es auch um das Kinderwohl –, dassdiese Kinder nicht zur Schule gehen können, dass sie kei-ne Integrationsleistungen in Anspruch nehmen können.
Dadurch besteht natürlich die Gefahr, dass ihre Integra-tion weiter verzögert wird. Wir sagen doch immer, dassdie Integration von Anfang an erfolgen muss, weil nurdas für die Integration sinnvoll ist, weil nur das auch imSinne des Schutzsuchenden ist.Ein Problem gibt es meines Erachtens auch beim Da-tenschutz. Es werden notwendige Kerndaten erhoben,aber auch eine Unzahl weiterer Daten. Die Augenfarbe,Informationen über den schulischen und den beruflichenWeg usw. werden aufgenommen, obwohl diese Informati-onen zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht nötig sind.Ich sage das vor allen Dingen, weil es eine Datenpflegegeben muss, das heißt, die eingegebenen Daten, auf dieKommunen und Länder zugreifen können, müssen stim-men. Diese Datenpflege bedeutet für die Behörden einenenormen Arbeitsaufwand. Darin sehe ich im Augenblickeher eine zusätzliche Belastung als eine Entlastung.Herr Innenminister, es geht noch ein bisschen weiter.Die Geheimdienste führen nicht nur eine Überprüfungdurch. Ganz bestimmten Gruppen, zum Beispiel denFlüchtlingen aus muslimischen Ländern, wird im Grun-de genommen kategorisch Misstrauen entgegengebracht.Das wird daran deutlich, dass man ihre Daten weiterhinspeichert, dass man weiterhin Zugriff auf die Daten die-Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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ser Flüchtlinge hat. Das finden wir überhaupt nicht rich-tig. Wir halten das für viel zu weitgehend.
In diesem Zusammenhang muss man wirklich kri-tisieren, dass die Unionsfraktion – auch Sie haben daseben wieder gemacht – hier von vornherein über Asyl-missbrauch und über sogenannte terroristische Gefährderspricht, also im Grunde genommen die Debatte über die-ses Gesetz mit Parolen vergiftet. In der Flüchtlingspolitiksollten wir einfach einmal sachlicher bleiben und sagen,warum etwas notwendig ist, und es nicht immer gleichideologisch mit Missbrauchsdebatten verbrämen.
Sie denken bitte an Ihre Redezeit.
Ja, ich komme zu meinem letzten Satz. – Sie haben
sich hier gerade dafür bedankt, dass das Verfahren sehr
schnell läuft. Erst gestern wurde diese Vorlage einge-
bracht, am Montag hatten wir schon eine Anhörung, und
heute verabschieden wir den Gesetzentwurf. Das hängt
vor allen Dingen damit zusammen, dass dieser Auftrag
schon bei der Druckerei ist und diese darauf wartet, ihn
endlich ausführen zu können. Das halte ich für einen
Skandal. Anstatt hier ein sauberes Gesetz zu machen,
machen wir im Grunde genommen einen Schnellschuss.
Ich glaube, damit ist niemandem geholfen.
Ich danke Ihnen. – Wir werden uns im Übrigen ent-
halten.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das
Wort der Kollege Matthias Schmidt.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über dasDatenaustauschverbesserungsgesetz, landläufig nenntman das auch den Flüchtlingsausweis. Ich weiß, warumdieser Begriff nicht in das Gesetz aufgenommen wurde.Man hat stattdessen „Ankunftsnachweis“ als Begriff ge-wählt. Wenn man einen Moment lang darüber nachdenkt,kommt man zu dem Ergebnis, dass auch diese Begriff-lichkeit nicht ganz gelungen ist. Aber egal, das Gesetzan sich ist gelungen, und die Intention des Gesetzes istsehr wichtig.Ich will das an einem zunächst etwas abseitigen Bei-spiel versuchen zu erklären. Heute ist der 14. Tag desneuen Jahres. Das heißt, wir sind langsam an der Grenzeangekommen, an der die guten Vorsätze über Bord ge-worfen werden.
Meine guten Vorsätze waren gegen Churchill gerichtet,der ja einst „no sports“ gesagt haben soll. Ich wollte mehrSport wagen.
Ich bin durch eine große Fitnesskette darin bestärkt wor-den, die es mir ermöglicht hat, elf Tage lang umsonstzum Training zu marschieren. Also habe ich am 2. Januarmein Köfferchen gepackt und meine Turnhose hineinge-tan. Ich habe mich dann zu meiner großen Überraschungin einer langen Schlange angestellt. Dort standen mehre-re Menschen so wie ich, die ihre asketische Phase schonlänger hinter sich haben und viele gute Vorsätze gefassthaben. Sie alle wollten die Chance nutzen, dort kosten-frei zu trainieren. In der Schlange gab es auch überhauptkeine Rangeleien, keine Widersprüche. Jeder wartete ge-duldig ab.Als dann endlich ich dran war, wurden logischerwei-se meine Daten registriert: Name, Vorname, Adresse,Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Damit ich meinenAusweis nicht weitergeben kann, wurde ich auch foto-grafiert. Denn so kann Missbrauch vorgebeugt werden.All das lassen wir alle locker über uns ergehen, weil wirdie Bürokratie akzeptieren, selbst wenn sie nicht einmalvon einer Behörde kommt. Denn wir wissen, dass dieseBürokratie Vorzüge hat, dass es gut ist, dass es so ge-regelt ist, obwohl wir alle gerne mal Sprüche über dieBürokratie ablassen, so wie ich es ja auch zu Beginn überden Namen des Gesetzes gemacht habe.Gleichwohl, Herr Minister – das hatte ich gesagt –,ist das Gesetz absolut notwendig. Wir brauchen einesichere Identifizierung der Schutzsuchenden. Wir wol-len Mehrfachregistrierungen vermeiden. Vorhin beimTagesordnungspunkt Asylverfahrensgesetz hat KollegeCastellucci dargelegt, dass teilweise bis zu vier unter-schiedliche Behörden das Gleiche aufnehmen, weil sienicht in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren.Das hat jetzt ein Ende. Verwaltungsverfahren werdensehr viel effizienter ausgestaltet. Die entsprechenden Be-hörden bekommen Zugriff auf einen Kerndatensatz und,Frau Jelpke, auch auf weitere Daten, zum Beispiel dieSchulbildung. Das hatten Sie ja ein bisschen kritisiert.
Aber gerade für die Integration brauchen wir den Zugriffauf solche Daten. Darum ist das ganz gut so.
Ulla Jelpke
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Wir brauchen den Ankunftsnachweis auch für einegerechtere Verteilung nach dem Königsteiner Schlüsselund letztendlich für eine Beschleunigung der Asylver-fahren. Die Beschleunigung der Asylverfahren ist ausvielerlei Gründen wichtig und sinnvoll. Es geht darum,die Kommunen und auch die öffentlichen Kassen zu ent-lasten. Aber sehr viel wichtiger ist: Kurze Asylverfahrenbedeuten auch Akzeptanz in der Bevölkerung. KollegeCastellucci hat vorhin beim Asylverfahrensgesetz sehrgenau dargestellt, wie lange die Phase ist, bis jemandeinen Asylantrag stellt. Wir alle müssen daran arbeiten,dass diese Phase deutlich kürzer und das gesamte Verfah-ren schneller wird.
Aber dieses Thema ist nicht das einzige, auf das wirAbgeordnete Gehirnschmalz verwenden sollten, sondernwir sollten uns auch Gedanken darüber machen: Waskommt nach dem Asylverfahren? Es folgt, grob gesagt,eine Entscheidung: Ja oder nein, entweder darf jemandbleiben oder nicht. Wenn der Schutzsuchende bleibendarf, investieren wir alle sehr viel Energie, darüber nach-zudenken, wie wir ihn integrieren können: durch Arbeit,Sprache, Ausbildung, Wohnung und verschiedene ande-re Sachen. Das ist alles sinnvoll und richtig; das solltenwir auch weiterhin so machen. Aber wir dürfen auch diezweite Möglichkeit nicht vergessen: Was ist, wenn je-mand abgelehnt wird? Wie können wir bewirken, dasser seiner Ausreisepflicht nachkommt? Bisher denken wirrelativ wenig darüber nach. Ich finde, wir sollten unsüberlegen, wie wir an dieser Stelle positive Anreize set-zen können, weil auch das die Akzeptanz des gesamtenVerfahrens stärken würde.Herr Minister, Sie haben gesagt, Sie möchten das Ge-setz jetzt sehr schnell umsetzen; das ist auch gut und rich-tig so. Sie haben angedeutet: Bis zum Sommer könntebzw. sollte es klappen. Sie wollen die Änderungen nachund nach einführen; das ist sicherlich der richtige Weg.Wir müssen das, was nun geschieht, im Blick behalten.Letztendlich werden wir Sie auch daran messen, wieschnell das Gesetz umgesetzt werden kann. Das war IhreIdee, und es ist ein sehr guter Vorschlag. Der Bundestagwird den Gesetzentwurf heute verabschieden. Dann istdie Exekutive am Zuge; sie muss das Gesetz dann um-setzen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Vielen herz-lichen Dank.
Ich danke auch. – Nächste Rednerin ist Luise
Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die in unserem Land ankommenden Asylsuchenden ha-ben einen Anspruch auf ein faires und transparentes Ver-fahren. Es geht darum, dass wir ihnen mit Respekt, Pro-fessionalität und der Rechtsstaatlichkeit begegnen, dienicht nur das Recht gebietet, sondern natürlich auch derAnspruch, den wir angesichts der Schicksale der Men-schen, die nach oft mühevollen und teilweise lebensge-fährlichen Strapazen unser Land erreicht haben, an unsselbst haben.Wir sind uns hier deshalb auch weitgehend einig, dassdie Ziele des vorgelegten Gesetzentwurfes überwiegendrichtig sind. Auch wir erwarten beim Umgang mit derSituation, dass zahlreiche Flüchtlinge und Asylbewerberzu uns gekommen sind, eine funktionierende öffentlicheVerwaltung. Wir brauchen eine effiziente Infrastruktur,der alle elektronischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen,um in der ohnehin total komplexen Zuständigkeitssituati-on zwischen Kommunen, Ländern und Bund bei der Re-gistrierung der Asylsuchenden effektiv voranzukommen.
Der Bund ist hier in der Pflicht, eine IT-Infrastrukturauf die Beine zu stellen, die wesentliche Entlastungen füralle an den Verfahren Beteiligten mit sich bringt. Damitmeine ich neben den zahlreichen unterschiedlichen Be-hörden auch die Asylsuchenden selbst, für die die Situ-ation derzeit wirklich eine Belastung ist. Es ist für unsdeshalb von entscheidender Bedeutung, dass schnelleVerfahren – von der Registrierung über die Stellung ei-nes Asylantrags bis hin zu den Bescheiden – zu eindeuti-gen, fairen Entscheidungen führen. Leider – das sage ichwirklich mit Bedauern – enttäuscht der heute vorgelegteGesetzentwurf diese berechtigten Erwartungen in vieler-lei Hinsicht, und er wirft auch eine Vielzahl neuer Fragenauf.Zwar haben Sie per Änderungsantrag die Wirksam-keitsdauer des Ankunftsnachweises verlängert; das istgut. Aber es bleibt bei der von den Sachverständigenam Montag im Ausschuss kritisierten Lage, dass weiter-hin, sowohl vor als auch nach der Ausgabe dieses Do-kuments, weitere Dokumente ausgegeben und von denBehörden gepflegt werden müssen. Das ist eine erhebli-che Belastung; das haben uns die Sachverständigen amMontag verdeutlicht.Die Grundkonstruktion Ihrer neuen IT-Infrastrukturist wackelig; das kann man nicht anders bezeichnen. Wer,wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sei-ne IT an das Bundesverwaltungsamt outsourct, zugleichaber diesen Datenbestand mit dem datenschutzrechtlichohnehin stets umstrittenen Ausländerzentralregister fusi-oniert, braucht eine Klärung der Zuständigkeiten.
Die Frage, die sich da stellt, ist ganz klar: Wer gewähr-leistet für genau welchen Teil dieser riesigen Datenbank-infrastruktur, in die ja Tausende von Behörden Informa-tionen einmelden oder aus der sie Informationen abrufendürfen, dass kein Missbrauch erfolgt? Sie wissen: DerDatenschutz ist ein grünes Kernthema. Wir sind nichtüberzeugt und haben erhebliche Bedenken – das hat auchdie Beauftragte für Datenschutz deutlich gemacht –, dassdas gelingen kann.Die Erfassung jedes einzelnen Familienmitglieds führtzu erheblichen Mehrbelastungen für die zuständigenBehörden. Auch das haben uns einzelne Praktiker derMatthias Schmidt
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Ausländerbehörden in der Anhörung deutlich gemacht.Gleiches gilt für die zusätzliche Erhebung von Erken-nungsmerkmalen, wie das Lichtbild bei Minderjährigenund sogar Säuglingen, obwohl die gängigen Erhebungenaus fachlicher Sicht zur Identifizierung bisher absolutausreichen.Sehr verehrte Damen und Herren, so richtig es ist, miteiner modernen IT-Infrastruktur und einer Vernetzungder beteiligten Behörden auf diese ungeheure logisti-sche Herausforderung aufgrund der Flüchtlingssituationzu antworten, so wichtig ist es auch, die rechtsstaatli-chen Vorgaben für die Schaffung einer solchen giganti-schen Infrastruktur zu wahren. Wir sind der Auffassung,dass für alle nach diesem Gesetzentwurf datenmäßigerfassten Menschen gelten muss, dass sie einen vollenAnspruch auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte ha-ben, und dem muss der Gesetzgeber natürlich Rechnungtragen.Wenn künftig neben Arbeits- und Sozialbehörden so-wie noch mehr Polizeibehörden auch noch – das ist Ihrejüngste Erweiterung im Änderungsantrag – Gesund-heits- und Jugendbehörden einmelden und auf Datenzugreifen, dann verlangt das kompensierend eben mehrDatenschutz. Sie haben versucht, mit einer gesetzlichenFestlegung auf regelmäßige Kontrollen durch die Da-tenschutzbehörden ein solches Gegengewicht zu schaf-fen. Das erkennen wir auch durchaus an. Wir betonenaber – und das ist eben auch die Einschätzung der Da-tenschutzbeauftragten –, dass dies nur funktionierenkann, wenn eine solche Forderung auch haushaltsmäßigunterlegt ist. Sonst überfordern Sie die Aufsichtsbehör-den selbstverständlich, und die Kontrolle ist dann nichtgewährleistet.Zum Ende möchte ich noch einmal ganz eindeutigansprechen, dass die Dringlichkeit und die besondereHerausforderung durch den hohen Zugang von Asylsu-chenden von uns allen ein besonnenes Handeln verlan-gen. Auch wir sind bereit, hier in andere Richtungen zudenken.Wir stellen uns diesem Anliegen grundsätzlich über-haupt nicht entgegen, doch die Liste der fachlichen Kri-tikpunkte, die wir hier haben, ist lang. Ich kann sie jetztnicht alle auflisten, aber zum Beispiel auch die Errei-chung des Ziels, die Verfahren zu beschleunigen, stehtaufgrund der einzelnen Punkte, die ich angeführt habe,infrage. Daher werden wir uns bei der Abstimmung überden Gesetzentwurf enthalten, was ich, Herr Minister,wirklich außerordentlich bedaure, weil wir schon dieHoffnung hatten, dass wir hier endlich auch einmal ineiner asylpolitischen Frage auf einen gemeinsamen Nen-ner kommen.Ich finde es wirklich bedauerlich und schade, dassdie Kritikpunkte, die am Montag im Ausschuss von denSachverständigen geäußert wurden, nicht in den Gesetz-entwurf eingegangen sind, obwohl sie von Menschen ausder Praxis geäußert wurden. Dadurch werden wir in Zu-kunft natürlich entsprechende Probleme haben.Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier vielleicht dochnoch zu einer Zustimmung kommen können. Unsere Kri-tik an den einzelnen fachlichen Punkten lässt das aberleider nicht zu. Deshalb enthalten wir uns.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Nina Warken,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das wir heutebeschließen wollen, ist ein wichtiger Baustein, um denZustrom von Menschen in unser Land bewältigen zukönnen. Sie, Frau Kollegin Jelpke, können, glaube ich,auch nicht von der Hand weisen, dass Schnelligkeit hierjetzt wirklich wichtig ist.Gleichwohl ist natürlich auch Gründlichkeit wichtig.Ich denke, wir sind hier sehr gründlich vorgegangen,und wir werden auch in Zukunft bei der Umsetzung sehrgründlich vorgehen. Ich darf den Vorwurf zurückweisen,dass man hier nicht gründlich gearbeitet hat.
Das Gesetz wird dafür sorgen, dass jeder Flüchtlingund jeder, der unerlaubt einreist, durch ein einheitlichesund vereinfachtes System umgehend zweifelsfrei regis-triert wird. Die notwendigen Daten, wie Name, Herkunft,Fingerabdrücke, aber auch Informationen zur beruflichenQualifikation und zu mit eingereisten Kindern, stehenallen beteiligten Behörden sofort zur Verfügung. DieZuwanderung und die Asylverfahren können so bessergesteuert und geordnet werden, und angesichts der aktu-ellen Lage ist das unverzichtbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an-hand einiger Beispiele ein wenig näher erläutern, warumwir eine lückenlose Erfassung der Einreisenden und ei-nen verbesserten Datenaustausch dringend brauchen:Einen unkontrollierten Zustrom darf es nicht längergeben. Schon aus Sicherheitsgründen müssen und wollenwir kontrollieren, wer mit welcher Absicht zu uns kommtund wo sich die Neuankömmlinge aufhalten. Dass diesdringend notwendig ist, wird angesichts der erhöhtenTerrorgefahr und auch aufgrund der jüngsten Ereignissein Köln, Stuttgart und Hamburg niemand mehr bestrei-ten.Ebenso müssen wir entscheiden können, wo die Asyl-verfahren durchgeführt werden. 2015 sind über 1 Mil-lion Asylbewerber zu uns gekommen. Aufgrund dieserhohen Zahl sind die Aufnahmekapazitäten inzwischenüberall in Deutschland knapp. Es kann daher nicht sein,dass rund 30 Prozent der Asylbewerber einfach aus denErstaufnahmeeinrichtungen in den neuen BundesländernLuise Amtsberg
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verschwinden und dort hingehen, wo es ihnen am bes-ten gefällt. Dagegen müssen wir dringend etwas tun. Mitdem Ankunftsnachweis und dem automatisierten Daten-austausch werden hierfür die notwendigen Voraussetzun-gen geschaffen. Weitere Schritte müssen folgen.Nur wenn es uns gelingt, die Flüchtlinge in Deutsch-land wirklich gleichmäßig zu verteilen und die Flücht-lingszahlen deutlich zu reduzieren, werden wir in derLage sein, unsere Kapazitäten bestmöglich zu nutzen.Nur so können wir auch die Mammutaufgabe Integrationbewältigen.Deutschland hat für die Integration der Menschen, diezu uns gekommen sind, bereits sehr viel getan und wirddies in Zukunft erst recht tun. Aber: Integration ist keineEinbahnstraße. Integration braucht Verbindlichkeit fürbeide Seiten. Meine Damen und Herren, wir brauchendas Datenaustauschverbesserungsgesetz, um die Integra-tion besser zu koordinieren, und wir brauchen es für alleFolgefragen, die sich nach der Ankunft ergeben. So weißzum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit künftig, wowie viele Flüchtlinge untergebracht sind, wie alt sie sindund welche Qualifikation sie mitbringen. Aber auch dieLänder und die Verantwortlichen vor Ort in den Kom-munen wissen beispielsweise, wo wie viele Familien mitKindern leben und wie viele zusätzliche Lehrer und Stel-len in der Kinderbetreuung benötigt werden.Meine Damen und Herren, auch der Datenschutz – daswurde bereits angesprochen – muss natürlich Berücksich-tigung finden. Er wird mit diesem Gesetz auch gewahrt.Was zum Beispiel die besonders sensiblen Gesundheits-daten angeht, so wird nur erfasst, ob eine Untersuchungbereits stattgefunden hat. Das dient gerade dazu, Dop-peluntersuchungen zu vermeiden, also auch dem Schutzderjenigen, die zu uns kommen.Obendrein werden im Gesetzentwurf dem Daten-schutzbeauftragten und den Datenschützern der Ländereffektive Kontrollmöglichkeiten eingeräumt. Das warunter anderem ein Anliegen der Länder im Bundesrat.Deren Anregungen wurden auch im Übrigen überwie-gend berücksichtigt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, am vergangenenMontag haben wir den Gesetzentwurf bei einer Anhö-rung mit mehreren Sachverständigen intensiv diskutiert.Das Feedback war sehr positiv. Vor allem die Expertenaus der Asylpraxis haben betont, dass es sich um eingutes und wichtiges Gesetz handelt. Der Mehraufwandwird eindeutig durch den Nutzen überwogen. Ein zentra-les Anliegen aus der Praxis war die längere Gültigkeits-dauer des Ankunftsnachweises, der den Asylbewerbernkünftig ausgestellt wird. Auch das haben wir noch be-rücksichtigt.Meine Damen und Herren, das Datenaustauschver-besserungsgesetz spielt auch für die Strafverfolgung einewichtige Rolle. Mithilfe der biometrischen Daten kann invielen Fällen künftig leichter geklärt werden, ob Asylbe-werber Straftaten begangen haben oder nicht. So könnenzum Beispiel Fingerabdrücke und andere Daten einesTatverdächtigen von der Polizei mit dem Ausländerzen-tralregister abgeglichen werden.Meine Damen und Herren, Sie sehen an all diesen Bei-spielen, warum wir eine lückenlose Erfassung mit biome-trischen Daten und einen verbesserten Datenaustauschdringend brauchen. Der vorliegende Gesetzentwurf hilftBehörden auf allen Ebenen, für Recht und Ordnung zusorgen. Das ist sowohl im Interesse der Schutzsuchendenals auch im Interesse unserer Sicherheit, für die wir 2016mehr denn je kämpfen müssen. Sorgen wir also gemein-sam dafür, dass das Gesetz so schnell wie möglich umge-setzt werden kann!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Daniela Kolbe.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich will mich bei diesem wichtigen Ge-setz auf den integrationspolitischen Mehrwert, den esauch hat, konzentrieren. Wenn dieser Tage ein Flüchtlingnach Deutschland kommt, hat er oft eine sehr gefährli-che Reise hinter sich und ist froh und dankbar, dass er inDeutschland in Sicherheit ist.Hier beginnt allerdings eine neue Reise, und zwardurch den Behördendschungel Deutschlands. NachAufnahme in die erste Notunterkunft wird er nach demKönigsteiner Schlüssel weiterverteilt. Er lebt oft in un-terschiedlichen Erstaufnahmeeinrichtungen, wird dannan die Kommunen weiterverteilt und kann sich anschlie-ßend womöglich eine Wohnung suchen. Er hat im Laufeder Zeit Kontakt zu unzähligen Behörden, wird oft mehr-fach registriert. Er hat Kontakt zur Bundespolizei, zurLandespolizei, zu Ausländerbehörden, zum Bundesamtfür Migration und Flüchtlinge sowie, wenn er Kinder hat,zum Sozialamt, zum Jugendamt, zu Kitas, Schulen usw.Wenn er sich dann – hoffentlich möglichst schnell – inder Bundesagentur befindet oder, wenn er schon aner-kannt ist, im Jobcenter einem Berater oder einer Berateringegenübersitzt, dann weiß dieser bzw. diese nichts überihn, nicht, was der Flüchtling für einen Berufsabschlusshat, nicht, wie er heißt und woher er kommt. Alles mussmithilfe eines Dolmetschers mühselig eruiert werden.Das ist im Moment der Stand. Liebe Kolleginnen undKollegen, so konnte das eindeutig nicht weitergehen.
Wir wissen, dass Arbeit zusammen mit Sprache eineder wichtigsten Voraussetzungen für ein Gelingen derIntegration ist. Deshalb müssen wir investieren, damitdiese Integration möglichst schnell gelingt. Dazu brauchtes eine qualifizierte Beratung. Mit dem vorliegenden Ge-setz, das wir heute beraten und verabschieden wollen,wird genau das ermöglicht.Nina Warken
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Der starke Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 hat unsganz deutlich vor Augen geführt, dass wir in unseremAsylverfahren und im Verwaltungsapparat starke Defizi-te haben. Eines der gravierendsten Defizite bisher: zu we-nig Kommunikation zwischen den Behörden, aber auchzu wenig valide Daten. Das sieht man auch im BereichArbeitsmarkt ganz klar.Das IAB hat ein paar Kenntnisse über die beruflicheQualifikation von Flüchtlingen, und zwar aus dem Pro-jekt „Early Intervention“, einem sehr kleinen Projekt. Da-rüber hinaus wissen wir recht wenig über die Menschen,die gerade zu uns kommen. Das ist höchst bedenklich,wenn man sich klarmacht, dass wir dabei sind, Program-me für die Flüchtlinge aufzulegen. Eigentlich sollten wirdiese Programme auf Grundlage von validen Daten ent-wickeln. Diese aber liegen leider noch nicht vor.Deswegen bin ich froh und glücklich, dass jetzt dasDatenaustauschverbesserungsgesetz kommt. Im Aus-länderzentralregister werden jetzt zusätzlich freiwilligeDaten über Schulbildung, Berufsausbildung und sonstigeQualifikationen möglichst gleich beim Erstkontakt ge-speichert. Alle öffentlichen Stellen können darauf zugrei-fen, endlich auch die für Asylbewerberleistungen zustän-digen Behörden und die Bundesagentur für Arbeit, alsodie Stellen, die für die Grundsicherung zuständig sind,und auch die Jugendämter – das ist für die unbegleite-ten minderjährigen Flüchtlinge wichtig –; darauf hat derBundesrat hingewirkt.
Sie können die Daten abrufen, aber auch welche über-mitteln. Ein Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeitkann zum Beispiel eintragen, wenn ein Integrations-kurs begonnen oder absolviert worden ist. Er kann eineAdress änderung speichern. Auch hier ist das Ganze keineEinbahnstraße, sondern hier ist eine vorbildliche Kom-munikation vorgesehen.Ein weiterer wegweisender Schritt: Das BAMF erhältendlich Daten zu Forschungszwecken. Das ist enormwichtig, da eine große Zahl Menschen zu uns kommt,über die wir noch recht wenig wissen. Wenn wir dieseAufgabe aber gut bewältigen wollen, dann lohnt sich dieNeugierde, und dann lohnt sich jede Forschungsanstren-gung, damit wir diese Menschen gut integrieren und gutauf die Bedarfe reagieren können.
Fazit: Das Gesetz ist wichtig. Es kommt endlich. Es istüberfällig; da müssen wir uns nichts vormachen. Es wirddie Integration von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarktund die Arbeit der Menschen in der BA und in den Job-centern stark verbessern und vereinfachen.Ja, ich kann nur dafür werben, sich hier nicht einfachzu enthalten, wie das die Opposition macht, sondern die-sem wichtigen Schritt hin zu mehr Integration zuzustim-men. Ich jedenfalls werde das mit großer Freude tun.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als letzte Rednerin zu diesem Tages-
ordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Andrea Lindholz
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir erleben seit Monaten, wie der deutsche Staat ver-sucht, die Migration bzw. den hohen Zuzug in Deutsch-land zu steuern. Im September letzten Jahres schätztedas Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass sichrund 290 000 unregistrierte Migranten in Deutschlandaufhalten. Für einen hochentwickelten Rechtsstaat wieDeutschland ist das untragbar. Flüchtlinge haben sichteilweise selbst verteilt und haben selbst bestimmt, wosie hingehen. Wir als Staat müssen den Flüchtlingsstromsteuern. Deswegen wollen wir heute mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf einen weiteren Baustein setzen, umden deutschen Behörden bessere Handlungsmöglichkei-ten zur Steuerung einzuräumen.
Zentrales Ziel dieses Gesetzentwurfes ist die schnelleund flächendeckende Registrierung aller Asylsuchendenund der systematische Datenaustausch zwischen allenBehörden, die mit Asylbewerbern zu tun haben, damitinsbesondere Doppelerfassungen, so wie wir das in derVergangenheit erlebt haben, vermieden werden.Wir schaffen damit ein neues Kerndatensystem, dasauf bestehenden Infrastrukturen des Ausländerzentralre-gisters aufbaut und schon beim ersten Kontakt mit demAsylbewerber künftig einen umfassenden Datensatz an-legt, der später durch die anderen Behörden weitergeführtwird. Stammdaten wie Name, Herkunftsland, Geburtsda-tum, Fingerabdruck, Lichtbild, Anschrift und Telefon-nummer werden ebenso gespeichert wie Informationenüber den Aufenthaltsstatus, Gesundheitsprüfungen, Imp-fungen, Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikationenoder auch Integrationsleistungen.Leistungsansprüche, sehr geehrte Frau KolleginJelpke – das müssten Sie eigentlich am Montag in derAnhörung mitbekommen haben, wenn Sie unseremStaatssekretär Ole Schröder zugehört haben –, sind davonnicht umfasst. Sie können im Gesetz nachlesen, dass derAsylwunsch in Deutschland Leistungen nach dem Asyl-bewerberleistungsgesetz auslöst. Im Asylverfahrensge-setz ist ganz klar geregelt, welche Leistungsansprüchein Aufnahmeeinrichtungen bestehen. Insofern habe ichmanchmal den Eindruck, dass Sie bewusst versuchen,Dinge nicht oder misszuverstehen, um gute Vorhaben zuverhindern. Das neue Gesetz hat mit Leistungsanspruchnichts, aber auch gar nichts zu tun.
Das komplexe Kerndatensystem sollen viele Behör-den gleichzeitig nutzen: die Bundespolizei, das Bundes-amt für Migration und Flüchtlinge, die Landespolizeien,Daniela Kolbe
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die Ausländerbehörden, die Bundesagentur für Arbeit,die Sozial- und Verwaltungsgerichte und auch, liebe FrauKollegin Amtsberg, wie von den Kommunen und Län-dern gefordert, Gesundheitsbehörden und Jugendämter.Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind die Bundesländermehrheitlich rot-grün regiert. Es passiert uns oft, dasshier von Ihnen etwas anderes gesagt wird als von IhrenKolleginnen und Kollegen in den Ländern,
die da sind, wo die Arbeit geleistet wird, und für wenigerBürokratie und weniger Doppelerfassungen eintreten.Auch das BKA und die Nachrichtendienste sind betei-ligt. Es wird künftig unverzüglich ein Sicherheitsabgleichdurchgeführt. Das ist wichtig, damit gefährliche Perso-nen wie der letzte Woche in Paris getötete Attentäter, derjahrelang unter verschiedenen Namen in Deutschlandgelebt hatte, leichter identifiziert werden können. In derAnhörung am Montag haben uns die Sachverständigenauf ausdrückliche Nachfrage bestätigt, dass das Kern-datensystem auch die Strafverfolgung und Ausweisungvon Straftätern erleichtern kann. Dass der Fingerabdruckschon beim Erstkontakt genommen und gespeichertwird, ist dabei ein wichtiges Instrument. Der Asylbewer-ber erhält einen fälschungssicheren Ankunftsnachweis,der über einen QR-Code elektronisch auslesbar ist.Ja, Frau Kollegin Jelpke, man erhält mehrere Beschei-nigungen. Ich empfehle Ihnen, einmal das Wartezentrumin Feldkirchen oder Erding zu besuchen. Schauen Sie sichan, wie das ist, wenn man 3 000 bis 10 000 Menschen amTag im Erstkontakt registrieren muss! Dann ist völlig klar,dass man beim ersten Mal aufgrund einer solchen Mengenicht so viele Daten direkt sammeln kann, dass es für denfälschungssicheren Ankunftsnachweis reicht, den mandann bekommt, wenn man an dem Ort angekommen ist,zu dem man hinverteilt worden ist. Das ist auch richtig so;denn so können wir Migration endlich steuern.Auch Ihnen empfehle ich: Schauen Sie sich einmal dieRealität vor Ort an! Reden Sie mit den Leuten, statt im-mer nur hier Reden über Entbürokratisierung zu schwin-gen, die nichts, aber auch gar nichts mit der Praxis zu tunhaben!
Wir wollen also mit diesem Gesetzentwurf für mehrSicherheit und gezieltere Integrationsarbeit sorgen. Ander einen oder anderen Stelle gibt es Mehraufwand, aberalle oder zumindest die meisten Sachverständigen warensich einig, dass unter dem Strich mehr Arbeitsersparnisherauskommt und dass es ein guter Gesetzentwurf ist.Insbesondere die Vertreter der kommunalen Spitzenver-bände haben ihn ausdrücklich befürwortet. Sie wartendringend darauf. Deshalb kann ich nicht verstehen, wa-rum die Grünen sich enthalten wollen.
Sie kneifen. Ich habe es schon einmal gesagt: Von Ihnenkommen keine guten Vorschläge. Vorhin kam ein Vor-schlag, der völlig überflüssig war. Jetzt wollen Sie sichenthalten.
Das ist Ihre Politik. Das ist eine Verhinderungspolitikauch bei guten Maßnahmen zulasten der Kommunen undder Städte.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfeines Gesetzes zur Verbesserung der Registrierung unddes Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrecht-lichen Zwecken. Der Innenausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 18/7258, den Gesetzentwurf der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/7043 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Werenthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung bei Enthaltung der Opposition angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-vor angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Innenausschusses zu dem von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurVerbesserung der Registrierung und des Datenaustau-sches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken. DerInnenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 18/7258, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7203für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Beschluss-empfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlleSchauws, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGesetz zur Regulierung der Prostitutionsstät-ten vorlegenDrucksache 18/7243Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss FinanzausschussAndrea Lindholz
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b) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaMöhring, Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKESelbstbestimmungsrechte von Sexarbeiterin-nen und Sexarbeitern stärkenDrucksache 18/7236Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich sehe dazukeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte, den Platztausch zügig vorzunehmen und dieGespräche draußen vor dem Plenarsaal fortzuführen.Wenn dem dann so ist, können wir die Sitzung fortset-zen. – Vielen Dank.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die KolleginUlle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin Schwesig –sie ist nicht anwesend –, ich erinnere mich gut an IhreAnkündigung, ein Gesetz mit klaren Regelungen für dielegale Prostitution in Deutschland vorzulegen, die demSchutz der Frauen dienen. Das waren die Worte der Mi-nisterin. Wir können festhalten: Das ist Ihnen nicht ge-lungen.
Nach zwei Verhandlungsjahren steckt der Entwurf einesProstitutionsgesetzes in einer totalen Sackgasse. Sie unddie Union haben es nicht hinbekommen, sich wenigstensauf klare Ziele zur Verbesserung der Arbeitssituation vonProstituierten zu verständigen. Dieses Desaster ist IhreVerantwortung.
Frau Ministerin, den Namen „Prostituiertenschutzge-setz“ hat Ihr Gesetzentwurf mitnichten verdient. Es gehtdarin nicht um den Schutz von Prostituierten. Im Gegen-teil: In erster Linie geht es um Entmündigung und dieFortsetzung der Stigmatisierung von Prostituierten.
Jetzt wurden Sie von der Realität der Praxis eingeholt.Die Länder haben Alarm geschlagen, weil der Gesetzent-wurf zudem Folgendes ist: ein teures Bürokratiemonsterfür die Kommunen, ein Bürokratiemonster, das keinerProstituierten nutzt.
Unsere Kritik richtet sich vor allem dagegen, dasssich Prostituierte für jede sexuelle Dienstleistung ver-pflichtend anmelden sollen, auch wenn sie nur gelegent-lich stattfindet. Hinzu kommt: Die Behörde kann bei derAnmeldung eine Beratungsstelle hinzuziehen ohne Ein-verständnis der Prostituierten. Das ist paternalistisch undbeschneidet das Selbstbestimmungsrecht von Prostituier-ten. Mit der Pflicht zur Anmeldung drängen Sie Prostitu-ierte durchaus in die Illegalität, mit der Konsequenz, dassihnen dann jeglicher Schutz fehlt.
Vor allem Sie von der Union behaupten, eine ver-pflichtende Gesundheitsberatung sei hilfreich für dieProstituierte. Glauben Sie das wirklich, Kollegin Pantel?Glauben Sie wirklich, dass zum Beispiel mögliche Opfervon Menschenhandel entdeckt werden können, weil siesich in einer Behörde in einem Gespräch jemand Frem-dem anvertrauen? Selbst in Fachberatungsstellen fürMenschenhandel brauchen Betroffene Monate, um Ver-trauen zu fassen und sich zu öffnen. Hier zeigt sich, sofinde ich, eines sehr klar: Es geht Ihnen um Kontrolle.
Es geht Ihnen nicht darum, Prostituierten wirklich zu hel-fen. Darum geht es Ihnen nicht. Nein, meine Damen undHerren.
Ihre Vorschläge – das kommt hinzu; so argumentierenSie seit Monaten – bieten keine Lösung gegen Menschen-handel und gegen Zwangsprostitution. Die Menschen-händler brauchen die Prostituierten nur zur Anmeldungund zur Gesundheitsberatung zu schicken und entziehensich jedem Verdacht. Sie riskieren mit Ihrem Vorschlag,dass Zuhälter unter dem Deckmantel der Legalität Frau-en als Zwangsprostituierte missbrauchen, anstatt wirk-sam gegen Menschenhandel vorzugehen.
– So ist das.Wir Grüne fordern – das sage ich in aller Deutlich-keit –, dass Sie die Menschenhandelsrichtlinie endlichumsetzen;
denn Ihr Zögern geht auf Kosten der Opfer. Was wirbrauchen, sind effektive Maßnahmen, die die Strafver-folgung verbessern und die Opfer stärken. EntkoppelnSie endlich das Aufenthaltsrecht von der Aussagebereit-schaft der Opfer!
Erweitern Sie die Opferentschädigungsrechte, und über-arbeiten Sie den Straftatbestand „Menschenhandel“, da-mit er endlich praxistauglich wird.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Liebes Ministerium, liebe Kolleginnen und Kollegenvon Union und SPD, Ihre Aufgabe ist simpel: LegenSie den unstrittigen Teil Ihres Gesetzentwurfs vor, näm-lich den, der den Schutz von Prostituierten verbessert,das Prostitutionsstättengesetz. Genau darauf zielt unsergrüner Antrag ab: eine Erlaubnispflicht für Prostituti-onsstätten mit Schutzregelungen, Geschäftsplan, Doku-mentationspflichten und Überprüfung der Bordellbetrei-benden. So können unter anderem auch ausbeuterischeGeschäftsmodelle erkannt und unterbunden werden. Sor-gen Sie dann noch dafür, dass die freiwillige Beratungbundesweit ausgebaut wird. Gehen Sie hier mit, damitdas gesamte Vorhaben, das vor zwei Jahren auf den Weggebracht wurde, jetzt nicht gegen die Wand fährt.Unsere Forderung ist Teil Ihres eigenen Vorschlagszur Regulierung von Prostitutionsstätten. Sie haben es inder Hand, diese Reform jetzt nicht scheitern zu lassen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion wird jetzt darauf antworten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Frau Schauws, fangen wir einmal an: Sie haben
beim Thema Prostitution eine Geschichte.
Sie haben 2002 ein Prostitutionsgesetz verabschiedet,
das in den letzten 14 Jahren elendig gescheitert ist.
Dass Sie uns hier vorschreiben wollen, wie wir auf den
aktuellen Stand reagieren sollen, finde ich schon ziem-
lich frech.
Ich zitiere einfach einmal einen Reporter von VICE
Project, der vor wenigen Tagen in der Story im Ersten
zum Thema „Ware Mädchen“, die Sie sicherlich gesehen
haben, die Situation aktuell in Deutschland beleuchtet
hat. Er hat Folgendes gesagt: Als Deutschland und die
Schweiz die Prostitution legalisiert haben, war das eine
gute Nachricht für die Menschenhändler. – Das ist das
Ergebnis, das wir heute, 14 Jahre später, erleben. Wir
haben Ausbeutung, teilweise Sklaverei; wir haben eine
völlige Fremdbestimmung von weiten Teilen der Pros-
tituierten.
– Zu meinen Vorschlägen komme ich gleich. – Ich kann
Ihnen Folgendes dazu sagen: Es sind heute mittlerwei-
le Hunderttausende von Prostituierten, die in Deutsch-
land gezwungen werden, zu arbeiten; davon sind 70 bis
80 Prozent aus Osteuropa, die nach Deutschland gelockt
werden und die aufgrund der legalen Prostitution nach
Deutschland gekommen sind. Wir haben mittlerweile
eine Armutsprostitution, die billig, widerlich und übri-
gens auch gefährlich ist. Deswegen haben wir als Union
gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass es um den Schutz von Frauen geht. Es geht auch um
die Rechte der Prostituierten; aber es geht erst einmal um
den Schutz der Prostituierten.
Das Thema ist uns wichtig. Deswegen werden wir das
aufnehmen.
Man muss auch einmal darüber diskutieren, über wen wir
eigentlich reden. Die Verhältnisse müssten Ihnen bekannt
sein. Wenn nicht, sollten Sie sich darüber informieren, in
welchen Verhältnissen die jungen Mädchen leben.
Dann geht es um die Frage, was die Aufgabe eines
Prostituiertenschutzgesetzes ist. Der Staat hat sich um die
Schwachen der Gesellschaft zu kümmern. Wir reden hier
nicht in erster Linie über die Hausfrauen, die nebenbei
Geld verdienen, über die Studierenden, die sich ihr Studi-
um damit finanzieren, oder über einen Escortservice, bei
dem man Tausende Euro in einer Nacht verdient. Wir re-
den hier über die Frauen, die keiner sieht. Die Ministerin
Schwesig hat einmal gesagt: In meinem Fokus steht die
Frau, die nicht sichtbar ist. – Es ist unsere Aufgabe, die
zu schützen, die keinen Schutz haben, und das werden
wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz umsetzen.
Die gesamte Diskussion über die Frage des Schutzes
von Frauen und die Stärkung der Rechte von Frauen ist
bei uns in der Union mit klaren Zielvorgaben mit Blick
auf das Prostituiertenschutzgesetz verbunden. Wenn wir
ein Gesetz machen – das haben wir nach dem Scheitern
Ihres Prostitutionsgesetzes gelernt –, dann muss es ge-
wisse Zielvorgaben erfüllen. Es hilft uns kein Gesetz,
das von der Branche umgangen wird. Es hilft uns kein
Gesetz, das weiße Salbe ist. Vielmehr muss das Gesetz
nachhaltig wirken. Deswegen brauchen wir klare, ver-
bindliche Regelungen zum Schutz der schwachen Frau-
en.
Herr Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Schulz-Asche?
Aber gerne.
Herr Kollege Weinberg, ich möchte Sie nach IhrenAusführungen fragen, warum die Bundesregierung dieEU-Verordnung zum Kampf gegen Menschenhandel undArbeitsausbeutung bisher noch nicht vollständig umge-Ulle Schauws
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setzt hat? Diese Verordnung hat genau die prostituiertenFrauen, die Sie gerade erwähnt haben und deren Leid Siebeschrieben haben, im Blick. Warum ist diese Verord-nung noch nicht vollständig umgesetzt worden?
Wir werden sie gemeinsam mit unserem Koalitions-
partner, der SPD, zügig umsetzen ebenso wie die grund-
sätzlichen Regelungen, die wir im Prostituiertenschutz-
gesetz vorsehen werden.
Noch einmal: Es gilt der Grundsatz, dass wir das, was wir
machen, vernünftig und gut machen und keine Schnell-
schüsse produzieren, die am Ende nicht wirken.
Ich will zu dem entscheidenden Punkt kommen, der
immer wieder angesprochen wird. Ich meine die Frage:
Was muss ein Gesetz eigentlich gewährleisten? Ihre Re-
aktion auf die jetzige Situation ist, zu fordern, dass wir
die Beratung ausbauen. Vor allen Dingen müssen wir Ih-
rer Meinung nach dafür sorgen, dass Stigmatisierung ver-
hindert wird. Dagegen haben wir nichts. Auch wir wollen
keine Stigmatisierung. Wir wollen aber etwas mehr als
nur Beratung: Wir wollen den Schutz dieser Personen,
und der ist dringend geboten.
Ich will in diesem Zusammenhang zitieren, was in der
erwähnten Reportage in der ARD eine verdeckte Ermitt-
lerin sagte: Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben,
dass sie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgen
ernst nehmen. Haben sie das Gefühl, dass man ernsthafte
Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel, dass man NGOs
einbindet, die eng an den Mädchen dran sind, und das
aufrechterhält, sagen sie aus. – Unser Ansatz ist: Wir
wollen nicht, dass sich diese Mädchen nur einmal irgend-
wo vorstellen. Wir wollen sehen, wie es diesen Mädchen
geht, und ihnen Angebote machen, dass sie dauerhaft,
nachhaltig dahin gehend beraten werden, aus dieser Sze-
ne auszusteigen.
Deswegen werden wir bei gewissen Themen wie der
Gesundheitsberatung darauf achten, die Mädchen dauer-
haft zu begleiten, sie immer wieder zu beraten und zu
schauen, wie wir ihnen Angebote zum Ausstieg machen
können. Für uns gilt auch: Wir wollen mit der Anmelde-
pflicht für Prostituierte keine Stigmatisierung. Aber wenn
man diesen Mädchen, die für viele nicht sichtbar sind,
helfen will, dann muss man wissen, wo sie sich aufhalten
und wie man ihnen Schutz gewähren kann. Deshalb muss
die Anmeldepflicht im Gesetz verankert sein.
Über diese Punkte befinden wir uns in der Koalition
in intensivsten Gesprächen; aber wir meistern das. Noch
einmal: Statt ein schlechtes Gesetz zu machen – wir ha-
ben Ihr Beispiel vor Augen –, machen wir lieber ein gutes
Gesetz. Wir bemühen uns, in den kommenden Wochen –
damit verbunden ist ein Appell in Richtung SPD – ei-
nen Gesetzentwurf vorzulegen; denn – das sagen wir als
Frauenpolitiker, die hier Verantwortung haben – wir kön-
nen es uns nicht erlauben, noch länger zu warten. Mit der
jetzigen Situation muss endlich Schluss gemacht werden.
Insofern bin ich guter Dinge, dass wir mit der SPD in den
nächsten Wochen zu einer Lösung kommen – im Sinne
der zu schützenden Frauen.
Ich will zum Schluss ein letztes Mal aus der Repor-
tage in der ARD zitieren. „Liane“ sagt dort Folgendes:
Mehr Kontrolle – eine Betroffene spricht also von mehr
Kontrolle –, mehr Aufmerksamkeit auf Prostitution, das
würde schon helfen. – Wenn man nachts durch die Bor-
delle in Berlin geht, dann findet man über 100 Mädchen,
die ihre Arbeit nicht machen möchten, und genau das ist
das Problem, vor dem wir stehen: Mehr und mehr Men-
schen werden zur Prostitution gezwungen. Immer weni-
ger machen diese Arbeit selbstbestimmt. Deswegen müs-
sen wir als Staat, der die Schwachen zu schützen hat, das
Grundelement des Schutzes stärken. Das machen wir mit
einem Prostituiertenschutzgesetz. Dabei wird es darauf
ankommen, den Schutz wirklich zu gewährleisten und
die Rechte zu stärken.
Frau Schauws, schauen Sie sich die Situation in die-
sem Land an; es ist vom „Bordell Deutschland“ die Rede.
Da reicht es bei allem Respekt nicht aus, die Beratungs-
angebote zu verbessern. Das machen wir auch. Aber da-
rüber hinaus haben wir die wirklichen Ursachen von Pro-
stitution zu bekämpfen, und das werden wir mit einem
Gesetz machen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Cornelia
Möhring, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Weinberg, ich finde das schon geradezu gruselig:Sie sagen, Sie wollen keine Stigmatisierung, aber ma-chen das in einer Tour.
Kordula Schulz-Asche
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Sie sagen, Sie wollen den Schutz der Prostituierten,Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter; doch Sie legen keineneinzigen Vorschlag vor, wie diese tatsächlich geschütztwürden. Ich will Ihnen das beweisen.Sie wollen mit Ihrem Prostituiertenschutzgesetz eineAnmeldepflicht, eine verpflichtende Gesundheitsbera-tung; Sie wollen Kondompflicht. Ich sage Ihnen: LassenSie das einfach stecken! Sie verfehlen nämlich das Zielkomplett.
Sie tun noch mehr. Sie schrammen nämlich mal eben aneiner Einschränkung von Grundrechten vorbei, und dasist keineswegs akzeptabel.
Vor 14 Jahren – Sie haben es erwähnt – ist Prostitutionlegalisiert worden. Seitdem fällt Prostitution auch unterdie Berufsfreiheit, geregelt in Artikel 12 des Grundge-setzes.
Das heißt im Übrigen nicht, dass Sexarbeit ein Beruf wiejeder andere ist; aber das heißt – das ist der eigentlichePunkt –: Prostitution ist legal, ist ein Beruf, und Prosti-tuierte dürfen in ihrer Berufsfreiheit nicht eingeschränktwerden.
Deswegen müssen die Berufsbedingungen geregelt, unddie Rechte derjenigen gesichert werden, die in dieserBranche arbeiten, so wie es meine Fraktion in ihrem An-trag fordert.An den geltenden Bedingungen der Prostitution – dahaben Sie recht – ist viel zu verändern. Vor allem imBereich der Armutsprostitution herrschen entsetzlicheZustände. Viele nehmen Drogen. Der Ausstieg ist schondeswegen so schwer, weil oft niemand erfahren darf,dass einer Arbeit im Prostitutionsgewerbe nachgegan-gen wird. Viele Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter könnensich schlicht nicht outen. Aber mit einer Anmeldepflichtwirken Sie zusätzlich stigmatisierend und erschwerenden Ausstieg, und Sie erschweren die Ausübung des Be-rufs unverhältnismäßig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir unsdoch nichts vor: In den letzten zwei Jahren, in denen wirhier diese Debatte führen, ist die gesellschaftliche Stig-matisierung gewachsen,
und zwar genau deshalb, weil zwei Themen unzulässigvermischt werden, wie Sie das hier eben auch wieder ge-macht haben.
Sie vermischen die legale Prostitution mit den Straftat-beständen – ich wiederhole: den Straftatbeständen – desMenschenhandels und der Zwangsprostitution.Ja, Regelungen im Prostitutionsgewerbe muss es ge-ben. Aber Ausgangspunkt für diese Regelungen müssendoch der konkrete Bedarf und der tatsächliche Schutz derdarin Tätigen sein.
Es ist eben ein Unterschied, ob drei Frauen in einem Woh-nungsbordell arbeiten, 150 Frauen in einem Großbordelloder einzelne Frauen in ihrem eigenen Studio oder in ei-ner Flatratebar. Deswegen müssen die Mindeststandardsangepasst sein; sie müssen zu den Bedingungen passen.Es ist letztlich egal, wo Prostituierte arbeiten – es ist zugewährleisten, dass sie das ohne Beeinträchtigung ihrersexuellen Selbstbestimmung selbstständig tun können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Weinberg, Sieschützen doch nicht wirklich die, die besonderen Schutzbrauchen. Keine einzige Zwangsprostituierte hätte auchnur einen Fortschritt zu erwarten, wenn die Bundesre-gierung ihr Vorhaben umsetzt. Sie regeln eben nicht diedafür eigentlich erforderlichen Ausstiegsprogramme,Sprachkurse, Arbeitsmöglichkeiten jenseits der Prosti-tution. Sie regeln kein Aufenthaltsrecht unabhängig vonder Aussagebereitschaft. Armutsprostitution wird dochnicht durch Regulierung verhindert. Dafür braucht es dieBekämpfung von Armut. Dafür braucht es soziale Ga-rantien, anständig bezahlte Arbeit und die Stärkung desSelbstbestimmungsrechts.
Für diejenigen, die sich nach rationalen Erwägungenentschieden haben, diesem Broterwerb nachzugehen,werden die Arbeitsbedingungen durch Ihre Vorhabenerheblich erschwert. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiterbrauchen, damit sie unabhängig zum Beispiel von Groß-bordellbetreibern ihren Beruf frei ausüben können, eineStärkung ihrer Rechte und eine Verbesserung ihrer so-zialen Situation. Konkret: Sie brauchen den Zugang zuden Systemen der sozialen Absicherung. Sie brauchenklare Mindeststandards für Prostitutionsstätten, einenAusbau der aufsuchenden und nicht der verpflichtendenBeratungs- und Informationsangebote. Prostituierte oderSexarbeiterinnen und Sexarbeiter brauchen so starkeRechte, dass ein Zwang unmöglich wird.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt dieKollegin Ulrike Bahr.
Cornelia Möhring
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Prostitution – ein Thema, das auchim 21. Jahrhundert und mehr denn je von kontroversenDebatten begleitet wird, ein Thema, das, obwohl es vie-le Emotionen weckt und manche auch in Rage bringt,zumeist und vor allem von außen betrachtet wird, einThema, das nach wie vor nicht selten neben oder garaußerhalb der Gesellschaft zu laufen scheint. Dieses Au-ßenstehen war ein Antrieb für das Prostitutionsgesetz,das 2002 unter Rot-Grün in Kraft trat. Dieses Gesetz warein wichtiger Schritt und ein Paradigmenwechsel. SeinZiel war es, die Prostituierten aus der Schattenwelt derSittenwidrigkeit herauszuholen und ihnen mit der Mög-lichkeit regulärer Beschäftigungsverhältnisse den Weg inunser soziales Sicherungssystem zu öffnen.Heute wissen wir, dass sich die Erwartungen, die dieMütter und Väter dieses Gesetzes damals hatten, nur zumTeil erfüllt haben. Hier besteht weiterhin großer Hand-lungsbedarf. Insbesondere betrifft dies die Notwendig-keit, Prostitutionsstätten besser zu regulieren.
Darin besteht sowohl in der Regierung als auch in denKoalitionsfraktionen durchaus große Einigkeit. Der Blickauf die Anträge aus Ihren Reihen, liebe Kolleginnen undKollegen der Fraktionen von Grünen und Linken, signa-lisiert mir ebenfalls Zustimmung für eine durchdachteKonzessionierung von Prostitutionsstätten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sinduns in der Großen Koalition durchaus bewusst, dass hierpolitisches Handeln notwendig ist. Genau vor diesemHintergrund hatten wir uns bereits im Koalitionsvertragdarauf verständigt, dass wir das Prostitutionsgesetz von2002 mit Blick auf eine bessere Regulierung der Prosti-tution überarbeiten wollen. Das ist für uns ein Arbeits-auftrag, der schon damals ganz klar in Richtung einerProstitutionsstättenregelung zum Schutz der dort tätigenFrauen und Männer zielte. Dass wir hier zusammen mitdem Frauenministerium bessere Regelungen einführenwollen, steht völlig außer Frage.Dazu gehört unter anderem auch eine Erlaubnispflichtfür den Betrieb von Prostitutionsstätten. Diese Erlaub-nispflicht, die auf der Einhaltung von Mindeststandardsfußt, ist ein ganz zentrales Element des geplanten Pro-stituiertenschutzgesetzes. So soll und darf künftig dieErteilung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitu-tionsstätte erst erfolgen, wenn hygienische, räumlicheoder gesundheitliche Mindestanforderungen ausreichenderfüllt sind und wenn zudem die Zuverlässigkeit des Be-treibenden oder der Betreibenden zweifelsfrei feststeht.Sofern sich anhand des vorzulegenden BetriebskonzeptsHinweise ergeben, dass beispielsweise das Recht auf se-xuelle Selbstbestimmung eingeschränkt werden könnte,darf eine Erlaubnis natürlich gar nicht erst erteilt wer-den. Es steht außer Frage, dass im Falle rechtskräftigerVerurteilungen beispielsweise wegen Straftaten gegendie sexuelle Selbstbestimmung oder gegen die körperli-che Unversehrtheit die Zuverlässigkeit einer Betreiberinoder eines Betreibers nicht gegeben ist. Natürlich musseine Betriebserlaubnis auch widerrufen werden, solltenbeispielsweise im Nachgang zur Erteilung der ErlaubnisVerstöße offenkundig werden.Darüber hinaus soll es ein Werbeverbot für unge-schützten Geschlechtsverkehr geben. Selbstverständlichwird es auch die Pflicht geben, Kondome bereitzuhaltenund in den Räumen auf die verpflichtende Verwendungvon Kondomen hinzuweisen.Wie Sie sehen, gibt es durchaus Überschneidungenzwischen unserem Vorhaben und Ihren Anträgen. Glei-ches gilt bei der geplanten Präzisierung des § 3 desProstitutionsgesetzes. Wir wollen und werden ganz inIhrem wie auch im ursprünglichen Sinne noch einmalklarstellen: Weisungen im Rahmen abhängiger Beschäf-tigungsverhältnisse, die Art oder Ausmaß der Erbringungsexueller Dienstleistungen vorschreiben, sind absolut un-zulässig.
In diesem Zusammenhang ist mir wichtig, noch ein-mal zu betonen, dass sich dieses Gesetzesvorhaben ganzkonkret auf den Bereich der legalen Prostitution bezieht.Zweifellos helfen transparente Rahmenbedingungen undbessere Kontrollmöglichkeiten in diesem Gewerbe da-bei, die Trennlinien zwischen freiwilliger, legaler Pros-titution auf der einen Seite und Zwangsverhältnissen aufder anderen Seite scharf zu ziehen. Der konkrete Kampfgegen verabscheuungswürdige Verbrechen wie Zwangs-prostitution und sexuelle Ausbeutung sowie Menschen-handel ganz generell muss jedoch vor allem mit anderenMitteln, letztendlich mit den Waffen des Rechtsstaates,geführt werden.
Im bereits laufenden Gesetzgebungsverfahren zumProstituiertenschutzgesetz ist es mir und meiner Frakti-on wichtig, ein Prostituiertenschutzgesetz auf den Wegzu bringen, das seinem Namen gerecht wird. Der Ansatzdes Bundesfrauenministeriums, hier mit einer klarerenRegulierung von Prostitutionsstätten mehr Rechtssicher-heit und damit einen besseren Schutz vor Ausbeutung zuschaffen, ist ein ganz zentraler Schritt, den wir vollendsunterstützen – am besten natürlich im Zusammenspielmit ausreichenden niedrigschwelligen und vertraulichenBeratungsangeboten und Anlaufstellen in den Ländern.Als zuständige Berichterstatterin ist mir im Laufe derletzten beiden Jahre vor allem eines sehr stark aufge-fallen: Wir beschäftigen uns hier mit einem politischenHandlungsfeld in einem Bereich, in dem nach wie vormehr über als mit den zentralen Akteuren gesprochenwird. Damit meine ich vor allem die Prostituierten selbst,Fachberatungsstellen, Gesundheitsämter, Polizei undKommunalverantwortliche. In der SPD-Bundestagsfrak-tion war es uns stets ein Anliegen, möglichst breitflächigRaum für Gespräche und gegenseitigen Austausch zu er-öffnen; denn wie so oft ist auch hier das Schubladenden-ken weder angebracht noch spiegelt es die Realität wider.
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Dabei unterscheidet sich dieses Thema sehr wesent-lich von anderen Bereichen, über die wir hier in der So-zial- und Gesellschaftspolitik in der Regel entscheiden.Familien- und Generationenpolitik betrifft jede und je-den von uns oft unmittelbar. Über Familienleistungen,Gleichstellung oder die bessere Vereinbarkeit von Fami-lie, Pflege und Beruf wird in aller Offenheit gesprochenund diskutiert. Anders beim Thema Prostitution: Nur we-nige bekennen sich öffentlich dazu, Prostituierte genausowie Freier. Nur wenige reden wirklich mit den Betroffe-nen statt über sie. Gesellschaftliche Stigmatisierung undDiskriminierung sind hier nach wie vor sehr deutlich zuspüren. Nur wenigen ist die große Bandbreite, die sichunter einem weiten Begriff von Prostitution wiederfindet,tatsächlich bewusst.Dieser Vielschichtigkeit mit gesetzlichen Regelungengerecht zu werden, ohne erneut die Stigmatisierung vonBetroffenen zu fördern, ist sicherlich uns allen ein Anlie-gen. Klar ist, dass das Gelingen dieses Vorhabens letzt-lich auch von den Kapazitäten der Länder und vor allemder Kommunen vor Ort abhängt. Der Bund kann und darfhier nicht mit tauben Ohren auf Äußerungen und Hinwei-se aus den Kommunen reagieren. Deren Blickwinkel undderen Expertise sind ohne Zweifel unverzichtbar, damitin der Praxis schließlich das herauskommt, worauf derTitel des Gesetzes zielt: eine Regulierung des Prostituti-onsgewerbes, die allem voran auch dem Schutz der in derProstitution tätigen Personen dient.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Paul Lehrieder,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vorab ein Wort zum
letzten Satz meiner Vorrednerin: Das Gesetz dient nicht
„auch“, sondern „vorrangig“ dem Schutz der Prostitu-
ierten. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Ziel. Das
stand vielleicht falsch in Ihrem Manuskript. Ich wollte
das nur richtigstellen, damit es nicht falsch im Protokoll
auftaucht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen! Liebe Kollegen! Frau Schauws, Frau Schauws,
Sie haben hier ausgeführt, das Gesetz wäre ein Bürokra-
tiemonster.
Sie sollten eigentlich aus der Vergangenheit gelernt ha-
ben. Uns in der Großen Koalition ist ein gutes Gesetz,
das ein paar Wochen mehr Zeit braucht, wichtiger als ein
Gesetz, das als Schnellschuss aus der Hüfte kommt. Das
Gesetz, das Sie 2002 mit unserem heutigen Koalitions-
partner gemacht haben, erfüllt längst nicht den Zweck,
für den es gedacht war. Da gilt der Spruch – da gibt es
eine Frage, Frau Präsidentin –: Gut gemeint ist nicht im-
mer gut gemacht.
Frau Kollegin Schulz-Asche, ich habe den Äußerun-
gen des Kollegen Lehrieder entnommen, dass er Ihnen
gerne Zeit für eine Zwischenfrage gibt, obwohl es nicht
seine Aufgabe war, das zu entscheiden. Das ist eine Aus-
nahme.
Ich habe nur meine Bereitschaft erklärt.
Er hat im vorauseilenden Gehorsam die Bereitschaft
gezeigt. – Bitte schön.
Vielen Dank. Ich finde es ja immer schön, wenn man
entscheidungsfreudige Politiker vor sich hat. – Herr
Lehrieder, Sie haben gerade gesagt, man müsse aus der
Vergangenheit lernen. Es gibt seit 2011 eine EU-Richt-
linie gegen Menschenhandel und gegen Ausbeutung.
Bereits Anfang des Jahres 2013 hätte die damalige
schwarz-gelbe Bundesregierung die Richtlinie in deut-
sches Recht umsetzen müssen. Das ist nicht erfolgt. Es
gab dann kurz vor Ende der Legislaturperiode tatsäch-
lich einen entsprechenden Gesetzentwurf von Schwarz-
Gelb; aber selbst die Sachverständigen von CDU und
FDP haben in der Anhörung gesagt, dass die Richtlinie
damit nicht ausreichend umgesetzt wird. Letztendlich ist
der Gesetzentwurf dann von der Länderkammer gestoppt
worden.
Ich frage Sie, da Sie heute über die Bekämpfung von
Menschenhandel reden, inwieweit Sie in den Vorschlä-
gen, die Sie zurzeit machen, im Bereich der Prostitution
wirklich Maßnahmen ergreifen, die a) die EU-Richtlinie
umsetzen und b) tatsächlich dazu beitragen, dem Men-
schenhandel Herr zu werden.
Sehr geehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für dieFrage, wenngleich ich mich des Eindrucks nicht erweh-ren kann, dass ich etwas Ähnliches vorhin beim KollegenWeinberg schon einmal gehört hätte.
Gleichwohl muss ich sagen: Aufgrund des engen Sach-zusammenhangs mit der Regelung der Prostitution imProstitutionsschutzgesetz sollen in diesem Zusammen-hang auch Menschenhandel und Zwangsprostitution ineinem Paket geregelt werden. Wir sind dabei. Warten Sienoch etwas, dann können Sie in der ersten Lesung undder Sachverständigenanhörung konstruktiv mitwirken.Ich darf Ihnen versichern: Was wir Ihnen vorlegen, istUlrike Bahr
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ausgewogener, ausgereifter und dient dem Schutz derProstituierten mehr als alles, was Sie seit 2002 gemachthaben und Sie in Ihrer Verantwortung zu vertreten haben.
– Ich könnte Ihnen noch mehr dazu sagen.Frau Schauws, Sie haben die Gesundheitsberatungmoniert. – Ich warte, bis die Gespräche bei den Grünenbeendet sind, damit sie mir wieder zuhören.
Aber Ihre Zeit läuft weiter.
Frau Schauws, Sie haben die Gesundheitsberatung
moniert. Ich will Ihnen dazu sagen: Die Gesundheitsbe-
ratung haben wir in den Verhandlungen, die wir bisher
geführt haben, kontrovers diskutiert. Ursprünglich woll-
ten wir eine Gesundheitsuntersuchung; denn wir wollen
niemanden stigmatisieren. Wir sind aber der Auffassung,
dass sehr viele Frauen in dem Milieu – hier handelt es
sich auch um 18- bis 21-jährige heranwachsende Frauen
aus dem osteuropäischen Ausland, die nicht unbedingt
freiwillig hier sind – einen regelmäßigen Kontakt durch
eine Gesprächsstelle außerhalb des Milieus erhalten sol-
len. Deshalb wollen wir die relativ enge Vertaktung für
die 18- bis 21-Jährigen. Wir stellen uns vor, dass zumin-
dest halbjährlich Kontakte verpflichtend sind. Das unter-
scheidet uns im Übrigen von den Linken und den Grü-
nen. Wir wollen keine freiwilligen Angebote, sondern es
muss verpflichtend sein, weil ansonsten möglicherweise
Interessen aus dem Milieu sie daran hindern können, die
Angebote der Beratungsstellen in Anspruch zu nehmen.
Frau Schauws, wir haben nicht nur die 21-, 22-jährige
deutsche Jurastudentin, die diesem Beruf nachgeht. Wir
haben auch sehr viele unerfahrene, zum Teil der deut-
schen Sprache nicht mächtige heranwachsende junge
Frauen aus dem Ausland, die wir schützen müssen.
– Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen. Sprachkur-
se sind zugegebenermaßen zurzeit in aller Munde, aber
das allein wird den Prostituierten nicht helfen. Aber sie
müssen wissen, wie sie es tun sollen.
Frau Kollegin Möhring, es erstaunt mich, weil gera-
de Sie Sprachkurse ansprechen. In Ihrem Antrag führen
Sie auf der einen Seite aus, dass Prostitutionsgesetz von
2002 hält fest,
dass das eingeschränkte Weisungsrecht des Arbeit-
gebers dem abhängigen Beschäftigungsverhältnis in
der Prostitution nicht entgegensteht. Das ProstG hat
die Rechtsposition von Sexarbeiterinnen und Sexar-
beitern gestärkt und damit auch einen Wandel in der
gesellschaftlichen Bewertung des Berufes vorange-
bracht.
Im nächsten Satz, Frau Möhring – das müssen Sie sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen –, schreiben Sie:
Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, dass sich das im
Prostitutionsgesetz beabsichtigte Modell des abhän-
gigen Beschäftigungsverhältnisses in Prostitutions-
stätten in der Praxis nicht etabliert hat …
Was gilt jetzt? Wollen Sie das Gesetz von 2002 verteidi-
gen, oder ist es, wie hier steht, tatsächlich Mist gewesen?
Meine Damen und Herren, Kollege Weinberg hat da-
rauf hingewiesen: Laut Schätzungen der EU-Kommis-
sion arbeiten circa 200 000 Zwangsprostituierte in Eu-
ropa. Nicht alle sind freiwillig in der Branche. Die, die
freiwillig dort sind, haben laut einer Schweizer Studie zu
98 Prozent bleibende Schäden aus dieser Tätigkeit. Des-
halb müssen wir diesen Frauen Hilfsangebote machen,
wo immer wir es machen können.
Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Möhring?
Ja, selbstverständlich.
– Ja, es ist alles bestellt, Frau Präsidentin.
Vielen Dank. – Sie haben mich direkt angesprochen,
Herr Kollege Lehrieder. Ich möchte einmal darauf auf-
merksam machen, dass es an dieser Stelle um zwei Punk-
te geht. Mit dem Gesetz von 2002 wurde Prostitution
legalisiert und damit gilt die Berufsfreiheit. Es hat sich
mittlerweile gezeigt, dass natürlich die Weisungsbefug-
nis problematisch ist, weil die höchstpersönliche Art und
Weise dieser sexuellen Dienstleistung voraussetzt, dass
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selber darüber ent-
scheiden, wie sie arbeiten und welche Leistungen sie er-
bringen. Das Problem ist aber, dass die Weisungsbefug-
nis eines Arbeitgebers Voraussetzung ist, um überhaupt
wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Deshalb fordern wir als
Linke, dass garantiert werden muss, dass die Selbstbe-
stimmung und die selbstständige Tätigkeit von Sexarbei-
terinnen und Sexarbeitern auch ohne Weisungsbefugnis
von Arbeitgebern möglich ist. Das Beschäftigungsver-
hältnis, so wie wir es normal in der Wirtschaft kennen, ist
für sexuelle Dienstleistungen nicht praktikabel. Deswe-
gen brauchen sie deutlich stärkere Rechte.
Frau Möhring, wir sind uns in nicht vielen Punkten einig.Aber wir sind uns hier einig. Es ist ein ArbeitsverhältnisPaul Lehrieder
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sui generis. Es ist kein weisungsabhängiges Arbeitsver-hältnis, weil sowohl die Zeit als auch die Anzahl der Frei-er, mit denen eine Prostituierte schlafen muss, überhauptnicht dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen, wie wires verstehen, entsprechen. Deswegen wollen wir überGesundheitsprogramme Ausstiegshilfen anbieten. Ichkann sagen: Okay, ich will da nicht rein, ich will das nichttun, aber ich muss manche Sachen tun. – Sie können aberdavon ausgehen, dass längst nicht jede Prostituierte, diejetzt tätig ist, bei ihrer Tätigkeit absolut selbstbestimmtist. Es gibt genug Menschen – irgendwelche Zuhälter –,die ein wirtschaftliches Interesse an der Tätigkeit derProstituierten haben. Sie sind sicherlich nicht so naiv,dass Sie das in Abrede stellen wollen.Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren, in dem es heißt –Sie haben es ja eben bereits eingeräumt –, dass… ein Weisungsrecht letztlich immer die sexuelleSelbstbestimmung zu stark gefährden würde undein Beschäftigungsverhältnis ohne Weisungsrechtfür einen Arbeitgeber wirtschaftlich und rechtlichnicht umzusetzen ist.Das ist O-Ton der Linken. Da haben Sie, wie gesagt,recht. Darum gehört das Weisungsrecht raus aus dem Ge-setz. Wir wollen nicht, dass die Prostituierten weisungs-abhängig tätig sein müssen.Vielleicht noch ein Gedanke. Vorhin wurde die An-meldung der Prostituierten angemahnt. Die Prostituiertenmüssen heute nicht angemeldet werden. Wenn Sie mitPolizeibeamten oder Sicherheitskräften sprechen, die dieAufgabe haben, in diesem Milieu für Recht und Ordnungzu sorgen
– stellen Sie mir doch eine Frage, dann habe ich mehrZeit –, dann werden Sie sehr schnell zu hören bekom-men: Wir können nur die Frauen schützen, von derenExistenz wir wissen. – Es geht nicht darum, sie zu stig-matisieren oder irgendwelche Listen aufzustellen, um zuwissen, wo welche Prosituierte tätig ist. Wir brauchenzum Schutz der Frauen deshalb einen gewissen bürokra-tischen Aufwand der Anmeldung und der Gesundheits-beratung. Wenn es uns das nicht wert wäre, dann würdenwir wieder ein stumpfes Schwert schaffen, so wie dasrot-grüne Prostitutionsgesetz von 2002.
Noch ein Satz dazu: In den nächsten Wochen wirdhoffentlich eine Regelung im Kabinett verabschiedet.Liebe Frau Schauws, ich freue mich auf die Debattenim Ausschuss. Wir werden etwas Besseres schaffen alsSie damals.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und noch einen schönenAbend. Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7243 und 18/7236 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Bevölkerungsstatistiken verbessern – Zivile
Registrierungssysteme stärken
Drucksachen 18/6549, 18/6994
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die Plätze einzunehmen, vor allen Dingen
die Rednerinnen und Redner.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Staatenlose leben im Niemandsland derWeltgemeinschaft. Sie sind körperlich existent, aber siesind nicht Gegenstand der juristischen Anwendung. Siesind Individuen, aber sie werden nicht wahrgenommen.Sie leben, aber sie werden von der Gesellschaft nicht alsvollwertiges Mitglied respektiert und vor allen Dingenakzeptiert. Es ist ein globales Phänomen, keineswegs einPhänomen, das ausschließlich in den Ländern der DrittenWelt bzw. in den Entwicklungsländern auftritt. Auch inWeltstädten haben wir es zunehmend mit dem Phäno-men zu tun, dass Menschen ohne Geburtenregistrierungihr Dasein fristen und in der Gesellschaft schlicht undergreifend nicht wahrgenommen werden. Sie sind imSchatten der Gesellschaft. Sie sind nicht in der Lage, ihreMenschen- und Bürgerrechte zu reklamieren und auf die-se Art und Weise aktiver und gleichberechtigter Teil derGesellschaft zu sein.Mit unserem Antrag „Bevölkerungsstatistiken ver-bessern – Zivile Registrierungssysteme stärken“ fordernwir das verbriefte Recht eines jeden Kindes auf eineRegistrierung direkt nach seiner Geburt. Nach Artikel 7der UN-Kinderrechtskonvention hat ein jedes Kind dasRecht, seine Persönlichkeits-, Grund- und Menschen-rechte auf der Grundlage einer Geburtenregistrierungwahrzunehmen und vor allen Dingen sein individuellstesMerkmal, nämlich seinen Namen, unwiederbringlich zu-erkannt zu bekommen.Paul Lehrieder
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Jedes dritte Kind unter fünf Jahren weltweit ist offi-ziell nicht registriert. Laut einem Bericht des UNHCRkommt alle zehn Minuten ein Baby ohne Geburtenregis-trierung zur Welt. Die Mehrzahl der nicht registriertenKinder kommt aus Südostasien; derzeit sind es 24 Milli-onen. An zweiter Stelle steht die Subsahara-Region, wonahezu 20 Millionen Kinder ohne Geburtsurkunde leben.Weltweit addiert sich die Anzahl der nicht registrier-ten Kinder unter fünf Jahren auf immerhin 230 MillionenMenschen. In den Entwicklungsländern sind immerhin50 Prozent aller unter Fünfjährigen nicht offiziell ge-meldet. Das heißt, alle zehn Sekunden fällt ein Kind,ein Mensch durch das Auffangnetz der Gesellschaft undkann sich deshalb nicht im Rahmen seiner individuellenMöglichkeiten entwickeln und aktiv in seine Gesell-schaft einbringen.Die aktuelle Flüchtlingskrise verschärft diese Prob-lemstellung in hohem Maße. Allein seit 2011 und demBeginn des Syrien-Konfliktes sind mehr als 50 000 Kin-der auf der Flucht geboren worden. Sie sind juristischunsichtbar, aber sie sind natürlich Bestandteil unsererBevölkerung, sie sind Bestandteil unserer Weltgemein-schaft, und sie haben natürlich das elementare Recht, ihreBefähigungen, ihre Talente und auch ihre Wünsche imRahmen ihrer persönlichen Lebensgestaltung umzuset-zen.Seit dem Jahr 2000 gab es im Bereich der Registrie-rung, der sehr stark verwaltungstechnisch geprägt ist, zu-nächst sichtbare Erfolge, die allerdings durch die Zunah-me der Krisen in den Entwicklungsstaaten und durch dendamit einhergehenden Zerfall von Verwaltungsstrukturenzunehmend wieder rückläufig wurden. Gerade ethnischeMinderheiten, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlingeund Asylsuchende sind in besonderem Maße von dieserProblemstellung betroffen.Angesichts der zunehmenden Bevölkerungsdichte er-gibt sich eine Spirale des Chaos und der Rechtlosigkeit.Die Menschen, die keiner offiziellen Zuordnung zugäng-lich sind, ihren Heimatländern vielleicht moralisch undmit ihrem Herzen, aber jedenfalls nicht juristisch verbun-den sind, können in der Staatsplanung, in der Planungder Infrastruktur von Gesundheitssystemen, von Sozial-versicherungssystemen und Bildungssystemen nicht be-rücksichtigt werden. Damit fehlt ihnen letztendlich dieTeilhabemöglichkeit.Keine Geburtsurkunde – kein Name, keine Bürger-rechte, die es zu artikulieren gilt; keine Geburtsurkun-de – kein Schutz vor Ausbeutung; keine Geburtsurkun-de – keine Gesundheitsversorgung und kein Recht aufBildung. Die Betroffenen sind weitestgehend vom politi-schen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlos-sen, und sie sind – ich glaube, das ist der Punkt, der be-sonders beklagenswert ist – in den meisten Fällen Opfervon Menschenrechtsverletzungen. Sie sind Gegenstandvon Kinderhandel, sie sind Gegenstand von Vergewal-tigung und Prostitution, sie werden als Kindersoldatenrekrutiert oder in Minen, Bergwerken und auf Plantagenausgebeutet. Sie sind aufgrund ihres Alters und ihrerHerkunft nicht in der Lage, ihre Schutzbedürftigkeit zudokumentieren.Insofern ist es im Rahmen unserer entwicklungspoli-tischen Aufgabenstellung eines der elementarsten Ziele,die Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit und in Rechtsträger-schaft umzuwandeln, was allerdings nicht nur mit ent-sprechenden Entwicklungshilfemitteln, mit finanziellerHilfe möglich ist; vielmehr müssen die Strukturen in denbetroffenen Ländern aufgebaut und unterhalten werden.Da kommen uns in der Zwischenzeit die digitalen Er-rungenschaften zugute. Mit digitalen Fingerabdrückenund dem Scan der Iris des Auges ist zunächst die Un-verwechselbarkeit des Individuums aufzunehmen, unddie Daten müssen dann in der gehörigen Form mit denPersonalpapieren, mit der Geburtsurkunde und mit demRegister der Staaten abgeglichen und in Verbindung ge-bracht werden.Dies alles ist heutzutage leichter möglich. GeradeUNICEF arbeitet intensiv an entsprechenden Projekten:In Afrika verfügt jeder Fünfte über ein Smartphone; übereine entsprechende App hätten Hebammen und sonsti-ge Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, die von GeburtenKenntnis erlangen, die Möglichkeit, sofort vor Ort einewirksame und vor allen Dingen dauerhaft nachverfolg-bare Registrierung vorzunehmen.Wir alle brauchen diese Erkenntnisse, allein weil wirmit Rücksicht auf die ständig zunehmende Bevölke-rungsdichte in den Bereichen Entwicklungshilfe, Städ-tebau und Versorgung Planungen vornehmen müssen.Aber nur wenn wir belastbare Zahlen haben, sind wir inder Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. EinStaat, der seine Kinder nicht kennt, ist kein Staat. Diedemografische Entwicklung wird uns letztendlich in ir-gendeiner Form überrollen, wenn wir nicht in der Lagesind, Entwicklungen vorherzusehen und zu planen.Natürlich sind auch die Rechte in Drittstaaten zuneh-mend von Bedeutung – das sehen wir im Moment imZusammenhang mit der Flüchtlingsfrage –, sprich: dieRechte in den Staaten, in die sich die Menschen bege-ben, in denen sie Schutz suchen. Letzten Endes wirdsich diese Frage auch auf unseren Lebensbereich aus-wirken und uns vor entsprechende Aufgaben stellen. Wirwerden uns dieser Frage zunehmend intensiver stellenmüssen. Wir müssen unsere Erfahrungen in diesen Pro-zess einbringen und die modernen technischen Möglich-keiten nutzen. Wir müssen in den Heimatländern derMenschen, die sich auf den Weg in eine bessere Weltbegeben haben, Strukturen schaffen, die es diesen Staa-ten ermöglichen, ihre Bürgerinnen und Bürger zu haltenund zu versorgen.Dieser Prozess muss mit modernen Medien vorange-trieben werden. Wir haben die Möglichkeiten dazu. Wirmüssen in dieser Frage international zusammenarbeiten,und wir müssen die Projekte und Konzepte für alle trans-parent und vor allen Dingen anwendbar gestalten. Dasist nicht nur eine finanzielle Aufgabe, sondern auch einelogistische, der wir uns in der nächsten Zeit intensiv wid-men müssen.Deshalb ist die Bevölkerungsstatistik nicht nur einetheoretische Berechnungsgröße, sondern Lebensrealitätfür jeden, der mit seinen Personalpapieren ausgestattetDr. Georg Kippels
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seine Individualität jederzeit gegenüber Dritten und ge-genüber dem Staat geltend machen kann.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Movassat, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Weltweit wird fast jedes dritte Kind unter fünf Jahren
nicht registriert. Jährlich sind das 230 Millionen neuge-
borene Kinder auf der Welt, die keine Geburtsurkunde
erhalten. Was vielleicht harmlos klingt, ist dramatisch für
die Kinder; denn wer keine Geburtsurkunde bekommt,
startet mit großen Nachteilen ins Leben. Die Kinder
kommen meist aus armen Verhältnissen. Sie haben da-
durch sowieso schon Probleme, ein Grundrecht wie Bil-
dung einzufordern. Wenn sie aber keinen Identitätsnach-
weis besitzen, dann haben sie nicht einmal theoretisch
die Chance, irgendwelche Rechte einzuklagen. Außer-
dem werden diese Kinder häufiger Opfer von Menschen-
handel.
Jedes Kind hat ein verbrieftes Recht auf die Regist-
rierung seiner Geburt.
Das schreibt die Koalition in ihrem Antrag. Das unter-
stützt die Linke.
Aber allein damit ist den Kindern nicht geholfen;
denn jedes Kind hat auch das Menschenrecht auf Nah-
rung, auf Gesundheit, auf ein Leben in Würde. Das gilt
übrigens auch für Flüchtlingskinder. Wenn die CSU, die
hier Mitantragsteller ist, von Obergrenzen schwadroniert
und sagt: „Ab 200 000 machen wir zu“, dann verneint sie
de facto die Menschenrechte auch der Flüchtlingskinder,
und das steht dem Gedanken Ihres Antrags entgegen.
Aber schauen wir uns das Problem der Nichtregistrie-
rung genauer an. Häufig ist es Familien aus abgelegenen
Regionen nicht möglich, die weite Reise zu der nächsten
Meldestelle anzutreten. Häufig wissen sie gar nicht um
die Bedeutung einer Geburtsurkunde. In anderen Fällen
entscheiden sie sich bewusst für ein sogenanntes Phan-
tomkind, weil sie aufgrund ethnischer oder religiöser
Zugehörigkeit staatlichen Repressalien ausgesetzt sind.
Zudem wollen oder können einige Staaten keine Da-
seinsvorsorge für ihre Bürger anbieten, sodass eine Re-
gistrierung für die Betroffenen nutzlos erscheint. Meist
scheitert die Registrierung jedoch schlicht und einfach an
den Kosten. Deshalb brauchen wir unbedingt kostenlose
und niedrigschwellige Registrierungsangebote.
So sind moderne Lösungen wie SMS-basierte Syste-
me angesichts der weltweiten Verbreitung von Handys
vielversprechend. Am Wichtigsten sind aber Aufklä-
rungskampagnen, um für das Thema zu sensibilisieren.
Die Registrierung ist auch bedeutsam, um staatliche
Maßnahmen planen zu können. Ohne die Kenntnis der
genauen Anzahl von Neugeborenen ist es eben schwer,
bedarfsdeckend Bildungs- und Gesundheitsangebote zu
planen. Deshalb begrüßen wir es sehr, dass die Vereinten
Nationen die universelle Geburtenregistrierung bis 2030
als Unterziel der SDG, der Entwicklungsziele, aufge-
nommen haben. Geburtenregistrierung muss ein wichti-
ges Thema der Entwicklungspolitik sein.
– Danke schön. – Die Forderung der Koalition nach einem
Forschungsauftrag über die Wirksamkeit von Registrie-
rungssystemen und die Möglichkeiten der Entwicklungs-
zusammenarbeit, hier voranzukommen, unterstützen
wir. Dennoch möchte ich zwei Punkte nennen, wie die
Bundesregierung selbst jederzeit die Lebenssituation be-
nachteiligter Kinder in Entwicklungsländern sehr schnell
verbessern könnte. Erstens. Ändern Sie Ihre Wirtschafts-
politik! Beenden Sie Dumpingexporte und neoliberalen
Freihandel!
Denn das verhindert wirtschaftliche Entwicklung und hat
somit auch Auswirkungen auf die Situation der Kinder
in den Ländern des Südens. Zweitens. Liefern Sie keine
Waffen mehr ins Ausland! Auch das würde den Kindern
helfen.
Ich fand übrigens spannend, was die Sprecherin von
UNICEF, Sylvia Trsek, zu dem Thema sagte:
Die leider immer noch große Zahl an unsichtbaren
Kindern ist ein Indikator für die Ungerechtigkeit,
der die ärmsten Menschen der Welt ausgesetzt sind.
Das bedeutet: Wenn wir gerechter verteilen, holen wir
Menschen aus der Armut. Wer nicht arm ist, lässt in der
Regel auch seine Kinder registrieren. Auch deshalb brau-
chen wir globale soziale Gerechtigkeit und Umverteilung
von oben nach unten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Michaela Engelmeier.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Antrag „Bevölkerungsstatistiken verbessern –Zivile Registrierungssysteme stärken“ hat durchauseinen sehr sperrigen Titel. Wer Böses denkt, könnte mei-Dr. Georg Kippels
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nen, dass die Deutschen auch in der Entwicklungspolitikdas tun, was sie angeblich am besten können: verwaltenund bürokratisieren preußischer als jeder Preuße. Das istaber bei diesem Antrag wirklich nicht der Fall.Es geht um Zukunftsfragen. Damit Kinder eine Zu-kunft haben, damit unsere jüngst im letzten Jahr verab-schiedeten nachhaltigen Entwicklungsziele auch bei derzukünftigen Generation Chancen eröffnen, müssen wiruns mit vielen Dingen befassen. Wir wollen mit unseremAntrag eine Initiative ergreifen, um ein für uns in denIndustrienationen alltägliches Kinderrecht umzusetzen,und zwar den Artikel 7 der Kinderrechtskonvention, inwelchem es um Geburtsregister, Name und Staatsange-hörigkeit geht:Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt inein Register einzutragen und hat das Recht auf ei-nen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staats-angehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich dasRecht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreutzu werden.
Die Vertragsstaaten stellen die Verwirklichung die-ser Rechte im Einklang mit ihrem innerstaatlichenRecht und mit ihren Verpflichtungen aufgrund dereinschlägigen internationalen Übereinkünfte in die-sem Bereich sicher, insbesondere für den Fall, dassdas Kind sonst staatenlos wäre.Dieses Kinderrecht ist nicht nur mir sehr wichtig, son-dern auch wir in der Großen Koalition haben diese Initia-tive gerne gestartet und miteinander den Antrag formu-liert. Denn erst durch eine Registrierung wird in einemmodernen Staat mit seinem Erfordernis einer funktio-nierenden Verwaltung ein Mensch zum Staatsbürger undkann in den vollen Genuss der ihm zustehenden Rechtegelangen.Ich war im vergangenen Jahr natürlich viel unterwegs,zum Beispiel beim Neujahrsempfang der UNICEF, undhabe immer wieder festgestellt, dass viele Leute das The-ma Geburtenregistrierung gar nicht auf dem Schirm hat-ten. Aber wenn man sie darauf angesprochen hat, ist manwirklich auf offene Ohren gestoßen. Das hat uns natür-lich motiviert, Herr Kippels, gemeinsam mit der Unionjetzt eine Initiative zu starten.Mit diesem Bürgerrecht kann ich passiv und aktiv anWahlen teilnehmen. Ich erhalte die Möglichkeit, einenPersonalausweis, einen Reisepass und andere Dokumen-te zu erhalten. Sozialleistungen kann ich beziehen, inlegalen Arbeitsverhältnissen beispielsweise Mindestlohnbeanspruchen und eine Sozialversicherungs- und Steuer-nummer beantragen. Ich kann in die Schule gehen undmir damit einen Ausweg aus der Armut ermöglichen.
Ich kann Grundeigentum erwerben, ein Konto eröffnenoder erben. Es bietet mir auch Schutz vor Verbrechen,vor Kinderarbeit, vor dem Kriegsdienst und vor sexuellerAusbeutung und Frühverheiratung. Es schützt vor Men-schenhandel und illegaler internationaler Adoption. Kos-tenlose Impfungen und andere Gesundheitsdienstleistun-gen kann ich erhalten. Ich finde, es verhindert auch vieleUngerechtigkeiten und Ungleichheit. Auf der Flucht ineinen anderen Staat – angesichts der Flüchtlingsthema-tik ist das im Moment ganz wichtig – erleide ich keineStaatenlosigkeit.
Wir setzen uns für das ein, was für uns in den Indus-triestaaten selbstverständlich ist, und zwar nach der Ge-burt unseres Kindes zum Standesamt zu gehen und eineGeburtsurkunde zu bekommen, auf welcher der Namedes Kindes, seine Herkunft und seine Eltern niederge-schrieben sind. Mit dieser Urkunde ist das Kind Trägervon Grundrechten, die es einklagen kann, und es kann ei-nen Ausweis erhalten; es existiert. Es ist nicht unsichtbar,wie Sie, Herr Kippels, gerade gesagt haben, und es kannauch nicht einfach spurlos verschwinden.Wir alle erinnern uns – ich möchte das an dieser Stel-le deutlich sagen; denn es ist jetzt schon fast zwei Jahreher –, dass 231 Mädchen in Nigeria verschwunden sind;sie wurden von Boko Haram entführt. Ich glaube, nur einBruchteil dieser Mädchen ist wieder aufgetaucht. Vielevon ihnen waren nicht geburtenregistriert. Das heißt, siesind de facto gar nicht da gewesen. Das, meine liebenFreundinnen und Freunde, können wir nicht weiter zu-lassen.
In vielen Entwicklungsländern findet leider keine Re-gistrierung statt; wir haben es gerade gehört. Oft fehlteinem Staat die Möglichkeit zur Registrierung. Oft sindes Bürgerkrieg oder Armut und die Häufung von Natur-katastrophen, die sie verhindern. Es liegt natürlich auchan mangelnder Infrastruktur und am Fehlen eines Katas-terwesens. Es ist kein Geld da, um ganz schlicht und ein-fach ein System aufzubauen. UNICEF beziffert die Zahlder Kinder unter fünf Jahren, deren Geburt nie registriertwurde, auf 230 Millionen. Das können wir doch nichtweiter zulassen.
An dieser Stelle wollen wir ansetzen, damit sich an dieserSachlage etwas ändert.Zur Verbesserung dieser Problemlagen befasst sichunser Antrag mit der Geburtenregistrierung in Entwick-lungsländern, den dabei auftretenden Problemen, und erzeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Er enthält einen Maß-nahmenkatalog, mit dem die Verfahren zur Registrierungseitens der Bundesregierung und des Parlaments unter-stützt und weiterentwickelt werden können.Unser Engagement muss darauf abzielen, sich mitden Problemen zu befassen, die dazu führen, dass kei-ne Registrierung erfolgt. Das liegt natürlich nicht immeran einem reinen Mangel an administrativer Infrastruktur,sondern an vielen unterschiedlichen Gründen. Ich habees gesagt: Die Registrierung kann Geld kosten, das vieleeinfach nicht haben. Man ist nicht erreichbar, weil es nurin den Städten oder im ganzen Land nur eine Meldestellegibt. Es gibt auch ein mangelndes Problembewusstsein,Michaela Engelmeier
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was übrigens auch am Bildungsgrad liegt. Teilweise isteine Registrierung legal nicht möglich, zum Beispieldann, wenn die Mutter und das Kind einer ethnischenMinderheit angehören; auch das ist ein Grund, warumnicht registriert wird. Oder das Kind ist gar unehelich,und dadurch entstehen soziale Stigmatisierung oder Un-terhaltsverpflichtungen.Aus dieser Vielzahl von Gründen für die Nichtregis-trierung von Geburten muss sich eine entsprechendeVielzahl von Lösungsansätzen ergeben. Daher müssenwir, wie es in unserem Antrag formuliert ist, unsere Ini-tiativen erweitern: mit Aufklärung und Bildung, mit flä-chendeckenden Registrierungsstellen, mit Unterstützungder Reformen nationaler Gesetze, mit nationalen Partner-schaften oder einfach nur mit Unterstützung eines Tele-kommunikationsanbieters, also ganz niederschwellig.Denken Sie nur an SMS-Dienste oder Handys in Afrika.Kenia beispielsweise hat 42 Millionen Einwohner; davonhaben 38 Millionen ein Handy. Die Menschen dort ha-ben zwar nicht solche Handys, wie wir sie haben, alsoSmartphones, mit denen man sich im Internet bewegenkann, aber SMS-fähig sind sie alle. Das ist vielleicht eineMöglichkeit, um niederschwellig zu beginnen.Es gibt Projekte, die wir jetzt schon unterstützen. Dasmüssen wir fortsetzen, und ich bitte Sie um Unterstüt-zung für unseren Antrag.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als letzter Redner hat Uwe Kekeritz
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen undKollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner habenschon sehr ausführlich klargemacht, worum es bei die-sem Antrag geht. Sie beschreiben ja auch sehr deutlich,welche Vorteile Kinder haben, wenn sie registriert sind,und was die negativen Konsequenzen sind, wenn dieKinder nicht registriert sind.Ich denke, der Antrag ist von seiner Anlage her in Ord-nung, aber ich möchte Ihnen auch sagen: Einen wirkli-chen Erkenntnisgewinn haben wir dabei nicht. Das The-ma wurde sowohl vom BMZ als auch von der GIZ schonlängst aufgegriffen
– immer wieder mal aufgegriffen. Auf der UN-Ebene istdas breit diskutiert worden, die UNICEF hat sich damitbeschäftigt, die UN-Kinderrechtskommission hat dasaufgegriffen, und auch in den SDGs ist das verankert.Ich frage mich natürlich schon, ob wir uns zu einemZeitpunkt wie dem heutigen Tag nicht lieber etwas überdie SDGs hätten unterhalten sollen. Ich stelle aber fest:Die SDGs werden in der nächsten Sitzungswoche be-sprochen – allerdings erst um 23.30 Uhr. Ich frage michnatürlich schon, welche Motivation die Koalition hat,die Diskussion über einen so wichtigen Punkt auf einenZeitpunkt zu schieben, an dem niemand mehr zuhört undauch niemand mehr bereit ist, zu reden.
Das wollte ich schon einmal anmerken. Heute diskutie-ren wir also über ein Thema, bei dem wir wirklich keinengroßartigen Erkenntnisgewinn erzielen.Frau Engelmeier, Sie haben wirklich schön davongesprochen, dass Sie endlich Initiativen starten möch-ten und hier ganz massiv in die Puschen kommen wol-len. Wenn man den Antrag durchliest, dann muss manallerdings ganz ernsthaft feststellen, dass Sie gar keineForderungen stellen. Sie richten stattdessen Bitten an dieBundesregierung und sagen: Passt einmal auf: Ich habehier gute Vorschläge, und wenn ihr genügend Geld habt,dann setzt das bitte um.
– Das ist so.Ich frage mich natürlich schon, welche Bedeutungdieses Thema hat. Wenn dieses Thema wirklich die Be-deutung hat, die Sie hier vermitteln möchten, dann habenSie bitte schön auch die Verpflichtung, der Bundesregie-rung zu sagen: Stellt dafür die Mittel zur Verfügung, undmacht das. – Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt.
In Ihrem Forderungskatalog kommen viele Punktevor, die tatsächlich extrem viel Geld kosten, und da frageich mich natürlich schon, was die Koalition in der Ver-gangenheit gemacht hat, um diese Mittel zur Verfügungzu stellen.Sascha Raabe schaut mich jetzt an und freut sich,dass endlich sein Thema „0,7-Prozent-Ziel“ wieder zurSprache kommt. Es ist völlig richtig: Wir versprechender Weltöffentlichkeit seit 45 Jahren, dass wir den An-teil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt auf0,7 Prozent steigern werden. Dann hätten wir auch mehrGeld, um mitzuhelfen, so extrem teure Sachen wie zumBeispiel die Registrierungssysteme in den betroffenenLändern umzusetzen. Das geschieht aber eben nicht.
An einem weiteren Punkt hat die Koalition, wie ichglaube, massiv versagt – das ist mein zweites Beispielfür ein solches Versagen –, genügend Finanzmittel be-reitzustellen: Wir waren im Juli in Addis Abeba bei derUN-Finanzierungskonferenz. Dort wurde ein Thema vonallen Ländern ganz intensiv besprochen, weil es bei die-sem Punkt für alle Staaten um sehr viel Geld gegangenist. Man wollte nämlich auf UN-Ebene eine Steuerkom-mission einführen, und es war ausgerechnet die Bundes-republik Deutschland, die gemeinsam mit England undden USA ganz massiv verhindert hat, dass auf UN-Ebeneeine solche Steuerkommission installiert wird.Wir wissen, dass durch illegitime und illegale Steuer-vermeidung und Steuerhinterziehung jedes Jahr Hunder-te von Milliarden Euro an Steuern hinterzogen werden,Michaela Engelmeier
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und das trifft nicht nur die Entwicklungsländer, sonderninzwischen auch ganz massiv die Industrieländer. Des-wegen wäre es auch aus unserem Eigeninteresse herauseinfach notwendig, ein faires und gerechtes Steuersystemglobal zu verwirklichen.
Sie können noch so viele gutgemeinte Anträge ein-reichen und verabschieden, das nutzt aber nichts, wennSie an anderer Stelle mit Ihrem Handeln eine weltweitnachhaltige Entwicklung konterkarieren. Die Forderungnach Kohärenz sollte sich auch in Ihren Anträgen wider-spiegeln, aber da haben Sie leider versagt.Danke schön.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Da-
mit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel
„Bevölkerungsstatistiken verbessern – Zivile Registrie-
rungssysteme stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6994, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 18/6549 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Wer enthält sich? – Damit erleben wir etwas, was
selten vorkommt, dass nämlich alle Fraktionen zustim-
men.
Damit ist natürlich auch die Beschlussempfehlung ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Eva Bulling-
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam ver-
antworten – Kooperationsverbot in der Bil-
dung endlich aufheben
Drucksache 18/6875
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen, und ich eröffne die Aussprache.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze ein-
genommen haben, können wir die Debatte dann auch tat-
sächlich beginnen.
Als erste Rednerin in der Debatte hat Frau Dr. Hein
von der Fraktion Die Linke das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen, ich hätte auch nichts dagegen gehabt,wenn die anderen geblieben wären. – Wir haben es Ihnenvor Weihnachten versprochen, und wir halten Wort. Wirbieten Ihnen erneut einen Anlass, um über die notwen-dige Verbesserung der Zusammenarbeit von Bund undLändern in Bildungsfragen im Ausschuss und hier imPlenum zu diskutieren.Ich weiß, dass viele von Ihnen darauf brennen, endlichdiesen unbefriedigenden Zustand zu beenden, dass derBund immer wieder mal über Bildung reden, aber wenigverändern kann. Insbesondere in der schulischen Bildungist der Druck inzwischen sehr groß, und alle Welt erwar-tet von uns, dass wir endlich etwas tun.Derzeit sind aber auch die Chancen groß, endlich dasVerbot der Zusammenarbeit in der Bildung aufzuheben.Wir – Bund, Länder und Kommunen – haben eine ge-meinsame Verantwortung, die Substanz des Bildungs-systems zu erhalten und es auf den neuesten Stand zubringen. Sonst bleibt nämlich von der viel gepriesenenBildungsrepublik bald nichts mehr übrig.
Es wird uns dann auch nicht mehr helfen, dass wir unsimmer in Zahlen sonnen. Die Koalition macht das ja sogerne, heute früh auch wieder;
denn die aufgewendeten Mittel reichen ja nicht, um diegrundlegenden Probleme zu lösen. Ich weiß schon, dassSie das wieder machen werden, aber es wird nicht helfen.Wir haben das alles schon oft debattiert, und eigentlichkönnte man es leid sein. Darum möchte ich heute versu-chen, das mit einem Beispiel zu erläutern, das vielleichtein bisschen ungewöhnlich ist. Vielleicht macht es aberdeutlich, was wir wollen und was wir nicht wollen.Stellen Sie sich vor, Sie sind Verwalter eines Hausesmit 16 Eigentumswohnungen, und Sie dürfen immernur für die Malerarbeiten im Treppenhaus sorgen. In dieWohnungen dürfen Sie nicht hinein.
– Nein, da gab es keine Eigentumswohnungen – jeden-falls nicht so viele. – Nun begibt es sich aber – es handeltsich um ein altes und ehrwürdiges Haus –,
dass es vom Keller aus feucht wird. Und im Souterrain,wo die Stadtstaaten wohnen, sind schon nasse Flecken anden Wänden zu sehen. Die kann man noch einmal über-Uwe Kekeritz
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streichen, aber die Nässe kommt immer wieder durch.Eine grundlegende Sanierung kann aber nicht stattfinden;denn die Eigentümer des Lofts – also die aus Bayern –merken von der Feuchtigkeit noch nichts. Die werdenerst munter, wenn es durchs Dach regnet. Und die Hessenmerken es erst, wenn es durch die Fenster zieht.Dabei wäre es ganz einfach: Man könnte die Substanzdes Hauses gemeinsam erhalten, es auch noch energe-tisch sanieren und barrierefrei machen.
Das würde allen nutzen. Der Aufzug ginge dann auch bisnach oben zu den Bayern. Dann blieben immer noch dieEigentumswohnungen. Man könnte dann aber Durchbrü-che zwischen den Zimmern schaffen, Parkett oder Tep-pichboden legen. Man kann die Möbel selber wählen undso fort. Nur die tragenden Wände darf man nicht einrei-ßen. Dann wäre es immer noch ein föderalistisches Haus,aber eines mit einer soliden Substanz.
Genau das wollen wir.
Die Aufzählung der Hausaufgaben in unserem Antrag,die sehr umfangreich ist, macht nur deutlich, wie großdie Aufgabe ist, die vor uns liegt. Wir sollten da rum end-lich den Mut beweisen und selbst etwas vorlegen, wasdie Länder nicht ablehnen können. Dies könnte mandann durch eine Bildungsrahmenvereinbarung oder einBildungsrahmengesetz, wie Sie es lieber nennen würden,Herr Rabanus, sichern,
in dem Rechtsansprüche wie Qualitätsstandards festge-schrieben werden; eben ein Rahmen, der Vielfalt ermög-licht und Vergleichbarkeit und Anerkennung sichert. Daswäre doch für alle etwas. Deshalb schlagen wir Ihnenheute vor, das Thema wieder auf die Tagesordnung zunehmen und die komplette Aufhebung des Kooperations-verbotes in der Bildung in Angriff zu nehmen. Ich glau-be, die Länder wären gut beraten, dem zu folgen.GEW und VBE, die Gewerkschaft Erziehung undWissenschaft und der Verband Bildung und Erziehung,haben das kurz vor Weihnachten in ihren Pressemittei-lungen erklärt. Ich glaube, ihnen kann man glauben,weil sie von Bildung etwas verstehen. Sie wollen dieseAufhebung. Udo Beckmann, Vorsitzender des VerbandesBildung und Erziehung, hat in seiner Presseerklärungvorgeschlagen, das Jahr 2016 zum Jahr der Bildungsge-rechtigkeit zu machen. Na, das wäre doch mal was.
Dem könnten wir gut folgen.Politik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wirdam Ende nicht danach beurteilt, wie gut die Zahlen sind,die man nennen kann, sondern sie wird danach beurteilt,welche Probleme gelöst werden können; da brauchen wireinen langen Atem. Das müssen wir jetzt angehen unddürfen nicht mehr warten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Tankred Schipanski.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Frau Hein, Und täglich grüßt das Murmeltier –das fällt mir zu Ihrem Antrag ein. Wir debattieren wiedereinmal die Abschaffung eines angeblichen Kooperations-verbotes in der Bildung, das angeblich im Grundgesetzverankert ist.
Bereits begrifflich ist das in dieser Debatte eine Irre-führung. Es gibt kein „Kooperationsverbot“,
sondern eine föderale Kooperationskultur.
Bund, Länder und Gemeinden, also Kommunen, enga-gieren sich seit Jahrzehnten gemeinsam im Bildungsbe-reich unserer Bundesrepublik. In unserem Grundgesetzist von einem „kooperativen Bildungsföderalismus“ miteiner klaren Aufgabenzuteilung und somit klaren Zustän-digkeiten die Rede.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher haben wir,so glaubte ich, auf Bundesebene einen gesellschaftli-chen Konsens und ein gemeinsames Ziel, nämlich mehrEinheitlichkeit, mehr Vergleichbarkeit und mehr Trans-parenz im deutschen Schulsystem. Wir wollen inner-deutsche Mobilität ermöglichen. Wir wollen Mindest-standards. Wir wollen einen Grundkanon an Wissen. Wirwollen Verbindlichkeit bei den Bildungsvereinbarungender Bundesländer untereinander.Das war bisher in dieser Debatte unter dem Stichwort„Aufhebung eines angeblichen Kooperationsverbotes“das eigentliche Anliegen.
Dabei haben wir festgestellt, dass die Arbeit der Kultus-ministerkonferenz stark verbesserungswürdig ist. Daherwerben wir für einen Staatsvertrag der Bundesländer indiesem Bereich, ähnlich wie wir das bereits beim Rund-funk kennen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute bekommtunsere langjährige Debatte einen ganz neuen Zungen-Dr. Rosemarie Hein
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schlag. Der Linken geht es nicht um Vergleichbarkeit undmehr Vereinheitlichung im deutschen Schulsystem. Siewill einfach nur Geld: Geld für Schulen und für Kinder-gärten, für Sozialarbeit und interkulturelle Bildung, Geldfür Inklusion,
einfach nur Geld im Verantwortungsbereich der Bundes-länder. Diese sollen das nach Gutdünken ausgeben kön-nen. Der Bund soll die Gießkanne füllen, und die Länderschütten aus. Nicht mit uns!
Heute lässt die Linke ihre Maske fallen.
Es geht ihr nicht um Inhalte. Es geht ihr nicht um dieStärkung unserer schulischen Bildung. Nein, es geht ihrnur um Geld für die Bundesländer. Dann sollte die Linkeeinen Antrag stellen, die Bund-Länder-Finanzbeziehun-gen neu zu ordnen, aber keinen Antrag auf Verfassungs-änderung mit dem Ziel, dass die Bundesländer noch mehrGeld vom Bund erhalten.
Für meine Fraktion stelle ich fest, dass eine Verfassungs-änderung das falsche Instrument ist, um das Ziel der Lin-ken zu erreichen.
Inhaltlich ist der hier gestellte Antrag völlig falsch. Eswird behauptet, der Bund engagiere sich nicht im Bereichder Bildung. Meine Damen und Herren, das Gegenteil istder Fall. Sie behaupten, der Bund leistet keine Unterstüt-zung bei der Kinderbetreuung: eine glatte Lüge. Alleinfür den Ausbau der U3-Kinderbetreuung gibt der BundMilliarden, und zwar zwischen 2008 und 2013 4 Milli-arden Euro und zwischen 2013 und 2017 8,5 MilliardenEuro im Bereich der frühkindlichen Bildung. Das sinddie Fakten.Sie sprechen in Ihrem Antrag von sozialer Spaltungim Bildungswesen, wenn der Bund kein Geld gibt. Icherinnere Sie höflich an das Bildungs- und Teilhabepaket,das wir 2010 in diesem Hohen Hause beschlossen haben.Mittagessenzuschuss, Lernförderung, Finanzierung vonSportvereinen und persönlichem Schulbedarf, Geld fürSchulausflüge:
Das alles gibt es für bedürftige Kinder. Dafür stellen wirwiederum Milliarden des Bundes im Bereich Bildung zurVerfügung.Es geht weiter. Sie beklagen in Ihrem Antrag mangeln-des Engagement des Bundes bei Bildungsprogrammenfür Flüchtlingskinder: wieder eine Unrichtigkeit in IhremAntrag. Ich erinnere an die Programme des BMBF: „Le-sestart für Flüchtlingskinder“, „Kultur macht stark“ unddas Programm der Bildungskoordinatoren. Für all dasfließen Millionenbeträge in den Bildungsbereich.
Sie sehen: Wir brauchen keine Verfassungsänderung,um den Ländern und Kommunen Bundesgeld zur Verfü-gung zu stellen. Das von Ihnen vorgeschlagene Instru-ment ist untauglich, um dieses Ziel zu erreichen.
Herr Schipanski, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, wir machen das schön fertig, und dann freue ich
mich über die Kurzintervention meiner Kollegin Hein.
Wir geben als Bund seit vielen Jahren Milliardenbe-
träge in den Bildungsbereich. Was wir brauchen, sind
eine Vereinheitlichung und eine bessere Vergleichbarkeit
im deutschen Schulsystem. Das erreichen wir über einen
gemeinsamen Staatsvertrag der Bundesländer. Für die-
sen werbe ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich.
Dem Bund steht dabei verfassungsrechtlich eine koordi-
nierende Rolle zu. Das ist ein pragmatischer Lösungs-
weg, dem sich die Bundesländer nicht länger verweigern
sollten. Diesen Lösungsweg sollten wir gemeinsam ver-
folgen. Daher lehnen wir den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Herr Özcan
Mutlu das Wort.
– Eine Kurzintervention muss man anmelden, sorry.
– Nein, das ist etwas anderes als eine Zwischenfrage.
Wenn Sie das wollen, erhalten Sie dafür das Wort. Aber
es muss angemeldet werden.
Vielen Dank, dass Sie sie noch zulassen. – HerrSchipanski, ich kann mich noch gut erinnern, dass Sieuns immer mit wehenden Fahnen vorgeworfen haben,wir wollten den alten Einheitsbrei wiederhaben. Heu-te werfen Sie uns vor, dass wir genau das nicht wollen,sondern dass wir Vielfalt wollen. Sie müssen sich schonentscheiden, was Sie uns vorwerfen wollen.Ich habe in meiner Rede ausdrücklich gesagt, dass esuns um Vielfalt und darum geht, den Föderalismus zuerhalten. Ich weiß nicht, ob Sie – Entschuldigung – dieOhren nicht frei hatten oder sich mit anderen Dingen be-schäftigt haben, aber es war nicht so. Ich glaube, dassSie mit jedem Ihrer Sätze und jedem Beispiel, das Siegebracht haben, unsere Forderungen eigentlich bestätigthaben.
Tankred Schipanski
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Herr Schipanski.
Ich habe Ihrer Rede zugehört. Wir sind aber heute
nicht im Bauausschuss – Sie haben von Häusern gespro-
chen und was noch alles –,
sondern es geht um den Bildungsbereich
Ich habe Ihnen klar gesagt: Bisher haben wir immer
dafür geworben, dass wir mehr Vergleichbarkeit, mehr
Einheitlichkeit und mehr Transparenz in unserem Schul-
system haben wollen. Unter diesem Punkt haben wir
das auch immer diskutiert. Wir haben immer für den
Staatsvertrag geworben, den ich Ihnen heute noch einmal
dargeboten habe. Sie kommen mit dem von Ihnen vor-
geschlagenen Instrument einer Verfassungsänderung in
diesem Punkt nicht weiter. Daher haben wir Ihnen heute
unseren pragmatischen Weg aufgezeigt.
– Nein, wir sind keine Blockadepartei.
Von daher kann ich Ihrer Argumentation nicht folgen. Ich
freue mich, wenn Sie uns bei den Zielen, die ich aufge-
zeigt habe, unterstützen wollen.
In Ihrem Antrag geht es nur darum, Geld vom Bund
zu den Bundesländern zu transferieren. Das wollen wir
weder mit einer Verfassungsänderung noch auf andere
Art und Weise.
Jetzt spricht als nächster Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Özcan Mutlu.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeFreundinnen und Freunde! Fangen wir einmal so an:Nach der Märchenstunde von Herrn Schipanski kommenwir zur Sachlichkeit zurück. Ich empfehle Ihnen, HerrKollege: Lesen Sie das Grundgesetz! Dann wissen Sie,wovon die Kollegin Hein redet.
In keinem Land der Welt gibt es ein in der Verfassungfestgeschriebenes Verbot, dass Bund und Länder oderregionale Provinzen in der Bildungspolitik zusammen-arbeiten. Wir sind das einzige Land, das das gesetzlichverbietet. Ich frage mich immer wieder: Was kann da-ran falsch sein, wenn die verschiedenen Ebenen einesStaates – in diesem Fall Bund und Länder – zusammen-arbeiten, im Interesse der Schülerinnen und Schüler, imInteresse der Schulen und im Interesse unseres Landes?Sie haben das anscheinend nicht kapiert. Die grandioseFehlentscheidung, die 2006 von der GroKo im Grundge-setz verankert wurde – mittlerweile wurde das Koopera-tionsverbot im Hochschulbereich gelockert –, gehört inGänze revidiert, und zwar so schnell wie möglich.
Zahlreiche Studien beweisen, dass fehlende Bil-dungsgerechtigkeit eines der größten Probleme unseresBildungssystems ist. Ausgerechnet hier hält die GroßeKoalition am Kooperationsverbot fest und manifestiertaus meiner Sicht die Kleinstaaterei, die eigentlich längstüberholt sein sollte.
In Anbetracht der immer größer werdenden Herausfor-derungen, vor denen unsere Schulen und andere Bil-dungseinrichtungen stehen – Inklusion, digitale Bildung,Sprachförderung und mehr Ganztagsschulen –, muss sichder Bund in der Tat aktiver beteiligen. Aber er kann dasnicht, weil Sie am Kooperationsverbot festhalten. Ichsage Ihnen: Die Herausforderungen und die Problemewerden sogar zunehmen aufgrund der Tatsache, dass seitletztem Jahr viele Menschen im schul- und ausbildungs-fähigen Alter in unser Land kommen. Diese müssenim Schulsystem integriert werden. Kollege Schipanski,wir wissen, dass einige Koordinierungsstellen, die dasBMBF geschaffen hat, oder eine Deutsch-App einfachnicht ausreichen.
Wir wissen, dass viele Städte und Gemeinden völligüberfordert sind und längst an ihre finanziellen Grenzengestoßen sind. Ich bin dann sprachlos – und das kommtselten vor –, wenn Frau Ministerin Wanka – sie ist heu-te nicht anwesend – ganz unverblümt in der Presse sagt:„Die Länder haben die Aufgabe, Willkommensklasseneinzurichten, da ist der Bund in keiner Weise tangiert.“Toll! Das ist eine richtig gute Erklärung eines Problems,das eigentlich gemeinschaftlich gelöst werden sollte.
Frau Wanka sollte sich stattdessen für eine flächende-ckende Bildungsoffensive starkmachen und vielleichtbeim Kollegen Schäuble, der jetzt 12 Milliarden Euromehr im Säckle hat, ein bisschen mehr für Bildung undBildungsinvestitionen einfordern. Das wäre nötig.
Der deutsche Bildungsföderalismus hat eine zerklüf-tete und ineffektive Schullandschaft mit 16 unterschied-lichen Schulsystemen, Lehrplänen und Versetzungsord-
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nungen geschaffen. Ich finde, dass dieser Zustand im21. Jahrhundert, im Jahre 2016, nicht mehr hinnehmbarist.
Deshalb haben wir Grüne in unseren zwei Anträgen indieser Legislaturperiode – genauso wie mehrfach in dervergangenen Legislaturperiode – gefordert, konsequen-terweise das Kooperationsverbot in Gänze abzuschaffenund durch Kooperation zu ersetzen. Es geht in der Tat umgemeinsame Bildungsstandards und gemeinsame Zie-le in der Bildung. Aber das wollen Sie nicht. Sie haltenweiterhin am Kooperationsverbot fest.Kooperation heißt aber nicht unbedingt und aus-schließlich, dass die Bundesländer Kompetenzen abge-ben müssen. Da gibt es sicherlich kreative Möglichkei-ten, die Zusammenarbeit zu stärken. Ich erinnere an dasletzte Mal, als der Bund tatsächlich Geld für die Bildungin die Hand nehmen durfte. Damals flossen unter Rot-Grün 4 Milliarden Euro für 10 000 neue Ganztagsschu-len. An diese Erfolgsstory sollten wir anknüpfen; dazurate ich Ihnen. Ich schaue hier insbesondere in die Reihender SPD. Es reicht nicht aus – ich bin noch nicht fertig –,liebe Kollegen von der SPD, –
Aber, Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kom-
men.
– in sämtlichen bildungspolitischen Papieren die Ab-
schaffung des Kooperationsverbotes festzuschreiben und
zu versprechen, aber hier keinerlei Aktivitäten diesbe-
züglich zu unternehmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ernst Dieter Rossmann spricht jetzt für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Schipanski erwähnte schon das Murmeltier hier imBundestag. Ich lasse es im Winterschlaf.Ich möchte vier agitatorische Gedanken vortragen:Erstens. Niemand soll daran zweifeln, dass die SPDim Bundestag, wenn es zusammen mit einem Koalitions-partner eine Mehrheit gibt, um das Kooperationsverbotaufzuheben, voll dabei ist.
Aber wir möchten gern die Verhältnisse so zum Tan-zen bringen, Herr Schipanski, dass Sie beklagen, dassder Bund von den Ländern aufgefordert wird, ihnen Geldblanko zu geben. Wir kommen jetzt in eine Situation, inder sich die Länderministerpräsidenten im Rahmen derEinigung über die Länderfinanzen 10 Milliarden Eurozusätzlich auf Kosten des Bundes bewilligen wollen. Istdas nicht eine Chance, zu sagen: „Cash gegen Präzisi-on“?
Cash gegen Mitwirkung des Bundes; denn wir wollendas Geld nicht blanko geben, weil wir wissen, dass dieLänder vor großen Aufgaben im Bereich der Bildung ste-hen. Sie tragen fast 60 Prozent der Kosten.
Aber wir als Bund möchten dazu beitragen, dass esHarmonie gibt und diese Gelder eine präzise Wirkungin Richtung auf den Ausbau der Bildung entfalten. Die-sen Gedanken möchten wir ihnen gerne präsentieren.Wir müssen jetzt die Ministerpräsidenten Ramelow undKretschmann, unsere Ministerpräsidenten und Ihre da-von überzeugen.
Zweitens. Wenn wir in das Grundgesetz schauen, dannsehen wir, dass der Bund und die Länder auch bei derBildung zusammenwirken können. Es gibt aber auchdie legendäre Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur“ oder die Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-tenschutzes“. Das ist wichtig.Jetzt wäre eine Gemeinschaftsaufgabe „Demografieund Integration“ wichtig. Das wäre eine echte, zukunfts-gerichtete Gemeinschaftsaufgabe. Bei der wäre natürlichauch der Bildungsanteil hochgradig enthalten. Auch da-rüber sollten wir zusammen nachdenken.
Wenn wir schon nicht den ganzen Himmel bekommen,dann wenigstens einen konkreten Himmel. Die Bedeu-tung der Bildung wird anwachsen; deshalb müssen wirunsere diesbezügliche Aufgabe erfüllen.Drittens. Wenn dies nicht geht, dann sind wir zusam-men aufgefordert, spätestens im März oder April im Bun-destag nicht nur ein weiteres Asylpaket zu schnüren, son-dern ein Asyl- und Integrationspaket vorzulegen.
Es ist doch die gemeinschaftliche Aufgabe, die wirhaben, Bund, Länder und Kommunen konkret dazu zubringen, dass sie die große Bildungsaufgabe bewältigen,die Chancen, die darin liegen, nutzen, aber auch die Ge-Özcan Mutlu
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fahren, die es gibt, erkennen. Alle drei Ebenen müssenunterstützt werden, damit es eine effektive Bildungsinte-gration gibt. Die Felder könnten wir hier alle benennen.Wir können nur dafür werben, dieses Signal in die Ge-sellschaft zu senden: Begrenzung und Integration. Dafürbrauchen wir ein Integrationspaket.
Viertens. Wenn auch das nicht reicht, werden wiruns konkret überlegen müssen, ob wir die Initiative derCDU-Bildungspolitiker aufgreifen, die zum Beispiel fürden Sprachenbereich statt 3,10 Euro 4,40 Euro fordern.Das bedeutet Ausgaben von 200 Millionen Euro zusätz-lich, wenn wir eine gute Sprachförderung wollen.Andere Politiker sehen die Kindertagesstätten als Ein-gangstor für die Integration der Kinder. Diesen Bereichmüssen wir verbessern, damit Familien nicht aufgrundfalscher Wertvorstellungen glauben, es seien die Frauen,die im Haus bleiben müssten und nicht lernen dürften,weil die Männer Kinder nicht betreuen könnten.Wir müssen auch über die duale Ausbildung nach-denken. Heute Morgen haben wir darüber gesprochen.Lehrherren und Lehrfrauen bereiten sich jetzt auf denBeginn der Ausbildung im August vor. Die müssen dieSicherheit haben, dass die Ausbildungsverhältnisse, diesie anbieten, nicht durch ausländerrechtliche Vorschrif-ten gefährdet werden. Sie sollten sicher sein, dass es fürdie Auszubildenden, die ihren Abschluss machen, späterauch eine Bleibeperspektive gibt.
Haben wir diese Gesetzesänderung schon vollzogen?Nein. Das ist eine Gesetzesänderung, die wir brauchen,so wie wir andere Gesetzesänderungen brauchen.
Wir brauchen auch deshalb zusätzliches Geld, weil wiralle wissen, dass jetzt junge Menschen kommen, die ausder Unsicherheit herauswollen. Sie wollen Geld verdie-nen. Oft wissen sie nicht, wie tragfähig die duale beruf-liche Ausbildung ist. Viele gutwillige Handwerksmeisterund andere sagen: Es ist schwierig für uns, diese jungenLeute auszubilden. – Wir brauchen daher Aufbauklassenin den berufsbildenden Schulen, wir werden aber auchganz viel überbetriebliche, außerbetriebliche Ausbildungim beruflichen Bereich für diese jungen Leute brauchen.Auch dafür brauchen wir Geld. Also, das Plädoyer gehtin diese Richtung.Wir werden noch einen langen Kampf in SachenGrundgesetz und Kooperationsverbot führen müssen,aber vielleicht bewegen sich bei diesen schwierigenDingen, nämlich den Ländern 10 Milliarden Euro cashfür Bildung und anderes zu geben, auch noch mancheGeister. Wir haben die Möglichkeit, eine neue Gemein-schaftsaufgabe zu etablieren, wir haben die Möglichkeiteines Paktes. Hauptsache ist, dass wir etwas tun, undzwar gemeinschaftlich, um die Probleme zu lösen, diejetzt anstehen. Dann kann das Murmeltier auch noch ei-nen Monat länger schlafen.Danke.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Xaver Jung
für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Der Witz bei dem Murmeltier ist ja, dass es ebennicht schläft und dass das Ganze jeden Morgen von neu-em losgeht.
Von Ihrer Rede, Herr Rossmann, ist bei mir hängengeblieben „Cash gegen Präzision“. Da fällt mir das Bei-spiel mit den BAföG-Milliarden ein.
Was ist bei den BAföG-Milliarden eigentlich genau pas-siert? Wir haben den Ländern Geld gegeben und auf Prä-zision gehofft, und bis heute warten wir auf die Rückmel-dung von so manchem Land dazu, was mit diesem Geldeigentlich passiert ist.
Genau das ist der Grund, warum wir gegen die Auf-hebung des Kooperationsverbotes sind. Wir sehen, dassdie BAföG-Sätze über Jahre nicht erhöht worden sind.Woran lag das? Der Bund hat die Schuld auf die Län-der geschoben, und die Länder haben die Schuld auf denBund geschoben. Herausgekommen ist: Es gab keineErhöhung. Jetzt haben wir klare Verhältnisse: Der Bundist zu 100 Prozent zuständig. Die Studenten bekommenmehr Geld, und jeder weiß, wer dafür verantwortlich ist,nämlich die Bundesregierung.
Das ist ein Beleg dafür, dass es gut ist, wenn Zustän-digkeiten und Verantwortlichkeiten klar zugeteilt sind.Ich kann mir schon vorstellen, wie es in Zukunft seinwird, wenn wieder beide Seiten zuständig sind: Manblockiert sich. Die einen wollen bezahlen. Die anderenDr. Ernst Dieter Rossmann
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sagen: Das ist uns zu wenig; da machen wir besser garnichts. – Das haben wir alles schon gehabt, Frau Hein.
Ich wollte noch auf Ihren Antrag eingehen, in dem Siedie Situation in Deutschland beschreiben. Ich muss sa-gen: Sie haben sich bisher immer auf die OECD berufen,nur in diesem Antrag nicht. Das ist auch kein Wunder;denn seit November 2015 wissen wir, dass es dem deut-schen Bildungssystem wesentlich besser geht, als es dieganze Zeit von Ihnen behauptet wurde.
Da denke ich wieder an das Murmeltier: Immer wieder be-haupten Sie, unsere Bildung sei schlecht, Deutschland hin-ke hinterher. Das ist nicht so; die OECD hat es bestätigt.
Wir haben festgestellt: Schulpolitik gehört zu den urei-genen Kompetenzen der Länder, und die Länder wollendiese Kompetenz auch gar nicht abgeben. Das ist Fakteins. Fakt zwei ist: Die Zusammenarbeit zwischen Bundund Ländern hat bisher sehr gut funktioniert. Sie hat so-gar noch nie so gut funktioniert wie zurzeit. Ich verweiseauf den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative, den Paktfür Forschung und Innovation, die QualitätsoffensiveLehrerbildung. Wir helfen gerne zeitweise bei norma-ler Bildungsarbeit, Schulsozialarbeit, Erwachsenenbil-dung, Alphabetisierung und jetzt auch, Herr Mutlu, imFlüchtlingsbereich – und das ist auch gut so. Frau Hein,wir bauen also Dächer. Wir renovieren das Parkett undmachen auch andere Dinge, und wir werden das auch inZukunft tun können.Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, habenwir, der Bund, mit unserer Bildungspolitik sehr viel zumPositiven hin verändert.
Der Bund hat sein Soll in vielen Bereichen sogar über-erfüllt.
– Frau Hein, mit Ihrem Antrag gaukeln Sie den Leutendraußen doch vor, Sie wollten Inhalte ändern. Das pas-siert doch nicht. Herr Schipanski hat doch recht gehabt:Es geht Ihnen nur um Geld. Der reiche Onkel Schäublehat jetzt Geld, und bei dem wollen Sie abgrasen. Sie wol-len aber nicht, dass wir darauf achten, was mit diesemGeld passieren wird.
Es ist ganz richtig – es wurde schon gesagt –: Bundund Länder verhandeln demnächst wieder an andererStelle darüber, wie man den Ländern genügend Mittelzur Verfügung stellt. Wenn man gut verhandelt, dannwerden die Länder auch weiterhin die Verantwortungfür ihre Mittel haben. Wenn deren Mittel nicht reichen,dann können wir das kritisieren, und wenn sie eine guteFinanzpolitik machen, dann können sie stolz darauf sein.
Ich hoffe, dass viel von dem Geld, das die Länderdann bekommen werden, in Bildung fließt und dass nichtwieder an anderer Stelle gekürzt wird.
Kurz: Geld allein sorgt noch nicht für eine bessere Bil-dung. Die Punkte, die auch uns schon immer wichtigwaren, sind schon mehrmals genannt worden: Vergleich-barkeit, Leistung, Erleichterung des Wechsels in ein an-deres Bundesland. All das sind Dinge, über die wir gernereden. Der richtige Weg dazu ist ein Staatsvertrag. Daswäre ein erster Schritt. Gucken wir doch einmal, ob wirda zusammenkommen! Wenn das gelingt, haben wir et-was erreicht, und vielleicht kann man darauf dann nochaufbauen.
Es ist niemand dagegen, Herr Rossmann, dass wir sa-gen: Wir wollen in der Flüchtlingsproblematik weiterhinzusammenarbeiten, wieder ein Projekt auflegen. Das istkeine Sache des Grundgesetzes. Das können wir unterei-nander so vereinbaren, und wir werden in dieser Sacheviel tun.Aber eines werden wir nicht tun: Wir werden nicht dasGrundgesetz ändern, um linken Ideologien nachzugehen,sondern wir wollen auch weiterhin zielgerichtet undtreffsicher unsere Bildungspolitik hier machen, damitauch das Jahr 2016 ein erfolgreiches Jahr für die Bildungin Deutschland wird.
Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen undHerren! Als mir angekündigt wurde, dass die Linke überdas Kooperationsverbot sprechen wolle,
habe ich mich sehr gefreut. Meine Freude wurde aller-dings ein klein wenig getrübt, als ich Ihren Antrag ge-lesen habe: großes Potpourri mit vielen Ideen und vonallem etwas. Gleichwohl: Ihre Einladung zur Diskussionnehmen wir in der SPD-Fraktion sehr gern an; Sie habenes eben schon bei Ernst Dieter Rossmann gehört. Richtigist, dass in der Tat schon der Begriff „Kooperationsver-bot“ deutlich macht, mit welchem Irrsinn wir es hier ei-gentlich zu tun haben.Xaver Jung
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Herr Schipanski, es geht darum, dass Bund und Län-der nicht dauerhaft und nicht offiziell miteinander insGespräch kommen und zusammenarbeiten können.
In anderen Ländern – wenn Sie Auslandsreisen machen,werden Sie das sehen – versteht das kein Mensch.
Wir reden gern über Bildungsketten – das tun wir auchin der Großen Koalition zur Genüge –: über frühkind-liche Bildung, berufliche Bildung – darüber haben wirheute Morgen diskutiert –, Hochschulbildung. Dass wirbei diesen Bildungsketten auf Bundesseite ausgerechnetüber die schulische Bildung nicht sprechen sollen, daserschließt sich mir nicht.Sie gehen dabei gern auf die Situation der Länderein – das ist richtig; das ist gut so –, aber wir sollten dochjetzt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Heraus-forderungen – ich meine damit die Integrationspolitik –einmal gucken, ob wir nicht mit bisherigen Weisheitenaufräumen müssen.
Ich will zugeben – lassen Sie mich das ausdrücklichvor dem Hintergrund der Aktuellen Stunde von gesternsagen –: Mich beunruhigen die Ereignisse von Köln au-ßerordentlich. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warumsich angesichts der großen Herausforderung, die wir inder Integrationspolitik haben, jetzt nur diejenigen zuWort melden, die offensichtlich eine repressive Politikverfolgen. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich finde,es ist richtig, dass wir das Sexualstrafrecht reformieren,dass wir Gewalt gegen Frauen, insbesondere sexuali-sierte Gewalt, hart bestrafen. Aber wir können doch alsBildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker zu diesenEreignissen nicht schweigen. Deshalb, denke ich, müs-sen wir auch an der Stelle über Schulpolitik, über dasKooperationsverbot und insbesondere über das Fallendes Kooperationsverbotes sprechen.
Lassen Sie eine Zwischenfrage zu, Frau De Ridder?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gern.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin,
haben Sie genaue Vorstellungen? Können Sie vielleicht
etwas entwickeln, so auf die Schnelle, in den drei Minu-
ten, so nebenher? Als Kölnerin interessiert mich das. Ich
habe auch Vorstellungen. Das wäre einmal interessant zu
hören; das passt jetzt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist jetzt natürlich eine Herausforderung. Ich ver-stehe Ihre Frage, liebe Frau Scho-Antwerpes, dahin ge-hend, dass wir noch einmal überlegen müssen: Was heißtdenn Integrationspolitik vor dem Hintergrund der Schul-politik? Wir sehen an den Kölner Ereignissen – das wer-den insbesondere Sie als Kölnerin bestätigen können –,dass wir hier offensichtlich ein Genderproblem haben.Welche Einrichtung, wenn nicht die Schule, ist beson-ders dazu aufgerufen, genau dieses Thema aufzugreifenund deutlich zu machen, wie sich die Geschlechter zu-einander verhalten? Warum soll man Schülerinnen undSchülern das nicht beibringen?Im Übrigen geht es darum, Lehrerinnen und Lehrernzu vermitteln, hier beispielsweise über Diversität zusprechen und möglicherweise auch über Vorurteile zusprechen, die gerade auch Lehrerinnen und Lehrer ha-ben – sicher nicht alle –, besonders was Schülerinnenund Schüler mit Migrationshintergrund angeht, und dieabgeräumt werden müssen. Ich denke, da können wir an-setzen.
Richtig ist vor allem, dass wir aus den Fehlern derVergangenheit lernen müssen und sie nicht wiederholendürfen. Nach zehn Jahren Kooperationsverbot, meineich, ist das endlich angesagt. Die Hochschulreform – daswerden die Kolleginnen und Kollegen aus der Union zu-geben – war doch richtig. Aber wir dürfen nicht dabeistehen bleiben.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, derbeste Weg aus der Armut – das ist keine Erfindung vonmir – ist der Schulweg. Ihn müssen wir beschreiten. Da-bei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um guteIdeen sowie darum, dass wir einen Bildungs- und Wer-tekanon entwickeln. Das ist doch Ihre Debatte an dieserStelle.Ich freue mich also darüber, dass wir die Diskussionannehmen. In der Tat sollten wir alle gemeinsam auchauf unsere Landespolitiker zugehen, das mit ihnen disku-tieren und sie ermutigen, jetzt das Richtige und das Ge-botene zu tun. Seien wir also tapfer und mutig! Beweisenwir Größe! Nur Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen!Sie schaffen das schon.
Dr. Daniela De Ridder
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6875 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg,
Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Menschenrechtsrat der Vereinten Natio-
nen stärken
Drucksachen 18/4430, 18/6433
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihre
Plätze einzunehmen, damit wir in unserer Sitzung fort-
fahren können. – Auch die Kollegen von der SPD-Frakti-
on mögen bitte ihre Gespräche einstellen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser
Aussprache hat Frank Schwabe von der SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben dankenswerterweise den Antrag der Grünenzum Thema „Menschenrechtsrat der Vereinten Natio-nen“ vorliegen. Er gibt Gelegenheit, am heutigen Abendnoch einmal gemeinsam auf das zurückzublicken, was2015 unter der Präsidentschaft Deutschlands im Men-schenrechtsrat passiert ist.In der Tat brauchen wir Verbesserungen im Menschen-rechtsrat. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir denMenschenrechtsrat noch gar nicht so lange haben. Dasswir ihn jetzt haben, ist zumindest schon eine Verbesse-rung, nachdem wir vorher nur eine Menschenrechtskom-mission hatten.Wir haben als zentrales Element des Menschenrechts-rats mittlerweile das sogenannte UPR-Verfahren. Dashört sich kompliziert an, heißt aber nur, dass die Staatender Vereinten Nationen regelmäßig auf ihre menschen-rechtlichen Standards überprüft werden.Trotzdem ist noch viel zu tun. Deswegen ist es auchgut, dass es diesen Denkanstoß der Grünen gibt, dem wirheute zwar nicht zustimmen können, den wir aber alsDenkanstoß aufnehmen, um ihn entsprechend weiter zudiskutieren.Ich meine, dass Deutschland sich wirklich um dieStärkung des Menschenrechtsrats kümmert und auchErfolge zu verzeichnen hat. In gewisser Weise wird daswahrscheinlich auch dadurch gewürdigt, dass wir jetztzum dritten Mal in den Menschenrechtsrat gewählt wor-den sind und von 2016 bis 2018 wiederum Mitglied die-ses wichtigen Gremiums sind – auch wenn ich zugebenmuss, dass die Wahl in dieses Gremium nicht immer da-für steht, dass man höchste menschenrechtliche Integritätan den Tag legt, wie man sieht, wenn man sich einmal dieeinzelnen Mitglieder anschaut.2015 hatte Deutschland den Vorsitz des Menschen-rechtsrats inne. Unser Dank geht wirklich – das kannich, glaube ich, für das ganze Haus sagen – an Botschaf-ter Joachim Rücker, der dem Menschenrechtsrat seinenStempel aufgedrückt hat und Deutschland dort würdigvertreten hat.
Es waren seine vermittelnde Amtsführung, seine Dia-logorientierung, der Versuch der Konsensbildung und dieStärkung der aktiven Rolle der Zivilgesellschaft, die die-se Präsidentschaft besonders ausgezeichnet haben – auchwenn das nicht immer so einfach ist und es auch in einersolchen Amtsführung Widersprüche gibt, die JoachimRücker in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung imSeptember des letzten Jahres selbst benannt hat, in demer die Gratwanderung im Umgang in diesem Menschen-rechtsrat beschrieben hat und gefragt hat:Gestalten wir eine Resolution so, dass im Men-schenrechtsrat ein Konsens möglich wird, oder las-sen wir es auf eine Kontroverse und eine Abstim-mung ankommen?Es ist eigentlich egal, wie man es macht, weil die Weltso ist, wie sie ist. Am Ende gibt es bei beiden Verfah-ren auch schlechte Ergebnisse und entsprechende Kritik.Beim Thema Irak war es so, dass der Weg gewählt wur-de, einen Konsens herbeizuführen, dem am Ende auchder Irak zustimmen konnte. Dort gab es am Ende, wieich finde, durchaus berechtigte Kritik daran, dass zwardie Gräueltaten des Daesh benannt worden sind, aberentsprechende Gräueltaten von schiitischen Milizen zu-mindest nicht ausreichend benannt worden sind. Das warsozusagen durchaus ein an manchen Stellen fragwürdi-ges Ergebnis eines solchen Konsensverfahrens.Es gab aber auch das andere Verfahren, bei dem näm-lich eine Resolution Ägyptens, die nun wirklich nicht an-nahme- und konsensfähig war, im Konflikt abgestimmtwurde und wir am Ende leider beschämenderweise dieVerabschiedung einer Resolution hatten, die Menschen-rechtsfragen im Rahmen von Terrorbekämpfung relati-viert. Das war sozusagen das Ergebnis eines Konfliktver-fahrens. Aber noch einmal: Das ist eben die reale Welt,wie wir sie haben. Wir haben 47 Mitgliedstaaten in die-sem Menschenrechtsrat, und die meisten sind eben keinelupenreinen Demokratien.Die Menschenrechte sehen sich gerade zurzeit beson-deren Belastungen ausgesetzt. Im Zuge von weltweitenKrisen, aber auch mitten in Europa und in Deutschlandwerden Menschenrechte zunehmend infrage gestellt.Es gibt eine wachsende Zahl von Staaten weltweit mitrepressiver Gesetzgebung gegenüber Vereinigungender Zivilgesellschaft, sogenannten NGOs. Das findet
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man leider in allen Teilen der Welt. Da macht leider dasschlechte Beispiel Schule.Der Menschenrechtsrat hat in seiner letzten Sitzungam Ende des vergangenen Jahres China, Russland, Sau-di-Arabien und Kambodscha besonders kritisch disku-tiert. Man könnte aber auch Staaten des Europarats wiedie Türkei oder Aserbaidschan hinzufügen und latein-amerikanische Staaten wie Ecuador. Aber auch in an-deren Teilen der Welt würden einem leider eine MengeBeispiele einfallen. Auf der einen Seite sind die Men-schenrechte also besonderen Belastungen ausgesetzt.Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein wachsendesBewusstsein für die Bedeutung von internationaler Poli-tik und dafür, dass man zu Hause auf Dauer nicht ordent-lich leben kann, wenn Menschen in anderen Teilen derWelt nicht ordentlich leben können. Das ist sozusagenAußenpolitik und menschenrechtsorientierte Politik, wiewir sie, glaube ich, verstehen sollten.
Dabei sind die Menschenrechte eben nicht irgendeinHindernis nationaler oder internationaler Politik, sondernsie sind eigentlich das, worum es geht, warum wir imKern Politik betreiben. Man kann es auch mit Außenmi-nister Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede vor demMenschenrechtsrat im März des letzten Jahres sagen:Denn Missachtungen und Verletzungen der Men-schenrechte sind nicht nur Folge, sondern Ursachevon Konflikten. Wo Menschenrechte systematischin Frage gestellt sind, bahnen sich soziale und po-litische Krisen an, ist Unfrieden praktisch vorpro-grammiert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Fortschrittein Menschenrechtsfragen – ich glaube, das müssen wiruns gerade vor dem Hintergrund aktueller Debatten klar-machen – sind gerade in Zeiten schwerster menschlicherTragödien oder nach schwersten menschlichen Tragödi-en entwickelt worden. Dazu gehören sicherlich die Ver-einten Nationen als solche mit ihren unterschiedlichenKonventionen. Dazu gehören aber auch – das will ichhier noch einmal besonders betonen – die Genfer Flücht-lingskonvention und die Europäische Menschenrechts-konvention. Sie sind entstanden nach bitterster, schwers-ter Zeit, und sie sind gemacht worden für schwierigsteZeiten. Sie sind eben nicht dafür gemacht worden, inschwierigsten Zeiten genau diese Konventionen infragezu stellen, sondern dafür, sie in diesen schwierigen Zei-ten zur Geltung zu bringen. Deshalb müssen sie geradejetzt für uns Leitschnur unseres Handelns sein. Ich binmir ganz sicher, dass wir uns aktuell genau daran mes-sen lassen müssen und dass wir uns auch im historischenRückblick auf die aktuelle Situation genau daran messenlassen müssen, ob wir in diesen schwierigen Zeiten Men-schenrechte und ihre Standards zur Geltung gebracht ha-ben.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Inge Höger spricht jetzt für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Viele von uns verfolgen zurzeit die Hilfsaktivitäten, dieviel zu spät im syrischen Madaja beginnen. HungerndeMenschen erhalten das erste Mal seit Oktober Unter-stützung mit Lebensmitteln und medizinische Hilfe. Dasgezielte Aushungern von Zivilpersonen ist nicht nur einAngriff auf die Menschenrechte, es ist völkerrechtlichgesehen ein Kriegsverbrechen.Dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Insti-tution wie dem UN-Menschenrechtsrat. Schon im Juni2015 hatte dieser in einem Bericht zu Syrien darauf hin-gewiesen, dass alle Konfliktparteien in diesem Krieg dassystematische Aushungern als Kampfmethode einsetzen.Es zeigt sich damit sogleich eines der Probleme bezüg-lich der Handlungsfähigkeit des Menschenrechtsrates.Erst nach einem halben Jahr wurde der diplomatischeDruck so stark, dass Hilfe für die Menschen gestartetwerden konnte.Der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsratesfür die israelisch besetzten Gebiete trat vor kurzem zu-rück, weil ihm von Israel der Zugang zum Gazastreifenund zu Teilen des Westjordanlandes verweigert wurde.Seine Bemühungen, das Leben von palästinensischenOpfern der israelischen Besatzung zu verbessern, sei-en immer wieder zunichtegemacht worden, erklärte Makarim Wibisono.Die Beispiele zeigen, dass der Menschenrechtsrat ge-stärkt werden muss. Das eklatante Missverhältnis zwi-schen der Analyse einer menschenrechtlichen Notlageoder von Verstößen gegen die Menschenrechte und derpolitischen Handlungsfähigkeit muss überbrückt werden.
Deswegen begrüßt die Fraktion Die Linke den vorliegen-den Antrag ganz ausdrücklich.Der Menschenrechtsrat erhält gerade einmal 40 Pro-zent seiner laufenden Kosten aus dem Budget der Ver-einten Nationen. Der große Rest ist abhängig von derBereitschaft der Mitgliedstaaten, zusätzliche Beiträgezu leisten. Diese sind jedoch nicht selten an inhaltlicheSchwerpunkte geknüpft. Das schränkt die Handlungsfä-higkeit des Rates ein.Der momentan diskutierte Vorschlag, den Anteil desMenschenrechtsrates am UN-Budget von 3 auf 5 Prozentzu erhöhen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Diesdarf allerdings nicht zulasten anderer wichtiger Aufga-ben der Vereinten Nationen gehen.Menschenrechtsarbeit ist nur glaubwürdig, wennThemen weniger nach politischer Opportunität als nachtatsächlicher Dringlichkeit behandelt werden. Niemandkann bestreiten, dass es keine Instanz gibt, die eine hun-dertprozentig objektive Liste erstellen könnte, was aufdie Tagesordnung des Rates gehört und was nicht. UndFrank Schwabe
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alle hier wissen, dass Menschenrechtsfragen politischinstrumentalisiert werden können und auch werden.Deswegen sind unabhängige Mechanismen für die Be-fassung mit Menschenrechtssituationen und die Stärkungvon Sonderberichterstattern und Sonderverfahren zu be-grüßen.Die Zusammensetzung des Menschenrechtsrates, indem auch zahlreiche autoritäre Staaten vertreten sind,hat immer wieder zu Kritik geführt. Es wäre aber absurd,wenn sich nur demokratische Staaten treffen würden. Daswürde auch ausblenden, dass angebliche MusterstaatenLeichen im Keller haben. Deutschland selbst hat längstnicht alle menschenrechtsrelevanten Konventionen undZusatzprotokolle unterzeichnet. Der Schutz der Wander-arbeiter und Wanderarbeiterinnen oder der Schutz vonKindern und Jugendlichen unter 18 Jahren vor Rekrutie-rung in die Bundeswehr sind zwei von mehreren Baustel-len des Menschenrechtsschutzes in Deutschland.Ohne den Druck der UN wäre es im letzten Jahr wahr-scheinlich kaum gelungen, dem Deutschen Institut fürMenschenrechte eine gesetzliche Grundlage zu geben.Völlig unverständlich ist, warum Deutschland sich da-gegen sperrt, bei den Vereinten Nationen das Menschen-recht auf Frieden zu verankern.Die Debatten und die regelmäßigen Überprüfungs-verfahren im Rat sind also sinnvoll und notwendig undhaben auch immer wieder positive Effekte – für alle Be-teiligten. Gerade in Zeiten, in denen auch in EU-StaatenMenschen- und Freiheitsrechte gefährdet sind, brauchenwir dringlicher denn je eine Instanz wie den UN-Men-schenrechtsrat. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbei-ten, die Bedingungen für seine Arbeit zu verbessern.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Frank Heinrich
von der CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wann, wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten, sinddie Vereinten Nationen und ihre Institutionen zu stär-ken – gerade weil wir jetzt Dinge erleben, durch die wireiniges bedroht sehen? Zum einen sehen wir die Welt-sicherheitslage bedroht. Da fallen uns allen wahrschein-lich die gleichen Schlagworte ein: Syrien, Nordirak, dieUkraine, verschiedene Regionen Afrikas, die Fluchtbe-wegungen, der näher rückende Terror. „Näher“ ist hiersubjektiv. Istanbul, Paris, Jakarta, Kairo und einige an-dere Orte sind hier zu nennen. Auch die Menschenrechtesehen wir bedroht, nicht nur in einzelnen Situationen. Dakönnte man jetzt konkret die Todesurteile in Saudi-Ara-bien und den Fall des Bloggers Raif Badawi nennen, aberauch den Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung vorunserer eigenen Haustür, in Köln, in der vorletzten Wo-che. Wir, die im Menschenrechtsausschuss mitarbeiten,haben auch immer wieder Einzelpersonen vor Augen.Insofern wiederhole ich: Es ist wichtiger denn je, dieRolle der Vereinten Nationen zu stärken. Deshalb ist esgut, das Thema auch durch solch eine Debatte ins Be-wusstsein zu rufen, und das auch noch – Herr Kekeritz,Sie haben es vorhin gesagt – zu einer angemessenen Zeit,zu der auch noch zugehört wird. Das beginnt aber ebennicht hochpolitisch, hier in unserem Hohen Haus, son-dern bei der Wahrnehmung in den Köpfen der Menschen,eben bei der Bewusstseinsbildung. Es ist also gut, dasThema auf der Tagesordnung zu haben, auch wenn wirnicht in allen Punkten mit dem Antrag übereinstimmen –aus zwei Gründen, auf die ich gleich noch kommen wer-de.Zu Beginn nenne ich einige der Grundlagen; ein paarKollegen haben sie schon genannt. Die Charta der Ver-einten Nationen vom 26. Juni 1945 hatte ziemlich großenEinfluss auf uns als Bundesrepublik Deutschland. Siestand Pate für unser Grundgesetz, ein Grundwert, der inder aktuellen Flüchtlingsdebatte immer wieder bemühtwird – zu Recht. Darum will ich ein paar grundlegendePassagen aus der Gründungsurkunde der Vereinten Nati-onen zitieren, eben weil es so aktuell ist:WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIO-NEN – FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zubewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsag-bares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Men-schen, an Würde und Wert der menschlichen Per-sönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mannund Frau sowie von allen Nationen, ob großoder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerech-tigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungenaus Verträgen und anderen Quellen des Völker-rechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebens-standard in größerer Freiheit zu fördern … HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜ-HEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELEZUSAMMENZUWIRKEN.In Artikel 1 setzten sich die Vereinten Nationen danndiese Ziele:den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zuwahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektiv-maßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Frie-dens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshand-lungen und andere Friedensbrüche zu unterdrückenund internationale Streitigkeiten oder Situationen,die zu einem Friedensbruch führen könnten, durchfriedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerech-tigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder bei-zulegen …So viel zum Zitat.Heute, 70 Jahre später, spürt man zwischen den Zeilenimmer noch diesen Idealismus. Ein solcher Idealismusmuss aber mit einem politischen Realismus einhergehen.Er besteht im Jahr 2016 auch in der Notwendigkeit, dieVereinten Nationen zu stärken, damit die Inhalte dieserInge Höger
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genialen Charta am Schluss nicht in Zynismus umschla-gen.Es folgten weitere Schritte in der Entwicklung der Ver-einten Nationen: 1945 wurde die Menschenrechtskom-mission eingesetzt und 2006 – Frank Schwabe, du hast esvorhin gesagt – durch den Menschenrechtsrat ersetzt. DerMenschenrechtsrat der Vereinten Nationen setzt sich aus47 Mitgliedstaaten zusammen, hat ein umfassendes Man-dat zur Behandlung von Menschenrechtsverletzungen ineinzelnen Ländern sowie zur Abgabe von Empfehlungenund berichtet unmittelbar an die Hauptversammlung.Zum dritten Mal seit der Gründung der Institution2006 ist Deutschland von der Generalversammlung inden Menschenrechtsrat gewählt worden, und zwar fürden Zeitraum 2016 bis 2018. Zudem leitete im letztenJahr, 2015, der deutsche Diplomat Joachim Rücker alsPräsident den Menschenrechtsrat. Der Menschenrechts-rat hat folgende wesentliche Aufgaben: alle Menschen-rechte und Grundfreiheiten zu schützen und zu fördern,sich mit Menschenrechtsverletzungen zu befassen, Emp-fehlungen abzugeben, Menschenrechtsfragen in das Sys-tem der Vereinten Nationen zu integrieren sowie zur Wei-terentwicklung des Völkerrechts beizutragen. Das ist invielen Fällen gelungen; es ist gerade in der Rede genanntworden und steht auch in Ihrem Antrag. Da heißt es aneiner Stelle:Dem Menschenrechtsrat ist es in den letzten Jahrentrotz aller Schwächen immer wieder gelungen, die-ser Rolle gerecht zu werden.Einige Beispiele aus dem Antrag sind: das Recht aufWasser, was mir ganz besonders nah ist, das Recht aufgleichgeschlechtliche Partnerschaften, die Teilnahme ander Zivilgesellschaft als integraler Teil der Arbeit desRates und das Instrument des Allgemeinen Überprü-fungsverfahrens, Universal Periodic Review. Ergänzenkönnte man: Einsetzung des Sonderberichterstatters zurBekämpfung der Straflosigkeit im Jahr 2011 und damitein Mandat zum Schutz von Menschenrechtsverteidi-gern. Wir haben vor einigen Wochen über dieses Themadiskutiert.Noch einmal zu Ihrem Antrag. Er enthält eine Passa-ge, bei der ich mich frage: Da die Dinge schon existentsind, warum sollten wir sie dann fordern? Da steht:Diese Chance– also der Vorsitz im letzten Jahr –kann die Bundesregierung nutzen, indem sie sichfür eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen undArbeitsweise des Rates einsetzt, seiner Politisie-rung entgegenwirkt, über Regionalgruppen hinwegdiplomatische Allianzen aufbaut, innovative The-menschwerpunkte setzt und auch im Inland denMenschenrechtsschutz weiterhin ernst nimmt unddamit ihre Glaubwürdigkeit international unter Be-weis stellt.Was das betrifft, würde ich sagen – und da gebe ichmeinem Kollegen Schwabe recht –: Wir sind den größ-ten Teil des Weges gegangen. Die Bundesregierung hatsich während der deutschen Mitgliedschaften dafür ein-gesetzt, das Profil des Rats als zentrales Gremium undFrühwarnmechanismus des internationalen Menschen-rechtsschutzes zu schärfen.Zu den Forderungen der Bundesregierung, die sieauch eingebracht hat, gehörte, dass der Menschenrechts-rat konsequent kritische Menschenrechtssituationen an-sprechen soll – das tut er inzwischen – und dazu alle ihmverfügbaren Instrumente wie die gerade genannte uni-verselle Staatenüberprüfung, Sonderberichterstatter undSondersitzungen nutzen soll. Er sollte nicht nur Impuls-geber sein für neue Menschenrechtsstandards, sondernsich auch stärker der Umsetzung von Menschenrechts-standards zuwenden.
Die Bundesregierung nutzte den Vorsitz außerdemdazu, als Brückenbauer zu wirken – so steht es im Antragder Grünen, aus dem ich eben schon zitiert habe –, dessenAufgabe auch darin besteht, der zunehmenden Polarisie-rung des Menschenrechtsrates entgegenzuwirken; diesesArgument wurde eben schon angeführt. Ein besonderesAugenmerk richtete der Vorsitz auf die Wahrung undStärkung von Beteiligungsmöglichkeiten von Nicht-regierungsorganisationen, auch im Menschenrechtsratselbst.Darüber hinaus hat die Koalition mit der Schaffung ei-ner gesetzlichen Grundlage für das Deutsche Institut fürMenschenrechte – auch das thematisieren Sie in IhremAntrag – unterstrichen, dass Deutschland den Menschen-rechtsschutz auch hier im Inland ernst nimmt, auch wenndas einiges an Ringen bedeutet hat.Wir unterstützen Menschenrechtsverteidiger weltweitintensiv in ihrer Arbeit. Die Regierung wie auch wir alsParlament beobachten kontinuierlich und engmaschigderen Lage und arbeiten daran, das System noch weiterzu verbessern. Wir kooperieren hier sehr stark mit ande-ren Staaten der Europäischen Union. Zudem setzt sichdie Bundesregierung bei den Regierungen anderer Staa-ten häufig für Menschenrechtsverteidiger ein; wir habenauf viele Einzelfälle hingewiesen. Ihr Schutz ist wich-tig – und wird es auch bleiben – und gehört als integralerBestandteil in den Aktionsplan der Bundesregierung.Da der Antrag genau die von mir genannten Aktivitä-ten benennt und einfordert, obwohl vorhanden, und daSie sich mit den Bezügen auf die deutsche Präsident-schaft zeitlich überholen, haben wir uns entschlossen –das ist die logische Konsequenz –, ihn abzulehnen.Wie zu Beginn meiner Rede angekündigt, möchte ichzwei konkrete Punkte benennen, denen wir zustimmen.Erstens. Sie kritisieren in Ihrem Antrag die andauerndeUnterfinanzierung des Rates. Tatsächlich beträgt der An-teil nur 3 Prozent des VN-Kernbudgets. Frau Höger, Siehaben es angesprochen: Damit können nur 40 Prozentder Kosten gedeckt werden. Wir freuen uns darüber, dassder Anteil nun auf 5 Prozent aufgestockt wird. Auch HerrRücker hat das empfohlen.Der zweite Punkt ist die ständig drohende Politisie-rung der Arbeit; auch das ist richtig. Das Gesamtproblemder Vereinten Nationen ist, dass Resolutionen – wir ha-ben das Beispiel Syrien gut in Erinnerung – politisch mo-Frank Heinrich
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tiviert geblockt werden. Und doch gilt, was der deutschePräsident Rücker im September gegenüber der Süddeut-schen Zeitung gesagt hat: Was wäre denn, wenn wir unsauf internationaler Ebene ausschließlich mit denen, diees gut machen, zusammensetzen? Ich meine, das wäreein reiner Club von Gleichgesinnten und würde nichtsbringen. – Wir unterstützen die Forderung, dass die In-dikatoren, von denen auch Sie gesprochen haben, entwi-ckelt werden und dazu beitragen, die Tagesordnung desRates nach objektiven Kriterien zu gestalten.Ich komme zum Schluss. Das Unwort des letzten Jah-res lautet – es ist uns allen präsent, auch durch die Nach-richten dieser Woche –: Gutmensch. Beim Menschen-rechtsrat geht es aber nicht darum, irgendwie einfach malgut zu sein. Was schlimmer ist, ist, dass dabei auch dasWort „naiv“ mitschwingt. Die Vereinten Nationen ha-ben drei Kernaufgaben: Menschenrechte, Sicherheit undEntwicklung gewährleisten. Diese drei gehören nahtloszueinander: Ohne nachhaltige Entwicklung keine Si-cherung der Menschenrechte und keine Beseitigung vonFluchtursachen und in der Folge Bedrohung der Sicher-heit, auch bei uns in Europa und Deutschland.Die Vereinten Nationen in allen Bereichen zu stärken,liegt in unserem ureigenen Interesse. Dazu werden wirauch die erneute Mitgliedschaft im Menschenrechtsratnutzen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als letzter Redner in der Aussprache
hat Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Diskussionen im Menschenrechtsrat sindäußerst kompliziert. Das ist hier von verschiedenen Kol-legen auch besprochen worden. Eines der Probleme desMenschenrechtsrates ist, dass da sehr verschiedene Staa-ten drin sind, aber glücklicherweise sind sie drin, weilman ja Brücken bauen will. Das erfordert aber einigesan Kooperationswilligkeit und -fähigkeit. Was dem im-mer wieder entgegensteht, ist eine Politisierung oder eineMachtpolitik, die an die Stelle von Sachpolitik tritt, dassalso nicht über die Menschenrechte selbst, zum Beispielüber das Menschenrecht auf Wasser, geredet wird, beidem es einen breiten Konsens geben könnte, sondernman in Blöcken denkt. Das hindert die vernünftige De-batte.Schon in der Charta steht – Herr Heinrich hat es ebengesagt –, dass das Ziel das Zusammenwirken ist. Da isteiniges notwendig; da muss man auch über seinen Schat-ten springen. Der Menschenrechtsrat schöpft da – das hatBotschafter Rücker gesagt – sein Potenzial bedauerli-cherweise nicht aus.Die Tatsache, dass bei dem Antrag, den wir heute hiervorgelegt haben, in 90 Prozent der Dinge ein Konsensist, es aber keine Möglichkeit gibt, im Menschenrechts-ausschuss Brücken zu bauen und hier zu einer gemein-samen Resolution zu kommen, der wir alle zustimmenund damit natürlich auch den Menschenrechtsrat in Genfstärken, ist ein Ausdruck von unnötiger Polarisierung,unnötiger Politisierung und von Machtpolitik in unseremMenschenrechtsausschuss. Das Potenzial des Menschen-rechtsausschusses wird da nicht ausgeschöpft.
Da können Sie hier noch so oft sagen, dass wir uns ja alleeinig sind.Ein zweiter Punkt, der den Menschenrechtsrat hemmt,sind Double Standards. Das sind unterschiedliche Kri-terien, die angewendet werden. Da kommt der Westenvon ganz oben mit seiner großen Wertegemeinschaft,vom moral high ground, und wird dann wiedergefundenin Abu Ghuraib und Guantánamo. Das sind Sachen derInkohärenz und der Unglaubwürdigkeit. Um da Gemein-samkeit einzuführen, ist in dem neuen Menschenrechts-rat das universelle Staatenüberprüfungsverfahren einge-führt worden; diese Möglichkeit hatte die Kommissionnoch nicht. Da gibt es die gleichen Standards für jeden.Wir können Bemerkungen zu anderen Ländern machen;andere Länder können Bemerkungen zu uns machen. Wirmüssen aber jede einzelne Bemerkung, die über unserePerformance in Menschenrechtsfragen gemacht wird –die sehr viel besser sein kann als woanders –, so ernstnehmen, wie wir wollen, dass die anderen Länder dieBemerkungen, die wir machen, ernst nehmen. Das ist dieKunst.
Dann müssen wir zum Beispiel auch in die allgemei-ne Politik übernehmen, ob ein Land die Sonderbericht-erstatter des Menschenrechtsrats empfängt oder nicht.Das Reden über Menschenrechte bei Wirtschaftsdelega-tionen zum Beispiel heißt nicht nur: „Ja, die Menschen-rechte ...“, sondern heißt auch: Empfangen Sie die De-legationen, die Instrumente des Menschenrechtsrats, inSaudi-Arabien, wenn wir mit Ihnen Wirtschaft treiben? –Das wäre eine Aufgabe, die Brücken bauen könnte unddie auch die Kohärenz unserer Politik einfordert. Da istnoch sehr viel zu tun. Da müssten wir zusammenarbeiten.Ich könnte mir vorstellen, dass wir den Menschen-rechtsrat auch dadurch stärken, indem wir kohärentersind, indem wir mehr bereit sind, Brücken zu bauen, undindem wir die Standards, die wir an andere legen, auch anuns anlegen und auch ertragen, dass sie an uns angelegtwerden, also dass wir das, was wir in der einen oder an-deren Form predigen – Gottes Wort hat ja Herr Heinrichverkündet eben aus der Charta –, auch selber so sehen.Dass sich der Menschenrechtsausschuss immer wiederblockiert, heißt, er bleibt unter seinen Möglichkeiten. Esmuss ja auch möglich sein, gemeinsame Resolutionenzwischen CSU und den Linken zu machen, wenn wir ei-ner Meinung sind.
Frank Heinrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 149. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Januar 2016 14763
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Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stär-
ken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/6433, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/4430 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koa-
lition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Debatte.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 15. Januar 2016, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
noch einen schönen Abend.