Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Es gibt keine Änderungen der Tagesordnung oder an-dere aufregende amtliche Mitteilungen, sodass wir ohnejeden weiteren Verzug in unsere vereinbarte Tagesord-nung eintreten können.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresbericht der Bundesregierung zumStand der Deutschen Einheit 2014Drucksache 18/2665Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsauschussHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazugibt es offenkundig Einvernehmen. Dann können wir soverfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derParlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke.
Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung fürdie neuen Bundesländer:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerJahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit steht indiesem Jahr ganz im Zeichen der friedlichen Revolutionin der DDR. Er würdigt die Verdienste der Bürgerrecht-ler und Demonstranten, die sich mutig gegen Diktaturund staatliche Willkür erhoben haben. Sie haben denGrundstein für Freiheit und Demokratie in Ostdeutsch-land gelegt und die Einheit unseres Landes überhaupterst möglich gemacht.
Sie haben die Mauer eingerissen.Ich weiß, wir sprechen häufig vom Fall der Mauer.Aber diese Mauer ist nicht von alleine umgefallen – imGegenteil. Viele Menschen haben erfahren müssen, wiebrutal und unüberwindlich diese Mauer gewesen ist.Nicht wenige von denen, die versucht haben, sie zu über-winden, sind im Stacheldraht verblutet. Das alles dürfenwir niemals vergessen.
Wir dürfen auch niemals vergessen, wie unglaublichviel wir den Demokratie- und Freiheitsbewegungen imOstblock zu verdanken haben: in Ungarn, in der Tsche-choslowakei und in Polen. Viel zu verdanken haben wireinzelnen Menschen wie Michail Gorbatschow, dem ichvon hier aus gute Besserung wünsche. Ich habe heuteMorgen gelesen, dass er im Krankenhaus liegt. Ichdenke an Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-DietrichGenscher.Aber ihre Freiheit, meine sehr verehrten Damen undHerren, haben sich die Ostdeutschen selber erkämpft,mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefal-len ist und die wir deshalb voller Stolz als friedliche Re-volution bezeichnen dürfen.
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Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke
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Dass es so friedlich bleiben würde, war damals keines-wegs abzusehen. Es gehörte vor 25 Jahren Mut dazu, aufdie Straße zu gehen und zu demonstrieren, in Leipzigund anderen Städten der DDR.Ich kenne keinen, der damals keine Angst gehabthätte. Denn die Bilder der brutalen Gewalt auf dem Platzdes Himmlischen Friedens im fernen Peking liefen indieser Zeit quasi als Dauerschleife im DDR-Fernsehen.Man darf nicht vergessen, dass Stasi-Vizechef Mittig am26. September 1989 die Chefs der MfS-Bezirksverwal-tungen zusammenrief und forderte, die „feindlich-oppo-sitionellen Zusammenschlüsse“ mit dem Ziel der Zer-schlagung „operativ zu bearbeiten“.Ich erinnere auch daran, dass VerteidigungsministerKeßler zum 40. Jahrestag der DDR vorsorglich die NVAfür den Einsatz in Ostberlin in Stellung brachte, aufGrundlage eines Honecker-Befehls „zur Verhinderungvon Provokationen unterschiedlicher Art“.Die Angst war da. Sie war ganz real. Aber wir habensie überwunden. Dieser Mut und die Leidenschaft derfriedlichen Revolutionäre werden in diesem Bericht ge-würdigt, und es wird das Leben der ganz großen Mehr-heit der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gewürdigt,die ganz einfach versucht hat, ein anständiges Leben zuführen. Wolfgang Thierse hat in diesem Zusammenhangeinmal vom richtigen Leben im falschen System gespro-chen. Das war ein Leben voller Widersprüche. Wir ha-ben gewusst, dass in der Disko die Stasi immer mittanzt.Aber wir sind trotzdem gerne tanzen gegangen. Es gibtdie schönen Geschichten vom Stolz auf die bestandenePrüfung, vom Kribbeln im Bauch beim ersten Kuss, vonder ersten Fahrt im eigenen Auto, vom Gartenhaus, indem man zumindest weitestgehend seine Ruhe hatte vordiesem alles wissen wollenden Staat. Aber ich will keineOstalgie. Ich will, dass auch die anderen, die schlimmenGeschichten erzählt werden, die Geschichten vom klei-nen und großen Verrat, von Demütigung und Verfol-gung, von Knast und Zwangsarbeit, vom Verlust gelieb-ter Menschen durch Ausbürgerung und Flucht undschlimmstenfalls durch den Tod. All diese Geschichten,die schönen und die hässlichen, machen die irrsinnigenWidersprüche dieser DDR-Gesellschaft deutlich. Aus alldem und noch viel mehr hat unser Leben bestanden.Roland Jahn hat völlig recht mit seiner Feststellung, dassniemand „nur Rebell oder nur Angepasster“ war. Dasgilt es zu begreifen, und das gilt es zu respektieren.
Angesichts dessen empfinde ich die aktuelle Debattedarüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war odernicht, schlicht und ergreifend als banal.
Im Grunde ist es doch ganz einfach: Die DDR war eineDiktatur, übrigens eine ziemlich üble und spießige Dik-tatur. Eine Diktatur ist nun einmal ein Unrechtsstaat. Dasgehört zu ihrem Wesen.
Aber das sagt nur etwas über das System aus. Es sagtwenig bis nichts über die Menschen, die in diesem Sys-tem gelebt haben. Deshalb finde ich, dass uns solche De-batten nicht weiterbringen.
Viel wichtiger ist es, die Erinnerung zu bewahren unddie Opfer dieses Systems angemessen zu würdigen. Des-halb ist es mir so wichtig, dass die Bundesregierung ge-rade beschlossen hat, die Opferrenten zu erhöhen.
Wir sind als Ostdeutsche und als Westdeutsche mitganz unterschiedlichen Erfahrungen in die Einheit ge-gangen. Den Ostdeutschen hat das mehr abverlangt alsden Westdeutschen. Das hat etwas mit dem zu tun, waswir heute als Transformation beschreiben. Während dieWestdeutschen ihr vertrautes Leben weiterführen konn-ten, brach über die Ostdeutschen nach 1990 eine totaleVeränderung so gut wie aller Lebensbereiche herein: einvollständig neues Wirtschafts-, Rechts- und Gesell-schaftssystem, eine neue Verwaltung, Bildungsab-schlüsse, um deren Anerkennung man sich kümmernund teilweise kämpfen musste, Alteigentümer, die An-sprüche geltend machten. Es kamen die Treuhand undeine Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeits-losigkeit und einer massiven Abwanderung. Ich kannund will das alles hier nicht aufzählen.Tatsache ist, dass wir Ostdeutschen in den vergange-nen fast 25 Jahren eine unglaubliche Anpassungsleistunghinter uns gebracht haben. Für mich als Abgeordnete miteinem schönen Büro im Deutschen Bundestag war dasrelativ leicht. Andere hatten und haben es da schwerer.Viele haben ihre Arbeit verloren und nie wieder eine ver-nünftige und anständig bezahlte Arbeit gefunden. Wie-derum andere haben versucht, sich eine eigene Existenzaufzubauen, und sind dabei zum Teil entsetzlich geschei-tert. Es gibt kaum einen Ostdeutschen, der so etwas nichtaus der eigenen Familie oder aus dem Freundes- undBekanntenkreis kennt. Manchmal wird mit einem sehrverächtlichen Unterton von den Verlierern der Einheitgesprochen. Ich finde das nicht nur dumm, sondernschändlich. Auch sie gehören zu dieser Geschichte derdeutschen Einheit. Auch ihr Beitrag zählt. Sie haben zu-mindest Anspruch auf unseren Respekt.
Meine Damen und Herren, in meinen Augen ist dieGeschichte der deutschen Einheit keine reine Erfolgsge-schichte. Trotzdem sage ich, dass ich sehr stolz auf das
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Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke
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bin, was wir Ostdeutschen in den letzten 25 Jahren er-reicht haben: ein mittlerweile wirklich gut ausgebautesVerkehrsnetz, die Beseitigung der verheerenden Um-weltschäden, sanierte und liebevoll restaurierte Innen-städte, eine verbesserte Wohn- und Lebensqualität sowieeine moderne, mittelständisch geprägte Industrie- undForschungslandschaft. Hinzu kommen Universitäten,deren Ruf so gut ist, dass immer mehr junge Menschenaus dem Westen dort studieren wollen. Ohne die großeSolidarität des Westens hätten wir das nie geschafft.Diese Solidarität wird geradezu entwertet von all denErbsenzählern, die uns immer wieder vorrechnen, wieviele Milliarden, Billionen oder Fantastilliarden Euro bisjetzt schon im sogenannten Milliardengrab Aufbau Ostverschwunden sind.Ich sage Ihnen hier sehr offen: Der Aufbau Ost istnoch längst nicht abgeschlossen. Auch nach 24 Jahrengibt es immer noch deutliche Unterschiede: eine Wirt-schaftskraft, die gerade mal zwei Drittel von der desWestens beträgt, ein viel geringeres Steueraufkommender Länder und Kommunen sowie Löhne und Gehälter,die im Durchschnitt 20 Prozent unter denen im Westenliegen. Sie wissen, meine Damen und Herren, in man-chen Branchen haben wir eine Angleichung von 97 Pro-zent erreicht, in anderen Branchen aber liegen wir bei45 Prozent Unterschied. Hier wird eine ganz große Dis-parität deutlich. Wir haben eine deutlich höhere Arbeits-losigkeit und einen wirtschaftlichen Aufholprozess, dersich so sehr abgeschwächt hat, dass die Pessimisten be-haupten könnten, er sei zum Stillstand gekommen.Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, umdiese Unterschiede zu beseitigen. Beim Rentenrecht aberist es anders; denn wir werden das in Ost und West nochimmer unterschiedliche Rentensystem in dieser Legisla-turperiode endlich angleichen, damit es in dieser Frageab 2019 keine Unterschiede mehr gibt.
Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftsdaten be-sagen, dass der Osten auch über das Jahr 2019 und damitüber das Ende des Solidarpaktes hinaus eine verlässlicheFörderung braucht. Wenn diese nicht kommt, wenn wireine Verlängerung nicht hinkriegen, würgen wir den Mo-tor ab, der gerade erst richtig ins Laufen kommt. Dannwaren alle bisherigen Anstrengungen für die Katz. Ichbin deshalb wirklich froh darüber, dass unsere Bundes-kanzlerin, unser Vizekanzler, unser Bundesfinanzminis-ter und unsere Bundesfamilienministerin dazu klare An-sagen gemacht haben. Danke schön.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haltenam Auftrag des Grundgesetzes zur Herstellung gleich-wertiger Lebensverhältnisse fest. Das gilt natürlich auchfür die strukturschwachen westdeutschen Regionen.Auch sie brauchen eine solche verlässliche Förderung.
Es ist deshalb wirklich keine Übertreibung, wenn ichfeststelle: Die Neuordnung des Bund-Länder-Finanzaus-gleichs, die sich diese Koalition vorgenommen hat, isteine echte Schicksalsfrage nicht nur für Ostdeutschland,sondern für unser ganzes Land.
Ich bin mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsammeistern werden, weil wir alle wissen, worum es geht.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir habenauf dem Weg zur inneren Einheit große Fortschritte ge-macht. Das Ziel erreicht haben wir noch nicht. Aus mei-ner Sicht liegt das daran, dass dieser Weg nur über ge-genseitigen Respekt und gegenseitige Anerkennungbeschritten werden kann. Das klingt so leicht und fälltdoch vielen offenbar recht schwer. Die jungen Leute ma-chen es uns vor mit ihrem unverkrampften Umgang mit-einander. Ich finde, auch das ist in diesem Jahr ein guterGrund zum Feiern.Schönen Dank.
Dietmar Bartsch ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauGleicke, das ist der erste Jahresbericht zum Stand derDeutschen Einheit, den Sie vorstellen. Ich muss ganzklar sagen: Im Vergleich zu anderen Politikfeldern, zumBeispiel der Steuerpolitik oder den ungleichen Einkom-mens- und Vermögensverhältnissen, bei denen von dem,was die SPD als Opposition und im Wahlkampf gesagthat, nichts übrig geblieben ist, ist es hier anders. DieserBericht trägt Ihre Handschrift. Er ist besser als der IhrerVorgänger. Dazu gehört auch nicht sehr viel, und das istauch nicht Ihr Maßstab, hoffe ich, aber das muss ich undwill ich klar anerkennen.
Es ist auch gut – das will ich deutlich sagen –, dassSie in dem Bericht die 25 Jahre nach der friedlichen Re-volution würdigen. Das ist vernünftig. Auch hier habenSie es eben noch einmal getan. Ich kann mich vielem,was Sie gesagt haben, durchaus anschließen.Die DDR ist an ihren ökonomischen, an ihren politi-schen und an ihren demokratischen Defiziten geschei-tert. Das ist unbestritten.
Es ist so, dass den Oppositionellen, allen, die friedlichprotestiert haben, Dank und auch dauerhafte Anerken-nung gebühren. Auch das will ich hier deutlich sagen.
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Dr. Dietmar Bartsch
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Ihr Mut war gut. Das hat selbstverständlich seinen Platzim Bericht zum Stand der Deutschen Einheit. Sie habendas umfangreich im Bericht und heute noch einmal dar-gestellt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Dass die-ser Umbruch friedlich verlaufen ist, ist auch ein Ver-dienst der Sowjetunion. Auch die damaligen Eliten derDDR haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass es fried-lich geblieben ist.In dem Vierteljahrhundert ist viel erreicht worden.Die Menschen in Ost und West, Gewerkschaften, Kir-chen, Vereine, Verbände und im Übrigen alle demokrati-schen Parteien haben an der Entwicklung mitgewirkt. Esgibt gute Gründe – auch das will ich betonen –, das Er-reichte zu würdigen und auch zu feiern, wie Sie gesagthaben. Es gibt deutliche Zugewinne an Freiheit, an Le-bensqualität, es ist auch bei der Modernisierung der In-frastruktur vieles erreicht worden. Es ist im Übrigen gut,wenn drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung sagen,die Wiedervereinigung sei insgesamt eher positiv zu be-urteilen. Ich sehe das ganz genauso.Aber es ist schlichtweg falsch, wie Sie, die Bundesre-gierung, im Jahresbericht sagen, die Lebensqualität habesich in den neuen und in den alten Ländern weitgehendangeglichen. Das ist nicht der Fall. Ich will auch sagen:In den 25 Jahren wäre natürlich viel mehr möglich ge-wesen. Es sind gravierende Fehler gemacht worden, zumBeispiel mit der Währungsunion, mit der Treuhand-Poli-tik, aber vor allen Dingen dadurch, dass Sie die Möglich-keiten, die Ressourcen der Menschen aus den neuenLändern viel zu wenig genutzt haben. Es war ideologi-sche Borniertheit, die das verhindert hat, wodurch wirdie Chancen, die darin gelegen haben, nicht realisiert ha-ben.Das DIW fragt: Ist Westdeutschland tatsächlich in al-len Aspekten das Ideal für Ostdeutschland gewesen? Na-türlich nicht, ist meine Antwort.
Mein Kollege Roland Claus hat immer gesagt: Der Auf-bau Ost als Nachbau West ist gescheitert. – MillionenMenschen im Osten haben nach der Wende Einzigartigesgeleistet. Auch das will ich unterstreichen. Sie haben daschlicht recht. Aber ihre Transformationserfahrungen– Sie schreiben, diese könnten heute bei der Bewälti-gung der globalen Herausforderungen notwendig sein –wurden zu wenig genutzt. Diese Feststellung im Jahres-bericht ist zumindest bisher folgenlos geblieben.Ich will allerdings deutlich sagen – Sie haben das amRande erwähnt –, dass der Osten bei den zentralen Wirt-schaftsdaten weiterhin deutlich dem Westen hinterher-hinkt. Das ist ein ganz großes Problem. Schauen wir unsdie Arbeitslosenquote an. Die ostdeutschen Länder tau-chen erst ab Platz 10 auf den letzten Plätzen auf, beimBruttoinlandsprodukt sind es die letzten Plätze, auf de-nen die ostdeutschen Länder auftauchen, auch bei derSteuerkraft liegen die ostdeutschen Länder ganz hinten.Bei den verfügbaren Einkommen, was die Menschen ammeisten interessiert, liegen die neuen Länder auf denletzten sechs Plätzen – und das 25 Jahre nach der deut-schen Einheit. Wir haben jetzt dieselbe Reihenfolge wievor 25 Jahren. Da ist doch etwas nicht in Ordnung. Dasmuss man weiterhin benennen. Da besteht ein eklatanterWiderspruch zwischen Ihrem konkreten Regierungshan-deln und dem, was Sie hier beschrieben haben.
Sie haben das Beispiel der Rente genannt. Dazu mussich Ihnen ganz deutlich sagen: 25 Jahre nach der deut-schen Einheit beschließen Sie im Zusammenhang mitder Mütterrente, dass eine Mutter in Stuttgart für ihrKind 2,22 Euro monatlich mehr bekommt als eine Mut-ter in Schwerin. Das ist völlig inakzeptabel. FrauGleicke, da hätte ich mir von Ihnen gewünscht, dass Sielaut und deutlich sagen, dass Sie das nicht akzeptieren.Dass die Bundeskanzlerin das nicht macht – nun ja, aberda muss die ostdeutsche Interessenvertreterin deutlichsagen: 25 Jahre nach der deutschen Einheit wollen wirdas nicht. Da gehört endlich Gleichheit hergestellt.
Bei der Überleitung der Bestandsrenten Ost ist ganzviel geleistet worden. Aber es bleiben aus unserer Sichtweiterhin Ungerechtigkeiten und Rechtswidrigkeiten,und die gehören abgeschafft. Das werden Sie von unsauch weiter hören.Jetzt noch etwas, das wirklich skandalös ist. Vor we-nigen Tagen ist hier in Berlin am Leipziger Platz die„Mall of Berlin“ eröffnet worden. In einer Berliner Zei-tung war zu lesen: Obwohl sie eine Stunde pro Wochelänger arbeiten, erhalten die Angestellten – weil: Ost-berliner Einzelhandel – in den Läden der neuen Mall5 Prozent weniger Urlaubs- und 10 Prozent wenigerWeihnachtsgeld als ihre Kollegen am benachbarten Pots-damer Platz. – 100 Meter Entfernung, und da gibt eswirklich diese Unterschiede? Das ist 25 Jahre nach Wie-derherstellung der deutschen Einheit doch völlig inak-zeptabel. Was können denn die Menschen dafür, die in100 Meter Entfernung arbeiten?
Da ist „gleicher Lohn und gleiche Rente für gleichwer-tige Arbeit“ 25 Jahre nach Wiederherstellung der deut-schen Einheit nicht erreicht. Das können wir alle zusam-men doch nicht gut finden. Das können wir doch nichtakzeptieren. Das muss weiter deutlich gesagt werden.Sie sagen: Das Bruttoinlandsprodukt ist der zentraleMaßstab. – Natürlich ist es der zentrale Maßstab. Wenndie Angleichung in den nächsten Jahren weiter so ver-läuft wie in den letzten 10 Jahren, werden wir erst inüber 100 Jahren so weit sein, dass der Osten beim Brut-toinlandsprodukt das Westniveau erreicht hat. Das kön-nen wir allesamt doch nicht hinnehmen. Da muss dochetwas geschehen.Deswegen darf es kein Weiter-so geben. Es muss ei-nen Aktionsplan der Bundesregierung geben, um zumBeispiel die Transformationserfahrungen der Ostdeut-schen aufzunehmen. Was tun wir denn, um das zu verän-dern? Wir können doch diese Fakten nicht einfach hin-
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Dr. Dietmar Bartsch
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nehmen. Das ist das Entscheidende. Deswegen müssenSie bei den aktuellen Auseinandersetzungen kämpfen,zum Beispiel bei den Regionalmitteln. Da wird es dochso sein, dass der Osten hinten runterfällt. Deswegenmüssen Sie beim Länderfinanzausgleich darum kämp-fen, dass die Mittel für die neuen Länder nicht immerweniger werden. Ja, es ist viel erreicht worden, ja, wirkönnen auch stolz sein, aber es darf kein Ausruhen ge-ben, meine Damen und Herren! Die Menschen in denneuen Ländern – das kann ich hier klar und deutlich sa-gen – werden sich da auf das Engagement der Linkenwirklich verlassen können. Wir werden das immer wie-der aufrufen, bis wirklich gleichwertige Lebensverhält-nisse, wie es im Grundgesetz heißt, erreicht sind.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Mark Hauptmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Zum 25. Mal jährt sich der Fall der Mauer. Wir
diskutieren den Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2014 heute zwischen zwei
historischen Terminen. Gestern, am 9. Oktober, vor
25 Jahren haben sich mutige Menschen in Leipzig ein
Herz gefasst und mit Kerzen und Gebeten gegen eine
Diktatur gekämpft. In der Nacht vom 9. auf den 10. No-
vember wurden die Grenzübergänge zwischen Ost- und
Westberlin geöffnet. Die Bilder von jubelnden Men-
schen am Brandenburger Tor gingen in jener Nacht um
die Welt. Das Brandenburger Tor ist bis heute ein bedeu-
tendes Symbol. Es wurde von einem Symbol der Teilung
zu einem Symbol des Zusammenwachsens, und noch
immer trägt dieses Symbol überall in der Welt.
Nicht alle sind jedoch im Zeitalter des Zusammen-
wachsens angekommen. Auch ein Vierteljahrhundert
nach dem Mauerfall wird der Versuch der Geschichts-
verklärung unternommen. Historiker, Politiker, Wissen-
schaftler, alle sind sich in einem Punkt der Analyse ei-
nig: Ein Staat, in dem keine freien Wahlen stattfinden
konnten, ein Staat, der die eigenen Bürger eingesperrt
und diese bei der Suche nach Freiheit an der Mauer kalt-
blütig erschossen hat, ein Staat, der Kinder aus den Fa-
milien herausgerissen und in Kinderheime gesteckt hat,
ein Staat, der politische Häftlinge gefoltert und einge-
sperrt hat, ein Staat, der alle Parteien gleichgeschaltet
und seine Macht auf die Exekutive, Judikative und Le-
gislative ausgedehnt hat, solch ein Staat war, ist und
bleibt ein Unrechtsstaat.
Sehr geehrte Damen und Herren, vor diesem Hinter-
grund sind die jüngsten Äußerungen, die wir von den
Linken gehört haben, geradezu Hohn und Spott und ein
zynischer und billiger Versuch der Geschichtsumdeu-
tung.
Die Linke hat 2009 vor einem Gericht anerkannt,
Rechtsnachfolgerin der SED zu sein, und trägt in vollem
Umfang bis heute die Verantwortung für das Unrecht.
– Erstens. Wer schreit, hat unrecht. Bleiben Sie ruhig,
Herr Bartsch!
Zweitens. Sie tragen als Partei die Verantwortung für
dieses Unrecht. Sie sind die Kinder der PDS, die Enkel
der SED und damit der Unrechtsstaatspartei der DDR.
Aus dieser Verantwortung entlassen wir Sie nicht.
Weil wir gerade in meiner Thüringer Heimat eine
Wahl erlebt haben, nach der es vielfältige Gespräche
gibt, ist mein Appell an die Kollegen von den Grünen
und von der SPD: Denken Sie an die Symbolik Ihres
Handelns!
25 Jahre nach der friedlichen Revolution mit den Stasis
von gestern über Staatssekretärsposten von morgen zu
verhandeln, ist ein Schlag ins Gesicht der Opferverbände
und der Bürgerrechtler in diesem Land.
Der Jahrestag des Mauerfalls erinnert uns aber nicht
nur an die Sehnsucht der Menschen nach politischer Ge-
staltungsfreiheit,
sondern auch an die einzigartige Aufbau- und Anpas-
sungsleistung. Herr Bartsch hat eben das Glas als halb-
leer bezeichnet.
Herr Kollege Hauptmann, würden Sie zwischendurch
eine Zwischenfrage der Kollegin Lazar gestatten?
Gern.
Bitte schön, Frau Lazar.
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Vielen Dank. – Sie haben am Anfang Ihrer Rede den
9. Oktober in Leipzig angesprochen. Ich war damals bei
den Montagsdemonstrationen dabei, und ich war auch
gestern bei den Feierlichkeiten dabei.
– Ich habe leider den Grund für das Gelächter nicht ver-
nommen, aber das interessiert mich jetzt auch nicht. Ich
möchte nur diesen holzschnittartigen Bemerkungen et-
was entgegensetzen.
Einen wichtigen Anteil daran, dass es vor 25 Jahren in
Leipzig friedlich geblieben ist, hatte der „Aufruf der
Leipziger Sechs“. Von den sechs waren drei Bezirksse-
kretäre der SED in Leipzig.
Ich bin keine Befürworterin der ehemaligen SED und
war damals, wie gesagt, auch mit auf der Straße. Ich ver-
wahre mich aber dagegen, dass hier nach 25 Jahren so
platt agiert wird.
Auch diese drei – damals SED-Funktionäre – haben eini-
ges riskiert. Ich fand es zum Beispiel schade, dass sie
gestern beim Festakt nicht dabei gewesen sind.
– Sie müssen sich hier nicht moralisch empören. Ich war
damals dabei, und Sie haben nicht das Recht, mich hier
so zu verhöhnen.
Es geht darum, dass einfach klargestellt wird: Es gab
auch mutige Leute, die damals in Funktion bei der SED
waren. Allein das möchte ich feststellen, und ich
möchte, dass Sie und Ihre Kollegen von der Union das
bitte zur Kenntnis nehmen.
Danke.
Bevor der Kollege Hauptmann jetzt dazu Stellung
nimmt, möchte ich in aller Ruhe darauf hinweisen, dass
dann, wenn Mitglieder des Deutschen Bundestages an
Plenarsitzungen desselben teilnehmen, –
So ist es.
– kein weiterer Rechtfertigungsbedarf besteht, warum
sie nicht an parallel stattfindenden Veranstaltungen teil-
nehmen können.
Herzlichen Dank, Herr Präsident, für diese Klarstel-lung.Ich bin kein Mitglied der Grünen. Sie kennen Ihre Ge-schichte besser, als ich sie kenne. Aber nach meinemKenntnisstand der Geschichte der Bündnis-90-Bewe-gung weiß ich, dass sie aus einer Bürgerrechtsbewegungentstanden ist.
Das haben Sie ja gerade auch zu Recht angesprochen.Gerade mit Blick auf die Geschichte dieser Bürger-rechtsbewegung ist es für mich und unsere Fraktion inkeiner Weise verständlich, wie Sie heute mit den Akteu-ren verhandeln können, die Sie damals auf der Straße be-kämpft haben.
Staatssekretärin Gleicke hat bereits angesprochen,dass im Jahresbericht die enorme Aufbau- und Anpas-sungsleistung der Menschen in Ostdeutschland gewür-digt wird. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich von 1999bis heute im Osten des Landes fast verdoppelt. Die Ar-beitslosigkeit hat 2014 den niedrigsten Stand seit 1991erreicht. In meiner Südthüringer Heimat beträgt die Ar-beitslosigkeit rund 5 Prozent und liegt damit unterhalbdes Bundesdurchschnitts. So viel zu den wirtschaftlichenEntwicklungen, Herr Bartsch.Trotzdem bleibt festzuhalten – auch das ist natürlichTeil der Wahrheit –, dass wir unser Ziel einer Anglei-chung beider Landesteile noch nicht erreicht haben. Jenach Region bleibt der Osten Deutschlands in seinerWirtschaftskraft um bis zu 30 Prozent hinter den west-deutschen Gebieten zurück, obwohl es dort auch heuteschon wirtschaftsstarke Regionen und wirtschaftsstarkeStädte gibt, die Flächenländer, aber auch Städte im Wes-ten der Republik deutlich überholt haben.Das Steueraufkommen pro Einwohner betrug 2013 imOsten rund 937 Euro, im Westen ungefähr das Doppelte.Erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist daher in den neuenLändern immer auch Strukturpolitik. Aufgrund der ge-ringen Zahl von Ansiedlungen von Großunternehmen istdie Wirtschaftsstruktur hier sehr kleinteilig. Förder-instrumente für kleine und mittelständische Betriebesind von großer Bedeutung. Wir alle kennen Maßnah-men wie ZIM und wissen, welche Bedeutung diese ha-ben.Wir sehen, dass der Anteil des Bereichs Forschungund Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt der ostdeut-schen Flächenländer mit 2,5 Prozent über dem Durch-schnittswert der Europäischen Union liegt. Ausgezeich-nete Forschung ist in der Zukunft aber auch auf
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Mark Hauptmann
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gemeinnützige externe Industrieforschungseinrichtun-gen angewiesen. Wir als Bundesregierung und als Koali-tionsfraktionen stehen hinter INNO-KOM-Ost und ande-ren externen Industrieforschungsprogrammen, mit denenwir dort eine Forschungslandschaft entwickeln wollen.Für eine positive Weichenstellung ist es jedoch auchvonnöten, dass wir für strukturschwächere Regionen ge-zielte Maßnahmen entwickeln, um diese Regionen vo-ranbringen zu können. Ich erinnere in diesem Zusam-menhang an den Passus im Koalitionsvertrag zumSanierungsbonus für den ländlichen Raum. Dieser Sa-nierungsbonus eröffnet die Möglichkeit, in struktur-schwachen Regionen energetisch optimierten und barrie-refreien Wohnraum zu schaffen. Das sorgt für Zuzug undgleichzeitig dafür, dass diese strukturschwachen Regio-nen auch in Zukunft wachsen, gedeihen und blühen kön-nen.Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand derDeutschen Einheit 2014 macht die positiven Entwick-lungen in den neuen Bundesländern und die Anpas-sungsleistung der ostdeutschen Bürger in den vergange-nen 25 Jahren sehr deutlich. Es gilt, dies zu würdigenund die weiteren Anstrengungen von Bürgern und Un-ternehmen zu unterstützen. Wir sollten durch solche Pro-gramme wie den Sanierungsbonus dabei mithelfen, dassauch strukturschwache Regionen die Möglichkeit haben,sich weiterzuentwickeln. Wir sollten über Maßnahmennachdenken, die die Weiterführung des Solidarpaktesoder Förderungen zur Erhöhung von Innovationen undInvestitionen auch in Zukunft ermöglichen. Dafür müs-sen wir Sorge tragen, damit dieser Transformationspro-zess der neuen Bundesländer auch in der Zukunft fortge-setzt wird. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Kühn für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Zehntausende Menschen hat der Wunsch nach Frei-heit und Demokratie vor 25 Jahren auf die Straße ge-bracht. Am 9. Oktober 1989 hat es die SED-Führungnicht gewagt, die Massendemonstration in Leipzig ge-waltsam aufzulösen. Gestern haben Zehntausende Men-schen mit dem Lichtfest an den Tag der Entscheidung er-innert. Man darf nicht vergessen: Die friedlicheRevolution ist in der deutschen Geschichte eine Aus-nahme. Für uns ist der zentrale Impuls von 1989 dieSelbstermächtigung der Bürger zum politischen Han-deln. Der sich daraus ergebende Auftrag, mit aller Kraftfür die Stärkung der politischen Mitbestimmungsrechteder Bürger gegenüber staatlichen Institutionen einzutre-ten, besteht für uns unverändert fort.
Bundespräsident Joachim Gauck hat gestern in seinerRede im Leipziger Gewandhaus zutreffend bemerkt,dass unsere Demokratie – ich zitiere – „ausgehöhlt wer-den und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mitLeben erfüllen.“ Die Bürgerdemokratie, wie sie 1989 er-kämpft wurde, ist teilweise nur noch rudimentär entwi-ckelt. Das muss sich ändern.
Das beste Mittel gegen Politikverdrossenheit, meine Da-men und Herren, heißt mehr Demokratie. Die niedrigeWahlbeteiligung bei den zurückliegenden Landtagswah-len in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mahnt, dassneue demokratische Impulse dringend gebraucht wer-den,
etwa durch einfachere Möglichkeiten der direkten Mit-bestimmung der Bürger an politischen Entscheidungen.Denn es bereitet mir fast körperliche Schmerzen, wennauf die Frage „Ist die Demokratie die beste Staatsform?“in einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts imAuftrag von mehreren ostdeutschen Tageszeitungen imOsten nur 40 Prozent der Befragten mit Ja antworteten,hingegen 74 Prozent im Westen.Ich bin überzeugt, dass die weiteren Entwicklungs-chancen für die neuen Bundesländer nicht nur davon ab-hängen, wie stark Innovation, Forschung, Erfindergeistund mutiges Unternehmertum, sondern auch, wie sehrder Einsatz für gelebte Demokratie und eine aktive Bür-gergesellschaft von uns allen unterstützt wird.
Wir brauchen neue Formen der Zusammenarbeit undVernetzung von Bürgern, Politik, Verwaltung und Unter-nehmen. Gefordert sind neue Rahmenbedingungen, dielokales Engagement befördern und nicht behindern, ge-rade in den Regionen außerhalb der urbanen Wachs-tumskerne in Ostdeutschland. Es geht um die Aktivie-rung von Eigenverantwortung und Gründungswillen.Das Problem ist schließlich nicht das Fehlen von Grün-derförderung, sondern das Fehlen von Gründern, imländlichen Raum insbesondere von Gründerinnen. Esmuss gelingen, durch Unternehmensgründungen im Ra-dius von Universitäten, Fachhochschulen und For-schungseinrichtungen gut ausgebildete Fachkräfte in derRegion zu halten und den Braindrain zu stoppen. Geradedie Fachhochschulen, die oft außerhalb der Zentren an-gesiedelt sind, müssen stärker Motor für die regionaleWirtschaftsentwicklung werden. Wir müssen neue Wegegehen, brauchen regional angepasste Konzepte und Lö-sungen nach dem Grundsatz: Bottom-up statt Top-down.Offensichtlich ist doch: Das bisherige Konzept einer li-nearen, nachholenden Modernisierung Ostdeutschlandsist gescheitert. Die wirtschaftliche Angleichung ist er-lahmt. Damit das gelingt, müsste die ostdeutsche Wirt-schaft stärker und schneller wachsen als die westdeut-sche, was sie aber nicht tut.Nun hilft es auch wenig, regelmäßig die Kleinteilig-keit der ostdeutschen Wirtschaft und das Fehlen vonKonzernzentralen zu beklagen. Ebenso wenig hilft es
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Stephan Kühn
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aber auch, den bloßen Status quo zu beschreiben. Abergenau das ist das Problem des Berichts zum Stand derDeutschen Einheit. Er liefert keine neuen Erkenntnisseund setzt keine neuen Impulse;
von dieser Kritik will ich das erste Kapitel, das dieTransformationsleistung der Ostdeutschen würdigt, aus-nehmen. Trotz großer Erfolge in allen Bereichen habenwir auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution un-verändert große Herausforderungen in Ostdeutschland.Deshalb ist aus unserer Sicht ein Routinebericht einfachzu wenig.Richtig ist der Ansatz, dass die Förderung nach Be-darfen und nicht mehr nach Himmelsrichtungen erfolgenmuss. Die Förderprogramme für die ostdeutschen Bun-desländer nach und nach in ein gesamtdeutsches Systemfür strukturschwache Regionen zu überführen, ist rich-tig. Dazu drei Zahlen: Das Steueraufkommen der ost-deutschen Flächenländer lag im vergangenen Jahr bei937 Euro pro Einwohner, in den westdeutschen Flächen-ländern allerdings bei 1 817 Euro. Zudem erreichen diekommunalen Steuereinnahmen in Ostdeutschland geradeeinmal 58 Prozent des Westniveaus. Ich betone das soausführlich und deutlich, weil die Wirtschafts- und Steu-erkraft in den ostdeutschen Bundesländern bei den ak-tuellen Verhandlungen zur Neugestaltung der Bund-Län-der-Finanzbeziehungen nicht einfach ausgeklammertwerden darf.
Mit Fokus auf den demografischen Wandel heißt esoft, Ostdeutschland sei das Labor für wirtschaftliche undgesellschaftliche Transformationsprozesse und nehmeeine Vorreiterrolle bei der Entwicklung neuer Lösungenein. Zweifelsohne: Der demografische Wandel stellt dieneuen Bundesländer vor besondere Herausforderungen.Sie sind früher und fast flächendeckend betroffen. Wirbrauchen daher eine Klärung, was die Sicherung der Da-seinsvorsorge vor allem in strukturschwachen ländlichenRäumen in den Kommunen konkret heißt. Erforderlichwäre eine Diskussion um soziale, kulturelle und wirt-schaftliche Mindeststandards und innovative Lösungen.Denn neue Ideen gibt es zahlreich, beispielsweise dazu,wie die Abwärtsspirale beim öffentlichen Nahverkehr imländlichen Raum gestoppt werden kann. Mit dem Kom-bibus zum Beispiel werden neben Personen auch Güterbewegt. Der Betrieb ist so wirtschaftlicher, zudem ver-netzt der Kombibus die regionalen Wirtschaftsakteuremiteinander. Da das Personenbeförderungsgesetz so et-was nicht vorsieht, konnte das Projekt nur mit einer Aus-nahmegenehmigung starten.Wir brauchen eine Bundesregierung, die endlich er-kennt, dass die Neugestaltung der Daseinsvorsorge mitdem Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nichtdurch die Aneinanderreihung von geförderten Modell-projekten oder Pilotprojekten zu bewerkstelligen ist. Fürden kommenden Bericht wünsche ich mir, Frau Staatsse-kretärin, dass darin Vorschläge enthalten sein werden,wie über einzelne Initiativen hinaus Lösungen für dieFläche entwickelt werden können. Ich hoffe, dass dazuvon Ihnen Impulse kommen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Wolfgang Tiefensee ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ichstehe ganz unter dem Eindruck des 9. Oktober 1989. Die25-Jahr-Feiern, liebe Monika Lazar, haben uns wiederall die Ereignisse vor Augen geführt: eine Diktatur, eineehern erscheinende Mauer, ein Regime, das nicht wei-chen will – alles das stürzt plötzlich zusammen.Ich finde es ermüdend, dass wir Jahr für Jahr über dieFrage reden müssen, ob das nun ein Unrechtsstaat waroder nicht. Herr Bartsch, kann man nicht einfach mal sa-gen – und die Zeit hier nutzen –: „Es war ein Unrechts-staat, wir bekennen uns dazu“? Die Transformationsleis-tung ist deshalb so hoch zu honorieren, weil zwei völligunterschiedliche Systeme zu transformieren waren. Dasist das Hauptthema. Ich wünschte mir, dass Sie das end-lich anerkennen und dass wir dieses Kapitel schließenkönnen.
Eine Diktatur hat einen Kitt, der sie zusammenhält:Neben Repression ist das die Angst. Die Angst ist 1989überwunden worden. Ich möchte heute in meiner Rededrei Aspekte in den Mittelpunkt stellen, die mir wichtigerscheinen, weil sie deutlich machen, was wir aus denEreignissen des 9. Oktober bzw. aus dem Herbst 1989mitnehmen können.Das Erste ist: Mut gegen Ohnmacht. Es gibt auch ineiner Demokratie Ohnmacht. Bundespräsident Gauckhat gestern sehr schön gesagt: Es ist eine zum Teil selbstverschuldete Ohnmacht. – Lassen Sie uns den Bürgerin-nen und Bürgern immer wieder erklären, dass man in ei-nem demokratischen System sein Schicksal, seine Ange-legenheiten in die eigenen Hände nehmen muss. Dasbeginnt beim Engagement im Verein und endet damit,dass man zur Wahl geht. Es ist nicht akzeptabel, dass wirin Ostdeutschland und auch in Deutschland insgesamteine solche Abstinenz bei Wahlen haben. Lassen Sie unsan die Bürgerinnen und Bürger appellieren: Seid nichtohnmächtig, sondern engagiert euch!
Das Zweite, das aus dem 9. Oktober resultiert, ist dieFrage: Solidarität oder Abgrenzung? Wir Ostdeutschesind ohne viele Vorbedingungen Teil der EuropäischenUnion geworden. Westdeutschland und die Europäische
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Wolfgang Tiefensee
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Union haben uns mit namhaften Geldbeträgen unter-stützt. Das hat uns die Chance gegeben, die eigenen Är-mel aufzukrempeln, um so weit zu kommen, wie wirjetzt sind.Interessant ist, dass die Ostdeutschen zum Teil mitverschränkten Armen und relativ herablassend auf dieschauen, denen es schlechter geht. Erinnern wir uns, wiedas noch vor 1989 am Balaton war, als man nicht ins Ho-tel kam und keinen Platz im Restaurant bekam, weil mannicht mit D-Mark zahlte. Jetzt plötzlich sind wir auf derSonnenseite. Wir haben nicht zuletzt mit Blick auf dieVorläufer der friedlichen Revolution in der Tschechoslo-wakei, in Polen, in Ungarn und in der ehemaligen Sow-jetunion die Verpflichtung, mit denjenigen solidarisch zusein, denen es nicht so gut geht.
Frau Bundeskanzlerin, wir brauchen einen Kurswech-sel, vor allem auch einen Kurswechsel in der Mentalität;dabei meine ich dieses Von-oben-herab-Agieren, das unsoftmals zu eigen ist. Wir brauchen einen Aufbau Süd.Wir brauchen eine Solidarität, durch die wir die notwen-digen Kräfte bündeln. Das muss auf Augenhöhe gesche-hen und nicht von oben herab. Das ist wichtig.Das Dritte, was ich sagen möchte, ist: Wir brauchenauch eine Solidarität denjenigen gegenüber, die außer-halb Europas leben. Wir erinnern uns daran, wie es war,als die Flüchtlinge nach Westdeutschland gekommensind. Wir brauchen eine Willkommenskultur. Das ist diezentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts, die wir zu bewäl-tigen haben.Einerseits müssen die Disparitäten, die es außerhalbunseres Erdteils gibt, in den Blick genommen werden. Inden nächsten Tagen fahre ich nach Bangladesch undVietnam, um dort einmal mehr zu sehen: Was passiert damit unseren Wertschöpfungsketten? Wie können wirmehr Verantwortung dafür tragen, dass der Lebensstan-dard auch außerhalb Deutschlands und außerhalb Euro-pas gehoben wird?Auf der anderen Seite haben wir uns mit der Frage zubeschäftigen, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen,wie wir mit denjenigen umgehen, die zu uns kommenwollen, weil wir einen höheren Lebensstandard haben.Das ist die zentrale Aufgabe. Wir können die Schottendichtmachen. Das würde eine Weile gehen. Dann wür-den wir uns aber verhalten wie früher der Junker, der umseine Grundstücke einen Zaun gezogen hat; und die an-deren haben daran gerüttelt. Nein, wir brauchen einenPlan, wie wir mit denjenigen umgehen, denen es drecki-ger geht als uns. Auch das ist eine Botschaft des 9. Okto-ber 1989: Wir brauchen Solidarität auch denjenigen ge-genüber, die es schlechter haben als wir. Alle Kräftemüssen gebündelt werden, damit wir dieses Mensch-heitsproblem im 21. Jahrhundert lösen. Ansonsten wirdes auch für uns schwierig werden. Wir sind verpflichtetdazu.
Das sind für mich die Botschaften des 9. Oktober1989. Lassen Sie uns mit dieser Kraft, mit diesem Stolzdes 9. Oktober 1989 diese Herausforderung gemeinsamangehen.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleichtzu Beginn etwas zur Versöhnung: Ich habe in der De-batte über den letzten Jahresbericht zum Stand der Deut-schen Einheit und in den Jahren zuvor häufig beklagt,dass es im Bundestag eine unsichtbare ostdeutscheMehrheit bei dieser Frage gibt. Ich habe heute den Ein-druck, dass sich das wesentlich gebessert hat. Wir erfah-ren wesentlich mehr Zuspruch bei diesem Thema. Ichstelle mit Befriedigung fest: Es geht doch, links wirkt!
Seitens der CDU ist uns gesagt worden: Wir entlassenSie nicht aus Ihrer Verantwortung für die Geschichte. Damuss ich Ihnen antworten: Das ist ungeheuer anmaßend.Wir entscheiden noch immer selbst, wie wir uns dazuverhalten. Und wir wollen nicht aus dieser Verantwor-tung entlassen werden. Das entscheiden aber nicht Sie.
Ich habe nicht vergessen, wie ich mit 34 Jahren inHalle Abend für Abend der Adressat für Protest und Kri-tik von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern war. Dieunter solchen Schmerzen und Bitternissen gewonnenenErkenntnisse bleiben für uns in der Erinnerung und sinduns eine Mahnung. Wir haben auch nicht vergessen, dassunsere Vorgängerpartei nicht in der Lage war, sich selbstgeistig zu befreien,
sondern eine Befreiung von außen nötig hatte. Diese Er-kenntnisse haben uns geprägt, und die werden wir in Er-innerung behalten.
Der Jahresbericht beginnt mit einem historischenRückblick. Das ist ebenso angemessen wie inzwischenauch vielseitig verklärt. Wir hatten noch nie eine solcheFlut von Umfragen dazu, wie man die deutsche Einheitinterpretieren kann. In diesem Zusammenhang kann man
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Roland Claus
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die Frage stellen: Was ist eigentlich der Unterschied zwi-schen Gott und den Historikern? Die Antwort lautet:Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern.
Ich will mich deshalb an die Fakten halten. Wie be-werten Bürgerinnen und Bürger die deutsche Einheit?Das ist in der Tat sehr interessant: Im Osten bewerten75 Prozent die deutsche Einheit positiv, im Westen sinddas nur 48 Prozent. Das heißt, nicht einmal die Hälfteder Bürgerinnen und Bürger im Westen und Süden derRepublik bewertet die Einheit positiv. Nehmen wir dieunter 30-Jährigen, also die Jahrgänge 85 und jünger: ImOsten bewerten 96 Prozent von ihnen die deutsche Ein-heit positiv und im Westen 66 Prozent. Das sind Men-schen, die keinerlei Erfahrungen aus dem geteiltenDeutschland haben. Hier reproduziert sich also ge-schichtliche Erfahrung auf eine interessante Weise. Aberdas muss uns doch auffordern, daraus etwas abzuleiten.Der Grund für diese unterschiedliche Einschätzung istnatürlich, dass im Westen und Süden die Vereinigungkeine positiven Erfahrungen für die Menschen und ihrenLebensalltag gebracht hat. Das Einzige, das im Bewusst-sein geblieben ist, ist, dass der Soli zu zahlen ist. Nichtsoder fast gar nichts aus der DDR wurde für deutschland-tauglich erklärt. Das war ein Fehler.
Dietmar Bartsch ist hier bereits darauf eingegangen,dass der Jahresbericht in seiner Analyse wesentlich bes-ser, genauer und präziser geworden ist. Ja, das stimmt:Die Analyse ist besser. Aber leider ist das bei denSchlussfolgerungen nicht der Fall. Deshalb lautet dieDenksportaufgabe für uns weiterhin: Was lernen wir fürganz Deutschland aus dieser Entwicklung im Osten, ausdiesen Umbrüchen, aus diesem Umgang mit der Trans-formation? Wir haben das in unserem Entschließungsan-trag ausdrücklich deutlich gemacht und diese Transfor-mationserfahrungen – wenn ich das übersetze –, alsopersönlich gemachte Erfahrungen bei der Bewältigunggesellschaftlicher Umbrüche, hervorgehoben.Sie haben hier einen anderen Begriff benutzt und ge-sagt: Wir haben bedeutende Anpassungsleistungen er-bracht. – Das fanden Sie auch noch besonders prima. Ichkann nicht finden, dass Anpassung an ein System – wieim Westen so auf Erden – die Lösung der Zukunftsauf-gaben ist. Wir müssen in dieser Situation neu denkenund gerade das, was der Osten als Erfahrungsvorsprungneu einbringt, aufnehmen. Da ist „Anpassungsleistung“für mich kein positiv besetzter Begriff.
Ich wünsche mir deshalb, dass wir über diese beson-deren Erfahrungen, die im Osten für die ganze Republikgemacht wurden, noch weiter nachdenken und dass wirzur Kenntnis nehmen, dass wir natürlich noch eine un-gleiche wirtschaftliche und Einkommensentwicklunghaben. Wir stagnieren bei zwei Dritteln. Wir erreichenbei den kommunalen Steuern im Osten nur 58 Prozentdes Bundesniveaus. Der Knüller ist natürlich das, wasSie sich bei der Mütterrente geleistet haben: 25 Jahredeutsche Einheit und dann noch immer eine ungleicheAnerkennung von Erziehungsleistungen – das ist einSkandal. Das wird Ihnen die Linke nie durchgehen las-sen.
Es gibt im Osten viele Ansätze für neue Entwick-lungspfade in Sachen sozialökologischer Umbau, bei derFörderung erneuerbarer Energien und beim Stadtumbau.All diese Erkenntnisse und all diese gewonnenen Erfah-rungen – auch die gemachten Fehler – stellen ein Felddar, das völlig brachliegt und viel zu wenig für die ge-samtdeutsche Entwicklung genutzt wird.
Herr Kollege.
Deshalb wünschen wir uns eins: dass der nächste Jah-
resbericht zum Stand der Deutschen Einheit in der Ana-
lyse lobenswert für uns ist
und dass er in den Schlussfolgerungen endlich voran-
kommt und nicht bei dem stehen bleibt, was wir jetzt
vorliegen haben.
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Stein für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Am 9. Oktober 1989, also fast auf den Tag genauheute vor 25 Jahren, fand eine der denkwürdigsten Mon-tagsdemonstrationen in der DDR statt. Daran haben ges-tern 200 000 Menschen in Leipzig erinnert. Wie an je-dem anderen Montag zuvor fand damals in der LeipzigerNikolaikirche ein Friedensgebet statt. Dort sprachenMenschen offen über ihre Probleme, über ihre Situationin ihrer Heimat, der DDR, dort sprachen Menschen, diesich der SED-Diktatur widersetzten. Es war schon fastroutinemäßig so, dass auch an diesem Montag die Plätzein der Nikolaikirche schon ab Mittag von Genossen undKandidaten der SED besetzt waren.Doch irgendwie war an diesem Montag vieles anders.Es lag etwas in der Luft: Ängste und Sehnsüchte warenkörperlich greifbar. Der Gedanke, dass die SED dasMassaker am Platz des Himmlischen Friedens in Pekinggutgeheißen hatte, war in den Köpfen. Gerüchte machtendie Runde, Kampfgruppen standen bereit, und viele frag-ten sich, ob die chinesische Lösung in Leipzig zur An-wendung kommen würde.Rund 70 000 Menschen zogen über den Leipziger In-nenstadtring und zeigten Mut zur Freiheit. Für viele wares bis heute die größte Form von Opposition und Wie-derstand in ihrem Leben. Erstmalig gab es das Gefühl ei-
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ner selbstgeschaffenen Freiheit. Dabei blieben sie fried-lich ebenso wie die Sicherheitsorgane, die offensichtlichvor dieser Menschenmenge kapitulierten. Örtliche Funk-tionäre und Kommandeure hatten, anders als viele in derFührung der SED, Respekt vor den Demonstrierenden.Mit Kerzen und Gebeten, mit Worten wie „Keine Ge-walt!“ und „Wir sind das Volk!“ wurde die SED-Diktaturschließlich in die Knie gezwungen. Und die Welt schauteim Fernsehen zu.Fernsehbilder gingen um die Welt und hatten Signal-wirkung. Es folgten für die Menschen in den neuen Län-dern Tage, Wochen und auch noch zwei Jahre der Ge-fühle und Veränderungen. Für die Menschen in denneuen Bundesländern änderte sich nämlich fast alles.Aber auch für den Westen änderte sich eine Welt, undzwar zum Besseren. Daher geht an dieser Stelle meinDank an die Bundesregierung, die in der heute vorlie-genden Unterrichtung die Leistungen der Menschen inden neuen und alten Ländern hervorhebt und würdigt.Denn auch für mich, der, wie viele wissen, in den altenBundesländern geboren ist und nach Rostock ging, hatsich vieles geändert.Die Politik in der gesamten Republik ist bunter ge-worden: Die Grünen hatten sich zu dem Zeitpunkt in denalten Bundesländern etabliert. Im Osten kam eine neueKraft hinzu, die heute immer noch auf ihrem Weg in diealte Richtung weitermarschiert. Mittlerweile gibt esKoalitionen, die man sich vorher gar nicht hat vorstellenkönnen. Die aktuellen Gespräche in Thüringen deutenan, dass möglicherweise ein weiteres Farbenspiel hinzu-kommt. Ich möchte an das erinnern, was gestern 200 000Menschen in Leipzig damit auch zum Ausdruck ge-bracht haben. Hier nehme ich Anlehnung an die Bibelund schaue zu den Grünen, zu den Bündnis-90-Leuten:Bevor der Hahn dreimal gekräht hat, hast du michverraten.Und der Hahn hat für mich gestern in Leipzig gekräht.
Ich bin heute 46 Jahre alt und feiere in diesen Tagenmein persönliches Bergfest. Ich bin 23 Jahre in den altenBundesländern groß geworden und jetzt seit 23 Jahren inRostock. Wenn Sie mich fragen, als was ich mich fühle,dann antworte ich: Ich fühle mich als Deutscher, als Eu-ropäer und als Rostocker. Auf das, was die Menschen imvereinigten, freien und demokratischen Deutschland undvor allem in den vergangenen Jahren in Ost und West ge-meinsam vollbracht haben, bin ich stolz. Denn ich binein Teil dessen. Und jeder von uns hier ist ein Teil diesesgeeinten Deutschlands, weil wir hier leben und Verant-wortung tragen.Vor allem die Menschen in den neuen Ländern nutz-ten die Chancen, die sich mit der Wiedervereinigung er-geben haben, auch wenn sie dazu ihre Heimat verlassenmussten. Die Lebensqualität hat sich spürbar, fühlbar,riechbar angeglichen. Wie sah es für mich aus, als ich1990/1991 nach Rostock kam und die Stadt nach derWende kennenlernte? Es war grau, teilweise ruinenhaft.Trabbis tuckerten über marode Straßen, hinterließen ei-nen öligen Duft. Die Luft roch süßlich und war durchden Qualm der Kohleöfen braun geräuchert. Das hat sichalles geändert. In Sachsen-Anhalt sah ich herunterge-wirtschaftete Industrie und um sie herum kaputte Naturund Umwelt. Die Lebenserwartung dort lag um bis zu20 Jahre niedriger als im Westen.Und heute? Die Infrastruktur ist modernisiert. DieUmwelt ist weitgehend wiederhergestellt. Das Bruttoin-landsprodukt hat sich mehr als verdoppelt. Die Wirt-schaftskraft ist beachtlich gewachsen, nicht zuletzt auchdeshalb, weil viele Menschen in den neuen Ländern ihreChance über eine zweite und dritte Ausbildung nutzenmussten und genutzt haben. Die Abwanderung ist heuteweitgehend gestoppt. Viele, die in den 90er-Jahren ihreHeimat verlassen haben und in die alten Länder gegan-gen sind, kehren wieder zurück. Sachsen-Anhalt, Meck-lenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen er-reichten im letzten Jahr bei den Zuzügen mit weit über20 Prozent bundesweit die höchsten Zuwachsraten.Die Haushaltslage in den Kommunen hat sich verbes-sert. Der Schuldenstand im Osten liegt oft merklich hin-ter dem vergleichbarer westdeutscher Kommunen zu-rück.Auch der demografische Wandel soll uns hier keinWasser in den Wein gießen, sondern er wird als Chanceund Herausforderung begriffen. Wir leben länger, wer-den älter, bleiben auch länger gesund. Ich finde, das isteine gute Sache, und wir sollten uns darüber freuen.
Andererseits müssen wir auch die wirtschaftlicheStrukturstärke und -schwäche in den Regionen zurKenntnis nehmen. Einige wachsen weiter, andere städti-sche und ländliche Regionen hingegen schrumpfen. Wirbrauchen nach wie vor mehr Industriearbeitsplätze undspeziell in der ostdeutschen Industrie mehr Export.Der Strukturwandel hat zunächst mit aller Wucht, for-ciert durch die starke Abwanderung, in den Wendezeitendie jungen Länder getroffen, war aber auch im Ruhrge-biet bereits im Gange. Mittlerweile trifft dieser WandelRegionen im Norden, im Süden, im Osten und im Wes-ten der Republik. Viele können mit diesem Prozess nichtaus eigener Kraft umgehen. Wir wollen und müssen hiergezielt unterstützen und helfen. Das ist eine Solidarauf-gabe, die weiterhin Bestand hat. Wir wollen und müssengemeinsam Wege finden. Das können wir. Das zeigendie vorliegenden Unterrichtungen der letzten Jahre undauch dieses Jahres.Hohes Potenzial sehe ich besonders in der Bildungs-und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern. AlsRostocker Abgeordneter fallen mir natürlich die Rosto-cker Universität und die beiden anderen Hochschulen inRostock ein. In der Qualität der Forschungsergebnissestehen sie den Ergebnissen in anderen Regionen innichts nach. Es soll immer noch westdeutsche Studien-anfänger geben, die Manschetten vor einem Studium inden neuen Ländern haben und nur mit Vorbehalten dort-hin kommen. Aber da kann ich nur sagen: Schön dumm;denn die Erfahrungen in der Praxis sind: Die Universitä-ten und Hochschulen in Rostock, Greifswald, Jena oder
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Ilmenau sind nicht nur sehr modern, sondern auch dieBetreuung ist klasse, und die Hörsäle sind nicht heillosüberfüllt.Die Studienbedingungen sind also sehr gut. Dann sindauch die Möglichkeiten, seine Freizeit dort zu verbrin-gen, sehr gut, in Rostock etwa die weißen Strände. Mankann nach dem Seminar mit dem Surfbrett an den Strandgehen. Das hat durchaus seinen Wert und wird auch gerngenutzt. Man kann auch mit einer Kiste Bier und derFreundin und dem Kubb-Spiel an den Stadthafen gehenund studentisches Leben erleben. Das macht eine Stadtwie Rostock und auch andere Universitätsstädte so be-sonders.Wissenschaft, Möglichkeiten und Wohlstand: DieseErkenntnis hat auch im Osten besonders getragen. DerBund und die Länder tragen dieser Situation im Hoch-schulpakt 2020 Rechnung, indem sie die Kapazitätser-weiterung und -sicherung der Studienplätze im Ostenfördern. Damit entlasten sie zugleich die Hochschulen inden westdeutschen Ländern. Dafür stellt der Bund in dennächsten Jahren bis 2015 insgesamt 950 Millionen Eurobereit. Das ist ein sehr wesentlicher Beitrag zur weiterenEntwicklung.
Die Zahl der Studienanfänger ist enorm gestiegen, näm-lich um das Dreifache. Das Studium ist weiterhin diebeste Grundlage für eine berufliche und materielle Si-cherheit. Wir brauchen in Ost und West jeden jungenMenschen mit einer guten Ausbildung.Willy Brandt hat gesagt: „Jetzt wächst zusammen,was zusammengehört.“ Ich ergänze: Wenn ich als gebür-tiger Rheinländer, aus Rostock kommend, im MünchnerHofbräuhaus bin, ein Hendl bestelle und mich eine säch-sische Kellnerin fragt, ob ich es mit Mayo oder ohne ha-ben möchte, dann, so denke ich, ist die Einheit in unse-ren Köpfen angekommen. Wir sind ein Volk. Wirverstehen uns.Wenn wir es jetzt noch schaffen, die Menschen, dieaus anderen Regionen der Welt zu uns gekommen sindoder noch zu uns kommen, vernünftig zu integrieren,dann werden wir auch noch in 50 Jahren gemeinsam gutzusammenleben und auf unsere ErfolgsgeschichteDeutschland mit Stolz zurückblicken können.
Mit gutem Willen und in Wahrnehmung der eigenen Ver-antwortung klappt das. Auch ich habe mich schließlichgerne „ossimiliert“, ohne dabei meine rheinische Naturaufzugeben.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich kann es irgendwie noch gar nicht glauben, dasses 25 Jahre her ist, dass das inzwischen so verdammtlange her ist, weil sich die Bilder aus dem Herbst 1989– ich glaube, das geht allen so, die dabei waren; meineKollegin Lazar hat das heute Morgen schon zum Aus-druck gebracht – so tief ins Gedächtnis eingebrannt ha-ben.Ich bin für diese Debatte anlässlich dieses Jubiläumssehr dankbar. Ich bin auch Ihnen, Frau Gleicke, sehrdankbar – ich komme darauf noch zurück –, weil diesesJubiläum für unsere Gesellschaft eine riesengroßeChance ist, über die friedliche Revolution 1989 und vorallem über das, was danach kam, offen zu reden und an-ders darüber zu reden, als das bisher der Fall gewesenist. Manchmal gab es dafür keine Gelegenheit. Haupt-sächlich lag das aber daran, dass manche Dinge einfachunter den Teppich gekehrt worden sind, über die wir mit-einander einmal sprechen sollten.Ich bin Ihnen – das hatte ich schon gesagt –, FrauGleicke, sehr dankbar, dass Sie diesen Bericht zum ers-ten Mal anders verfasst haben, dass zum ersten Mal ineinem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deut-schen Einheit tatsächlich der Versuch unternommenwird, zu erklären, was da vor 25 Jahren und in den25 Jahren seitdem passiert ist.
Es ist das erste Mal, dass eine Bundesregierung in einemBericht zur Deutschen Einheit versucht – wir debattierenüber dieses Thema hier nicht so oft –, eine Art politischeZusammenfassung des bisherigen Geschehens zu geben.Ich glaube, dass es Aufgabe der Politik ist, den Men-schen, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einordnungdieser Ereignisse zu ermöglichen, vor allem denjenigen,die nicht persönlich dabei gewesen sind. Ich glaube, daswurde in den Vorgängerberichten gar nicht versucht. DerMut und der Wille, das zu tun, waren in der Bundesre-gierung nicht vorhanden. Es ist Ihr persönliches Ver-dienst, dies jetzt begonnen zu haben. Auf das, was ichmir für den nächsten Bericht wünsche, komme ich gleichnoch zu sprechen. Wir müssen aber endlich mit den ver-krampften Bemühungen aufhören, anhand von Statisti-ken und Zahlen über verbauten Beton zu erklären, wasda passiert ist. Ich glaube, 25 Jahre danach ist es an derZeit, dies zu tun.
Ich bin Ihnen dankbar – ich weiß gar nicht, ob Ihnendas bewusst war –, dass Sie diesen Bericht unter den Ti-tel „Wir sind das Volk“ gestellt haben. „Wir sind dasVolk“ war der Ruf von 1989. Dankbar bin ich auch da-für, dass Sie aufgegriffen haben, was ein wesentlicherBestandteil der Demonstrationen in der Anfangszeit ge-wesen ist: „Wir bleiben hier“. Ein essenzieller Bestand-teil meiner persönlichen Biografie – ich bin 1989 in Un-garn gewesen, als die Botschaft geöffnet wurde, und bin
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Steffi Lemke
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danach zurückgefahren – ist, dass wir damals in der An-fangszeit versucht haben, das Land, in dem wir geborenwurden, zu reformieren und zu verändern. Dass die deut-sche Einheit ein Glücksfall für uns alle gewesen ist, stehtlange vor der Klammer, außer bei ein paar Ewiggestri-gen. Dass aber eine Bundesregierung in einem Berichtzur Deutschen Einheit schreibt, dass der Impuls für diedeutsche Einheit gewesen ist, die DDR zu reformieren,ist für mich wirklich ein Fortschritt in dieser Debatte.
Wenn man versucht, 25 Jahre später zu erklären, was1989 passiert ist, dann muss man, da manchmal so lo-ckig und flockig der Eindruck erweckt wird, irgendje-mand hat halt demonstriert, betonen: Es sind Zehntau-sende unter Lebensgefahr auf die Straße gegangen, undzwar in der Anfangszeit nicht, weil sie die D-Mark woll-ten, sondern weil sie Freiheit, Demokratie und Selbstbe-stimmung wollten. Das war der Impuls 1989.
Jeder Versuch, das heute 14-, 16- oder 18-Jährigen zuerklären, muss fehlschlagen, wenn man das nicht auchmit dem Ruf „Wir bleiben hier“ verbindet.Ich fand den Schlagabtausch heute Morgen zwar ei-nerseits bedrückend, denke aber, dass die Debatte insge-samt vorankommt. Wenn man nicht begreift, dass auchSED-Funktionäre, Stasimitglieder und Armeeangehörigeeinen Anteil daran hatten, und zwar einen wirklich rele-vanten Anteil, dass das im Jahr 1989 friedlich abgegan-gen ist, dann muss jeder Erklärungsversuch für die fried-liche Revolution scheitern.
Auf beiden Seiten der Demonstrationsfelder haben sichteilweise Freunde gegenübergestanden. Das waren teil-weise Familienangehörige. Das waren Freunde, die manein paar Tage zuvor am Wochenende getroffen hatte. Wirwaren uns ziemlich sicher, dass es Tausende in diesenStaatsorganen gab, die niemals auf uns geschossen hät-ten. Aber ob es genug sind, das wussten wir nicht, alswir da rausgegangen sind.Ich frage mich andererseits, Frau Gleicke: Warum erstjetzt? Warum ist das Anerkennen der ostdeutschen Bio-grafien in einem solchen Bericht zur Deutschen Einheiterst jetzt möglich? Wie weit könnten wir in unserem ge-sellschaftlichen Diskurs zum Zusammenwachsen sein,wenn das früher möglich gewesen wäre?
Ich will zwei Punkte ansprechen, die im Bericht ein-fach fehlen; das empfinde ich als äußerst mangelhaft.Das ist einmal das offene Thematisieren von Dingen, dieschiefgelaufen sind. Das Stichwort „Treuhand“ fielheute schon einmal. Das muss man aus meiner Sicht an-sprechen. Ansprechen muss man auch den damals ge-scheiterten Versuch der Bürgerrechtler, eine gemeinsameVerfassung für diese beiden Staaten zu erreichen, diesich zusammengeschlossen oder vereinigt hatten bzw.bei denen der eine an den anderen angeschlossen wurde.Ich glaube, wir können in diesem Jahr nicht über25 Jahre friedliche Revolution reden, ohne zu themati-sieren, dass wir heute mit Geheimdiensten konfrontiertsind –
Frau Kollegin.
– ich komme zum Ende, Herr Präsident – und mit ei-
nem Spähskandal, der inzwischen selbst die Bundes-
kanzlerin zu Vergleichen mit der Stasi herausgefordert
hat. Auch die damit verbundene Aufgabe müssen wir an-
packen und bewältigen, wenn wir das Erbe der friedli-
chen Revolution nicht verschenken wollen.
Danke.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Daniela
Kolbe das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Ostbeauftragte der Bundesregie-rung, liebe Iris Gleicke! Ich gratuliere Ihnen ganz herz-lich zu dem ersten von Ihnen verantworteten Berichtzum Stand der Deutschen Einheit. Es ist im 25. Jahr nachder friedlichen Revolution ein besonderer, und er setztmit der Würdigung der Bürgerrechtsbewegung und derLebensleistung der Ostdeutschen die richtigen Zeichen.Ich finde, Frau Lemke hat es gerade sehr eindrücklichdeutlich gemacht.70 000 Menschen protestierten gestern vor 25 Jahrenin meiner Heimatstadt Leipzig gegen das SED-Regime,so viele wie bis dahin noch an keinem der vorangegan-genen Montage. Insbesondere die Initiatoren taten diesunter massiven persönlichen Risiken. Viele, wenn nichtalle sind mit riesengroßer Angst dorthin gegangen. Ichwar damals neun Jahre alt; ich war nicht dabei. Aber ichbin noch heute beeindruckt und eigentlich sogar erschro-cken angesichts dessen, was diese Bürgerrechtler aufsich und ihre Familien genommen haben, welche Risi-ken sie persönlich eingegangen sind, nicht wissend, obsie erfolgreich sein würden, nicht wissend, was darausresultieren würde.Wir wissen heute, dass sie erfolgreich waren, und der9. Oktober 1989 ist bis heute der Tag der friedlichen Re-volution. Es ist das Wunder jener Tage des Herbstes1989, dass diese Revolution friedlich begonnen hat undauch friedlich geendet ist. Dieses Wunder gibt der Revo-
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lution bis heute ihren Namen. Dass der friedliche Verlaufetwas Besonderes war, zeigt sich für mich ganz stark anden aktuellen Umstürzen, die wir in der Ukraine und inanderen Teilen der Welt sehen.Ursächlich für den Fall der Mauer war das Eintretender Demonstrierenden gegen das SED-Regime. DieMauer wurde vom Osten her eingedrückt. Diese Leis-tung der Menschen in Abrede zu stellen, wäre törichtund auch geschichtsvergessen. Das erste Loch in derMauer setzte aber – das hat der frühere BürgerrechtlerThomas Krüger ganz treffend formuliert – Willy Brandtmit seiner Ost- und Friedenspolitik.
Es ist auch richtig, dass die DDR nicht nur politischam Ende war, sondern auch ökonomisch.
Ich kann selber noch erinnern, wie es in der DDR ausge-sehen und gerochen hat. Aus diesem heruntergewirt-schafteten Staat ist innerhalb von 25 Jahren eine Regiongeworden, die ökonomisch im Mittelfeld Europas spielt.Die KfW sprach vor kurzem vom neuen Wirtschafts-wunder. Ich gebe zu, dass ich diese euphemistische Be-schreibung nicht teile, denn dafür sind zu viele Men-schen in diesem Prozess gescheitert. Gleichwohl zeigtes, was durch den Optimismus und die Tatkraft der Ost-deutschen gemeinsam mit der historisch beispiellosenSolidarität der Westdeutschen zuwege gebracht werdenkonnte.Das alles hat zu einer beachtlichen Aufbauleistunggeführt. Die neuen Länder liegen kaufkraftbereinigtbeim Pro-Kopf-Einkommen ungefähr auf der HöheItaliens. Die Investitionsentwicklung ist dynamisch, undin manchen Bereichen steht der Osten besser da als diewestdeutschen Bundesländer. Ich nenne als Beispiele dieKinderbetreuungssituation oder auch die Erwerbsbeteili-gung von Frauen. Frauen arbeiten in Ostdeutschlandhäufiger und mehr Stunden als in Westdeutschland.Nicht zu vergessen ist, finde ich, dass viele dieser Er-folge aufgrund des Engagements, der Tatkraft und auchder Flexibilität der Ostdeutschen zustande gekommensind. Möglich wurden sie aber nur durch die gesamtdeut-sche Solidarität.
Ich finde es aber realitätsfern, zu glauben, dass derProzess abgeschlossen ist. Die Ostländer sind immernoch schwach, wenn es um die Steuereinnahmen geht.Wir haben ganz wenige Sitze von großen Unternehmenin den neuen Bundesländern. Die Steuerkraft der ost-deutschen Bundesländer beträgt gerade einmal 62 Pro-zent der Steuerkraft der finanzschwachen westdeutschenBundesländer.Wir müssen daher diese strukturschwachen Regionenauch über 2019 hinaus weiter unterstützen, nicht nachHimmelsrichtungen, sondern am jeweiligen Bedarforientiert. Das dürfen wir auch in den aktuell stattfinden-den Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbezie-hungen nicht vergessen. Wir sollten nicht mit dem Hin-tern einreißen, was wir und meine Elterngenerationaufgebaut haben.Ich werbe dafür, dass ein breiter Konsens aller Bun-desländer zustande kommt und wir uns, statt auf Ellen-bogenföderalismus und auf Steuer- und Sozialwettlaufzu setzen, an unserem Verfassungsgebot orientieren,gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland– unabhängig von der Himmelsrichtung – herzustellen.
Der Blick in den Bericht verrät, was man auch spürt:Im Osten geht die Arbeitslosigkeit seit 2005 spürbar zu-rück. Das ist toll und wichtig. Denn wir alle miteinanderwissen, was Arbeitslosigkeit und PerspektivlosigkeitEnde der 90er-Jahre in ganzen Landstrichen angerichtethaben. Gleichzeitig sehen wir aber auch da noch einegroße Herausforderung. Es gibt immer noch 1 MillionMenschen in Deutschland, die langzeitarbeitslos sind.Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich und erweistsich als hartnäckig. Das ist kein ostdeutsches Problem.Wir sehen die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit auchin vielen anderen Regionen, insbesondere bei Ungelern-ten und bei über 55-Jährigen. Viele Programme, diediese Menschen betreffen, sind in der Vergangenheit ge-kürzt worden oder laufen aus. Ich bin ganz klar der Mei-nung: Wir brauchen für diese Langzeitarbeitslosen wie-der mehr Vermittlungsmöglichkeiten. Wir braucheneinen sozialen Arbeitsmarkt nicht nur für Ostdeutsch-land, sondern überall dort, wo LangzeitarbeitslosigkeitThema ist. Die Papiere liegen auf dem Tisch. Ein solchesProgramm würde insbesondere der Generation helfen,die ganz stark von den Transformationen insbesonderein den neuen Bundesländern betroffen war.Lassen Sie uns deshalb diese und andere verbleibendeHerausforderungen gemeinsam annehmen. Das wird ei-nen Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit leisten.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeGäste auf den Besuchertribünen! Die Wiedervereinigungzählt zu den glücklichsten Momenten unserer deutschenGeschichte. Deshalb haben diese Tage, an denen wir unsan jene Menschen in der damaligen DDR erinnern, diefür demokratische Grundrechte auf die Straße gingen,auch nach 25 Jahren nichts an Faszination verloren.Wir können stolz darauf sein, was wir gemeinsam fürunser Land und insbesondere auch für Ostdeutschlandgeschaffen haben. Der Traum der Menschen von Demo-
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Jana Schimke
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kratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, einemselbstbestimmten Leben, zu dem wohlgemerkt auch diefreie Berufswahl oder auch die Schaffung von Eigentumzählt, hat sich erfüllt. Der Aufbau Ost als gesamtgesell-schaftlicher solidarischer Kraftakt hat Erhebliches ge-leistet. Fährt man heute durch die neuen Bundesländer,trifft man auf eine moderne Infrastruktur, auf sanierte In-nenstädte oder neue Universitäten, die sich sehen lassenkönnen.Eine besondere Leistung der deutschen Einheit warohne Frage auch die Übertragung der sozialen Siche-rungssysteme, von der Rente bis zur Arbeitslosenver-sicherung. Damit meine ich nicht nur die Übertragungvon Beitragsmodalitäten und von Leistungen. In derRentenversicherung werden bis heute in den neuen Bun-desländern die Renten mit dem Hochwertungsfaktor auf-gewertet. Alles andere hätte nach klassischer Berech-nung die Renten im Osten ins Bodenlose fallen lassen.Da es aber gerade in der Rentenversicherung darumgeht, Lebensleistung anzuerkennen und abzubilden, ha-ben sich die Mütter und Väter der deutschen Einheit zudiesem solidarischen Kraftakt entschieden. Dafür gilt ih-nen unser aller Dank.
Dennoch – das ist heute bereits mehrfach angeklun-gen – darf man natürlich nicht dem Glauben unter-liegen, die Lebensverhältnisse in Ost und West seienvollständig angeglichen. Woran liegt das? 40 Jahre Plan-wirtschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Das spürenwir noch heute. Deshalb bleibt es bis heute eine derwichtigsten Aufgaben des Aufbaus Ost, hier noch stär-ker aufzuholen. Der aktuelle Bericht zum Stand derDeutschen Einheit macht genau dies deutlich. So fehlt esin den neuen Ländern trotz enormer Investitionen insge-samt noch immer an jener Stärke, die es gerade braucht,um mitzuhalten. Das zeigt sich beim Bruttoinlandspro-dukt, beim Steueraufkommen oder bei den Löhnen undGehältern; die Kolleginnen und Kollegen haben dazu be-reits viel gesagt. Die Kennzahlen verweisen aber auchauf eine noch junge, klein- und mittelständische Wirt-schaft in den neuen Bundesländern. So sind die meistenUnternehmen bei uns in Ostdeutschland höchstens25 Jahre alt. Industrielle Strukturen oder eine krisener-probte Firmengeschichte von 100 Jahren und mehr gibtes eher selten.40 Jahre DDR zeigen sich auch bei der persönlichenSituation der Menschen in den neuen Bundesländern. Soist das Vermögen privater Haushalte in Ostdeutschlandheute noch immer halb so hoch wie das in Westdeutsch-land. Obwohl in beiden Landesteilen der Immobilienbe-sitz die wichtigste Vermögensform ist – wir selbst bauenunsere Altersvorsorge darauf auf –, lebt nur ein knappesDrittel der ostdeutschen Haushalte heute im selbst ge-nutzten Wohneigentum. Gemessen an den Schwierigkei-ten vor 1990, Eigentum aufzubauen, überraschen dieseWerte natürlich nicht. Sie zeigen aber auch, dass einVierteljahrhundert manchmal nicht genügt, die Spurenvon 40 Jahren zu überwinden. Unser Handeln sollte des-halb darauf ausgerichtet sein, diese Unterschiede durcheine kluge Politik weiter abzubauen.Auch wird es künftig darum gehen, die Stärken derneuen Länder herauszustellen, positive Beispiele zu be-nennen und neue Perspektiven zu schaffen; denn es gibtauch Erfolgsgeschichten. Denken Sie an die Spitzen-position einiger südlicher ostdeutscher Bundesländer beider Bildungspolitik. Oder denken Sie an das Bundes-land, das in Deutschland die geringste Pro-Kopf-Ver-schuldung hat. Das ist nämlich Sachsen.
Die Region um Berlin zählt aber – das möchte ich alsBrandenburger Abgeordnete auch gesagt haben; dazugehört auch mein Wahlkreis – zu den dynamischsten inganz Deutschland; darauf hat kürzlich sogar die OECDverwiesen. Ein wahrlicher Standortfaktor sowohl für dieWirtschaft als auch für die Menschen, die in den neuenBundesländern leben, sind aber auch die guten Rahmen-bedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen Neben-effekt. Die gute Kitastruktur zählt zu den Hauptgründen,warum sich die Menschen heute entscheiden, entwederin der Region zu bleiben oder sogar zurückzukehren.Aus Sicht der Unternehmen macht sich vor allem einesbemerkbar: Frauen sind in den neuen Ländern öfter undauch länger erwerbstätig. Das zahlt sich natürlich späterauch bei der Rente aus.Ich habe jetzt viel über Herausforderungen, Faktenund Zahlen gesprochen. Es mag sein, dass einigen dieEntwicklung der ostdeutschen Bundesländer und die An-gleichung an die Altbundesländer, gerade was die wirt-schaftliche Stärke angeht, nicht schnell genug geht. Ichstehe allerdings nicht hier, um in diesen Tenor einzu-stimmen. Wir haben in den letzten 25 Jahren vieles gutgemacht und gut gemeistert. Erinnern Sie sich daran,welche Herkulesaufgabe die deutsche Einheit für unsalle war und noch immer ist! Die Wendezeit war eine derprägendsten Erfahrungen meiner eigenen Kindheit undJugend. Diese Zeit hat mich damals zur Politik gebracht.Ich habe ihr später meine Ausbildung und meinen Berufgewidmet. Trotz aller Unsicherheiten und allem Neuen,was die Zeit mit sich brachte, begleitete meine Familieund mich immer eines: die überwältigende Freude da-rüber, endlich frei zu sein in all seinen Entscheidungen,sowie das tiefe Vertrauen und der Glaube an die eigenenFähigkeiten. Damals hieß es: Wer sich anstrengt, derwird auch belohnt. – Diese Worte sind für mich Sinnbilddessen, was die friedliche Revolution 1989 auch ermög-lichte: Leistungsgerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Ei-genverantwortung.Deshalb gibt es auch Dinge, die mich heutzutagenachdenklich werden lassen. Wenn wir vom Mauerfallund von der Wiedervereinigung sprechen, haben wir si-cherlich immer wieder jene Menschen vor Augen, diesich in der damaligen DDR unter großen persönlichenOpfern gegen das SED-Regime aufgelehnt und dieMauer zum Einsturz gebracht haben. Viele davon habenihr Leben aufs Spiel gesetzt und es mitunter auch verlo-ren. Die Menschen in der damaligen DDR haben wederihren Leib noch ihr Leben geschont, um einen System-wechsel herbeizuführen. Sie haben für Demokratie, freieMeinungsäußerung, politische Mitgestaltung und ein
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5378 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Jana Schimke
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selbstbestimmtes Leben gekämpft. Erst der Mauerfallund die deutsche Wiedervereinigung haben das allesmöglich gemacht.Es ist noch gar nicht so lange her, da fanden inDeutschland Europa- und Kommunalwahlen statt. Erstkürzlich brachten wir die Landtagswahlen in Branden-burg, Sachsen und Thüringen hinter uns. Die Wahlbetei-ligung – da möchte ich auf den Punkt kommen – war er-schreckend gering. Sie lag mitunter bei weniger als50 Prozent. Bei den Landtagswahlen in meinem Heimat-land Brandenburg haben weniger als die Hälfte allerWählerinnen und Wähler von ihrem Wahlrecht Ge-brauch gemacht. Das, wofür die Ostdeutschen 1989 aufdie Straße gegangen sind – die Teilnahme an freien Wah-len, die Möglichkeit, selbst wählen zu gehen und mitzu-entscheiden –, wird nun immer weniger wahrgenommen.Ich frage: Wo ist in unserer Gesellschaft der Wunschnach politischer Mitbestimmung geblieben? Uns als De-mokraten muss diese Entwicklung beunruhigen; dennvon einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren ledig-lich die politischen Ränder.
Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir die Entwick-lung, welche die ostdeutschen Bundesländer im letztenVierteljahrhundert genommen haben, nicht zerreden undmadig machen. Unsere Aufgabe als Politiker wird esaber künftig immer wieder sein, darzulegen und vor Au-gen zu führen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist,seine Meinung frei zu äußern, frei wählen zu gehen undüber sein Leben selbst und eigenverantwortlich zu be-stimmen. Ein Blick in die übrige Welt, meine Damenund Herren, genügt dafür.
Wir sollten die Menschen immer wieder daran erin-nern, was Unfreiheit bedeutet und wie wichtig geradedie Wahlbeteiligung für den Erhalt unserer Freiheit undDemokratie ist. Das Argument „Mit meiner Stimmekann ich ja eh nichts bewirken“ zählt nicht. Jeder kannsich einbringen, ob in einer Partei, einer Bürgerinitiativeoder einem Verein. Es kommt aber darauf an, mitzuma-chen. Das Mindeste, was man für sein Land tun kann,ist, wählen zu gehen und damit ein ureigenes Bürger-recht, aber auch eine Bürgerpflicht wahrzunehmen.In Gesprächen mit den Menschen in meinem Wahl-kreis merke ich sehr oft, dass es ein sehr feines Gespürfür Gerechtigkeit gibt. Damit meine ich nicht Vertei-lungsgerechtigkeit, Gleichmacherei, sondern Leistungs-gerechtigkeit. Es ist ein Vertrauen in ein Gerechtigkeits-empfinden, das nicht sofort an staatliche Umverteilungdenkt, sondern an diejenigen, die sich anstrengen, selberihr Schicksal in die Hand nehmen und ihren Beitrag inunserer Gesellschaft leisten.
Frau Kollegin.
Ich bin sofort fertig. – Es geht darum, meine Damen
und Herren, dass wir diese Leistung wieder mehr hono-
rieren und unsere Politik daran ausrichten.
Deswegen haben der Tag der Deutschen Einheit und
die Erinnerung an die Geschehnisse dieser Tage für mich
bis heute nichts an Faszination, an Begeisterung, aber
auch an Demut verloren.
Vielen Dank.
Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mein achtjähriger Sohn fragte mich in derletzten Woche: Mama, was ist eigentlich der Tag derDeutschen Einheit? An dieser Stelle wird einem be-wusst: Unseren Kindern – zumal den jungen – ist derGedanke an ein geteiltes Deutschland schon völligfremd. In ihren Köpfen hat nie eine Mauer gestanden.25 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir, habenMenschen in Deutschland vieles erreicht und die Le-bensverhältnisse teilweise angeglichen. Wir dürfen nunnicht zulassen, dass wir durch einen Streit ums Geldneue Mauern in unseren Köpfen aufrichten.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Ost- und Westdeutsch-land in einer sogenannten Gerechtigkeitsdebatte gegen-einander ausgespielt werden. Sie ahnen es: Ich rede überdie Fortentwicklung des Solidarpakts II, der 2019 endet.Aber es gibt auch Städte und Regionen in Ostdeutsch-land, denen es schlecht geht. Genauso gibt es solche inWestdeutschland. Hamburg und München sind trendy,während die hochverschuldeten Städte im Ruhrgebietmit Nothaushalten hantieren und nicht mehr wissen, wiesie Schulen, Straßen, Schwimmbäder und Bibliothekenbezahlen sollen. Ihre Infrastruktur zerfällt im wahrstenSinne des Wortes.Dabei hat das Ruhrgebiet viel erreicht. Aus einer vonKohle und Stahl geprägten Industrieregion ist eine For-schungslandschaft geworden, ein innovativer Wirtschafts-raum, der für junge Hightechfirmen ebenso attraktiv istwie für moderne Logistikbetriebe. Noch 1970 waren60 Prozent aller Beschäftigten im produzierenden Ge-werbe tätig und 40 Prozent im Dienstleistungssektor. Dashat sich komplett gedreht. Ich finde, die Region hat einegroße Leistung vollbracht.
Leider müssen wir jetzt feststellen, dass der Struktur-wandel an Fahrt verloren hat. Die Arbeitslosenquote imRuhrgebiet liegt bei 10,7 Prozent, der Bundesdurchschnittbei 6,5 Prozent. Viele Städte ächzen unter horrenden So-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5379
Sabine Poschmann
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ziallasten. Meine Heimatstadt Dortmund beispielsweisekann ihren Verpflichtungen aus den Einheitslasten nurnoch nachkommen, weil sie seit dem Jahr 2000 dafürKredite aufnimmt. Wenn der Solidarpakt 2019 ausgelau-fen ist, hat Dortmund die Hälfte seiner Zahlungen, rund370 Millionen Euro, über Kredite finanziert.In anderen Städten des Ruhrgebietes ist die Lage nochdramatischer. Oberhausen beispielsweise hat einen Not-haushalt und 2 Milliarden Euro Schulden, mehr als diegesamte Infrastruktur der Stadt wert ist. Dennoch hatOberhausen in den vergangenen 20 Jahren 263 Millio-nen Euro in den Solidarpakt eingespeist, ebenfalls überKredite. Die Arbeitslosenquote in Jena lag im Augustbei 7,2 Prozent; das ist fast westdeutscher Schnitt. InOberhausen lag sie bei 12 Prozent; das ist ostdeutscherSchnitt.Wer soll nun wen fördern? Die Antwort ist: Wir brau-chen kein Fördersystem, das zwischen Ostdeutschlandund Westdeutschland unterscheidet. Wir brauchen einFördersystem, das strukturschwachen Städten und Re-gionen in ganz Deutschland auf die Beine hilft, und dasin gleichem Maße.
Es geht nicht um die Frage Jena oder Dortmund, Bre-men oder Brandenburg, es geht um die Frage, wie wirdie Lebensbedingungen und die Bildungschancen allerMenschen in Deutschland verbessern, unabhängig da-von, wo sie leben.Herzlichen Dank.
Nun hat Kai Wegner für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehrdankbar, zum Stand der deutschen Einheit reden zu dür-fen, exakt 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.Als Berliner bin ich in Spandau gewissermaßen imSchatten dieser Mauer aufgewachsen, dem Symbol derdeutschen Teilung. Niemals werde ich den 9. November1989 vergessen, jene wunderbare, kalte Novembernacht,als Hunderttausende Deutsche von Ost nach West bran-deten, die Kontrollpunkte an der Berliner Mauer über-rannten, sich wildfremde Menschen in die Arme fielenund eine vorweggenommene Wiedervereinigung geradehier in Berlin feierten.Als damals 17-Jähriger konnte ich zusammen mitFreunden am Grenzübergang Invalidenstraße erstmalsden Ostteil meiner Heimatstadt Berlin besuchen. Wirgingen über die Friedrichstraße, sahen Truppen aufmar-schieren, wir erblickten Wasserwerfer, Gewehre. Wirhatten ein ungutes Gefühl, aber die Freude überwog.Schließlich kamen wir zum Brandenburger Tor undmussten dort über das Monstrum Mauer klettern, um zu-rück in den Westteil zu gelangen.In der Nacht des 9. November war noch völlig unge-wiss, wohin die Reise gehen würde. Aber kurz daraufwar klar: Der Geist der Freiheit hat sich durchgesetzt,und das Rad der Geschichte ließ sich nicht mehr zurück-drehen. So habe ich in der Nacht des 9. November eineSternstunde der deutschen Geschichte live miterlebendürfen. Die Bilder und diese Zeit bewegen mich nochheute sehr.Aber, meine Damen und Herren, eine ganze Genera-tion von Deutschen kennt schon aufgrund ihres Lebens-alters den real existierenden Sozialismus, das umfas-sende staatliche Unterdrückungs- und Unrechtssystemnur aus den Geschichtsbüchern. 25 Jahre nach dem Endeder SED-Diktatur verblasst auch in der Erlebnisgenera-tion bei vielen die Erinnerung an den Todesstreifen, andie Staatssicherheit, an die sozialistische Mangelwirt-schaft, an Zwangsarbeit und Zwangsadoptionen.Umso wichtiger ist deshalb eine authentische Gedenk-und Erinnerungskultur. Wir müssen ein Bewusstsein dafürschaffen, dass Werte wie Freiheit und Demokratie, die unsso viel bedeuten, eben nicht selbstverständlich sind, undwir müssen verhindern, dass Ewiggestrige immer wiederdurch abstruse Aufmärsche Geschichte umschreibenoder Geschichtsklitterung betreiben wollen. Meine Da-men und Herren, das dürfen wir nicht durchgehen lassen.
Deshalb ist es gut, dass der Jahresbericht der Bundes-regierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 anherausgehobener Stelle die historischen Leistungen derBürgerrechtler in der damaligen DDR würdigt, die socouragiert für Freiheit, für Demokratie und Menschen-rechte auf die Straße gegangen sind.Aber der Weg zur Wiedervereinigung nach dem Fallder Mauer war alles andere als zwangsläufig. Es be-durfte schon der zupackenden Art, in der KanzlerHelmut Kohl den wehenden Mantel der Geschichte er-griff und auf die Einheit der beiden deutschen Teilstaa-ten drängte. Für diese historischen Verdienste um dieWiedervereinigung, für die zupackende Art, dafür, dasser dieses klares Ziel im Blick hatte, gebührt HelmutKohl, dem Kanzler der Einheit, unser aller Dank.
Die Angleichung der Lebensverhältnisse erwies sichals ein komplizierter und langwieriger Prozess. Immer-hin ging es um die Harmonisierung zweier Gesell-schafts- und Wirtschaftssysteme, die sich mehr als40 Jahre lang wie Feuer und Wasser gegenüberstanden.Vor diesem Hintergrund ist Beachtliches erreicht wor-den: Eine abgeschirmte sozialistische Planwirtschaftwurde in die bewährte soziale Marktwirtschaft über-führt. Die verheerende Umweltverschmutzung wurdebeseitigt. In weiten Teilen der neuen Länder ist moderne
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5380 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Kai Wegner
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Infrastruktur vorhanden. Die Wohnsituation wurdedurchgreifend verbessert.Auch die wirtschaftliche Entwicklung, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, kann sich sehen lassen. Die neuenLänder haben ihre Wirtschaftsleistung seit 1991 verdop-pelt. Sie gehören heute schon zum Mittelfeld Europasund stehen erheblich besser da als alle anderen ehemalssozialistischen Staaten.Die Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern heuteauf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Zur Wahrheitgehört aber auch, dass die Arbeitslosigkeit zwischen Rü-gen und dem Fichtelberg trotzdem noch immer deutlichhöher ist als in den alten Ländern. Wo es keine Perspek-tiven auf Arbeit gibt, zieht die Jugend weg, und ganzeLandstriche drohen zu veröden. Deshalb müssen wir dieWachstumsdynamik, die Innovationskraft und die Inter-nationalisierung der Wirtschaft in den neuen Ländernweiter stärken. Hier haben wir weitere Herausforderun-gen zu bewältigen, aber wir können mit Stolz auf das bli-cken, was wir bis heute erreicht haben, meine Damenund Herren.Die Berliner Mauer als Symbol der deutschen Teilungist vor 25 Jahren gefallen. An ihre Stelle sind heute dasReichstagsgebäude und das Brandenburger Tor als Zei-chen der deutschen Einheit getreten. Aus Berlin, derFrontstadt des Kalten Krieges, wurde die Hauptstadt ei-nes geeinten Deutschlands, das mit sich im Reinen ist,das mit seinen Nachbarn im Frieden lebt, das weltoffenund tolerant ist. Die über Jahrzehnte geteilte Stadt ist zu-sammengewachsen. National wie international ist Berlinheute die anerkannte Hauptstadt Deutschlands.Als politisches und kulturelles Zentrum ist Berlin zu-dem die Visitenkarte unseres Landes. Damit hat Berlineine dienende Funktion für ganz Deutschland, meineDamen und Herren. Diese dienende Funktion als politi-sches und kulturelles Zentrum Deutschlands gilt es wei-ter zu stärken; denn eine gute Entwicklung Berlins stehtsinnbildlich für eine gute Entwicklung Deutschlands.Vor über 20 Jahren führte der Deutsche Bundestag dieHauptstadtdebatte. Damals ging es darum, dass Berlinwieder Hauptstadt Deutschlands wird. Meine Damenund Herren, ich wünsche mir eine zweite Hauptstadtde-batte – nicht mehr über das Ob, sondern über das Wieder Berliner Hauptstadtfunktion. Wie kann Berlin seinerdienenden Funktion für ganz Deutschland noch bessergerecht werden? Wie kann die ganze Republik noch stär-ker von ihrer Hauptstadt profitieren? Was kann Berlinals Hauptstadt für ganz Deutschland leisten? – MeineDamen und Herren, ich glaube, es lohnt sich, darüber zudiskutieren,
es lohnt sich, darüber zu streiten, offen und über die Par-teigrenzen hinweg. Denn ich bin mir ganz sicher: Berlinist bereit, noch mehr Verantwortung für unser gesamteswiedervereinigtes Land zu übernehmen.Meine Damen und Herren, nach der wechselvollenGeschichte des 20. Jahrhunderts sollten wir die EinheitDeutschlands in Frieden und Freiheit als Geschenk be-trachten, über das wir uns nicht nur am 3. Oktober, son-dern an jedem Tag des Jahres von Herzen freuen sollten.Wenn wir heute viel über die Bürgerrechtler desHerbstes 1989 gesprochen haben, sie gewürdigt haben,dann, finde ich, sollten wir an diesem Tag die Männerund Frauen des 17. Juni nicht vergessen.
Die Männer und Frauen des 17. Juni haben den Anfanggemacht, die Männer und Frauen des 17. Juni sind auf-gestanden mit Mut. Sie wurden niedergeknüppelt, er-mordet. Das, was die Männer und Frauen des 17. Junibegonnen haben, wurde am 9. November 1989 endlicherreicht und umgesetzt. Deswegen dürfen wir auch dieseMänner und Frauen nicht vergessen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi-dent! Ich möchte erst einmal etwas zur Einordnung die-ses Ereignisses sagen, das wir in den letzten Tagen ge-feiert haben, insbesondere gestern. Wenn Sie in derGeschichte unseres Landes zurückblättern – Sie können50 Jahre nehmen, Sie können 100 Jahre nehmen, Siekönnen 500 Jahre nehmen – und ein Ereignis suchen, daseine ähnliche Dimension wie dieses hatte, werden Siebei der ganzen Aktion nichts finden.
Sie werden aus dem ganz einfachen Grund nichts finden,weil eine Reihe von Parametern bei zweifellos ganz we-sentlichen Dingen in unserer Geschichte nicht erfüllt wa-ren, nämlich erstens: Es ist bei einem Befreiungsversuchkein Tropfen Blut geflossen. – Das ist ganz wesentlich.Zweitens. Der Befreiungsversuch war anders als bei-spielsweise in der Revolution 1848 erfolgreich. Er hatteErfolg.Drittens. Die Dimension hat alles bisher Dagewesenegesprengt. Sie hat nicht nur Europa verändert, sie hat Be-deutung für die ganze Welt gehabt.Meine Damen und Herren, das ist die Einordnung,das ist die Dimension, über die wir hier reden.Herr Bundestagspräsident, es ist richtig gewesen, wasSie zur Präsenz gestern am Tag in Leipzig gesagt haben.Es wäre aber wahrscheinlich auch nicht falsch gewesen,wenn wir den gestrigen Plenartag hätten ausfallen lassenkönnen und nach Leipzig gefahren wären. Das hättenwir als Deutscher Bundestag vermutlich überlebt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5381
Arnold Vaatz
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Herr Kollege Vaatz, ich teile sofort Ihre Einschät-
zung, dass der Bundestag das überlebt hätte. Mir ist aber
ein entsprechender Antrag nicht erinnerlich.
Das weiß ich. Sie haben dem zweiten Satz, den ich
dazu sagen wollte – das war ein Wort zur Selbstkritik –,
vorgegriffen. Mir ist es auch nicht eingefallen. Also
Schwamm drüber. Es war aber keine Glanzleistung,
meine Damen und Herren. Das müssen wir schon einmal
zugeben.
Jetzt hat sich bei den Vorrednern so viel ereignet, dass
ich mein Manuskript praktisch wegschmeißen kann.
Als Erstes: Herr Bartsch, Sie haben mit großem Pa-
thos eingeklagt, dass es noch keine gleichen Lebensver-
hältnisse zwischen Ost und West gibt, obwohl das in der
Verfassung festgeschrieben ist.
Die Festschreibung in der Verfassung allein nutzt nichts,
denn es bedarf dazu gewisser Grundlagen. Wissen Sie,
wir hätten diese gleichen Lebensverhältnisse zwischen
Ost und West schon längst, wenn es keine SED und
keine DDR gegeben hätte.
Ohne SED und DDR würden sich diese ungleichen Le-
bensverhältnisse nicht so exakt an der ehemaligen
deutsch-deutschen Grenze festmachen.
Herr Bartsch, wir hätten sie möglicherweise schneller,
wenn Sie die 25 Jahre von damals bis heute nicht dazu
genutzt hätten, alles zu unternehmen, um möglichst viel
von den alten Strukturen der DDR zu konservieren, die
alten Besitzstände fortzuschreiben und uns ausschließ-
lich auf konsumtive Ziele auszurichten. Das ist das Pro-
blem.
Sie haben den Wiederaufbau nach Kräften verhindert.
Sie haben gewünscht, dass sich dieses neue Staatswesen
durch Überforderung so stark wie möglich selber schä-
digt, damit Sie immer mit Häme und Spott auf die Dinge
eingehen konnten, die noch nicht erreicht waren.
Das ist Ihre wirkliche Rolle.
Meine Damen und Herren, ich bin im Übrigen wie
Helmut Kohl auch der Auffassung,
dass es damals nicht der Freundlichkeit und der Güte der
Sowjetführung zu verdanken war, dass sie uns gewähren
ließ, sondern in erster Linie ihrer Schwäche. Anderer-
seits ist es aber auch so – das hat auch Helmut Kohl am
19. Dezember vor der Frauenkirche in Dresden ganz
deutlich gesagt –: Ohne den unbedingten Willen zur Ge-
waltlosigkeit und ohne die Tatsache, dass wir damals
Rachegelüste und Ähnliches im Keim erstickt haben
– wir wollten uns ja nicht an jemandem rächen, sondern
aus dieser Situation heraus –, wäre die ganze Sache ver-
mutlich nicht friedlich geblieben. Wenn sie nicht fried-
lich geblieben wäre, dann wäre, glaube ich, eine deut-
sche Wiedervereinigung nicht gelungen; das muss ganz
klar sein.
Jetzt gehe ich einmal kurz auf das ein, was Frau Lazar
und Frau Lemke gesagt haben. Wissen Sie, das Problem
ist folgendes: Sicher haben damals eine Reihe von SED-
Leuten eingelenkt und ihre Genossen gemahnt, dass sie
ihre Waffen nicht auspacken sollen;
aber dafür, dass ein Mensch oder eine Partei nicht mor-
det oder nicht morden lässt, muss man ihm bzw. ihr nicht
danken, sondern das ist selbstverständlich.
Und man muss sich meiner Meinung nach vor Menschen
in Acht nehmen, die Dank dafür einfordern, dass sie
nicht gemordet haben.
Herr Kollege Vaatz, darf die Kollegin Lemke dazu
eine Zwischenfrage stellen?
Selbstverständlich.
Herr Vaatz, können Sie zur Kenntnis nehmen, dassdas überhaupt nicht der Gedanke ist, den ich hier geäu-ßert habe, dass es nicht darum geht, irgendjemandem zudanken, dass er nicht gemordet hat? Ich finde die Unter-stellung, die Sie damit aussprechen, absurd. Was ich be-schrieben habe, ist, dass wir Politiker 25 Jahre nach der
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5382 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Steffi Lemke
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friedlichen Revolution die Aufgabe haben, den Men-schen Einordnungen und Erklärungen anzubieten undvor allem zur deutschen Einheit beizutragen, indem wirzur Versöhnung aufrufen.Ich habe bei mir zu Hause eine Kollegin, die wegenihres Mannes entlassen worden ist. Sie hat gerade imKommunalparlament darum gebeten, die Stasiüberprü-fungen zu beenden. Diese Frau hat unter dem Regimeund dem Unrechtsstaat DDR wirklich schwer gelitten,aber sie sagte, sie wolle verzeihen. Das kann jeder nurindividuell tun. Das ist etwas, was wir hier im DeutschenBundestag nicht tun können. Aber was wir tun können,ist, die Feierlichkeiten in diesem und im nächsten Jahrwirklich zur deutschen Einheit zu nutzen und die Debat-ten, die von beiden Seiten mit schnittfestem Schaum vordem Mund geführt werden und die heute Gott sei Danknur leise angeklungen sind, nach 25 Jahren zu beenden.
Da es ja eine Frage war: Frau Lemke, wenn meine
Äußerungen bei Ihnen diese Klarstellung bewirkt haben,
dann waren sie sehr sinnvoll.
Ein weiterer Punkt, der meines Erachtens ganz wich-
tig ist: Herr Claus, Sie haben vorhin ebenfalls mit großer
Selbstverständlichkeit erklärt, ob Sie aus der Verantwor-
tung für das, was in der DDR im Namen der SED ange-
richtet wurde, entlassen würden, würden Sie bestimmen.
Das ist ein Irrtum. Das bestimmen nicht Sie, sondern das
bestimmt die Geschichte, und das bestimmt das deutsche
Volk in Gestalt seiner Wähler.
– Und die Opfer. Auch das muss ich noch sagen.
Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, nicht
der Meinung, dass wir das damals der Freude und der
Güte der Sowjetführung zu verdanken hatten, sondern
eher ihrer Schwäche. Ich glaube auch heute nicht einen
Augenblick daran, dass unser Befreiungsversuch ge-
glückt wäre, wenn in Moskau damals eine Kraft vom
Kaliber der heutigen russischen Führung das Sagen ge-
habt hätte. Das muss gesagt werden.
Wenn ich mich an die Jahre 1989 und zuvor erinnere,
dann muss ich sagen: Alle Menschen, die in einer ähnli-
chen Lage waren wie wir damals, verdienen heute un-
sere Solidarität und unsere Unterstützung. Insofern
stimme ich Herrn Tiefensee hundertprozentig zu, dass
wir diese Aufgabe haben, und zwar egal, ob die Leute in
Nordkorea, in Kuba oder in der Ukraine leben. Wenn wir
diese Aufgabe nicht annehmen, dann haben wir einen
großen Teil dessen, was wir 1989 erkämpft haben, heute
verspielt. Das darf nicht sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Sa-
che nennen, die bei den vielen Erfolgsmeldungen ein
Stück weit untergegangen ist. Es gibt viele Statistiken.
Die sind toll und zeigen den Aufwuchs von damals. Es
gibt eine Kurve, die hat einen ganz besonderen Knick im
Jahre 1990. Das sagt sehr viel. Wissen Sie, welche
Kurve das ist? Das ist die Kurve der durchschnittlichen
Lebenserwartung. Wenn man es hochrechnet, beträgt der
Anstieg der Lebenserwartung bei Männern 45 Prozent.
Die Lebenserwartung von 65-jährigen Männern ist von
ursprünglich 12 Jahren auf 17,5 Jahre, also um 45 Pro-
zent, angestiegen. Auf diese Weise kann man sagen:
Wenn man dies über alle Generationen hochrechnet, so
sind nach der deutschen Wiedervereinigung den Ost-
deutschen ungefähr eine Milliarde neue Lebensjahre ge-
schenkt worden. Das ist eine ungeheure Sache.
Das Ganze geht einher mit einer Stagnation – das kön-
nen Sie alle überprüfen –, die von 1980 bis 1989 im Os-
ten angehalten hat. In dieser Zeit gab es keine Steigerung
der Lebenserwartung. Ich finde das ganz wichtig, denn
ohne gesteigerte Lebenserwartung sind die anderen gro-
ßen Segnungen überhaupt nicht genießbar. Wenn man tot
ist, ist einem der Lebensstandard egal.
Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wir haben ei-
nen gewaltigen Aufwuchs – ich glaube, hier ziehen wir
mit der Entwicklung in Westdeutschland sehr stark
gleich – im Bereich der Forschung. Dafür möchte ich
Frau Professor Dr. Wanka ganz herzlich danken. Ich
habe gehört, dass Ihre Mutter heute in Rosenfeld bei
Torgau der Debatte zuschaut. Vielleicht freut sie sich
über das Lob genauso wie Sie.
Ich finde das ganz toll.
Lieber Kollege Vaatz, da Sie die Redezeit schon über-
schritten haben, wird es jetzt für Grußadressen an viele
sinnvolle Richtungen nicht mehr reichen.
Ich will Ihre Toleranzschwelle nicht überstrapazieren,aber wenigstens sagen, dass wir im Bereich der For-schung einen ganz tollen Ritt hingelegt haben. Ichnehme an, dass das auch in Zukunft so weitergeht. Un-sere Unterstützung als Fraktion haben Sie jedenfalls.Wenn es so weitergeht, dann machen wir aus unseremKapital, das wir im Kopf haben, tatsächlich früher oder
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5383
Arnold Vaatz
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später etwas, was wir in Händen und auf dem Konto ha-ben.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-nungspunkt.Es fügt sich aufs Schönste, dass sich Frau MinisterinWanka beim nächsten Tagesordnungspunkt prompt fürdie Grüße bedanken kann.Vorher sollten wir aber der interfraktionell vereinbar-ten Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2665an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse fol-gen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen feststellen? – Dasist offenkundig der Fall.Der Entschließungsantrag auf Drucksache 18/2751soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. SindSie auch damit einverstanden? – Es besteht kein Zweifelüber den weiteren Verfahrensgang dieses Textes. Dannist das einvernehmlich so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Grundgesetzes
Drucksache 18/2710Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Katja Dörner, Ekin Deligöz, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKooperationsverbot kippen – Zusammenar-beit von Bund und Ländern für bessere Bil-dung und Wissenschaft ermöglichenDrucksache 18/2747Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsauschussFür die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunktsind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 96 Mi-nuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch,also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Frau Professor Wanka.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Hoch-schulbereich gibt es so viele Kooperationen zwischenBund und Ländern wie noch nie seit Bestehen der Bun-desrepublik Deutschland.
Das war nur möglich, weil 2006 das Grundgesetz geän-dert wurde,
weil 2006 in unser Grundgesetz aufgenommen wurde,dass auch Kooperationen in Vorhaben der Wissenschaftund Forschung einschließlich Vorhaben der Lehre mög-lich sind.
Nun haben wir heute unter anderem einen Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegen. Sie schrei-ben in ihrem Antrag:Im Jahr 2006 hat die letzte Große Koalition das Ko-operationsverbot im Grundgesetz verankert. DieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich damalsdieser fatalen Weichenstellung widersetzt …
Falsch! All die großen Pakte, die wir verabschiedet ha-ben, zum Beispiel der Hochschulpakt, wären ohneGrundgesetzänderung nicht möglich gewesen. Der Qua-litätspakt Lehre wäre nicht möglich ohne die Grundge-setzänderung.
Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung wäre nicht mög-lich ohne die Grundgesetzänderung.
Weil wir eben über den Bericht zum Stand der Deut-schen Einheit gesprochen haben: Der Hochschulpakt2020 ist eine riesige Solidarleistung der westdeutschenBundesländer und der Bundesregierung für die neuenBundesländer. Wir, seitens des Bundes, haben seit sei-nem Inkrafttreten für jeden Studenten Geld gezahlt. Inden alten Bundesländern musste das kofinanziert wer-den, in den neuen nicht; das war entscheidend, damit dieKapazitäten dort nicht abgebaut werden.Man kann noch eine Zahl zum Bericht zum Stand derDeutschen Einheit hinzufügen. In dem Bericht steht,dass im letzten Jahr zum ersten Mal weniger junge Men-schen aus den neuen Bundesländern zum Studieren ab-gewandert sind, als aus den alten Bundesländern zuge-wandert sind. Das wäre ohne den Hochschulpakt niepassiert. Dafür brauchten wir die Grundgesetzänderung.
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5384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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Warum man stolz ist, dass man dagegen war, das ver-stehe ich überhaupt nicht.
Lassen Sie mich einen weiteren Satz aus dem Antragder Grünen zitieren:In der Wissenschaft soll die Kooperation wieder indie Entscheidungsbefugnis von Bund und Länderngelegt werden …Die Situation, die wir durch die Grundgesetzänderunggeschaffen haben, gab es in der BundesrepublikDeutschland vorher noch nie, ganz eindeutig.
Ich bin es einfach leid, diese trivialen Tatsachen jedesMal zu erläutern. Ich habe es mal auf einer Seite zusam-mengefasst: Grundgesetz vor 2006, seit 2006, unser Ge-setzesvorschlag.
Diese Seite kann man sich bei mir abholen. Es bedarfkeiner großen Kommentare. Es ist ganz simpel und ver-ständlich.
Nun ändert man das Grundgesetz nicht alle Tage.Man überlegt sich gut: Ist diese Änderung notwendig?Brauchen wir das? An dieser Stelle wird deutlich: Wirbrauchen das, und zwar nicht, um etwas zu reparieren,sondern um etwas, was gut war, wesentlich besser zumachen.
Frau Wanka, darf der Kollege Mutlu eine Zwischen-
frage stellen?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ja.
Frau Ministerin, ich habe Ihrer Rede von Anfang ansehr genau zugehört.
Sie haben aufgezählt, wie toll das alles war und was Siemit der Grundgesetzänderung in Bezug auf das Koopera-tionsverbot alles erreicht haben.Ich schließe daran meine Frage an: Wenn die Grund-gesetzänderung von 2006, die wir beklagt haben – dashaben Sie richtig zitiert –, richtig war, warum sehen Siedann jetzt überhaupt eine weitere Änderung des Grund-gesetzes hinsichtlich des Hochschulbereichs vor?
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ich habe gerade angesetzt, um das zu erklären. Ichhabe gerade gesagt: Wenn man das Grundgesetz jetzt än-dert, muss man sich das gut überlegen. Es gibt guteGründe, warum wir das Grundgesetz ändern. Es gehtnicht darum, etwas zu korrigieren oder zurückzunehmen,sondern darum, das, was wir 2006 begonnen haben, fort-zuführen. Der Nachteil der 2006 vorgenommenenGrundgesetzänderung, die Bund und Ländern auch inder Lehre eine Zusammenarbeit erlaubt – in der For-schung ist das eh möglich –, ist, dass die Erlaubnis zeit-lich befristet ist, also diese Zusammenarbeit nur tempo-rär möglich ist und nicht institutionell verankert ist.Genau das wird jetzt aber festgeschrieben. Es geht alsokeineswegs um eine Korrektur, um ein Zurücknehmen,
um das Reparieren eines Fehlers, sondern es geht um dasFortführen des Prozesses.
Warum ist uns das so wichtig? Warum wollen wir un-bedingt, dass der Hochschulpakt nicht nur 10 oder15 Jahre läuft? Warum wollen wir die Zusammenarbeitinstitutionell verankern? Weil die Hochschulen dasHerzstück des Wissenschaftssystems sind. Wenn unsereNation ihren Wohlstand halten will, dann müssen wir imBereich von Forschung und Innovationen gut sein. Über-legungen zu diesem Herzstück des Wissenschaftssys-tems sollte nicht nur jedes Bundesland für sich anstellen,sondern wir müssen auch in diesem Bereich langfristigeStrategien entwickeln können, wie sie ja im außeruniver-sitären Bereich bereits möglich sind.
Wir müssen überlegen können: Welche besonderen Qua-lifikationen brauchen wir beispielsweise für das ProjektIndustrie 4.0? Es geht nicht darum, dass der Bund ent-scheidet, ob etwas in Kiel oder in München angesiedeltwird, aber man muss über gemeinsame Zielstellungennachdenken und Wege finden, um die Ziele zu erreichen.Dadurch wird auch die Kooperation der Universitätenund Hochschulen mit den außeruniversitären Einrichtun-gen, die schon heute möglich ist, sehr viel einfacher.Wenn diese Kooperationen viel unkomplizierter sind,schneiden wir auch in allen Rankings besser ab. Dannhaben wir in gewisser Art und Weise vergleichbare, ähn-liche Rahmenbedingungen für die außeruniversitärenEinrichtungen und für die Hochschulen.In dem Gesetzentwurf steht: Einstimmigkeit. Es wirdgesagt, dass das Prinzip der Einstimmigkeit stört, dassdas so nicht sein sollte. In dem Gesetzentwurf geht esnun nicht darum, das föderale Prinzip, gemäß dem dieLänder zuständig sind, zu streichen. Immer wenn das fö-derale Prinzip gilt, benötigen wir ja Einstimmigkeit,auch in der Ministerpräsidentenrunde. Die vorgeseheneGrundgesetzänderung ist eindeutig: Wir wollen nicht,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5385
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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dass alle Länder bei jeder Kleinigkeit zustimmen müs-sen, sondern wir wollen, dass sie mitentscheiden, wennim Schwerpunkt die Hochschulen betroffen sind. Dasheißt, bei Vereinbarungen zwischen einer Hochschuleund einer außeruniversitären Einrichtung müssen nichtalle Bundesländer gefragt werden. Wenn es aber umgrundlegende Sachen geht, zum Beispiel um das Profes-sorinnen-Programm, von dem 180 Hochschulen betrof-fen sind, oder um die Förderung des wissenschaftlichenNachwuchses an Hochschulen, dann brauchen wir dieEinstimmigkeit. Diese Einstimmigkeit haben wir 2006aufgenommen; und sie steht da auch, weil wir das vomGrundgesetz her mussten.Ich denke, gleich wird in einigen Redebeiträgen mehroder wenig höflich gesagt werden: Das ist ja schön. DerWissenschaftsbereich ist der Anfang. Wir wollen dieseMöglichkeiten auch im Bereich Schule,
zwar nicht auf die Schnelle, aber das ist der nächsteSchritt. – Ich sage an der Stelle immer gerne: SchauenSie doch einmal nach Baden-Württemberg. Der Minis-terpräsident von Baden-Württemberg sagt – das hat ermir auch im persönlichen Gespräch immer wieder bestä-tigt –: Im Bereich der Schule gibt es das auf keinen Fall;das geht den Bund nichts an.
Der Ministerpräsident von Hessen sieht das genauso.Meine Argumentation war immer:
Es gibt diesbezüglich keine einheitliche Meinung derBundesländer,
und solange es die nicht gibt, braucht man gar nicht da-rüber zu reden.
– Herr Gehring, wenn Sie so freundlich wären, mich re-den zu lassen.Es kommt noch besser: Wir haben vor kurzem imBundesrat über die BAföG-Novelle, über die wir hiergestern debattiert haben, und über die Grundgesetzände-rung diskutiert. In dieser Diskussion – das ist nachzule-sen – haben Annegret Kramp-Karrenbauer aus demSaarland, Frau Puttrich aus Hessen, Frau Löhrmann, dieVizeministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen,
und Frau Dreyer als Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz gesprochen. Keine einzige dieser Frauen hat ge-sagt: Wir wollen die Grundgesetzänderung auch für denSchulbereich.
Es war eindeutig. Sie haben gesagt: Wir wollen, dass wirauf der Basis dessen, was geht – es geht eine Menge –,Sozialgesetzbuch und anderes, zusammenarbeiten, umdie großen Probleme der Zukunft zu lösen.
Wahrscheinlich bin ich da als ehemalige Landesministe-rin ein bisschen sensibler. Ich verstehe, dass man sichnicht so gerne etwas vorschreiben lässt und man keineBeglückungen aus dem Bundestag bekommen will, dieman selbst nicht will und über die man vorab keine Dis-kussion geführt hat.
Deswegen fand ich diese Bundesratsdiskussion sehr er-staunlich. Ich hätte den einen oder anderen Zwischentonerwartet. Dem war aber nicht so.
Wir brauchen – das ist ganz eindeutig; das sieht derBund auch so – bei den großen Herausforderungen, obnun Inklusion oder anderes, eine Gemeinsamkeit, wirbrauchen gemeinsam abgestimmtes Handeln, aber nichtzwingend eine Grundgesetzänderung. Diese ist nichtnotwendig. Wir wollen auch, dass die Kompetenzen indiesen Bereichen bei den Ländern bleiben.Wir haben jetzt ein Gesamtpaket. Das Paket enthältdie Grundgesetzänderung, über die wir jetzt diskutieren,und – darum ging es hier gestern – die BAföG-Novellemit der Entlastung um 1,2 Milliarden Euro. Dass beidezusammenhängen, ist nicht sachfremd, sondern ist dasErgebnis von Verhandlungen. Im Ergebnis dieser Ver-handlungen waren die Länder und der Bund der Mei-nung, dass es eine gute Situation ist, dass es eine Win-win-Situation ist. Vorgestellt haben wir dies auf einerPressekonferenz. Von den Wissenschaftsministern warzum Beispiel Frau Ahnen dabei und hat das Ergebnissehr gelobt. Sie hat sich sehr über die Möglichkeiten ge-freut, die man jetzt in den Ländern hat.Ich bin auch trotz aller Schwierigkeiten, die uns dasmacht, der Meinung, dass es richtig ist, dass die Verant-wortung dafür, wie man mit den frei werdenden BAföG-Mitteln umgeht, bei den Ländern liegt und dass man vonLand zu Land verschiedene Entscheidungen treffenkann. Denn die Situation in den Bundesländern ist unter-schiedlich. Manche haben in den letzten Jahren ganz viel
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5386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
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in die Hochschulen investiert und Schwierigkeiten imSchulbereich, bei anderen ist es umgekehrt. Deswegenglaube ich – ich erwarte und erhoffe dies –, dass die Mit-tel entsprechend verantwortungsbewusst eingesetzt wer-den.Ich denke, das Gesamtpaket, das wir jetzt haben, istgut. Der Bund stellt in der genannten GrößenordnungMittel für die Studierenden zur Verfügung. Wir habeneine BAföG-Novelle, bei der es nicht nur um Entlastunggeht, sondern in der auch die gestern besprochenenDinge für die Studierenden enthalten sind. Und wir ha-ben diese Grundgesetzänderung. All das wird aus meinerSicht weit über diesen Tag und über diese Legislaturpe-riode hinaus wirken. Gerade mit der Grundgesetzände-rung wird vieles möglich gemacht und wird der Födera-lismus insgesamt moderner und zukunftsfähiger.Darüber freue ich mich.Danke schön.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rosemarie
Hein das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Die Ministerin hat eine von vielen hier imHaus sehr lange erwartete Änderung des Grundgesetzesheute im Bundestag vorgestellt. Frau Ministerin, IhreArgumentation verwundert mich schon etwas. Aber auchich will erst einmal darauf zurückblicken, warum wirüberhaupt in dieser Situation sind.Vor acht Jahren, im Jahre 2006, war im Rahmen derFöderalismusreform beschlossen worden, die Aufgabenvon Bund und Ländern klarer voneinander zu trennen.Die Länder übernahmen damals auf eigenen Wunsch un-ter anderem fast gänzlich die Zuständigkeit im BereichBildung. Eine gemeinsame Finanzierung von wichtigenAufgaben war nahezu nicht mehr möglich, auch wenndie Ministerin heute etwas anderes sagt. Ziel dieser Re-form war, „komplizierte Mischfinanzierungen“ zurück-zudrängen und damit „Blockademöglichkeiten“, sostand es im entsprechenden Entschließungsantrag, zwi-schen Bund und Ländern zu vermeiden. Das klingt ersteinmal ganz logisch, aber zumindest im Bereich der Bil-dung ist das gründlich nach hinten losgegangen. Dennmit dem Verbot gemeinsamer Finanzierungen wurdendie notwendigen Finanzierungsaufgaben in der Bildungin vorher nie gekanntem Maße blockiert und eben nichterleichtert.
Es ist also das Gegenteil von dem eingetreten, was be-absichtigt war. Darum wurden zahlreiche Hilfs-programme erfunden, zum Beispiel die Lernförderunginnerhalb des Bildungs- und Teilhabepaketes, die Be-rufseinstiegsbegleitung, die Bildungsketten oder auchdie energetische Sanierung, damit man im Schulbauüberhaupt etwas machen konnte.
Auch die Pakte muss man wahrscheinlich in diese Reihestellen. Das nennt man Umwegsfinanzierung. Diese Um-wegsfinanzierung macht die Durchschaubarkeit derFinanzströme und der Zuständigkeiten überhaupt nichtleichter, sondern eher verworrener.
Ein Ziel der Föderalismusreform 2006 war auch,mehr auf Wettbewerb zu setzen. Die Kooperation vonBund und Ländern in der Bildung wurde weitgehendaufgekündigt. Dabei darf man nicht nur auf die Hoch-schulen zielen, sondern man muss eben auch auf denRest der Bildungsaufgaben schauen. Liebe Kolleginnenund Kollegen, man kann ja auf allen möglichen Gebieteneinen Wettbewerb ausrufen, aber doch nicht bei derFrage eines besseren Bildungszugangs. Wer Bildungzum Gegenstand von Wettbewerb macht, vergrößert Un-gleichheiten und schafft nicht mehr Gerechtigkeit.
Das kann niemand wollen, dem gleiche Bildungschan-cen in ganz Deutschland wichtig sind.Nach der Grundgesetzänderung von 2006 wurden denLändern jährlich etwa 1 Milliarde Euro für die übertra-genen Aufgaben zur Verfügung gestellt. Wir finden siebis heute in unseren Haushalten. Die haben aber nichtgereicht. Nun reifte seit einigen Jahren, und zwar sehrlangsam, in einigen Ländern die Einsicht, dass man hierein Stück zurück müsse. Deshalb liegt jetzt die Forde-rung nach einer Lockerung des Verbotes vor. Deshalbhaben wir jetzt diese Grundgesetzänderung auf demTisch, aber eben nur für eine bessere Finanzierung imHochschulbereich. Das ist nicht viel. Das ist nicht ein-mal der Spatz in der Hand. Darum können wir das auchnicht gutheißen.
Dass sich aber die Länder in dieser Sache nun über-haupt bewegt haben – das war ja nicht so einfach –, liegtan den klammen Kassen der Länder und Kommunen.Nachdem der Bund 2009 auch noch eine Schulden-bremse eingeführt hat, ist das noch schlimmer geworden.Die Aussichten, Bildung aus eigener Kraft finanzierenzu können, sind immer mehr geschwunden. Da helfeneben die gegenseitigen Eifersüchteleien zwischen Bay-ern und Hamburg und Bremen und Mecklenburg-Vor-pommern und Berlin nicht weiter.
Zudem haben die Strategen von Bund und Ländernoffensichtlich sehr unterschätzt – sie haben sich dabeikräftig verzockt –, wie groß die Aufgabe, die vor unssteht, eigentlich ist, was beispielsweise die wachsendenStudierendenzahlen betrifft. Die sind schneller gewach-sen, als man das vorhergesehen hatte. Das ist ja erfreu-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5387
Dr. Rosemarie Hein
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lich, aber man hat damit nicht gerechnet. Das gilt ge-nauso für viele andere wichtige Herausforderungen, diees derzeit im Bildungsbereich gibt.Doch mit der Grundgesetzänderung, die uns heutevorliegt, werden die notwendigen Aufgaben der Bil-dungsfinanzierung in den kommenden Jahren nicht zustemmen sein, weder inhaltlich noch finanziell. Nun sol-len 1,17 Milliarden Euro mit der vollständigen BAföG-Übernahme durch den Bund an die Länder gegeben wer-den, und zwar jährlich. Doch das Geld ist noch nicht ein-mal in den Kassen, da ist es schon verbraucht. Nicht nurdie Ministerin und die Kolleginnen und Kollegen derKoalition haben ganz eigene und durchaus nicht überein-stimmende Vorstellungen davon, wie denn das Geld ein-gesetzt werden sollte.
Die einen rechnen damit, dass es nur dem Hochschulbe-reich zugutekommt, die anderen wollen eine Aufteilungzwischen Schule und Hochschule. Und die Ministerinhat eben gesagt, die Länder sollen selbst entscheiden,wie sie das halten.
– Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, dass dieverbundene Debatte von Ihnen ausgerufen wurde. Undwir machen das jetzt auch so.
– Mache ich!So will eben Niedersachsen die frühkindliche Bildungstärker ausbauen, Thüringen die Grundschullehrkräftebesser bezahlen, Rheinland-Pfalz in die Inklusion inves-tieren, Sachsen-Anhalt mehr Lehrkräfte einstellen undden Hochschulen das Geld zurückgeben, das sie sonstfür die Haushaltssanierung erbringen müssten. Das Geldist also fest verplant. Und manchmal fließt es eben ein-fach in die Haushaltssanierung, und sei es über den Um-weg der Hochschul- und Personaletats.Ich kann jedoch jedes Land verstehen, das angesichtsder in Aussicht stehenden Finanzspritze jetzt sagt: Ja,wir wollen diese Grundgesetzänderung. – Sie brauchendas Geld nämlich dringend. Und darum waren die kriti-schen Anmerkungen im Bundesrat auch nur leise, abersie waren durchaus hörbar. Und man kann auch diesenachlesen, wenn man das gerne möchte.
Wir brauchen nämlich überall besser ausfinanzierteHochschulen. Wir brauchen überall sanierte Schulen undKitas. Wir brauchen überall Schulsozialarbeit, überallInklusion. Wir brauchen überall eine bessere Kinderbe-treuung,
überall mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte undüberall eine bessere Weiterbildung usf. Und ich glaube,Sie haben keine Ahnung, was das kostet.
Wenn Sie das nämlich alles mit den 1,17 Milliar-den Euro bezahlen wollen, dann wird das eine ziemlicheHungerkur.
Das betrifft sowohl den riesigen Investitionsstau, den esgibt, als auch die regelmäßige auskömmliche Finanzie-rung aller Bildungsbereiche.Natürlich weiß ich, dass einige Länder Angst um ihreZuständigkeiten haben und mauern. Doch die Ländermüssen endlich über den Tellerrand ihrer Landeszustän-digkeit hinausschauen
und Bildung als Gemeinschaftsaufgabe begreifen.
Das nimmt ihnen doch nicht die Verantwortung. Dasschafft ihnen mehr Spielräume. Ich verstehe überhauptnicht, warum ausgerechnet an dieser Stelle, also beischulischer Bildung, bei frühkindlicher Bildung, beiWeiterbildung, die Länder derartig mauern.
Statt Wettbewerb brauchen wir Best Practice. Davonkönnen alle profitieren. Darum haben wir in unseremAntrag, der Ihnen seit Februar dieses Jahres vorliegt, dieEinführung einer solchen Gemeinschaftsaufgabe gefor-dert. Dabei werden wir bleiben.Wir werden das vielleicht noch nicht jetzt, auch ange-sichts der Kürze des parlamentarischen Verfahrens vonnur einem Monat, hinbekommen. Die Debatte, das weißich, hat viel länger gedauert. Es wird vielleicht noch eineWeile dauern. Das Thema wird aber wiederkommen.Aber jetzt ist zu befürchten – auch das kann man im Pro-tokoll des Bundesrates nachlesen –, dass sich einigeLänder mit der Miniänderung zufriedengeben und glau-ben, das Problem sei damit erledigt. Das Problem ist da-mit nicht erledigt. Wir bekommen das wieder auf denTisch. Wir werden die Quittung für unser Handeln be-kommen, und dann reden wir wieder über die Gemein-schaftsaufgabe Bildung.
Als nächster Redner hat der Kollege Hubertus Heildas Wort.
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5388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich kann mir nicht helfen, aber es scheint einZufall zu sein, dass in solchen Debatten immer FrauBulmahn als Vizepräsidentin amtiert.
Sie hat in diesen Debatten durchaus schon das Wort er-griffen und hat dieses Haus – sie hat in vielem auch rechtgehabt – vor manchem Irrtum bewahren wollen. Daraufkomme ich später noch zu sprechen.
Wir reden heute über etwas anderes. Vielleicht redenwir einmal über die einheitliche Auffassung dieses Par-laments darüber, dass es zumindest richtig ist, neueMöglichkeiten der Kooperation im Bereich der Wissen-schaft und der Hochschulen in diesem Land zu schaffen;das bestreitet doch niemand ernsthaft.
Man kann darüber streiten, ob wir mehr Möglichkei-ten brauchen – Sie kennen unsere Auffassung dazu, dazusage ich gleich etwas –, aber wir sind uns einig, dass dasein wesentlicher Schritt ist. Jetzt kann man das als klei-nen oder großen Spatz klassifizieren, was auch immer,Frau Hein; es geht hier aber nicht um die Kategorie.
Vielmehr müssen wir der deutschen Öffentlichkeit klar-machen, warum es gerade in dieser Phase – da hat FrauWanka vollkommen recht – notwendig ist, dass wir jen-seits der Klimmzüge von Projektitis eine dauerhafteForm von Zusammenarbeit für die Hochschullandschaft,das Herzstück des Wissenschaftssystems in unseremLand, auf den Weg bringen.Dafür gibt es ein paar Gründe. Wir haben erlebt – dashaben wir in den vergangenen Jahren mit den Hoch-schulpakten unterstützt –, dass es weiterhin einen großenRun auf die Hochschulen gibt. Die Zahl der Studieren-den ist massiv gestiegen; das war politisch gewollt. Ichsage – das hat gestern auch mein Fraktionsvorsitzendererklärt –: Wir wollen nicht, dass die universitäre Ausbil-dung gegen die berufliche Erstausbildung ausgespieltwird. Aber diese Welle an Studierenden muss von denHochschulen in Deutschland verkraftet werden. Deshalbist es wichtig, dass Bund und Länder gemeinsam dauer-haft, nicht nur in Projekten, zusammenwirken können.Wir brauchen eine Stärkung des Hochschulsystemsund der Wissenschaft, auch in Bezug auf die Forschung.Wir sind wunderbar aufgestellt, was die außeruniversi-täre Forschung in Deutschland betrifft. Aber Bund undLänder müssen in den nächsten Jahren, um internationalmithalten zu können, in der außeruniversitären und ebenin der Hochschulforschung gemeinsam ansetzen können,ohne sich dabei zu verrenken.
Ich glaube, dass diese Form von Kooperation, die wirmit der vorgeschlagenen Grundgesetzänderung ermögli-chen, auch im Interesse der Beschäftigten an den Hoch-schulen ist, nicht nur der Professorinnen und Professo-ren, sondern auch derjenigen, die im wissenschaftlichenMittelbau arbeiten; darauf komme ich noch. Diese Men-schen erleben ja oft, dass diese Form von Kurzatmigkeitund Projektitis dazu führt, dass ihr Arbeitsleben ziemlichungeregelt und befristet ist, wenn Sie verstehen, was ichmeine. Wir werden in dieser Legislaturperiode über dasWissenschaftszeitvertragsgesetz noch einmal zu redenhaben. Wir haben uns vorgenommen, das zu ändern.
Aber genauso wichtig ist es, dass wir die Möglichkeitvon Kooperationen schaffen, damit Aufstiegsmöglich-keiten und Karrierewege für gut ausgebildete Menschen,die wir an den Hochschulen dauerhaft halten wollen,möglich sind. Deshalb ist es ein guter Schritt, dass wirdiese Grundgesetzänderung gemeinsam auf den Weg ge-bracht haben. Frau Ministerin Wanka, Sie haben voll-kommen recht: Mit der Formulierung, die wir gemein-sam für Artikel 91 b Grundgesetz gefunden haben,schaffen wir erstmals für den Wissenschaftsbereich dau-erhafte, verlässliche und institutionelle Fördermöglich-keiten für die Hochschulen. Das ist unbestritten. Das gabes früher nicht, das ist ein großer Fortschritt.
Gleichwohl gibt es in der Koalition – das ist doch garkeine Frage – einen Dissens, den wir aber miteinanderaushalten. Es geht darum – das wissen Sie –, dass wiruns als Sozialdemokraten durchaus gewünscht hätten,das Kooperationsverbot im Bereich der Bildung insge-samt aufzubrechen. Das leugnet niemand hier, das leug-net auch niemand im Bundesrat. Das ist die Positionmeiner Partei und auch vieler in der Union; das wissenwir.Frau Wanka, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,dass im Bundesrat Ministerpräsidentinnen – klugeFrauen – gesprochen haben, mit denen auch wir spre-chen, die persönlich der Meinung sind, dass die Sachemit dem Kooperationsverbot im Bereich der Bildunginsgesamt abgeschafft gehört. Da kann man sich immerwechselseitig vorhalten, wer in der eigenen Partei nochnicht so weit ist; das kennen die Grünen auch; man mussnur einmal nach Stuttgart gucken.
Das alles hilft uns nichts.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5389
Hubertus Heil
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Wir müssen jetzt den Schritt gehen, den wir gemein-sam mit einer Mehrheit im Bundestag und Bundesrat ge-hen können. Es wäre vollkommen falsch, aufgrund die-ses Dissenses, weil einige noch nicht so weit sind, dieWissenschaft in Geiselhaft zu nehmen. Das Gesamtpaketstimmt.Frau Hein, die Verknüpfung ist vollkommen in Ord-nung, dass wir in dieser Woche zugleich darüber reden,dass wir die Länder entlasten, um Spielräume zu schaf-fen, dass wir das BAföG verbessern und dass wir Mög-lichkeiten für den Hochschulbereich schaffen. Das zeigtdie Handlungsfähigkeit dieser Koalition auf Basis derMöglichkeiten, die die Mehrheiten in Bundestag undBundesrat hergeben. Das ist im Interesse von Bildungund Forschung in diesem Land. Deshalb ist es ein guterSchritt.
Ich sage trotzdem noch einmal: Wir wünschen uns fürdie Zukunft mehr, und wir werben auch dafür. FrauBulmahn – das darf ich einmal erwähnen – hat damalsim Rahmen der Föderalismusreform auf einiges hinge-wiesen. Ich bin der Meinung, dass wir zukünftig einenIrrtum aus der Föderalismusreform für den Bereich derBildung korrigieren müssen: Das ist das Kooperations-verbot für den Bildungsbereich und für den Schulbe-reich. Wir müssen um Mehrheiten werben. Denn da hatmein früherer Fraktionsvorsitzender und heutiger Au-ßenminister vollkommen recht gehabt. Das Koopera-tionsverbot im Bereich der Bildung, sagte Frank-WalterSteinmeier am 16. Mai 2013 in diesem Hohen Haus, ist
– ich zitiere – „ein in Verfassungsrecht gegossener Irr-tum, der beseitigt werden muss.“ Wir bleiben dabei: Esist unsere Aufgabe, das miteinander hinzubekommen.
Lassen Sie es uns trotz des Dissenses, den es in derKoalition gibt, darüber reden, was im Hochschulbereichmit der Änderung des Artikel 91 b möglich sein wird.Damit zeigen wir, dass wir trotz verschiedener Meinun-gen an der einen oder anderen Stelle doch tun, was mög-lich ist. Ich möchte hierbei Folgendes ansprechen: Mitdem Weg der dauerhaften Kooperation von Bund undLändern in unserem Wissenschaftssystem, den wir heuteeröffnen, haben wir die Chance, in den nächsten JahrenChancengleichheit, Innovation, Wertschöpfung, auchBeschäftigung zu fördern, und zwar gemeinsam in dennächsten Jahren.Das betrifft – ich habe es vorhin angesprochen –Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs:weniger Befristung, mehr Möglichkeiten für Karriere-wege, dauerhafte und verlässliche Maßnahmen, um Per-sonalinitiativen auf den Weg zu bringen, um Juniorpro-fessoren zu unterstützen und um dem Mittelbautatsächlich den Stellenwert zu geben, der ihm zukommt.Das wäre nicht möglich, wenn wir nur die Möglichkeitfür befristete Projekte hätten. Wir haben durch dieGrundfinanzierung die Möglichkeit, Perspektiven fürden wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. DieMöglichkeit besteht, wir öffnen diese Wege. Ich gebegleichwohl zu: Wir müssen als Koalition noch daran ar-beiten, diese Wege zu gehen.Das betrifft auch die Fortsetzung der Exzellenzinitia-tive. Wir können mit den neuen Möglichkeiten Pla-nungssicherheit schaffen, weil wir Ressourcen im Wis-senschaftssystem verbessern und von kurzfristigenWettbewerben tatsächlich zu dauerhaften Perspektivenim Sinne von Exzellenz in Breite und Spitze kommen.Auch das ist etwas, was diese Koalition sich vorgenom-men hat.Schließlich können wir die immer wichtiger wer-dende Kooperation im Bereich der Forschung zwischenaußeruniversitären und universitären Forschungseinrich-tungen einfacher und besser gestalten, als das mit vielenKlimmzügen in der Vergangenheit der Fall war. Esspricht viel dafür, dass wir diese Wege gehen und auchnutzen. Deshalb handelt es sich um eine gute Grundge-setzänderung.Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren,dass wir sehr stolz sein können auf das, was unser Wis-senschaftssystem heute schon liefert. Wir dürfen nichtzulassen, dass es kaputtgeredet wird. Nehmen wir ein-mal die Verleihung des Nobelpreises im Bereich derChemie an einen Deutschen, der sowohl für ein Max-Planck-Institut arbeitet, also im außeruniversitären Be-reich unterstützt wird, als auch – natürlich – Hochschul-professor ist. Das zeigt, dass wir international gar nichtschlecht aufgestellt sind.Es gibt dennoch neue Herausforderungen. Das Para-digma in der Wissenschaft dieser Tage und Jahre scheintKooperation zu sein: Kooperation zwischen Disziplinen,Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft invielen Bereichen und zwischen Bundesländern. Dasmuss dann aber auch in der Politik zwischen Bund undLändern gelten. Deshalb ermöglichen wir das.Was die Zukunft und unseren Wunsch, den ich vorhinformuliert habe, betrifft, weiter Überzeugungsarbeit fürdie Änderung des Grundgesetzes auch im Bereich derBildung zu leisten, so gilt etwas, was wir aus der Wis-senschaft kennen: Die Zukunft ist offen.
Es ist nicht so, dass alles festgeschrieben ist. Es ist dahergut – auch das ist eine Erkenntnis der Wissenschaft –,dass Menschen lernende Wesen sind.
Sie sind übrigens auch in der Lage, Irrtümer einzugeste-hen. Ich habe es vorhin gesagt: Wir räumen ein, dass wiran dem Irrtum von 2006, den Frank-Walter Steinmeier
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5390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Hubertus Heil
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im Nachhinein beschrieben hat, mitbeteiligt waren – inguter Absicht.
Wir sollten es schaffen, es miteinander hinzubekommen,das zu ändern. Heute ist nicht der Tag, darüber zu reden,wann das möglich ist. Die Überzeugungsarbeit dauertan; ich habe es vorhin beschrieben.Lassen Sie uns heute im Interesse des Wissenschafts-standortes Deutschland, der Hochschulen in diesemLand die Möglichkeiten nutzen. Lassen Sie uns das tun,was heute möglich ist. Die Studierenden werden es unsin Zukunft danken; die Menschen, die an Hochschulenarbeiten, werden es uns danken; dieses Land wird es unsdanken, dass wir die Wissenschaft an den Hochschulenin diesem Land zukunftsfähig gemacht haben. Dazu istdie Grundgesetzänderung ein ganz wesentlicher Schritt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Dörner
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Die letzte Große Koalition hat einenschweren Fehler gemacht. Der eine Teil hat es offen-sichtlich eingesehen, der andere Teil leider noch nicht.Das ist sehr schade.
Das Kooperationsverbot ins Grundgesetz zu schreiben,war ein schwerer Fehler. Frau Ministerin, 2006 wurdenicht die Zusammenarbeit ermöglicht, sondern 2006wurde die Tür dazu weitestgehend zugeschlagen; sie istnur einen ganz kleinen Spalt offen gelassen worden.
Das war ein schwerer Fehler, und diesen schweren Feh-ler muss man korrigieren, und zwar vollständig.
Der Vorschlag im Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,ist leider nur eine halbherzige Korrektur, und deshalbreicht er uns nicht.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin wirklichenttäuscht, dass Union und SPD die riesige Chance, diesie haben, nicht nutzen. Sie haben eine 80-Prozent-Mehrheit im Deutschen Bundestag, und sie haben dieUnterstützung der Opposition dafür, das unsinnige Ko-operationsverbot vollständig zu kippen.
So vernünftig es natürlich ist, dass Bund und Länder imBereich der Hochschulen zukünftig wieder zusammenar-beiten können, so absurd ist es doch, dass diese Zusam-menarbeit im Schulbereich weiter verboten bleiben soll.Deshalb ganz klar unser Appell an SPD und an Union:
Korrigieren Sie den Fehler, und zwar ganz!
Wir alle wollen die besten Bildungsmöglichkeiten fürunsere Kinder. Wir wollen, dass alle Kinder, alle Jugend-lichen in diesem Land ihre Potenziale wirklich voll aus-schöpfen können. Wir wollen gute Bildungsinstitutio-nen, von der Kita über die Schule und die Hochschulebis zur Weiterbildung. Ich bin davon überzeugt: Wirwerden das nur schaffen und können es überhaupt nurschaffen, wenn alle gemeinsam daran arbeiten und auchzusammenarbeiten: Bund, Länder und Kommunen. Siesind gemeinsam in der Pflicht. Sie müssen aber auch aneinem Strang ziehen können.
Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Deshalb istdas Festhalten am Kooperationsverbot in der Bildung einFehler. Da habe tatsächlich auch ich ein Zitat von Frank-Walter Steinmeier, der das schön ausgedrückt hat.
Er hat nämlich nicht nur gesagt, dass es Unsinn ist, son-dern er hat auch gesagt, dass es Blödsinn ist. Beides istrichtig, und deshalb sollte das Kooperationsverbot kom-plett abgeschafft werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn eine Bun-desregierung und ein Deutscher Bundestag zusagen, sichfür die Schulen engagieren zu wollen, ein Ganztags-schulprogramm auflegen zu wollen,
sich dafür engagieren zu wollen, dass es mit der Inklu-sion weitergeht, dass die Inklusion in den Schulenschneller vorankommt,
das dann aber nicht geht, weil man sich selber eineMauer namens Kooperationsverbot vor die Nase gestellthat, dann fasst sich doch eigentlich jeder normaleMensch an den Kopf und denkt: Das darf doch wohl
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Katja Dörner
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nicht wahr sein. – Deshalb sind wir dafür, diesen Zu-stand zu beenden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist schon ge-sagt worden: Das weiß nicht nur die große Mehrheit hierim Bundestag – auch wenn die Mehrheit dem am Endewahrscheinlich nicht zustimmen wird –, sondern daswissen auch viele in den Bundesländern. Gerade deshalbfinde ich die schon angesprochene Kopplung zwischender BAföG-Novelle und der Grundgesetzänderung, diewir heute besprechen, extrem ärgerlich und auch unfair.
Der Bund übernimmt die Kosten für das BAföG nur,wenn die Länder dieser Grundgesetzänderung zustim-men. Die nordrhein-westfälische Schulministerin hat dasals Erpressung bezeichnet,
und es ist eine Erpressung. Diese Bezeichnung dafür istabsolut richtig. Wir erwarten von der Bundesregierung,dass das Junktim zwischen diesen beiden Gesetzge-bungsverfahren aufgehoben wird, damit beide Reform-vorhaben einen sinnvollen und sachlichen Beratungspro-zess durchlaufen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heuteüber eine Grundgesetzänderung. Es ist schon gesagtworden: Das machen wir nicht alle Tage, und das istauch richtig so. Man sollte nicht am Grundgesetz herum-stückeln, sondern man sollte es unmittelbar und direktrichtig machen. Ich möchte unseren Kollegen HerrnRossmann zitieren, der in einem Beitrag in der FR sehrgut formuliert hat: „Nach zwei Schritten zurück mussmehr drin sein als ein Schritt nach vorn.“ Ich finde, mankann das kaum besser sagen.
Man muss aber auch bereit sein, diese Schritte zu gehen.Wir sind es, und wir hoffen, dass sich im Gesetzge-bungsverfahren auch bei Ihnen noch die Bereitschaftdazu zeigt.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Albert
Rupprecht das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Hein, wenn man IhrerRede zuhört und wenn man auch noch glauben würde,was Sie sagen, dann bekäme man Depressionen. Für De-pressionen gibt es aber überhaupt keinen Anlass. Wo ste-hen wir im Jahr 2014? Noch einmal kurz zum Statusquo: Wir sind nicht nur Fußballweltmeister, sondernauch Nobelpreisträger.
Ich sage das in aller Ernsthaftigkeit.Natürlich ist das in erster Linie eine herausragendeLeistung des Wissenschaftlers Stefan Hell. Aber würdederselbe Wissenschaftler im Senegal, in Ägypten oderanderswo arbeiten, wo er nicht die institutionellen Rah-menbedingungen hätte, die er in Deutschland hat, dannwäre das nicht möglich gewesen. Das gehört zur Wahr-heit dazu.Wo stehen wir? Alle anerkannten Innovationsindizessagen: Deutschland steht weltweit auf Platz zwei, dreioder vier, und das bei 194 Staaten. Ich glaube, daraufkönnen wir stolz sein, meine Damen und Herren.
Wir sind für die Wissenschaft wieder hochattraktiv. Inder Max-Planck-Gesellschaft kommen 86 Prozent derPostdocs aus dem Ausland. 31 Prozent der Max-Planck-Direktoren kommen ebenfalls aus dem Ausland. StefanHell – ich habe ihn eben schon erwähnt – hat einen Rufnach Harvard bekommen. Er hat abgelehnt und ist lieberin Deutschland im Max-Planck-Institut geblieben.Das alles sind Aussagen, die zeigen, dass der Wissen-schaftsstandort Deutschland weltweit vorne liegt undhochattraktiv ist.
All das wäre überhaupt nicht möglich gewesen, hättenwir vonseiten des Bundes in den letzten Jahren nichtmassiv Gas gegeben.Das alles sagt den Nichtfachleuten wenig. Dahinterverstecken sich aber Riesenpakete mit Milliardenvolu-mina in historischen Dimensionen wie das Wissen-schaftsfreiheitsgesetz beispielsweise – ein historischerSchritt für die Wissenschaftsszene –, Humboldt-Profes-suren, die Hightech-Strategie, der Spitzencluster-Wett-bewerb, der Pakt für Forschung und Innovation, die Ex-zellenzinitiative usw. usw.All das sind Maßnahmen, die wir vonseiten des Bun-des in den letzten Jahren angestoßen haben. Das zeigtsich auch in den Finanzen, die wir in der Haushaltsde-batte noch einmal ausführlich diskutieren werden. Wir
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Albert Rupprecht
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haben in den zehn Jahren von 2005 bis 2015 im Haushaltfür Forschung und Bildung einen Anstieg um 101 Pro-zent und damit eine Verdoppelung erzielt.
Letzte Frage: Wieso brauchen wir eine Verfassungs-änderung? Wir brauchen sie aus zwei Gründen. Der Kol-lege Heil hat es angesprochen. Der erste Punkt ist: DiePakete, die ich eben genannt hatte, sind teilweise zeitlichbefristet. Die Verfassung erlaubt uns nur die zeitlicheBefristung. Nach den von uns gemachten Erfahrungenwollen wir sie in dauerhafte wettbewerbliche Anreiz-strukturen überführen. Denn wir wollen Nachhaltigkeit.Wir wollen nicht, dass die Wissenschaft es sich be-quem macht. Wir wollen aber auch weg von der Pro-jekteritis. Wir brauchen vielmehr langfristig nachhaltigewettbewerbliche Anreizstrukturen. Wir brauchen dieVerfassungsänderung, um genau das, was wir aufgebauthaben, auch nachhaltig leben zu können.Es gibt einen zweiten Grund: die Besonderheit desdeutschen Systems. Wir haben universitäre und außer-universitäre Forschung. Mit Blick auf die Schanghai-Rankings sage ich in aller Deutlichkeit: Wir sind bei denHochschulen nirgendwo auf absoluten Spitzenplätzen.Das hängt auch mit der deutschen Besonderheit zusam-men. Würden wir die Max-Planck-Gesellschaft mit da-zuzählen oder würde beispielsweise die LMU in Mün-chen gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaftbewertet werden, dann hätten sie sehr wohl einen Spit-zenplatz. Eine solche Zusammenarbeit ist bis dato außer-ordentlich schwierig und nur mithilfe hochkomplizierterRechtskonstruktionen möglich, weil die Hochschulenauf Dauer vom Land und die außeruniversitären Hoch-schuleinrichtungen von Land und Bund finanziert wer-den.
Deswegen ist es in der Tat keine Petitesse, sondern einMeilenstein für die Wissenschaftsarchitektur in diesemLand, dass in Zukunft eine solche Zusammenarbeit aufDauer möglich sein wird.
Zum Begriff der Kooperation. Wir wollen Koopera-tion, und wir leben Kooperation. Wir wollen aber einebestimmte Art von Kooperation. Wir wollen, dass ge-meinsame Ziele formuliert werden, dass Aufgaben zuge-wiesen werden und dass Verantwortung übernommenwird. Jeder soll die Verantwortung für den Bereich über-nehmen, den er gut beherrscht. Was wir nicht wollen, istKooperation, bei der jeder für alles zuständig ist, wasdazu führt, dass am Schluss keiner mehr etwas macht.Das Ergebnis ist dann, dass die Vertreter unserer Par-teien bei Herrn Jauch und Frau Illner sitzen und sagen:Die anderen sind verantwortlich. – Eine solche Koopera-tion führt dazu, dass die Schuld immer anderen zuge-schoben wird. Genau das braucht die Bevölkerung nicht.
Wenn wir Artikel 91 b unserer Verfassung ändern, de-finieren wir genau, was wir wollen. Wir wollen nicht,dass jeder für alles zuständig ist. Der Bund hat Expertiseund Kompetenz, wenn es um die überregionale Bedeu-tung von Bereichen, um internationale Wettbewerbs-fähigkeit und exzellente wissenschaftliche Leistungengeht. Wenn wir die Expertise und die Kompetenz in derKrebsforschung an den verschiedenen StandortenDeutschlands in den Deutschen Zentren der Gesund-heitsforschung zusammenführen wollen, dann macht esSinn, dass sich der Bund engagiert; denn dadurch er-möglichen wir Exzellenz und weltweite Spitzenleistun-gen. Es macht aber keinen Sinn, dass der Bund entschei-det, ob die Universität in Freiburg oder die Universität inRegensburg ausgebaut wird. Das ist nicht unsere Auf-gabe, und darf auch nicht unsere Aufgabe werden. DieWeiterentwicklung der Hochschulen ist Länderaufgabe,weil das vor Ort, also dezentral, wesentlich besser ent-schieden werden kann.
Das Gleiche gilt für die Schulbildung. Schule gelingt,wenn sie dezentral und subsidiär organisiert wird. DieLehrer vor Ort wissen am besten, wie gute Schule funk-tioniert. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass es eine Ver-besserung für das Land darstellt, wenn wir von Berlinaus steuern, weil nur wir angeblich wissen, wie guteSchulen funktionieren? Das würde in keiner Weise eineVerbesserung darstellen.
Ich nenne ein konkretes Beispiel: Der Antrag der Grünenbeinhaltet den Ausbau der Ganztagsschulbetreuung.
Die Situation in meinem Bundesland Bayern sieht wiefolgt aus: Es gibt eine klare politische Aussage, dass dieGanztagsschulbetreuung bedarfsgerecht ausgebaut wird.
Jede Kommune und jede Schule, die Bedarf hat, wirdfinanziert. Es wird in keiner Weise am Geld scheitern.Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob ich in Münchenoder in meinem Heimatort, einer ländlichen Dorfge-meinde im Oberpfälzer Wald, einen solchen Ausbau vor-nehme; denn die Strukturen und damit auch der Bedarfsind vollkommen unterschiedlich. Ich frage seit Mona-ten: Was ist der Mehrwert, wenn der Bund die Rolle desLandes übernimmt? Das hat überhaupt keinen Mehr-wert.
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Albert Rupprecht
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Die Länder können den Bedarf wesentlich besser ermit-teln. Genau das macht Bayern. Deswegen empfehle ichdringend, nicht über Kooperationsverbot oder Koopera-tionsgebot zu schwadronieren, sondern nach konkretenLösungen zu suchen.
Lieber Kollege Gehring, dem Antrag Ihrer Fraktionfehlt jegliche Glaubwürdigkeit. Wenn Sie in der Regie-rung wären, hätten Sie null Chancen, Ihren Antrag um-zusetzen;
denn Ihre Basis, Ihre Landesvertreter und insbesondereIhr Ministerpräsident aus Baden-Württemberg würdenkeinen Zentimeter mit Ihnen mitgehen.
Abschließend: Es gab noch nie so viel Kooperation.60 Prozent der in den Haushalt des BMBF eingestelltenMittel fließen in Kooperationsprojekte. Die Behauptung,es gebe keine Kooperation, ist daher falsch. Die Zahl derKooperationsprojekte ist in den letzten Jahren drama-tisch angewachsen.
Es gibt also Kooperation. Aber sie muss dort stattfinden,wo sie sachlich begründbar und vernünftig ist, also dort,wo es um Exzellenz und internationale Wettbewerbsfä-higkeit geht. Die Länder haben die Aufgabe, dort, wo esum Subsidiarität, Dezentralität und die Nähe zum Men-schen geht, die Probleme zu lösen. In diesem Sinne wer-den wir gemeinsam mit der Regierung Artikel 91 b unse-rer Verfassung ändern. Damit sind wir auf einem gutenWeg.Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne-
rin hat die Kollegin Nicole Gohlke das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Kolleginnen undKollegen! Vor acht Jahren – auch ich hole aus – hatte dieBundesrepublik Besuch von Vernor Muñoz, dem dama-ligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bil-dung. Das Ergebnis seines Abschlussberichtes war eineOhrfeige. Er kritisierte scharf die mangelnde Chancen-gleichheit und die zunehmende Verlagerung von Bil-dungszuständigkeiten auf die Länderebene; denn da-durch, so Muñoz, verliere der Bund zunehmend dieMöglichkeit, eine einheitliche Bildungspolitik und glei-che Chancen im Bundesgebiet zu gewährleisten. Erstellte fest, dass Bildungschancen und Bildungswege inDeutschland stark davon abhängen, wo man geboren ist,welches Schulsystem vor Ort existiert und wie zahlungs-kräftig gerade das jeweilige Bundesland ist. Da hättenbei allen – sogar bei Ihnen von der Union – alle Alarm-glocken läuten müssen.
Stattdessen sind acht Jahre vergangen. Was ist in die-ser Zeit passiert? Der Wettbewerbsföderalismus unterden Ländern wurde weiter verschärft. Als Krönung ha-ben Sie das Kooperationsverbot eingeführt, das Verbotder Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bil-dung, in der Kultur und auch in anderen Bereichen. DasFazit dieser Entwicklung ist ausgewiesenermaßen mise-rabel. Trotzdem weigert sich die Regierung, eine wirkli-che Korrektur vorzunehmen. Für die allgemeine Bil-dung, für die Schulen und Kitas wollen Sie weiterhinkeine Verantwortung übernehmen. Lediglich für dieHochschulen soll eine Finanzierung durch den Bund er-möglicht werden, aber nur – und jetzt kommen die Ein-schränkungen – in Fällen überregionaler Bedeutung undnur dann, wenn alle Bundesländer zustimmen. Ein einzi-ges Bundesland – ich weiß gar nicht, warum ich jetzt aufBayern komme –
kann hier alles blockieren!„Besser als gar nichts“ ist doch jetzt im Kern die Ar-gumentation der SPD.
Ich glaube, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dassSie sich da etwas schönreden; denn der Verdacht, dass esmit dieser Grundgesetzänderung gerade nicht um dieStärkung der Grundfinanzierung aller Hochschulen geht,sondern dass damit eigentlich nur die Lieblingskinderund Eliteprojekte der Regierung gepampert werden sol-len, liegt sehr nahe!
Herr Rupprecht hat es doch gerade bestätigt. Er hat ge-rade genau beschrieben, worin er die Kompetenz desBundes sieht: im internationalen Wettbewerb und in Ex-zellenz. Er hat es gesagt!
Die Exzellenzinitiative läuft 2017 aus, und es ist dochauffällig, dass genau jetzt die Konservativen auf einmalihr Interesse an einer Lockerung des Kooperationsverbotesnur für den Hochschulbereich entdecken. Dass das, wasdie Regierung hier vorlegt, nicht genug ist, sagen Ihnen so-gar Akteure und Institutionen, bei denen es mir wirklichschwerfällt, sie zu zitieren. Auch die Bertelsmann-Stif-
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Nicole Gohlke
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tung, die Robert-Bosch-Stiftung und die Telekom-Stif-tung haben kürzlich das Verantwortungswirrwarr in derBildung bemängelt und kommen zu dem Schluss, dassder Bildungsföderalismus in Deutschland unter systemi-schen Blockaden leidet und die Lockerung des Koopera-tionsverbotes für Einzelfälle im Hochschulbereich nichtausreichend ist. Genau das ist es: Bei diesem Gesetzent-wurf geht es nur um Einzelfälle und eben nicht um dieBreite. Deswegen ist dieser Entwurf auch nicht der Spatzin der Hand, ein Schritt in die richtige Richtung oder et-was Ähnliches. Vielmehr ist es zu wenig und eine fal-sche Entscheidung, sich nur um Elite und Exzellenz inder Hochschule zu kümmern und den Rest außen vor zulassen.
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, falls esIhnen im internen Koalitionsstreit, der Sie derzeit einbisschen umtreibt, gerade entfallen sein sollte: Sie regie-ren gerade. Dann tun Sie das aber auch, und nehmen SieIhre Aufgaben wahr! Zum Beispiel wäre es Ihre Auf-gabe, sich um die Herstellung gleichwertiger Lebensver-hältnisse im gesamten Bundesgebiet zu kümmern, undnicht, aus ideologischer Verbohrtheit den Wettbewerbunter den Bundesländern wichtiger zu nehmen als guteBildung von der Kita bis zur Hochschule.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Dieter
Rossmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Wanka hat eine historische Rückbetrachtung vorge-nommen. Ich will sie so aufnehmen: 1949, zu Beginn derheutigen deutschen Demokratie, gab es nach dem Totali-tarismus so etwas wie einen starken – auch separativen –Föderalismus. Dann gab es die erste Große Koalition.Man hatte – auch bedingt durch gesellschaftliche, öko-nomische und politische Erfordernisse – bemerkt, dassder Staat gestärkt werden muss. Es war 1969 eine großeReformleistung der damaligen Großen Koalition, imRahmen einer staatsorientierten Bildungsreform so et-was wie Hochschulbau, Hochschulsonderprogramme,Bildungsplanung und Bund-Länder-Programme mit nachvorne zu bringen. Dies war ein Modernisierungs- bzw.Innovationsschub. Dann hat es einen Rückschlag gege-ben, und zwar mit der nächsten Großen Koalition undder geteilten Föderalismusreform, die durchaus einigeVorteile hatte, wenn wir an die Sicherheitsarchitekturdenken, aber in Sachen Bildung brüchig wurde.Einige kennen die Historie, aber ich möchte es nocheinmal erklären, Frau Wanka. Es war gut, dass die SPD-Bildungspolitiker ihre Fraktion real erpresst haben undPeter Struck am Ende sagte: Um das Gesamtwerk durch-zubringen, müssen wir die Vorhaben der Wissenschaftim Grundgesetz verankern. Ohne das keine Hochschul-paktprogramme, keine Exzellenzinitiative, keine bessereLehrerbildung und keine Initiativen für bessere Lehre anden Hochschulen. – All das wäre nicht gegangen, wennwir dies damals nicht – wir freuen uns, dass Sie erpresse-rische Sozialdemokraten anerkennen – ermöglicht hät-ten.
Wenn wir die Kette vom separativen Föderalismusüber die stärkere Staatlichkeit hin zur Aufgabenteilungverfolgen, dann sehen wir, dass wir jetzt in eine Phasetreten, in der wir mehr Kooperation brauchen. Das merktman an allen Beiträgen. Wir brauchen mehr Kooperationin Bezug auf das Zusammenwirken der staatlichen Ebe-nen – Bund und Länder –, aber auch mehr Kooperationin Bezug auf das Zusammenwirken der Institutionen, diein einem bestimmten Bereich aktiv sind; hier geht es umden Hochschulbereich.Ich will deshalb das aufnehmen, was auch KollegeRupprecht angesprochen hat. Verfassungsänderungensind nicht auf den Moment bezogen. Das haben wir mitder nachgeschobenen Verfassungsänderung und demKatastrophenartikel 104 b gemacht, als wir das Kon-junkturprogramm anders administrieren wollten und dasauch für den Bereich Bildung und Hochschulen nutzbarmachen wollten.Zu einer Verfassungsänderung muss Weitsicht gehö-ren. Die Weitsicht bezieht sich darauf, dass – anders alsvielleicht noch 1949; die Perspektive ist jetzt 2049 – inder Wissens- und Bildungsgesellschaft sowie der Öko-nomie der Zukunft der Bildungs- und Hochschulbereicheine ganz zentrale Rolle spielen wird. Was zentral ist,muss zentral mit anderen verantwortlich gestaltet wer-den können, und zwar verlässlich und nachhaltig. Des-halb ist es eine gute Entwicklung, dass im Koalitionsver-trag steht, dass der Bund auch in die Grundfinanzierungeinsteigen können soll. Das wird erst durch diese Verfas-sungsänderung ermöglicht. Es ist auch gut, dass wir unsauf neue Formen der Wissenschaftsarchitektur einstel-len.Man muss nicht gleich eine Abscheu vor Exzellenz-initiativen zeigen und Abwehrreflexe mobilisieren. AuchSie von der Linken haben doch bestimmte Vorstellungenüber Modernisierung, Innovation, Wertschöpfung, Pro-duktivität und die Gestaltung verbesserter Lebensbedin-gungen. Deshalb sollten Sie diese Initiativen nicht nurnegativ sehen. Wir brauchen eine veränderte Wissen-schaftsarchitektur.Es ist doch absurd, wenn sich in Karlsruhe die außer-universitäre Forschungseinrichtung und die Universitätförmlich verrenken müssen, um eine Kooperation ab-schließen zu können. Das ist keine Frage von rechts oderlinks, sondern diese Absurdität sehen wir doch alle.
Es ist absurd, dass wir in Berlin exzellente For-schungseinrichtungen, zum Beispiel die Charité, haben,
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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die mit anderen Einrichtungen, die ebenfalls brillanteForschung betreiben, nicht zusammenkommen können.An dieser Stelle Kooperation ermöglichen zu können, istgenauso wichtig, wie darüber nachzudenken, wie einezukünftige Profilierung und Entwicklung im Hochschul-system selber aussehen soll.Es hat einmal jemand ausgerechnet, dass wir in Eu-ropa in einigen Jahrzehnten – das ist gar nicht mehr solange hin – gerade einmal 5 Prozent der Weltbevölke-rung ausmachen. Wenn wir in Deutschland innerhalbdieser 5 Prozent ein Profil entwickeln wollen, dann müs-sen wir ein Zusammenwirken von Wissenschaft undForschung und eine Kooperation von Bund und Länderngewährleisten. Es darf nicht sein, dass der Bund nur ak-zidentell oder kurzfristig eingreift.Das sind Begründungen, die man annehmen kann,aber nicht annehmen muss; aber diese sollten die Grund-lage für Verfassungsänderungen sein, die über den Taghinaus reichen, die Perspektiven ermöglichen sollen.Wir glauben, dass dies eine gute Verfassungsänderungfür den Bereich Hochschule, Wissenschaft und Lehre ist.
Es ist eine Verfassungsänderung, die Spielräume ermög-licht und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir bis-her nicht hatten.Da es an dieser Stelle eine breite Zustimmung auchvon der CDU/CSU gibt, starte ich noch einmal einenVersuch in einem anderen Bereich. Mir kommt nicht ausdem Sinn, was mir einmal eine gute Freundin gesagt hat:Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, musst du es haltzum zweiten Mal versuchen. – Ich versuche es jetzt nocheinmal, Sie auch
für die Bildung zu motivieren, zumal man weiß, dass esauch bei Ihnen einige gibt, die durchaus in diese Rich-tung weiterdenken wollen.Wo ist eigentlich die Plausibilität, wenn wir als Ge-samtstaat in New York die UN-Behindertenrechtskon-vention unterzeichnen, zu Hause aber diesen Impulsnicht aufnehmen können, sondern mit kleinster Münzedarauf achten müssen, wo der Bund im SchlüsselsystemSchule Inklusion fördern darf?Ein Nächstes. Wo ist die Plausibilität, wenn wir imBildungs- und Teilhabepaket eine große Anstrengungunternehmen, um Bildungsarmut zu bekämpfen, wäh-rend alle wissen, dass vieles besser wäre, wenn manstrukturell schulische Institutionen unterstützt hätte, dieviel mehr Wirksamkeit entfalten, wenn man dabei nichtUmwege hätte gehen müssen?Auf die Zukunft gerichtet: Da wir wissen, wie sehr inder Hochschulbildung, aber auch in der Schulbildung dieDigitalisierung zunimmt, ist es dann am Ende plausibel,dass wir eine Zusammenarbeit von der Verfassung herförmlich ausschließen, sodass es Open-Educational-Re-sources-Entwicklungen nur in einzelnen Bundesländerngibt? Kann es nicht notwendig werden, ganz bewusst inBezug auf Schule einen zentralen Bundesimpuls zu set-zen, weil damit die Entwicklung schneller käme und ef-fizienter wäre, weil sie damit auch in größerer Homoge-nität käme, gerade bei diesem neuen Medium? Darüberwerden wir noch diskutieren.Bisher müssen wir darüber noch unter den Restriktio-nen einer Verfassungsbeschränkung, eines Kooperations-verbots in der Verfassung diskutieren, müssen an einesolche Frage mit einem Tabu im Kopf herangehen, stattsozusagen mit offenem Visier auf die zugehen zu kön-nen, die auch an dieser Frage arbeiten und etwas zusam-menbringen wollen.Das ist der Grund, weshalb wir das Kooperationsver-bot als unzureichend, als kurzsichtig ansehen und wes-halb es im Bundesrat – Frau Wanka, wir haben die De-batte sehr genau nachgelesen – sehr wohl auch anderePositionen, klare Positionen, aus sozialdemokratisch undrot-grün regierten Ländern gegeben hat. Ich habe FrauLöhrmann so verstanden, dass sie sich nicht daran ver-kämpfen will – „verkämpfen“ hieße: wir machen garnichts mit; wir anerkennen nicht einmal das, was jetztseitens der Bundesregierung vorgeschlagen wird –, aberweiter kämpfen will.
Das macht eine Differenz, die man auch in der politi-schen Auseinandersetzung souverän respektieren sollte.Nachdem ich vorhin ein bisschen flapsig zitiert habe,will ich jetzt mit Goethe enden – ihn hat auch MaluDreyer im Bundesrat zitiert –: „Nicht Kunst und Wissen-schaft allein, Geduld will bei dem Werke sein.“ Also:Unterstützung, Beifall hoffentlich für den einen großenSchritt, nämlich dafür, dass wir für die Hochschulen, fürdie Wissenschaft in jedweder Hinsicht kooperationsfä-hig werden, und Hoffnung auf und Streiten seitens derLinken, der SPD, der Grünen und all der einsichtigenKollegen bei CDU und CSU für den nächsten großenSchritt!Danke schön.
Als nächster Redner hat der Kollege Kai Gehring das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Große Koalition vergibt mit ihrer Vorlage heute diehistorische Chance, aus einer Verbotsverfassung eine Er-möglichungsverfassung für bessere Wissenschaft undBildung zu machen.
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Kai Gehring
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Die GroKo hat 2006 gegen grünen Widerstand dasProblem „Kooperationsverbot“ in die Verfassung ge-schrieben. 2014 will sie es nur zur Hälfte lösen. MehrKooperation in der Wissenschaft, das ist gut. Bildungbleibt leider außen vor, das ist schlecht. Sie machen da-mit nur halbe Sachen.
Gute Hochschulen stehen immer auf dem Fundamentguter Kitas und Schulen. Es bleibt schlichtweg nichtnachvollziehbar, dass wichtige bildungspolitische Im-pulse und Verbesserungen wie eine neue Bund-Länder-Ganztagsschulinitiative ausgeschlossen bleiben sollen.Das wollen wir mit unserem Antrag ändern.Als Irrweg hat die SPD im Bundestagswahlkampf dasKooperationsverbot bezeichnet – das stimmt –; heuteverteidigen und kritisieren Sie den Koalitionskompro-miss zugleich. Ich sage: Liebe CDU/CSU, als guter Ko-alitionspartner sollten Sie die SPD erlösen. Geben Sieals Union im Bund und in den Ländern den Widerstandgegen mehr Kooperation in der Bildung auf! Sonst istdas 7-Prozent-Ziel nicht zu schaffen.
Eine Grundgesetzänderung muss guten Lösungen denWeg bereiten. Ich sage: Ja, der Vorschlag von MinisterinWanka ist für die Wissenschaft besser als der alte Vor-schlag von Ministerin Schavan.
Aber das geplante Einstimmigkeitsprinzip, wonach alle16 Länder zustimmen müssen, steht einer neuen Koope-rationskultur entgegen.
Statt Blockade und Vetomöglichkeiten in unser Grund-gesetz zu schreiben, sollten die Verfahrensregeln der Ge-meinsamen Wissenschaftskonferenz überlassen bleiben.Es wäre falsch, mit dem Einstimmigkeitsprinzip innova-tive Entscheidungen zu verzögern.
Hochschulen und Forschungseinrichtungen brauchenneue, dauerhafte und gemeinschaftliche Wege in der Fi-nanzierung – dazu sind hier schon viele Beispiele ge-nannt worden –, sonst platzen die Universitäten undFachhochschulen aus allen Nähten. Denn auch in dennächsten Jahren und im nächsten Jahrzehnt hält der Stu-dierendenboom an.Die zeitlich befristeten Wissenschaftspakte – Hoch-schulpakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzel-lenzinitiative; auch der Qualitätspakt Lehre – schaffeneben keine dauerhafte Finanzierungs- und Planungssi-cherheit, vor allem nicht für das wissenschaftliche Per-sonal, das endlich gute Karrierewege statt Befristungs-unwesen braucht. Es bedarf in unserem Land einerOffensive für wissenschaftlichen Nachwuchs und plan-bare Wissenschaftskarrieren.
Leider fehlt der Großen Koalition die gemeinsameIdee, was sie denn überhaupt mit den neuen Koopera-tionsmöglichkeiten in der Wissenschaft anfangen will.Weder für Spitzenforschung mit internationaler Strahl-kraft noch für regionale Strukturpolitik, also weder fürSpitze noch für Breite, haben Sie zusätzliches Geld zurVerfügung. Bildlich gesprochen: Frau Wanka kriegt zum1. Januar 2015 ein neues Rennrad, aber Herr Schäubleschließt es im Fahrradkeller ein.
Von Kooperation, die auf dem Papier steht, hat niemandetwas, nicht die Studierenden, nicht die Wissenschaftlerund auch nicht die Hochschulen.
Wir wollen, dass der Bund dauerhaft Forschung undLehre an Hochschulen mit unterstützen und verbessernkann. Daher ist eine Öffnung der Verfassung für Wissen-schaft überfällig.Die Beratung der Verfassungsänderung ist mit dieserDebatte in die entscheidende Phase getreten. Wir Grünenim Bundestag reichen der Großen Koalition die Hand.An uns scheitert ein großer Wurf nicht. Denn zusammenkönnen wir aus der Verbotsverfassung endlich eine Er-möglichungsverfassung machen, die einer Bildungsre-publik einen klugen Rahmen setzt. Der Artikel 91 bkann mehr.Gesellschaftlich herbeigesehnt werden die vollstän-dige Aufhebung des Kooperationsverbots und eine tief-greifende Modernisierung unseres Bildungsföderalismusjedenfalls schon lange. Deshalb sollten wir das auch tun.Unsere Geduld ist am Ende. Wir wollen mehr Fortschrittfür Bildung und Wissenschaft.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Patricia Lips
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die BAföG-Novelle, die wir gestern debattiert haben,vor allen Dingen auch hinsichtlich der künftig alleinigenZuständigkeit des Bundes, wie auch die Änderung desGrundgesetzes für eine bessere Zusammenarbeit mit denHochschulen sind, auch schon für sich allein genommen,von großer Bedeutung. Beides zusammengenommenentwickelt jedoch ganz neue Möglichkeiten für unser na-tionales Bildungssystem, aber auch – das wurde deutlich
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Patricia Lips
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und ist uns mindestens ebenso wichtig – für die interna-tionale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ergänzen, weiles gestern ein bisschen kritisch anklang: Hier werdenzeitgleich zwei Projekte umgesetzt, die vor allem denjungen Menschen in unserem Land zugutekommen.Mehr als 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs begin-nen heute ein Hochschulstudium – Tendenz steigend.Die Schere zwischen den Förderungen im außeruniversi-tären Bereich und der Hochschulen geht systematischimmer weiter auseinander. Wir wissen das.Bereits seit Jahren steht deshalb zu Recht die Forde-rung im Raum, genau an dieser Stelle mehr zu tun. Dasgeschah ja auch schon. Es wurden bereits mehrfach diegemeinsamen Projekte wie Exzellenzinitiative, Hoch-schulpakt, Qualitätspakt Lehre und Professorinnen-Pro-gramm erwähnt. Sie haben diesen Aufwuchs zunächstgezielt, aber halt auch begrenzt, erfolgreich begleitenkönnen. Dennoch müssen wir die Frage beantworten:Reicht dieses Engagement unter den bisherigen Mög-lichkeiten aus, um heute und in Zukunft im europäischenund internationalen Wettbewerb dauerhaft zu bestehen?Ich gebe Ihnen ja recht: Eine Grundgesetzänderungmacht man nicht einfach so, so lapidar. Aber die Antwortauf diese Frage lautet: Nein.Es bedarf einer Weiterentwicklung. Deshalb strebenwir – dagegen kann ja niemand etwas einwenden – eineErweiterung planbarer und verlässlicher Gestaltungs-möglichkeiten für Hochschulen und Forschungseinrich-tungen an. Dies gilt auch für junge Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler. Damit ist eine Verbesserung derLeistungsfähigkeit und am Ende auch – das wurde heutenoch nicht erwähnt; aber ich sage dies ausdrücklich – eintatsächlicher Mehrwert für das Wissenschaftssystemverbunden. Es ist und kann nicht unser Ziel sein, dassein stetiger Einsatz des Bundes an dieser Stelle künftigzum Ausfall von Anteilen des einen oder anderen Lan-des führt.
Die Basis, um zu diesem Mehrwert zu kommen, stelltdie geplante Grundgesetzänderung dar.Lassen Sie mich noch einmal auf das Stichwort „Ko-operationsverbot“ zurückkommen. Man gewinnt ja inmanchen Diskussionen wirklich den Eindruck, dass inunserem Bildungssystem ein Stoppschild zwischenBund und Ländern steht,
das es aber so nicht gibt. Es wurden bereits einige Bei-spiele wie die Projekte im Hochschulbereich genannt.Aber ich möchte doch auch noch die Milliarden erwäh-nen, die inzwischen seitens des Bundes unabhängig vonMittelaufstockungen für Betriebskosten, Sondervermö-gen und vielem anderen mehr in die frühkindliche Bil-dung, in Kitas und Krippen geflossen sind.
Das ist ein nicht unerheblicher Anteil.Ich möchte als Beispiel auch an das gemeinsame Pro-gramm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zur Verbes-serung der Lehramtsausbildung erinnern und nicht zu-letzt auch an die finanziellen Freiräume, die durch dieKomplettübernahme des BAföG durch den Bund bei denLändern entstehen.
Mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, dass jenach Bundesland ein Großteil des Geldes nicht nur in dieHochschulen, sondern wiederum auch in Kitas fließt,aber auch in viele Bereiche der Schulen.
– Ich möchte jetzt keine Bewertung im Detail vorneh-men, Herr Mutlu. Sie haben nachher noch Zeit, darauf zuantworten. – Aber das kommt doch nicht von ungefähr.Das ist doch jetzt erst möglich geworden: eine verbes-serte Finanzierung des Bildungssystems mit knapp1,2 Milliarden Euro jährlich, über diese Legislaturpe-riode hinaus, aber insgesamt in Länderzuständigkeit.
Ich wollte mit diesen Beispielen nur zeigen: Wir leistenalso bereits einen erheblichen Beitrag über unsere ei-gentliche Zuständigkeit hinaus.Bei allen Forderungen nach einem Mehr an Finanzie-rung: Wir wissen um die Unterschiedlichkeit und Diffe-renziertheit in den Zielsetzungen der Länder. Am Endekann es nicht das Ziel sein, dass der eine das Ziel derReise bestimmt und der andere vielleicht nur und für im-mer die Reisekosten übernimmt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver-ständlich ist Bildung auch eine gemeinschaftliche Auf-gabe; aber jeder an seiner Stelle. Da wird uns hier undheute auch kein Kultusminister widersprechen. Im Ge-genteil: Wir stehen zur Kulturhoheit der Länder und zurföderalen Kompetenzzuordnung.
Dies gilt im Übrigen auch für den heutigen Gesetzent-wurf, der die Überregionalität von Projekten betont undin bestimmten Fällen die Zustimmung aller Länder er-fordert; der Kollege Rupprecht hat es ja angesprochen.Deutschland ist ein großes Land mit teilweise völlig un-terschiedlichen Regionen und damit verbundenen He-rausforderungen. Dies gilt für viele Bereiche, auch fürden weiten Raum der Bildung, vor allen Dingen aber fürden Bereich der frühkindlichen und schulischen Bil-dung. Aus gutem Grund liegen deshalb die Zuständig-keiten der Länder gerade dort, wo sie sich besser ausken-nen, Entscheidungen treffen können und im Übrigenauch wollen.Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Novelle unddie vorgelegte Grundgesetzänderung gehören zusam-men. Sie bieten die Chance, eine Strahlkraft in alle Bil-dungsbereiche hinein zu entfalten, nach innen wie nach
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5398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Patricia Lips
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außen. Sie bieten darüber hinaus Wissenschaft und For-schung ganz neue und verlässliche Perspektiven. Inso-fern ist es eine gute Situation für alle Beteiligten: für denBund und die Länder, für die Hochschulen und For-schungseinrichtungen und vor allem für junge Men-schen, die unser Land mit einer guten Ausbildung nachvorne bringen.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege René Röspel das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eine Vorbemerkung außerhalb des Themas seimir gestattet. Ich finde es richtig, dass auch ein Abgeord-neter die Möglichkeit haben muss, seinen Vaterpflichtennachzukommen. Deswegen bin ich gerne kurzfristig fürSwen Schulz eingesprungen, der jetzt bei seinem kran-ken Kind zu Hause ist. Wir wünschen gute Besserung andieser Stelle.
Jetzt aber zum Thema. Ich bin sehr froh über diesenGesetzentwurf, weil ich glaube, dass wir damit im Be-reich der Hochschulen einen guten und wichtigen Schrittweiterkommen und weil dieser Gesetzentwurf auch an-erkennt, dass die Länder unterschiedliche Voraussetzun-gen und unterschiedliche Bedingungen haben. In denDebatten hört man häufig, dass alle Länder gleich seienund gefälligst die Aufgaben in ihrem Bereich überneh-men sollen. Das hat man nicht nur bei der Debatte überden Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheitheute gemerkt. Das würde vielleicht klappen, wenn dieBundesländer alle gleich wären, so als wenn man die Sa-hara als Wüste in Quadrate aufteilen würde. Dannkönnte man sagen, dass dort die Voraussetzungen allegleich sind. Das kann funktionieren.Es ist im realen Leben aber nicht so. Vielmehr – dasklang auch gerade bei Patricia Lips an – spielt es eineRolle, welche Regionen in einem Bundesland sind.Große Unterschiede bestehen zwischen Großstädten undländlichen Regionen. Wenn ich aus meiner Großstadt imWahlkreis in Richtung ländliche Region gehe, dann ver-ändert sich viel: die Arbeitslosenquote, die Zahl der So-zialhilfeempfänger und der Alleinerziehenden sinkt. Al-les wird anders, in der Regel besser. Deswegen kommtgerade Großstädten eine besondere Bedeutung zu.Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Stadt Hagen.Wir haben zu Beginn des Schuljahres 260 Flüchtlings-kinder ganz schnell in Auffangklassen aufnehmen müs-sen. Es waren Kinder, die häufig gar nicht die deutscheSprache beherrschen, manchmal nur teilweise, mitunterAnalphabeten sind. Die Stadt steht vor der Herausforde-rung, diese Kinder zu integrieren, Schulklassen zu bildenund Lehrer dafür abzustellen. Das klappt mit dem Landzusammen. Aber ich finde, dies ist nicht allein die Auf-gabe von Land und Kommune, dies zu regeln – das balltsich im Ruhrgebiet –, sondern der Bund hat hier aucheine Aufgabe. Deswegen ist diese klare Trennung nichtso einfach.
In den Ländern gibt es nicht nur unterschiedliche Be-lastungen, sondern auch unterschiedliche Verfahrens-weisen. Weil ich gerne nach Bayern in den Urlaub fahre,vergleiche ich immer NRW und Bayern. NRW unter-nimmt besondere Anstrengungen, Menschen zum Abiturzu führen. Die Quote der Studienberechtigten ist fastdoppelt so hoch wie in Bayern. Das liegt nicht an derQualität bayerischer Schüler, aber vielleicht an der Be-sonderheit, dass man in NRW sagt: Wir wollen mehrMenschen zum Abitur bringen. Das ist eine besondereLeistung des Landes. Das spiegelt sich auch in der Zahlder Studierenden pro Einwohner wider. Das habe ichbeim letzten Mal schon gesagt. In NRW liegt sie deutlichhöher als in Bayern oder Sachsen. Das heißt, in NRWstudieren mehr Menschen. Das ist auch gut so. Dannaber zu sagen: „Seht als Land zu, wie ihr das hinbe-kommt“, ist zu kurz gedacht und dient nicht der Sache.
Ich will ein weiteres, sehr eindringliches Beispielnennen, das uns gestern Morgen beim Forschungsfrüh-stück der Helmholtz-Gemeinschaft vorgestellt wurde:„Das Haus der kleinen Forscher“, eine Stiftung mit Mit-teln aus der Helmholtz-Gemeinschaft und privaten Trä-gern, die mehr Mathematik, Informatik und Naturwis-senschaften in die Kindergärten bringen wollen. DerGeschäftsführer hat einen total engagierten, begeistertenund begeisternden Vortrag gehalten. Man merkte, dass erlange Zeit in Ulm bei Manfred Spitzer, einem Neurowis-senschaftler, war, der seit Jahren – wissenschaftlich be-legt – sagt, wie wichtig es ist, im frühkindlichen Bereichmit Bildung anzufangen. Der alte Spruch „Was Häns-chen nicht gelernt hat, lernt Hans nimmermehr“ gilt ei-gentlich auch, wenngleich nicht in dieser Rigidität.Der Geschäftsführer hat gesagt, dass er die Vision hat,dass er in 30 Jahren auf der Tagung der Nobelpreisträgersein wird und dort zwei Nobelpreisträger – am bestenDeutsche – nebeneinander sitzen, die sagen: Mensch, duwarst auch im „Haus der kleinen Forscher“ und hast imKindergarten dieses Interesse für Naturwissenschaftenentdeckt. – Das ist genau der richtige Weg. Der Wegzum Nobelpreis fängt im Kindergarten an und nicht erstin der Hochschule.
Daher ist die Trennung – der Bund ist nur für Hochschu-len zuständig, alles andere müssen Länder und Kommu-nen übernehmen – zu kurzsichtig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5399
René Röspel
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Der Bildungsforscher, der gestern dabei war, hat zweiPunkte der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte he-rausgehoben und gelobt:Der erste Punkt war das Ganztagsschulprogramm, dasdie rot-grüne Bundesregierung 2003 auf den Weg ge-bracht hat.
Ich erinnere mich daran, dass vom rechten Block desHauses die Zwischenrufe kamen: Einheitsschule, Ver-wahranstalt. Es gab große Proteste. Das hat sich alles ge-legt.
In meinem Wahlkreis gibt es 54 Ganztagsgrundschulen.Alle wissen, wie gut es ist, eine vernünftige Ausstattungzu haben, Räume, in denen sich Kinder wohlfühlen, indenen sie auch den Nachmittag verbringen können. Aberdas Problem ist – Edelgard Bulmahn hat das früher ange-sprochen –, die Pädagogik darf nicht vom Bund bezahltwerden. Und das verstehen die Menschen überhauptnicht. Zu sagen, für Nachmittagsunterricht sind wiede-rum die Länder zuständig, das geht an der Lebenswirk-lichkeit der Menschen vorbei.Zum zweiten Beispiel, das gelobt wurde: Bei der Stif-tung „Haus der kleinen Forscher“ geht es darum, frühanzufangen, in Kindern ein Interesse für bestimmte The-men zu wecken. Das Programm soll nun – glücklicher-weise unterstützt durch das BMBF – auf Grundschulenausgeweitet werden. Aber sie dürfen nur nachmittags indie Ganztagsgrundschulen, weil ihre Arbeit durch Bun-desmittel finanziert wird. Deshalb dürfen sie ihre Arbeitnicht mit der der Lehrer koordinieren und schon vormit-tags tätig werden.
Das ist so weit an der Lebenswirklichkeit vorbei – daskann man den Menschen draußen nicht erklären.
Wir sollten uns davor hüten, Politik zu machen, die ander Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigeht.Deswegen muss der nächste Schritt sein, die Möglich-keit zu schaffen, dass der Bund den Ländern in Bil-dungsfragen Angebote machen und auch Finanzhilfe ge-ben kann.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Özcan Mutlu das
Wort.
Frau Präsidentin! Gestatten Sie mir vorweg einenSatz zur Rede von Frau Lips. Liebe Frau Lips, es kanneinfach nicht angehen, dass Sie sich heute hierhin stellenund sagen: „Schaut doch! Viele Gelder aus der BAföG-Reform gehen auch in die frühkindliche Bildung.“ Beider gestrigen BAföG-Debatte haben etliche Ihrer Kolle-gen das Land Niedersachsen dafür kritisiert, dass es ge-nau das getan hat. Das ist ein bisschen billig.
– Ja, ja, natürlich. Lesen Sie das im Protokoll nach.Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Wie heißtes doch so schön? Man erntet, was man sät. Natürlichvorausgesetzt, dass man etwas ernten will.
Wenn ich mir Ihre Bildungspolitik und die Reden heutevergegenwärtige, dann habe ich da so meine Zweifel. Siesäen – um beim Bild des Landwirts zu bleiben – entwe-der überhaupt nicht oder nur spärlich; und wenn Sie et-was säen, dann lassen Sie die eine Hälfte des Ackers un-berührt. – Dieses Bild ist symptomatisch für IhreBildungspolitik, die wider besseres Wissen am Koopera-tionsverbot in der allgemeinen Bildung festhält.
Aber damit nicht genug: Zwischenzeitlich ist es so– wir haben es in mehreren Debatten gehört –, dass Siesich gut 13 Jahre nach dem ersten PISA-Schock gegen-seitig auf die Schulter klopfen, weil wir inzwischen imPISA-Vergleich durchschnittliche Werte erreicht haben.Aber ein Bildungssystem darf sich nicht nur mit Durch-schnitt begnügen. Durchschnitt ist für uns nicht genug.Durchschnitt ist Stagnation, und Stagnation ist kein Er-folg. Deshalb muss das Kooperationsverbot abgeschafftwerden.
Das hat uns auch die jüngste OECD-Studie „Bildungauf einen Blick“ eindrücklich gezeigt: geringste Bil-dungsmobilität, weiterhin bestimmt der Geldbeutel derEltern darüber, wie erfolgreich die Bildung ist oder ebennicht, Bildungsinvestitionen unterhalb des OECD-Durchschnitts. Liebe Kollegen, das ist doch keine Er-folgsstory! Das ist kein Grund, sich auf die Schulter zuklopfen.Wir Grüne waren und sind nach wie vor für Ganztags-schulen. Ganztagsschulen sind aus unserer Sicht Orte,die Kreativität und Innovationsfähigkeit befördern, weilsie an den Potenzialen der Kinder und der Jugendlichenansetzen. Gerade weil sie das tun, können sie zu mehrChancen-, Teilhabe- und Leistungsgerechtigkeit, also– das sage ich in Richtung der SPD – zu mehr Bildungs-gerechtigkeit beitragen.
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5400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Özcan Mutlu
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Deshalb bin ich mit Ihnen einer Meinung: Das Ganztags-schulprogramm der rot-grünen Regierung – an dieserStelle ein Dank an die Präsidentin, die damals in eineranderen Funktion war – ist eine Erfolgsstory, unsere ge-meinsame Erfolgsstory,
und die sollten wir auch fortsetzen. Ich appelliere an die-ser Stelle an Sie, Herr Kollege Heil. Wenden Sie dasStruck’sche Gesetz an: Kein Gesetz verlässt den Bundes-tag, wie es hineinkommt. – Stimmen Sie unserem Antragzu.
Weil immer noch am Kooperationsverbot festgehaltenwird, können wir nicht mehr in Ganztagsschulen inves-tieren. Das gilt insbesondere für das Bildungssystem, daszu einem inklusiven Bildungssystem weiterentwickeltwerden soll. Auch diesbezüglich treten wir auf derStelle. Ich kann nur das wiederholen, was ein Kollegevorhin gesagt hat: Es kann doch nicht sein, dass wir dieUN-Behindertenrechtskonvention ratifizieren – das ha-ben wir vor fünf Jahren hier getan – und in diesem Punktaber immer noch auf der Stelle treten. Wir können alsBund doch nicht sagen: „Das liegt im Zuständigkeitsbe-reich der Länder; Stichwort ‚Länderhoheit‘“, währenddie Länder wiederum sagen: „Barrierefreie Schulen sindAufgabe der Kommunen“, und die Kommunen wiederumsagen: „Wer bestellt, der zahlt.“ – Das Ergebnis ist: Beider Inklusion herrscht Stillstand. Das können wir unsnicht leisten.
Dieses Problem müssen wir angehen. Auch deshalb ge-hört dieses Kooperationsverbot abgeschafft.An dieser Stelle würde ich gerne Frau SylviaLöhrmann, die derzeitige KMK-Präsidentin, zitieren,weil ihr Name und das Land Niedersachsen hier öfter ge-nannt worden sind.
– NRW. Habe ich nicht NRW gesagt? Entschuldigung,ich habe mich versprochen.
– Nordrhein-Westfalen. Liebe Kollegen, ich meinteNordrhein-Westfalen. Ruhig Blut! Da ich nur noch einpaar Sekunden Redezeit habe, bin ich irgendwie unterDruck.
– Gut.Frau Löhrmann hat gesagt: Wir müssen wegkommenvon einem Denken in Zuständigkeiten und hinkommenzu einem Denken in Verantwortlichkeiten.
Sie hat recht. Deshalb sage ich: Das, was Sie hier prakti-zieren, ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Das Fest-halten an dem Kooperationsverbot ist verantwortungs-los. Nutzen Sie die Chance: Nehmen Sie unseren Antragan, korrigieren Sie die Fehler aus der FödKom II. LassenSie uns gemeinsam etwas für die Bildung unserer Kinderund Jugendlichen tun und nicht nur für die universitäreBildung. Das ist wichtig.
Als nächster Redner hat der Kollege Tankred
Schipanski das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das ist heute eine lebhafte Debatte. Wir würden uns na-türlich ein bisschen mehr Sachlichkeit wünschen. HerrMutlu, das wäre fein. Ich hoffe, Frau Meiritz von SpiegelOnline schaut zu. Sie hat neulich kritisiert, die Debattenseien nicht mehr lebhaft und die Geschäftsordnung sei soschwierig. Ich muss sagen: Die Debatte heute ist allesandere als langweilig. Das macht Spaß. Unsere Ministe-rin hat in ihrer Rede von einem Gesamtpaket gespro-chen. Die Grünen dagegen sprechen von einer Junktims-klausel, von Erpressung.
Meine Damen und Herren, dies ist ein Festtag für dieBundesländer. Das ist eine Festtagswoche für die Bun-desländer: Gestern gab es eine Milliardenentlastung beimBAföG, und heute schaffen wir die rechtlichen Grundla-gen, damit sich der Bund dauerhaft und nicht nur tempo-rär an den Kosten für die Hochschulen beteiligen kann.
Das ist wie Ostern und Weihnachten zusammen. Dakann man überhaupt nicht von Erpressung sprechen.Das, was Sie hier machen, ist ganz schlechter politischerStil.Wenn ich nach links, auf die Bundesratsbank, blicke,bin ich aber bitter enttäuscht. Ich möchte unseren Bun-desländern bei der zweiten und dritten Lesung einezweite Chance geben. Ich möchte aber sagen: Ein Wort
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5401
Tankred Schipanski
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des Dankes ist bei so viel Engagement des Bundes fürunsere Bildungsrepublik Deutschland mehr als ange-bracht.
Herr Kollege Schipanski, lassen Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Rossmann zu?
Eine Zwischenfrage? – Aber gerne.
Herr Kollege Schipanski, ich möchte es so in eine
Frage kleiden: Haben Sie Verständnis dafür, dass die
Kultusministerkonferenz langfristig zu planen ist, sodass
sie sich mit den manchmal kurzfristig festgelegten Ta-
gesordnungen des Bundestages nicht so leicht vereinba-
ren lässt? Aktuell findet eine Kultusministerkonferenz
statt, an der CDU-Minister, SPD-Minister und andere
Minister teilnehmen.
Wir sollten deshalb die Erwartung bzw. den Wunsch aus-
drücken, dass, wenn Weihnachten ist, wenn wir diesen
Gesetzentwurf verabschieden, die Bundesratsbank be-
setzt ist.
Lieber Kollege Rossmann, Sie haben es schon gehört:Den Landesregierungen gehören nicht nur Kultusminis-ter an. Es gibt auch Bevollmächtigte beim Bund, die re-gelmäßig an den Sitzungen teilnehmen, wenn wir überinnere Sicherheit und Ähnliches sprechen. Von daherhätte ich die Anwesenheit von Ländervertretern als an-gemessen empfunden. Ich habe gesagt: In der zweitenund dritten Lesung wird es sicherlich die Möglichkeitgeben, das Engagement des Bundes seitens des Bundes-rates zu würdigen.
Das klare Bekenntnis von Politik und Wissenschaftlautet: Die Hochschulen sind das Herzstück unseresWissenschaftssystems. Dieses Herzstück lag bis dato inder alleinigen Verantwortung der Bundesländer. Diesenehmen aus gesamtstaatlicher Sicht ihre Verantwortungnicht vollumfänglich wahr. Daher hilft der Bund seit vie-len Jahren mit ganz besonderen Konstruktionen. DiePakte, die durch die Grundgesetzänderung von 2006 er-möglicht wurden, sind bereits angesprochen worden.Aber auch diese Pakte haben ihre rechtlichen Grenzenerreicht. Wir wollen – das wurde mehrfach angespro-chen – die Auseinanderentwicklung von außeruniversitä-ren Forschungseinrichtungen und Hochschulen aufhalten.Daher liegt heute dieser Gesetzentwurf zur Verfassungs-änderung vor. Es ist ein historischer Gesetzentwurf, überden wir seit 2010 diskutieren, den wir 2011 auf demBundesparteitag der CDU faktisch ein Stückchen voran-gebracht haben, den alle Wissenschaftsorganisationenseit langem gefordert haben und der einen breiten gesell-schaftlichen Konsens aufgreift.Es hat etwas lange gedauert; da hat Herr Gehringdurchaus recht. Man kann aber ohne Goethe sagen: GutDing will Weile haben. Wir haben nun einen Formulie-rungsvorschlag gefunden, der auch den Bundesrat zu-friedenstellt. Erinnern wir uns an die letzte Legislaturpe-riode: Da haben wir einen Änderungsantrag eingebracht,der im Bundesrat aufgehalten, blockiert wurde. Wirbrauchen für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittel-mehrheit bei Bundesrat und Bundestag. Von daher freueich mich, dass der Bundesrat jetzt zustimmt.Das KIT in Karlsruhe wurde angesprochen. Wir ha-ben dort mittlerweile Erfahrungen gesammelt, wie Ko-operationen zwischen Unis und außeruniversitären Ein-richtungen laufen können. Ich finde sehr spannend, wasdie Fraunhofer-Gesellschaft gegenwärtig vorschlägt: re-gionale Leistungszentren, wo sich um die Universitätenherum ein Konzept zur Zusammenarbeit entwickelt. Ichdenke, das ist mit Blick auf Artikel 91 b Grundgesetz eininteressanter Vorschlag. Für uns ist wichtig, dass Hoch-schulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungenauf Augenhöhe verhandeln.
Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes macht es erstmals möglich, dass sich derBund institutionell engagiert. Für uns ist klar, dass wirdas Geld nicht mit der Gießkanne verteilen, sondern dasswir dies – genau so, wie es im Gesetzentwurf steht – angewissen Kriterien festmachen. Die überregionale Be-deutung wurde angesprochen. Es geht um Ausstrah-lungskraft. Dies muss nicht international sein, sondernkann auch national sein. Wir wollen – auch das steht inder Gesetzesbegründung – mit dieser Verfassungsände-rung Exzellenz in Breite und in Spitze verbessern.
– So ist es, Breite und Spitze.Die vorgeschlagene Verfassungsänderung löst keines-falls nur die Hälfte des Problems, wie es von den Grünenformuliert wird.
Es ist auch nicht nur der kleine Finger einer Hand, son-dern wir strecken den Bundesländern die ganze Handentgegen,
um unsere Kooperationskultur zu vertiefen.
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5402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Tankred Schipanski
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Wir modernisieren den Föderalismus, der in sich selbstbereits ein Kooperationsgebot enthält. Daher ist die oftverwendete Vokabel Kooperationsverbot hier falsch.
Wenn man den Populismus hinsichtlich des Schulbe-reichs in dieser Debatte hört, muss man sagen, dass jedesBundesland bereits jetzt die Möglichkeit hat, einheitli-che Schulbücher und einheitliche Lehrpläne einzufüh-ren.
Jedes Bundesland hat die Möglichkeit, Sozialpädagogeneinzustellen, digitale Bildungsangebote zu etablieren,Ganztagsschulen und Horte einzuführen sowie Inklusionzu betreiben. Dafür bedarf es keiner Grundgesetzände-rung.
Leider machen die Bundesländer das nicht; aber das istnicht unsere Aufgabe.Die Länder haben darüber hinaus die Möglichkeit,sich über ihre Landesgrenzen hinweg zu verständigen,welche Standards, welche Prüfungen gelten und welcheBücher in Gesamtdeutschland verwendet werden sollen.Auch dazu bedarf es keiner Grundgesetzänderung. Ichverweise auf die Homepage der Kultusministerkonfe-renz, die ja gerade tagt: Es gibt knapp 150 Vereinbarun-gen zu gemeinsamen Bildungsstandards, Aufgabenpools,Zentralprüfungen und der Anerkennung von Abschlüs-sen. Das sind 150 Vereinbarungen für mehr Vergleich-barkeit und Einheitlichkeit im deutschen Schulwesen.Ich appelliere, diese Vereinbarungen nunmehr in einenverbindlichen Staatsvertrag zwischen den Ländern auf-zunehmen. Somit hätten wir mehr Transparenz, mehrVerbindlichkeit, und wir könnten dem Eindruck einesWirrwarrs, der hier entsteht, ein ganzes Stück entgegen-treten.
Klar ist: Die Defizite in der Zusammenarbeit der Bun-desländer untereinander können nicht mit einer Verfas-sungsänderung behoben werden. Das muss unser Koali-tionspartner anerkennen. Liebe Frau Gohlke, das hatauch nichts mit Ideologie zu tun.
Eine Grundgesetzänderung im Bereich der Schulewird nicht dazu führen, dass es in den Schulen plötzlichiPads regnet oder Schulen renoviert werden.
Wir haben eine klare, ausgewogene und funktionaleAufgabenverteilung in unserem Bundesstaat. Damit ver-bunden sind föderale Finanzbeziehungen. Wir haben,lieber Herr Röspel, auch einen Länderfinanzausgleich,der für genau diese Chancengleichheit in den einzelnenBundesländern sorgen soll.
Die Bundesländer müssen lernen, dass der Bund keinezu melkende Kuh ist, die ausgleicht, wenn man in denLandeshaushalten falsche Schwerpunkte setzt.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – aber es gabja die Zwischenfrage, ohne dass die Uhr gestopptwurde –:
Dem Bund liegt das Gesamtwohl sehr am Herzen. Daherfreuen wir uns auf diese Beratungen. Wir geben denHochschulen mehr Planungssicherheit. Es geht um Inno-vationskraft, um die Leistungsfähigkeit unseres Bildungs-systems. Von daher: Stimmen Sie, liebe Damen und Her-ren der Opposition, diesem Gesetzentwurf zu.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Oliver
Kaczmarek das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ob das jetzt die ganze Hand, der kleine Finger, ein Drit-tel oder wie auch immer ist, ich will es mal so formulie-ren: Zur Kooperation im gesamten Bildungsbereich istdas heute der erste wichtige Schritt. Der Süden der Re-publik – es ist ja nicht nur Herr Kretschmann zu über-zeugen, sondern Herr Spaenle auch noch – braucht nochein bisschen Zeit auf dem Weg der Erkenntnis. Die räu-men wir denen auch ein.Es ist wichtig, dass wir mit dieser geplanten Grundge-setzänderung auch etwas anfangen. Das ist ja hier bereitsin einigen Beiträgen deutlich geworden.
Es stehen einige Entscheidungen an. Der Blick in denKoalitionsvertrag hilft, um zu sehen, was auf der Agendasteht: Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Pakt für For-schung und Innovation, Qualitätspakt Lehre – das sindElemente, die das Wissenschaftssystem strukturell be-einflusst und die internationale Sichtbarkeit Deutsch-lands als Wissenschaftsstandort nach vorne gebracht ha-ben. Diesen Impuls wollen wir inhaltlich und strategischnachhaltig aufgreifen, weiterentwickeln. Das ist die He-rausforderung für diese Wahlperiode.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5403
Oliver Kaczmarek
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Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Grundfinan-zierung der Hochschulen zu verbessern – das steht imKoalitionsvertrag –, die akademische und berufliche Bil-dung besser miteinander zu verzahnen sowie planbareund verlässliche Karrierewege in der Wissenschaft zuschaffen. Deswegen mein Appell an dieser Stelle: DerBund muss seinen Gestaltungsraum, der ihm neu eröff-net wird, umfassend sehen. Exzellenz, damit auch die in-ternationale Sichtbarkeit des Wissenschaftsstandortes,und die Breitenförderung sind für uns untrennbar mit-einander verbunden. Das müssen wir konzeptionell un-termauern.
Meine Damen und Herren, Kooperation bedeutet,dass mindestens zwei gleichrangige Partner auf Augen-höhe miteinander kooperieren. Deswegen möchte ichgerne zwei Anmerkungen zum Föderalismus machen.Die erste ist: Der natürliche Kooperationspartner desBundes – das ist doch banal – in der Bildungspolitik, inder Wissenschaftspolitik sind die Länder. Unser Födera-lismusverständnis unterstreicht auch vor diesem Hinter-grund in Zukunft die grundsätzliche Zuständigkeit derLänder für die Wissenschaft.
Das belegt auch ein Blick in die Zahlen. Die Gesamtaus-gaben – ich habe es bereits an diesem Platz gesagt,möchte es aber wiederholen – für die Hochschulen tra-gen die Länder zu etwa zwei Dritteln, und der Bundleistet einen wichtigen Beitrag von – gesteigert – etwaeinem Achtel. Wir sollten bei unseren Debatten im Deut-schen Bundestag nicht den Eindruck erwecken, als wärees genau umgekehrt. Die Länder haben die Grundzustän-digkeit, und das wird auch so bleiben. Und die leistendamit auch eine ganze Menge.
Eine zweite Anmerkung zum Föderalismus: Die Auf-hebung des Kooperationsverbotes bedeutet eben nichtdie Aufhebung des Subsidiaritätsprinzips. Alles das, wasin den Ländern entschieden werden soll und muss, mussauch dort entschieden werden.
Und wir haben auch die Aufgabe, das zu respektieren.Das betrifft beispielsweise auch die Entscheidung derNiedersächsischen Landesregierung, in die frühkindli-che Bildung zu investieren.
Das ist doch eine Entscheidung – ich lasse jetzt mal bei-seite, dass es weltexklusiv ist, wenn einige hier behaup-ten, vorschulische Bildung habe nichts mit schulischerBildung zu tun –, die der Landtag getroffen hat, weil esoffensichtlich einen Bedarf gibt. Und wir – das ist unserFöderalismusverständnis – haben diese Entscheidung ander Stelle zu akzeptieren.Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, dass dieBundesländer mit der BAföG-Entlastung nicht richtigumgehen können. Gestern ist hier Nordrhein-Westfalengenannt worden. Ich finde, man muss damit redlich um-gehen.
An der Stelle ein Hinweis: Allein für die Ausfinanzie-rung des Hochschulpaktes II – dieses Bundesland trägtallein die Hälfte des Aufwuchses, den die KMK jetztnoch einmal oben draufgelegt hat, weil dort so vieleLeute studieren – werden zwischen 2015 und 20202,4 Milliarden Euro mehr aufgewendet. Die BAföG-Ent-lastung – ich sage dies nur, weil es ganz wichtig ist; ohnedem wäre es nämlich gar nicht möglich, in den Hoch-schulpakt weiter zu investieren, auch was den Hoch-schulpakt III angeht – wird in dem gleichen Zeitraum1,7 Milliarden Euro betragen. Das ist also ein wichtigerBeitrag zur Entlastung der Länder. Aber wir sollten nichtso tun, als wenn die mit dem Geld nicht umgehen könn-ten. Sie investieren genau in diesen Zweck, nämlich indie Verbesserung der Studienbedingungen und der Wis-senschaft.
Deshalb komme ich zu der Schlussfolgerung: WerKooperationen will, der braucht auch eine Kultur derKooperation.
Die drei Hochschulpakte sind ein gutes Beispiel für ge-lungene Kooperation; andere Beispiele sind hier schonangesprochen worden. Aber von diesem Platz soll mirbitte keiner erzählen, dass diejenigen, mit denen wir ko-operieren wollen und müssen, zur Kooperation gar nichtin der Lage oder willens sind. Das entspricht nicht denTatsachen. Wir sollten im Interesse des Parlaments eineandere Tonart einschlagen.
Herr Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rupprecht?
Ja, gerne.
Eine Frage zu stellen, nachdem ich heute schon redenkonnte, ist fast schon unfair, aber diese Sache brennt mirauf den Nägeln.Sie sprechen von einer Kooperationskultur. Ich glaube,zur Kooperation gehört Vertrauen. Es ist doch so: Wir ha-ben aus unserem Haushalt 1,17 Milliarden Euro bereit-gestellt, um 35 Prozent der von den Ländern zu tragen-den BAföG-Kosten zu übernehmen. Wir schultern
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5404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Albert Rupprecht
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diesen Kraftakt. Es gibt eine Vereinbarung zwischen denVertretern von Bund und Ländern, dass diese freiwer-denden Mittel Schulen und Hochschulen zugutekom-men. Wenige Tage später sagt der Ministerpräsident vonNiedersachsen: Diese Vereinbarung interessiert unsnicht, wir investieren das Geld da, wo wir wollen. – Ichmöchte ernsthaft die Frage stellen, ob das vertrauensför-dernd ist.
Ich bitte um Verständnis: Zur Kooperation, zur Zusam-menarbeit gehört Vertrauen. Vertrauen heißt, Vereinba-rungen einzuhalten.
Vertrauen heißt, dass wir darauf vertrauen, dass die
Länder verantwortungsvoll mit dem Geld umgehen.
Wir werden nur dann dagegen protestieren, wenn wir
Grund zu der Annahme haben, dass das nicht der Fall ist.
Ich sage noch einmal: Die Annahme, dass die vorschuli-
sche Bildung nichts mit der schulischen Bildung zu tun
habe, teile ich nicht. Deswegen können wir es einer Lan-
desregierung, die einen offensichtlichen Bedarf auf-
greift, nicht vorwerfen – das wäre absurd –, dass sie in
frühkindliche Bildung investiert. Das halte ich für kei-
nen Beitrag zu einer Kooperationskultur.
Herr Kaczmarek, es gibt den Wunsch nach einer
zweiten Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen
Hubertus Heil.
Gern, natürlich.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist unge-
wöhnlich, sich hier zu Wort zu melden; denn wir beide,
Herr Rupprecht und ich, haben in der Debatte bereits ge-
sprochen. Aber als Niedersachse fühle ich mich doch he-
rausgefordert, etwas dazu zu sagen.
Herr Kaczmarek, könnten Sie dem Kollegen
Rupprecht, unserem geschätzten Koalitionspartner,
bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine Vereinba-
rung zwischen Bund und Ländern gibt, die die Verwen-
dung der Mittel schwerpunktmäßig im Bereich Hoch-
schule und Schule sieht? Das macht Niedersachsen im
Übrigen auch.
Schwerpunkt heißt aber auch: Man kann bei Bedarf
davon abweichen. Da die Vorgängerregierung – das war
eine schwarz-gelbe – zu wenig im Bereich von Kitas ge-
macht hat, gehört das Geld in den Kitabereich.
Der Bildungsbegriff ist umfassend. Die Verwendung
der Mittel auf diese Weise ist rechtlich möglich. Das ist
keine falsche Verwendung der Mittel, was der Fall wäre,
wenn das Geld beispielsweise in den Ausbau von Park-
buchten gesteckt würde. Das Geld geht in Niedersachsen
eins zu eins in die Bildung: in Schule, Hochschule und
Kita. Könnten Sie den Kollegen einfach bitten, dass er
das zur Kenntnis nimmt?
Soweit dies in Form einer Frage geschieht, wird den
Anforderungen Rechnung getragen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für den Hinweis
und werde Ihre Worte bei geeigneter Gelegenheit in ei-
nem Gespräch übermitteln.
Ich will zum Schluss kommen. Ich glaube, wir sollten
verhindern, dass Kooperationen in Zukunft eine Sache
– mit Verlaub, Frau Ministerin – der Staatssekretäre und
Minister auf der Verwaltungsebene werden. Wir sollten
ein Interesse daran haben, dass das Parlament bei zu-
künftigen Kooperationen deutlich mehr mitarbeitet. Des-
wegen brauchen wir inhaltliche Debatten, um diesen
großzügigen Rahmen, den wir geschaffen haben, voll
auszunutzen. Wenn das der Kerngehalt und das Wesen
der Debatten für die Zukunft sind, dann bin ich da sehr
zuversichtlich.
Vielen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Dinges-Dierig das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unter dem Eindruck der gerade geführten Debatte willich Ihnen Folgendes sagen: Ich war vorgestern, am Mitt-wochabend, in Bad Honnef und habe dort an einem Tref-fen von über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern, Funktionären unserer Hochschulen, aber auchaußeruniversitärer Forschungseinrichtungen teilgenom-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5405
Alexandra Dinges-Dierig
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men, bei dem es zu einer sehr heftigen Diskussion kam.Sie war deshalb heftig, weil die Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler nicht wussten, dass ein Vertreter derPolitik im Raum war. Ich war zwar anwesend, irgendwozwischendrin, aber ansonsten waren sie unter sich. Siehaben dann über die Politik hergezogen und gefordert,dass die Politik das einmal zur Kenntnis nehmen sollte.
Auf der einen Seite war es amüsant. Auf der anderenSeite denke ich: Das, was wir hier heute abgeliefert ha-ben, ging ein Stück in diese Richtung. Ich habe das Ge-fühl, dass wir uns vielleicht doch ein bisschen zu viel mituns selber, der Verteilung von Kompetenzen und Verant-wortlichkeiten zwischen Bund und Ländern und nicht sosehr mit dem Kern, nämlich der Zukunft unserer Gesell-schaft und dem Beitrag der Wissenschaft dazu, beschäf-tigen. An dieser Stelle sollten wir die Emotionen hier imSaal ein bisschen runterfahren und sagen: Unser Wissen-schaftssystem, wie wir es heute haben, übt internationalunglaubliche Anziehungskraft aus.
Auch Stefan Hell, der bekanntermaßen gerade denNobelpreis erhalten hat, hat das vor zwei Tagen gesagt.Die Wissenschaftslandschaft in Deutschland wird inter-national nun ganz anders wahrgenommen. Das ist natür-lich ein Verdienst von Bund und Ländern, die einen ge-wissen Rahmen gesetzt haben. In allererster Linie ist esaber ein Verdienst der Wissenschaft selber. Deshalbmöchte ich an der Stelle einfach einmal Danke an dieWissenschaft sagen.
Wir wissen natürlich auch, dass wir nicht stehen blei-ben dürfen. Deshalb diskutieren wir ja auch und fragenuns: Wie könnte es denn weitergehen? Was haben wirfür Erkenntnisse aus den letzten Jahren und Jahrzehntengewonnen? Wir lagen weit zurück. Herr Rossmann, ichglaube, Sie haben Ihre Ausführungen mit einer Rückbe-trachtung auf das Jahr 1969 angefangen.
– 1949 sogar. Entschuldigung. – Wo wollen wir dennnun eigentlich hin, und welche Rolle spielt denn jetzt derArtikel 91 b Grundgesetz in dieser ganzen Ausführung?
Ich möchte vorab an dieser Stelle betonen: Ich selberbin überzeugt vom Föderalismus. Föderalismus bedeutetfür mich auch die Achtung der Entscheidungen derjeni-gen, die Verantwortung tragen. Das sind in dem Fall dieLänder, die hier heute leider nicht vertreten sind; darüberhaben wir aber schon gesprochen. Föderalismus bedeu-tet aber auch: Wir haben eine Chance, um die bestenWege zu ringen und dann voneinander zu lernen. Auchdas haben wir immer getan.Ich weiß, wie schwierig es ist, nach draußen verständ-lich zu machen, warum es eigentlich sinnvoller ist, dassmehrere Länder eine Verantwortung haben, als dass derBund sagt: Da soll es langgehen. – Das ist sehr schwie-rig. Wenn man vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgernspricht – hier greife ich ein Stück weit auf meine Zeit vormeiner Mitgliedschaft im Bundestag zurück –, mussman ihnen deutlich machen, dass nicht allein der Wech-sel der Schule wegen eines Umzugs von einem Bundes-land in ein anderes ein Problem ist, sondern dass jederWechsel einer Schule, auch innerhalb eines Bundeslan-des, nicht unerhebliche Probleme mit sich bringt. Dasliegt daran, dass die handelnden Personen vor Ort dieQualität bestimmen. Die Schulen kennen ihre Kinder vorOrt, und auch die Universitäten und Fachhochschulenwissen, mit welchen Studierenden sie es zu tun habenund mit welchem Lehrpersonal die größten Chancen be-stehen, das Beste aus ihnen herauszuholen. Deshalb un-terstütze ich die föderale Grundordnung hundertprozen-tig.
Frau Dinges-Dierig, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Gehring zu?
Ja, gerne.
Nachdem wir eben Zeuge öffentlicher Verhandlungen
innerhalb der Koalition über die Interpretation einer
Bund-Länder-Vereinbarung in Bezug auf das Bildungs-
und Wissenschaftspaket wurden und Sie für die Unions-
fraktion gerade ausgeführt haben, dass Sie unseren Fö-
deralismus sinnvoll finden und die Entscheidungen der
Länder achten, möchte ich Sie fragen: Achtet denn die
Unionsfraktion die Handlungsfreiheit der 16 Bundeslän-
der, die auf der Basis der gemeinsamen Vereinbarung
zum 6-plus-3-Milliarden-Paket jetzt 16 individuelle Bil-
dungs- und Wissenschaftspakete schnüren und genau
von dieser Freiheit, die die Vereinbarung lässt, Gebrauch
machen? Es wäre am Ende einer solchen Debatte sicher-
lich eine spannende und wichtige Klarstellung gegen-
über den Ländern, die, wie Sie gerade betont haben, im
Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung Handlungsfrei-
heit haben und diese jetzt 16-mal ausüben.
Herr Gehring, ich sage hier ganz deutlich, dass ich dieEntscheidungen der Länder respektiere, sofern sie sichan Vereinbarungen, und zwar Vereinbarungen im Sinnedes ehrbaren Kaufmanns – nicht im Sinne eines Staats-vertrags –, halten.
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5406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Alexandra Dinges-Dierig
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Meine Damen und Herren, die grundlegende Verant-wortung für die Hochschulen haben die Länder, und daswird und soll auch so bleiben; das hatte ich eben ausge-führt. Es stellt sich aber jetzt die Frage, in welchen Wis-senschaftsbereichen wir durch eine Veränderung desArtikels 91 b Grundgesetz noch mehr und stärker koope-rieren können als bisher. Was bringt uns das für Vorteile?Ich sage ganz klar: Wenn wir auf die Herausforderun-gen der Zukunft eine Antwort haben wollen und wennwir dabei Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit– das Thema hatten wir neulich im Ausschuss – berück-sichtigen wollen, das heißt, wenn wir der Gesellschaftvon morgen etwas hinterlassen wollen, worauf sie auf-bauen kann, dann brauchen wir einerseits eine verlässli-che Grundfinanzierung durch die Länder und andererseitseine stetige Zusammenarbeit von Bund und Ländern inausgewählten Bereichen. Das halte ich für sehr wichtig.Deshalb appelliere ich ganz deutlich an die Länder, ihrerVerantwortung gerecht zu werden und nicht – das be-fürchte ich ein bisschen – zu denken, sie könnten aufgrundder erweiterten Bund-Länder-Zusammenarbeit vielleichtan der einen oder anderen Stelle bei der Grundfinanzie-rung sparen. Das darf nicht passieren. Die Zusammenar-beit bedeutet ein Plus und kein Substitut.
Ich möchte noch einmal auf die Tagung zurückkom-men. Es ging dort schwerpunktmäßig um die Exzellenz-initiative und deren Zukunft. Ich glaube, es ist wichtig,einmal zu erkennen, was durch die Kooperation eigent-lich erreicht worden ist. Deshalb ärgere ich mich immerüber den Begriff „Kooperationsverbot“;
denn das gab es ja gar nicht.
Die Kooperation der vergangenen Jahre hat zu einemParadigmenwechsel im Wissenschaftsbereich geführt.Wir haben eine Dynamik im Wissenschaftsbereich, dieuns niemand vorausgesagt hat. Kanada und die USA ha-ben vor 15 Jahren noch nicht einmal mit dem linkenAuge geblinzelt, wenn es um den WissenschaftsstandortDeutschland ging. Heute lädt Kanada Deutschland ein,um uns zu fragen: Wie macht ihr das eigentlich? Washabt ihr in den letzten zehn Jahren gemacht? Ihr seidganz oben. – Kanada wird demnächst sogar unsere Ex-zellenzinitiative in den wichtigen Linien übernehmen.
Wir haben in diesem Bereich drei ganz wichtigePunkte: Wir haben die Nachwuchsförderung – ohne diebesten Köpfe geht es nicht –, wir haben die Kooperationzwischen den Wissenschaftseinrichtungen, und zwarsowohl zwischen Hochschulen und außeruniversitärenEinrichtungen als auch zwischen Hochschulen undFachhochschulen, und wir haben veränderte Hochschul-strukturen. Genau da können wir jetzt Entwicklungenverstetigen, und dazu leisten wir mit der Änderung desArtikels 91 b unseren Beitrag.Exzellente Forschung schafft auch exzellente Lehre;das ist ganz wichtig. Exzellente Forschung und exzel-lente Lehre motivieren junge Menschen, diesen Weg zugehen. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir hierweitermachen. Nur dort haben wir die gut ausgebildetenKöpfe, die wir morgen brauchen, in Ergänzung zu unse-rem hervorragenden Berufsbildungssystem.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Die Änderung des Artikels 91 b Grundgesetz wird uns– davon bin ich fest überzeugt – die für die Hochschulenund damit für die Gesellschaft entscheidenden Zukunfts-fragen im gemeinsamen Ringen besser beantworten las-sen. Deshalb begrüße ich die neue Formulierung für denHochschulbereich sehr. Ich bin auch fest davon über-zeugt, dass die deutsche Forschungslandschaft das ge-nauso sieht wie wir.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe diesewirklich spannende Debatte. Es ist doch sehr schön,wenn man feststellt, dass Entscheidungen, die manchmalhoch strittig durchgesetzt werden mussten, anschließendvon vielen für gut gehalten werden.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 18/2710 und 18/2747 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenLay, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEGesetzliche Deckelung und Veröffentlichungder Zinssätze für Dispo- und Überziehungs-krediteDrucksache 18/2741Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-cherschutz
– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBegrenzung und Vereinheitlichung derZinssätze für Dispo- und Überziehungs-kredite– zu dem Antrag der Abgeordneten NicoleMaisch, Renate Künast, Luise Amtsberg,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBegrenzung von Dispositions- und Über-ziehungszinsenDrucksachen 18/807, 18/1342, 18/2777
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5407
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Ich weise noch einmal darauf hin, dass nach einer in-terfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 38 Mi-nuten vorgesehen sind, und frage die Kolleginnen undKollegen, ob es dazu Widerspruch gibt. – Das ist nichtder Fall. Dann ist das so beschlossen.Die Kolleginnen und Kollegen haben inzwischen ihrePlätze eingenommen. Dann kann ich die Aussprache er-öffnen. Ich erteile als erster Rednerin der Kollegin CarenLay das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zum wiederholten Male beschäftigt sich dasHohe Haus mit einem Antrag der Linken, der zum Ge-genstand hat, dass Dispozinsen endlich gedeckelt wer-den sollen. Ich sage bewusst: zum wiederholten Male.Die CDU/CSU-Fraktion war in der Ausschusssitzungdiese Woche so freundlich, das nachzurechnen. In derTat, der erste linke Antrag zu diesem Thema wurdeschon vor fünf Jahren eingebracht. Das wurde uns nichtnur vorgerechnet, sondern auch ein Stück weit vorge-worfen. Diesen Vorwurf kann ich aber nicht verstehen.Denn an dem Problem hat sich nichts geändert. Ich darfIhnen versprechen, dass die Linke dort, wo Probleme be-stehen, dranbleiben wird und wir das Thema Deckelungder Dispozinsen immer wieder auf die Tagesordnungsetzen werden.
Das Problem ist in der Tat seit langem bekannt. DieDispozinsen sind viel zu hoch. Wir haben nach wie vordie Situation, dass sich die Banken ihr Geld zu einemhistorisch niedrigen Leitzins bei der Europäischen Zen-tralbank leihen können. Dort liegt der Leitzins geradeeinmal bei 0,05 Prozent. Aber sie verleihen es weiter zueinem durchschnittlichen Dispozinssatz von 10,65 Pro-zent. Dazwischen liegt eine Spanne von über 10 Prozent-punkten, wodurch sich die Banken auf Kosten der Ver-braucherinnen und Verbraucher bereichern. Das ist zuviel. Das ist kein fairer Preis, und das können wir alsLinke nicht akzeptieren.
In der Analyse bestand zumindest am Ende der letz-ten Legislaturperiode kurz vor dem Wahlkampf in die-sem Hohen Haus Einigkeit. Ich bin sehr gespannt, ob wiruns wenigstens noch in der Analyse einig sind. Bisherbestand die Differenz in der Frage, wie wir mit dem Pro-blem umgehen. Insbesondere die CDU/CSU, aber auchdie FDP haben die Position vertreten, noch einmal mitden Banken zu reden. Die Ministerin hat damals dieBanken zu Kamingesprächen eingeladen und es ansons-ten bei freundlichen Appellen belassen. Alle diesefreundlichen Appelle haben nichts genützt. Deswegensagen wir: Die Politik muss endlich handeln. Wir brau-chen einen gesetzlichen Deckel für die Dispozinsen.
Unser Vorschlag ist eine Deckelung auf 5 Prozent-punkte über dem Leitzins der Europäischen Zentralbank.Daran würden die Banken immer noch genug verdienen,aber bei fairen Preisen für die Verbraucherinnen undVerbraucher.Deswegen möchte ich mich gerne im zweiten Teilmeiner Rede mit Ihren Einwänden beschäftigen, die si-cherlich gleich kommen werden. Erstens wird mit Hin-weis darauf, dass man keine Preisvorschriften machenkann, infrage gestellt, ob man überhaupt eine gesetzlicheDeckelung einführen kann. Ja, meine Damen und Her-ren, das kann man. Eine vergleichbare gesetzliche Vor-schrift gibt es bereits bei den Verzugszinsen. Daran ha-ben wir uns orientiert. Der Deckel liegt ebenfalls bei5 Prozentpunkten. Deswegen sagen wir: Was beim Ver-zugszins gesetzlich möglich ist, das muss auch beimDispo möglich sein.
Zweitens wird gerne auf den Markt verwiesen und ge-sagt, man solle die Verbraucherinnen und Verbrauchernicht bevormunden; das könne der Markt regeln, und je-der könne sich doch eine andere Bank suchen. Davonabgesehen, dass die Höhe des Dispozinses nicht das ein-zige Kriterium bei der Auswahl der Bank ist – es gehtschließlich auch um ein gutes Filialnetz oder eine wohn-ortnahe Beratungsmöglichkeit –, empfehle ich Ihnen,diesen Test in Ihrem eigenen Wahlkreis durchzuführen.Ich habe das gemacht und mir den Landkreis Bautzenangesehen. Sie finden keine Filialbank, die einen Dispo-zins von unter 10 Prozent anbietet. Deswegen ist diesesArgument eine Illusion. Es läuft ins Leere.
Das verschärft sich mit Blick darauf, welche Klientelzum Großteil betroffen ist. Das sind diejenigen Men-schen, die keine andere Chance haben, die vielleicht kei-nen Ratenkredit kriegen oder aus einer ökonomischenNotlage heraus gezwungen sind, einen Dispokredit auf-zunehmen. Wenn jemand schon knietief im Dispo steckt,ist es illusorisch, zu sagen: Such dir doch eine andereBank! – Bei welcher anderen Bank kann man in dieserSituation ein Konto eröffnen? Diese Argumentation istnicht tragfähig.
Das, was im Koalitionsvertrag steht, und das, wasvonseiten des Ministers angekündigt wurde, nämlichdass man Transparenz herstellt und dafür sorgen will,dass die Banken ausweisen, wie hoch die Dispozinsensind, kann man durchaus machen. Aber solange keineniedrigeren Dispozinsen angeboten werden, wird das insLeere laufen. Deswegen sagen wir: Transparenz ist gut,aber eine gesetzliche Regelung ist besser.
Das dritte und letzte Gegenargument, auf das ich ein-gehen möchte, lautet, die Banken brauchten die Einnah-men aus den hohen Dispozinsen wegen der hohen Kos-ten des Verwaltungsaufwands und wegen des hohenAusfallrisikos. Der Verwaltungsaufwand der Banken beieinem Dispokredit kann nicht höher sein als der bei ei-
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5408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Caren Lay
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nem Ratenkredit. Zum Ausfallrisiko hat das Ministeriumselbst eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist:Das Ausfallrisiko bei Dispokrediten ist mit 0,3 Prozentlächerlich gering. – Diese Gegenargumentation ist alsonichts anderes als eine Schutzbehauptung. Diese könnenwir nicht akzeptieren.
Wenn Sie sich von der CDU/CSU, wie ich vermute,heute wieder gegen eine gesetzliche Deckelung des Dis-pozinses aussprechen, dann sollten Sie den Menschenreinen Wein einschenken. Die Stiftung Warentest hat be-rechnet, dass die Banken mit jedem Prozentpunkt, densie bei den Dispozinsen ansetzen, 380 Millionen Euro imJahr verdienen. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestageinen gesetzlichen Deckel beschließen würde, entgingeden Banken ein Milliardengeschäft. Es ist aber ein Ge-schäft, das unfair ist und auf Kosten der Verbraucherin-nen und Verbraucher geht. Deswegen sagen wir: Schen-ken Sie den Menschen reinen Wein ein! Wenn Sie dasnicht wollen, dann knicken Sie vor der Bankenlobby ein.Das machen wir nicht mit.
In den Bundesländern gibt es Druck. Beispielsweiseim Saarland, im Heimatland des Verbraucherministers– er ist offenbar nicht anwesend; aber vielleicht kannman ihm das mit auf den Weg geben –, hat ein entspre-chendes Bürgerbegehren der Linken die erste Stufe desVolksbegehrens erreicht. Das ist ein Erfolg und sollte Ih-nen ein Signal sein, endlich tätig zu werden.
Ich komme zum Schluss. Ein weiteres Argument fürunser Anliegen ist: Die Verbraucherschutzministerkon-ferenz hat auf Vorschlag des rot-rot regierten Branden-burg eine gesetzliche Deckelung der Dispozinsen gefor-dert. Ich kann nur sagen: Das ist eine richtige Forderung.Folgen Sie diesem Beispiel! Setzen Sie diese Forderungder Verbraucherschutzministerkonferenz um!Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Mechthild Heil
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! „Und sie bewegen sich doch“ – mitdieser positiven Nachricht beginnt der Artikel über dieDispozinssätze in der Oktoberausgabe der ZeitschriftFinanztest. Gemeint sind die Banken, die dem politi-schen und dem öffentlichen Druck nachgegeben haben– das gebe ich zu – und ihre Dispozinssätze gesenkt ha-ben. Seitdem wir über die Höhe der Dispozinssätze spre-chen, werden sie von Monat zu Monat gesenkt, und dasist auch gut so. Das ist genau das, was wir erreichenwollten. Die Banken haben sich bewegt, und das ganzohne staatlichen Eingriff.
Das belegt auch die aktuelle Studie der StiftungWarentest. Rund drei Viertel der über 100 Banken, dienoch im letzten Jahr besonders hohe Zinssätze geforderthaben, sind günstiger geworden. Ich kann an dieserStelle nur sagen: Schade, dass sich Grüne und Linkenicht darüber freuen können. Aber ich sage auch ganzdeutlich: Wir sind hier noch nicht am Ende der Entwick-lung. Liebe Banken, es ist noch viel Luft nach oben.Nicht jeder in der Branche scheint den Pfiff gehört zuhaben. In Deckung zu gehen, den Kopf einzuziehen mitder Vorstellung: „Der Sturm wird schon an uns vorüber-ziehen; die Politik beruhigt sich schon wieder“, das istzu kurz gedacht. Das werden wir nicht akzeptieren.Unsere Erwartungen an die Bankenbranche sind klar:Gehen Sie mit Ihren Kunden fair um! – Erst wenn diegroße Mehrheit der Kunden die Höhe der Dispozinsenfür angemessen hält, sind wir, aber auch Sie von denBanken, zufrieden und am Ziel. Vorher werden die öf-fentlichen Debatten und auch die politische Diskussion– das garantiere ich – nicht enden. Deshalb sei noch ein-mal ganz klar gesagt: Wir erwarten ein Austarieren derInteressen der beiden Beteiligten, der Banken und derKunden. Aber wir wollen, wenn irgend möglich, keinenstaatlichen Eingriff. Denn die Nachteile, die ein staatlichverordneter Deckel für die Verbraucher hätte, liegen aufder Hand:Der erste Nachteil. Wenn wir staatlich bestimmen,welche Höhe für einen Dispozinssatz vertretbar ist, wer-den sich alle Banken an diese Höhe halten. Nehmen wiran, er liegt, wie Sie gefordert haben, bei 7 Prozent. Wa-rum sollte eine Bank dann noch billigere Zinssätze an-bieten? Warum sollte eine Bank, die heute Zinssätze von4 oder 5 Prozent anbietet – es gibt sogar Banken, die2 Prozent oder einen Zinssatz von null anbieten –, denZinssatz dann nicht auf 7 Prozent erhöhen? Heute bietenBanken niedrigere Zinsen an, weil sie sich einen Wettbe-werbsvorteil erhoffen. Kommt der Deckel, wird jedeBank sofort sagen: 7 Prozent gilt allgemein als fair, alsohalten wir uns daran. Mehr verlangt keiner von uns. Wa-rum sollten wir mehr tun? – Das kann doch nur zulastender Verbraucher gehen. Deswegen sind wir dagegen.
Ich gebe Ihnen einen zweiten Aspekt zu bedenken:Wenn wir das zulassen, scheren wir wieder alle Bankenüber einen Kamm. Wir wissen aber natürlich alle – ichhabe das schon mehrmals gesagt –, dass die Bankennicht gleich sind. Man kann eine Direktbank nicht miteiner Filialbank vergleichen. In Bezug auf die Bereitstel-lung der Infrastruktur ist eine Filialbank natürlich kom-plett anders aufgestellt als eine Direktbank. Sie hat des-halb auch andere Kosten zu tragen. Ein Dispodeckelkann dem nicht gerecht werden.Ich komme zu einem zweiten Nachteil für die Ver-braucher, den Sie mit Ihrem Dispodeckel aushecken. DieHöhe des Zinssatzes spiegelt auch immer das Ausfallri-siko wider. Für manche Kunden würde der von Ihnen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5409
Mechthild Heil
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vorgeschlagene Deckel bedeuten, dass sie keinen Dispo-kredit mehr erhalten. Sie hätten dann in einem Monat, indem das Geld vielleicht ganz knapp ist, keine Möglich-keit, in den Dispo zu gehen und ihr Konto zu überziehen.In der Sachverständigenanhörung zu diesem Thema– auch Sie waren da anwesend – wurde vonseiten derSchuldnerberatung zwar auch der Wunsch geäußert, dassdie Banken dem einen oder anderen Schuldner zum Ei-genschutz keinen Dispo einräumen mögen. Das ist aberetwas komplett anderes. So etwas wäre eine Überein-kunft zwischen der Bank und dem Kunden, der sich inBegleitung eines Schuldnerberaters befindet – also quasieine Selbstverpflichtung. Das wäre auch absolut sinn-voll. Dagegen haben wir überhaupt nichts. Was aber fürdiesen speziellen Einzelfall sinnvoll ist, taugt noch langenicht als Prinzip für die Kunden, welche hier und da ein-mal einen Dispo beanspruchen wollen. Ein Dispo nur fürReiche kann doch wohl nicht im Sinne der Opposition– der Linken und der Grünen – sein!
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den dieSchuldnerberater in die Diskussion einbringen. Ein nied-riger Dispozinssatz – wie Sie ihn fordern – kann auchverführerisch sein und die Verschuldung verstärken. AlsBanken angekündigt haben, den höheren Zinssatz abzu-schaffen, haben einige Schuldnerberater aufgeheult, damitwerde eine Hürde auf dem Weg zur weiteren Überschul-dung abgeschafft. Frau Künast, das ist die Argumentationder Schuldnerberater, nicht meine. Die Schuldnerberaterbefürchten, dass die Schuldner nach dem Motto „Mirfehlt Geld; dann gehe ich halt zur Bank, wo ich einenDispo habe und Geld bekomme“ handeln. Diese Ent-wicklung wollen wir von der CDU/CSU – ich hoffe, dasgilt auch für die SPD – nicht befeuern.Ich komme zum dritten Nachteil, den der Deckelhätte. Der Dispozins ist nur eine von mehreren Preis-komponenten bei einem Girokonto. Wenn wir ihn de-ckeln – also auch die Kosten für die Verbraucher an die-ser Stelle deckeln –, kann das nur zu einer Verlagerungder Gebühren führen. Die Banken werden sich ihr Geldirgendwo anders holen. Vielleicht werden dann die Kon-toführungsgebühren erhöht. Vielleicht werden sie über-haupt erst eingeführt. Oder sonstige Dienstleistungen– zum Beispiel Buchungen und TAN-Erstellungen –würden kostenpflichtig.
Auch das ist nicht im Sinne der Verbraucher, und untermStrich wäre es für sie auch teurer.Es könnte natürlich sein, dass Sie von den Linken undvon den Grünen auch diese Kosten deckeln wollen. Waswäre dann Ihr nächster Schritt? Würden Sie immer wei-ter auf dem Weg der Regulierung durch den Staat gehen?„Durch den Staat“ ist eigentlich falsch formuliert; denndie Linken und die Grünen wissen selbst immer besser,was für den Einzelnen gut ist nach der Devise „Wenn derVerbraucher nicht mehr entscheiden kann, ist er am bes-ten in dieser schönen grün-roten Welt geschützt“. In ei-ner Welt ohne Selbstbestimmung will ich nicht leben.Deshalb sagen wir auch ein ganz klares Nein zu IhrenForderungen.Einmal abgesehen von diesen ideologischen undmanchmal vielleicht auch populistischen Zielen,
frage ich: Was wollen Sie denn eigentlich mit diesemDeckel erreichen? Wenn es Ihnen darum geht, dem Ver-braucher zu günstigen Konditionen zu verhelfen, ist IhrAntrag eigentlich überflüssig.Es gibt schon Banken, deren Zinssätze unter 5 Pro-zent liegen. Sie sehen: Der Wettbewerb funktioniert. Siehaben eben erwähnt, es sei sehr kompliziert, eine Bankzu wechseln. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-zeitung, eine Zeitung, die zu lesen ich nur jedem emp-fehlen kann, stand ein wunderbarer Artikel einer Journa-listin, die versucht hat, die Bank zu wechseln. Ich ratejedem: Kaufen Sie sich die Zeitung – sie ist letztenSonntag erschienen –, lesen Sie den Artikel, und dannwerden Sie sehen, dass dieser Artikel keinen Anspruchauf Allgemeingültigkeit erheben kann. Es ist ein einzel-ner Bericht einer einzelnen Journalistin.Wenn es Ihnen darum geht, die Menschen mit demDispodeckel vor Überschuldung zu schützen, dann set-zen Sie komplett an der falschen Stelle an.
Sie wollen ein Symptom bekämpfen, ignorieren aber dieUrsachen. Der Dispozinssatz ist nicht die Ursache fürVerschuldung. Der Dispokredit ist ein flexibles Produkt,das nicht dazu gedacht oder geeignet ist, dauerhaft inAnspruch genommen zu werden.Deswegen finde ich den Vergleich des Präsidentendes Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes GeorgFahrenschon sehr treffend. Er sagte: Der Dispokredit istvergleichbar mit einem Taxi. Ein Taxi ist kurzfristig ab-rufbar, der Kunde ist flexibel, und er kann jederzeit aus-steigen. Wenn er allerdings zum Beispiel von Berlinnach München fahren möchte, dann sollte er sich nacheiner anderen Fahrgelegenheit umsehen.So ist es eben auch beim Dispokredit. Er ist geeignet,um flexibel Engpässe auszugleichen, aber nicht, um dau-erhaft genutzt zu werden. Wenn das aber passiert, machtes wenig Sinn, am Produkt herumzuschrauben, sondernman muss stattdessen die Ursachen für die Überschul-dung angehen. Deshalb werden wir die Banken ver-pflichten, Kunden, die erheblich oder dauerhaft ihrKonto überziehen, über Umschuldungsmöglichkeitenmit besseren Konditionen zu beraten.Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, wenn Ban-ken ihre Zinssätze nicht transparent machen. Es gibtheute zwar schon weitreichende Informationsverpflich-tungen – die Konditionen müssen veröffentlicht werden –,aber ich frage mich wirklich: Warum findet man sie bei
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5410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Mechthild Heil
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manchen Banken nicht im Internet? Ist das kunden-freundlich? Da kann ich nur sagen: Das ist es nicht. Wa-rum muss man bei manchen Banken bis in die letzteEcke der Filiale gehen, um den Aushang zu finden, aufdem die Konditionen stehen? Ist das kundenfreundlich?Auch da muss ich sagen: Natürlich ist das nicht kunden-freundlich. Warum gelingt es dem einen oder anderenJournalisten überhaupt nicht, die Zinssätze herauszufin-den? Das ist sicherlich nicht in Ordnung. Da muss sichetwas ändern. Das ist in erster Linie eine Sache der Auf-sicht. Wenn sich das nicht ändert, dann müssen wir alsPolitiker – das garantiere ich – da herangehen.
Aber, ehrlich gesagt, so weit muss es nicht kommen.Deshalb mein Appell an die Banken: Es kann auch an-ders funktionieren. Die vergangenen Monate haben esgezeigt. Viele Banken haben ihre Zinssätze für die ein-geräumten Überziehungen gesenkt und für die darüberhinausgehende eingeräumte Überziehung abgeschafft.Diesem guten Beispiel müssen einfach noch mehr Ban-ken folgen. Aber ein rot-grüner Deckel ist einfach derfalsche Weg. Er ist nicht zum Vorteil der Verbraucher.Wir lehnen deshalb Ihre Forderungen ab.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen spricht jetzt Nicole Maisch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Heil, Sie haben sich gefragt, warum soviel in den Banken schiefläuft, warum man bis in dieletzte Ecke der Filialbank gehen muss, um die Konditio-nen zu erfahren, und warum das nicht alles im Internetsteht. Das kann ich Ihnen sagen: weil die Union seit Jah-ren bei Fehlverhalten der Banken vorsichtig anmahnt,dass sich etwas ändern sollte, aber im gleichen Atemzugso wie Sie verspricht, dass es so schlimm dann dochnicht kommen wird und den Banken die Regulierungenerspart bleiben.
So verhallen natürlich gut gemeinte Appelle im Nir-gendwo. So kann man finanziellen Verbraucherschutznicht machen.In der Anhörung wurde deutlich: Der Markt fürDispo- und Überziehungszinsen funktioniert nicht gut.Es gibt keinen funktionierenden Wettbewerb. Die Kolle-gin Caren Lay hat gesagt, dass sie sich in ihrem Wahl-kreis auf die Suche nach einer Filialbank mit günstigenDispozinsen gemacht hat. Auch ich habe das getan. Diefindet man nicht. Sie haben zwar gesagt, dass es Ange-bote von Banken von 4 Prozent gibt – die gibt es sicher –,aber ich glaube nicht, dass Sie die letzte Rentnerin aufdem Land in Ihrem oder meinem Wahlkreis dazu brin-gen werden, ein Onlinekonto bei der Deutschen Skat-bank zu eröffnen.Das heißt, die guten Bedingungen, die niedrigen Zin-sen sind nur einer bestimmten Gruppe von Verbrauche-rinnen und Verbrauchern überhaupt zugänglich. Ein gro-ßer Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher wirdimmer noch abgezockt mit Zinssätzen, die deutlich imzweistelligen Bereich über dem Leitzins liegen. Wennsie in die geduldete Überziehung kommen, dann wird esnoch schlimmer; dann grenzt das teilweise an Wucher.Hier, muss ich sagen, finde ich es nicht staatsinterven-tionistisch oder sonst irgendwie schlimm, einen gesetzli-chen Deckel zu fordern. Ein solcher Deckel in Abhän-gigkeit von einem Leitzins wäre die sauberste Lösunggewesen. Das hat die SPD im Wahlkampf noch so ver-treten. Aber wir müssen feststellen: Es gibt derzeit keinepolitische Mehrheit für eine solche saubere und vernünf-tige Lösung. Das finde ich sehr ärgerlich, aber bei man-chen Dingen braucht es ein bisschen Zeit, bis die Er-kenntnisse auch bei den großen Parteien eingesickertsind oder aber die Mehrheiten so sind, dass man Ver-braucherschutz betreiben kann.Was hier schon deutlich wird: Unsere beharrliche Kri-tik und auch die Möglichkeit einer politischen Mehrheitfür mehr Regulierung haben im Markt schon etwas be-wegt. Wenige Banken – aber immerhin: einige – habensich bewegt und haben die unseligen Strafzinsen bei dergeduldeten Überziehung abgeschafft.Was besonders erfreulich ist: Auch die Regierung hatsich bewegt, zumindest laut Bild am Sonntag. Da sagtder Minister:Da bislang alle Mahnungen seitens der Bundesre-gierung nichts geholfen haben, werden wir jetzt einGesetz auf den Weg bringen,– ein Gesetz! –das die Banken verpflichtet, ihre Dispozinssätze aufihrer Internetseite zu veröffentlichen.Hier haben wir einen kleinen Streit zwischen Schwarzund Rot. Frau Heil sagt: Es muss nicht zu einem Gesetzkommen. Der Minister sagt: Es wird ein Gesetz geben,ein Transparenzgesetz für Dispozinsen. – Hier muss mander SPD mit auf den Weg geben: Die BamS ist nicht mitdem Gesetzblatt zu verwechseln. Sie sollten nicht anfan-gen, „herumzuaignern“ und PR statt Politik zu machen,sondern dieses Transparenzgesetz, das Sie uns verspro-chen haben, hier im Deutschen Bundestag auch vorle-gen.
Ich fände es schön, wenn die Menschen, die knietiefim Dispo stecken und informiert werden, dann auch da-rüber informiert würden, was die roten Zahlen auf demKontoauszug denn gerade in Euro und Cent bedeuten.Darüber hinaus hat Herr Maas versprochen, die Kre-ditinstitute zu verpflichten, Kunden, die den Dispo dau-erhaft nutzen, einen Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen.Es geht also um ein Anrecht auf ein Beratungsgespräch.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5411
Nicole Maisch
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Das finde ich gut. Ich finde es grundsätzlich gut, wennman zum Beispiel ein Angebot für einen günstigen Ra-tenkredit bekommt. Allerdings wünsche ich mir, dass dieVerbraucher dann nicht mit einer Hausratversicherungoder so etwas nach Hause gehen, wenn sie eigentlich nureinen günstigen Kredit brauchen. Man muss also durch-aus die Gefahren sehen, die in einer solchen Beratungs-pflicht der Bank bestehen.Das Europäische Parlament hat im April dieses Jahreseine Richtlinie angenommen, mit der verschiedene ver-braucherrelevante Aspekte im Bereich der Kontoführunggeregelt werden. Da sollen Kontogebühren transparenterwerden. Der Kontowechsel, über den wir hier auchschon gesprochen haben, soll vereinfacht werden. Und– besonders wichtig –: Jeder Mensch soll ein Konto ha-ben, das Girokonto für jedermann; auch der Minister hates in Interviews bereits mehrfach versprochen.Ich fände es gut, wenn Sie diese Richtlinie jetzt zeit-nah umsetzen würden und alle Aspekte, die sie umfasst,auch hier regeln würden. Sie als SPD haben sich ent-schieden, es beim finanziellen Verbraucherschutz einbisschen kleiner zu machen. Ich finde, zumindest diesekleinen Dinge, die Sie versprochen haben, sollten Siejetzt auch angehen. Ich bin mir ganz sicher: Beim ThemaDispozins hören und sehen wir uns wieder. Dies war si-cher nicht die letzte Debatte darüber.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Johannes
Fechner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Zahl der über-schuldeten Menschen in Deutschland ist leider nach wievor viel zu hoch. Nach Auskunft der Schufa sind immernoch rund 6,5 Millionen Menschen überschuldet. Hinterdieser hohen Zahl stecken Einzelschicksale, Menschen,die nicht aus eigener Kraft die Schuldenspirale verlassenkönnen, in die sie oft unverschuldet geraten sind, und dieihre Kredite eben nicht mehr aus eigener Kraft bedienenkönnen.Es ist nicht so, dass jetzt alle Banken ihre Zinsen ge-senkt hätten. Es ist auch nicht so, dass Betroffene ausdiesem Personenkreis von sich aus in der Lage wären, injedem Fall der Schuldenspirale zu entrinnen. Geradedeswegen ist es unsere Pflicht als Politik, diesen Men-schen zu helfen, und genau das tun wir, indem wir alsSPD schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben,dass wir die Banken zu mehr Transparenz und vor allemzu deutlich weitergehenden Beratungen verpflichtenwollen.
Es ist angekündigt – dafür bin ich dem Bundesjustiz-ministerium sehr dankbar –, dass noch in diesem Jahr einGesetzentwurf vorgelegt wird, mit dem wir zwei wesent-liche Ursachen der Schuldenspirale beseitigen wollen:Eine Ursache ist die fehlende Transparenz. In der An-hörung war es hochinteressant, zu hören, dass ein Sach-verständiger den prägnanten Begriff des Transparenzver-sagens verwendet hat. Wir wollen deshalb die Bankenverpflichten, ihre Dispozinsen und die Überziehungszin-sen transparenter zu machen. Denn viele Kundinnen undKunden schließen die Verträge ab, ohne genau zu wis-sen, wie hoch die Zinsen sind. Die Schwierigkeiten, dasherauszubekommen, wurden von Vorrednern schonbeschrieben. Deswegen wollen wir die Banken verpflich-ten, ihre Zinsen im Internet zu veröffentlichen und insofernfür Transparenz zu sorgen, damit sich die Verbraucherin-nen und Verbraucher entweder auf den Internetseiten derBanken oder auf den Seiten der Vergleichsportale infor-mieren können. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme,weil wir dadurch das Transparenzversagen beseitigenkönnen.
Zweitens wollen wir den Verbraucherinnen und Ver-brauchern helfen, indem wir die Beratungspflichten derBanken erweitern. Die betroffenen überschuldeten Ver-braucher sind ja oft geschäftsunerfahren und kennen sichmit Kreditverträgen und Zinshöhen nicht genau aus.Allzu oft haben sie auch zeitgleich soziale Problemedurch Krankheiten, Arbeitslosigkeit. Genau diese Men-schen brauchen die kompetente Beratung, weil sie alleinnicht aus der Schuldenspirale herauskommen. Deswegenist es unser Ziel, die Banken gesetzlich zu verpflichten,Wege aus der Dispofalle aufzuzeigen, indem sie ganzkonkret Alternativangebote, angepasst an die jeweiligeSituation, vorlegen. Das ist der entscheidende Punkt: DieBanken sind verpflichtet, über günstigere Alternativan-gebote ganz genau zu informieren, um so dem Kundenden Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen.
Die Kritik daran, die wir oft gehört haben, dass diesfür die Banken einen hohen zusätzlichen Verwaltungs-aufwand bedeuten würde, hat sich aus meiner Sicht inder Anhörung gerade nicht bestätigt. Einige Banken be-raten ja schon sehr umfangreich und machen das, waswir beabsichtigen, schon heute. Da haben die Vertreter inder Anhörung ausdrücklich bestätigt, dass dadurch unterdem Strich keine nennenswerten Mehrkosten entstehen.Einen Satz möchte ich natürlich auch zur beantragtengesetzlichen Deckelung der Dispozinsen sagen. Das istfür die SPD nach wie vor eine sinnvolle und gute Idee.Dass es in der Praxis funktioniert, zeigen sehr viele Ban-ken, die schon heute auf diese Überziehungszinsen ver-zichten.Ich bin deshalb nach wie vor der Meinung, dass un-sere Idee, eine Deckelung bei 8 Prozentpunkten überdem Basiszinssatz gesetzlich festzulegen, richtig ist. Ichbedauere ausdrücklich – ich will kein Geheimnis daraus
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5412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Dr. Johannes Fechner
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machen –, dass da aufseiten der Union keine Bereit-schaft besteht, obwohl auf der Verbraucherministerkon-ferenz – da waren auch Ihre Parteifreunde – ausdrücklichgesagt wurde, dass das eine sinnvolle Maßnahme wäre.Leider sind wir hier in der Großen Koalition nicht zu ei-ner Einigung gekommen.
Dennoch will ich am Ende meiner Rede festhalten:Wir werden einige ganz deutliche Verbesserungen fürdie Verbraucherinnen und Verbraucher beschließen, wirwerden für mehr Transparenz sorgen, und wir werdendie Banken verpflichten, die Kundinnen und Kunden,die Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu bera-ten. Also Sie sehen – so viel auch zu den Oppositionsan-trägen –: Wir handeln.
Ihre Handlungsaufforderungen in Ihren Anträgen sinddeshalb aus meiner Sicht schlicht nicht erforderlich.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU spricht jetzt
Dr. Volker Ullrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dispo- und Überziehungszinsen sind auf einemhohen Niveau. In vielen Fällen sind sie schlichtweg zuhoch. Wir haben Verständnis für viele Verbraucher, diediesen Umstand als richtiges Ärgernis und in manchenFällen auch als existenzielles Problem betrachten.Das Wissen um die aktuell niedrigen Zinsen und derBlick auf den eigenen Kontoauszug vermitteln sicherlichkein schönes Gefühl. Eine gesetzliche Deckelung derDispozinsen ist durchaus eine mögliche Lösung, sie istaber bei weitem nicht die wirksamste und die beste. DasProblem liegt darin, dass wir hier einen Umstand haben,den die Ökonomen als Informationsasymmetrie bezeich-nen oder auch als ein Auseinanderfallen zwischen dem,was die Banken tun, und dem, was die Verbraucher wis-sen. Wenn sie ein Konto eröffnen, dann denken sie garnicht sofort an die Dispozinsen, sondern erst dann, wennder Umstand eintritt, dass sie einen Dispo in Anspruchnehmen, beschäftigen sie sich mit dieser Frage. DesWeiteren haben wir den Umstand, dass es ihnen, wennsie bei einer Bank gelandet sind, die hohe Dispozinsenanbietet, nicht einfach gemacht wird, das Konto zuwechseln. Das fängt mit der 22-stelligen neuen Konto-nummer an und endet bei den Daueraufträgen und ande-ren Unannehmlichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist dertatsächliche und wahre Hebel zu mehr Verbraucher-macht die Möglichkeit, das Konto zu wechseln, seine ei-gene Bankverbindung in die Hände zu nehmen und dort-hin zu tragen, wo es niedrigere Zinsen gibt. Das istwahre Verbrauchermacht. Das steckt im Wesentlichenhinter unseren Überlegungen.
Wenn die Verbraucher stärker aufgeklärt werden, aufdie Höhe der Dispozinsen zu achten, wenn der Konto-wechsel erleichtert wird und wenn auch die Banken ge-setzlich verpflichtet sind, auf Alternativen wie Raten-kredite und andere Möglichkeiten der Umschuldunghinzuweisen, dann ist das wesentlich wirksamer als einZinsdeckel, der die sonstigen Möglichkeiten des Ver-brauchers beschneidet und dazu führen wird, dass invielen Fällen ein Dispokredit teurer oder nicht mehr ge-währt wird. Das ist nicht das, was wir unter verbraucher-freundlicher Politik verstehen.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber auchmit der Frage beschäftigen, weshalb hohe Dispozinsenzu einem Problem in diesem Land geworden sind.Zum einen liegt das an der finanziellen Bildung alsTeil des Allgemeinwissens. Ich glaube, hier haben wir inDeutschland etwas Nachholbedarf, auch an den Schulen,wo die Sozialisation in Bezug auf finanzielle Beziehun-gen, Dispokredite oder Ausgabeverhalten dazu führenkönnte, dieses Problem zu minimieren.Zum anderen müssen wir auch über die Dauerver-schuldung mancher Menschen in Deutschland sprechen.Ja, es ist so, dass viele Menschen in Deutschland in zu-nehmendem Maße von dem betroffen sind, was maneine negative Sparquote nennt. Das Einkommen, das siebeziehen, reicht nicht, um ihr Leben zu bestreiten. Ge-rade im Hinblick auf diesen Punkt hat die Große Koali-tion gehandelt. Die Einführung eines gesetzlichen Min-destlohns ist nämlich nichts anderes als ein Instrument,um die Kaufkraft zu stärken und damit auch wieder mehrGeld in die Geldbörsen der Menschen zu bringen.
Das ist ein Erfolg, und das ist viel wirksamer als ein Dis-podeckel.
Meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, dassdie von uns vorgeschlagenen Maßnahmen, dass die Stär-kung der Einnahmen der Menschen und dass eine höhereFlexibilität und Transparenz viel wirksamer sind als dasalleinige Einführen eines Dispodeckels. Wir sind für tat-sächliche Lösungen und nicht für Scheingefechte.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5413
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Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dennis
Rohde das Wort.
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man sich die Entwicklung auf dem
Zinsmarkt in den letzten Jahren einmal genauer an-
schaut, dann kann man mit Blick auf die Dispozinsen ei-
gentlich nur von einem Marktversagen sprechen. Auf
der einen Seite erleben wir, dass der EZB-Leitzins und
der Euribor stetig unter 1 Prozent verharren. Für das
Guthaben auf seinem Konto bekommt man kaum noch
Zinsen. Die Zinsen bei Verbraucherkrediten, aber auch
bei Immobilienkrediten sind seit langem im Keller. Das
ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben die we-
nigsten Banken ihre Dispozinsen wirklich spürbar ge-
senkt. Der Durchschnitt liegt immer noch – das konnte
man jüngst in der Zeitschrift Finanztest nachlesen – bei
10,65 Prozent. Es gibt nicht wenige Banken, die immer
noch Dispozinsen in Höhe von 13 oder 14 Prozent erhe-
ben. Wir müssen festhalten: Der Markt reguliert sich
derzeit nicht selbst. Es gibt keinen funktionierenden
Wettbewerb bei den Dispozinsen.
Es stellt sich die Frage, warum das so ist. Da kann ich
jedem nur empfehlen, einmal zu seiner Verbraucherzen-
trale zu gehen und sich schildern zu lassen, wie sie an
ihre Zahlen kommt, wenn sie Erhebungen macht. Das ist
schon spannend. Sie schildert einem nicht nur, dass man
die Zahlen bei vielen Banken nicht im Internet findet,
sondern auch, dass man bei vielen Banken, selbst wenn
man gezielt telefonisch nachfragt, keine Auskunft be-
kommt. Man wird aufgefordert, in die Filiale zu kom-
men. Selbst dort findet man den Aushang nur in der letz-
ten Ecke.
Zusammenfassend kann man sagen: Wir finden einen
vollkommen intransparenten Markt vor. Marktmechanis-
men können gar nicht greifen, weil es überhaupt keine
funktionierende Vergleichbarkeit gibt. Boshaft ausge-
drückt könnte man von einer gezielten Verschleierung
sprechen.
So weit zur Analyse.
Aber die Frage ist doch: Welche Antwort geben wir
darauf, welche Antwort gibt die Politik darauf? Für uns
ist klar: Es muss mit der Politik des guten Zuredens
Schluss sein, wie sie zuletzt Ilse Aigner bemüht hat.
Warme Worte allein haben nicht geholfen, und sie wer-
den auch in Zukunft nicht helfen. Für uns als Koalition
ist aber auch klar: Eine gesetzliche Deckelung kann und
darf nur Ultima Ratio sein. Sie kann und darf nur die
letzte Lösung sein.
Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Gibt
es Instrumente, um den Wettbewerb wieder zu fördern
und das Marktversagen zu beseitigen? Der Vorschlag, den
der Bundesjustizminister gemacht hat, ist richtig. Wir
müssen zunächst einmal die Banken zu Transparenz
zwingen. Wir müssen sie zumindest zwingen, ihre Dis-
posätze in das Internet zu stellen, damit man sich nicht
nur selbst gezielt informieren kann, sondern damit zum
Beispiel Vergleichsportale auflisten können, welche Bank
welchen Disposatz nimmt, damit hohe Dispozinsen wie-
der zu dem werden, was sie eigentlich sein sollten, näm-
lich nichts anderes als ein Wettbewerbsnachteil, meine
sehr geehrten Damen und Herren.
Für die SPD-Fraktion möchte ich aber auch deutlich
machen: Wenn die Maßnahmen nicht greifen und wenn
wir in ein, zwei Jahren feststellen, dass die Dispozinsen
nicht gesunken sind, dann werden wir wieder eine Dis-
kussion über die gesetzliche Deckelung von Dispozinsen
führen müssen. Für uns ist klar: Es darf keine übermä-
ßige Bereicherung zulasten von überschuldeten Men-
schen geben. Das gehört sich nicht.
Machen wir uns nichts vor: Die Debatte, die wir hier
führen, ist auch eine Gerechtigkeitsdebatte. Hohe Zinsen
sind für viele Menschen gefühlt ungerecht. Deshalb ist
die Forderung, hier einzugreifen, nicht nur richtig, son-
dern auch populär. Ich habe schon, als wir das erste Mal
über die Anträge debattiert haben, gesagt, dass wir auch
den Blick auf die überschuldeten Menschen legen müs-
sen, auf diejenigen, für die Dispozinsen vielleicht ein un-
angenehmes Symptom, aber längst nicht die Ursache
sind, weil die Ursache bei ihnen wesentlich tiefer sitzt.
Wir müssen Menschen helfen, einen Weg aus der Schul-
denfalle zu finden. Deshalb ist das, was Johannes
Fechner vorhin angekündigt hat, genau richtig. Diese
Menschen müssen gezielte Beratungsangebote bekom-
men. Wir müssen auch die Banken in die Pflicht neh-
men. Wenn sie feststellen, dass sich seit langer Zeit je-
mand im Dispo befindet, dann kann man das nicht
ignorieren. Wir müssen die Banken verpflichten, eine
Beratung anzubieten und eine für die Situation passende
Lösung zu erarbeiten. Das muss auch Verpflichtung der
Banken sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Frau Maisch, ich gebe Ihnen recht, die Debatte ist
nicht beendet, sie fängt gerade erst an. Unsere Gesetz-
entwürfe werden kommen. Wir sind wirklich guten Mu-
tes, dass wir Regelungen auf den Weg bringen werden,
die die Dispozinsen endlich nach unten korrigieren.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist
der Kollege Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss
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5414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Dr. Carsten Sieling
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der heutigen Debatte möchte ich noch einmal darauf hin-weisen, dass wir das Problem der Zinssätze für Dispo-und Überziehungskredite heute zum x-ten Mal diskutie-ren. Ich erinnere mich an Debatten in der letzten Legisla-turperiode. Das Problem wurde immer wieder herausge-arbeitet. Passiert ist gar nichts.Jetzt – das ist der wichtige Punkt – handeln wir end-lich. Wir haben endlich eine Regierung, die das Problemerkannt hat und seine Lösung in ihr Programm aufge-nommen hat. Wir werden für Transparenz sorgen unddas Thema aus den dunklen Ecken der Banken herausho-len. Für alle wird deutlich werden, was sie zahlen müs-sen. Wir lassen denen Hilfe zugutekommen, die sie brau-chen. Mit diesen Forderungen sind wir als SPD in dieRegierung gegangen. Bundesminister Heiko Maas wirdsie umsetzen. Das ist eine gute Nachricht zum Wochen-ende.
– Sie werden es umsetzen. Dazu möchte ich hier festhal-ten: Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Banken ver-pflichten werden. Verpflichten kann man in Deutschlandnur mit einem Gesetz. Deshalb brauchen wir an dieserStelle ein richtiges Gesetz und keine schwammigen Re-gelungen.
Wir müssen aber auch beobachten, dass der Marktdort sehr verkrustet ist. Meine Vorredner haben das an-gesprochen. Wir haben es mit einer Betonwand zu tun,die seit der Finanzkrise 2008, 2009 aufgebaut wurde. Ichglaube aber, dass unsere Maßnahmen helfen werden,dass sich Banken am Markt bewegen werden. Aber wirkönnten auch mit der Situation konfrontiert werden – dasist eventuell zu befürchten –, dass die Zinssätze starrbleiben.Deshalb bin ich sehr dafür, dass die Entwicklung be-obachtet wird. Aber ich sage auch klar und deutlich:Wenn sich zeigt – und damit müssen wir rechnen, so dieEinschätzung der SPD –, dass die Maßnahmen nicht aus-reichen, dann müssen wir eben eine gesetzliche Ober-grenze einführen.Ich möchte hier nicht das Argument hören, eine sol-che Grenze würde dazu führen, dass der Markt nichtmehr funktioniert. Das Gegenteil ist richtig: Die Akteurewerden sich weiterhin auf dem Markt tummeln, aber zuvertretbaren Dispozinsen, die deutlich niedriger undwieder an den Leitzins gekoppelt sind. Sollte das Pro-blem bestehen bleiben, dann werden wir uns von derSPD verstärkt für eine gesetzliche Beschränkung vonDispozinsen einsetzen. Das ist der richtige Weg.
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,dass wir uns im finanziellen Verbraucherschutz nicht nurum die Dispozinsen kümmern. Wir werden noch weitereMaßnahmen ergreifen. Einige weitere Themen sind be-reits angesprochen worden. Erstens. Wir beschränkendie Dispozinsen und machen sie transparent. Zweitens.Wir wollen ein Girokonto für jedermann. Drittens. Wirsorgen für die Einführung eines Finanzmarktwächters.All das sind gute Signale. Seit die SPD wieder dasVerbraucherschutzministerium innehat, spielt Verbrau-cherschutzpolitik in unserem Land wieder eine Rolle.
Das ist die beste Nachricht zum Wochenende; alles Gute.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Angesichts all der guten Wünschekann am Wochenende ja nichts mehr passieren.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2741 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss fürRecht und Verbraucherschutz liegen soll. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 23 b. Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses fürRecht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/2777.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 18/807 mit dem Titel„Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze fürDispo- und Überziehungskredite“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 18/1342 mit dem Titel „Begrenzungvon Dispositions- und Überziehungszinsen“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen dieStimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDEuropa – Vorreiter im Kampf gegen die To-desstrafeDrucksache 18/2738b) Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKETodesstrafe weltweit ächtenDrucksache 18/2740
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5415
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeFrank Schwabe, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, es ist klar: Man kann eine solche menschen-rechtspolitische Debatte nicht beginnen, ohne MalalaYousafzai und Kailash Satyarthi zur Verleihung des Frie-densnobelpreises zu gratulieren.
Ich komme zu einem unerquicklicheren Thema, zumKampf gegen die Todesstrafe. Ich will mit Erlaubnis derPräsidentin ein bisschen länger zitieren. Albert Camusschrieb in seinem wirklich sehr eindringlichen Text DerRuf nach dem Henker – ich glaube, bis heute gibt es fürdieses Thema keinen besseren und eindringlicherenText; ich empfehle jedem, den Text zu lesen, auch wenndas nicht ganz leicht ist –:Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde ein Mörderwegen eines ungewöhnlich scheußlichen Verbre-
teilt. Es handelte sich um einen Landarbeiter, der ineiner Art Blutrausch getötet hatte, dessen Fall je-doch durch den Umstand erschwert wurde, daß erseine Opfer außerdem bestahl. Der Prozeß erregtegroßes Aufsehen. Die Öffentlichkeit war der Mei-nung, daß für ein solches Ungeheuer selbst die Ent-hauptung eine zu milde Strafe sei.Dies war auch, wie mir versichert wurde, die An-sicht meines Vaters, den insbesondere die Ermor-dung der Kinder empört hatte. Jedenfalls gehört zudem wenigen, das ich von ihm weiß, die Tatsache,daß er zum erstenmal in seinem Leben beschloß, ei-ner Hinrichtung beizuwohnen. Er stand mitten inder Nacht auf, um sich mit vielen anderen Leutenzusammen ans andere Ende der Stadt auf den Richt-platz zu begeben. Was er an jenem Morgen sah, er-zählte er keinem Menschen. Meine Mutter berichtetnur, daß er mit verstörtem Gesicht überstürzt nachHause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung einenAugenblick auf sein Bett legte und sich plötzlich er-brach. Er hatte eben die Wirklichkeit entdeckt, diesich hinter den hochtrabenden, bemäntelnden Re-densarten verbarg.Wenn die Vollstreckung des Rechts dem ehrbarenBürger, zu dessen Schutz es da ist, nur Übelkeit be-reitet, kann schwerlich behauptet werden, sie seidazu angetan, ihrer eigentlichen Aufgabe getreumehr Frieden und Ordnung in das Gemeinwesen zubringen. Es wird im Gegenteil deutlich, daß sie ge-nauso empörend ist wie das Verbrechen und daßdieser weitere Mord die der Gesellschaft zugefügteBeleidigung nicht nur nicht wiedergutmacht, son-dern durch eine neue Schmach verschärft.Das ist das, was Albert Camus dazu schreibt. Ichfinde, viel eindrücklicher kann man nicht beschreiben,worum es bei dem Thema geht.
Zweifellos – das ist das Positive – ist die Todesstrafeweltweit auf dem Rückzug. Die Zahl der Länder mit To-desstrafe ist deutlich abnehmend. Knapp 100 haben siemittlerweile abgeschafft, weitere 36 praktizieren sie nichtmehr, und in der Generalversammlung der Vereinten Na-tionen gibt es eine klare Mehrheit, die sich gegen dieTodesstrafe ausgesprochen hat. Umso bitterer ist, dassüber 90 Prozent der Hinrichtungen durch fünf Länder inder Welt vollzogen werden: China, Iran, Saudi-Arabien,Pakistan und leider auch die USA. Ich will es ausdrück-lich sagen, auch in Anwesenheit von MinisterpräsidentLi aus China: Wir haben große Achtung vor China, aberes ist in der Tat eine Schande – anders kann ich das nichtbenennen –, dass China an der Spitze der Zahl der Hin-richtungen weltweit steht. Das werden wir immer wiederbenennen. Ich bin davon überzeugt, dass andere das beiden Gesprächen in diesen Tagen auch benennen werden.
Ich habe die positive Entwicklung geschildert. Umsomehr erzürnt es mich und andere, dass es kürzlich eineVeränderung der Position auf den Malediven gab. 60 Jahrelang währte ein Moratorium gegen die Todesstrafe. Die-ses wurde mittlerweile aufgegeben. Sogar Kinder undJugendliche sind auf den Malediven mittlerweile von derTodesstrafe bedroht.Damit das, was ich jetzt noch sage, nicht falsch ver-standen wird: Die Todesstrafe ist falsch und ein Verbre-chen, egal wie und an wem sie vollzogen wird. Beson-ders abscheulich ist sie allerdings, wenn Menschen dabeiermordet werden – wie soll man das anders benennen? –,die unschuldig sind. Auf Spiegel Online konnte man erstgestern den Fall von Manuel Velez nachlesen, der zumGlück nach neun Jahren aus der Todeszelle entlassenwurde, weil klar geworden ist: Er kann den Mord, derihm zur Last gelegt wurde, gar nicht verübt haben. Be-sonders abscheulich ist die Todesstrafe auch, wenn siean psychisch Kranken vollzogen wird. Deswegen ist esgut, dass genau diese Fälle in diesem Jahr im Mittel-punkt der Kampagne zum Welttag gegen die Todesstrafeder Menschenrechtsorganisationen stehen.Zwei Staaten muss ich am Ende meiner Rede beson-ders – in Anführungsstrichen – würdigen. Der eine istder letzte Staat in Europa, der die Todesstrafe vollzieht,weswegen er nicht Mitglied des Europarates sein kann:Weißrussland. Auch das ist eine Schande. Es gibt einegute Situation in Europa, wir haben an der Stelle welt-weit eine Vorbildfunktion, aber diese wird leider vonWeißrussland ein Stück weit unterminiert. Das muss sichdringend ändern.
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5416 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Frank Schwabe
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Ich will auch noch einmal die USA und auch Japannennen. Genau deshalb, weil wir in vielen Fragen ge-meinsame Werte haben, auch was die Menschenrechtebetrifft, ist es besonders betrüblich, dass die USA undauch Japan die Todesstrafe vollziehen. Wie gut wäre esfür die Welt, welchen Vorbildcharakter würde es haben,wenn die Vereinigten Staaten von Amerika endlich dieTodesstrafe abschaffen würden! Ich denke, das müssenwir bei unseren Gesprächen immer wieder deutlich ma-chen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Annette Groth,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am heutigen Internationalen Tag gegen die Todesstrafemüsste ein Aufschrei mit der Forderung durch die Weltgehen: Verbietet endlich diese barbarische Strafe undächtet Regierungen und Verantwortliche, die die Verhän-gung der Todesstrafe zulassen und die Tötung von Men-schen anordnen! Wir dürfen nicht mehr schweigen,wenn wir Regierungsvertreterinnen und Regierungsver-treter treffen, in deren Ländern die Todesstrafe immernoch nicht abgeschafft ist.Leider hat die Zahl der Hinrichtungen im Jahre 2013wieder deutlich zugenommen. Das ist eine Schande.Schon lange fordert die Linke ein Verbot der Todes-strafe; denn sie ist grausam und in keiner Weise zu recht-fertigen. Ich kann – Frank Schwabe geht es wahrschein-lich genauso – nicht begreifen, dass Staaten wie die USAnoch immer die Todesstrafe anwenden. Ich erwarte vonder Bundesregierung, dass sie sich auch gegenüber denVereinigten Staaten deutlicher als bisher zu der brutalenErmordung von Verurteilten äußert. Mit 79 Todesurtei-len wurden im Jahr 2013 in den USA mehr Todesurteileverhängt als im Jahr zuvor, 2012. Die in jüngster Zeitdurchgeführten Hinrichtungen mit der Giftspritze in denUSA haben zu weltweiter Empörung geführt. Es istbarbarisch, Menschen mit der Todesspritze zu quälenund erst nach langem Leiden qualvoll sterben zu lassen.Auch wenn 150 von 193 Staaten die Todesstrafe ab-geschafft haben, leben noch immer zwei Drittel allerMenschen in Ländern, die Todesurteile verhängen. Indiesen Staaten werden jedes Jahr mehrere Tausend Men-schen zum Tode verurteilt und viele Tausend hingerich-tet. Das ist doch eine Schande für uns alle.
Allein für China geht Amnesty International vonmehreren Tausend Hinrichtungen jährlich aus. In 22 wei-teren Ländern, darunter Saudi-Arabien, Kuwait und In-donesien, wurden 2013 fast 800 Menschen hingerichtet.Von den USA fordern wir, als ersten Schritt ein Morato-rium für die Todesstrafe zu erlassen und dann in allenUS-Bundesstaaten die Todesstrafe zu verbieten. Wirmüssen den Verantwortlichen in den USA deutlich zuverstehen geben, dass eine Regierung, die diese Formder barbarischen Justiz im eigenen Land anwendet, in-ternational nicht glaubwürdig für die Durchsetzung vonMenschenrechten eintreten kann.
Es ist einfach ein Skandal, dass wir Waffen und Aus-rüstungen für Militärs und Polizeieinheiten in Länderliefern, die noch immer die Todesstrafe verhängen unddurchführen. Die jüngste Entscheidung der Bundesregie-rung, erneut Waffen nach Saudi-Arabien zu liefern, isteinfach empörend und darf nicht sein.
In Saudi-Arabien werden Menschen brutalst hingerich-tet. Das Abhacken von Händen oder das Amputieren vonGliedmaßen sind dort gängige Strafen.Saudi-Arabien wird auch seit längerem verdächtigt,am Aufbau der Mörderbanden des sogenannten Islami-schen Staates mit Geld und Waffen beteiligt gewesen zusein. Saudi-Arabien gehört neben dem Iran und dem Irakzu den drei Ländern, die fast 80 Prozent aller Hinrich-tungen außerhalb Chinas durchführen. Ich fordere vonder Bundesregierung einen sofortigen Waffen- und Aus-rüstungsstopp für die saudischen Militärs und Polizeiein-heiten. Das ist doch das Mindeste, das man erwartenkann.
Die Ermordung von Menschen durch Staaten und Re-gierungen ohne Gerichtsurteil nimmt zu. Mit den soge-nannten gezielten Tötungen hat sich eine neue Form derErmordung von Menschen ohne jegliche gerichtlichePrüfung durchgesetzt. Diese Form der Todesstrafe ohneRichter durch Spezialkommandos des Militärs oder mitbewaffneten Drohnen wird auch von engen NATO-Ver-bündeten Deutschlands praktiziert.Wir Linke fordern von der Bundesregierung, dass siediese völkerrechtswidrigen Exekutionen, denen insbe-sondere zahlreiche Zivilisten zum Opfer fallen, ächtetund dies auch gegenüber Staaten wie den USA oder Is-rael, einem der Hauptdrohnenproduzenten, deutlich zumAusdruck bringt.
Ich fordere die Bundesregierung auf, im Rahmen derUN die Einführung eines Registers anzuregen, in demalle Todesurteile und deren Begründung erfasst werden.Dieses Register kann Grundlage für eine juristische Auf-arbeitung dieser Fälle werden.Von den deutschen Botschaften fordere ich, dass siebei Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafegrundsätzlich protestieren und die Betroffenen in denGefängnissen besuchen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5417
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Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich bin sofort fertig. – Wir alle, insbesondere Sie, die
Regierungsvertreter, müssen endlich klar sagen, dass wir
alle für ein Verbot der Todesstrafe kämpfen. Wir wollen
eine Welt ohne Todesstrafe und ohne Drohnen!
Danke schön.
Vielen Dank.- Nächster Redner ist Frank Heinrich,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrte Damen und Herren! Es ist mehrfachgesagt worden: Heute ist der Internationale Tag gegendie Todesstrafe. Heute vor einem Jahr – daran mögensich die einen oder anderen erinnern – konnten wir die-sen Tag im Plenum noch nicht adressieren, angehen –„feiern“ kann man ja nicht sagen, sondern höchstens „er-innern“ –. Da steckten CDU, CSU und Sie als SPD nochin langwierigen Koalitionsverhandlungen. Manche Posi-tion war umstritten. Um viele Formulierungen wurde ge-feilscht. Aber es gab auch Positionen, die unstrittig undeindeutig waren. So wurde unter anderem unter derÜberschrift „Schutz und Förderung von Menschenrech-ten“ der knappe und eindeutige Satz formuliert:Wir engagieren uns weiterhin konsequent für dieweltweite Abschaffung der Todesstrafe …In Deutschland wurde die Abschaffung der Todes-strafe 1949 in Artikel 102 des Grundgesetzes festge-schrieben, nicht zuletzt durch die Erfahrung des natio-nalsozialistischen Unrechtsstaates. Wem stehen nicht dieBeispiele wie die zynischen Todesurteile eines RolandFreisler gegen Hans und Sophie Scholl und andere Mit-glieder der Weißen Rose bis heute abschreckend vor Au-gen? Ich selber konnte mich letzte Woche mit einerChemnitzer Gruppe aus meinem Wahlkreis in der Ge-denkstätte Deutscher Widerstand davon überzeugen.Durch den Rest des Tages geht man dann nicht be-schwingt.Die Todesstrafe ist eine Menschenrechtsverletzungohne Wenn und Aber; darin sind wir uns ja quer durchdas Parlament einig. Jeder Mensch hat ein Recht auf Le-ben. Kein Mensch kann diese seine Würde unwiderruf-lich verlieren. Deshalb beginnt der Antrag auch genauso.Der Ruf nach Rache und Vergeltung ist möglicher-weise menschlich nachvollziehbar, gerade in solchenFällen, von denen Sie erzählt haben. Doch führt das zuSpiralen von Gewalt und im Kern zu Entmenschlichung.So hält der UN-Sonderberichterstatter gegen Folter jedeForm der Todesstrafe für nicht vereinbar mit dem Verbotder Folter und grausamer, erniedrigender und unmensch-licher Behandlung und Strafe.Der Verzicht auf die Todesstrafe ist ein hohes zivilisa-torisches Gut, ein Grundwert europäischer Identität, eineErrungenschaft, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen.Die Todesstrafe ist grausam und öffnet dem MissbrauchTür und Tor. Justizirrtümer werden durch die Todesstrafeunwiderruflich.Nach dem letzten Bericht des UN-Generalsekretärsvom Juli letzten Jahres zur „Question of the DeathPenalty“ werden unverhältnismäßig oft sozial Schwacheund Angehörige ethnischer, religiöser und sexueller Min-derheiten zum Tod verurteilt. Mein Kollege Schwabe hates gerade gesagt. Die Pressemitteilung von AmnestyInternational geht insbesondere auf diese besonders ab-scheuliche Form der Todesstrafe bei Menschen, die psy-chisch krank sind, ein.Seit Jahren gibt es außerdem kritische Diskussionenüber Hinrichtungsmethoden. Darauf ist bereits Bezuggenommen worden. Besonders barbarisch sind Enthaup-tungen und Steinigungen. Weltweite Empörung habendie geschilderten Hinrichtungen mit der Giftspritze aus-gelöst, die erst nach langem Leiden zum Tod geführt ha-ben. Aus den genannten Gründen lehnt Deutschland dieTodesstrafe ab und steht damit glücklicherweise in Eu-ropa nicht alleine.Seit 1997 kam die Todesstrafe in Europa nicht mehrzur Anwendung, außer in dem schon genannten LandBelarus, das geografisch zu Europa gehört. Bisher liefenalle Bemühungen von Europarat, von uns, von der EU,Belarus wenigstens zu einem Hinrichtungsmoratoriumzu bewegen, ins Leere. Dieses Jahr wurden bereits zweiGefangene durch Kopfschuss exekutiert, und zwei wei-teren droht die Hinrichtung. Trotzdem gilt: Europa hateinen legitimen moralischen Anspruch, im weltweitenKampf gegen die Todesstrafe als Vorreiter aufzutreten.Ich zitiere von der Website des Auswärtigen Amtesaus den „Leitlinien der EU zur Todesstrafe“:Die Leitlinien definieren die Bekämpfung der To-desstrafe als zentrales menschenrechtliches Anlie-gen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-tik …Auch in ihrem Strategischen Rahmen und Aktionsplanzählt die Europäische Union die Bekämpfung der Todes-strafe und der Folter zu ihren Prioritäten auf dem Gebietder Menschenrechte. Das ist ein guter und deutlicherTrend – der Menschenrechtsbeauftragte Strässer hat dasheute Morgen in einer Pressemitteilung deutlich ge-macht – und weltgeschichtlich betrachtet ein bemerkens-werter humanitärer und menschenrechtlicher Fortschritt,den wir hier nicht vergessen dürfen. Und doch: DerKampf gegen die Todesstrafe ist noch lange nicht ausge-kämpft.Wie notwendig auch europäische Anstrengungenheute noch sind, zeigt ein Blick in aktuelle Statistiken;ich will die Zahlen nicht wiederholen, einige sind ge-nannt worden. Amnesty International geht davon aus,dass letztes Jahr in mindestens 22 Staaten die Todesstrafe
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Frank Heinrich
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vollstreckt worden ist, 778 Menschen wurden getötet.Das waren 96 mehr als im Jahr davor. 1925 Menschenwurden zum Tode verurteilt, und 23 392 Menschen sit-zen in Todeszellen und warten auf ihre Strafe. MancheLänder machen aus diesen Zahlen ein Staatsgeheimnis,wie zum Beispiel China.In vier Ländern – diese nenne ich bewusst, um auf siehinzuweisen –, Indonesien, Kuwait, Vietnam und Nige-ria, wurde nach einem Moratorium die Todesstrafe wie-der vollzogen. China behandelt diese Zahlen, wie gesagt,wie ein Staatsgeheimnis und gibt keine Zahlen bekannt.Amnesty International schätzt die Zahl der hingerichte-ten Menschen auf Tausende.Die Todesstrafe ist häufig ein Mittel staatlicher Ge-walt zur Einschüchterung von Dissidenten sowie vonethnischen und religiösen Minderheiten. In vielen isla-mischen Staaten wird die Apostasie, die Abkehr vom Is-lam zu einem anderen Glauben, mit dem Tode bestraft.Wir haben dieses Jahr – das ging durch die Medien undwar in vielen Ländern ein Thema – den Fall der hoch-schwangeren Meriam Jahia Ibrahim Ischag im Sudan er-lebt. Die Tochter einer Christin und eines Muslims warzum Tode verurteilt worden, weil sie nicht den Glaubenihres Vaters annehmen wollte. Es waren internationaleProteste, die zu ihrer Freilassung führten. Hier mache ichdie Klammer auf: Das kann also einen Unterschied ma-chen. Es braucht nicht nur Politik – diese braucht es sehrwohl auch –, Regeln und Konventionen, sondern esbraucht auch Sie, die Bürger, die mit aufstehen.Doch zeigt das Beispiel: Mit der Todesstrafe gehenweitere Menschenrechtsverletzungen, wie in diesem Falldie Einschränkung der Religionsfreiheit, einher. ChristophSträsser als Menschenrechtsbeauftragter hat diese Wo-che auf die Hinrichtung von fünf Männern hingewiesen,die im September dieses Jahres eine grausame Tat be-gangen haben, eine brutale Vergewaltigung mehrererFrauen in Paghman in Afghanistan. Diese Männer wur-den innerhalb von drei Wochen von mehreren Instanzenverurteilt und dann erschossen. Ein faires Verfahren hatin dem System keinen Platz gehabt.In Spiegel Online war vorgestern von der 26-jährigenReyhaneh Jabbari im Iran zu lesen. Sie hat in Notwehreinen Exagenten umgebracht, der sie vergewaltigenwollte. Nun wartet sie wegen Mord auf ihre Tötung.Erschütternd für Europa ist, dass mit den USA und Ja-pan zwei befreundete westliche Nationen, die beim Eu-roparat Beobachterstatus haben, die Todesstrafe prakti-zieren. Bisher sind alle Appelle zur Abschaffung oderfür ein Moratorium ohne Ergebnis verhallt. Immerhinsinkt die Zustimmung zur Todesstrafe auch in den Verei-nigten Staaten. Letztes Jahr hat Maryland als 18. Bun-desstaat die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen.Aber wir sind mit diesem Zwischenstand ganz und garnicht zufrieden.Um den Kampf gegen die Todesstrafe weiter voranzu-treiben, formulieren wir im Antrag deshalb eine Reihevon Forderungen, die sich etwas anders anhören, aber indie gleiche Richtung gehen wie die von Ihnen in IhremAntrag formulierten. Ich möchte abschließend zumin-dest einige davon zitieren. Wir fordern die Bundesregie-rung auf:Initiativen für die weltweite Abschaffung der To-desstrafe voranzutreiben …, insbesondere bei denStaaten China, Iran, Irak, Saudi-Arabien, USA, Ja-pan, Somalia, Sudan und Jemen;…gezielt jene Staaten, die den UN-Zivilpakt und dasZweite Fakultativprotokoll zum UN-Zivilpakt nochnicht ratifiziert haben, zur Ratifizierung ohne Vor-behalt aufzufordern;…bilateral und auf europäischer Ebene mit allen dip-lomatischen Mitteln Belarus von einem Hinrich-tungsmoratorium zu überzeugen;– wir sind einig mit dem, was Amnesty an dieser Stellefordert –weiterhin – u. a. über das Ministerkomitee des Eu-roparates – auf die USA und Japan einzuwirken;– Sie merken vielleicht, dass ich das zum dritten Malnenne; es tut mir weh, dass wir das immer noch machenmüssen –…bei allen Initiativen gegen die Todesstrafe eng mitzivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen-zuarbeiten und diese in ihrer Arbeit zu unterstützen.Ich möchte meinen Dank denjenigen aussprechen, diesich in den letzten Jahren in diesem Bereich besondersengagiert haben. Eine Organisation habe ich genannt; dasind aber noch andere. Auch von dieser Stelle: Es istklasse, was Sie da treiben.
Die Todesstrafe ist grausam, erniedrigend und men-schenrechtswidrig. Sie „verstößt gegen das Recht aufLeben und verletzt die Würde des Menschen“. Lasst unsgemeinsam dagegen kämpfen, auch gemeinsam in Eu-ropa.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht
jetzt Omid Nouripour.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlau-ben Sie mir, mit der guten Nachricht von heute anzufan-gen – das hat auch der Kollege Schwabe völlig zu Rechtgemacht –, und zwar mit der Vergabe des Friedensnobel-preises an Malala Yousafzai und an Kailash Satyarthi.Ich hatte die Ehre, diese zwei Persönlichkeiten kennen-
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Omid Nouripour
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zulernen. Sie setzen sich schon sehr lange für einenKernbereich der Menschenrechte ein – wenn ich „lange“sage, dann muss man anmerken, dass das bei einer17-Jährigen schon etwas Besonderes ist –, insbesonderefür die Frauen- und Kinderrechte. Das ist eine sehr freu-dige Nachricht, dass gerade diese beiden heute ausge-zeichnet wurden.
Ich habe in den letzten Jahren immer wieder selbsteine Person für den Nobelpreis vorschlagen dürfen, undzwar einen Geistlichen aus dem Iran. Das klingt erst ein-mal ein wenig befremdlich. Aber Ajatollah Borudscherdiist ein Mann, der sich seit Jahren als Quietist ausgezeich-net hat. Er hat immer wieder heftigst für eine klare Tren-nung von Religion und Politik geworben, gekämpft undargumentiert. Er hat viele spannende Schriften verfasst,die man einem iranischen Geistlichen – so zumindestlautet ja das Klischee – nicht zutraut, beispielsweise zurZweistaatenlösung aus theologischer Sicht. Deshalb ister zum Tode verurteilt worden. Denn genau diese ArtTheologie, die Staat und Religion auseinanderhaltenwill, erscheint für eine islamische Republik natürlichganz unerträglich. Der Mann sitzt seit 2007 im Gefäng-nis. Er ist schwerst gefoltert worden und hat mittlerweilesein Augenlicht verloren. Seit wenigen Tagen soll er Be-richten zufolge in der Todeszelle sitzen.Iran ist ein besonderes Land im Hinblick auf Hinrich-tungen, nicht nur weil es sich quantitativ leider in derSpitzengruppe befindet, sondern weil es dort sehr häufigzu öffentlichen Hinrichtungen kommt. Das ist eine be-sonders perverse Art und Weise, die Würde derjenigen,die hingerichtet werden, zu zerstören, und das auch nochvor den Augen von Kindern, die das ihr Leben lang nichtmehr werden vergessen können. Es ist daher umso wich-tiger, dass man nicht nur über das Thema redet, sondernauch auf die vermeintlich kleinen Details dieser perver-sen Techniken, die dort angewendet werden, hinweist.Auf diese Weise kann man Druck machen, damit dasaufhört.
Die anderen Länder in der sogenannten Spitzen-gruppe sind bereits genannt worden. Ich kann nur wün-schen, dass die Frau Bundeskanzlerin beim heutigen Ge-spräch mit dem Regierungschef Chinas das Themaanspricht und die Hinrichtungen dort zur Sprache kom-men, gerade weil China eine unglaubliche Zahl an Hin-richtungen vorweist.Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, heute dieseDiskussion zu führen. Wir müssen sie natürlich auchweiterhin führen. Ich bin sehr dankbar für die vorliegen-den Anträge, die anregen, dass man über einzelne Me-chanismen diskutiert. Wir werden dem Antrag der Koali-tion zustimmen, auch wenn uns das eine oder anderefehlt. Beispielsweise verzichten Sie in toto auf die Ein-zelfälle. Das ist eine Frage der Denkschule; das findenwir so nicht richtig. Aber es ist zumindest nachvollzieh-bar, warum Sie es tun. Es ist, glaube ich, auch notwen-dig, darüber zu sprechen, welche große Rolle deutschediplomatische Vertretungen spielen können. Wir habenviele Fälle erlebt, in denen Botschafter ein sehr großespersönliches Risiko auf sich genommen haben, um aufeinzelne Fälle hinzuweisen, und sie haben damit auchsehr viel erreicht. Dafür kann man nur herzlichen Danksagen.
Im Antrag der Linken finden wir sehr vieles richtig.Was aber dazu führt, dass wir uns enthalten werden, istdie Forderung nach der Aussetzung der Kooperation– gerade im Sicherheitsbereich – mit den Staaten, die dieTodesstrafe haben und vollziehen. Hier gibt es Länder,die zwar Demokratien und unsere Wertepartner sind, diewir aber mit mehr und nicht mit weniger Engagementdavon zu überzeugen versuchen müssen, dass sie vonder Praxis der Todesstrafe abkommen.Die USA sind genannt worden. Zu dem Gesagten willich nichts hinzufügen, außer zur Praxis der Todeszelle.Wir kennen einzelne Fälle, in denen Menschen nach derUrteilsverkündung 40 Jahre lang in der Todeszelle ge-sessen haben. In dieser Zeit – jeden Tag, 40 Jahre lang –weiß man nicht, ob man nicht am nächsten Morgen zurHinrichtung abgeholt wird. Dabei geht es nicht darum,dass die Menschen hingerichtet werden, sondern darum,dass die Todeszelle teilweise systematisch eingesetztwird, um die Leute doppelt zu bestrafen. Das ist einesRechtsstaates absolut unwürdig.Ich möchte eine zweite Demokratie nennen, nämlichIndien. Es gab diese fürchterlichen Fälle von Vergewalti-gungen brutalster Art inklusive Todesfolge. In der Folgeist in Indien für solche Fälle die Todesstrafe gesetzlichverankert worden. Das stieß, muss ich zugeben, in derÖffentlichkeit zunächst auf großes Verständnis. Es gabeine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Nur, wir habenin diesen Wochen einige Expertinnen und Frauenrechtle-rinnen gesprochen, die sagen, dass das unter anderemdazu führt, dass gerade in den ländlichen Regionen, inkleinen Dörfern, in denen man für Anzeigen endlich eineBresche geschlagen hatte, die Zahl der Anzeigen zurück-gehen wird; denn teilweise sind es Vergewaltigungen in-nerhalb der Familie. Das sind kleinste soziale Einheiten.Die Frau, die einen Mann anzeigt, muss nun damit rech-nen, dass er hingerichtet wird, was die gesamte sozialeStruktur und das gesamte Gefüge des Dorfes auf Dauerzerstören würde. Das heißt, dass das, was zunächst alsGerechtigkeit empfunden wurde, eher dazu führt, dassbei Vergewaltigungen wieder mehr geschwiegen wird.
Herr Kollege.
Letzter Satz. – Das zeigt, dass die Todesstrafe nichtsmit Gerechtigkeit zu tun hat, sondern ausschließlich mitder Zerstörung von Menschenwürde. Diese irreversibleArt und Weise von Justiz, die immer auch mit vielen Irr-
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Omid Nouripour
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türmern verbunden ist, stößt im Hohen Hause völlig zuRecht auf unser aller Ablehnung.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Gabriela
Heinrich, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rizana Nafeek,
Ramiro Hernandez-Llanas und Rygor Yuzepchuk, diese
Namen stehen stellvertretend für Tausende von Hinge-
richteten weltweit pro Jahr, von denen Amnesty Interna-
tional berichtet. Rizana Nafeek ist am 9. Januar 2013 in
Saudi-Arabien hingerichtet worden. Ihr wurde vorge-
worfen, ein Kind getötet zu haben. Sie hatte unzurei-
chenden anwaltlichen Beistand. Ramiro Hernandez-
Llanas wurde am 9. April 2014 im US-Bundesstaat Te-
xas durch Gift hingerichtet. Er war geistig behindert.
Ihm wurde Mord an seinem Arbeitgeber vorgeworfen.
Rygor Yuzepchuk wurde im April 2014 in Weißrussland
wegen Mordes an einem Mithäftling hingerichtet. Weiß-
russland ist von Berlin keine 800 Kilometer entfernt.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wären jetzt
eigentlich Zahlen zu nennen: In wie vielen Ländern der
Erde vergiftet, hängt, erschießt, steinigt der Staat noch
Menschen? Wie viele Hinrichtungen waren es 2013? Ich
verzichte darauf. Jeder Mensch, der heute in einer To-
deszelle auf seine Ermordung wartet, ist einer zu viel.
Ich halte fest: Wir fordern, die Todesstrafe weltweit
zu ächten und abzuschaffen. Die Gründe hierfür sind
einfach: Die Todesstrafe widerspricht dem wichtigsten
Menschenrecht, dem Recht auf Leben, und die Todes-
strafe lässt sich bei einem Justizirrtum nicht korrigieren.
Unser Antrag enthält genau diese Botschaft. Er be-
schreibt den Prozess, wie wir uns diesem Ziel annähern
und gegenüber welchen Ländern wir besonders aktiv
werden müssen. Darüber hinaus ist unser Antrag realis-
tisch. Denn wenn schon in einem Land die Todesstrafe
nicht sofort abgeschafft wird, dann sind zumindest – als
erster Schritt – Mindestnormen in Bezug auf die Todes-
strafe einzuhalten. Mindestnormen, das hört sich zynisch
an. Diese Forderung ist aber notwendig, wenn man sich
anschaut, aus welchen Gründen Menschen in den ver-
schiedenen Ländern mit der Todesstrafe bestraft werden:
Das sind Wirtschaftsdelikte, Ehebruch, Gotteslästerung
oder einvernehmlicher, gleichgeschlechtlicher Sex zwi-
schen Erwachsenen. In Ländern wie Iran, Saudi-Arabien
und Sudan steht auf Homosexualität die Todesstrafe.
Meine Damen und Herren, die Abschaffung der To-
desstrafe in der Welt zu fordern, ist wichtig. Darüber hi-
naus haben wir aber durchaus auch in Deutschland
Handlungsbedarf. Zwei Zitate:
Findet diese Dreckschweine und hängt sie auf!
Und:
Todesstrafe für so einen Abschaum! Und alle, die
mitgemacht haben, gleich mit verrecken lassen!
Diese Zitate stammen aus dem Oktober 2014, und diese
Zitate stammen von deutschen Facebook-Nutzern. Sie
finden sofort Kommentare dieser Art, sobald über
schwere Verbrechen berichtet wird.
Natürlich sind solche Kommentare nicht überzube-
werten. Geschützt durch die Anonymität des Netzes lässt
so mancher User jede Zurückhaltung fallen. Mich er-
schrecken der Hass und die Aggression, die in diesen
Kommentaren zum Ausdruck kommen. Die Kampagne
„No Hate Speech“, die vom Europarat unterstützt wird,
hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen für jede Form
der Hassrede zu sensibilisieren. Solche Kommentare ge-
hören dazu, und sie machen etwas mit unserer Gesell-
schaft.
Denn auch aktuelle sozialwissenschaftliche Daten
können uns nicht egal sein: Umfragen zeigen, dass
25 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Staat
dürfe die Todesstrafe für Schwerverbrecher einführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir schon
seit längerem keine Diskussion in Deutschland mehr zur
Todesstrafe führen, müssen wir trotzdem immer wieder
deutlich machen, dass die Todesstrafe zivilisatorischen
Rückschritt bedeutet.
Reyhaneh Jabbari und Iwao Hakamada: Diese Men-
schen leben noch, veranschaulichen jedoch die Grau-
samkeiten der Todesstrafenpraxis. Reyhaneh Jabbari
– Sie sagten es schon, Herr Heinrich – sitzt im Iran in
der Todeszelle, weil sie einen Mann getötet hat, aus Not-
wehr, wie sie sagt, weil er sie vergewaltigen wollte. Iwao
Hakamada veranschaulicht wie kein anderer, dass die
Todesstrafe abgeschafft werden muss. Er saß 45 Jahre in
der Todeszelle in Japan. Vor kurzem hat sich durch einen
DNA-Test herausgestellt, dass er Opfer eines Justizirr-
tums sein könnte.
Danke schön.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Stefan Heck,
CDU/CSU-Fraktion.
Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt,dass Wissenschaft, Gesetzgebung und Erfahrungsich vereinigen, um darzutun, dass die Zeit nahe ist,in welcher die Todesstrafe als Überbleibsel alterZeiten aufgehoben wird. Wann diese Zeit eintretenwird, steht in höherer Hand; sobald aber die Über-zeugung siegt, dass die Todesstrafe weder notwen-dig noch nützlich ist, dass ihre Beibehaltung selbstNachteile erzeugt, wird sie verschwinden, eben sowie die Blätter im Herbste abfallen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5421
Dr. Stefan Heck
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Diese Worte stammen von Carl Joseph AntonMittermaier, dem bedeutendsten deutschen Strafrechtlerdes 19. Jahrhunderts, Professor in Heidelberg und nichtzuletzt Mitglied der deutschen Nationalversammlung inder Paulskirche. Das Zitat stammt aus einer umfassen-den Monografie Mittermaiers zur Todesstrafe aus demJahre 1862. Denn das Verbot der Todesstrafe gemäߧ 139 der Paulskirchenverfassung war wie die vielen an-deren fortschrittlichen Ideen dieses Verfassungsdoku-ments mit seinem politischen Scheitern Theorie geblie-ben. Mittermaier kämpfte nun aber akademisch gegenein Relikt an, dem er schon 1862 keine lange Zukunftmehr gab. Doch auch im Herbst 2014 ist die Todesstrafenoch keineswegs verschwunden. Überhaupt irrteMittermaier, wenn er davon ausging, dass die Todes-strafe so verschwinden würde, wie die Blätter im Herbstabfallen. Als Mittermaier dies 1862 schrieb, stand dieschrecklichste Phase dieser furchtbaren Strafe, die tau-sendfach an Unschuldigen im Dritten Reich vollstrecktwurde, in unserem Land noch bevor.Nach dem Erscheinen von Mittermaiers Werk solltennoch mehr als 100 Jahre vergehen, bis die Todesstrafe1987 endlich auch in der DDR und damit in ganzDeutschland abgeschafft sein sollte. Vielen ist heute garnicht mehr bewusst, dass das SED-Regime die Todes-strafe noch bis in die jüngste Vergangenheit dazu miss-brauchte, Regimegegner und abtrünnige Funktionäre zuverfolgen. Selbstverständlich gab es für die Delinquen-ten keinen fairen Prozess. Ein Wink der SED-Oberenentschied über Leben und Tod im Unrechtsstaat DDR.Der lange Kampf um die Abschaffung der Todesstrafelehrt uns: Auf das Verschwinden der Todesstrafe darfman nicht warten wie auf das Verschwinden der Blätterim Herbst. Es ist die Verpflichtung unserer Politik, aktivgegen diese grausame Strafe zu kämpfen. Dabei ist esrichtig, dass wir auch 24 Jahre nach der Wiedervereini-gung und der verfassungsrechtlichen Ächtung dieserStrafe in ganz Deutschland dieses Thema nicht verges-sen. Heute ist die Abschaffung der Todesstrafe nämlichnicht bloß eine Abwägung von Für und Wider. Im Ge-genteil: Das Grundgesetz hat uns als höchsten Wert un-serer Rechtsordnung die Würde des Menschen verdeut-licht. Dies entspricht unserer geschichtlichen Erfahrung.Zugleich hat sich in Europa die Erkenntnis durchgesetzt,dass die Anerkennung der Würde des Menschen dieKonsequenz der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschenund Teil des gemeinsamen europäischen, christlich-jüdi-schen Erbes ist. Deswegen ist es richtig, dass die Forde-rung nach der Abschaffung der Todesstrafe seit langemein wesentlicher Bestandteil der Menschenrechtspolitikder Bundesrepublik Deutschland ist, wo der besondereWert eines Menschen im Mittelpunkt steht.Es ist gut, dass wir heutzutage – Weißrussland wurdebereits mehrfach als Beispiel genannt – nicht nur auf dasallmähliche Verschwinden der Todesstrafe in Europahinweisen, sondern auch darauf hinwirken, dass Länderwie Saudi-Arabien, China, der Irak und der Iran, aberauch gefestigte Demokratien wie die Vereinigten Staatenvon Amerika und Japan die Todesstrafe endlich abschaf-fen oder zumindest deren Vollstreckung aussetzen. Be-sonders deutlich müssen wir das dort zum Ausdruckbringen, wo zur Todesstrafe hinzutritt, dass sozusagenim Vorlauf zu der Vollstreckung der Strafe die wichtigs-ten Grundsätze des Rechtsstaates nicht beachtet werden.Länder wie China, Saudi-Arabien oder der Iran richtenohne fairen Prozess hin. Es kommt sogar vor, dass Min-derjährige hingerichtet werden. Dort wird die Todes-strafe nicht nur für schwerste Verbrechen verhängt, son-dern häufig genug auch dazu genutzt, Oppositionelle zuverfolgen und schließlich umzubringen.Mich persönlich erschüttert – das wurde schon ange-sprochen –, wie viele Länder bis heute noch immer Exe-kutionen zum öffentlichen Spektakel und den Verurteil-ten damit zum Objekt von Gaffern machen, die sich amLeid eines wehrlosen Menschen ergötzen. Gleichvielwelch ein Verbrechen ein Mensch begangen haben mag,öffentliche Enthauptungen auf den Marktplätzen Saudi-Arabiens, an Kränen aufgeknüpfte Verurteilte im Iranund in gefüllten Fußballstadien erschossene Delinquen-ten in China, das sind Bilder staatlicher Verrohung. Unsmuss schmerzlich bewusst werden, welche Gräben sichzwischen unserer Auffassung von Menschenrechten undder in Saudi-Arabien, im Iran oder in China auftun.Wenn wir diese Länder heute kritisieren, dann ist daskein Zeichen westlicher Arroganz oder Überheblichkeit,sondern Ausdruck unserer unerschütterlichen Überzeu-gung. Wir sind der Überzeugung, dass Menschenrechteunveräußerlich sind. Sie gelten für jeden Menschen undstehen nicht zur Disposition der Politik.
Dabei vergessen wir natürlich nicht, unsere Freunde,mit denen wir viele Grundwerte teilen, daran zu erin-nern, welche Konsequenzen unserer Auffassung nachaus diesen Grundsätzen zu ziehen sind. Es ist deshalbrichtig, dass wir alle auch darauf hingewiesen haben,dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Positionzur Todesstrafe überdenken müssen.Ich weiß, dass eine weltweite Abschaffung der Todes-strafe nur in kleinen Schritten erfolgen kann. Oft genuggeht die Verhängung der Todesstrafe Hand in Hand mitder Verletzung von zahlreichen anderen Menschenrech-ten. Deswegen sollten wir, finde ich, hier deutlich sagen:Eine diskriminierende Anwendung der Todesstrafe ge-genüber Minderheiten ist verwerflich und nicht hin-nehmbar. Die Verhängung der Todesstrafe gegen zur Tat-zeit Minderjährige ist ein schreiendes Unrecht, und dieHinrichtung von Schwangeren ist schlicht und einfachein Verbrechen. Ein fairer Prozess sowie ein rechtskräfti-ges Urteil sind das Mindeste, was jemandem gewährtwerden muss, dem die Todesstrafe droht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur die Blät-ter fallen von selbst im Herbst vom Baum. Beim Thema„Todesstrafe“ müssen wir hingegen dranbleiben und ak-tiv werden. Mittermaiers Argumente gegen die Todes-strafe sind inzwischen Bestandteil der Verfassungsdog-matik unseres Grundgesetzes und wurden mit demSchutz der Würde jedes einzelnen Menschen noch wei-ter vertieft. Kämpfen wir weiter dafür, dass die Todes-strafe verschwindet! Der Herbst kann für sie eigentlichnicht früh genug kommen.Vielen Dank.
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5422 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Dr. Stefan Heck
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Wir
kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/2738
mit dem Titel „Europa – Vorreiter im Kampf gegen die
Todesstrafe“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die LINKE auf Drucksache 18/2740
mit dem Titel „Todesstrafe weltweit ächten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Vereinbarte Debatte
Weltmädchentag – Bildung und Gesundheit
von Mädchen als Voraussetzung für Entwick-
lung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Claudia
Lücking-Michel von der CDU/CSU-Fraktion. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! „Menschenrechte sind Frau-enrechte!“, „Frauenrechte sind Menschenrechte!“: eineSelbstverständlichkeit? Mitnichten! Zur Geschichte derMenschenrechte gehört die Geschichte der Ausgrenzungvon ihnen. Ihre Versprechungen galten die längste Zeitnur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Frauenund Mädchen gehörten meistens nicht dazu. Dabei redenwir nicht von grauer Vorzeit. Erst 1993 konnten dieFrauenrechte als universelle Menschenrechte in den Ab-schlussdokumenten der UNO-Menschenrechtskonfe-renz in Kairo – immerhin auf dem Papier – verankertwerden.Als ich dann 1995 hochmotiviert als Mitglied derdeutschen Delegation an der 4. UNO-Weltfrauenkonfe-renz in Peking teilnehmen konnte, war ich von demGlauben beseelt: Jetzt haben wir Frauen es bald ge-schafft. Mitnichten! Die letzten Jahre und die aktuellenschrecklichen Erfahrungen zeigen uns, dass es nicht im-mer nur zum Guten vorangeht, sondern sich Entwicklun-gen in fürchterlicher Weise auch umkehren können. DieBerichte von Frauenrechtlerinnen aus dem Nordirak, diewir vor kurzem in der Gruppe der Frauen unserer Frak-tion zu Gast hatten, hörten sich an wie Berichte aus ei-nen Horrorfilm: Frauen und Mädchen als Freiwild, sys-tematisch vergewaltigt, als Sklavinnen verkauft und vonden eigenen Familien als angeblich Entehrte verstoßen.Wir debattieren heute aus Anlass des morgigen dritteninternationalen Weltmädchentages. Dieser weltweiteAktionstag, für den sich unser Haus 2011 interfraktionelleingesetzt hat, ist 2014 wichtiger denn je; denn über dieJahre haben wir lernen müssen: Mädchen werden nachwie vor vielfältig benachteiligt, diskriminiert, sind Ge-walt oft schutzlos ausgeliefert. Der aktuelle Bericht derWeltbank zeigt dies in erschreckenden Zahlen.Die Unterdrückung von Mädchen, ihre Ungleichbe-handlung und Entrechtung beginnt dabei nicht erst imKindesalter, nicht erst mit der Geburt, sondern oft genugschon im Mutterleib. Ultraschall macht es möglich, un-erwünschten weiblichen Nachwuchs schon während derSchwangerschaft zu töten. Wo kein Ultraschall verfüg-bar ist, werden unerwünschte Mädchen bis heute noch inmanchen Fällen kurz nach der Geburt einfach getötet.Ich war in Dörfern in Indien, wo das Ersticken einesSäuglings mit einer Handvoll Reis nach wie vor gesell-schaftlich akzeptiert war. Mütter, die sich weigerten, da-bei mitzumachen, bekamen den ganzen Druck ihressozialen Umfeldes zu spüren. Dabei waren es oft ökono-mische Gründe: Mädchen waren einfach zu teuer; denndie Mitgift treibt die Familie in den Ruin und ihre Ar-beitskraft geht nach der Hochzeit zudem an die Schwie-gerfamilie verloren. Eine niederschwellige Geburtenre-gistrierung, wie sie es leider in vielen Ländern immernoch nicht gibt, würde schon helfen, um die Neugebore-nen besser zu schützen und später auch ihre Rechte zuschützen.Bis 2015 sollten eigentlich die acht Millenniumszieleder Vereinten Nationen, die sogenannten MDGs, erreichtsein. Hierzu gehören auch Dinge wie Gleichstellung vonMädchen und Jungen, Grundschulbildung für alle, Sen-kung der Kindersterblichkeit und die Verbesserung derGesundheit von Müttern. Aber – wir wissen es alle – invielen Ländern sind wir von diesen Zielen nach wie vorweit entfernt. Wenn wir jetzt zudem in den Irak, nachSyrien oder nach Nigeria blicken, dann wissen wir: Wirsind erst recht zum Handeln gezwungen. Zwar wurdeschon 1995 in Peking gefordert, dass Mädchen weltweiteinen gleichberechtigten Zugang zu Bildung erhalten,aber davon sind wir ebenso weiterhin weit entfernt.Nichts ist daher enttarnender als der Name „BokoHaram“, der übersetzt etwa bedeutet: Westliche Bildungist gottlos.Heute Vormittag – wir haben es wahrscheinlich allemitbekommen – wurde bekannt, dass das pakistanischeMädchen Malala den diesjährigen Friedensnobelpreis er-hält.
Herzlichen Glückwunsch auch von dieser Stelle! Ichfreue mich und wir freuen uns offensichtlich alle überdiese Entscheidung. Sie ist nicht nur eine wichtige Sym-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5423
Dr. Claudia Lücking-Michel
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bolfigur, sondern man kann fast sagen: Sie ist Märtyrerinfür Bildung geworden.Schon gestern hatte ich mir ein Zitat von ihr vor derUN-Jugendgeneralversammlung aufgeschrieben, das ichjetzt erst recht, nach der Preisverleihung, hier vortragenmöchte. Sie sagt:Bildung ist weder islamisch noch westlich, Bildungist menschlich.Sie fährt dann fort:… für Bildung ist Frieden unerlässlich. In vielenTeilen der Welt, vor allem in Pakistan und Afgha-nistan, halten Terrorismus, Kriege und KonflikteKinder davon ab, zur Schule zu gehen. Wir alle sinddiese Kriege leid. … Lasst uns zu unseren Büchernund Stiften greifen. Das sind unsere mächtigstenWaffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stiftkönnen die Welt verändern. Bildung ist die einzigeLösung. Bildung geht vor.Besser kann man es wohl kaum formulieren.
Wir wissen aus Erfahrung: Mädchen Bildung zu er-möglichen, sie über ihren eigenen Wert und ihre Rechteaufzuklären, ihnen praktisches Wissen für ein selbstbe-stimmtes Leben zu vermitteln, verändert ganze Gesell-schaften. Frauen mit Schulbildung heiraten in der Regelspäter, bekommen weniger Kinder und sind dann besserin der Lage, für diese zu sorgen. Jedes zusätzliche Schul-jahr für ein Mädchen erhöht später bei der jungen Fraudas potenzielle Einkommen um 10 bis 20 Prozent. Dassind wichtige Schritte, um den Kreislauf der Armutnachhaltig zu durchbrechen.Lassen Sie uns also alles tun, damit Mädchen ihrRecht auf Bildung verwirklichen können. Damit setzenwir den Hebel an der richtigen Stelle an. Dabei geht esum formale Schulbildung ebenso wie um sexuelle Auf-klärung und Gesundheitsversorgung.Unser Augenmerk muss dabei verstärkt auf die Grup-pen unter den Mädchen gerichtet sein, die noch einmalin besonderer Weise gefährdet und benachteiligt sind– man braucht es nicht zu erklären –: Flüchtlingsmäd-chen – sie erleiden nicht nur vielfach besondere Gewalt,sondern müssen auch enorme Anpassungsleistungenvollbringen –, arbeitende Mädchen – sie brauchen Un-terstützung, damit ihre Lage überhaupt gesellschaftlichsichtbar wird –, traumatisierte Mädchen, Mädchenwai-sen – sie sind ganz allein auf der Welt –, Opfer vonZwangsprostitution und Menschenhandel.Die Stellung der Mädchen reflektiert dabei eins zueins die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Darumtrete ich dafür ein, dass wir in der Post-2015-Entwick-lungsagenda die Gleichberechtigung von Frauen undMädchen sowie die Wahrung von Frauen- und Mädchen-rechten als eigenständige Ziele aufnehmen.
Das muss vor allen Dingen folgende Aspekte beinhalten:Beendigung der Diskriminierung von Mädchen, Beseiti-gung von gewaltsamen Praktiken, vor allen Dingen beiFrüh- und Zwangsverheiratung, Beendigung der weibli-chen Beschneidung, gleichberechtigte gesellschaftlicheund politische Teilhabe von Mädchen und Frauen, unddas heißt in der Regel: vollständige ökonomische Unab-hängigkeit durch gute eigene Arbeitsmöglichkeiten.Der morgige Weltmädchentag erinnert an unsere Ver-antwortung, zu handeln. Als Parlamentarier müssen wiruns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, eine gleichberech-tigte Entwicklung von Mädchen überall auf der Welt zuermöglichen. Wir müssen darauf achten, dass wir bei al-len Maßnahmen, die wir uns in der Entwicklungszusam-menarbeit vornehmen, die Interessen von Mädchen undFrauen im Blick behalten. Wir müssen darauf achten,dass sie vor Ort bei allen Entscheidungen mit einbezo-gen werden und dass unsere Fachkräfte nicht nur mit denMännern vor Ort verhandeln. Es geht um Empowerment.Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass bald derTag kommt, an dem der Satz „Frauenrechte sind Men-schenrechte“ nicht nur auf dem Papier gilt. Noch ist esbis dahin ein weiter Weg.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Annette Groth,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Anlässlich des internationalen Mädchentages beklagenwir einmal die weltweite Benachteiligung, Diskriminie-rung und Gefährdung von Mädchen in vielen Ländernder Welt. Ein Mädchen zu gebären, gilt bei vielen immernoch als Enttäuschung. Mädchen werden zwangsverhei-ratet, sexuell weit häufiger missbraucht als Jungen undauch noch bestraft, wenn sie infolge des Missbrauchsschwanger werden.Weltweit sind etwa 150 Millionen Frauen Opfer vonGenitalverstümmelung. 2 Millionen Mädchen sind jedesJahr davon bedroht. Das ist eigentlich unglaublich, undich finde, wir alle sind aufgerufen, aktiv gegen diese bru-tale Art der Körperverletzung zu kämpfen.
Ein zunehmendes Problem – meine Vorrednerin hat esschon angesprochen – ist das Kidnapping von Mädchenund Frauen, um sie zwecks Zwangsheirat nach China zubringen. Wir hatten heute ein Gespräch mit Leuten ausKambodscha, die uns genau das erzählten. Kidnappingvon Frauen gibt es nicht nur in Kambodscha; das gibt esauch in Myanmar, in Laos und in anderen Teilen derWelt. In China fehlen Millionen von Frauen, weil – Siehaben es schon gesagt – viele Mädchen abgetrieben wur-den. Jetzt besteht dort ein großes Problem, nämlich Frau-enmangel, und man holt sich Frauen gewaltsam aus an-
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Annette Groth
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deren Ländern. Es ist eigentlich ein Non-Thema. Darumsollten wir uns viel stärker kümmern.Weltweit besuchen 31 Millionen Mädchen im Grund-schulalter keine Schule, 5 Millionen mehr als Jungen.31 Millionen Mädchen, die im Grundschulalter sind, ge-hen nicht zur Schule! Zwei Drittel aller Analphabetenweltweit sind weiblich. Das ist kein Zufall, sondern einstrukturelles Problem.Über die Hälfte der Weltbevölkerung sind Mädchenund Frauen. Weltweit erbringen sie – oder wir – zwi-schen 60 und 70 Prozent der Arbeitsleistungen. Bezahltwird davon aber nur ein Drittel. Es ist ein Skandal, dassFrauen nur einen Bruchteil des Welteinkommens erhal-ten und nur etwa 1 Prozent des weltweiten Eigentumsbesitzen.
Dabei werden allein in Afrika circa 80 Prozent der land-wirtschaftlichen Erzeugnisse nur von Mädchen undFrauen produziert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauen und Mäd-chen geht es – das wurde schon gesagt – am schlimms-ten in Kriegen und bei anderen Katastrophen. In solchenAusnahmesituationen wird deutlich, wie verletzlichMädchen sind. Sie kommen bei Naturkatastrophen nichtnur vierzehnmal häufiger um als Jungen, sondern siewerden in deren Folge auch viel öfter Opfer von Gewaltund Zwang.Jedes Jahr werden weltweit 1,7 Millionen Mädchenunter 15 Jahren verheiratet; bei Mädchen unter 18 Jahrensind es immerhin noch 10 Millionen. Das ist eigentlichungeheuerlich.Ich bin am Dienstag von einer Reise an die syrisch-türkische Grenze bei Kobane zurückgekommen. Dorthabe ich Flüchtlingslager besucht und war tief beein-druckt von der Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölke-rung. Sie versorgen die Flüchtlinge praktisch allein,ohne internationale Hilfe, die aber angesichts des nahen-den Winters dringend erforderlich ist.In einem Lager, das ich besucht habe, waren von dencirca 2 100 Flüchtlingen 85 Prozent Frauen und Kinder.„Es ist ein Krieg gegen Frauen“, sagten mir türkischeund kurdische Feministinnen, die wie ich eine Solidari-tätsreise in diese Region machten. Viele der Frauen sindschwer traumatisiert und waren auf ihrer Flucht teilweisemassiver Gewalt ausgesetzt. Die IS-Terroristen benutzenFrauen als Druckmittel, verkaufen sie, vergewaltigen sieund zwingen sie in Ehen.Ganze Menschenhändlerringe haben sich auf denHandel mit syrischen Mädchen „spezialisiert“. Fast dieHälfte der Opfer ist noch minderjährig. Das Geschäft mitden Mädchen, die für etwa 600 Euro verkauft werden,boomt, so zum Beispiel in Ägypten, weil sich vieleÄgypter eine Heirat mit Ägypterinnen aus finanziellenGründen nicht leisten können.In vielen Fällen sind die Käufer dieser syrischenMädchen Scheichs aus Saudi-Arabien und anderen Golf-staaten, aber auch Männer aus Frankreich und sogar ausDeutschland, wie ich in der Türkei erfahren musste. Dasist doch finsterstes Mittelalter und muss wirklich vonuns allen bekämpft werden.
Meine Vorrednerin hat es gesagt: Statt immer mehrGelder in Rüstung zu stecken, in unproduktive Waffen,die töten,
sollten wir viel mehr Geld in Bildung stecken und insbe-sondere ins Gesundheits- und Bildungssystem. Das bie-tet Mädchen die einzige Möglichkeit, etwas für sich zutun. Das sollten Sie bitte auch in den anstehenden Haus-haltsberatungen beherzigen.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Frak-
tion ist Michaela Engelmeier, der ich auch ganz herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren darf.
Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Vorab möchte ich natür-lich ein besonderes Mädchen würdigen. Ich bin tief be-rührt, dass Malala den Friedensnobelpreis erhalten hat.Ich finde, Malala steht wie keine andere als Symbol– Sie haben es schon angedeutet, Frau Lücking-Michel –dafür, dass sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um ihrRecht auf Bildung einzufordern.
Heute möchte ich über die gesellschaftliche Gruppesprechen, die von extremer sozialer und ökonomischerUngleichheit und Ungerechtigkeit betroffen ist: die Mäd-chen. Wir haben diesen internationalen Weltmädchentageingeführt, um auf die Lage von Mädchen aufmerksam zumachen, denn sie sind immer noch besonders häufig Op-fer von Gewalt, Ausbeutung, Ausgrenzung und Benach-teiligungen, und das weltweit. „Because I am a Girl“,„Die Welt wird Pink“, damit begehen wir morgen den in-ternationalen Weltmädchentag. Mit dem Zeichen Pinksoll ein Zeichen gesetzt werden. Das kräftige Pink der„Because I am a Girl“-Kampagne hat eine starke Signal-kraft. Sie vermittelt Lebensfreude und Mut zur Offen-sive, genau das, was Mädchen motivieren kann, selbstfür ihre Rechte zu kämpfen.
Auch wir hier im Deutschen Bundestag wollen unseinsetzen, die Rechte von Mädchen Wirklichkeit werden
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Michaela Engelmeier
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zu lassen. Wir wollen mit parlamentarischen Initiativendafür sorgen, dass Mädchen mehr Gleichberechtigungerfahren, dass 4 Millionen Mädchen mindestens neunJahre zur Schule gehen oder eine vergleichbare Bildungerhalten.
Probleme, die wir lösen müssen, gibt es genug. LautUNICEF werden mehr als 60 Millionen Mädchen vor ih-rem 18. Lebensjahr gegen ihren Willen verheiratet. InBangladesch werden 66 Prozent aller Mädchen Opfervon Zwangs- oder Frühverheiratung. Sie werden nichtnur ihrer Kindheit beraubt, sondern auch ihrer Chancenauf Bildung und Beruf. Mädchen aus den ärmsten20 Prozent der Haushalte haben ein dreifach höheres Ri-siko, als Kind verheiratet zu werden. Schwangerschaftenund Geburten sind die Haupttodesursache von Mädchenim Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Es besteht ange-sichts dieser Zahlen dringender Handlungsbedarf, auchzur Unterstützung politischer Reformen.Auf ein Problem möchte ich besonders aufmerksammachen. Viele Mädchen werden nach ihrer Geburt nichtoffiziell registriert; aber nur wer registriert ist, hat Mit-bestimmungsrechte und Zugang zu Bildung. Ohne Ein-trag in ein Geburtenregister erhält man keinen Pass, hatman keine Bürger- und Wahlrechte, kann man keinenBesitz erwerben oder erben und wird man häufigerOpfer von Menschenhandel. Für nicht registrierte Kin-der ist zudem der Zugang zu staatlicher Bildung schwie-rig bis unmöglich. Ich werbe dafür, möglichst nieder-schwellige Registrierungsangebote zu schaffen.
Bei der Impfdokumentation die Papiere gleich um dieRegistrierung zu erweitern oder etwa mittels einer Re-gistrierung via Handy zu agieren, die zum Beispiel inAfrika weit verbreitet sind, das wären Möglichkeiten.Ich werbe hier dafür, unsere Kraft und Energie gemein-sam dafür einzusetzen, die besondere Situation vonMädchen nicht nur zu beachten, sondern alles dafür zutun, um sie zu verbessern.
Wie unbefriedigend die Situation in Sachen Bildungist, verdeutlicht „Plan International Deutschland“. Ichlege Ihnen den Mädchenbericht von „Plan“ besondersans Herz. Laut „Plan International Deutschland“ gehenweltweit rund 75 Millionen Mädchen nicht zur Schule.Etwa ein Drittel aller Mädchen ist von der Sekundarbil-dung, also der Möglichkeit, eine weiterführende Schulezu besuchen, völlig ausgeschlossen. Wenn wir sicher-stellen, dass Mädchen von Geburt an die gleichen Chan-cen wie Jungen erhalten, dann helfen wir ihnen und ih-ren Familien dabei, den Kreislauf der Armut zudurchbrechen, und geben ihnen die Chance, selbstbe-wusste Frauen, Mütter, Berufstätige und Leitfiguren zuwerden.
Ein zusätzliches Jahr weiterführender Schulbildungkann das spätere Einkommen eines Mädchens um durch-schnittlich 15 bis 25 Prozent erhöhen. Mit der Möglich-keit, ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften zu kön-nen, wird sie sich und ihre Kinder aus der Armutbefreien können. Sie wird das, was sie verdient hat, inihre Kinder investieren, in deren Gesundheit, Bildungund Zukunft. Ein gebildetes Mädchen wird mit größererWahrscheinlichkeit später heiraten als eines ohne Bil-dung, weniger und gesündere Kinder zur Welt bringen.Mit jedem zusätzlichen Jahr Schulbildung einer jungenMutter sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kindersterben, um 5 bis 10 Prozent.In Nigeria gehen 10,5 Millionen Kinder im schul-pflichtigen Alter nicht zur Schule. Zwei Drittel davonsind Mädchen. Wir erinnern uns – tun wir das noch? – andie entführten Schülerinnen, die zu einem Symbol imKampf gegen Boko Haram geworden sind. 211 Mädchensind verschwunden. Die entführten Mädchen sind einSymbol des Terrors und für das ausgesprochene Schul-verbot. Ihre Entführung und ihr ungewisses Schicksalsoll eine Drohung an alle Eltern und Mädchen sein, denSchulbesuch für Mädchen zu vergessen. Momentan istdie Befreiung der Mädchen völlig aus den Augen des öf-fentlichen Interesses und der Medien geraten. Wir müs-sen Sorge dafür tragen, dass das Interesse an der Freiheitder Mädchen nicht stirbt.
Mein Appell für den Weltmädchentag lautet: Machenwir nicht nur darauf aufmerksam, vor welcher Heraus-forderung Mädchen vor allem in Entwicklungsländernstehen, sondern handeln wir. Von Gesetzesänderungenund einem Politikwandel werden 400 Millionen Mäd-chen und Jungen profitieren. Nutzen wir das kommendeJahr, wenn die Staatengemeinschaft neue Ziele im Rah-men der Post-2015-Agenda verhandelt. Was dort ent-schieden wird, wird die Entwicklungszusammenarbeit inden nächsten 15 Jahren beeinflussen. Was in diesen Zie-len nicht verankert wird, das wird vergessen bleiben. Da-für muss nicht nur Gleichberechtigung ein eigenes Zielin der Agenda sein, sondern es müssen auch die Rechtevon Mädchen und jungen Frauen in alle anderen Zieleder neuen UN-Entwicklungsagenda einfließen, wenn wirsie erreichen wollen. Nur dann ist eine nachhaltige Ver-änderung machbar.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, möchte ich Ih-nen gerne den Mädchenbericht und den Sticker „Be-cause I am a Girl“ überreichen. Bitte.
Vielen Dank. – Eigentlich ist es umgekehrt. Das Ge-burtstagskind bekommt etwas geschenkt, aber ich nehmedas auch gerne an.
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Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Nächster Redner in dieser Debatte ist der KollegeUwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich ist dies heute ein schönes Thema. Wir zele-
brieren heute einen Tag, den es vor drei Jahren noch
nicht gegeben hat. Es war eine Initiative der Kanadier,
diesen Mädchentag einzuführen. Wir haben uns im AwZ,
im Ausschuss für Entwicklungspolitik, intensiv damit
auseinandergesetzt und uns zunächst einmal die Frage
gestellt: Noch ein Tag, der gefeiert werden muss und an
dem gedacht werden soll? Wir sind aber ganz schnell zu
der Überzeugung gekommen, dass es durchaus ein sinn-
voller Tag ist; denn wir Entwicklungspolitiker wissen
natürlich, dass die Frau letztendlich die Trägerin der Ent-
wicklung in vielen Ländern dieses Globusses ist. Wir
wissen natürlich auch: Wenn die Frau die Trägerin der
Entwicklung ist, müssen wir dazu beitragen, dass die
Frau nicht nur Bildung hat. Es wird immer wieder von
Bildung gesprochen. Das ist richtig. Aber wir müssen
uns darüber im Klaren sein, dass die Bildung unbedingt
dafür sorgen muss, dass das Selbstbestimmungsrecht,
das Selbstbewusstsein, die Persönlichkeitsbildung domi-
nieren müssen. Eine Frau, die nur lesen und schreiben
lernt, muss nicht unbedingt eine Führungspersönlichkeit
sein. Sie muss auch nicht unbedingt Selbstbewusstsein
haben. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Frauen
fördern.
Wir haben ein schönes Beispiel – das ist heute schon
mehrfach genannt worden –: Malala. Die damals Elfjäh-
rige hat die Initiative ergriffen und einen Internetblog
gestaltet, in dem sie für das Bildungsrecht für Mädchen
eingetreten ist. Sie hat das unter einem Pseudonym ge-
macht; denn sie wusste sehr wohl, wie gefährlich es in
Pakistan sein kann, mit dem richtigen Namen öffentlich
zu werden. Irgendwann schafften es die Taliban, heraus-
zufinden, wer hinter diesem Pseudonym steckte. Am
9. Oktober 2012 kam es zum Mordanschlag auf Malala.
Zwei Schüsse wurden abgefeuert. Einer traf sie am
Kopf, einer am Hals. Sie schwebte sehr lange in Lebens-
gefahr. Gott sei Dank wurde sie gerettet. Eine Devise,
die Malala schon immer hatte, hieß – das Zitat wurde
schon genannt –:
Ein Kind, eine Lehrkraft, ein Buch, ein Stift können
die Welt verändern.
Das ist genau der Grund, warum die Taliban sagten:
Diese Frau, dieses Mädchen ist eine Gefahr für uns. Die
Taliban wollen alles, nur keine Veränderung. Deswegen
haben sie auch auf Malala geschossen.
Der Antrag zur Einführung des Mädchentages wurde
von allen Fraktionen mitgetragen. Unsere Aufgabe wird
allerdings sein, diesen Antrag auch mit Leben zu füllen.
Es gibt schon Erfolge. Wir diskutieren im Deutschen
Parlament über den Mädchentag. Ich bitte Sie, dazu bei-
zutragen, dass die Thematik, die hinter dem Mädchentag
steht, auf keinen Fall vergessen wird und dass wir durch
viele unserer Entscheidungen die Gendergerechtigkeit
immer in den Mittelpunkt stellen.
Es gibt inzwischen viele positive Entwicklungen.
Wenn wir uns einmal die MDGs anschauen, die im Jahr
2000 verabschiedet wurden: Dort wurden zum ersten
Mal Forderungen zur Stärkung von Mädchen und Frauen
positiv formuliert. Sie haben Wirkung gezeigt. Aller-
dings sind wir mit dem Ergebnis absolut nicht zufrieden.
Gerade im Bereich der Bildung müssen wir sagen, dass
in vielen Ländern 80, 90, manchmal 96 Prozent der Kin-
der eingeschult werden. Wie viele dieser Kinder bis zum
sechsten Jahr in der Schule sind, wird nirgendwo erfasst.
Es wird auch nirgendwo erfasst, welche Qualität diese
Schulbildung hat. Also: Hier muss noch sehr viel mehr
geschehen. Es sollte im Rahmen der Entwicklungspoli-
tik mehr Hilfestellung geleistet werden.
Wir müssen uns aber auch die globale Entwicklung
stets vor Augen halten. Fragile Staaten sind eine Bedro-
hung für gesamte Gesellschaften. Aber, wie so oft, gibt
es in den Gesellschaften eine Bevölkerungsgruppe, die
stärker und empfindlicher von der jeweiligen Situation
betroffen ist als andere: Mädchen und Frauen.
Denken Sie nur an die Situation in den Flüchtlingsla-
gern. Ich habe die Ortschaft Dadaab in Kenia besucht.
Die Frage, wie Frauen in den UN-geführten Lagern ge-
schützt werden können, ist dort ein riesiges logistisches
Problem, das bis heute noch nicht zufriedenstellend ge-
löst worden ist.
Das Thema Menschenhandel wurde angesprochen,
das ist bis zu 95 Prozent Frauen- und Mädchenhandel.
Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Mädchen
schlechtergestellt sind als die Jungen.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Die MDGs laufen 2015 ab, die SDGs folgen. Wir haben
mit „Plan Deutschland“ darüber gesprochen, ob sie zu-
frieden sind mit der Ausformulierung der Ziele der inter-
nationalen Gemeinschaft in Bezug auf Mädchenförde-
rung und die Gleichstellung der Frau. Es wurde klipp
und klar gesagt: Nein, das, was bisher in den SDGs for-
muliert worden ist, bleibt hinter den MDGs zurück. –
Das darf aber nicht sein. Es wird also unsere Aufgabe im
nächsten Jahr sein, die Diskussion über die SDGs fortzu-
führen und sie mit Leben zu füllen.
Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Martin Patzelt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Ich möchte zunächst meine Freude darüberzum Ausdruck bringen, dass diese Debatte geführt wird.Sie ist richtig und wichtig, und meine Vorredner habenbereits ausgeführt, warum das so ist. Uns obliegt die
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Martin Patzelt
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Aufgabe – auch wenn wir an diesem Freitagnachmittagin relativ kleiner Zahl versammelt sind –, die Aufmerk-samkeit, zumindest in unserem Land, auf die Problema-tik zu richten, die vielfach mit Fakten, Zahlen und Datenbeschrieben wurde.Es kann einen grausen. An die vorhergehende Debatteüber die Todesstrafe schließt sich nun die Debatte überden Weltmädchentag an. Ich gebe Ihnen recht, HerrKekeritz: Es ist ein Anlass zur Freude, dass es Mädchengibt.
Ich bin sehr dankbar, dass ich als Mann hier redendarf. Ich tue das aus ganzem Herzen, weil wir alle unserLeben einer Frau verdanken
und weil ich glaube, dass die Frauen eine gewisse Ver-antwortung dafür tragen, wie Männer werden.Die primäre Sozialisation, die wir alle erfahren, wirdvon unseren Müttern geleistet. Wenn man das Übel ander Wurzel packen will – meine Vorredner haben rich-tige und empfehlenswerte Vorschläge gemacht, die ichaufgreifen will –, dann muss man meiner Meinung nachden Fokus auf die Rolle der Mutter richten; denn Frauenleisten Sozialisationshilfe für ihre Kinder.Das Thema Bildung ist diskutiert worden. HerrKekeritz, ich denke, das ist doch etwas vielschichtiger;denn wer lesen und schreiben kann, der hat auch dieMöglichkeit, sich zu informieren und über Medien undLiteratur andere Bilder von Welt, von Gesellschaft undvon Selbstverständnis zu entwickeln. Das ist die Voraus-setzung dafür, dass eine Frau, die ein Kind zur Weltbringt und in seinen ersten Lebensjahren begleitet, fürsich selbst ein Gefühl der Würde und des Wertes entwi-ckelt.Ich will all die Zahlen und Fakten, die genannt wor-den sind, nicht wiederholen. Der Report von „Plan Inter-national“ ist wirklich eine sehr umfängliche und hilfrei-che Analyse dessen, was sich im Moment in der Weltabspielt. Ich kann dem Verein „Plan International“ nurdanken, dass er damals die Initiative ergriffen hat. „PlanCanada“ hat dafür gesorgt, dass die UN diesen Aktions-tag initiiert haben. Wir als Deutsche haben uns ein paarJahre später diesem Mahntag angeschlossen.Mit dem Report hat der Verein „Plan International“den Ball wieder aufgenommen. Er bleibt kontinuierlichdran, und dafür wollen wir danken. Das macht einmalmehr das Zusammenspiel von zivilen Trägern und vonInitiativen aus der Gesellschaft heraus deutlich, die sol-che Themen im Zusammenwirken mit der Politik immerwieder ins Bewusstsein rücken. So können wir einengrößtmöglichen Effekt erzielen.Da hier schon vieles gesagt wurde, was ich nicht wie-derholen möchte, will ich den Blick auf die gegenwär-tige Situation richten: Jeder Mann, der mordet, der tötet,der ein schlechtes Bild von Frauen hat, der sich Massen-bewegungen anschließt und sich unkontrolliert verhält,ist – das habe ich schon gesagt – irgendwann einmal er-zogen worden. Wir haben in den letzten Tagen vonMinister Müller gehört, was er durch Augenzeugen er-fahren hat; er war sichtlich berührt davon. Eine Frau hatihm berichtet, wie ein ganzes Dorf von der IS-Truppebehandelt wurde: 500 Männer mussten beiseitetretenund wurden vor den Augen der Kinder, ihrer Kinder, er-schossen. Die Frauen mit Kindern wurden ausgesondert.Alle jungen Frauen, alle Mädchen wurden an die Solda-ten vergeben, jeweils zwei oder drei, und die übrig ge-bliebenen wurden in vergitterten Autos davongefahren,zum Verkauf auf dem Sklavenmarkt weitergeschickt. –Das alles passiert gegenwärtig, heute und jetzt. Deswe-gen ist auch die Frage nach den Waffen nicht so einfachzu beantworten, Frau Groth. Wir haben alle die Pflicht,das nach unserem Selbstverständnis und vor dem Hinter-grund unseres Grundgesetzes Mögliche zu tun, um sol-chen entarteten, archaischen, furchtbaren Geschehnissenentgegenzutreten, notfalls auch mit Gewalt, mit interna-tional abgestimmter Gewalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Blick nachinnen, in unser Land, ist wichtig. Die Medienberichteaus den Flüchtlingslagern zeigen, dass dort auch kleineMädchen leben, dass Kinder und Frauen in Massenla-gern unter Männern leben. Personen, die sich fremd wa-ren, müssen vielleicht jahrelang zusammen weiterleben.Wir haben auch die Aufgabe, in unserem Land, in unse-rer unmittelbaren Nähe zu schauen, wo es Mädchen undFrauen gibt, die unter menschenunwürdigen Zuständenleben; denn auch sie stehen unter dem Schutz unseresGrundgesetzes. Wir haben alle Anstrengungen darauf zurichten, dass die Rechte und die Würde von Frauen undMädchen auch in unserer unmittelbaren Nähe gewahrtbleiben. Alle Appelle, die wir in die weite Welt hinaus-senden, was wir richtigerweise tun, verpuffen und verlie-ren ihre Wirkung, wenn wir nicht ganz deutlich und füralle nachvollziehbar sagen: Dort, wo wir Verantwortungübernommen haben, handeln wir unter Achtung derMenschenwürde.In diesem Zusammenhang möchte ich an meinen Ap-pell erinnern, darüber nachzudenken, Frauen und Kinder– vornehmlich – in privaten Verhältnissen unterzubrin-gen, um sie so schnell wie möglich aus den Massenun-terkünften zu befreien. Das ist nur eine Anregung. Daskann aber nur, wer dazu in der Lage ist. Das ist aber einBaustein in der Palette möglicher Initiativen. Ich binfroh, dass es jetzt, wo sich die Nachrichten über die Si-tuation in den Flüchtlingslagern verdichten, in Deutsch-land in vielen Städten und Gemeinden bürgerliche undkirchliche Initiativen und Hilfen für die Flüchtlinge gibt,die hoffentlich nur vorübergehend, aber vielleicht auchdauerhaft bei uns bleiben.Die Hilfe für bedrängte Mädchen und Frauen in derWelt ist ein ethisches Gebot. Das ist auch etwas, was wirfür uns tun; denn die furchtbaren Geschehnisse, die wiralle jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, beängstigen unszunehmend, die einen mehr, die anderen weniger. Grundfür all diese Geschehnisse ist, dass es in den Entschei-
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Martin Patzelt
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dungsetagen Männer gibt und auch Frauen, die mit Ge-walt Konflikte lösen wollen, die mit alten, archaischenWeltbildern agieren, die den Krieg und die Gewalt alsLösungsmuster bei Konflikten und Ungleichheiten be-trachten.Ich kann nur immer wieder nachdrücklich und austiefster Überzeugung dafür werben, Folgendes zu beden-ken: Die Entwicklungshilfe, die wir leisten, alle Gelder,die wir für Bildungsinitiativen in Ländern ausgeben, indenen es kein funktionierendes Bildungssystem gibt,dienen dazu, den Frieden auf der Welt zu mehren und dieSituation von Frauen und Kindern zu verbessern. Wirmüssen mit unseren NGOs Gespräche darüber führen, inwelcher Weise sie in den Ländern Unterstützung leisten,an welche Bedingungen sie ihre Unterstützung knüpfenund – auch das wurde schon genannt – wen sie für ihreAufgaben in Anspruch nehmen und zu Hilfe rufen.Wir alle sagen: Bildung kostet Geld. Das ist wahr. Invielen Ländern mangelt es auch deshalb an Bildung,weil die Länder das dazu notwendige Geld nicht haben.Bei den Preisen, die wir für Produkte aus Entwicklungs-ländern zahlen, schließt sich der Kreis. Wenn wir als ei-ner der reichsten Teile dieser Welt so wenig für Produktezahlen, dann kann die Armut, die letzten Endes auch Bil-dungsarmut bedeutet, nicht beseitigt werden.
Herr Kollege, Sie denken an die Zeit, ja?
Ja. – Sie sehen also, hier schließt sich der große Kreis.
Wir müssen Verständnis dafür schaffen, dass es nicht da-
bei bleiben kann, dass wir nur die eine Gruppe im Auge
behalten.
Ich sage Ihnen: Heute Nachmittag feiern wir unser
jährliches Herbstfest. Meine sechs Enkeltöchter werde
ich dort wiedersehen. Ich freue mich darauf. Ich werde
dies auch vor dem Hintergrund der Diskussion, die wir
hier geführt haben, erleben. Ich glaube, wir alle haben
genug zu tun, um hier am Ball zu bleiben.
Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Ulla Schulte, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wür-digen heute den 11. Oktober, den Tag, den die VereintenNationen zum Weltmädchentag ausgerufen haben. Dasist auch gut so. Denn einen solchen Tag können wir dazunutzen, um auf die Rechte von Frauen und Mädchen auf-merksam zu machen, und er gibt uns Gelegenheit, zuverdeutlichen, dass die Forderung auf ein selbstbe-stimmtes, chancengleiches und erfolgreiches Leben fürMädchen noch lange nicht überall erfüllt ist. Ja, wir sindin einigen Ländern sogar noch meilenweit von der recht-lichen Gleichstellung entfernt. Das müssen wir uns undder gesamten Weltöffentlichkeit immer wieder ins Ge-dächtnis rufen. Ich bin sicher: Wir verspielen unsere Zu-kunft, wenn wir in unseren Forderungen nachlassen.Mädchen müssen gefördert werden. Mädchen brauchengleiche Chancen und gleiche Rechte, und das weltweitund in allen Bereichen.
Dennoch ist der Weltmädchentag vielleicht am Endenur ein Symbol. Reiht sich der Mädchentag nur in dieendlose Kette von Feier- und Gedenktagen ein? Nachdem Muttertag, dem Frauentag und dem Weltkindertagauch noch einen Weltmädchentag? Immer wenn ich überdiese speziellen Frauenfeiertage rede, sehe ich verdrehteMänneraugen. Glauben Sie mir, ich kann die Gedankendieser Männer lesen. Viele Männer fragen sich auchheute noch: Muss das denn sein? Was wollen die Frauendenn noch? Haben sie noch nicht genug erreicht?
Ihre alles entscheidende Frage lautet: Wo bleiben eigent-lich wir Männer?Vor kurzem hielt Emma Watson, die Ihnen als Schau-spielerin aus den Harry-Potter-Filmen vielleicht bekanntist, ihre erste Rede als UN-Sonderbotschafterin fürFrauen- und Mädchenrechte. Sie sagte zu genau diesemProblemfeld:Sowohl Männer als auch Frauen sollten sich sensi-bel fühlen dürfen, sowohl Männer als auch Frauensollten sich stark fühlen dürfen. Wir wollen nichtdarüber sprechen, dass Männer in geschlechtstypi-schen Stereotypen gefangen sind, aber ich kann se-hen, dass sie es sind.Mein Ansatz ist, dass wir einen Weltmädchentagbrauchen, weil Mädchen in vielen Ländern immer nochaufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert werden, weilsie keinen Zugang zu Bildung haben, weil sie keinen Zu-gang zum Arbeitsmarkt haben, weil sie anders als ihreBrüder keinen Zugang zu medizinischer Versorgung ha-ben, weil sie immer wieder Opfer sexualisierter Gewaltwerden und – im schlimmsten Fall – weil sie gar nichterst geboren werden. Weibliche Föten werden abgetrie-ben, und neugeborene Mädchen werden getötet.Hierzu ein kleines Beispiel. Ich kenne eine jungeNeonatologin, also eine Ärztin, die sich um Frühchenkümmert. Sie hat mir erzählt, dass sie während ihrerHospitanz in einem indischen Krankenhaus einem ge-sunden kleinen Mädchen auf die Welt geholfen hat. Nie-mand hat sich über die Geburt dieses kleinen Mädchensgefreut, selbst die eigene Mutter nicht. Es war halt nur
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Ursula Schulte
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ein Mädchen, kein Junge, kein Stammhalter. Das Mäd-chen war, wie gesagt, gesund. Aber am anderen Tag wares aus unerklärlichen Gründen verstorben.Hier beginnt Diskriminierung. Ich finde, das ist eineviel zu harmlose Beschreibung. Selektierung ist wohl pas-sender. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Dagegenmüssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mit-teln einschreiten. Ich weiß nur zu gut, dass sich hier kul-turelle Traditionen und Menschenrechte gegenüberste-hen. Ich will auch kein westliches Sendungsbewusstsein.Ich möchte nur, dass man jedem Menschen unabhängigvom Geschlecht das Recht auf ein menschenwürdigesLeben einräumt, nicht mehr, aber auf keinen Fall weni-ger.
Was können wir nun mit Blick auf die Entwicklungs-länder tun? Wir müssen den Gordischen Knoten von Ar-mut und begrenztem Zugang zu guten Bildungs- undArbeitsmarktchancen durchbrechen. Bildung ist undbleibt der Schlüssel zur Veränderung. Gelingt es einemEntwicklungsland, die Alphabetisierung von jungenMädchen voranzutreiben, sinken erfahrungsgemäß Ge-burtenrate und Kindersterblichkeit, und das Pro-Kopf-Einkommen steigt. Die Ausbildung von Mädchen wirktsich positiv auf die gesamte Entwicklung eines Landesaus.Die bisher jüngste Friedensnobelpreisträgerin ist heuteschon oft zitiert worden, aber ich tue es noch einmal, weildas, was sie zum Thema „Bildung in den Entwicklungs-ländern“ gesagt hat, so einfach und klar ist. Dies solltenwir verinnerlichen. Malala hat an ihrem 16. Geburtstaggesagt:Lasst uns zu den Büchern und Stiften greifen. Dassind unsere mächtigsten Waffen. Ein Kind, ein Leh-rer, ein Buch und ein Stift können die Welt verän-dern. Bildung ist die einzige Lösung. Bildung gehtvor.Was soll man dazu noch sagen? Das muss man einfachumsetzen.Wir sollten aber nicht nur auf die Entwicklungsländerschauen. Auch bei uns in Europa, auch bei uns inDeutschland ist die Umsetzung der tatsächlichen Gleich-stellung von Mädchen und jungen Frauen noch nichtüberall Realität. Grundsätzlich haben Mädchen undjunge Frauen in den letzten Jahrzehnten viel erreicht.Wir können bei ihnen einen Anstieg von guten und sehrguten Bildungsabschlüssen feststellen. Wir sehen, dass53 Prozent der Studierenden in der Europäischen Unionweiblich sind, in Deutschland sind es 49,5 Prozent. Da-rauf können wir stolz sein.Dennoch: Bei Schulbesuchen und vielen Gesprächenin den Schulen musste ich feststellen, dass sich die Be-rufswahl von Mädchen und jungen Frauen heute nochimmer auf einige wenige Berufe verengt, eben auf dietraditionellen Mädchenberufe, die zudem noch geringeBezahlung und vor allem einen Mangel an Aufstiegs-möglichkeiten aufweisen. Aus diesem Grund brauchenwir eine noch gezieltere Berufsorientierung für Mäd-chen, die nicht auf festgefahrenen Rollenklischees auf-baut, sondern das Interesse an Mathematik, Informatik,Naturwissenschaften und Technik weckt. Mädchen soll-ten auch hier ihre Kreativität entwickeln können.Nach wie vor gibt es bei uns auch benachteiligteMädchen. Ihnen werden der Zugang zu Bildung und derEinstieg in das Berufsleben erschwert. Das trifft in ganzbesonders hohem Maße auf Mädchen und junge Frauenmit Migrationshintergrund zu. Wir dürfen davor die Au-gen nicht verschließen, sondern müssen Angebote ma-chen, die diesen Mädchen ein selbstbestimmtes Lebenermöglichen.
Kollegin Schulte, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Das Minus auf der Anzeige weist darauf hin, dass Sie
Ihre Redezeit schon über eine Minute überzogen haben.
Ich komme zum Schluss und sage nur noch, dass ich
finde, dass die Männer mit ihren rollenden Augen den-
noch in einem Punkt recht haben: Bei aller Förderung
von jungen Frauen und Mädchen dürfen wir die Förde-
rung der Jungen nicht aus den Augen verlieren. Wir
müssen deren Interesse für Familienarbeit, für Kinderer-
ziehung, für Hausarbeit wecken. Nur wenn diese Aufga-
ben in Zukunft partnerschaftlich verteilt werden, kann
Gleichberechtigung gelingen.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es Mädchen
und Frauen gut geht. Denn dann geht es auch den Män-
nern und Jungen gut. Und das ist doch das, was wir ge-
meinsam erreichen wollen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Das war der letzte Beitrag in der vereinbarten Debattezum Weltmädchentag. Ich schließe die Aussprache undrufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Abgeord-neten Kerstin Andreae, Anja Hajduk, VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFördermitteltransparenz erhöhenDrucksachen 18/980, 18/1676Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion.
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5430 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nach dieser sehr bewegenden und emotiona-len Debatte fällt es natürlich etwas schwer, eine Antrags-beratung durchzuführen. Aber wir haben jetzt die Auf-gabe, über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen zu diskutieren, die Fördermitteltransparenz zuerhöhen.Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Anliegen, das wirteilen. Auch wir wollen weitgehende Transparenz beider Vergabe von Fördermitteln.
Es ist richtig und notwendig, die Bürgerinnen undBürger, die gesamte Öffentlichkeit darüber zu informie-ren, was mit den Steuergeldern in Milliardenhöhe pas-siert. Aber trotzdem kann ich Ihnen, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, jetzt schon sagen, dasswir Ihren Antrag leider ablehnen müssen. Ich werde Ih-nen auch die Gründe, die dazu führen, im Einzelnen er-läutern.In Ihrem Antrag bleiben wichtige Fragen und Faktenunerwähnt. Sie erwecken den Eindruck – das versteheich, ehrlich gesagt, nicht –, dass es noch keine Transpa-renz darüber gibt, wer, was und in welchem Umfangdurch den Bund gefördert wird. Ich finde, mit dem För-derportal des Bundes sind wir auf einem sehr guten Weg.Jede Bürgerin, jeder Bürger, jedes Unternehmen undauch Ihre Fraktion hat die Möglichkeit, sich im Internetbei www.foerderportal.bund.de über die Fördermaßnah-men von fünf Bundesministerien umfassend zu infor-mieren.
In einer öffentlichen Datenbank sind dort mehr als110 000 abgeschlossene und laufende Fördervorhabenabrufbar. Sie können dort täglich recherchieren und er-halten bereits heute Informationen über Namen und Ortdes Zuwendungsempfängers sowie über Fördersumme,Laufzeit, Thema, Projektträger und darüber hinaus sogarnoch viele andere Informationen mehr. Ich jedenfallsschaue regelmäßig auf diese Seite und informiere michüber die Förderprojekte in meinem Wahlkreis. Auch Siesollten das bei Gelegenheit vielleicht einmal tun.Wir haben darüber hinaus die Förderdatenbank, diedort integriert ist und die einen vollständigen und aktuel-len Überblick über die Förderprogramme des Bundes,der Länder und auch der Europäischen Union gibt. DieseFörderdatenbank ist sehr benutzerfreundlich. Sie um-fasst eine Förderberatung als Erstanlaufstelle für alleFragen rund um die Forschungs- und Innovationsförde-rung als auch das Onlineantragssystem mit den Antrags-formularen. Auch die Förderrichtlinien sind dort veröf-fentlicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, all das erwähnen Sie in Ihrem Antrag nicht.Im Übrigen beziehen Sie sich in Ihrem Antrag auf dieTransparenzinitiative der EU im Zusammenhang mit denEU-Agrarfonds. Ich gebe Ihnen zwar recht, dass die Ver-öffentlichung der Förderung an Landwirte durchaus posi-tiv ist. Allerdings stehen diese Informationen nur zweiJahre im Netz und dann nicht mehr. Im Gegensatz dazudas Förderportal des Bundes: Ich habe für meinen Wahl-kreis, für Potsdam, nachgeschaut und festgestellt, dassdie Daten von 1 227 Fördermaßnahmen seit 1990 abruf-bar sind. Das heißt also: 25 Jahre Transparenz. Was wol-len wir mehr? Wo finden Sie das?Aber es gibt noch einen weiteren Grund für unsereAblehnung. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass – ichzitiere – „eine Abwägung zwischen dem Transparenz-interesse der Öffentlichkeit und dem Schutz personen-bezogener Daten der Fördermittelempfängerinnen und-empfänger erfolgen“ soll. Wer soll das denn bitte beiZehntausenden von Förderungen im Einzelfall entschei-den?
Welcher bürokratische Aufwand ist damit verbunden,dies rechtssicher zu entscheiden?
Ist der Nutzen Ihres Vorschlages wirklich so groß, dasser diesen bürokratischen Aufwand rechtfertigt? Auch da-rauf geben Sie keine Antwort.
Auch bei einem weiteren Punkt kann ich Ihnen nichtfolgen – dieser Punkt ist für mich eigentlich der ent-scheidende –: Unter Ziffer 10 Ihres Antrages fordernSie, dass „die Ziele und wesentlichen Resultate“ vonForschungsprojekten veröffentlicht werden sollen. In Ih-rer letzten Rede, Frau Andreae, zu diesem Thema wur-den Sie noch konkreter, da sagten Sie:Es braucht diese gute Datenlage auch für uns Parla-mentarier, um besser entscheiden zu können, obFörderprogramme fortgeführt, aufgestockt oder lie-ber beendet werden sollten.Wären Sie wirklich in der Lage, wissenschaftliche Er-gebnisse zu bewerten, die oftmals erst nach vielen Jah-ren Früchte tragen?Der aktuelle deutsche Nobelpreisträger Stefan Hell istdas beste Beispiel dafür, dass sich wissenschaftliche Ar-beit oftmals erst nach sehr vielen Jahren auszeichnet. Dawollen Sie uns sagen, dass wir Parlamentarier über Sinnund Unsinn von Förderprogrammen anhand der von Ih-nen geforderten Daten entscheiden könnten? Ich glaubedas nicht.Insofern sind aus unserer Sicht die bereits heute imFörderportal veröffentlichten Daten zu geförderten Pro-jekten ausreichend; eine hohe Transparenz ist gegeben.Reserven und Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich beidem Umfang der eingestellten Förderprogramme. Inso-fern begrüße ich ausdrücklich das Anliegen des Bundes-ministeriums für Wirtschaft und Energie, zukünftig alleFörderprogramme und Projekte des Ministeriums miteinzustellen. Ich denke, das ist noch mal ein ganz wichti-ger Schritt in die richtige Richtung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5431
Andrea Wicklein
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Ihrem Antrag aber, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, werden wir heute leider aus den besag-ten Gründen nicht zustimmen können.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Jahr vergibt der Bund sehr viele Fördermittel an
Unternehmen, aber auch an Verbände und Vereine. Und
die Grünen wollen jetzt, dass dies transparenter ge-
schieht. Die Linke wird dem Antrag zustimmen und die
für meine Begriffe sehr bedauerliche Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses ablehnen.
Im Grunde fordern doch die Grünen nichts anderes,
als dass die Europäische Transparenzinitiative aus dem
Jahr 2007 nun auch im eigenen Land umgesetzt wird.
Was ist denn, bitte schön, dagegen einzuwenden? – Es
wurden doch schon auf europäischer Ebene – auch im
Hinblick auf die Punkte, die gerade angesprochen wur-
den – positive Erfahrungen gemacht. Dass die Bundesre-
gierung und die Regierungskoalition jetzt hier auf die
Bremse treten und „Nein, danke“ zu einer Erweiterung
der Transparenz sagen, finden wir falsch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nach-
vollziehbar, dass die Menschen, die Bürgerinnen und
Bürger, auf EU-Ebene das Recht haben, diese Informa-
tionen über Förderungen abzurufen, im eigenen Land
aber nicht. Warum eigentlich? – Die Bundesregierung
sollte nicht hinter die EU zurückfallen und muss diesen
Missstand für meine Begriffe umgehend beheben.
Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die das alles fi-
nanzieren, haben das Recht darauf, zu erfahren, wie ihr
Geld verwendet wird.
Uns ist wichtig, dass den Empfängern der Fördermit-
tel kein zusätzlicher Aufwand entsteht. Die erweiterten
Informations- und Dokumentationspflichten dürfen für
meine Begriffe nicht zulasten der Antragsteller, also der-
jenigen, die die Fördergelder bekommen, gehen. Oft
sind dies nämlich kleine Unternehmen oder auch ehren-
amtlich tätige Vereine und Verbände, die keine eigene
Rechtsabteilung oder keine eigene Abteilung zur Ak-
quise von Fördergeldern haben. Sie wollen mit dem
Geld, das sie bekommen, arbeiten und es nicht fast aus-
schließlich verwalten. An dieser Stelle sei wirklich ange-
regt, den Prozess der Antragstellung generell zu verein-
fachen und auch zu entbürokratisieren, damit noch mehr
Fördermittel bei kleinen Unternehmen oder bei kleineren
Verbänden ankommen.
Ich bestreite nicht, dass die zunehmende Transparenz
im Ergebnis dazu führt, dass ein zunehmender Aufwand
betrieben werden muss und dies zulasten der Verwaltung
geht. Aber wir können uns nicht hier hinstellen und sa-
gen – so wie es meine Vorrednerin gerade angedeutet hat –:
Wir haben kein Personal, damit haben wir auch keine Fi-
nanzmittel, und deswegen können wir das alles nicht
machen. – Wir brauchen eine leistungsfähige Verwal-
tung und eine angemessene Ausstattung dieser Verwal-
tung, damit diese Aufgaben übernommen werden kön-
nen.
Die Bürgerinnen und Bürger haben schlichtweg ein An-
recht darauf.
Auch wir nehmen es ernst, wenn Unternehmen heute
sagen, dass zusätzliche Transparenz zur Offenlegung
von betrieblichen Geheimnissen führen kann. Insbeson-
dere viele kleine Unternehmen befürchten, dass mit der
Veröffentlichung eines Projekttitels die Forschungs- und
Entwicklungsarbeiten offengelegt werden. Ebenso fürch-
ten sie, dass ihre Finanzkalkulationen der Konkurrenz
bekannt werden. Die im Antrag der Grünen vorgesehene
Regelung besagt, dass in Einzelfällen von einer Einzel-
veröffentlichung abgesehen werden kann. In der Realität
allerdings besteht zumindest die Gefahr, dass jeder För-
dermittelempfänger versuchen wird, sich bei jeder Gele-
genheit darauf zu berufen. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, das ist ein reales Problem. Dafür brauchen wir eine
Lösung. Man muss darüber entscheiden können – und
das möglichst in allen Einzelfällen –, wie man damit um-
geht. Das wird sicherlich nicht ganz einfach. Aber die
Lösung im Umkehrschluss darf nicht heißen: Wir ma-
chen weiter mit Intransparenz.
Denn umgekehrt ist auch klar, dass kein Unternehmen
verpflichtet ist, einen Antrag auf Fördermittel zu stellen.
Dennoch: Der Antrag der Grünen geht in die richtige
Richtung. Alles in allem unterstützen wir den Antrag,
auch wenn wichtige Details noch weiteren Klärungsbe-
darf nach sich ziehen.
Denn Transparenz – das ist die Meinung der Linken –
schafft immer auch Akzeptanz bei der Vergabe öffentli-
cher Mittel.
Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der KollegeMark Hauptmann.
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5432 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen undHerren! Wir befassen uns mit dem Thema der Förder-mitteltransparenz. Zuallererst ist festzuhalten: Das An-sinnen ist im Kern richtig und begrüßenswert. Trans-parenz ist gerade bei der Verteilung von Fördermittelnseitens des Bundes nicht nur wünschenswert, sondernschlichtweg notwendig. Staatliche Maßnahmen müssenkontinuierlich auf ihren Erfolg überprüft werden, unddie Datenbanken mit den entsprechenden Informationenmüssen dafür öffentlich zugänglich sein. Außerdemmüssen die Beantragung von Fördermitteln und der Zu-gang zu entsprechenden Formularen für den Antragstel-ler einfach gestaltet werden.Kritisch hingegen sehen wir in dem Antrag der Frak-tion der Grünen die Vorschläge, wie Sie dieses lobens-werte Ziel erreichen möchten. Sie fordern erstens dieEinführung einer gesetzlichen Regelung, zweitens dieAusweitung bereits bestehender Datenbanken und drit-tens die Offenlegung sensibler Daten. Lassen Sie michalso kurz auf diese einzelnen Punkte eingehen, um Klar-heit in der Debatte zu schaffen.Per Gesetz soll die Fördermitteltransparenz erhöhtwerden, da die derzeitige Datenlage intransparent unddurch die Zivilgesellschaft sowie durch uns Parlamenta-rier kaum zu kontrollieren sei. So steht es im Antrag.Neue Gesetze sind jedoch nur dann erforderlich, wennihr Erlass wirklich notwendig ist. Das wäre dann gege-ben, wenn die aktuelle Datenlage tatsächlich so schlechtwäre, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen.Der Antrag spricht von einem berechtigten und wach-senden Interesse der Bürgerinnen und Bürger, über dieVerwendung ihrer Steuergelder in Form von staatlichenFördermitteln informiert zu werden. Hier suggerierenSie gewissermaßen, dass es heute gar keine oder nur un-zureichende Möglichkeiten gibt, sich darüber zu infor-mieren. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-nen, erwecken den Anschein, als ob geradezu willkürlichund ungeprüft Mittel seitens des Bundes verteilt würden.Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal fünf wesentlicheInformationsmöglichkeiten nennen, die es bereits heutegibt und die sehr umfassend und transparent sind.Da ist zum Ersten die Förderdatenbank des Bundes.Sie gibt einen Überblick über die aktuellen Förderpro-gramme des Bundes, der Länder und der EU für die ge-werbliche Wirtschaft.Zweitens haben wir den Förderkatalog des Bundes. Ereröffnet allen interessierten Bürgern die Möglichkeit,sich online über abgeschlossene Fördervorhaben der be-teiligten Bundesministerien – für Bildung und For-schung, für Wirtschaft und Energie, für Umwelt, für Er-nährung und Landwirtschaft sowie für Verkehr unddigitale Infrastruktur – zu informieren.Drittens haben Sie die Möglichkeit, in der Datenbankdes Förderkataloges nachzuforschen und Auskunft über110 000 abgeschlossene und laufende Förderprojekte zuerhalten; weitere sollen aufgenommen werden.Viertens werden die aktuellen Leitlinien der Subven-tionspolitik jedes Jahr im Subventionsbericht der Bun-desregierung dargestellt. Das ist eine weitere Möglich-keit, sich darüber zu unterrichten, ob wir mit diesenFörderprogrammen tatsächlich Arbeitsplätze schaffenund Wachstum in unserem Land generieren, was wir jaals Zielstellung haben.Schlussendlich schafft fünftens das Informationsfrei-heitsgesetz für alle Bürger einen Rechtsanspruch, sichüber einzelne Förderprojekte des Bundes zu erkundigen.Verständlicherweise – so sehen wir es von derUnionsfraktion – muss es jedoch bei aller Transparenzauch Ausnahmen geben; denn gerade bei der Förderungwirtschaftlicher Vorhaben ist ein angemessener Umgangmit sensiblen Daten erforderlich. Laut Ihrem Antrag for-dern Sie die grundsätzliche Veröffentlichung des ge-nauen Förderprogramms, des Namens der Firma, derPostleitzahl, der Gemeinde des Unternehmenssitzes so-wie die Angabe, wer Empfängerin oder Empfänger derFördermittelzahlungen ist. Eine solche Regelung kann ineinzelnen Bereichen sinnvoll sein; das wollen wir nichtabstreiten. Beispiele dafür, wo es sinnvoll sein kann,sind Förderprojekte in der Regionalentwicklung, imTourismus oder zur Kulturförderung.Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch mein Vor-redner angesprochen hat: Was spricht eigentlich dage-gen? Für nicht sinnvoll oder sogar schädlich halten wirdie Veröffentlichung von unternehmensbezogenen Da-ten. Denn was bedeutet es, hier völlige Transparenz zuschaffen und alle betriebsbezogenen sensiblen Datenaufzugreifen und zu veröffentlichen? Unternehmen, ins-besondere mittelständische Unternehmen, sind auf dieEntwicklung innovativer Produkte angewiesen. Wir allekennen zum Beispiel das ZIM-Projekt und andere Pro-jekte, für die Fördermittel vergeben werden. Nur mit ei-ner hohen Innovationskompetenz können zukunftsrele-vante Produktentwicklungen auf den Markt gebrachtwerden. In letzter Konsequenz bedeuten Ihre Vor-schläge, dass die Unternehmen Daten veröffentlichenmüssen, die in sehr starkem Maße sensible Bereiche be-treffen.In der Luftfahrtbranche, aber auch in anderen Berei-chen können wir schon heute sehen, dass die Veröffentli-chung sensibler Daten dazu beiträgt, dass sich Konkurren-ten einen sehr genauen Blick über andere Unternehmenverschaffen können, so zum einen, wie viele staatlicheMittel dieses Unternehmen seitens des Bundes be-kommt, und zum anderen, woran andere Unternehmenforschen. Es gibt in gewisser Weise auch in der Unter-nehmenskommunikation einen gewissen Schutz desgeistigen Eigentums. Wenn zum Beispiel ein Unterneh-men an einer Patentlösung arbeitet, dann hat es ein be-rechtigtes Interesse daran, sicherzustellen, dass es alsInnovations- und Impulsgeber für eine neue Idee letzt-endlich diese Idee auch verwirklichen kann. Wenn esaber vorher bereits alle sensiblen Daten bis in den Be-reich der Verteilung einzelner Kosten veröffentlichenmuss,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5433
Mark Hauptmann
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dann sehen wir dies politisch als schädlicher an als mehrFördermitteltransparenz.Mein letzter Kritikpunkt greift auf, was bereits dieKollegin Wicklein angesprochen hat. Wir sehen die Ge-fahr, dass Sie mit diesen neuen Kriterien hinsichtlich derFördermitteltransparenz in Ihrem Antrag einen hohenzusätzlichen Verwaltungsaufwand kreieren werden. Siehaben nicht darauf hingewiesen, welche Folgekosten ge-rade auch im Hinblick auf die Dokumentationspflichtentstehen werden. Daraus wird unserer Meinung nachmehr Bürokratie entstehen, und es wird zu einem ver-stärkten administrativen Ausbau kommen. Dabei wollenwir als gemeinschaftliches Ziel insgesamt einen Büro-kratieabbau, also eine Verschlankung der staatlichen Bü-rokratiemechanismen. Sie verstecken allerdings denTransparenzgedanken und schaffen unter dem Deckman-tel der Informationsfreiheit ein Bürokratiemonster.
Transparenz, sehr geehrte Damen und Herren, ist not-wendig und erforderlich. Das gestehen wir sehr gerne zu.Gerade bei der Verteilung von Bundesmitteln mussTransparenz herrschen. Transparenz ist jedoch keinSelbstzweck – das ist der feine Unterschied zu Ihnen,sehr geehrte Kollegen der Grünen –, vor allem dannnicht, wenn er in letzter Konsequenz mehr Schaden alsNutzen bringt.Ihr Antrag übersieht die bereits vorhandenen Infor-mationsmöglichkeiten; ich habe Ihnen fünf sehr umfang-reiche Informationsmöglichkeiten genannt. Er verletztletztendlich den Datenschutz der Unternehmen im Hin-blick auf innovative Forschungen, und er schafft über-flüssige Bürokratie, die wir eigentlich verhindernwollen. Deshalb lehnen wir gemeinsam mit der Koali-tionsfraktion Ihren Antrag ab.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde es schön, dass Sie alle die Intention des Antrags,Transparenz zu schaffen, für richtig halten; das freut mich.Die Bürgerinnen und Bürger haben ein wachsendes Inte-resse daran, zu erfahren, was mit ihren Steuergeldern ge-schieht; und das ist auch richtig so. Schließlich werdendie Fördermittel aus Steuergeldern finanziert.Nun gehe ich auf Ihre Kritikpunkte ein. Sie erinnernsich sicherlich noch an die Debatte über die Mittel ausdem EU-Agrarfonds. Big Player der Agrarwirtschaft wieSüdzucker, große Molkereien und die Queen von Eng-land waren Empfänger von Agrarmitteln. Deswegenwurde damals die EU-Transparenzrichtlinie in Kraft ge-setzt. Nun kann man im Internet in einer Datenbank se-hen, wer wie viel erhält. Wunderbar! Das hat geklappt,funktioniert, ist machbar. Das können wir auch.
Wenn Sie nun sagen, es handele sich hier um Daten-sammelwut, dann entgegne ich Ihnen: All die Daten sindbereits vorhanden. Sie haben des Weiteren eingewendet,dass wir viel Bürokratie aufbauen, und gefragt, wer prü-fen würde, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, zu sa-gen, dass es nicht funktioniert. Aber ein Unternehmen,das sich an Förderprojekten beteiligen will, muss docheinen Antrag stellen. Dann sind die Daten da, und eswird geprüft, ob das betreffende Unternehmen berechtigtist, Fördermittel in Anspruch zu nehmen. Und dann kannman auf Basis dieser Prüfung im Normalfall sagen: Dasmachen wir transparent. – Das geht.
Richtig ist: Transparenz ist kein Selbstzweck. Deswe-gen haben wir alles mit dem damaligen Bundesdaten-schutzbeauftragten Peter Schaar besprochen. Er hat gesagt:Ihr müsst eine Bagatellgrenze von 25 000 Euro einfüh-ren. Er hat gesagt: Natürlich müsst ihr sorgsam abwägenzwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeitund dem Schutz der Daten.Es geht auch nicht um eine kleinteilige Kostenauflis-tung. Worum geht es dann? Es geht darum, zu erfahren,wer von welchen Fördertöpfen profitiert, wer Fördermit-tel bekommt. Es geht nicht um die Maßnahmen selbst.Sicherlich gibt es dazu diverse Datenbanken. Aber bis-her liegt im Dunkeln: Wer profitiert? Wie werden dieMittel verteilt?
Hier wollen wir Transparenz schaffen. Das ist der An-satz, den wir in unserem Antrag gewählt haben.
Ich nenne Ihnen als Beispiel die Plattform E-Mobility.Wissen Sie, wer die Profiteure der Millionen aus diesemProgramm sind, das aufgelegt wurde, um die Entwicklungder Elektromobilität anzuschieben? Die Mittel verteilensich auf diverse Ministerien. Das Wirtschaftsministeriumjedenfalls fährt die Mittel von 280 Millionen Euro auf220 Millionen Euro zurück. Mich interessiert, wen daseigentlich betrifft. Natürlich habe ich als Abgeordnetemehr Möglichkeiten; das weiß ich. Ich kann beispiels-weise das Ministerium fragen etc.
Der Unterschied ist allerdings, dass wir Transparenz fürdie Bürgerinnen und Bürger schaffen wollen. Nicht nurwir Abgeordnete, sondern auch die Bürgerinnen undBürger sollen Bescheid wissen.
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5434 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Kerstin Andreae
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Es ist richtig, dass Sie im Bundeswirtschaftsministe-rium jetzt die Förderprogramme stärker evaluieren. Ichfinde die Ansätze, die Sie, Frau Gleicke, im Ausschussvorgestellt haben, richtig. Aber dann sollten wir auchschauen, ob die Förderung beim Mittelstand, bei den In-novativen, den jungen Unternehmen, den Start-ups an-kommt. Lassen Sie uns hier doch Transparenz schaffen,damit wir mehr wissen. Ja, es geht um eine effizientereArbeit und eine bessere Haushaltskontrolle. Was ge-schieht mit den Milliarden in den Fördertöpfen? Sie kön-nen nicht ernsthaft dagegen sein, dass hier Transparenzgeschaffen wird. Ihre Argumente sind aus der Luft ge-griffen. Weder wollen wir ein Bürokratiemonster schaf-fen, noch leiden wir unter Datensammelwut. Wir wollen,dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfahren,was mit ihren Steuergeldern im Fördermittelbereich ge-schieht. Wir als Abgeordnete wollen gleichzeitig, wennes im Haushaltsverfahren um die Aufstockung von För-dermitteln geht, besser einschätzen können: Sind dieMittel richtig eingesetzt, oder haben wir Spielraum, umdie Mittel besser einzusetzen? Das ist das, was wir errei-chen wollen.
Die Forderung nach mehr Transparenz ist in der heu-tigen Zeit absolut erforderlich. Wir sollten alles daran-setzen, hier immer wieder nachzulegen. Es ist in Ord-nung, wenn Sie unseren Antrag kritisieren, weil er nochnicht alle Fragen beantwortet und nicht jedes Detailklärt. Wir können über alles reden. Was mich nur so er-staunt, ist, dass wir im Ausschuss über diese Kritik-punkte gar nicht gesprochen haben. Wo sind denn IhreInitiativen, die die Transparenz, die Sie hier zumindestin der Prosa loben, einfordern? Wir haben nicht den Ein-druck, dass Sie wirklich daran arbeiten, Transparenz beiden Fördermitteln zu schaffen.
Ich hätte mich gefreut, wenn wir hier zusammen wei-ter daran gearbeitet hätten, wenn Sie hier nicht nur kriti-siert, sondern Ihrerseits Vorschläge gemacht hätten; denndas sind wir den Menschen in diesem Land schuldig. Diesollen erfahren, was mit ihren Steuergeldern passiert.Außerdem wollen wir unsere Arbeit an der Stelle besserkontrollieren. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesenGedanken an anderer Stelle noch einmal aufgreifen wür-den.In diesem Sinne noch einen schönen Nachmittag!
Das Wort hat der Kollege Thomas Jurk für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Offensichtlich sind wir uns alle ei-nig. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten unterstützen grundsätzlich Forderungen nach einerhöheren Transparenz bei der Vergabe von Fördermitteln.Allerdings – das unterscheidet uns, sehr verehrte FrauVorrednerin – sehen wir keinen dringenden und erstrecht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf; denndie mit Ihrem Antrag verbundene Forderung nach Veröf-fentlichung von Informationen über die Vergabe vonFördermitteln ist in wesentlichen Politikbereichen längstRealität.
So veröffentlichen die Ministerien für Wirtschaft undEnergie, für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-cherheit, für Ernährung und Landwirtschaft, für Verkehrund digitale Infrastruktur sowie für Bildung und For-schung mit dem Förderkatalog des Bundes im InternetInformationen über laufende und abgeschlossene För-dervorhaben.
Dabei handelt es sich – mit wenigen Ausnahmen – umalle Fördermaßnahmen in den genannten Ressorts, dieüber das Projektinformationssystem „profi“ adminis-triert werden. Um mit Zahlen zu argumentieren: Alleinim Geschäftsbereich des Bundeswirtschaftsministeriumswerden knapp 27 000 Vorhaben – davon rund 4 500 lau-fende – aufgeführt. Allein diese Zahlen machen dochdeutlich, was bereits verfügbar ist.Das Bundeswirtschaftsministerium plant zudem, dieTransparenz bei der Fördermittelvergabe dadurch weiterzu erhöhen, dass mittelfristig weitere Fördermaßnahmenim Förderkatalog des Bundes veröffentlicht werden.Außerdem stehen mit der Förderdatenbank des Bun-des die von Ihnen geforderten Informationen über dieFörderprogramme für die Öffentlichkeit, aber auch fürinteressierte Abgeordnete bereits zur Verfügung.Ebenso erfolgt die unter Ziffer 4 Ihres Antrags gefor-derte „Vorabinformation der Fördermittelempfängerin-nen und -empfänger über die Veröffentlichung“ in derRegel schon jetzt. Das geschieht nämlich entwederdurch die Förderrichtlinie an sich oder durch den jeweili-gen Zuwendungsbescheid.Zudem erlaube ich mir an dieser Stelle den dezentenHinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz, das wohljedem Bürger das Recht einräumt, Zugang zu amtlichenInformationen – auch von Bundesbehörden – zu erlan-gen.
Dass der Antrag der Grünen, sehr verehrte Damenund Herren, im Detail wenig durchdacht ist, zeigt sichauch an einer anderen Stelle. So soll – ich zitiere – „die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5435
Thomas Jurk
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öffentliche Hand“ gesetzlich verpflichtet werden, Infor-mationen über Förderleitlinien und die Empfänger vonFördermitteln zu veröffentlichen. In der Begründung Ih-res Antrages nehmen Sie jedoch nur auf den Bund Be-zug. Ihnen ist offensichtlich selbst nicht klar, was Siewollen. Soll denn nur der Bund oder sollen auch dieLänder und Gemeinden sowie die Anstalten und Körper-schaften des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet wer-den?Ich vermisse in Ihrem Antrag – die Debattenrednerhaben bereits darauf hingewiesen – Finanzierungsvor-schläge für die von Ihnen angedachten gesetzlichen Re-gelungen. Hat sich bei Ihnen eigentlich schon jemandeinmal darüber Gedanken gemacht, wie aufwendig dievon Ihnen geforderte Ausnahmeprüfung bei der Veröf-fentlichungspflicht in Fällen ist, in denen es – ich zitiereaus dem Antrag – „durch die Veröffentlichung zu Rück-schlüssen auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse kom-men kann“? – Der Kollege von den Linken hat daraufhingewiesen, dass man so etwas wie eine Einzelfallprü-fung vornehmen könne. Entschuldigung! Der Einzelfallmuss doch aber erst einmal definiert werden. Das heißt,dass alle Anträge geprüft werden müssen,
um den Einzelfall herauszufiltern, der dann wieder her-ausgenommen wird. Schönen Dank auch! Das ist Büro-kratie pur.
– Schönen Dank, dass Sie es verstanden haben!Oder haben Sie sich schon einmal Gedanken darübergemacht, welche Kosten es verursacht, wenn in jedem Ein-zelfall – ich zitiere erneut aus dem Antrag der Grünen –„eine Abwägung zwischen dem Transparenzinteresse derÖffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener Datender Fördermittelempfängerinnen und -empfänger erfol-gen“ soll, indem – jetzt kommt es – „die Erforderlichkeitder Veröffentlichung nach Bezugsdauer, Häufigkeit so-wie Art und Umfang der Zuwendung geprüft wird“? –
Ich hoffe, Sie konnten Ihrem eigenen Text jetzt noch fol-gen, Frau Andreae.
Klar ist jedenfalls, dass Sie, ob Sie es nun wollen odernicht, ein unfinanzierbares Bürokratiemonster schaffen.Das Gegenteil von gut ist bekanntermaßen gut gemeint.Frau Kollegin Andreae, ich habe interessiert zur Kennt-nis genommen, dass Sie in der von Ihnen in der letztenDebatte zu Protokoll gegebenen Rede darauf hingewie-sen haben, dass insbesondere die neuen Regelungen, dieSie uns per Antrag hier unterjubeln wollen, Ihnen dieChance zu neuen Möglichkeiten der Haushaltskontrolleeinräumen.
Da muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie sich und IhrerArbeit ein Armutszeugnis ausstellen wollen.Hinter Ihnen sitzt Frau Kollegin Hajduk. Wir sind ge-meinsam Berichterstatter zum Einzelplan 09, Bundes-ministerium für Wirtschaft und Energie. Frau KolleginHajduk, geben Sie mir recht, dass das Ministerium tat-sächlich bemüht ist, auf Ihre Anfragen sehr transparentund offen zu antworten, dass also für unsere Arbeit alsAbgeordnete noch andere Möglichkeiten bestehen, In-formationen zu erlangen und unserem grundgesetzlichenAuftrag gerecht zu werden, im Interesse der Bürgerinnenund Bürger nachzuvollziehen, was die Verwaltung ge-rade treibt oder nicht? – Nun gut, Frau Hajduk wider-spricht mir gerade nicht. Also stelle ich fest, dass das imHinblick auf das BMWi durchaus der Fall ist.
Kollege Jurk, sie hat sich aber auch nicht gemeldet,
um Ihre Redezeit zu verlängern. Deshalb muss ich Sie
jetzt darauf aufmerksam machen, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.
Frau Präsidentin, ich hatte genau das jetzt erwartet.
Ich freue mich, dass sie es nicht getan hat, weil sie mich
gerade bestätigt hat.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen überflüssig,
unausgegoren und unfinanzierbar ist. Deshalb werden
wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Hansjörg Durz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Wenn man die Reden in dieser Debatte verfolgt, dannwird deutlich, dass wirklich alle das gleiche Ziel verfol-gen, nämlich dass insbesondere dann, wenn Steuergelderfür Fördermittel eingesetzt werden, größtmögliche Trans-parenz sichergestellt sein muss, dass die politischen Ent-scheidungsprozesse transparent gemacht werden müssenund dass die Verwendung von finanziellen Mitteln fürdie Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein muss.
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5436 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014
Hansjörg Durz
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Wenn man den Antrag von Bündnis 90/Die Grünenliest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es inDeutschland mit der Transparenz bei Fördermitteln nichtsehr weit her ist. Dem ist aber nicht so; vielmehr ist ge-nau das Gegenteil der Fall. Wir haben im Rahmen derDebatte eine ganze Reihe von Möglichkeiten gehört, wieman sich informieren kann,
wie nicht nur wir als Abgeordnete uns informieren kön-nen – auch über die Verteilung –, sondern wie auch dieBürgerinnen und Bürger sich genauer informieren kön-nen. Ich will die eine Maßnahme noch einmal herausstel-len: 110 000 bereits abgeschlossene und noch laufendeVorhaben der Projektförderung sind im Förderkatalogdes Bundes nachzulesen. Da kann man genau sehen, wergefördert wird, wer fördert, was gefördert wird, wielange gefördert wird und wie viel gefördert wird. Es gibtalso sehr detaillierte Informationen.In Ihrem Antrag beschreiben Sie aber auch einen ers-ten Konflikt im Zusammenhang mit Transparenz. Ich zi-tiere:Um einen ausreichenden Schutz der Grundrechteund der personenbezogenen Daten zu gewährleis-ten, muss sorgsam zwischen dem Transparenzinte-resse der Öffentlichkeit und dem Schutz personen-bezogener Daten von Fördermittelempfängerinnenund -empfängern abgewogen werden.Sie weisen also darauf hin, dass Transparenz auchGrenzen hat und dass zwischen Transparenz und demSchutz personenbezogener Daten abgewogen werdenmuss.
Ich möchte auf einen zweiten Konflikt hinweisen, einzweites Themenfeld, in dem es auch abzuwägen gilt. Sieorientieren sich in Ihrem Antrag – Sie erwähnen das anmehreren Stellen – am EU-Agrarfonds. Bei diesen EU-Agrarfördermitteln geht es ganz konkret um Direktzah-lungen, um sogenannte Betriebsprämien, die unabhängigvon Art und Umfang der landwirtschaftlichen Produk-tion gewährt werden, die einerseits an ganz konkreteAuflagen gebunden sind, andererseits aber vor allem ei-nen klaren Maßstab haben, nämlich die Fläche. Hier sinddie Richtlinien klar, hier ist der Maßstab klar, hier kannauch miteinander verglichen werden.Aber wie ist der Maßstab zum Beispiel bei der Förde-rung von Innovationen? Abstrakt gesehen klingt „Her-stellung von Transparenz“ immer sehr einleuchtend.Wenn es aber konkret wird, wird es etwas schwieriger.Betrachten wir zum Beispiel ganz konkret das ZentraleInnovationsprogramm Mittelstand, ZIM, das von allenhier positiv gesehen wird. Das ist ein Programm zur För-derung von Forschung, Entwicklung und Innovation,insbesondere für kleine und mittelständische Unterneh-men. Der größte Teil der Antragsteller beschäftigt 10 bis49 Mitarbeiter. Die Förderung über ZIM ist sehr hetero-gen. Es werden sehr viele verschiedene Technologiefel-der unterstützt.Es gibt natürlich klare Förderrichtlinien, nicht aberden einen Maßstab, mit dem die einzelnen Empfängerder Förderung verglichen werden können. Es findet eineregelmäßige Evaluation statt, die den Erfolg und densinnvollen Einsatz der Mittel belegt. Der Bericht darüberwird auch regelmäßig veröffentlicht. Bei der Evaluation,aber auch bei der Befragung der Unternehmen und derProjektträger kommt auf die Frage, warum denn ZIM soerfolgreich ist, stets die Antwort, dass es unbürokratischin der Antragstellung, aber auch in der Abwicklung ist.
Sollte man hier noch mehr Transparenz schaffen wol-len, so ist zusätzlicher bürokratischer Aufwand zwin-gend erforderlich – für die Projektträger, aber eben auchfür die KMU.
Somit wäre genau ein entscheidender Faktor, ein Er-folgsfaktor von ZIM, nämlich das Unbürokratische, zu-nichtegemacht.
Das Pendant zu ZIM auf EU-Ebene ist das Techno-logieförderprogramm Horizon 2020. Dieses Programmwird seitens der Unternehmen und der Projektträger we-gen der Amtshürden und vor allem wegen des bürokra-tischen Aufwands kritisiert. Es wird von deutschen Un-ternehmen sehr wenig in Anspruch genommen, wennüberhaupt, dann eher von größeren und nicht von KMU,eben wegen dieses bürokratischen Aufwands.Das Augenmerk sollte unseres Erachtens viel eher da-rauf gelegt werden, wie wir es schaffen, mehr Informa-tionen für die Unternehmen bereitzustellen und damitmehr Licht ins Dickicht der Förderlandschaft von Bund,Ländern und EU zu bringen. Hier brauchen wir eineTransparenzoffensive. Wir wollen mehr Informationenüber die Chancen und Möglichkeiten der Programme fürdie Unternehmen. Wir wollen, dass sich noch mehrkleine und mittelständische Unternehmen auf den Wegmachen, um Innovationen anzugehen und umzusetzen.Das bedeutet zusammenfassend: Transparenz, Förder-mitteltransparenz – ja, aber mit Maß und Ziel. Wir sindder Auffassung, dass die richtige Balance zwischenTransparenz und bürokratischem Aufwand gegeben seinmuss, und lehnen daher den Antrag der Grünen ab.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schö-nes Wochenende.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5437
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Fördermitteltransparenz erhöhen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1676, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/980 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 15. Oktober 2014, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen erholsamen Nachmittag, wenn das möglich ist.