Protokoll:
18058

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 58

  • date_rangeDatum: 10. Oktober 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:38 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/58 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 58. Sitzung Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 21: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 Drucksache 18/2665 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5363 A Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer . . . . . . . . . . . . 5363 C Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . 5365 D Mark Hauptmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5367 A Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5368 A Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5369 B Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5370 C Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5371 C Peter Stein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5372 D Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5374 C Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5375 D Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5376 D Sabine Poschmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5378 C Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 5379 B Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5380 C Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5381 D Tagesordnungspunkt 22: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundge- setzes (Artikel 91 b) Drucksache 18/2710 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5383 A b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Katja Dörner, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kooperationsver- bot kippen – Zusammenarbeit von Bund und Ländern für bessere Bildung und Wissenschaft ermöglichen Drucksache 18/2747 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5383 B Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5383 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5384 B Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . 5386 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 5388 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5390 A Albert Rupprecht (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5391 C Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5393 B Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 5394 B Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5395 D Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5396 D René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5398 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5399 C Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5400 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . 5401 B Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5402 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 Albert Rupprecht (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 5403 D Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 5404 B Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU) . . . . . . 5404 D Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5405 D Tagesordnungspunkt 23: a) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesetzliche Deckelung und Veröffentli- chung der Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite Drucksache 18/2741 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5406 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Begrenzung von Dispositions- und Überziehungszinsen Drucksachen 18/807, 18/1342, 18/2777 . . 5406 D Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 5407 A Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5408 B Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5410 B Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . . 5411 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5412 B Dennis Rohde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5413 A Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5413 D Tagesordnungspunkt 24: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Europa – Vorreiter im Kampf ge- gen die Todesstrafe Drucksache 18/2738 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5414 D b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Todesstrafe weltweit ächten Drucksache 18/2740 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5414 D Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5415 A Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5416 A Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 5417 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5418 D Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5420 A Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 5420 D Tagesordnungspunkt 25: Vereinbarte Debatte: Weltmädchentag – Bil- dung und Gesundheit von Mädchen als Vo- raussetzung für Entwicklung . . . . . . . . . . . 5422 A Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) . . . 5422 B Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5423 D Michaela Engelmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . . 5424 C Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5426 A Martin Patzelt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5426 D Ursula Schulte (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5428 B Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Anja Hajduk, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Fördermitteltrans- parenz erhöhen Drucksachen 18/980, 18/1676 . . . . . . . . . . . . 5429 D Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5430 A Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 5431 A Mark Hauptmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5432 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5433 B Thomas Jurk (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5434 C Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 5435 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5437 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5439 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5440 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5363 (A) (C) (D)(B) 58. Sitzung Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5439 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aken, Jan van DIE LINKE 10.10.2014 Alpers, Agnes DIE LINKE 10.10.2014 Bartz, Julia CDU/CSU 10.10.2014 Dr. Castellucci, Lars SPD 10.10.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 10.10.2014 Dr. De Ridder, Daniela SPD 10.10.2014 Evers-Meyer, Karin SPD 10.10.2014 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 10.10.2014 Gastel, Matthias BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Golze, Diana DIE LINKE 10.10.2014 Göppel, Josef CDU/CSU 10.10.2014 Grindel, Reinhard CDU/CSU 10.10.2014 Grütters, Monika CDU/CSU 10.10.2014 Hartmann, Sebastian SPD 10.10.2014 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Klare, Arno SPD 10.10.2014 Dr. Kofler, Bärbel SPD 10.10.2014 Kolbe, Daniela SPD 10.10.2014 Kretschmer, Michael CDU/CSU 10.10.2014 Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Dr. Middelberg, Mathias CDU/CSU 10.10.2014 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Pitterle, Richard DIE LINKE 10.10.2014 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 10.10.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 10.10.2014 Schmidt (Ühlingen), Gabriele CDU/CSU 10.10.2014 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Schneider (Erfurt), Carsten SPD 10.10.2014 Schön (St. Wendel), Nadine CDU/CSU 10.10.2014 Schwartze, Stefan SPD 10.10.2014 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 10.10.2014 Steffen, Sonja SPD 10.10.2014 Steinbach, Erika CDU/CSU 10.10.2014 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 10.10.2014 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.10.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 10.10.2014 Veit, Rüdiger SPD 10.10.2014 Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 10.10.2014 Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 10.10.2014 Wolff (Wolmirstedt), Waltraud SPD 10.10.2014 Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 10.10.2014 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 5440 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Auswärtiger Ausschuss Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühun- gen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtver- breitung sowie über die Entwicklung der Streitkräfte- potenziale (Jahresabrüstungsbericht 2013) Drucksachen 18/933, 18/1379 (neu) Nr. 1.2 Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- mentarischen Versammlung der NATO 58. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO vom 9. bis 12. November 2012 in Prag, Tschechische Republik Drucksachen 18/1923, 18/2530 Nr. 2 Finanzausschuss Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Bericht des Ausschusses für Finanzstabilität zur Finanzstabilität in Deutschland Drucksachen 18/1795, 18/2048 Nr. 1.2 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/1393 Nr. A.10 EP P7_TA-PROV(2014)0209 Drucksache 18/1935 Nr. A.1 EuB-BReg 49/2014 Drucksache 18/1935 Nr. A.2 EuB-BReg 51/2014 Drucksache 18/2055 Nr. A.1 EuB-BReg 53/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.3 EuB-BReg 62/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.4 EuB-BReg 65/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.5 EuB-BReg 70/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.6 EuB-BReg 71/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.8 Ratsdokument 10279/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.9 Ratsdokument 10551/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.10 Ratsdokument 11221/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.11 Ratsdokument 11980/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.12 Ratsdokument 12127/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.13 Ratsdokument 12206/14 Drucksache 18/2677 Nr. A.1 Ratsdokument 12785/14 DCL 1 Drucksache 18/2677 Nr. A.2 Ratsdokument 12796/14 DCL 1 Innenausschuss Drucksache 18/419 Nr. A.20 EP P7_TA-PROV(2013)0376 Haushaltsausschuss Drucksache 18/2533 Nr. A.33 Ratsdokument 11121/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.34 Ratsdokument 11473/14 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/2055 Nr. A.11 Ratsdokument 10824/14 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 18/2533 Nr. A.64 Ratsdokument 10412/14 58. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 21 Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit TOP 22 Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b) TOP 23 Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite TOP 24 Kampf gegen die Todesstrafe TOP 25 Vereinbarte Debatte zum Weltmädchentag TOP 26 Fördermitteltransparenz Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805800000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Es gibt keine Änderungen der Tagesordnung oder an-
dere aufregende amtliche Mitteilungen, sodass wir ohne
jeden weiteren Verzug in unsere vereinbarte Tagesord-
nung eintreten können.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2014

Drucksache 18/2665
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsauschuss

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu
gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann können wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung für
die neuen Bundesländer:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit steht in
diesem Jahr ganz im Zeichen der friedlichen Revolution
in der DDR. Er würdigt die Verdienste der Bürgerrecht-
ler und Demonstranten, die sich mutig gegen Diktatur
und staatliche Willkür erhoben haben. Sie haben den
Grundstein für Freiheit und Demokratie in Ostdeutsch-
land gelegt und die Einheit unseres Landes überhaupt
erst möglich gemacht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben die Mauer eingerissen.

Ich weiß, wir sprechen häufig vom Fall der Mauer.
Aber diese Mauer ist nicht von alleine umgefallen – im
Gegenteil. Viele Menschen haben erfahren müssen, wie
brutal und unüberwindlich diese Mauer gewesen ist.
Nicht wenige von denen, die versucht haben, sie zu über-
winden, sind im Stacheldraht verblutet. Das alles dürfen
wir niemals vergessen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir dürfen auch niemals vergessen, wie unglaublich
viel wir den Demokratie- und Freiheitsbewegungen im
Ostblock zu verdanken haben: in Ungarn, in der Tsche-
choslowakei und in Polen. Viel zu verdanken haben wir
einzelnen Menschen wie Michail Gorbatschow, dem ich
von hier aus gute Besserung wünsche. Ich habe heute
Morgen gelesen, dass er im Krankenhaus liegt. Ich
denke an Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich
Genscher.

Aber ihre Freiheit, meine sehr verehrten Damen und
Herren, haben sich die Ostdeutschen selber erkämpft,
mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefal-
len ist und die wir deshalb voller Stolz als friedliche Re-
volution bezeichnen dürfen.





Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dass es so friedlich bleiben würde, war damals keines-
wegs abzusehen. Es gehörte vor 25 Jahren Mut dazu, auf
die Straße zu gehen und zu demonstrieren, in Leipzig
und anderen Städten der DDR.

Ich kenne keinen, der damals keine Angst gehabt
hätte. Denn die Bilder der brutalen Gewalt auf dem Platz
des Himmlischen Friedens im fernen Peking liefen in
dieser Zeit quasi als Dauerschleife im DDR-Fernsehen.
Man darf nicht vergessen, dass Stasi-Vizechef Mittig am
26. September 1989 die Chefs der MfS-Bezirksverwal-
tungen zusammenrief und forderte, die „feindlich-oppo-
sitionellen Zusammenschlüsse“ mit dem Ziel der Zer-
schlagung „operativ zu bearbeiten“.

Ich erinnere auch daran, dass Verteidigungsminister
Keßler zum 40. Jahrestag der DDR vorsorglich die NVA
für den Einsatz in Ostberlin in Stellung brachte, auf
Grundlage eines Honecker-Befehls „zur Verhinderung
von Provokationen unterschiedlicher Art“.

Die Angst war da. Sie war ganz real. Aber wir haben
sie überwunden. Dieser Mut und die Leidenschaft der
friedlichen Revolutionäre werden in diesem Bericht ge-
würdigt, und es wird das Leben der ganz großen Mehr-
heit der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gewürdigt,
die ganz einfach versucht hat, ein anständiges Leben zu
führen. Wolfgang Thierse hat in diesem Zusammenhang
einmal vom richtigen Leben im falschen System gespro-
chen. Das war ein Leben voller Widersprüche. Wir ha-
ben gewusst, dass in der Disko die Stasi immer mittanzt.
Aber wir sind trotzdem gerne tanzen gegangen. Es gibt
die schönen Geschichten vom Stolz auf die bestandene
Prüfung, vom Kribbeln im Bauch beim ersten Kuss, von
der ersten Fahrt im eigenen Auto, vom Gartenhaus, in
dem man zumindest weitestgehend seine Ruhe hatte vor
diesem alles wissen wollenden Staat. Aber ich will keine
Ostalgie. Ich will, dass auch die anderen, die schlimmen
Geschichten erzählt werden, die Geschichten vom klei-
nen und großen Verrat, von Demütigung und Verfol-
gung, von Knast und Zwangsarbeit, vom Verlust gelieb-
ter Menschen durch Ausbürgerung und Flucht und
schlimmstenfalls durch den Tod. All diese Geschichten,
die schönen und die hässlichen, machen die irrsinnigen
Widersprüche dieser DDR-Gesellschaft deutlich. Aus all
dem und noch viel mehr hat unser Leben bestanden.
Roland Jahn hat völlig recht mit seiner Feststellung, dass
niemand „nur Rebell oder nur Angepasster“ war. Das
gilt es zu begreifen, und das gilt es zu respektieren.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Angesichts dessen empfinde ich die aktuelle Debatte
darüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war oder
nicht, schlicht und ergreifend als banal.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was ist das?)


Im Grunde ist es doch ganz einfach: Die DDR war eine
Diktatur, übrigens eine ziemlich üble und spießige Dik-
tatur. Eine Diktatur ist nun einmal ein Unrechtsstaat. Das
gehört zu ihrem Wesen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die Linke hat vergessen, zu klatschen!)


Aber das sagt nur etwas über das System aus. Es sagt
wenig bis nichts über die Menschen, die in diesem Sys-
tem gelebt haben. Deshalb finde ich, dass uns solche De-
batten nicht weiterbringen.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Viel wichtiger ist es, die Erinnerung zu bewahren und
die Opfer dieses Systems angemessen zu würdigen. Des-
halb ist es mir so wichtig, dass die Bundesregierung ge-
rade beschlossen hat, die Opferrenten zu erhöhen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Wir sind als Ostdeutsche und als Westdeutsche mit
ganz unterschiedlichen Erfahrungen in die Einheit ge-
gangen. Den Ostdeutschen hat das mehr abverlangt als
den Westdeutschen. Das hat etwas mit dem zu tun, was
wir heute als Transformation beschreiben. Während die
Westdeutschen ihr vertrautes Leben weiterführen konn-
ten, brach über die Ostdeutschen nach 1990 eine totale
Veränderung so gut wie aller Lebensbereiche herein: ein
vollständig neues Wirtschafts-, Rechts- und Gesell-
schaftssystem, eine neue Verwaltung, Bildungsab-
schlüsse, um deren Anerkennung man sich kümmern
und teilweise kämpfen musste, Alteigentümer, die An-
sprüche geltend machten. Es kamen die Treuhand und
eine Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeits-
losigkeit und einer massiven Abwanderung. Ich kann
und will das alles hier nicht aufzählen.

Tatsache ist, dass wir Ostdeutschen in den vergange-
nen fast 25 Jahren eine unglaubliche Anpassungsleistung
hinter uns gebracht haben. Für mich als Abgeordnete mit
einem schönen Büro im Deutschen Bundestag war das
relativ leicht. Andere hatten und haben es da schwerer.
Viele haben ihre Arbeit verloren und nie wieder eine ver-
nünftige und anständig bezahlte Arbeit gefunden. Wie-
derum andere haben versucht, sich eine eigene Existenz
aufzubauen, und sind dabei zum Teil entsetzlich geschei-
tert. Es gibt kaum einen Ostdeutschen, der so etwas nicht
aus der eigenen Familie oder aus dem Freundes- und
Bekanntenkreis kennt. Manchmal wird mit einem sehr
verächtlichen Unterton von den Verlierern der Einheit
gesprochen. Ich finde das nicht nur dumm, sondern
schändlich. Auch sie gehören zu dieser Geschichte der
deutschen Einheit. Auch ihr Beitrag zählt. Sie haben zu-
mindest Anspruch auf unseren Respekt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, in meinen Augen ist die
Geschichte der deutschen Einheit keine reine Erfolgsge-
schichte. Trotzdem sage ich, dass ich sehr stolz auf das





Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)

bin, was wir Ostdeutschen in den letzten 25 Jahren er-
reicht haben: ein mittlerweile wirklich gut ausgebautes
Verkehrsnetz, die Beseitigung der verheerenden Um-
weltschäden, sanierte und liebevoll restaurierte Innen-
städte, eine verbesserte Wohn- und Lebensqualität sowie
eine moderne, mittelständisch geprägte Industrie- und
Forschungslandschaft. Hinzu kommen Universitäten,
deren Ruf so gut ist, dass immer mehr junge Menschen
aus dem Westen dort studieren wollen. Ohne die große
Solidarität des Westens hätten wir das nie geschafft.
Diese Solidarität wird geradezu entwertet von all den
Erbsenzählern, die uns immer wieder vorrechnen, wie
viele Milliarden, Billionen oder Fantastilliarden Euro bis
jetzt schon im sogenannten Milliardengrab Aufbau Ost
verschwunden sind.

Ich sage Ihnen hier sehr offen: Der Aufbau Ost ist
noch längst nicht abgeschlossen. Auch nach 24 Jahren
gibt es immer noch deutliche Unterschiede: eine Wirt-
schaftskraft, die gerade mal zwei Drittel von der des
Westens beträgt, ein viel geringeres Steueraufkommen
der Länder und Kommunen sowie Löhne und Gehälter,
die im Durchschnitt 20 Prozent unter denen im Westen
liegen. Sie wissen, meine Damen und Herren, in man-
chen Branchen haben wir eine Angleichung von 97 Pro-
zent erreicht, in anderen Branchen aber liegen wir bei
45 Prozent Unterschied. Hier wird eine ganz große Dis-
parität deutlich. Wir haben eine deutlich höhere Arbeits-
losigkeit und einen wirtschaftlichen Aufholprozess, der
sich so sehr abgeschwächt hat, dass die Pessimisten be-
haupten könnten, er sei zum Stillstand gekommen.

Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, um
diese Unterschiede zu beseitigen. Beim Rentenrecht aber
ist es anders; denn wir werden das in Ost und West noch
immer unterschiedliche Rentensystem in dieser Legisla-
turperiode endlich angleichen, damit es in dieser Frage
ab 2019 keine Unterschiede mehr gibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das steht aber nicht in Ihrem Koalitionsvertrag!)


Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftsdaten be-
sagen, dass der Osten auch über das Jahr 2019 und damit
über das Ende des Solidarpaktes hinaus eine verlässliche
Förderung braucht. Wenn diese nicht kommt, wenn wir
eine Verlängerung nicht hinkriegen, würgen wir den Mo-
tor ab, der gerade erst richtig ins Laufen kommt. Dann
waren alle bisherigen Anstrengungen für die Katz. Ich
bin deshalb wirklich froh darüber, dass unsere Bundes-
kanzlerin, unser Vizekanzler, unser Bundesfinanzminis-
ter und unsere Bundesfamilienministerin dazu klare An-
sagen gemacht haben. Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir halten
am Auftrag des Grundgesetzes zur Herstellung gleich-
wertiger Lebensverhältnisse fest. Das gilt natürlich auch
für die strukturschwachen westdeutschen Regionen.
Auch sie brauchen eine solche verlässliche Förderung.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist deshalb wirklich keine Übertreibung, wenn ich
feststelle: Die Neuordnung des Bund-Länder-Finanzaus-
gleichs, die sich diese Koalition vorgenommen hat, ist
eine echte Schicksalsfrage nicht nur für Ostdeutschland,
sondern für unser ganzes Land.


(Beifall der Abg. Petra Crone [SPD])


Ich bin mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsam
meistern werden, weil wir alle wissen, worum es geht.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
auf dem Weg zur inneren Einheit große Fortschritte ge-
macht. Das Ziel erreicht haben wir noch nicht. Aus mei-
ner Sicht liegt das daran, dass dieser Weg nur über ge-
genseitigen Respekt und gegenseitige Anerkennung
beschritten werden kann. Das klingt so leicht und fällt
doch vielen offenbar recht schwer. Die jungen Leute ma-
chen es uns vor mit ihrem unverkrampften Umgang mit-
einander. Ich finde, auch das ist in diesem Jahr ein guter
Grund zum Feiern.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805800100

Dietmar Bartsch ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805800200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau

Gleicke, das ist der erste Jahresbericht zum Stand der
Deutschen Einheit, den Sie vorstellen. Ich muss ganz
klar sagen: Im Vergleich zu anderen Politikfeldern, zum
Beispiel der Steuerpolitik oder den ungleichen Einkom-
mens- und Vermögensverhältnissen, bei denen von dem,
was die SPD als Opposition und im Wahlkampf gesagt
hat, nichts übrig geblieben ist, ist es hier anders. Dieser
Bericht trägt Ihre Handschrift. Er ist besser als der Ihrer
Vorgänger. Dazu gehört auch nicht sehr viel, und das ist
auch nicht Ihr Maßstab, hoffe ich, aber das muss ich und
will ich klar anerkennen.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Es ist auch gut – das will ich deutlich sagen –, dass
Sie in dem Bericht die 25 Jahre nach der friedlichen Re-
volution würdigen. Das ist vernünftig. Auch hier haben
Sie es eben noch einmal getan. Ich kann mich vielem,
was Sie gesagt haben, durchaus anschließen.

Die DDR ist an ihren ökonomischen, an ihren politi-
schen und an ihren demokratischen Defiziten geschei-
tert. Das ist unbestritten.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist so, dass den Oppositionellen, allen, die friedlich
protestiert haben, Dank und auch dauerhafte Anerken-
nung gebühren. Auch das will ich hier deutlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)






Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)

Ihr Mut war gut. Das hat selbstverständlich seinen Platz
im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit. Sie haben
das umfangreich im Bericht und heute noch einmal dar-
gestellt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Dass die-
ser Umbruch friedlich verlaufen ist, ist auch ein Ver-
dienst der Sowjetunion. Auch die damaligen Eliten der
DDR haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass es fried-
lich geblieben ist.

In dem Vierteljahrhundert ist viel erreicht worden.
Die Menschen in Ost und West, Gewerkschaften, Kir-
chen, Vereine, Verbände und im Übrigen alle demokrati-
schen Parteien haben an der Entwicklung mitgewirkt. Es
gibt gute Gründe – auch das will ich betonen –, das Er-
reichte zu würdigen und auch zu feiern, wie Sie gesagt
haben. Es gibt deutliche Zugewinne an Freiheit, an Le-
bensqualität, es ist auch bei der Modernisierung der In-
frastruktur vieles erreicht worden. Es ist im Übrigen gut,
wenn drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung sagen,
die Wiedervereinigung sei insgesamt eher positiv zu be-
urteilen. Ich sehe das ganz genauso.

Aber es ist schlichtweg falsch, wie Sie, die Bundesre-
gierung, im Jahresbericht sagen, die Lebensqualität habe
sich in den neuen und in den alten Ländern weitgehend
angeglichen. Das ist nicht der Fall. Ich will auch sagen:
In den 25 Jahren wäre natürlich viel mehr möglich ge-
wesen. Es sind gravierende Fehler gemacht worden, zum
Beispiel mit der Währungsunion, mit der Treuhand-Poli-
tik, aber vor allen Dingen dadurch, dass Sie die Möglich-
keiten, die Ressourcen der Menschen aus den neuen
Ländern viel zu wenig genutzt haben. Es war ideologi-
sche Borniertheit, die das verhindert hat, wodurch wir
die Chancen, die darin gelegen haben, nicht realisiert ha-
ben.

Das DIW fragt: Ist Westdeutschland tatsächlich in al-
len Aspekten das Ideal für Ostdeutschland gewesen? Na-
türlich nicht, ist meine Antwort.


(Beifall bei der LINKEN)


Mein Kollege Roland Claus hat immer gesagt: Der Auf-
bau Ost als Nachbau West ist gescheitert. – Millionen
Menschen im Osten haben nach der Wende Einzigartiges
geleistet. Auch das will ich unterstreichen. Sie haben da
schlicht recht. Aber ihre Transformationserfahrungen
– Sie schreiben, diese könnten heute bei der Bewälti-
gung der globalen Herausforderungen notwendig sein –
wurden zu wenig genutzt. Diese Feststellung im Jahres-
bericht ist zumindest bisher folgenlos geblieben.

Ich will allerdings deutlich sagen – Sie haben das am
Rande erwähnt –, dass der Osten bei den zentralen Wirt-
schaftsdaten weiterhin deutlich dem Westen hinterher-
hinkt. Das ist ein ganz großes Problem. Schauen wir uns
die Arbeitslosenquote an. Die ostdeutschen Länder tau-
chen erst ab Platz 10 auf den letzten Plätzen auf, beim
Bruttoinlandsprodukt sind es die letzten Plätze, auf de-
nen die ostdeutschen Länder auftauchen, auch bei der
Steuerkraft liegen die ostdeutschen Länder ganz hinten.
Bei den verfügbaren Einkommen, was die Menschen am
meisten interessiert, liegen die neuen Länder auf den
letzten sechs Plätzen – und das 25 Jahre nach der deut-
schen Einheit. Wir haben jetzt dieselbe Reihenfolge wie
vor 25 Jahren. Da ist doch etwas nicht in Ordnung. Das
muss man weiterhin benennen. Da besteht ein eklatanter
Widerspruch zwischen Ihrem konkreten Regierungshan-
deln und dem, was Sie hier beschrieben haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben das Beispiel der Rente genannt. Dazu muss
ich Ihnen ganz deutlich sagen: 25 Jahre nach der deut-
schen Einheit beschließen Sie im Zusammenhang mit
der Mütterrente, dass eine Mutter in Stuttgart für ihr
Kind 2,22 Euro monatlich mehr bekommt als eine Mut-
ter in Schwerin. Das ist völlig inakzeptabel. Frau
Gleicke, da hätte ich mir von Ihnen gewünscht, dass Sie
laut und deutlich sagen, dass Sie das nicht akzeptieren.
Dass die Bundeskanzlerin das nicht macht – nun ja, aber
da muss die ostdeutsche Interessenvertreterin deutlich
sagen: 25 Jahre nach der deutschen Einheit wollen wir
das nicht. Da gehört endlich Gleichheit hergestellt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Überleitung der Bestandsrenten Ost ist ganz
viel geleistet worden. Aber es bleiben aus unserer Sicht
weiterhin Ungerechtigkeiten und Rechtswidrigkeiten,
und die gehören abgeschafft. Das werden Sie von uns
auch weiter hören.

Jetzt noch etwas, das wirklich skandalös ist. Vor we-
nigen Tagen ist hier in Berlin am Leipziger Platz die
„Mall of Berlin“ eröffnet worden. In einer Berliner Zei-
tung war zu lesen: Obwohl sie eine Stunde pro Woche
länger arbeiten, erhalten die Angestellten – weil: Ost-
berliner Einzelhandel – in den Läden der neuen Mall
5 Prozent weniger Urlaubs- und 10 Prozent weniger
Weihnachtsgeld als ihre Kollegen am benachbarten Pots-
damer Platz. – 100 Meter Entfernung, und da gibt es
wirklich diese Unterschiede? Das ist 25 Jahre nach Wie-
derherstellung der deutschen Einheit doch völlig inak-
zeptabel. Was können denn die Menschen dafür, die in
100 Meter Entfernung arbeiten?


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Da ist „gleicher Lohn und gleiche Rente für gleichwer-
tige Arbeit“ 25 Jahre nach Wiederherstellung der deut-
schen Einheit nicht erreicht. Das können wir alle zusam-
men doch nicht gut finden. Das können wir doch nicht
akzeptieren. Das muss weiter deutlich gesagt werden.

Sie sagen: Das Bruttoinlandsprodukt ist der zentrale
Maßstab. – Natürlich ist es der zentrale Maßstab. Wenn
die Angleichung in den nächsten Jahren weiter so ver-
läuft wie in den letzten 10 Jahren, werden wir erst in
über 100 Jahren so weit sein, dass der Osten beim Brut-
toinlandsprodukt das Westniveau erreicht hat. Das kön-
nen wir allesamt doch nicht hinnehmen. Da muss doch
etwas geschehen.

Deswegen darf es kein Weiter-so geben. Es muss ei-
nen Aktionsplan der Bundesregierung geben, um zum
Beispiel die Transformationserfahrungen der Ostdeut-
schen aufzunehmen. Was tun wir denn, um das zu verän-
dern? Wir können doch diese Fakten nicht einfach hin-





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)

nehmen. Das ist das Entscheidende. Deswegen müssen
Sie bei den aktuellen Auseinandersetzungen kämpfen,
zum Beispiel bei den Regionalmitteln. Da wird es doch
so sein, dass der Osten hinten runterfällt. Deswegen
müssen Sie beim Länderfinanzausgleich darum kämp-
fen, dass die Mittel für die neuen Länder nicht immer
weniger werden. Ja, es ist viel erreicht worden, ja, wir
können auch stolz sein, aber es darf kein Ausruhen ge-
ben, meine Damen und Herren! Die Menschen in den
neuen Ländern – das kann ich hier klar und deutlich sa-
gen – werden sich da auf das Engagement der Linken
wirklich verlassen können. Wir werden das immer wie-
der aufrufen, bis wirklich gleichwertige Lebensverhält-
nisse, wie es im Grundgesetz heißt, erreicht sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805800300

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege

Mark Hauptmann das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mark Hauptmann (CDU):
Rede ID: ID1805800400

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und

Herren! Zum 25. Mal jährt sich der Fall der Mauer. Wir
diskutieren den Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2014 heute zwischen zwei
historischen Terminen. Gestern, am 9. Oktober, vor
25 Jahren haben sich mutige Menschen in Leipzig ein
Herz gefasst und mit Kerzen und Gebeten gegen eine
Diktatur gekämpft. In der Nacht vom 9. auf den 10. No-
vember wurden die Grenzübergänge zwischen Ost- und
Westberlin geöffnet. Die Bilder von jubelnden Men-
schen am Brandenburger Tor gingen in jener Nacht um
die Welt. Das Brandenburger Tor ist bis heute ein bedeu-
tendes Symbol. Es wurde von einem Symbol der Teilung
zu einem Symbol des Zusammenwachsens, und noch
immer trägt dieses Symbol überall in der Welt.

Nicht alle sind jedoch im Zeitalter des Zusammen-
wachsens angekommen. Auch ein Vierteljahrhundert
nach dem Mauerfall wird der Versuch der Geschichts-
verklärung unternommen. Historiker, Politiker, Wissen-
schaftler, alle sind sich in einem Punkt der Analyse ei-
nig: Ein Staat, in dem keine freien Wahlen stattfinden
konnten, ein Staat, der die eigenen Bürger eingesperrt
und diese bei der Suche nach Freiheit an der Mauer kalt-
blütig erschossen hat, ein Staat, der Kinder aus den Fa-
milien herausgerissen und in Kinderheime gesteckt hat,
ein Staat, der politische Häftlinge gefoltert und einge-
sperrt hat, ein Staat, der alle Parteien gleichgeschaltet
und seine Macht auf die Exekutive, Judikative und Le-
gislative ausgedehnt hat, solch ein Staat war, ist und
bleibt ein Unrechtsstaat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Damen und Herren, vor diesem Hinter-
grund sind die jüngsten Äußerungen, die wir von den
Linken gehört haben, geradezu Hohn und Spott und ein
zynischer und billiger Versuch der Geschichtsumdeu-
tung.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja!)


Die Linke hat 2009 vor einem Gericht anerkannt,
Rechtsnachfolgerin der SED zu sein, und trägt in vollem
Umfang bis heute die Verantwortung für das Unrecht.


(Beifall der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU] – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Mussten wir nicht anerkennen!)


– Erstens. Wer schreit, hat unrecht. Bleiben Sie ruhig,
Herr Bartsch!


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ich bin ruhig!)


Zweitens. Sie tragen als Partei die Verantwortung für
dieses Unrecht. Sie sind die Kinder der PDS, die Enkel
der SED und damit der Unrechtsstaatspartei der DDR.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Kind der Blockpartei CDU!)


Aus dieser Verantwortung entlassen wir Sie nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Weil wir gerade in meiner Thüringer Heimat eine
Wahl erlebt haben, nach der es vielfältige Gespräche
gibt, ist mein Appell an die Kollegen von den Grünen
und von der SPD: Denken Sie an die Symbolik Ihres
Handelns!


(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)


25 Jahre nach der friedlichen Revolution mit den Stasis
von gestern über Staatssekretärsposten von morgen zu
verhandeln, ist ein Schlag ins Gesicht der Opferverbände
und der Bürgerrechtler in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Opposition! Geht in die Opposition!)


Der Jahrestag des Mauerfalls erinnert uns aber nicht
nur an die Sehnsucht der Menschen nach politischer Ge-
staltungsfreiheit,


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Noch billiger geht es nicht!)


sondern auch an die einzigartige Aufbau- und Anpas-
sungsleistung. Herr Bartsch hat eben das Glas als halb-
leer bezeichnet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805800500

Herr Kollege Hauptmann, würden Sie zwischendurch

eine Zwischenfrage der Kollegin Lazar gestatten?


Mark Hauptmann (CDU):
Rede ID: ID1805800600

Gern.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805800700

Bitte schön, Frau Lazar.






(A) (C)



(D)(B)


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805800800

Vielen Dank. – Sie haben am Anfang Ihrer Rede den

9. Oktober in Leipzig angesprochen. Ich war damals bei
den Montagsdemonstrationen dabei, und ich war auch
gestern bei den Feierlichkeiten dabei.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir hatten aber gestern Plenarsitzung! – Lachen bei der CDU/ CSU)


– Ich habe leider den Grund für das Gelächter nicht ver-
nommen, aber das interessiert mich jetzt auch nicht. Ich
möchte nur diesen holzschnittartigen Bemerkungen et-
was entgegensetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Einen wichtigen Anteil daran, dass es vor 25 Jahren in
Leipzig friedlich geblieben ist, hatte der „Aufruf der
Leipziger Sechs“. Von den sechs waren drei Bezirksse-
kretäre der SED in Leipzig.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ach!)

Ich bin keine Befürworterin der ehemaligen SED und
war damals, wie gesagt, auch mit auf der Straße. Ich ver-
wahre mich aber dagegen, dass hier nach 25 Jahren so
platt agiert wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch diese drei – damals SED-Funktionäre – haben eini-
ges riskiert. Ich fand es zum Beispiel schade, dass sie
gestern beim Festakt nicht dabei gewesen sind.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir hatten Plenarsitzung hier! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Sie müssen sich hier nicht moralisch empören. Ich war
damals dabei, und Sie haben nicht das Recht, mich hier
so zu verhöhnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es geht darum, dass einfach klargestellt wird: Es gab
auch mutige Leute, die damals in Funktion bei der SED
waren. Allein das möchte ich feststellen, und ich
möchte, dass Sie und Ihre Kollegen von der Union das
bitte zur Kenntnis nehmen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805800900

Bevor der Kollege Hauptmann jetzt dazu Stellung

nimmt, möchte ich in aller Ruhe darauf hinweisen, dass
dann, wenn Mitglieder des Deutschen Bundestages an
Plenarsitzungen desselben teilnehmen, –


Mark Hauptmann (CDU):
Rede ID: ID1805801000

So ist es.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805801100

– kein weiterer Rechtfertigungsbedarf besteht, warum

sie nicht an parallel stattfindenden Veranstaltungen teil-
nehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mark Hauptmann (CDU):
Rede ID: ID1805801200

Herzlichen Dank, Herr Präsident, für diese Klarstel-

lung.

Ich bin kein Mitglied der Grünen. Sie kennen Ihre Ge-
schichte besser, als ich sie kenne. Aber nach meinem
Kenntnisstand der Geschichte der Bündnis-90-Bewe-
gung weiß ich, dass sie aus einer Bürgerrechtsbewegung
entstanden ist.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Natürlich! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Anders als die CDU!)


Das haben Sie ja gerade auch zu Recht angesprochen.
Gerade mit Blick auf die Geschichte dieser Bürger-
rechtsbewegung ist es für mich und unsere Fraktion in
keiner Weise verständlich, wie Sie heute mit den Akteu-
ren verhandeln können, die Sie damals auf der Straße be-
kämpft haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Staatssekretärin Gleicke hat bereits angesprochen,
dass im Jahresbericht die enorme Aufbau- und Anpas-
sungsleistung der Menschen in Ostdeutschland gewür-
digt wird. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich von 1999
bis heute im Osten des Landes fast verdoppelt. Die Ar-
beitslosigkeit hat 2014 den niedrigsten Stand seit 1991
erreicht. In meiner Südthüringer Heimat beträgt die Ar-
beitslosigkeit rund 5 Prozent und liegt damit unterhalb
des Bundesdurchschnitts. So viel zu den wirtschaftlichen
Entwicklungen, Herr Bartsch.

Trotzdem bleibt festzuhalten – auch das ist natürlich
Teil der Wahrheit –, dass wir unser Ziel einer Anglei-
chung beider Landesteile noch nicht erreicht haben. Je
nach Region bleibt der Osten Deutschlands in seiner
Wirtschaftskraft um bis zu 30 Prozent hinter den west-
deutschen Gebieten zurück, obwohl es dort auch heute
schon wirtschaftsstarke Regionen und wirtschaftsstarke
Städte gibt, die Flächenländer, aber auch Städte im Wes-
ten der Republik deutlich überholt haben.

Das Steueraufkommen pro Einwohner betrug 2013 im
Osten rund 937 Euro, im Westen ungefähr das Doppelte.
Erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist daher in den neuen
Ländern immer auch Strukturpolitik. Aufgrund der ge-
ringen Zahl von Ansiedlungen von Großunternehmen ist
die Wirtschaftsstruktur hier sehr kleinteilig. Förder-
instrumente für kleine und mittelständische Betriebe
sind von großer Bedeutung. Wir alle kennen Maßnah-
men wie ZIM und wissen, welche Bedeutung diese ha-
ben.

Wir sehen, dass der Anteil des Bereichs Forschung
und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt der ostdeut-
schen Flächenländer mit 2,5 Prozent über dem Durch-
schnittswert der Europäischen Union liegt. Ausgezeich-
nete Forschung ist in der Zukunft aber auch auf





Mark Hauptmann


(A) (C)



(D)(B)

gemeinnützige externe Industrieforschungseinrichtun-
gen angewiesen. Wir als Bundesregierung und als Koali-
tionsfraktionen stehen hinter INNO-KOM-Ost und ande-
ren externen Industrieforschungsprogrammen, mit denen
wir dort eine Forschungslandschaft entwickeln wollen.

Für eine positive Weichenstellung ist es jedoch auch
vonnöten, dass wir für strukturschwächere Regionen ge-
zielte Maßnahmen entwickeln, um diese Regionen vo-
ranbringen zu können. Ich erinnere in diesem Zusam-
menhang an den Passus im Koalitionsvertrag zum
Sanierungsbonus für den ländlichen Raum. Dieser Sa-
nierungsbonus eröffnet die Möglichkeit, in struktur-
schwachen Regionen energetisch optimierten und barrie-
refreien Wohnraum zu schaffen. Das sorgt für Zuzug und
gleichzeitig dafür, dass diese strukturschwachen Regio-
nen auch in Zukunft wachsen, gedeihen und blühen kön-
nen.

Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der
Deutschen Einheit 2014 macht die positiven Entwick-
lungen in den neuen Bundesländern und die Anpas-
sungsleistung der ostdeutschen Bürger in den vergange-
nen 25 Jahren sehr deutlich. Es gilt, dies zu würdigen
und die weiteren Anstrengungen von Bürgern und Un-
ternehmen zu unterstützen. Wir sollten durch solche Pro-
gramme wie den Sanierungsbonus dabei mithelfen, dass
auch strukturschwache Regionen die Möglichkeit haben,
sich weiterzuentwickeln. Wir sollten über Maßnahmen
nachdenken, die die Weiterführung des Solidarpaktes
oder Förderungen zur Erhöhung von Innovationen und
Investitionen auch in Zukunft ermöglichen. Dafür müs-
sen wir Sorge tragen, damit dieser Transformationspro-
zess der neuen Bundesländer auch in der Zukunft fortge-
setzt wird. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805801300

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Kühn für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Zehntausende Menschen hat der Wunsch nach Frei-
heit und Demokratie vor 25 Jahren auf die Straße ge-
bracht. Am 9. Oktober 1989 hat es die SED-Führung
nicht gewagt, die Massendemonstration in Leipzig ge-
waltsam aufzulösen. Gestern haben Zehntausende Men-
schen mit dem Lichtfest an den Tag der Entscheidung er-
innert. Man darf nicht vergessen: Die friedliche
Revolution ist in der deutschen Geschichte eine Aus-
nahme. Für uns ist der zentrale Impuls von 1989 die
Selbstermächtigung der Bürger zum politischen Han-
deln. Der sich daraus ergebende Auftrag, mit aller Kraft
für die Stärkung der politischen Mitbestimmungsrechte
der Bürger gegenüber staatlichen Institutionen einzutre-
ten, besteht für uns unverändert fort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bundespräsident Joachim Gauck hat gestern in seiner
Rede im Leipziger Gewandhaus zutreffend bemerkt,
dass unsere Demokratie – ich zitiere – „ausgehöhlt wer-
den und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mit
Leben erfüllen.“ Die Bürgerdemokratie, wie sie 1989 er-
kämpft wurde, ist teilweise nur noch rudimentär entwi-
ckelt. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das beste Mittel gegen Politikverdrossenheit, meine Da-
men und Herren, heißt mehr Demokratie. Die niedrige
Wahlbeteiligung bei den zurückliegenden Landtagswah-
len in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mahnt, dass
neue demokratische Impulse dringend gebraucht wer-
den,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


etwa durch einfachere Möglichkeiten der direkten Mit-
bestimmung der Bürger an politischen Entscheidungen.
Denn es bereitet mir fast körperliche Schmerzen, wenn
auf die Frage „Ist die Demokratie die beste Staatsform?“
in einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts im
Auftrag von mehreren ostdeutschen Tageszeitungen im
Osten nur 40 Prozent der Befragten mit Ja antworteten,
hingegen 74 Prozent im Westen.

Ich bin überzeugt, dass die weiteren Entwicklungs-
chancen für die neuen Bundesländer nicht nur davon ab-
hängen, wie stark Innovation, Forschung, Erfindergeist
und mutiges Unternehmertum, sondern auch, wie sehr
der Einsatz für gelebte Demokratie und eine aktive Bür-
gergesellschaft von uns allen unterstützt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen neue Formen der Zusammenarbeit und
Vernetzung von Bürgern, Politik, Verwaltung und Unter-
nehmen. Gefordert sind neue Rahmenbedingungen, die
lokales Engagement befördern und nicht behindern, ge-
rade in den Regionen außerhalb der urbanen Wachs-
tumskerne in Ostdeutschland. Es geht um die Aktivie-
rung von Eigenverantwortung und Gründungswillen.
Das Problem ist schließlich nicht das Fehlen von Grün-
derförderung, sondern das Fehlen von Gründern, im
ländlichen Raum insbesondere von Gründerinnen. Es
muss gelingen, durch Unternehmensgründungen im Ra-
dius von Universitäten, Fachhochschulen und For-
schungseinrichtungen gut ausgebildete Fachkräfte in der
Region zu halten und den Braindrain zu stoppen. Gerade
die Fachhochschulen, die oft außerhalb der Zentren an-
gesiedelt sind, müssen stärker Motor für die regionale
Wirtschaftsentwicklung werden. Wir müssen neue Wege
gehen, brauchen regional angepasste Konzepte und Lö-
sungen nach dem Grundsatz: Bottom-up statt Top-down.
Offensichtlich ist doch: Das bisherige Konzept einer li-
nearen, nachholenden Modernisierung Ostdeutschlands
ist gescheitert. Die wirtschaftliche Angleichung ist er-
lahmt. Damit das gelingt, müsste die ostdeutsche Wirt-
schaft stärker und schneller wachsen als die westdeut-
sche, was sie aber nicht tut.

Nun hilft es auch wenig, regelmäßig die Kleinteilig-
keit der ostdeutschen Wirtschaft und das Fehlen von
Konzernzentralen zu beklagen. Ebenso wenig hilft es





Stephan Kühn (Dresden)



(A) (C)



(D)(B)

aber auch, den bloßen Status quo zu beschreiben. Aber
genau das ist das Problem des Berichts zum Stand der
Deutschen Einheit. Er liefert keine neuen Erkenntnisse
und setzt keine neuen Impulse;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


von dieser Kritik will ich das erste Kapitel, das die
Transformationsleistung der Ostdeutschen würdigt, aus-
nehmen. Trotz großer Erfolge in allen Bereichen haben
wir auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution un-
verändert große Herausforderungen in Ostdeutschland.
Deshalb ist aus unserer Sicht ein Routinebericht einfach
zu wenig.

Richtig ist der Ansatz, dass die Förderung nach Be-
darfen und nicht mehr nach Himmelsrichtungen erfolgen
muss. Die Förderprogramme für die ostdeutschen Bun-
desländer nach und nach in ein gesamtdeutsches System
für strukturschwache Regionen zu überführen, ist rich-
tig. Dazu drei Zahlen: Das Steueraufkommen der ost-
deutschen Flächenländer lag im vergangenen Jahr bei
937 Euro pro Einwohner, in den westdeutschen Flächen-
ländern allerdings bei 1 817 Euro. Zudem erreichen die
kommunalen Steuereinnahmen in Ostdeutschland gerade
einmal 58 Prozent des Westniveaus. Ich betone das so
ausführlich und deutlich, weil die Wirtschafts- und Steu-
erkraft in den ostdeutschen Bundesländern bei den ak-
tuellen Verhandlungen zur Neugestaltung der Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen nicht einfach ausgeklammert
werden darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Mit Fokus auf den demografischen Wandel heißt es
oft, Ostdeutschland sei das Labor für wirtschaftliche und
gesellschaftliche Transformationsprozesse und nehme
eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung neuer Lösungen
ein. Zweifelsohne: Der demografische Wandel stellt die
neuen Bundesländer vor besondere Herausforderungen.
Sie sind früher und fast flächendeckend betroffen. Wir
brauchen daher eine Klärung, was die Sicherung der Da-
seinsvorsorge vor allem in strukturschwachen ländlichen
Räumen in den Kommunen konkret heißt. Erforderlich
wäre eine Diskussion um soziale, kulturelle und wirt-
schaftliche Mindeststandards und innovative Lösungen.
Denn neue Ideen gibt es zahlreich, beispielsweise dazu,
wie die Abwärtsspirale beim öffentlichen Nahverkehr im
ländlichen Raum gestoppt werden kann. Mit dem Kom-
bibus zum Beispiel werden neben Personen auch Güter
bewegt. Der Betrieb ist so wirtschaftlicher, zudem ver-
netzt der Kombibus die regionalen Wirtschaftsakteure
miteinander. Da das Personenbeförderungsgesetz so et-
was nicht vorsieht, konnte das Projekt nur mit einer Aus-
nahmegenehmigung starten.

Wir brauchen eine Bundesregierung, die endlich er-
kennt, dass die Neugestaltung der Daseinsvorsorge mit
dem Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nicht
durch die Aneinanderreihung von geförderten Modell-
projekten oder Pilotprojekten zu bewerkstelligen ist. Für
den kommenden Bericht wünsche ich mir, Frau Staatsse-
kretärin, dass darin Vorschläge enthalten sein werden,
wie über einzelne Initiativen hinaus Lösungen für die
Fläche entwickelt werden können. Ich hoffe, dass dazu
von Ihnen Impulse kommen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805801400

Wolfgang Tiefensee ist der nächste Redner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])



Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1805801500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
stehe ganz unter dem Eindruck des 9. Oktober 1989. Die
25-Jahr-Feiern, liebe Monika Lazar, haben uns wieder
all die Ereignisse vor Augen geführt: eine Diktatur, eine
ehern erscheinende Mauer, ein Regime, das nicht wei-
chen will – alles das stürzt plötzlich zusammen.

Ich finde es ermüdend, dass wir Jahr für Jahr über die
Frage reden müssen, ob das nun ein Unrechtsstaat war
oder nicht. Herr Bartsch, kann man nicht einfach mal sa-
gen – und die Zeit hier nutzen –: „Es war ein Unrechts-
staat, wir bekennen uns dazu“? Die Transformationsleis-
tung ist deshalb so hoch zu honorieren, weil zwei völlig
unterschiedliche Systeme zu transformieren waren. Das
ist das Hauptthema. Ich wünschte mir, dass Sie das end-
lich anerkennen und dass wir dieses Kapitel schließen
können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Eine Diktatur hat einen Kitt, der sie zusammenhält:
Neben Repression ist das die Angst. Die Angst ist 1989
überwunden worden. Ich möchte heute in meiner Rede
drei Aspekte in den Mittelpunkt stellen, die mir wichtig
erscheinen, weil sie deutlich machen, was wir aus den
Ereignissen des 9. Oktober bzw. aus dem Herbst 1989
mitnehmen können.

Das Erste ist: Mut gegen Ohnmacht. Es gibt auch in
einer Demokratie Ohnmacht. Bundespräsident Gauck
hat gestern sehr schön gesagt: Es ist eine zum Teil selbst
verschuldete Ohnmacht. – Lassen Sie uns den Bürgerin-
nen und Bürgern immer wieder erklären, dass man in ei-
nem demokratischen System sein Schicksal, seine Ange-
legenheiten in die eigenen Hände nehmen muss. Das
beginnt beim Engagement im Verein und endet damit,
dass man zur Wahl geht. Es ist nicht akzeptabel, dass wir
in Ostdeutschland und auch in Deutschland insgesamt
eine solche Abstinenz bei Wahlen haben. Lassen Sie uns
an die Bürgerinnen und Bürger appellieren: Seid nicht
ohnmächtig, sondern engagiert euch!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite, das aus dem 9. Oktober resultiert, ist die
Frage: Solidarität oder Abgrenzung? Wir Ostdeutsche
sind ohne viele Vorbedingungen Teil der Europäischen
Union geworden. Westdeutschland und die Europäische





Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)

Union haben uns mit namhaften Geldbeträgen unter-
stützt. Das hat uns die Chance gegeben, die eigenen Är-
mel aufzukrempeln, um so weit zu kommen, wie wir
jetzt sind.

Interessant ist, dass die Ostdeutschen zum Teil mit
verschränkten Armen und relativ herablassend auf die
schauen, denen es schlechter geht. Erinnern wir uns, wie
das noch vor 1989 am Balaton war, als man nicht ins Ho-
tel kam und keinen Platz im Restaurant bekam, weil man
nicht mit D-Mark zahlte. Jetzt plötzlich sind wir auf der
Sonnenseite. Wir haben nicht zuletzt mit Blick auf die
Vorläufer der friedlichen Revolution in der Tschechoslo-
wakei, in Polen, in Ungarn und in der ehemaligen Sow-
jetunion die Verpflichtung, mit denjenigen solidarisch zu
sein, denen es nicht so gut geht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Bundeskanzlerin, wir brauchen einen Kurswech-
sel, vor allem auch einen Kurswechsel in der Mentalität;
dabei meine ich dieses Von-oben-herab-Agieren, das uns
oftmals zu eigen ist. Wir brauchen einen Aufbau Süd.
Wir brauchen eine Solidarität, durch die wir die notwen-
digen Kräfte bündeln. Das muss auf Augenhöhe gesche-
hen und nicht von oben herab. Das ist wichtig.

Das Dritte, was ich sagen möchte, ist: Wir brauchen
auch eine Solidarität denjenigen gegenüber, die außer-
halb Europas leben. Wir erinnern uns daran, wie es war,
als die Flüchtlinge nach Westdeutschland gekommen
sind. Wir brauchen eine Willkommenskultur. Das ist die
zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts, die wir zu bewäl-
tigen haben.

Einerseits müssen die Disparitäten, die es außerhalb
unseres Erdteils gibt, in den Blick genommen werden. In
den nächsten Tagen fahre ich nach Bangladesch und
Vietnam, um dort einmal mehr zu sehen: Was passiert da
mit unseren Wertschöpfungsketten? Wie können wir
mehr Verantwortung dafür tragen, dass der Lebensstan-
dard auch außerhalb Deutschlands und außerhalb Euro-
pas gehoben wird?

Auf der anderen Seite haben wir uns mit der Frage zu
beschäftigen, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen,
wie wir mit denjenigen umgehen, die zu uns kommen
wollen, weil wir einen höheren Lebensstandard haben.
Das ist die zentrale Aufgabe. Wir können die Schotten
dichtmachen. Das würde eine Weile gehen. Dann wür-
den wir uns aber verhalten wie früher der Junker, der um
seine Grundstücke einen Zaun gezogen hat; und die an-
deren haben daran gerüttelt. Nein, wir brauchen einen
Plan, wie wir mit denjenigen umgehen, denen es drecki-
ger geht als uns. Auch das ist eine Botschaft des 9. Okto-
ber 1989: Wir brauchen Solidarität auch denjenigen ge-
genüber, die es schlechter haben als wir. Alle Kräfte
müssen gebündelt werden, damit wir dieses Mensch-
heitsproblem im 21. Jahrhundert lösen. Ansonsten wird
es auch für uns schwierig werden. Wir sind verpflichtet
dazu.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sind für mich die Botschaften des 9. Oktober
1989. Lassen Sie uns mit dieser Kraft, mit diesem Stolz
des 9. Oktober 1989 diese Herausforderung gemeinsam
angehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805801600

Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805801700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht

zu Beginn etwas zur Versöhnung: Ich habe in der De-
batte über den letzten Jahresbericht zum Stand der Deut-
schen Einheit und in den Jahren zuvor häufig beklagt,
dass es im Bundestag eine unsichtbare ostdeutsche
Mehrheit bei dieser Frage gibt. Ich habe heute den Ein-
druck, dass sich das wesentlich gebessert hat. Wir erfah-
ren wesentlich mehr Zuspruch bei diesem Thema. Ich
stelle mit Befriedigung fest: Es geht doch, links wirkt!


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Seitens der CDU ist uns gesagt worden: Wir entlassen
Sie nicht aus Ihrer Verantwortung für die Geschichte. Da
muss ich Ihnen antworten: Das ist ungeheuer anmaßend.
Wir entscheiden noch immer selbst, wie wir uns dazu
verhalten. Und wir wollen nicht aus dieser Verantwor-
tung entlassen werden. Das entscheiden aber nicht Sie.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Ich habe nicht vergessen, wie ich mit 34 Jahren in
Halle Abend für Abend der Adressat für Protest und Kri-
tik von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern war. Die
unter solchen Schmerzen und Bitternissen gewonnenen
Erkenntnisse bleiben für uns in der Erinnerung und sind
uns eine Mahnung. Wir haben auch nicht vergessen, dass
unsere Vorgängerpartei nicht in der Lage war, sich selbst
geistig zu befreien,


(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das sind Sie doch bis heute nicht!)


sondern eine Befreiung von außen nötig hatte. Diese Er-
kenntnisse haben uns geprägt, und die werden wir in Er-
innerung behalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Jahresbericht beginnt mit einem historischen
Rückblick. Das ist ebenso angemessen wie inzwischen
auch vielseitig verklärt. Wir hatten noch nie eine solche
Flut von Umfragen dazu, wie man die deutsche Einheit
interpretieren kann. In diesem Zusammenhang kann man





Roland Claus


(A) (C)



(D)(B)

die Frage stellen: Was ist eigentlich der Unterschied zwi-
schen Gott und den Historikern? Die Antwort lautet:
Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Ich will mich deshalb an die Fakten halten. Wie be-
werten Bürgerinnen und Bürger die deutsche Einheit?
Das ist in der Tat sehr interessant: Im Osten bewerten
75 Prozent die deutsche Einheit positiv, im Westen sind
das nur 48 Prozent. Das heißt, nicht einmal die Hälfte
der Bürgerinnen und Bürger im Westen und Süden der
Republik bewertet die Einheit positiv. Nehmen wir die
unter 30-Jährigen, also die Jahrgänge 85 und jünger: Im
Osten bewerten 96 Prozent von ihnen die deutsche Ein-
heit positiv und im Westen 66 Prozent. Das sind Men-
schen, die keinerlei Erfahrungen aus dem geteilten
Deutschland haben. Hier reproduziert sich also ge-
schichtliche Erfahrung auf eine interessante Weise. Aber
das muss uns doch auffordern, daraus etwas abzuleiten.
Der Grund für diese unterschiedliche Einschätzung ist
natürlich, dass im Westen und Süden die Vereinigung
keine positiven Erfahrungen für die Menschen und ihren
Lebensalltag gebracht hat. Das Einzige, das im Bewusst-
sein geblieben ist, ist, dass der Soli zu zahlen ist. Nichts
oder fast gar nichts aus der DDR wurde für deutschland-
tauglich erklärt. Das war ein Fehler.


(Beifall bei der LINKEN)


Dietmar Bartsch ist hier bereits darauf eingegangen,
dass der Jahresbericht in seiner Analyse wesentlich bes-
ser, genauer und präziser geworden ist. Ja, das stimmt:
Die Analyse ist besser. Aber leider ist das bei den
Schlussfolgerungen nicht der Fall. Deshalb lautet die
Denksportaufgabe für uns weiterhin: Was lernen wir für
ganz Deutschland aus dieser Entwicklung im Osten, aus
diesen Umbrüchen, aus diesem Umgang mit der Trans-
formation? Wir haben das in unserem Entschließungsan-
trag ausdrücklich deutlich gemacht und diese Transfor-
mationserfahrungen – wenn ich das übersetze –, also
persönlich gemachte Erfahrungen bei der Bewältigung
gesellschaftlicher Umbrüche, hervorgehoben.

Sie haben hier einen anderen Begriff benutzt und ge-
sagt: Wir haben bedeutende Anpassungsleistungen er-
bracht. – Das fanden Sie auch noch besonders prima. Ich
kann nicht finden, dass Anpassung an ein System – wie
im Westen so auf Erden – die Lösung der Zukunftsauf-
gaben ist. Wir müssen in dieser Situation neu denken
und gerade das, was der Osten als Erfahrungsvorsprung
neu einbringt, aufnehmen. Da ist „Anpassungsleistung“
für mich kein positiv besetzter Begriff.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich wünsche mir deshalb, dass wir über diese beson-
deren Erfahrungen, die im Osten für die ganze Republik
gemacht wurden, noch weiter nachdenken und dass wir
zur Kenntnis nehmen, dass wir natürlich noch eine un-
gleiche wirtschaftliche und Einkommensentwicklung
haben. Wir stagnieren bei zwei Dritteln. Wir erreichen
bei den kommunalen Steuern im Osten nur 58 Prozent
des Bundesniveaus. Der Knüller ist natürlich das, was
Sie sich bei der Mütterrente geleistet haben: 25 Jahre
deutsche Einheit und dann noch immer eine ungleiche
Anerkennung von Erziehungsleistungen – das ist ein
Skandal. Das wird Ihnen die Linke nie durchgehen las-
sen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt im Osten viele Ansätze für neue Entwick-
lungspfade in Sachen sozialökologischer Umbau, bei der
Förderung erneuerbarer Energien und beim Stadtumbau.
All diese Erkenntnisse und all diese gewonnenen Erfah-
rungen – auch die gemachten Fehler – stellen ein Feld
dar, das völlig brachliegt und viel zu wenig für die ge-
samtdeutsche Entwicklung genutzt wird.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805801800

Herr Kollege.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805801900

Deshalb wünschen wir uns eins: dass der nächste Jah-

resbericht zum Stand der Deutschen Einheit in der Ana-
lyse lobenswert für uns ist


(Zuruf von der CDU/CSU: Für Sie mit Sicherheit nicht!)


und dass er in den Schlussfolgerungen endlich voran-
kommt und nicht bei dem stehen bleibt, was wir jetzt
vorliegen haben.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805802000

Das Wort erhält nun der Kollege Peter Stein für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Stein (CDU):
Rede ID: ID1805802100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Am 9. Oktober 1989, also fast auf den Tag genau
heute vor 25 Jahren, fand eine der denkwürdigsten Mon-
tagsdemonstrationen in der DDR statt. Daran haben ges-
tern 200 000 Menschen in Leipzig erinnert. Wie an je-
dem anderen Montag zuvor fand damals in der Leipziger
Nikolaikirche ein Friedensgebet statt. Dort sprachen
Menschen offen über ihre Probleme, über ihre Situation
in ihrer Heimat, der DDR, dort sprachen Menschen, die
sich der SED-Diktatur widersetzten. Es war schon fast
routinemäßig so, dass auch an diesem Montag die Plätze
in der Nikolaikirche schon ab Mittag von Genossen und
Kandidaten der SED besetzt waren.

Doch irgendwie war an diesem Montag vieles anders.
Es lag etwas in der Luft: Ängste und Sehnsüchte waren
körperlich greifbar. Der Gedanke, dass die SED das
Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking
gutgeheißen hatte, war in den Köpfen. Gerüchte machten
die Runde, Kampfgruppen standen bereit, und viele frag-
ten sich, ob die chinesische Lösung in Leipzig zur An-
wendung kommen würde.

Rund 70 000 Menschen zogen über den Leipziger In-
nenstadtring und zeigten Mut zur Freiheit. Für viele war
es bis heute die größte Form von Opposition und Wie-
derstand in ihrem Leben. Erstmalig gab es das Gefühl ei-





Peter Stein


(A) (C)



(D)(B)

ner selbstgeschaffenen Freiheit. Dabei blieben sie fried-
lich ebenso wie die Sicherheitsorgane, die offensichtlich
vor dieser Menschenmenge kapitulierten. Örtliche Funk-
tionäre und Kommandeure hatten, anders als viele in der
Führung der SED, Respekt vor den Demonstrierenden.
Mit Kerzen und Gebeten, mit Worten wie „Keine Ge-
walt!“ und „Wir sind das Volk!“ wurde die SED-Diktatur
schließlich in die Knie gezwungen. Und die Welt schaute
im Fernsehen zu.

Fernsehbilder gingen um die Welt und hatten Signal-
wirkung. Es folgten für die Menschen in den neuen Län-
dern Tage, Wochen und auch noch zwei Jahre der Ge-
fühle und Veränderungen. Für die Menschen in den
neuen Bundesländern änderte sich nämlich fast alles.
Aber auch für den Westen änderte sich eine Welt, und
zwar zum Besseren. Daher geht an dieser Stelle mein
Dank an die Bundesregierung, die in der heute vorlie-
genden Unterrichtung die Leistungen der Menschen in
den neuen und alten Ländern hervorhebt und würdigt.
Denn auch für mich, der, wie viele wissen, in den alten
Bundesländern geboren ist und nach Rostock ging, hat
sich vieles geändert.

Die Politik in der gesamten Republik ist bunter ge-
worden: Die Grünen hatten sich zu dem Zeitpunkt in den
alten Bundesländern etabliert. Im Osten kam eine neue
Kraft hinzu, die heute immer noch auf ihrem Weg in die
alte Richtung weitermarschiert. Mittlerweile gibt es
Koalitionen, die man sich vorher gar nicht hat vorstellen
können. Die aktuellen Gespräche in Thüringen deuten
an, dass möglicherweise ein weiteres Farbenspiel hinzu-
kommt. Ich möchte an das erinnern, was gestern 200 000
Menschen in Leipzig damit auch zum Ausdruck ge-
bracht haben. Hier nehme ich Anlehnung an die Bibel
und schaue zu den Grünen, zu den Bündnis-90-Leuten:

Bevor der Hahn dreimal gekräht hat, hast du mich
verraten.

Und der Hahn hat für mich gestern in Leipzig gekräht.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das jetzt?)


Ich bin heute 46 Jahre alt und feiere in diesen Tagen
mein persönliches Bergfest. Ich bin 23 Jahre in den alten
Bundesländern groß geworden und jetzt seit 23 Jahren in
Rostock. Wenn Sie mich fragen, als was ich mich fühle,
dann antworte ich: Ich fühle mich als Deutscher, als Eu-
ropäer und als Rostocker. Auf das, was die Menschen im
vereinigten, freien und demokratischen Deutschland und
vor allem in den vergangenen Jahren in Ost und West ge-
meinsam vollbracht haben, bin ich stolz. Denn ich bin
ein Teil dessen. Und jeder von uns hier ist ein Teil dieses
geeinten Deutschlands, weil wir hier leben und Verant-
wortung tragen.

Vor allem die Menschen in den neuen Ländern nutz-
ten die Chancen, die sich mit der Wiedervereinigung er-
geben haben, auch wenn sie dazu ihre Heimat verlassen
mussten. Die Lebensqualität hat sich spürbar, fühlbar,
riechbar angeglichen. Wie sah es für mich aus, als ich
1990/1991 nach Rostock kam und die Stadt nach der
Wende kennenlernte? Es war grau, teilweise ruinenhaft.
Trabbis tuckerten über marode Straßen, hinterließen ei-
nen öligen Duft. Die Luft roch süßlich und war durch
den Qualm der Kohleöfen braun geräuchert. Das hat sich
alles geändert. In Sachsen-Anhalt sah ich herunterge-
wirtschaftete Industrie und um sie herum kaputte Natur
und Umwelt. Die Lebenserwartung dort lag um bis zu
20 Jahre niedriger als im Westen.

Und heute? Die Infrastruktur ist modernisiert. Die
Umwelt ist weitgehend wiederhergestellt. Das Bruttoin-
landsprodukt hat sich mehr als verdoppelt. Die Wirt-
schaftskraft ist beachtlich gewachsen, nicht zuletzt auch
deshalb, weil viele Menschen in den neuen Ländern ihre
Chance über eine zweite und dritte Ausbildung nutzen
mussten und genutzt haben. Die Abwanderung ist heute
weitgehend gestoppt. Viele, die in den 90er-Jahren ihre
Heimat verlassen haben und in die alten Länder gegan-
gen sind, kehren wieder zurück. Sachsen-Anhalt, Meck-
lenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen er-
reichten im letzten Jahr bei den Zuzügen mit weit über
20 Prozent bundesweit die höchsten Zuwachsraten.

Die Haushaltslage in den Kommunen hat sich verbes-
sert. Der Schuldenstand im Osten liegt oft merklich hin-
ter dem vergleichbarer westdeutscher Kommunen zu-
rück.

Auch der demografische Wandel soll uns hier kein
Wasser in den Wein gießen, sondern er wird als Chance
und Herausforderung begriffen. Wir leben länger, wer-
den älter, bleiben auch länger gesund. Ich finde, das ist
eine gute Sache, und wir sollten uns darüber freuen.


(Beifall der Abg. Andrea Wicklein [SPD])


Andererseits müssen wir auch die wirtschaftliche
Strukturstärke und -schwäche in den Regionen zur
Kenntnis nehmen. Einige wachsen weiter, andere städti-
sche und ländliche Regionen hingegen schrumpfen. Wir
brauchen nach wie vor mehr Industriearbeitsplätze und
speziell in der ostdeutschen Industrie mehr Export.

Der Strukturwandel hat zunächst mit aller Wucht, for-
ciert durch die starke Abwanderung, in den Wendezeiten
die jungen Länder getroffen, war aber auch im Ruhrge-
biet bereits im Gange. Mittlerweile trifft dieser Wandel
Regionen im Norden, im Süden, im Osten und im Wes-
ten der Republik. Viele können mit diesem Prozess nicht
aus eigener Kraft umgehen. Wir wollen und müssen hier
gezielt unterstützen und helfen. Das ist eine Solidarauf-
gabe, die weiterhin Bestand hat. Wir wollen und müssen
gemeinsam Wege finden. Das können wir. Das zeigen
die vorliegenden Unterrichtungen der letzten Jahre und
auch dieses Jahres.

Hohes Potenzial sehe ich besonders in der Bildungs-
und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern. Als
Rostocker Abgeordneter fallen mir natürlich die Rosto-
cker Universität und die beiden anderen Hochschulen in
Rostock ein. In der Qualität der Forschungsergebnisse
stehen sie den Ergebnissen in anderen Regionen in
nichts nach. Es soll immer noch westdeutsche Studien-
anfänger geben, die Manschetten vor einem Studium in
den neuen Ländern haben und nur mit Vorbehalten dort-
hin kommen. Aber da kann ich nur sagen: Schön dumm;
denn die Erfahrungen in der Praxis sind: Die Universitä-
ten und Hochschulen in Rostock, Greifswald, Jena oder





Peter Stein


(A) (C)



(D)(B)

Ilmenau sind nicht nur sehr modern, sondern auch die
Betreuung ist klasse, und die Hörsäle sind nicht heillos
überfüllt.

Die Studienbedingungen sind also sehr gut. Dann sind
auch die Möglichkeiten, seine Freizeit dort zu verbrin-
gen, sehr gut, in Rostock etwa die weißen Strände. Man
kann nach dem Seminar mit dem Surfbrett an den Strand
gehen. Das hat durchaus seinen Wert und wird auch gern
genutzt. Man kann auch mit einer Kiste Bier und der
Freundin und dem Kubb-Spiel an den Stadthafen gehen
und studentisches Leben erleben. Das macht eine Stadt
wie Rostock und auch andere Universitätsstädte so be-
sonders.

Wissenschaft, Möglichkeiten und Wohlstand: Diese
Erkenntnis hat auch im Osten besonders getragen. Der
Bund und die Länder tragen dieser Situation im Hoch-
schulpakt 2020 Rechnung, indem sie die Kapazitätser-
weiterung und -sicherung der Studienplätze im Osten
fördern. Damit entlasten sie zugleich die Hochschulen in
den westdeutschen Ländern. Dafür stellt der Bund in den
nächsten Jahren bis 2015 insgesamt 950 Millionen Euro
bereit. Das ist ein sehr wesentlicher Beitrag zur weiteren
Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Zahl der Studienanfänger ist enorm gestiegen, näm-
lich um das Dreifache. Das Studium ist weiterhin die
beste Grundlage für eine berufliche und materielle Si-
cherheit. Wir brauchen in Ost und West jeden jungen
Menschen mit einer guten Ausbildung.

Willy Brandt hat gesagt: „Jetzt wächst zusammen,
was zusammengehört.“ Ich ergänze: Wenn ich als gebür-
tiger Rheinländer, aus Rostock kommend, im Münchner
Hofbräuhaus bin, ein Hendl bestelle und mich eine säch-
sische Kellnerin fragt, ob ich es mit Mayo oder ohne ha-
ben möchte, dann, so denke ich, ist die Einheit in unse-
ren Köpfen angekommen. Wir sind ein Volk. Wir
verstehen uns.

Wenn wir es jetzt noch schaffen, die Menschen, die
aus anderen Regionen der Welt zu uns gekommen sind
oder noch zu uns kommen, vernünftig zu integrieren,
dann werden wir auch noch in 50 Jahren gemeinsam gut
zusammenleben und auf unsere Erfolgsgeschichte
Deutschland mit Stolz zurückblicken können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mit gutem Willen und in Wahrnehmung der eigenen Ver-
antwortung klappt das. Auch ich habe mich schließlich
gerne „ossimiliert“, ohne dabei meine rheinische Natur
aufzugeben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805802200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805802300

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich kann es irgendwie noch gar nicht glauben, dass
es 25 Jahre her ist, dass das inzwischen so verdammt
lange her ist, weil sich die Bilder aus dem Herbst 1989
– ich glaube, das geht allen so, die dabei waren; meine
Kollegin Lazar hat das heute Morgen schon zum Aus-
druck gebracht – so tief ins Gedächtnis eingebrannt ha-
ben.

Ich bin für diese Debatte anlässlich dieses Jubiläums
sehr dankbar. Ich bin auch Ihnen, Frau Gleicke, sehr
dankbar – ich komme darauf noch zurück –, weil dieses
Jubiläum für unsere Gesellschaft eine riesengroße
Chance ist, über die friedliche Revolution 1989 und vor
allem über das, was danach kam, offen zu reden und an-
ders darüber zu reden, als das bisher der Fall gewesen
ist. Manchmal gab es dafür keine Gelegenheit. Haupt-
sächlich lag das aber daran, dass manche Dinge einfach
unter den Teppich gekehrt worden sind, über die wir mit-
einander einmal sprechen sollten.

Ich bin Ihnen – das hatte ich schon gesagt –, Frau
Gleicke, sehr dankbar, dass Sie diesen Bericht zum ers-
ten Mal anders verfasst haben, dass zum ersten Mal in
einem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deut-
schen Einheit tatsächlich der Versuch unternommen
wird, zu erklären, was da vor 25 Jahren und in den
25 Jahren seitdem passiert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist das erste Mal, dass eine Bundesregierung in einem
Bericht zur Deutschen Einheit versucht – wir debattieren
über dieses Thema hier nicht so oft –, eine Art politische
Zusammenfassung des bisherigen Geschehens zu geben.
Ich glaube, dass es Aufgabe der Politik ist, den Men-
schen, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einordnung
dieser Ereignisse zu ermöglichen, vor allem denjenigen,
die nicht persönlich dabei gewesen sind. Ich glaube, das
wurde in den Vorgängerberichten gar nicht versucht. Der
Mut und der Wille, das zu tun, waren in der Bundesre-
gierung nicht vorhanden. Es ist Ihr persönliches Ver-
dienst, dies jetzt begonnen zu haben. Auf das, was ich
mir für den nächsten Bericht wünsche, komme ich gleich
noch zu sprechen. Wir müssen aber endlich mit den ver-
krampften Bemühungen aufhören, anhand von Statisti-
ken und Zahlen über verbauten Beton zu erklären, was
da passiert ist. Ich glaube, 25 Jahre danach ist es an der
Zeit, dies zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich bin Ihnen dankbar – ich weiß gar nicht, ob Ihnen
das bewusst war –, dass Sie diesen Bericht unter den Ti-
tel „Wir sind das Volk“ gestellt haben. „Wir sind das
Volk“ war der Ruf von 1989. Dankbar bin ich auch da-
für, dass Sie aufgegriffen haben, was ein wesentlicher
Bestandteil der Demonstrationen in der Anfangszeit ge-
wesen ist: „Wir bleiben hier“. Ein essenzieller Bestand-
teil meiner persönlichen Biografie – ich bin 1989 in Un-
garn gewesen, als die Botschaft geöffnet wurde, und bin





Steffi Lemke


(A) (C)



(D)(B)

danach zurückgefahren – ist, dass wir damals in der An-
fangszeit versucht haben, das Land, in dem wir geboren
wurden, zu reformieren und zu verändern. Dass die deut-
sche Einheit ein Glücksfall für uns alle gewesen ist, steht
lange vor der Klammer, außer bei ein paar Ewiggestri-
gen. Dass aber eine Bundesregierung in einem Bericht
zur Deutschen Einheit schreibt, dass der Impuls für die
deutsche Einheit gewesen ist, die DDR zu reformieren,
ist für mich wirklich ein Fortschritt in dieser Debatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wenn man versucht, 25 Jahre später zu erklären, was
1989 passiert ist, dann muss man, da manchmal so lo-
ckig und flockig der Eindruck erweckt wird, irgendje-
mand hat halt demonstriert, betonen: Es sind Zehntau-
sende unter Lebensgefahr auf die Straße gegangen, und
zwar in der Anfangszeit nicht, weil sie die D-Mark woll-
ten, sondern weil sie Freiheit, Demokratie und Selbstbe-
stimmung wollten. Das war der Impuls 1989.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jeder Versuch, das heute 14-, 16- oder 18-Jährigen zu
erklären, muss fehlschlagen, wenn man das nicht auch
mit dem Ruf „Wir bleiben hier“ verbindet.

Ich fand den Schlagabtausch heute Morgen zwar ei-
nerseits bedrückend, denke aber, dass die Debatte insge-
samt vorankommt. Wenn man nicht begreift, dass auch
SED-Funktionäre, Stasimitglieder und Armeeangehörige
einen Anteil daran hatten, und zwar einen wirklich rele-
vanten Anteil, dass das im Jahr 1989 friedlich abgegan-
gen ist, dann muss jeder Erklärungsversuch für die fried-
liche Revolution scheitern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Auf beiden Seiten der Demonstrationsfelder haben sich
teilweise Freunde gegenübergestanden. Das waren teil-
weise Familienangehörige. Das waren Freunde, die man
ein paar Tage zuvor am Wochenende getroffen hatte. Wir
waren uns ziemlich sicher, dass es Tausende in diesen
Staatsorganen gab, die niemals auf uns geschossen hät-
ten. Aber ob es genug sind, das wussten wir nicht, als
wir da rausgegangen sind.

Ich frage mich andererseits, Frau Gleicke: Warum erst
jetzt? Warum ist das Anerkennen der ostdeutschen Bio-
grafien in einem solchen Bericht zur Deutschen Einheit
erst jetzt möglich? Wie weit könnten wir in unserem ge-
sellschaftlichen Diskurs zum Zusammenwachsen sein,
wenn das früher möglich gewesen wäre?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Ich will zwei Punkte ansprechen, die im Bericht ein-
fach fehlen; das empfinde ich als äußerst mangelhaft.
Das ist einmal das offene Thematisieren von Dingen, die
schiefgelaufen sind. Das Stichwort „Treuhand“ fiel
heute schon einmal. Das muss man aus meiner Sicht an-
sprechen. Ansprechen muss man auch den damals ge-
scheiterten Versuch der Bürgerrechtler, eine gemeinsame
Verfassung für diese beiden Staaten zu erreichen, die
sich zusammengeschlossen oder vereinigt hatten bzw.
bei denen der eine an den anderen angeschlossen wurde.

Ich glaube, wir können in diesem Jahr nicht über
25 Jahre friedliche Revolution reden, ohne zu themati-
sieren, dass wir heute mit Geheimdiensten konfrontiert
sind –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805802400

Frau Kollegin.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805802500

– ich komme zum Ende, Herr Präsident – und mit ei-

nem Spähskandal, der inzwischen selbst die Bundes-
kanzlerin zu Vergleichen mit der Stasi herausgefordert
hat. Auch die damit verbundene Aufgabe müssen wir an-
packen und bewältigen, wenn wir das Erbe der friedli-
chen Revolution nicht verschenken wollen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805802600

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Daniela

Kolbe das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1805802700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Ostbeauftragte der Bundesregie-
rung, liebe Iris Gleicke! Ich gratuliere Ihnen ganz herz-
lich zu dem ersten von Ihnen verantworteten Bericht
zum Stand der Deutschen Einheit. Es ist im 25. Jahr nach
der friedlichen Revolution ein besonderer, und er setzt
mit der Würdigung der Bürgerrechtsbewegung und der
Lebensleistung der Ostdeutschen die richtigen Zeichen.
Ich finde, Frau Lemke hat es gerade sehr eindrücklich
deutlich gemacht.

70 000 Menschen protestierten gestern vor 25 Jahren
in meiner Heimatstadt Leipzig gegen das SED-Regime,
so viele wie bis dahin noch an keinem der vorangegan-
genen Montage. Insbesondere die Initiatoren taten dies
unter massiven persönlichen Risiken. Viele, wenn nicht
alle sind mit riesengroßer Angst dorthin gegangen. Ich
war damals neun Jahre alt; ich war nicht dabei. Aber ich
bin noch heute beeindruckt und eigentlich sogar erschro-
cken angesichts dessen, was diese Bürgerrechtler auf
sich und ihre Familien genommen haben, welche Risi-
ken sie persönlich eingegangen sind, nicht wissend, ob
sie erfolgreich sein würden, nicht wissend, was daraus
resultieren würde.

Wir wissen heute, dass sie erfolgreich waren, und der
9. Oktober 1989 ist bis heute der Tag der friedlichen Re-
volution. Es ist das Wunder jener Tage des Herbstes
1989, dass diese Revolution friedlich begonnen hat und
auch friedlich geendet ist. Dieses Wunder gibt der Revo-





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

lution bis heute ihren Namen. Dass der friedliche Verlauf
etwas Besonderes war, zeigt sich für mich ganz stark an
den aktuellen Umstürzen, die wir in der Ukraine und in
anderen Teilen der Welt sehen.

Ursächlich für den Fall der Mauer war das Eintreten
der Demonstrierenden gegen das SED-Regime. Die
Mauer wurde vom Osten her eingedrückt. Diese Leis-
tung der Menschen in Abrede zu stellen, wäre töricht
und auch geschichtsvergessen. Das erste Loch in der
Mauer setzte aber – das hat der frühere Bürgerrechtler
Thomas Krüger ganz treffend formuliert – Willy Brandt
mit seiner Ost- und Friedenspolitik.


(Beifall bei der SPD)


Es ist auch richtig, dass die DDR nicht nur politisch
am Ende war, sondern auch ökonomisch.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Der Sozialismus, genau genommen!)


Ich kann selber noch erinnern, wie es in der DDR ausge-
sehen und gerochen hat. Aus diesem heruntergewirt-
schafteten Staat ist innerhalb von 25 Jahren eine Region
geworden, die ökonomisch im Mittelfeld Europas spielt.
Die KfW sprach vor kurzem vom neuen Wirtschafts-
wunder. Ich gebe zu, dass ich diese euphemistische Be-
schreibung nicht teile, denn dafür sind zu viele Men-
schen in diesem Prozess gescheitert. Gleichwohl zeigt
es, was durch den Optimismus und die Tatkraft der Ost-
deutschen gemeinsam mit der historisch beispiellosen
Solidarität der Westdeutschen zuwege gebracht werden
konnte.

Das alles hat zu einer beachtlichen Aufbauleistung
geführt. Die neuen Länder liegen kaufkraftbereinigt
beim Pro-Kopf-Einkommen ungefähr auf der Höhe
Italiens. Die Investitionsentwicklung ist dynamisch, und
in manchen Bereichen steht der Osten besser da als die
westdeutschen Bundesländer. Ich nenne als Beispiele die
Kinderbetreuungssituation oder auch die Erwerbsbeteili-
gung von Frauen. Frauen arbeiten in Ostdeutschland
häufiger und mehr Stunden als in Westdeutschland.
Nicht zu vergessen ist, finde ich, dass viele dieser Er-
folge aufgrund des Engagements, der Tatkraft und auch
der Flexibilität der Ostdeutschen zustande gekommen
sind. Möglich wurden sie aber nur durch die gesamtdeut-
sche Solidarität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde es aber realitätsfern, zu glauben, dass der
Prozess abgeschlossen ist. Die Ostländer sind immer
noch schwach, wenn es um die Steuereinnahmen geht.
Wir haben ganz wenige Sitze von großen Unternehmen
in den neuen Bundesländern. Die Steuerkraft der ost-
deutschen Bundesländer beträgt gerade einmal 62 Pro-
zent der Steuerkraft der finanzschwachen westdeutschen
Bundesländer.

Wir müssen daher diese strukturschwachen Regionen
auch über 2019 hinaus weiter unterstützen, nicht nach
Himmelsrichtungen, sondern am jeweiligen Bedarf
orientiert. Das dürfen wir auch in den aktuell stattfinden-
den Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen nicht vergessen. Wir sollten nicht mit dem Hin-
tern einreißen, was wir und meine Elterngeneration
aufgebaut haben.

Ich werbe dafür, dass ein breiter Konsens aller Bun-
desländer zustande kommt und wir uns, statt auf Ellen-
bogenföderalismus und auf Steuer- und Sozialwettlauf
zu setzen, an unserem Verfassungsgebot orientieren,
gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland
– unabhängig von der Himmelsrichtung – herzustellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Blick in den Bericht verrät, was man auch spürt:
Im Osten geht die Arbeitslosigkeit seit 2005 spürbar zu-
rück. Das ist toll und wichtig. Denn wir alle miteinander
wissen, was Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit
Ende der 90er-Jahre in ganzen Landstrichen angerichtet
haben. Gleichzeitig sehen wir aber auch da noch eine
große Herausforderung. Es gibt immer noch 1 Million
Menschen in Deutschland, die langzeitarbeitslos sind.
Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich und erweist
sich als hartnäckig. Das ist kein ostdeutsches Problem.
Wir sehen die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit auch
in vielen anderen Regionen, insbesondere bei Ungelern-
ten und bei über 55-Jährigen. Viele Programme, die
diese Menschen betreffen, sind in der Vergangenheit ge-
kürzt worden oder laufen aus. Ich bin ganz klar der Mei-
nung: Wir brauchen für diese Langzeitarbeitslosen wie-
der mehr Vermittlungsmöglichkeiten. Wir brauchen
einen sozialen Arbeitsmarkt nicht nur für Ostdeutsch-
land, sondern überall dort, wo Langzeitarbeitslosigkeit
Thema ist. Die Papiere liegen auf dem Tisch. Ein solches
Programm würde insbesondere der Generation helfen,
die ganz stark von den Transformationen insbesondere
in den neuen Bundesländern betroffen war.

Lassen Sie uns deshalb diese und andere verbleibende
Herausforderungen gemeinsam annehmen. Das wird ei-
nen Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit leisten.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805802800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1805802900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Gäste auf den Besuchertribünen! Die Wiedervereinigung
zählt zu den glücklichsten Momenten unserer deutschen
Geschichte. Deshalb haben diese Tage, an denen wir uns
an jene Menschen in der damaligen DDR erinnern, die
für demokratische Grundrechte auf die Straße gingen,
auch nach 25 Jahren nichts an Faszination verloren.

Wir können stolz darauf sein, was wir gemeinsam für
unser Land und insbesondere auch für Ostdeutschland
geschaffen haben. Der Traum der Menschen von Demo-





Jana Schimke


(A) (C)



(D)(B)

kratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, einem
selbstbestimmten Leben, zu dem wohlgemerkt auch die
freie Berufswahl oder auch die Schaffung von Eigentum
zählt, hat sich erfüllt. Der Aufbau Ost als gesamtgesell-
schaftlicher solidarischer Kraftakt hat Erhebliches ge-
leistet. Fährt man heute durch die neuen Bundesländer,
trifft man auf eine moderne Infrastruktur, auf sanierte In-
nenstädte oder neue Universitäten, die sich sehen lassen
können.

Eine besondere Leistung der deutschen Einheit war
ohne Frage auch die Übertragung der sozialen Siche-
rungssysteme, von der Rente bis zur Arbeitslosenver-
sicherung. Damit meine ich nicht nur die Übertragung
von Beitragsmodalitäten und von Leistungen. In der
Rentenversicherung werden bis heute in den neuen Bun-
desländern die Renten mit dem Hochwertungsfaktor auf-
gewertet. Alles andere hätte nach klassischer Berech-
nung die Renten im Osten ins Bodenlose fallen lassen.
Da es aber gerade in der Rentenversicherung darum
geht, Lebensleistung anzuerkennen und abzubilden, ha-
ben sich die Mütter und Väter der deutschen Einheit zu
diesem solidarischen Kraftakt entschieden. Dafür gilt ih-
nen unser aller Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dennoch – das ist heute bereits mehrfach angeklun-
gen – darf man natürlich nicht dem Glauben unter-
liegen, die Lebensverhältnisse in Ost und West seien
vollständig angeglichen. Woran liegt das? 40 Jahre Plan-
wirtschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Das spüren
wir noch heute. Deshalb bleibt es bis heute eine der
wichtigsten Aufgaben des Aufbaus Ost, hier noch stär-
ker aufzuholen. Der aktuelle Bericht zum Stand der
Deutschen Einheit macht genau dies deutlich. So fehlt es
in den neuen Ländern trotz enormer Investitionen insge-
samt noch immer an jener Stärke, die es gerade braucht,
um mitzuhalten. Das zeigt sich beim Bruttoinlandspro-
dukt, beim Steueraufkommen oder bei den Löhnen und
Gehältern; die Kolleginnen und Kollegen haben dazu be-
reits viel gesagt. Die Kennzahlen verweisen aber auch
auf eine noch junge, klein- und mittelständische Wirt-
schaft in den neuen Bundesländern. So sind die meisten
Unternehmen bei uns in Ostdeutschland höchstens
25 Jahre alt. Industrielle Strukturen oder eine krisener-
probte Firmengeschichte von 100 Jahren und mehr gibt
es eher selten.

40 Jahre DDR zeigen sich auch bei der persönlichen
Situation der Menschen in den neuen Bundesländern. So
ist das Vermögen privater Haushalte in Ostdeutschland
heute noch immer halb so hoch wie das in Westdeutsch-
land. Obwohl in beiden Landesteilen der Immobilienbe-
sitz die wichtigste Vermögensform ist – wir selbst bauen
unsere Altersvorsorge darauf auf –, lebt nur ein knappes
Drittel der ostdeutschen Haushalte heute im selbst ge-
nutzten Wohneigentum. Gemessen an den Schwierigkei-
ten vor 1990, Eigentum aufzubauen, überraschen diese
Werte natürlich nicht. Sie zeigen aber auch, dass ein
Vierteljahrhundert manchmal nicht genügt, die Spuren
von 40 Jahren zu überwinden. Unser Handeln sollte des-
halb darauf ausgerichtet sein, diese Unterschiede durch
eine kluge Politik weiter abzubauen.
Auch wird es künftig darum gehen, die Stärken der
neuen Länder herauszustellen, positive Beispiele zu be-
nennen und neue Perspektiven zu schaffen; denn es gibt
auch Erfolgsgeschichten. Denken Sie an die Spitzen-
position einiger südlicher ostdeutscher Bundesländer bei
der Bildungspolitik. Oder denken Sie an das Bundes-
land, das in Deutschland die geringste Pro-Kopf-Ver-
schuldung hat. Das ist nämlich Sachsen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Region um Berlin zählt aber – das möchte ich als
Brandenburger Abgeordnete auch gesagt haben; dazu
gehört auch mein Wahlkreis – zu den dynamischsten in
ganz Deutschland; darauf hat kürzlich sogar die OECD
verwiesen. Ein wahrlicher Standortfaktor sowohl für die
Wirtschaft als auch für die Menschen, die in den neuen
Bundesländern leben, sind aber auch die guten Rahmen-
bedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen Neben-
effekt. Die gute Kitastruktur zählt zu den Hauptgründen,
warum sich die Menschen heute entscheiden, entweder
in der Region zu bleiben oder sogar zurückzukehren.
Aus Sicht der Unternehmen macht sich vor allem eines
bemerkbar: Frauen sind in den neuen Ländern öfter und
auch länger erwerbstätig. Das zahlt sich natürlich später
auch bei der Rente aus.

Ich habe jetzt viel über Herausforderungen, Fakten
und Zahlen gesprochen. Es mag sein, dass einigen die
Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer und die An-
gleichung an die Altbundesländer, gerade was die wirt-
schaftliche Stärke angeht, nicht schnell genug geht. Ich
stehe allerdings nicht hier, um in diesen Tenor einzu-
stimmen. Wir haben in den letzten 25 Jahren vieles gut
gemacht und gut gemeistert. Erinnern Sie sich daran,
welche Herkulesaufgabe die deutsche Einheit für uns
alle war und noch immer ist! Die Wendezeit war eine der
prägendsten Erfahrungen meiner eigenen Kindheit und
Jugend. Diese Zeit hat mich damals zur Politik gebracht.
Ich habe ihr später meine Ausbildung und meinen Beruf
gewidmet. Trotz aller Unsicherheiten und allem Neuen,
was die Zeit mit sich brachte, begleitete meine Familie
und mich immer eines: die überwältigende Freude da-
rüber, endlich frei zu sein in all seinen Entscheidungen,
sowie das tiefe Vertrauen und der Glaube an die eigenen
Fähigkeiten. Damals hieß es: Wer sich anstrengt, der
wird auch belohnt. – Diese Worte sind für mich Sinnbild
dessen, was die friedliche Revolution 1989 auch ermög-
lichte: Leistungsgerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Ei-
genverantwortung.

Deshalb gibt es auch Dinge, die mich heutzutage
nachdenklich werden lassen. Wenn wir vom Mauerfall
und von der Wiedervereinigung sprechen, haben wir si-
cherlich immer wieder jene Menschen vor Augen, die
sich in der damaligen DDR unter großen persönlichen
Opfern gegen das SED-Regime aufgelehnt und die
Mauer zum Einsturz gebracht haben. Viele davon haben
ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es mitunter auch verlo-
ren. Die Menschen in der damaligen DDR haben weder
ihren Leib noch ihr Leben geschont, um einen System-
wechsel herbeizuführen. Sie haben für Demokratie, freie
Meinungsäußerung, politische Mitgestaltung und ein





Jana Schimke


(A) (C)



(D)(B)

selbstbestimmtes Leben gekämpft. Erst der Mauerfall
und die deutsche Wiedervereinigung haben das alles
möglich gemacht.

Es ist noch gar nicht so lange her, da fanden in
Deutschland Europa- und Kommunalwahlen statt. Erst
kürzlich brachten wir die Landtagswahlen in Branden-
burg, Sachsen und Thüringen hinter uns. Die Wahlbetei-
ligung – da möchte ich auf den Punkt kommen – war er-
schreckend gering. Sie lag mitunter bei weniger als
50 Prozent. Bei den Landtagswahlen in meinem Heimat-
land Brandenburg haben weniger als die Hälfte aller
Wählerinnen und Wähler von ihrem Wahlrecht Ge-
brauch gemacht. Das, wofür die Ostdeutschen 1989 auf
die Straße gegangen sind – die Teilnahme an freien Wah-
len, die Möglichkeit, selbst wählen zu gehen und mitzu-
entscheiden –, wird nun immer weniger wahrgenommen.
Ich frage: Wo ist in unserer Gesellschaft der Wunsch
nach politischer Mitbestimmung geblieben? Uns als De-
mokraten muss diese Entwicklung beunruhigen; denn
von einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren ledig-
lich die politischen Ränder.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir die Entwick-
lung, welche die ostdeutschen Bundesländer im letzten
Vierteljahrhundert genommen haben, nicht zerreden und
madig machen. Unsere Aufgabe als Politiker wird es
aber künftig immer wieder sein, darzulegen und vor Au-
gen zu führen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist,
seine Meinung frei zu äußern, frei wählen zu gehen und
über sein Leben selbst und eigenverantwortlich zu be-
stimmen. Ein Blick in die übrige Welt, meine Damen
und Herren, genügt dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sollten die Menschen immer wieder daran erin-
nern, was Unfreiheit bedeutet und wie wichtig gerade
die Wahlbeteiligung für den Erhalt unserer Freiheit und
Demokratie ist. Das Argument „Mit meiner Stimme
kann ich ja eh nichts bewirken“ zählt nicht. Jeder kann
sich einbringen, ob in einer Partei, einer Bürgerinitiative
oder einem Verein. Es kommt aber darauf an, mitzuma-
chen. Das Mindeste, was man für sein Land tun kann,
ist, wählen zu gehen und damit ein ureigenes Bürger-
recht, aber auch eine Bürgerpflicht wahrzunehmen.

In Gesprächen mit den Menschen in meinem Wahl-
kreis merke ich sehr oft, dass es ein sehr feines Gespür
für Gerechtigkeit gibt. Damit meine ich nicht Vertei-
lungsgerechtigkeit, Gleichmacherei, sondern Leistungs-
gerechtigkeit. Es ist ein Vertrauen in ein Gerechtigkeits-
empfinden, das nicht sofort an staatliche Umverteilung
denkt, sondern an diejenigen, die sich anstrengen, selber
ihr Schicksal in die Hand nehmen und ihren Beitrag in
unserer Gesellschaft leisten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805803000

Frau Kollegin.

Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1805803100

Ich bin sofort fertig. – Es geht darum, meine Damen

und Herren, dass wir diese Leistung wieder mehr hono-
rieren und unsere Politik daran ausrichten.

Deswegen haben der Tag der Deutschen Einheit und
die Erinnerung an die Geschehnisse dieser Tage für mich
bis heute nichts an Faszination, an Begeisterung, aber
auch an Demut verloren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805803200

Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sabine Poschmann (SPD):
Rede ID: ID1805803300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mein achtjähriger Sohn fragte mich in der
letzten Woche: Mama, was ist eigentlich der Tag der
Deutschen Einheit? An dieser Stelle wird einem be-
wusst: Unseren Kindern – zumal den jungen – ist der
Gedanke an ein geteiltes Deutschland schon völlig
fremd. In ihren Köpfen hat nie eine Mauer gestanden.
25 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir, haben
Menschen in Deutschland vieles erreicht und die Le-
bensverhältnisse teilweise angeglichen. Wir dürfen nun
nicht zulassen, dass wir durch einen Streit ums Geld
neue Mauern in unseren Köpfen aufrichten.


(Beifall bei der SPD)


Wir dürfen nicht zulassen, dass Ost- und Westdeutsch-
land in einer sogenannten Gerechtigkeitsdebatte gegen-
einander ausgespielt werden. Sie ahnen es: Ich rede über
die Fortentwicklung des Solidarpakts II, der 2019 endet.

Aber es gibt auch Städte und Regionen in Ostdeutsch-
land, denen es schlecht geht. Genauso gibt es solche in
Westdeutschland. Hamburg und München sind trendy,
während die hochverschuldeten Städte im Ruhrgebiet
mit Nothaushalten hantieren und nicht mehr wissen, wie
sie Schulen, Straßen, Schwimmbäder und Bibliotheken
bezahlen sollen. Ihre Infrastruktur zerfällt im wahrsten
Sinne des Wortes.

Dabei hat das Ruhrgebiet viel erreicht. Aus einer von
Kohle und Stahl geprägten Industrieregion ist eine For-
schungslandschaft geworden, ein innovativer Wirtschafts-
raum, der für junge Hightechfirmen ebenso attraktiv ist
wie für moderne Logistikbetriebe. Noch 1970 waren
60 Prozent aller Beschäftigten im produzierenden Ge-
werbe tätig und 40 Prozent im Dienstleistungssektor. Das
hat sich komplett gedreht. Ich finde, die Region hat eine
große Leistung vollbracht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Leider müssen wir jetzt feststellen, dass der Struktur-
wandel an Fahrt verloren hat. Die Arbeitslosenquote im
Ruhrgebiet liegt bei 10,7 Prozent, der Bundesdurchschnitt
bei 6,5 Prozent. Viele Städte ächzen unter horrenden So-





Sabine Poschmann


(A) (C)



(D)(B)

ziallasten. Meine Heimatstadt Dortmund beispielsweise
kann ihren Verpflichtungen aus den Einheitslasten nur
noch nachkommen, weil sie seit dem Jahr 2000 dafür
Kredite aufnimmt. Wenn der Solidarpakt 2019 ausgelau-
fen ist, hat Dortmund die Hälfte seiner Zahlungen, rund
370 Millionen Euro, über Kredite finanziert.

In anderen Städten des Ruhrgebietes ist die Lage noch
dramatischer. Oberhausen beispielsweise hat einen Not-
haushalt und 2 Milliarden Euro Schulden, mehr als die
gesamte Infrastruktur der Stadt wert ist. Dennoch hat
Oberhausen in den vergangenen 20 Jahren 263 Millio-
nen Euro in den Solidarpakt eingespeist, ebenfalls über
Kredite. Die Arbeitslosenquote in Jena lag im August
bei 7,2 Prozent; das ist fast westdeutscher Schnitt. In
Oberhausen lag sie bei 12 Prozent; das ist ostdeutscher
Schnitt.

Wer soll nun wen fördern? Die Antwort ist: Wir brau-
chen kein Fördersystem, das zwischen Ostdeutschland
und Westdeutschland unterscheidet. Wir brauchen ein
Fördersystem, das strukturschwachen Städten und Re-
gionen in ganz Deutschland auf die Beine hilft, und das
in gleichem Maße.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Es geht nicht um die Frage Jena oder Dortmund, Bre-
men oder Brandenburg, es geht um die Frage, wie wir
die Lebensbedingungen und die Bildungschancen aller
Menschen in Deutschland verbessern, unabhängig da-
von, wo sie leben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805803400

Nun hat Kai Wegner für die CDU/CSU-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Kai Wegner (CDU):
Rede ID: ID1805803500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr
dankbar, zum Stand der deutschen Einheit reden zu dür-
fen, exakt 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.
Als Berliner bin ich in Spandau gewissermaßen im
Schatten dieser Mauer aufgewachsen, dem Symbol der
deutschen Teilung. Niemals werde ich den 9. November
1989 vergessen, jene wunderbare, kalte Novembernacht,
als Hunderttausende Deutsche von Ost nach West bran-
deten, die Kontrollpunkte an der Berliner Mauer über-
rannten, sich wildfremde Menschen in die Arme fielen
und eine vorweggenommene Wiedervereinigung gerade
hier in Berlin feierten.

Als damals 17-Jähriger konnte ich zusammen mit
Freunden am Grenzübergang Invalidenstraße erstmals
den Ostteil meiner Heimatstadt Berlin besuchen. Wir
gingen über die Friedrichstraße, sahen Truppen aufmar-
schieren, wir erblickten Wasserwerfer, Gewehre. Wir
hatten ein ungutes Gefühl, aber die Freude überwog.
Schließlich kamen wir zum Brandenburger Tor und
mussten dort über das Monstrum Mauer klettern, um zu-
rück in den Westteil zu gelangen.

In der Nacht des 9. November war noch völlig unge-
wiss, wohin die Reise gehen würde. Aber kurz darauf
war klar: Der Geist der Freiheit hat sich durchgesetzt,
und das Rad der Geschichte ließ sich nicht mehr zurück-
drehen. So habe ich in der Nacht des 9. November eine
Sternstunde der deutschen Geschichte live miterleben
dürfen. Die Bilder und diese Zeit bewegen mich noch
heute sehr.

Aber, meine Damen und Herren, eine ganze Genera-
tion von Deutschen kennt schon aufgrund ihres Lebens-
alters den real existierenden Sozialismus, das umfas-
sende staatliche Unterdrückungs- und Unrechtssystem
nur aus den Geschichtsbüchern. 25 Jahre nach dem Ende
der SED-Diktatur verblasst auch in der Erlebnisgenera-
tion bei vielen die Erinnerung an den Todesstreifen, an
die Staatssicherheit, an die sozialistische Mangelwirt-
schaft, an Zwangsarbeit und Zwangsadoptionen.

Umso wichtiger ist deshalb eine authentische Gedenk-
und Erinnerungskultur. Wir müssen ein Bewusstsein dafür
schaffen, dass Werte wie Freiheit und Demokratie, die uns
so viel bedeuten, eben nicht selbstverständlich sind, und
wir müssen verhindern, dass Ewiggestrige immer wieder
durch abstruse Aufmärsche Geschichte umschreiben
oder Geschichtsklitterung betreiben wollen. Meine Da-
men und Herren, das dürfen wir nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb ist es gut, dass der Jahresbericht der Bundes-
regierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 an
herausgehobener Stelle die historischen Leistungen der
Bürgerrechtler in der damaligen DDR würdigt, die so
couragiert für Freiheit, für Demokratie und Menschen-
rechte auf die Straße gegangen sind.

Aber der Weg zur Wiedervereinigung nach dem Fall
der Mauer war alles andere als zwangsläufig. Es be-
durfte schon der zupackenden Art, in der Kanzler
Helmut Kohl den wehenden Mantel der Geschichte er-
griff und auf die Einheit der beiden deutschen Teilstaa-
ten drängte. Für diese historischen Verdienste um die
Wiedervereinigung, für die zupackende Art, dafür, dass
er dieses klares Ziel im Blick hatte, gebührt Helmut
Kohl, dem Kanzler der Einheit, unser aller Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD])


Die Angleichung der Lebensverhältnisse erwies sich
als ein komplizierter und langwieriger Prozess. Immer-
hin ging es um die Harmonisierung zweier Gesell-
schafts- und Wirtschaftssysteme, die sich mehr als
40 Jahre lang wie Feuer und Wasser gegenüberstanden.
Vor diesem Hintergrund ist Beachtliches erreicht wor-
den: Eine abgeschirmte sozialistische Planwirtschaft
wurde in die bewährte soziale Marktwirtschaft über-
führt. Die verheerende Umweltverschmutzung wurde
beseitigt. In weiten Teilen der neuen Länder ist moderne





Kai Wegner


(A) (C)



(D)(B)

Infrastruktur vorhanden. Die Wohnsituation wurde
durchgreifend verbessert.

Auch die wirtschaftliche Entwicklung, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, kann sich sehen lassen. Die neuen
Länder haben ihre Wirtschaftsleistung seit 1991 verdop-
pelt. Sie gehören heute schon zum Mittelfeld Europas
und stehen erheblich besser da als alle anderen ehemals
sozialistischen Staaten.

Die Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern heute
auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Zur Wahrheit
gehört aber auch, dass die Arbeitslosigkeit zwischen Rü-
gen und dem Fichtelberg trotzdem noch immer deutlich
höher ist als in den alten Ländern. Wo es keine Perspek-
tiven auf Arbeit gibt, zieht die Jugend weg, und ganze
Landstriche drohen zu veröden. Deshalb müssen wir die
Wachstumsdynamik, die Innovationskraft und die Inter-
nationalisierung der Wirtschaft in den neuen Ländern
weiter stärken. Hier haben wir weitere Herausforderun-
gen zu bewältigen, aber wir können mit Stolz auf das bli-
cken, was wir bis heute erreicht haben, meine Damen
und Herren.

Die Berliner Mauer als Symbol der deutschen Teilung
ist vor 25 Jahren gefallen. An ihre Stelle sind heute das
Reichstagsgebäude und das Brandenburger Tor als Zei-
chen der deutschen Einheit getreten. Aus Berlin, der
Frontstadt des Kalten Krieges, wurde die Hauptstadt ei-
nes geeinten Deutschlands, das mit sich im Reinen ist,
das mit seinen Nachbarn im Frieden lebt, das weltoffen
und tolerant ist. Die über Jahrzehnte geteilte Stadt ist zu-
sammengewachsen. National wie international ist Berlin
heute die anerkannte Hauptstadt Deutschlands.

Als politisches und kulturelles Zentrum ist Berlin zu-
dem die Visitenkarte unseres Landes. Damit hat Berlin
eine dienende Funktion für ganz Deutschland, meine
Damen und Herren. Diese dienende Funktion als politi-
sches und kulturelles Zentrum Deutschlands gilt es wei-
ter zu stärken; denn eine gute Entwicklung Berlins steht
sinnbildlich für eine gute Entwicklung Deutschlands.

Vor über 20 Jahren führte der Deutsche Bundestag die
Hauptstadtdebatte. Damals ging es darum, dass Berlin
wieder Hauptstadt Deutschlands wird. Meine Damen
und Herren, ich wünsche mir eine zweite Hauptstadtde-
batte – nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie
der Berliner Hauptstadtfunktion. Wie kann Berlin seiner
dienenden Funktion für ganz Deutschland noch besser
gerecht werden? Wie kann die ganze Republik noch stär-
ker von ihrer Hauptstadt profitieren? Was kann Berlin
als Hauptstadt für ganz Deutschland leisten? – Meine
Damen und Herren, ich glaube, es lohnt sich, darüber zu
diskutieren,


(Zuruf von der CDU/CSU: Flughafen zum Beispiel!)


es lohnt sich, darüber zu streiten, offen und über die Par-
teigrenzen hinweg. Denn ich bin mir ganz sicher: Berlin
ist bereit, noch mehr Verantwortung für unser gesamtes
wiedervereinigtes Land zu übernehmen.

Meine Damen und Herren, nach der wechselvollen
Geschichte des 20. Jahrhunderts sollten wir die Einheit
Deutschlands in Frieden und Freiheit als Geschenk be-
trachten, über das wir uns nicht nur am 3. Oktober, son-
dern an jedem Tag des Jahres von Herzen freuen sollten.

Wenn wir heute viel über die Bürgerrechtler des
Herbstes 1989 gesprochen haben, sie gewürdigt haben,
dann, finde ich, sollten wir an diesem Tag die Männer
und Frauen des 17. Juni nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD])


Die Männer und Frauen des 17. Juni haben den Anfang
gemacht, die Männer und Frauen des 17. Juni sind auf-
gestanden mit Mut. Sie wurden niedergeknüppelt, er-
mordet. Das, was die Männer und Frauen des 17. Juni
begonnen haben, wurde am 9. November 1989 endlich
erreicht und umgesetzt. Deswegen dürfen wir auch diese
Männer und Frauen nicht vergessen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805803600

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1805803700

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi-

dent! Ich möchte erst einmal etwas zur Einordnung die-
ses Ereignisses sagen, das wir in den letzten Tagen ge-
feiert haben, insbesondere gestern. Wenn Sie in der
Geschichte unseres Landes zurückblättern – Sie können
50 Jahre nehmen, Sie können 100 Jahre nehmen, Sie
können 500 Jahre nehmen – und ein Ereignis suchen, das
eine ähnliche Dimension wie dieses hatte, werden Sie
bei der ganzen Aktion nichts finden.


(Zuruf von der LINKEN: Gutenberg-Bibel!)


Sie werden aus dem ganz einfachen Grund nichts finden,
weil eine Reihe von Parametern bei zweifellos ganz we-
sentlichen Dingen in unserer Geschichte nicht erfüllt wa-
ren, nämlich erstens: Es ist bei einem Befreiungsversuch
kein Tropfen Blut geflossen. – Das ist ganz wesentlich.

Zweitens. Der Befreiungsversuch war anders als bei-
spielsweise in der Revolution 1848 erfolgreich. Er hatte
Erfolg.

Drittens. Die Dimension hat alles bisher Dagewesene
gesprengt. Sie hat nicht nur Europa verändert, sie hat Be-
deutung für die ganze Welt gehabt.

Meine Damen und Herren, das ist die Einordnung,
das ist die Dimension, über die wir hier reden.

Herr Bundestagspräsident, es ist richtig gewesen, was
Sie zur Präsenz gestern am Tag in Leipzig gesagt haben.
Es wäre aber wahrscheinlich auch nicht falsch gewesen,
wenn wir den gestrigen Plenartag hätten ausfallen lassen
können und nach Leipzig gefahren wären. Das hätten
wir als Deutscher Bundestag vermutlich überlebt.





Arnold Vaatz


(A) (C)



(D)(B)


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805803800

Herr Kollege Vaatz, ich teile sofort Ihre Einschät-

zung, dass der Bundestag das überlebt hätte. Mir ist aber
ein entsprechender Antrag nicht erinnerlich.


(Heiterkeit bei der LINKEN und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sächsische Staatskanzlei hat uns nicht eingeladen!)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1805803900

Das weiß ich. Sie haben dem zweiten Satz, den ich

dazu sagen wollte – das war ein Wort zur Selbstkritik –,
vorgegriffen. Mir ist es auch nicht eingefallen. Also
Schwamm drüber. Es war aber keine Glanzleistung,
meine Damen und Herren. Das müssen wir schon einmal
zugeben.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sächsische Staatskanzlei hätte uns einladen müssen, Herr Vaatz!)


Jetzt hat sich bei den Vorrednern so viel ereignet, dass
ich mein Manuskript praktisch wegschmeißen kann.

Als Erstes: Herr Bartsch, Sie haben mit großem Pa-
thos eingeklagt, dass es noch keine gleichen Lebensver-
hältnisse zwischen Ost und West gibt, obwohl das in der
Verfassung festgeschrieben ist.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Gleichwertig!)


Die Festschreibung in der Verfassung allein nutzt nichts,
denn es bedarf dazu gewisser Grundlagen. Wissen Sie,
wir hätten diese gleichen Lebensverhältnisse zwischen
Ost und West schon längst, wenn es keine SED und
keine DDR gegeben hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Geht es noch kleiner? – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Die Blockparteien waren besser?)


Ohne SED und DDR würden sich diese ungleichen Le-
bensverhältnisse nicht so exakt an der ehemaligen
deutsch-deutschen Grenze festmachen.

Herr Bartsch, wir hätten sie möglicherweise schneller,
wenn Sie die 25 Jahre von damals bis heute nicht dazu
genutzt hätten, alles zu unternehmen, um möglichst viel
von den alten Strukturen der DDR zu konservieren, die
alten Besitzstände fortzuschreiben und uns ausschließ-
lich auf konsumtive Ziele auszurichten. Das ist das Pro-
blem.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben den Wiederaufbau nach Kräften verhindert.
Sie haben gewünscht, dass sich dieses neue Staatswesen
durch Überforderung so stark wie möglich selber schä-
digt, damit Sie immer mit Häme und Spott auf die Dinge
eingehen konnten, die noch nicht erreicht waren.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist jetzt aber Küchenpsychologie!)


Das ist Ihre wirkliche Rolle.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Unsinn! Sagen Sie das den Oberbürgermeistern von Leipzig!)


Meine Damen und Herren, ich bin im Übrigen wie
Helmut Kohl auch der Auffassung,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aufpassen! Frau Honecker ruft!)


dass es damals nicht der Freundlichkeit und der Güte der
Sowjetführung zu verdanken war, dass sie uns gewähren
ließ, sondern in erster Linie ihrer Schwäche. Anderer-
seits ist es aber auch so – das hat auch Helmut Kohl am
19. Dezember vor der Frauenkirche in Dresden ganz
deutlich gesagt –: Ohne den unbedingten Willen zur Ge-
waltlosigkeit und ohne die Tatsache, dass wir damals
Rachegelüste und Ähnliches im Keim erstickt haben
– wir wollten uns ja nicht an jemandem rächen, sondern
aus dieser Situation heraus –, wäre die ganze Sache ver-
mutlich nicht friedlich geblieben. Wenn sie nicht fried-
lich geblieben wäre, dann wäre, glaube ich, eine deut-
sche Wiedervereinigung nicht gelungen; das muss ganz
klar sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt gehe ich einmal kurz auf das ein, was Frau Lazar
und Frau Lemke gesagt haben. Wissen Sie, das Problem
ist folgendes: Sicher haben damals eine Reihe von SED-
Leuten eingelenkt und ihre Genossen gemahnt, dass sie
ihre Waffen nicht auspacken sollen;


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gehört doch mit dazu!)


aber dafür, dass ein Mensch oder eine Partei nicht mor-
det oder nicht morden lässt, muss man ihm bzw. ihr nicht
danken, sondern das ist selbstverständlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Und man muss sich meiner Meinung nach vor Menschen
in Acht nehmen, die Dank dafür einfordern, dass sie
nicht gemordet haben.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805804000

Herr Kollege Vaatz, darf die Kollegin Lemke dazu

eine Zwischenfrage stellen?


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1805804100

Selbstverständlich.


Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805804200

Herr Vaatz, können Sie zur Kenntnis nehmen, dass

das überhaupt nicht der Gedanke ist, den ich hier geäu-
ßert habe, dass es nicht darum geht, irgendjemandem zu
danken, dass er nicht gemordet hat? Ich finde die Unter-
stellung, die Sie damit aussprechen, absurd. Was ich be-
schrieben habe, ist, dass wir Politiker 25 Jahre nach der





Steffi Lemke


(A) (C)



(D)(B)

friedlichen Revolution die Aufgabe haben, den Men-
schen Einordnungen und Erklärungen anzubieten und
vor allem zur deutschen Einheit beizutragen, indem wir
zur Versöhnung aufrufen.

Ich habe bei mir zu Hause eine Kollegin, die wegen
ihres Mannes entlassen worden ist. Sie hat gerade im
Kommunalparlament darum gebeten, die Stasiüberprü-
fungen zu beenden. Diese Frau hat unter dem Regime
und dem Unrechtsstaat DDR wirklich schwer gelitten,
aber sie sagte, sie wolle verzeihen. Das kann jeder nur
individuell tun. Das ist etwas, was wir hier im Deutschen
Bundestag nicht tun können. Aber was wir tun können,
ist, die Feierlichkeiten in diesem und im nächsten Jahr
wirklich zur deutschen Einheit zu nutzen und die Debat-
ten, die von beiden Seiten mit schnittfestem Schaum vor
dem Mund geführt werden und die heute Gott sei Dank
nur leise angeklungen sind, nach 25 Jahren zu beenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1805804300

Da es ja eine Frage war: Frau Lemke, wenn meine

Äußerungen bei Ihnen diese Klarstellung bewirkt haben,
dann waren sie sehr sinnvoll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer Punkt, der meines Erachtens ganz wich-
tig ist: Herr Claus, Sie haben vorhin ebenfalls mit großer
Selbstverständlichkeit erklärt, ob Sie aus der Verantwor-
tung für das, was in der DDR im Namen der SED ange-
richtet wurde, entlassen würden, würden Sie bestimmen.
Das ist ein Irrtum. Das bestimmen nicht Sie, sondern das
bestimmt die Geschichte, und das bestimmt das deutsche
Volk in Gestalt seiner Wähler.


(Beifall bei der CDU/CSU – Manfred Grund [CDU/CSU]: Und die Opfer!)


– Und die Opfer. Auch das muss ich noch sagen.

Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, nicht
der Meinung, dass wir das damals der Freude und der
Güte der Sowjetführung zu verdanken hatten, sondern
eher ihrer Schwäche. Ich glaube auch heute nicht einen
Augenblick daran, dass unser Befreiungsversuch ge-
glückt wäre, wenn in Moskau damals eine Kraft vom
Kaliber der heutigen russischen Führung das Sagen ge-
habt hätte. Das muss gesagt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn ich mich an die Jahre 1989 und zuvor erinnere,
dann muss ich sagen: Alle Menschen, die in einer ähnli-
chen Lage waren wie wir damals, verdienen heute un-
sere Solidarität und unsere Unterstützung. Insofern
stimme ich Herrn Tiefensee hundertprozentig zu, dass
wir diese Aufgabe haben, und zwar egal, ob die Leute in
Nordkorea, in Kuba oder in der Ukraine leben. Wenn wir
diese Aufgabe nicht annehmen, dann haben wir einen
großen Teil dessen, was wir 1989 erkämpft haben, heute
verspielt. Das darf nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Sa-
che nennen, die bei den vielen Erfolgsmeldungen ein
Stück weit untergegangen ist. Es gibt viele Statistiken.
Die sind toll und zeigen den Aufwuchs von damals. Es
gibt eine Kurve, die hat einen ganz besonderen Knick im
Jahre 1990. Das sagt sehr viel. Wissen Sie, welche
Kurve das ist? Das ist die Kurve der durchschnittlichen
Lebenserwartung. Wenn man es hochrechnet, beträgt der
Anstieg der Lebenserwartung bei Männern 45 Prozent.
Die Lebenserwartung von 65-jährigen Männern ist von
ursprünglich 12 Jahren auf 17,5 Jahre, also um 45 Pro-
zent, angestiegen. Auf diese Weise kann man sagen:
Wenn man dies über alle Generationen hochrechnet, so
sind nach der deutschen Wiedervereinigung den Ost-
deutschen ungefähr eine Milliarde neue Lebensjahre ge-
schenkt worden. Das ist eine ungeheure Sache.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sönke Rix [SPD]: Das liegt an den Bananen!)


Das Ganze geht einher mit einer Stagnation – das kön-
nen Sie alle überprüfen –, die von 1980 bis 1989 im Os-
ten angehalten hat. In dieser Zeit gab es keine Steigerung
der Lebenserwartung. Ich finde das ganz wichtig, denn
ohne gesteigerte Lebenserwartung sind die anderen gro-
ßen Segnungen überhaupt nicht genießbar. Wenn man tot
ist, ist einem der Lebensstandard egal.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ohne Sozialismus lebt man länger!)


Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wir haben ei-
nen gewaltigen Aufwuchs – ich glaube, hier ziehen wir
mit der Entwicklung in Westdeutschland sehr stark
gleich – im Bereich der Forschung. Dafür möchte ich
Frau Professor Dr. Wanka ganz herzlich danken. Ich
habe gehört, dass Ihre Mutter heute in Rosenfeld bei
Torgau der Debatte zuschaut. Vielleicht freut sie sich
über das Lob genauso wie Sie.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Ich finde das ganz toll.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805804400

Lieber Kollege Vaatz, da Sie die Redezeit schon über-

schritten haben, wird es jetzt für Grußadressen an viele
sinnvolle Richtungen nicht mehr reichen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1805804500

Ich will Ihre Toleranzschwelle nicht überstrapazieren,

aber wenigstens sagen, dass wir im Bereich der For-
schung einen ganz tollen Ritt hingelegt haben. Ich
nehme an, dass das auch in Zukunft so weitergeht. Un-
sere Unterstützung als Fraktion haben Sie jedenfalls.
Wenn es so weitergeht, dann machen wir aus unserem
Kapital, das wir im Kopf haben, tatsächlich früher oder





Arnold Vaatz


(A) (C)



(D)(B)

später etwas, was wir in Händen und auf dem Konto ha-
ben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805804600

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-

nungspunkt.

Es fügt sich aufs Schönste, dass sich Frau Ministerin
Wanka beim nächsten Tagesordnungspunkt prompt für
die Grüße bedanken kann.

Vorher sollten wir aber der interfraktionell vereinbar-
ten Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2665
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse fol-
gen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen feststellen? – Das
ist offenkundig der Fall.

Der Entschließungsantrag auf Drucksache 18/2751
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie auch damit einverstanden? – Es besteht kein Zweifel
über den weiteren Verfahrensgang dieses Textes. Dann
ist das einvernehmlich so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Grundgesetzes (Artikel 91 b)


Drucksache 18/2710
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Katja Dörner, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kooperationsverbot kippen – Zusammenar-
beit von Bund und Ländern für bessere Bil-
dung und Wissenschaft ermöglichen

Drucksache 18/2747
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuss

Für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt
sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 96 Mi-
nuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch,
also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Frau Professor Wanka.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Hoch-
schulbereich gibt es so viele Kooperationen zwischen
Bund und Ländern wie noch nie seit Bestehen der Bun-
desrepublik Deutschland.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja!)


Das war nur möglich, weil 2006 das Grundgesetz geän-
dert wurde,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Eben!)


weil 2006 in unser Grundgesetz aufgenommen wurde,
dass auch Kooperationen in Vorhaben der Wissenschaft
und Forschung einschließlich Vorhaben der Lehre mög-
lich sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da beklatschen wir uns selbst! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das waren harte Verhandlungen!)


Nun haben wir heute unter anderem einen Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegen. Sie schrei-
ben in ihrem Antrag:

Im Jahr 2006 hat die letzte Große Koalition das Ko-
operationsverbot im Grundgesetz verankert. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich damals
dieser fatalen Weichenstellung widersetzt …


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Falsch! All die großen Pakte, die wir verabschiedet ha-
ben, zum Beispiel der Hochschulpakt, wären ohne
Grundgesetzänderung nicht möglich gewesen. Der Qua-
litätspakt Lehre wäre nicht möglich ohne die Grundge-
setzänderung.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um das Kooperationsverbot Bildung!)


Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung wäre nicht mög-
lich ohne die Grundgesetzänderung.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum heben Sie es dann auf, wenn alles so richtig war?)


Weil wir eben über den Bericht zum Stand der Deut-
schen Einheit gesprochen haben: Der Hochschulpakt
2020 ist eine riesige Solidarleistung der westdeutschen
Bundesländer und der Bundesregierung für die neuen
Bundesländer. Wir, seitens des Bundes, haben seit sei-
nem Inkrafttreten für jeden Studenten Geld gezahlt. In
den alten Bundesländern musste das kofinanziert wer-
den, in den neuen nicht; das war entscheidend, damit die
Kapazitäten dort nicht abgebaut werden.

Man kann noch eine Zahl zum Bericht zum Stand der
Deutschen Einheit hinzufügen. In dem Bericht steht,
dass im letzten Jahr zum ersten Mal weniger junge Men-
schen aus den neuen Bundesländern zum Studieren ab-
gewandert sind, als aus den alten Bundesländern zuge-
wandert sind. Das wäre ohne den Hochschulpakt nie
passiert. Dafür brauchten wir die Grundgesetzänderung.





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)

Warum man stolz ist, dass man dagegen war, das ver-
stehe ich überhaupt nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gar nichts verstanden!)


Lassen Sie mich einen weiteren Satz aus dem Antrag
der Grünen zitieren:

In der Wissenschaft soll die Kooperation wieder in
die Entscheidungsbefugnis von Bund und Ländern
gelegt werden …

Die Situation, die wir durch die Grundgesetzänderung
geschaffen haben, gab es in der Bundesrepublik
Deutschland vorher noch nie, ganz eindeutig.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt!)


Ich bin es einfach leid, diese trivialen Tatsachen jedes
Mal zu erläutern. Ich habe es mal auf einer Seite zusam-
mengefasst: Grundgesetz vor 2006, seit 2006, unser Ge-
setzesvorschlag.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich war dabei! Ich weiß, wie es war!)


Diese Seite kann man sich bei mir abholen. Es bedarf
keiner großen Kommentare. Es ist ganz simpel und ver-
ständlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun ändert man das Grundgesetz nicht alle Tage.
Man überlegt sich gut: Ist diese Änderung notwendig?
Brauchen wir das? An dieser Stelle wird deutlich: Wir
brauchen das, und zwar nicht, um etwas zu reparieren,
sondern um etwas, was gut war, wesentlich besser zu
machen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1805804700

Frau Wanka, darf der Kollege Mutlu eine Zwischen-

frage stellen?

Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Ja.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805804800

Frau Ministerin, ich habe Ihrer Rede von Anfang an

sehr genau zugehört.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist gut so!)


Sie haben aufgezählt, wie toll das alles war und was Sie
mit der Grundgesetzänderung in Bezug auf das Koopera-
tionsverbot alles erreicht haben.

Ich schließe daran meine Frage an: Wenn die Grund-
gesetzänderung von 2006, die wir beklagt haben – das
haben Sie richtig zitiert –, richtig war, warum sehen Sie
dann jetzt überhaupt eine weitere Änderung des Grund-
gesetzes hinsichtlich des Hochschulbereichs vor?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja eine Steilvorlage, die Frage!)

Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:

Ich habe gerade angesetzt, um das zu erklären. Ich
habe gerade gesagt: Wenn man das Grundgesetz jetzt än-
dert, muss man sich das gut überlegen. Es gibt gute
Gründe, warum wir das Grundgesetz ändern. Es geht
nicht darum, etwas zu korrigieren oder zurückzunehmen,
sondern darum, das, was wir 2006 begonnen haben, fort-
zuführen. Der Nachteil der 2006 vorgenommenen
Grundgesetzänderung, die Bund und Ländern auch in
der Lehre eine Zusammenarbeit erlaubt – in der For-
schung ist das eh möglich –, ist, dass die Erlaubnis zeit-
lich befristet ist, also diese Zusammenarbeit nur tempo-
rär möglich ist und nicht institutionell verankert ist.
Genau das wird jetzt aber festgeschrieben. Es geht also
keineswegs um eine Korrektur, um ein Zurücknehmen,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weiterentwicklung!)


um das Reparieren eines Fehlers, sondern es geht um das
Fortführen des Prozesses.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Oliver Kaczmarek [SPD])


Warum ist uns das so wichtig? Warum wollen wir un-
bedingt, dass der Hochschulpakt nicht nur 10 oder
15 Jahre läuft? Warum wollen wir die Zusammenarbeit
institutionell verankern? Weil die Hochschulen das
Herzstück des Wissenschaftssystems sind. Wenn unsere
Nation ihren Wohlstand halten will, dann müssen wir im
Bereich von Forschung und Innovationen gut sein. Über-
legungen zu diesem Herzstück des Wissenschaftssys-
tems sollte nicht nur jedes Bundesland für sich anstellen,
sondern wir müssen auch in diesem Bereich langfristige
Strategien entwickeln können, wie sie ja im außeruniver-
sitären Bereich bereits möglich sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Wir müssen überlegen können: Welche besonderen Qua-
lifikationen brauchen wir beispielsweise für das Projekt
Industrie 4.0? Es geht nicht darum, dass der Bund ent-
scheidet, ob etwas in Kiel oder in München angesiedelt
wird, aber man muss über gemeinsame Zielstellungen
nachdenken und Wege finden, um die Ziele zu erreichen.

Dadurch wird auch die Kooperation der Universitäten
und Hochschulen mit den außeruniversitären Einrichtun-
gen, die schon heute möglich ist, sehr viel einfacher.
Wenn diese Kooperationen viel unkomplizierter sind,
schneiden wir auch in allen Rankings besser ab. Dann
haben wir in gewisser Art und Weise vergleichbare, ähn-
liche Rahmenbedingungen für die außeruniversitären
Einrichtungen und für die Hochschulen.

In dem Gesetzentwurf steht: Einstimmigkeit. Es wird
gesagt, dass das Prinzip der Einstimmigkeit stört, dass
das so nicht sein sollte. In dem Gesetzentwurf geht es
nun nicht darum, das föderale Prinzip, gemäß dem die
Länder zuständig sind, zu streichen. Immer wenn das fö-
derale Prinzip gilt, benötigen wir ja Einstimmigkeit,
auch in der Ministerpräsidentenrunde. Die vorgesehene
Grundgesetzänderung ist eindeutig: Wir wollen nicht,





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)

dass alle Länder bei jeder Kleinigkeit zustimmen müs-
sen, sondern wir wollen, dass sie mitentscheiden, wenn
im Schwerpunkt die Hochschulen betroffen sind. Das
heißt, bei Vereinbarungen zwischen einer Hochschule
und einer außeruniversitären Einrichtung müssen nicht
alle Bundesländer gefragt werden. Wenn es aber um
grundlegende Sachen geht, zum Beispiel um das Profes-
sorinnen-Programm, von dem 180 Hochschulen betrof-
fen sind, oder um die Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses an Hochschulen, dann brauchen wir die
Einstimmigkeit. Diese Einstimmigkeit haben wir 2006
aufgenommen; und sie steht da auch, weil wir das vom
Grundgesetz her mussten.

Ich denke, gleich wird in einigen Redebeiträgen mehr
oder wenig höflich gesagt werden: Das ist ja schön. Der
Wissenschaftsbereich ist der Anfang. Wir wollen diese
Möglichkeiten auch im Bereich Schule,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau!)


zwar nicht auf die Schnelle, aber das ist der nächste
Schritt. – Ich sage an der Stelle immer gerne: Schauen
Sie doch einmal nach Baden-Württemberg. Der Minis-
terpräsident von Baden-Württemberg sagt – das hat er
mir auch im persönlichen Gespräch immer wieder bestä-
tigt –: Im Bereich der Schule gibt es das auf keinen Fall;
das geht den Bund nichts an.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In München und in Stuttgart! – Gegenruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Seehofer ist dafür!)


Der Ministerpräsident von Hessen sieht das genauso.
Meine Argumentation war immer:


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Es ist erst einmal die Frage, ob wir das wollen!)


Es gibt diesbezüglich keine einheitliche Meinung der
Bundesländer,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sind Sie denn dafür?)


und solange es die nicht gibt, braucht man gar nicht da-
rüber zu reden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen eine Zweidrittelmehrheit! Die können Sie herbeiführen! Wie wäre es mit Überzeugungsarbeit?)


– Herr Gehring, wenn Sie so freundlich wären, mich re-
den zu lassen.

Es kommt noch besser: Wir haben vor kurzem im
Bundesrat über die BAföG-Novelle, über die wir hier
gestern debattiert haben, und über die Grundgesetzände-
rung diskutiert. In dieser Diskussion – das ist nachzule-
sen – haben Annegret Kramp-Karrenbauer aus dem
Saarland, Frau Puttrich aus Hessen, Frau Löhrmann, die
Vizeministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tolle Frau! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie hat gesagt, das ist Erpressung, was Sie machen!)


und Frau Dreyer als Ministerpräsidentin von Rheinland-
Pfalz gesprochen. Keine einzige dieser Frauen hat ge-
sagt: Wir wollen die Grundgesetzänderung auch für den
Schulbereich.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein, das ist falsch!)


Es war eindeutig. Sie haben gesagt: Wir wollen, dass wir
auf der Basis dessen, was geht – es geht eine Menge –,
Sozialgesetzbuch und anderes, zusammenarbeiten, um
die großen Probleme der Zukunft zu lösen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber das ist ja schon etwas anderes, als was Sie sagen!)


Wahrscheinlich bin ich da als ehemalige Landesministe-
rin ein bisschen sensibler. Ich verstehe, dass man sich
nicht so gerne etwas vorschreiben lässt und man keine
Beglückungen aus dem Bundestag bekommen will, die
man selbst nicht will und über die man vorab keine Dis-
kussion geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie reagieren Sie denn auf die Stellungnahme des Bundesrates?)


Deswegen fand ich diese Bundesratsdiskussion sehr er-
staunlich. Ich hätte den einen oder anderen Zwischenton
erwartet. Dem war aber nicht so.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie wollten ihn nicht hören, Frau Kollegin!)


Wir brauchen – das ist ganz eindeutig; das sieht der
Bund auch so – bei den großen Herausforderungen, ob
nun Inklusion oder anderes, eine Gemeinsamkeit, wir
brauchen gemeinsam abgestimmtes Handeln, aber nicht
zwingend eine Grundgesetzänderung. Diese ist nicht
notwendig. Wir wollen auch, dass die Kompetenzen in
diesen Bereichen bei den Ländern bleiben.

Wir haben jetzt ein Gesamtpaket. Das Paket enthält
die Grundgesetzänderung, über die wir jetzt diskutieren,
und – darum ging es hier gestern – die BAföG-Novelle
mit der Entlastung um 1,2 Milliarden Euro. Dass beide
zusammenhängen, ist nicht sachfremd, sondern ist das
Ergebnis von Verhandlungen. Im Ergebnis dieser Ver-
handlungen waren die Länder und der Bund der Mei-
nung, dass es eine gute Situation ist, dass es eine Win-
win-Situation ist. Vorgestellt haben wir dies auf einer
Pressekonferenz. Von den Wissenschaftsministern war
zum Beispiel Frau Ahnen dabei und hat das Ergebnis
sehr gelobt. Sie hat sich sehr über die Möglichkeiten ge-
freut, die man jetzt in den Ländern hat.

Ich bin auch trotz aller Schwierigkeiten, die uns das
macht, der Meinung, dass es richtig ist, dass die Verant-
wortung dafür, wie man mit den frei werdenden BAföG-
Mitteln umgeht, bei den Ländern liegt und dass man von
Land zu Land verschiedene Entscheidungen treffen
kann. Denn die Situation in den Bundesländern ist unter-
schiedlich. Manche haben in den letzten Jahren ganz viel





Bundesministerin Dr. Johanna Wanka


(A) (C)



(D)(B)

in die Hochschulen investiert und Schwierigkeiten im
Schulbereich, bei anderen ist es umgekehrt. Deswegen
glaube ich – ich erwarte und erhoffe dies –, dass die Mit-
tel entsprechend verantwortungsbewusst eingesetzt wer-
den.

Ich denke, das Gesamtpaket, das wir jetzt haben, ist
gut. Der Bund stellt in der genannten Größenordnung
Mittel für die Studierenden zur Verfügung. Wir haben
eine BAföG-Novelle, bei der es nicht nur um Entlastung
geht, sondern in der auch die gestern besprochenen
Dinge für die Studierenden enthalten sind. Und wir ha-
ben diese Grundgesetzänderung. All das wird aus meiner
Sicht weit über diesen Tag und über diese Legislaturpe-
riode hinaus wirken. Gerade mit der Grundgesetzände-
rung wird vieles möglich gemacht und wird der Födera-
lismus insgesamt moderner und zukunftsfähiger.
Darüber freue ich mich.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805804900

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rosemarie

Hein das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805805000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Die Ministerin hat eine von vielen hier im
Haus sehr lange erwartete Änderung des Grundgesetzes
heute im Bundestag vorgestellt. Frau Ministerin, Ihre
Argumentation verwundert mich schon etwas. Aber auch
ich will erst einmal darauf zurückblicken, warum wir
überhaupt in dieser Situation sind.

Vor acht Jahren, im Jahre 2006, war im Rahmen der
Föderalismusreform beschlossen worden, die Aufgaben
von Bund und Ländern klarer voneinander zu trennen.
Die Länder übernahmen damals auf eigenen Wunsch un-
ter anderem fast gänzlich die Zuständigkeit im Bereich
Bildung. Eine gemeinsame Finanzierung von wichtigen
Aufgaben war nahezu nicht mehr möglich, auch wenn
die Ministerin heute etwas anderes sagt. Ziel dieser Re-
form war, „komplizierte Mischfinanzierungen“ zurück-
zudrängen und damit „Blockademöglichkeiten“, so
stand es im entsprechenden Entschließungsantrag, zwi-
schen Bund und Ländern zu vermeiden. Das klingt erst
einmal ganz logisch, aber zumindest im Bereich der Bil-
dung ist das gründlich nach hinten losgegangen. Denn
mit dem Verbot gemeinsamer Finanzierungen wurden
die notwendigen Finanzierungsaufgaben in der Bildung
in vorher nie gekanntem Maße blockiert und eben nicht
erleichtert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist also das Gegenteil von dem eingetreten, was be-
absichtigt war. Darum wurden zahlreiche Hilfs-
programme erfunden, zum Beispiel die Lernförderung
innerhalb des Bildungs- und Teilhabepaketes, die Be-
rufseinstiegsbegleitung, die Bildungsketten oder auch
die energetische Sanierung, damit man im Schulbau
überhaupt etwas machen konnte.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So war es! Ja!)


Auch die Pakte muss man wahrscheinlich in diese Reihe
stellen. Das nennt man Umwegsfinanzierung. Diese Um-
wegsfinanzierung macht die Durchschaubarkeit der
Finanzströme und der Zuständigkeiten überhaupt nicht
leichter, sondern eher verworrener.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Ziel der Föderalismusreform 2006 war auch,
mehr auf Wettbewerb zu setzen. Die Kooperation von
Bund und Ländern in der Bildung wurde weitgehend
aufgekündigt. Dabei darf man nicht nur auf die Hoch-
schulen zielen, sondern man muss eben auch auf den
Rest der Bildungsaufgaben schauen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, man kann ja auf allen möglichen Gebieten
einen Wettbewerb ausrufen, aber doch nicht bei der
Frage eines besseren Bildungszugangs. Wer Bildung
zum Gegenstand von Wettbewerb macht, vergrößert Un-
gleichheiten und schafft nicht mehr Gerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Das kann niemand wollen, dem gleiche Bildungschan-
cen in ganz Deutschland wichtig sind.

Nach der Grundgesetzänderung von 2006 wurden den
Ländern jährlich etwa 1 Milliarde Euro für die übertra-
genen Aufgaben zur Verfügung gestellt. Wir finden sie
bis heute in unseren Haushalten. Die haben aber nicht
gereicht. Nun reifte seit einigen Jahren, und zwar sehr
langsam, in einigen Ländern die Einsicht, dass man hier
ein Stück zurück müsse. Deshalb liegt jetzt die Forde-
rung nach einer Lockerung des Verbotes vor. Deshalb
haben wir jetzt diese Grundgesetzänderung auf dem
Tisch, aber eben nur für eine bessere Finanzierung im
Hochschulbereich. Das ist nicht viel. Das ist nicht ein-
mal der Spatz in der Hand. Darum können wir das auch
nicht gutheißen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Na, na, na! Die Hochschulen als Spatz zu bezeichnen!)


Dass sich aber die Länder in dieser Sache nun über-
haupt bewegt haben – das war ja nicht so einfach –, liegt
an den klammen Kassen der Länder und Kommunen.
Nachdem der Bund 2009 auch noch eine Schulden-
bremse eingeführt hat, ist das noch schlimmer geworden.
Die Aussichten, Bildung aus eigener Kraft finanzieren
zu können, sind immer mehr geschwunden. Da helfen
eben die gegenseitigen Eifersüchteleien zwischen Bay-
ern und Hamburg und Bremen und Mecklenburg-Vor-
pommern und Berlin nicht weiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Zudem haben die Strategen von Bund und Ländern
offensichtlich sehr unterschätzt – sie haben sich dabei
kräftig verzockt –, wie groß die Aufgabe, die vor uns
steht, eigentlich ist, was beispielsweise die wachsenden
Studierendenzahlen betrifft. Die sind schneller gewach-
sen, als man das vorhergesehen hatte. Das ist ja erfreu-





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

lich, aber man hat damit nicht gerechnet. Das gilt ge-
nauso für viele andere wichtige Herausforderungen, die
es derzeit im Bildungsbereich gibt.

Doch mit der Grundgesetzänderung, die uns heute
vorliegt, werden die notwendigen Aufgaben der Bil-
dungsfinanzierung in den kommenden Jahren nicht zu
stemmen sein, weder inhaltlich noch finanziell. Nun sol-
len 1,17 Milliarden Euro mit der vollständigen BAföG-
Übernahme durch den Bund an die Länder gegeben wer-
den, und zwar jährlich. Doch das Geld ist noch nicht ein-
mal in den Kassen, da ist es schon verbraucht. Nicht nur
die Ministerin und die Kolleginnen und Kollegen der
Koalition haben ganz eigene und durchaus nicht überein-
stimmende Vorstellungen davon, wie denn das Geld ein-
gesetzt werden sollte.


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das ist das Problem!)


Die einen rechnen damit, dass es nur dem Hochschulbe-
reich zugutekommt, die anderen wollen eine Aufteilung
zwischen Schule und Hochschule. Und die Ministerin
hat eben gesagt, die Länder sollen selbst entscheiden,
wie sie das halten.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die Debatte war gestern, Frau Hein!)


– Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, dass die
verbundene Debatte von Ihnen ausgerufen wurde. Und
wir machen das jetzt auch so.


(Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Bleiben Sie schön beim Thema!)


– Mache ich!

So will eben Niedersachsen die frühkindliche Bildung
stärker ausbauen, Thüringen die Grundschullehrkräfte
besser bezahlen, Rheinland-Pfalz in die Inklusion inves-
tieren, Sachsen-Anhalt mehr Lehrkräfte einstellen und
den Hochschulen das Geld zurückgeben, das sie sonst
für die Haushaltssanierung erbringen müssten. Das Geld
ist also fest verplant. Und manchmal fließt es eben ein-
fach in die Haushaltssanierung, und sei es über den Um-
weg der Hochschul- und Personaletats.

Ich kann jedoch jedes Land verstehen, das angesichts
der in Aussicht stehenden Finanzspritze jetzt sagt: Ja,
wir wollen diese Grundgesetzänderung. – Sie brauchen
das Geld nämlich dringend. Und darum waren die kriti-
schen Anmerkungen im Bundesrat auch nur leise, aber
sie waren durchaus hörbar. Und man kann auch diese
nachlesen, wenn man das gerne möchte.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen nämlich überall besser ausfinanzierte
Hochschulen. Wir brauchen überall sanierte Schulen und
Kitas. Wir brauchen überall Schulsozialarbeit, überall
Inklusion. Wir brauchen überall eine bessere Kinderbe-
treuung,

(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das müssen die Länder bezahlen! Können die Länder doch machen! Verbietet keiner!)


überall mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte und
überall eine bessere Weiterbildung usf. Und ich glaube,
Sie haben keine Ahnung, was das kostet.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das nämlich alles mit den 1,17 Milliar-
den Euro bezahlen wollen, dann wird das eine ziemliche
Hungerkur.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das haben wir nie erzählt!)


Das betrifft sowohl den riesigen Investitionsstau, den es
gibt, als auch die regelmäßige auskömmliche Finanzie-
rung aller Bildungsbereiche.

Natürlich weiß ich, dass einige Länder Angst um ihre
Zuständigkeiten haben und mauern. Doch die Länder
müssen endlich über den Tellerrand ihrer Landeszustän-
digkeit hinausschauen


(Beifall bei der LINKEN)


und Bildung als Gemeinschaftsaufgabe begreifen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Tun sie doch auch!)


Das nimmt ihnen doch nicht die Verantwortung. Das
schafft ihnen mehr Spielräume. Ich verstehe überhaupt
nicht, warum ausgerechnet an dieser Stelle, also bei
schulischer Bildung, bei frühkindlicher Bildung, bei
Weiterbildung, die Länder derartig mauern.


(Beifall bei der LINKEN)


Statt Wettbewerb brauchen wir Best Practice. Davon
können alle profitieren. Darum haben wir in unserem
Antrag, der Ihnen seit Februar dieses Jahres vorliegt, die
Einführung einer solchen Gemeinschaftsaufgabe gefor-
dert. Dabei werden wir bleiben.

Wir werden das vielleicht noch nicht jetzt, auch ange-
sichts der Kürze des parlamentarischen Verfahrens von
nur einem Monat, hinbekommen. Die Debatte, das weiß
ich, hat viel länger gedauert. Es wird vielleicht noch eine
Weile dauern. Das Thema wird aber wiederkommen.
Aber jetzt ist zu befürchten – auch das kann man im Pro-
tokoll des Bundesrates nachlesen –, dass sich einige
Länder mit der Miniänderung zufriedengeben und glau-
ben, das Problem sei damit erledigt. Das Problem ist da-
mit nicht erledigt. Wir bekommen das wieder auf den
Tisch. Wir werden die Quittung für unser Handeln be-
kommen, und dann reden wir wieder über die Gemein-
schaftsaufgabe Bildung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805805100

Als nächster Redner hat der Kollege Hubertus Heil

das Wort.





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1805805200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich kann mir nicht helfen, aber es scheint ein
Zufall zu sein, dass in solchen Debatten immer Frau
Bulmahn als Vizepräsidentin amtiert.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sie passt auf Sie auf!)


Sie hat in diesen Debatten durchaus schon das Wort er-
griffen und hat dieses Haus – sie hat in vielem auch recht
gehabt – vor manchem Irrtum bewahren wollen. Darauf
komme ich später noch zu sprechen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber sie kann jetzt nicht mehr reden!)


Wir reden heute über etwas anderes. Vielleicht reden
wir einmal über die einheitliche Auffassung dieses Par-
laments darüber, dass es zumindest richtig ist, neue
Möglichkeiten der Kooperation im Bereich der Wissen-
schaft und der Hochschulen in diesem Land zu schaffen;
das bestreitet doch niemand ernsthaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man kann darüber streiten, ob wir mehr Möglichkei-
ten brauchen – Sie kennen unsere Auffassung dazu, dazu
sage ich gleich etwas –, aber wir sind uns einig, dass das
ein wesentlicher Schritt ist. Jetzt kann man das als klei-
nen oder großen Spatz klassifizieren, was auch immer,
Frau Hein; es geht hier aber nicht um die Kategorie.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist ein Zaunkönig!)


Vielmehr müssen wir der deutschen Öffentlichkeit klar-
machen, warum es gerade in dieser Phase – da hat Frau
Wanka vollkommen recht – notwendig ist, dass wir jen-
seits der Klimmzüge von Projektitis eine dauerhafte
Form von Zusammenarbeit für die Hochschullandschaft,
das Herzstück des Wissenschaftssystems in unserem
Land, auf den Weg bringen.

Dafür gibt es ein paar Gründe. Wir haben erlebt – das
haben wir in den vergangenen Jahren mit den Hoch-
schulpakten unterstützt –, dass es weiterhin einen großen
Run auf die Hochschulen gibt. Die Zahl der Studieren-
den ist massiv gestiegen; das war politisch gewollt. Ich
sage – das hat gestern auch mein Fraktionsvorsitzender
erklärt –: Wir wollen nicht, dass die universitäre Ausbil-
dung gegen die berufliche Erstausbildung ausgespielt
wird. Aber diese Welle an Studierenden muss von den
Hochschulen in Deutschland verkraftet werden. Deshalb
ist es wichtig, dass Bund und Länder gemeinsam dauer-
haft, nicht nur in Projekten, zusammenwirken können.

Wir brauchen eine Stärkung des Hochschulsystems
und der Wissenschaft, auch in Bezug auf die Forschung.
Wir sind wunderbar aufgestellt, was die außeruniversi-
täre Forschung in Deutschland betrifft. Aber Bund und
Länder müssen in den nächsten Jahren, um international
mithalten zu können, in der außeruniversitären und eben
in der Hochschulforschung gemeinsam ansetzen können,
ohne sich dabei zu verrenken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich glaube, dass diese Form von Kooperation, die wir
mit der vorgeschlagenen Grundgesetzänderung ermögli-
chen, auch im Interesse der Beschäftigten an den Hoch-
schulen ist, nicht nur der Professorinnen und Professo-
ren, sondern auch derjenigen, die im wissenschaftlichen
Mittelbau arbeiten; darauf komme ich noch. Diese Men-
schen erleben ja oft, dass diese Form von Kurzatmigkeit
und Projektitis dazu führt, dass ihr Arbeitsleben ziemlich
ungeregelt und befristet ist, wenn Sie verstehen, was ich
meine. Wir werden in dieser Legislaturperiode über das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz noch einmal zu reden
haben. Wir haben uns vorgenommen, das zu ändern.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben schon etwas vorgelegt!)


Aber genauso wichtig ist es, dass wir die Möglichkeit
von Kooperationen schaffen, damit Aufstiegsmöglich-
keiten und Karrierewege für gut ausgebildete Menschen,
die wir an den Hochschulen dauerhaft halten wollen,
möglich sind. Deshalb ist es ein guter Schritt, dass wir
diese Grundgesetzänderung gemeinsam auf den Weg ge-
bracht haben. Frau Ministerin Wanka, Sie haben voll-
kommen recht: Mit der Formulierung, die wir gemein-
sam für Artikel 91 b Grundgesetz gefunden haben,
schaffen wir erstmals für den Wissenschaftsbereich dau-
erhafte, verlässliche und institutionelle Fördermöglich-
keiten für die Hochschulen. Das ist unbestritten. Das gab
es früher nicht, das ist ein großer Fortschritt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Gleichwohl gibt es in der Koalition – das ist doch gar
keine Frage – einen Dissens, den wir aber miteinander
aushalten. Es geht darum – das wissen Sie –, dass wir
uns als Sozialdemokraten durchaus gewünscht hätten,
das Kooperationsverbot im Bereich der Bildung insge-
samt aufzubrechen. Das leugnet niemand hier, das leug-
net auch niemand im Bundesrat. Das ist die Position
meiner Partei und auch vieler in der Union; das wissen
wir.

Frau Wanka, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,
dass im Bundesrat Ministerpräsidentinnen – kluge
Frauen – gesprochen haben, mit denen auch wir spre-
chen, die persönlich der Meinung sind, dass die Sache
mit dem Kooperationsverbot im Bereich der Bildung
insgesamt abgeschafft gehört. Da kann man sich immer
wechselseitig vorhalten, wer in der eigenen Partei noch
nicht so weit ist; das kennen die Grünen auch; man muss
nur einmal nach Stuttgart gucken.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Zweidrittelmehrheit ist zu schaffen!)


Das alles hilft uns nichts.





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen jetzt den Schritt gehen, den wir gemein-
sam mit einer Mehrheit im Bundestag und Bundesrat ge-
hen können. Es wäre vollkommen falsch, aufgrund die-
ses Dissenses, weil einige noch nicht so weit sind, die
Wissenschaft in Geiselhaft zu nehmen. Das Gesamtpaket
stimmt.

Frau Hein, die Verknüpfung ist vollkommen in Ord-
nung, dass wir in dieser Woche zugleich darüber reden,
dass wir die Länder entlasten, um Spielräume zu schaf-
fen, dass wir das BAföG verbessern und dass wir Mög-
lichkeiten für den Hochschulbereich schaffen. Das zeigt
die Handlungsfähigkeit dieser Koalition auf Basis der
Möglichkeiten, die die Mehrheiten in Bundestag und
Bundesrat hergeben. Das ist im Interesse von Bildung
und Forschung in diesem Land. Deshalb ist es ein guter
Schritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage trotzdem noch einmal: Wir wünschen uns für
die Zukunft mehr, und wir werben auch dafür. Frau
Bulmahn – das darf ich einmal erwähnen – hat damals
im Rahmen der Föderalismusreform auf einiges hinge-
wiesen. Ich bin der Meinung, dass wir zukünftig einen
Irrtum aus der Föderalismusreform für den Bereich der
Bildung korrigieren müssen: Das ist das Kooperations-
verbot für den Bildungsbereich und für den Schulbe-
reich. Wir müssen um Mehrheiten werben. Denn da hat
mein früherer Fraktionsvorsitzender und heutiger Au-
ßenminister vollkommen recht gehabt. Das Koopera-
tionsverbot im Bereich der Bildung, sagte Frank-Walter
Steinmeier am 16. Mai 2013 in diesem Hohen Haus, ist


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blödsinn! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks!)


– ich zitiere – „ein in Verfassungsrecht gegossener Irr-
tum, der beseitigt werden muss.“ Wir bleiben dabei: Es
ist unsere Aufgabe, das miteinander hinzubekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Lassen Sie es uns trotz des Dissenses, den es in der
Koalition gibt, darüber reden, was im Hochschulbereich
mit der Änderung des Artikel 91 b möglich sein wird.
Damit zeigen wir, dass wir trotz verschiedener Meinun-
gen an der einen oder anderen Stelle doch tun, was mög-
lich ist. Ich möchte hierbei Folgendes ansprechen: Mit
dem Weg der dauerhaften Kooperation von Bund und
Ländern in unserem Wissenschaftssystem, den wir heute
eröffnen, haben wir die Chance, in den nächsten Jahren
Chancengleichheit, Innovation, Wertschöpfung, auch
Beschäftigung zu fördern, und zwar gemeinsam in den
nächsten Jahren.

Das betrifft – ich habe es vorhin angesprochen –
Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs:
weniger Befristung, mehr Möglichkeiten für Karriere-
wege, dauerhafte und verlässliche Maßnahmen, um Per-
sonalinitiativen auf den Weg zu bringen, um Juniorpro-
fessoren zu unterstützen und um dem Mittelbau
tatsächlich den Stellenwert zu geben, der ihm zukommt.
Das wäre nicht möglich, wenn wir nur die Möglichkeit
für befristete Projekte hätten. Wir haben durch die
Grundfinanzierung die Möglichkeit, Perspektiven für
den wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Die
Möglichkeit besteht, wir öffnen diese Wege. Ich gebe
gleichwohl zu: Wir müssen als Koalition noch daran ar-
beiten, diese Wege zu gehen.

Das betrifft auch die Fortsetzung der Exzellenzinitia-
tive. Wir können mit den neuen Möglichkeiten Pla-
nungssicherheit schaffen, weil wir Ressourcen im Wis-
senschaftssystem verbessern und von kurzfristigen
Wettbewerben tatsächlich zu dauerhaften Perspektiven
im Sinne von Exzellenz in Breite und Spitze kommen.
Auch das ist etwas, was diese Koalition sich vorgenom-
men hat.

Schließlich können wir die immer wichtiger wer-
dende Kooperation im Bereich der Forschung zwischen
außeruniversitären und universitären Forschungseinrich-
tungen einfacher und besser gestalten, als das mit vielen
Klimmzügen in der Vergangenheit der Fall war. Es
spricht viel dafür, dass wir diese Wege gehen und auch
nutzen. Deshalb handelt es sich um eine gute Grundge-
setzänderung.

Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren,
dass wir sehr stolz sein können auf das, was unser Wis-
senschaftssystem heute schon liefert. Wir dürfen nicht
zulassen, dass es kaputtgeredet wird. Nehmen wir ein-
mal die Verleihung des Nobelpreises im Bereich der
Chemie an einen Deutschen, der sowohl für ein Max-
Planck-Institut arbeitet, also im außeruniversitären Be-
reich unterstützt wird, als auch – natürlich – Hochschul-
professor ist. Das zeigt, dass wir international gar nicht
schlecht aufgestellt sind.

Es gibt dennoch neue Herausforderungen. Das Para-
digma in der Wissenschaft dieser Tage und Jahre scheint
Kooperation zu sein: Kooperation zwischen Disziplinen,
Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft in
vielen Bereichen und zwischen Bundesländern. Das
muss dann aber auch in der Politik zwischen Bund und
Ländern gelten. Deshalb ermöglichen wir das.

Was die Zukunft und unseren Wunsch, den ich vorhin
formuliert habe, betrifft, weiter Überzeugungsarbeit für
die Änderung des Grundgesetzes auch im Bereich der
Bildung zu leisten, so gilt etwas, was wir aus der Wis-
senschaft kennen: Die Zukunft ist offen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Der Satz ist gut!)


Es ist nicht so, dass alles festgeschrieben ist. Es ist daher
gut – auch das ist eine Erkenntnis der Wissenschaft –,
dass Menschen lernende Wesen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Im günstigsten Fall!)


Sie sind übrigens auch in der Lage, Irrtümer einzugeste-
hen. Ich habe es vorhin gesagt: Wir räumen ein, dass wir
an dem Irrtum von 2006, den Frank-Walter Steinmeier





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

im Nachhinein beschrieben hat, mitbeteiligt waren – in
guter Absicht.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Auf Merkels Bekenntnis warten wir noch!)


Wir sollten es schaffen, es miteinander hinzubekommen,
das zu ändern. Heute ist nicht der Tag, darüber zu reden,
wann das möglich ist. Die Überzeugungsarbeit dauert
an; ich habe es vorhin beschrieben.

Lassen Sie uns heute im Interesse des Wissenschafts-
standortes Deutschland, der Hochschulen in diesem
Land die Möglichkeiten nutzen. Lassen Sie uns das tun,
was heute möglich ist. Die Studierenden werden es uns
in Zukunft danken; die Menschen, die an Hochschulen
arbeiten, werden es uns danken; dieses Land wird es uns
danken, dass wir die Wissenschaft an den Hochschulen
in diesem Land zukunftsfähig gemacht haben. Dazu ist
die Grundgesetzänderung ein ganz wesentlicher Schritt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805805300

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Dörner

das Wort.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805805400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Die letzte Große Koalition hat einen
schweren Fehler gemacht. Der eine Teil hat es offen-
sichtlich eingesehen, der andere Teil leider noch nicht.
Das ist sehr schade.


(Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Das Kooperationsverbot ins Grundgesetz zu schreiben,
war ein schwerer Fehler. Frau Ministerin, 2006 wurde
nicht die Zusammenarbeit ermöglicht, sondern 2006
wurde die Tür dazu weitestgehend zugeschlagen; sie ist
nur einen ganz kleinen Spalt offen gelassen worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Das war ein schwerer Fehler, und diesen schweren Feh-
ler muss man korrigieren, und zwar vollständig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Der Vorschlag im Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,
ist leider nur eine halbherzige Korrektur, und deshalb
reicht er uns nicht.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin wirklich
enttäuscht, dass Union und SPD die riesige Chance, die
sie haben, nicht nutzen. Sie haben eine 80-Prozent-
Mehrheit im Deutschen Bundestag, und sie haben die
Unterstützung der Opposition dafür, das unsinnige Ko-
operationsverbot vollständig zu kippen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Überhaupt nicht! Denken Sie an Ihre Ministerpräsidenten!)


So vernünftig es natürlich ist, dass Bund und Länder im
Bereich der Hochschulen zukünftig wieder zusammenar-
beiten können, so absurd ist es doch, dass diese Zusam-
menarbeit im Schulbereich weiter verboten bleiben soll.
Deshalb ganz klar unser Appell an SPD und an Union:


(Oliver Kaczmarek [SPD]: Bringen Sie uns Hessen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und Stuttgart!)


Korrigieren Sie den Fehler, und zwar ganz!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da gibt es nichts zu korrigieren, Frau Dörner!)


Wir alle wollen die besten Bildungsmöglichkeiten für
unsere Kinder. Wir wollen, dass alle Kinder, alle Jugend-
lichen in diesem Land ihre Potenziale wirklich voll aus-
schöpfen können. Wir wollen gute Bildungsinstitutio-
nen, von der Kita über die Schule und die Hochschule
bis zur Weiterbildung. Ich bin davon überzeugt: Wir
werden das nur schaffen und können es überhaupt nur
schaffen, wenn alle gemeinsam daran arbeiten und auch
zusammenarbeiten: Bund, Länder und Kommunen. Sie
sind gemeinsam in der Pflicht. Sie müssen aber auch an
einem Strang ziehen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Deshalb ist
das Festhalten am Kooperationsverbot in der Bildung ein
Fehler. Da habe tatsächlich auch ich ein Zitat von Frank-
Walter Steinmeier, der das schön ausgedrückt hat.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein kluger Mann!)


Er hat nämlich nicht nur gesagt, dass es Unsinn ist, son-
dern er hat auch gesagt, dass es Blödsinn ist. Beides ist
richtig, und deshalb sollte das Kooperationsverbot kom-
plett abgeschafft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn eine Bun-
desregierung und ein Deutscher Bundestag zusagen, sich
für die Schulen engagieren zu wollen, ein Ganztags-
schulprogramm auflegen zu wollen,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das wollen wir aber gar nicht! Das steht nirgendwo! Schauen Sie mal in den Koalitionsvertrag!)


sich dafür engagieren zu wollen, dass es mit der Inklu-
sion weitergeht, dass die Inklusion in den Schulen
schneller vorankommt,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Können die Länder machen!)


das dann aber nicht geht, weil man sich selber eine
Mauer namens Kooperationsverbot vor die Nase gestellt
hat, dann fasst sich doch eigentlich jeder normale
Mensch an den Kopf und denkt: Das darf doch wohl





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

nicht wahr sein. – Deshalb sind wir dafür, diesen Zu-
stand zu beenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist schon ge-
sagt worden: Das weiß nicht nur die große Mehrheit hier
im Bundestag – auch wenn die Mehrheit dem am Ende
wahrscheinlich nicht zustimmen wird –, sondern das
wissen auch viele in den Bundesländern. Gerade deshalb
finde ich die schon angesprochene Kopplung zwischen
der BAföG-Novelle und der Grundgesetzänderung, die
wir heute besprechen, extrem ärgerlich und auch unfair.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Lächerlich!)


Der Bund übernimmt die Kosten für das BAföG nur,
wenn die Länder dieser Grundgesetzänderung zustim-
men. Die nordrhein-westfälische Schulministerin hat das
als Erpressung bezeichnet,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sie hat wahrscheinlich kein Jura studiert und weiß nicht, was Erpressung ist!)


und es ist eine Erpressung. Diese Bezeichnung dafür ist
absolut richtig. Wir erwarten von der Bundesregierung,
dass das Junktim zwischen diesen beiden Gesetzge-
bungsverfahren aufgehoben wird, damit beide Reform-
vorhaben einen sinnvollen und sachlichen Beratungspro-
zess durchlaufen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
über eine Grundgesetzänderung. Es ist schon gesagt
worden: Das machen wir nicht alle Tage, und das ist
auch richtig so. Man sollte nicht am Grundgesetz herum-
stückeln, sondern man sollte es unmittelbar und direkt
richtig machen. Ich möchte unseren Kollegen Herrn
Rossmann zitieren, der in einem Beitrag in der FR sehr
gut formuliert hat: „Nach zwei Schritten zurück muss
mehr drin sein als ein Schritt nach vorn.“ Ich finde, man
kann das kaum besser sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. René Röspel [SPD] – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Applaus von der falschen Seite, Herr Rossmann!)


Man muss aber auch bereit sein, diese Schritte zu gehen.
Wir sind es, und wir hoffen, dass sich im Gesetzge-
bungsverfahren auch bei Ihnen noch die Bereitschaft
dazu zeigt.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805805500

Als nächster Redner hat der Kollege Albert

Rupprecht das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1805805600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Hein, wenn man Ihrer
Rede zuhört und wenn man auch noch glauben würde,
was Sie sagen, dann bekäme man Depressionen. Für De-
pressionen gibt es aber überhaupt keinen Anlass. Wo ste-
hen wir im Jahr 2014? Noch einmal kurz zum Status
quo: Wir sind nicht nur Fußballweltmeister, sondern
auch Nobelpreisträger.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht mehr Papst!)


Ich sage das in aller Ernsthaftigkeit.

Natürlich ist das in erster Linie eine herausragende
Leistung des Wissenschaftlers Stefan Hell. Aber würde
derselbe Wissenschaftler im Senegal, in Ägypten oder
anderswo arbeiten, wo er nicht die institutionellen Rah-
menbedingungen hätte, die er in Deutschland hat, dann
wäre das nicht möglich gewesen. Das gehört zur Wahr-
heit dazu.

Wo stehen wir? Alle anerkannten Innovationsindizes
sagen: Deutschland steht weltweit auf Platz zwei, drei
oder vier, und das bei 194 Staaten. Ich glaube, darauf
können wir stolz sein, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gucken Sie sich mal die PISA-Studie an! Dann haben Sie es auf einen Blick!)


Wir sind für die Wissenschaft wieder hochattraktiv. In
der Max-Planck-Gesellschaft kommen 86 Prozent der
Postdocs aus dem Ausland. 31 Prozent der Max-Planck-
Direktoren kommen ebenfalls aus dem Ausland. Stefan
Hell – ich habe ihn eben schon erwähnt – hat einen Ruf
nach Harvard bekommen. Er hat abgelehnt und ist lieber
in Deutschland im Max-Planck-Institut geblieben.

Das alles sind Aussagen, die zeigen, dass der Wissen-
schaftsstandort Deutschland weltweit vorne liegt und
hochattraktiv ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


All das wäre überhaupt nicht möglich gewesen, hätten
wir vonseiten des Bundes in den letzten Jahren nicht
massiv Gas gegeben.

Das alles sagt den Nichtfachleuten wenig. Dahinter
verstecken sich aber Riesenpakete mit Milliardenvolu-
mina in historischen Dimensionen wie das Wissen-
schaftsfreiheitsgesetz beispielsweise – ein historischer
Schritt für die Wissenschaftsszene –, Humboldt-Profes-
suren, die Hightech-Strategie, der Spitzencluster-Wett-
bewerb, der Pakt für Forschung und Innovation, die Ex-
zellenzinitiative usw. usw.

All das sind Maßnahmen, die wir vonseiten des Bun-
des in den letzten Jahren angestoßen haben. Das zeigt
sich auch in den Finanzen, die wir in der Haushaltsde-
batte noch einmal ausführlich diskutieren werden. Wir





Albert Rupprecht


(A) (C)



(D)(B)

haben in den zehn Jahren von 2005 bis 2015 im Haushalt
für Forschung und Bildung einen Anstieg um 101 Pro-
zent und damit eine Verdoppelung erzielt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Letzte Frage: Wieso brauchen wir eine Verfassungs-
änderung? Wir brauchen sie aus zwei Gründen. Der Kol-
lege Heil hat es angesprochen. Der erste Punkt ist: Die
Pakete, die ich eben genannt hatte, sind teilweise zeitlich
befristet. Die Verfassung erlaubt uns nur die zeitliche
Befristung. Nach den von uns gemachten Erfahrungen
wollen wir sie in dauerhafte wettbewerbliche Anreiz-
strukturen überführen. Denn wir wollen Nachhaltigkeit.

Wir wollen nicht, dass die Wissenschaft es sich be-
quem macht. Wir wollen aber auch weg von der Pro-
jekteritis. Wir brauchen vielmehr langfristig nachhaltige
wettbewerbliche Anreizstrukturen. Wir brauchen die
Verfassungsänderung, um genau das, was wir aufgebaut
haben, auch nachhaltig leben zu können.

Es gibt einen zweiten Grund: die Besonderheit des
deutschen Systems. Wir haben universitäre und außer-
universitäre Forschung. Mit Blick auf die Schanghai-
Rankings sage ich in aller Deutlichkeit: Wir sind bei den
Hochschulen nirgendwo auf absoluten Spitzenplätzen.
Das hängt auch mit der deutschen Besonderheit zusam-
men. Würden wir die Max-Planck-Gesellschaft mit da-
zuzählen oder würde beispielsweise die LMU in Mün-
chen gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft
bewertet werden, dann hätten sie sehr wohl einen Spit-
zenplatz. Eine solche Zusammenarbeit ist bis dato außer-
ordentlich schwierig und nur mithilfe hochkomplizierter
Rechtskonstruktionen möglich, weil die Hochschulen
auf Dauer vom Land und die außeruniversitären Hoch-
schuleinrichtungen von Land und Bund finanziert wer-
den.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Danke schön für das Beispiel!)


Deswegen ist es in der Tat keine Petitesse, sondern ein
Meilenstein für die Wissenschaftsarchitektur in diesem
Land, dass in Zukunft eine solche Zusammenarbeit auf
Dauer möglich sein wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Begriff der Kooperation. Wir wollen Koopera-
tion, und wir leben Kooperation. Wir wollen aber eine
bestimmte Art von Kooperation. Wir wollen, dass ge-
meinsame Ziele formuliert werden, dass Aufgaben zuge-
wiesen werden und dass Verantwortung übernommen
wird. Jeder soll die Verantwortung für den Bereich über-
nehmen, den er gut beherrscht. Was wir nicht wollen, ist
Kooperation, bei der jeder für alles zuständig ist, was
dazu führt, dass am Schluss keiner mehr etwas macht.
Das Ergebnis ist dann, dass die Vertreter unserer Par-
teien bei Herrn Jauch und Frau Illner sitzen und sagen:
Die anderen sind verantwortlich. – Eine solche Koopera-
tion führt dazu, dass die Schuld immer anderen zuge-
schoben wird. Genau das braucht die Bevölkerung nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir Artikel 91 b unserer Verfassung ändern, de-
finieren wir genau, was wir wollen. Wir wollen nicht,
dass jeder für alles zuständig ist. Der Bund hat Expertise
und Kompetenz, wenn es um die überregionale Bedeu-
tung von Bereichen, um internationale Wettbewerbs-
fähigkeit und exzellente wissenschaftliche Leistungen
geht. Wenn wir die Expertise und die Kompetenz in der
Krebsforschung an den verschiedenen Standorten
Deutschlands in den Deutschen Zentren der Gesund-
heitsforschung zusammenführen wollen, dann macht es
Sinn, dass sich der Bund engagiert; denn dadurch er-
möglichen wir Exzellenz und weltweite Spitzenleistun-
gen. Es macht aber keinen Sinn, dass der Bund entschei-
det, ob die Universität in Freiburg oder die Universität in
Regensburg ausgebaut wird. Das ist nicht unsere Auf-
gabe, und darf auch nicht unsere Aufgabe werden. Die
Weiterentwicklung der Hochschulen ist Länderaufgabe,
weil das vor Ort, also dezentral, wesentlich besser ent-
schieden werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Gleiche gilt für die Schulbildung. Schule gelingt,
wenn sie dezentral und subsidiär organisiert wird. Die
Lehrer vor Ort wissen am besten, wie gute Schule funk-
tioniert. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass es eine Ver-
besserung für das Land darstellt, wenn wir von Berlin
aus steuern, weil nur wir angeblich wissen, wie gute
Schulen funktionieren? Das würde in keiner Weise eine
Verbesserung darstellen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen Kooperation und nicht von oben diktieren!)


Ich nenne ein konkretes Beispiel: Der Antrag der Grünen
beinhaltet den Ausbau der Ganztagsschulbetreuung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gutes Programm!)


Die Situation in meinem Bundesland Bayern sieht wie
folgt aus: Es gibt eine klare politische Aussage, dass die
Ganztagsschulbetreuung bedarfsgerecht ausgebaut wird.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gibt es in fast allen Ländern!)


Jede Kommune und jede Schule, die Bedarf hat, wird
finanziert. Es wird in keiner Weise am Geld scheitern.
Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob ich in München
oder in meinem Heimatort, einer ländlichen Dorfge-
meinde im Oberpfälzer Wald, einen solchen Ausbau vor-
nehme; denn die Strukturen und damit auch der Bedarf
sind vollkommen unterschiedlich. Ich frage seit Mona-
ten: Was ist der Mehrwert, wenn der Bund die Rolle des
Landes übernimmt? Das hat überhaupt keinen Mehr-
wert.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat auch keiner gesagt! – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das soll er doch gar nicht!)






Albert Rupprecht


(A) (C)



(D)(B)

Die Länder können den Bedarf wesentlich besser ermit-
teln. Genau das macht Bayern. Deswegen empfehle ich
dringend, nicht über Kooperationsverbot oder Koopera-
tionsgebot zu schwadronieren, sondern nach konkreten
Lösungen zu suchen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangen Sie mal an!)


Lieber Kollege Gehring, dem Antrag Ihrer Fraktion
fehlt jegliche Glaubwürdigkeit. Wenn Sie in der Regie-
rung wären, hätten Sie null Chancen, Ihren Antrag um-
zusetzen;


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Blödsinn!)


denn Ihre Basis, Ihre Landesvertreter und insbesondere
Ihr Ministerpräsident aus Baden-Württemberg würden
keinen Zentimeter mit Ihnen mitgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Baden-Württemberg ist nicht der Nabel der Welt!)


Abschließend: Es gab noch nie so viel Kooperation.
60 Prozent der in den Haushalt des BMBF eingestellten
Mittel fließen in Kooperationsprojekte. Die Behauptung,
es gebe keine Kooperation, ist daher falsch. Die Zahl der
Kooperationsprojekte ist in den letzten Jahren drama-
tisch angewachsen.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Dramatisch, Sie sagen es!)


Es gibt also Kooperation. Aber sie muss dort stattfinden,
wo sie sachlich begründbar und vernünftig ist, also dort,
wo es um Exzellenz und internationale Wettbewerbsfä-
higkeit geht. Die Länder haben die Aufgabe, dort, wo es
um Subsidiarität, Dezentralität und die Nähe zum Men-
schen geht, die Probleme zu lösen. In diesem Sinne wer-
den wir gemeinsam mit der Regierung Artikel 91 b unse-
rer Verfassung ändern. Damit sind wir auf einem guten
Weg.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805805700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne-

rin hat die Kollegin Nicole Gohlke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805805800

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Kolleginnen und

Kollegen! Vor acht Jahren – auch ich hole aus – hatte die
Bundesrepublik Besuch von Vernor Muñoz, dem dama-
ligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bil-
dung. Das Ergebnis seines Abschlussberichtes war eine
Ohrfeige. Er kritisierte scharf die mangelnde Chancen-
gleichheit und die zunehmende Verlagerung von Bil-
dungszuständigkeiten auf die Länderebene; denn da-
durch, so Muñoz, verliere der Bund zunehmend die
Möglichkeit, eine einheitliche Bildungspolitik und glei-
che Chancen im Bundesgebiet zu gewährleisten. Er
stellte fest, dass Bildungschancen und Bildungswege in
Deutschland stark davon abhängen, wo man geboren ist,
welches Schulsystem vor Ort existiert und wie zahlungs-
kräftig gerade das jeweilige Bundesland ist. Da hätten
bei allen – sogar bei Ihnen von der Union – alle Alarm-
glocken läuten müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Stattdessen sind acht Jahre vergangen. Was ist in die-
ser Zeit passiert? Der Wettbewerbsföderalismus unter
den Ländern wurde weiter verschärft. Als Krönung ha-
ben Sie das Kooperationsverbot eingeführt, das Verbot
der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bil-
dung, in der Kultur und auch in anderen Bereichen. Das
Fazit dieser Entwicklung ist ausgewiesenermaßen mise-
rabel. Trotzdem weigert sich die Regierung, eine wirkli-
che Korrektur vorzunehmen. Für die allgemeine Bil-
dung, für die Schulen und Kitas wollen Sie weiterhin
keine Verantwortung übernehmen. Lediglich für die
Hochschulen soll eine Finanzierung durch den Bund er-
möglicht werden, aber nur – und jetzt kommen die Ein-
schränkungen – in Fällen überregionaler Bedeutung und
nur dann, wenn alle Bundesländer zustimmen. Ein einzi-
ges Bundesland – ich weiß gar nicht, warum ich jetzt auf
Bayern komme –


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Weil es so schön ist!)


kann hier alles blockieren!

„Besser als gar nichts“ ist doch jetzt im Kern die Ar-
gumentation der SPD.


(René Röspel [SPD]: Das stimmt! – Rainer Spiering [SPD]: Damit haben wir Deutschland zum Erfolg gebracht!)


Ich glaube, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass
Sie sich da etwas schönreden; denn der Verdacht, dass es
mit dieser Grundgesetzänderung gerade nicht um die
Stärkung der Grundfinanzierung aller Hochschulen geht,
sondern dass damit eigentlich nur die Lieblingskinder
und Eliteprojekte der Regierung gepampert werden sol-
len, liegt sehr nahe!


(Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lesen Sie doch mal die Begründung des Gesetzes!)


Herr Rupprecht hat es doch gerade bestätigt. Er hat ge-
rade genau beschrieben, worin er die Kompetenz des
Bundes sieht: im internationalen Wettbewerb und in Ex-
zellenz. Er hat es gesagt!


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schauen Sie in die Gesetzesbegründung!)


Die Exzellenzinitiative läuft 2017 aus, und es ist doch
auffällig, dass genau jetzt die Konservativen auf einmal
ihr Interesse an einer Lockerung des Kooperationsverbotes
nur für den Hochschulbereich entdecken. Dass das, was
die Regierung hier vorlegt, nicht genug ist, sagen Ihnen so-
gar Akteure und Institutionen, bei denen es mir wirklich
schwerfällt, sie zu zitieren. Auch die Bertelsmann-Stif-





Nicole Gohlke


(A) (C)



(D)(B)

tung, die Robert-Bosch-Stiftung und die Telekom-Stif-
tung haben kürzlich das Verantwortungswirrwarr in der
Bildung bemängelt und kommen zu dem Schluss, dass
der Bildungsföderalismus in Deutschland unter systemi-
schen Blockaden leidet und die Lockerung des Koopera-
tionsverbotes für Einzelfälle im Hochschulbereich nicht
ausreichend ist. Genau das ist es: Bei diesem Gesetzent-
wurf geht es nur um Einzelfälle und eben nicht um die
Breite. Deswegen ist dieser Entwurf auch nicht der Spatz
in der Hand, ein Schritt in die richtige Richtung oder et-
was Ähnliches. Vielmehr ist es zu wenig und eine fal-
sche Entscheidung, sich nur um Elite und Exzellenz in
der Hochschule zu kümmern und den Rest außen vor zu
lassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, falls es
Ihnen im internen Koalitionsstreit, der Sie derzeit ein
bisschen umtreibt, gerade entfallen sein sollte: Sie regie-
ren gerade. Dann tun Sie das aber auch, und nehmen Sie
Ihre Aufgaben wahr! Zum Beispiel wäre es Ihre Auf-
gabe, sich um die Herstellung gleichwertiger Lebensver-
hältnisse im gesamten Bundesgebiet zu kümmern, und
nicht, aus ideologischer Verbohrtheit den Wettbewerb
unter den Bundesländern wichtiger zu nehmen als gute
Bildung von der Kita bis zur Hochschule.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805805900

Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Dieter

Rossmann das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1805806000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Wanka hat eine historische Rückbetrachtung vorge-
nommen. Ich will sie so aufnehmen: 1949, zu Beginn der
heutigen deutschen Demokratie, gab es nach dem Totali-
tarismus so etwas wie einen starken – auch separativen –
Föderalismus. Dann gab es die erste Große Koalition.
Man hatte – auch bedingt durch gesellschaftliche, öko-
nomische und politische Erfordernisse – bemerkt, dass
der Staat gestärkt werden muss. Es war 1969 eine große
Reformleistung der damaligen Großen Koalition, im
Rahmen einer staatsorientierten Bildungsreform so et-
was wie Hochschulbau, Hochschulsonderprogramme,
Bildungsplanung und Bund-Länder-Programme mit nach
vorne zu bringen. Dies war ein Modernisierungs- bzw.
Innovationsschub. Dann hat es einen Rückschlag gege-
ben, und zwar mit der nächsten Großen Koalition und
der geteilten Föderalismusreform, die durchaus einige
Vorteile hatte, wenn wir an die Sicherheitsarchitektur
denken, aber in Sachen Bildung brüchig wurde.

Einige kennen die Historie, aber ich möchte es noch
einmal erklären, Frau Wanka. Es war gut, dass die SPD-
Bildungspolitiker ihre Fraktion real erpresst haben und
Peter Struck am Ende sagte: Um das Gesamtwerk durch-
zubringen, müssen wir die Vorhaben der Wissenschaft
im Grundgesetz verankern. Ohne das keine Hochschul-
paktprogramme, keine Exzellenzinitiative, keine bessere
Lehrerbildung und keine Initiativen für bessere Lehre an
den Hochschulen. – All das wäre nicht gegangen, wenn
wir dies damals nicht – wir freuen uns, dass Sie erpresse-
rische Sozialdemokraten anerkennen – ermöglicht hät-
ten.


(Beifall bei der SPD)


Wenn wir die Kette vom separativen Föderalismus
über die stärkere Staatlichkeit hin zur Aufgabenteilung
verfolgen, dann sehen wir, dass wir jetzt in eine Phase
treten, in der wir mehr Kooperation brauchen. Das merkt
man an allen Beiträgen. Wir brauchen mehr Kooperation
in Bezug auf das Zusammenwirken der staatlichen Ebe-
nen – Bund und Länder –, aber auch mehr Kooperation
in Bezug auf das Zusammenwirken der Institutionen, die
in einem bestimmten Bereich aktiv sind; hier geht es um
den Hochschulbereich.

Ich will deshalb das aufnehmen, was auch Kollege
Rupprecht angesprochen hat. Verfassungsänderungen
sind nicht auf den Moment bezogen. Das haben wir mit
der nachgeschobenen Verfassungsänderung und dem
Katastrophenartikel 104 b gemacht, als wir das Kon-
junkturprogramm anders administrieren wollten und das
auch für den Bereich Bildung und Hochschulen nutzbar
machen wollten.

Zu einer Verfassungsänderung muss Weitsicht gehö-
ren. Die Weitsicht bezieht sich darauf, dass – anders als
vielleicht noch 1949; die Perspektive ist jetzt 2049 – in
der Wissens- und Bildungsgesellschaft sowie der Öko-
nomie der Zukunft der Bildungs- und Hochschulbereich
eine ganz zentrale Rolle spielen wird. Was zentral ist,
muss zentral mit anderen verantwortlich gestaltet wer-
den können, und zwar verlässlich und nachhaltig. Des-
halb ist es eine gute Entwicklung, dass im Koalitionsver-
trag steht, dass der Bund auch in die Grundfinanzierung
einsteigen können soll. Das wird erst durch diese Verfas-
sungsänderung ermöglicht. Es ist auch gut, dass wir uns
auf neue Formen der Wissenschaftsarchitektur einstel-
len.

Man muss nicht gleich eine Abscheu vor Exzellenz-
initiativen zeigen und Abwehrreflexe mobilisieren. Auch
Sie von der Linken haben doch bestimmte Vorstellungen
über Modernisierung, Innovation, Wertschöpfung, Pro-
duktivität und die Gestaltung verbesserter Lebensbedin-
gungen. Deshalb sollten Sie diese Initiativen nicht nur
negativ sehen. Wir brauchen eine veränderte Wissen-
schaftsarchitektur.

Es ist doch absurd, wenn sich in Karlsruhe die außer-
universitäre Forschungseinrichtung und die Universität
förmlich verrenken müssen, um eine Kooperation ab-
schließen zu können. Das ist keine Frage von rechts oder
links, sondern diese Absurdität sehen wir doch alle.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist absurd, dass wir in Berlin exzellente For-
schungseinrichtungen, zum Beispiel die Charité, haben,





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

die mit anderen Einrichtungen, die ebenfalls brillante
Forschung betreiben, nicht zusammenkommen können.
An dieser Stelle Kooperation ermöglichen zu können, ist
genauso wichtig, wie darüber nachzudenken, wie eine
zukünftige Profilierung und Entwicklung im Hochschul-
system selber aussehen soll.

Es hat einmal jemand ausgerechnet, dass wir in Eu-
ropa in einigen Jahrzehnten – das ist gar nicht mehr so
lange hin – gerade einmal 5 Prozent der Weltbevölke-
rung ausmachen. Wenn wir in Deutschland innerhalb
dieser 5 Prozent ein Profil entwickeln wollen, dann müs-
sen wir ein Zusammenwirken von Wissenschaft und
Forschung und eine Kooperation von Bund und Ländern
gewährleisten. Es darf nicht sein, dass der Bund nur ak-
zidentell oder kurzfristig eingreift.

Das sind Begründungen, die man annehmen kann,
aber nicht annehmen muss; aber diese sollten die Grund-
lage für Verfassungsänderungen sein, die über den Tag
hinaus reichen, die Perspektiven ermöglichen sollen.
Wir glauben, dass dies eine gute Verfassungsänderung
für den Bereich Hochschule, Wissenschaft und Lehre ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist eine Verfassungsänderung, die Spielräume ermög-
licht und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir bis-
her nicht hatten.

Da es an dieser Stelle eine breite Zustimmung auch
von der CDU/CSU gibt, starte ich noch einmal einen
Versuch in einem anderen Bereich. Mir kommt nicht aus
dem Sinn, was mir einmal eine gute Freundin gesagt hat:
Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, musst du es halt
zum zweiten Mal versuchen. – Ich versuche es jetzt noch
einmal, Sie auch


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie zur Vernunft zu bringen? Das klappt nicht!)


für die Bildung zu motivieren, zumal man weiß, dass es
auch bei Ihnen einige gibt, die durchaus in diese Rich-
tung weiterdenken wollen.

Wo ist eigentlich die Plausibilität, wenn wir als Ge-
samtstaat in New York die UN-Behindertenrechtskon-
vention unterzeichnen, zu Hause aber diesen Impuls
nicht aufnehmen können, sondern mit kleinster Münze
darauf achten müssen, wo der Bund im Schlüsselsystem
Schule Inklusion fördern darf?

Ein Nächstes. Wo ist die Plausibilität, wenn wir im
Bildungs- und Teilhabepaket eine große Anstrengung
unternehmen, um Bildungsarmut zu bekämpfen, wäh-
rend alle wissen, dass vieles besser wäre, wenn man
strukturell schulische Institutionen unterstützt hätte, die
viel mehr Wirksamkeit entfalten, wenn man dabei nicht
Umwege hätte gehen müssen?

Auf die Zukunft gerichtet: Da wir wissen, wie sehr in
der Hochschulbildung, aber auch in der Schulbildung die
Digitalisierung zunimmt, ist es dann am Ende plausibel,
dass wir eine Zusammenarbeit von der Verfassung her
förmlich ausschließen, sodass es Open-Educational-Re-
sources-Entwicklungen nur in einzelnen Bundesländern
gibt? Kann es nicht notwendig werden, ganz bewusst in
Bezug auf Schule einen zentralen Bundesimpuls zu set-
zen, weil damit die Entwicklung schneller käme und ef-
fizienter wäre, weil sie damit auch in größerer Homoge-
nität käme, gerade bei diesem neuen Medium? Darüber
werden wir noch diskutieren.

Bisher müssen wir darüber noch unter den Restriktio-
nen einer Verfassungsbeschränkung, eines Kooperations-
verbots in der Verfassung diskutieren, müssen an eine
solche Frage mit einem Tabu im Kopf herangehen, statt
sozusagen mit offenem Visier auf die zugehen zu kön-
nen, die auch an dieser Frage arbeiten und etwas zusam-
menbringen wollen.

Das ist der Grund, weshalb wir das Kooperationsver-
bot als unzureichend, als kurzsichtig ansehen und wes-
halb es im Bundesrat – Frau Wanka, wir haben die De-
batte sehr genau nachgelesen – sehr wohl auch andere
Positionen, klare Positionen, aus sozialdemokratisch und
rot-grün regierten Ländern gegeben hat. Ich habe Frau
Löhrmann so verstanden, dass sie sich nicht daran ver-
kämpfen will – „verkämpfen“ hieße: wir machen gar
nichts mit; wir anerkennen nicht einmal das, was jetzt
seitens der Bundesregierung vorgeschlagen wird –, aber
weiter kämpfen will.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt hört die Ministerin wieder nicht zu!)


Das macht eine Differenz, die man auch in der politi-
schen Auseinandersetzung souverän respektieren sollte.

Nachdem ich vorhin ein bisschen flapsig zitiert habe,
will ich jetzt mit Goethe enden – ihn hat auch Malu
Dreyer im Bundesrat zitiert –: „Nicht Kunst und Wissen-
schaft allein, Geduld will bei dem Werke sein.“ Also:
Unterstützung, Beifall hoffentlich für den einen großen
Schritt, nämlich dafür, dass wir für die Hochschulen, für
die Wissenschaft in jedweder Hinsicht kooperationsfä-
hig werden, und Hoffnung auf und Streiten seitens der
Linken, der SPD, der Grünen und all der einsichtigen
Kollegen bei CDU und CSU für den nächsten großen
Schritt!

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805806100

Als nächster Redner hat der Kollege Kai Gehring das

Wort.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Jetzt erklär mal, was dein Ministerpräsident sagt!)



Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805806200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Große Koalition vergibt mit ihrer Vorlage heute die
historische Chance, aus einer Verbotsverfassung eine Er-
möglichungsverfassung für bessere Wissenschaft und
Bildung zu machen.





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Die GroKo hat 2006 gegen grünen Widerstand das
Problem „Kooperationsverbot“ in die Verfassung ge-
schrieben. 2014 will sie es nur zur Hälfte lösen. Mehr
Kooperation in der Wissenschaft, das ist gut. Bildung
bleibt leider außen vor, das ist schlecht. Sie machen da-
mit nur halbe Sachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gute Hochschulen stehen immer auf dem Fundament
guter Kitas und Schulen. Es bleibt schlichtweg nicht
nachvollziehbar, dass wichtige bildungspolitische Im-
pulse und Verbesserungen wie eine neue Bund-Länder-
Ganztagsschulinitiative ausgeschlossen bleiben sollen.
Das wollen wir mit unserem Antrag ändern.

Als Irrweg hat die SPD im Bundestagswahlkampf das
Kooperationsverbot bezeichnet – das stimmt –; heute
verteidigen und kritisieren Sie den Koalitionskompro-
miss zugleich. Ich sage: Liebe CDU/CSU, als guter Ko-
alitionspartner sollten Sie die SPD erlösen. Geben Sie
als Union im Bund und in den Ländern den Widerstand
gegen mehr Kooperation in der Bildung auf! Sonst ist
das 7-Prozent-Ziel nicht zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Eine Grundgesetzänderung muss guten Lösungen den
Weg bereiten. Ich sage: Ja, der Vorschlag von Ministerin
Wanka ist für die Wissenschaft besser als der alte Vor-
schlag von Ministerin Schavan.


(Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] und René Röspel [SPD])


Aber das geplante Einstimmigkeitsprinzip, wonach alle
16 Länder zustimmen müssen, steht einer neuen Koope-
rationskultur entgegen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)


Statt Blockade und Vetomöglichkeiten in unser Grund-
gesetz zu schreiben, sollten die Verfahrensregeln der Ge-
meinsamen Wissenschaftskonferenz überlassen bleiben.
Es wäre falsch, mit dem Einstimmigkeitsprinzip innova-
tive Entscheidungen zu verzögern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hochschulen und Forschungseinrichtungen brauchen
neue, dauerhafte und gemeinschaftliche Wege in der Fi-
nanzierung – dazu sind hier schon viele Beispiele ge-
nannt worden –, sonst platzen die Universitäten und
Fachhochschulen aus allen Nähten. Denn auch in den
nächsten Jahren und im nächsten Jahrzehnt hält der Stu-
dierendenboom an.

Die zeitlich befristeten Wissenschaftspakte – Hoch-
schulpakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzel-
lenzinitiative; auch der Qualitätspakt Lehre – schaffen
eben keine dauerhafte Finanzierungs- und Planungssi-
cherheit, vor allem nicht für das wissenschaftliche Per-
sonal, das endlich gute Karrierewege statt Befristungs-
unwesen braucht. Es bedarf in unserem Land einer
Offensive für wissenschaftlichen Nachwuchs und plan-
bare Wissenschaftskarrieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Leider fehlt der Großen Koalition die gemeinsame
Idee, was sie denn überhaupt mit den neuen Koopera-
tionsmöglichkeiten in der Wissenschaft anfangen will.
Weder für Spitzenforschung mit internationaler Strahl-
kraft noch für regionale Strukturpolitik, also weder für
Spitze noch für Breite, haben Sie zusätzliches Geld zur
Verfügung. Bildlich gesprochen: Frau Wanka kriegt zum
1. Januar 2015 ein neues Rennrad, aber Herr Schäuble
schließt es im Fahrradkeller ein.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Stimmt doch überhaupt nicht! Sie haben keine Ahnung von den Zahlen!)


Von Kooperation, die auf dem Papier steht, hat niemand
etwas, nicht die Studierenden, nicht die Wissenschaftler
und auch nicht die Hochschulen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Wir wollen, dass der Bund dauerhaft Forschung und
Lehre an Hochschulen mit unterstützen und verbessern
kann. Daher ist eine Öffnung der Verfassung für Wissen-
schaft überfällig.

Die Beratung der Verfassungsänderung ist mit dieser
Debatte in die entscheidende Phase getreten. Wir Grünen
im Bundestag reichen der Großen Koalition die Hand.
An uns scheitert ein großer Wurf nicht. Denn zusammen
können wir aus der Verbotsverfassung endlich eine Er-
möglichungsverfassung machen, die einer Bildungsre-
publik einen klugen Rahmen setzt. Der Artikel 91 b
kann mehr.

Gesellschaftlich herbeigesehnt werden die vollstän-
dige Aufhebung des Kooperationsverbots und eine tief-
greifende Modernisierung unseres Bildungsföderalismus
jedenfalls schon lange. Deshalb sollten wir das auch tun.
Unsere Geduld ist am Ende. Wir wollen mehr Fortschritt
für Bildung und Wissenschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805806300

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Patricia Lips

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Patricia Lips (CDU):
Rede ID: ID1805806400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die BAföG-Novelle, die wir gestern debattiert haben,
vor allen Dingen auch hinsichtlich der künftig alleinigen
Zuständigkeit des Bundes, wie auch die Änderung des
Grundgesetzes für eine bessere Zusammenarbeit mit den
Hochschulen sind, auch schon für sich allein genommen,
von großer Bedeutung. Beides zusammengenommen
entwickelt jedoch ganz neue Möglichkeiten für unser na-
tionales Bildungssystem, aber auch – das wurde deutlich





Patricia Lips


(A) (C)



(D)(B)

und ist uns mindestens ebenso wichtig – für die interna-
tionale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.

Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ergänzen, weil
es gestern ein bisschen kritisch anklang: Hier werden
zeitgleich zwei Projekte umgesetzt, die vor allem den
jungen Menschen in unserem Land zugutekommen.

Mehr als 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs begin-
nen heute ein Hochschulstudium – Tendenz steigend.
Die Schere zwischen den Förderungen im außeruniversi-
tären Bereich und der Hochschulen geht systematisch
immer weiter auseinander. Wir wissen das.

Bereits seit Jahren steht deshalb zu Recht die Forde-
rung im Raum, genau an dieser Stelle mehr zu tun. Das
geschah ja auch schon. Es wurden bereits mehrfach die
gemeinsamen Projekte wie Exzellenzinitiative, Hoch-
schulpakt, Qualitätspakt Lehre und Professorinnen-Pro-
gramm erwähnt. Sie haben diesen Aufwuchs zunächst
gezielt, aber halt auch begrenzt, erfolgreich begleiten
können. Dennoch müssen wir die Frage beantworten:
Reicht dieses Engagement unter den bisherigen Mög-
lichkeiten aus, um heute und in Zukunft im europäischen
und internationalen Wettbewerb dauerhaft zu bestehen?
Ich gebe Ihnen ja recht: Eine Grundgesetzänderung
macht man nicht einfach so, so lapidar. Aber die Antwort
auf diese Frage lautet: Nein.

Es bedarf einer Weiterentwicklung. Deshalb streben
wir – dagegen kann ja niemand etwas einwenden – eine
Erweiterung planbarer und verlässlicher Gestaltungs-
möglichkeiten für Hochschulen und Forschungseinrich-
tungen an. Dies gilt auch für junge Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler. Damit ist eine Verbesserung der
Leistungsfähigkeit und am Ende auch – das wurde heute
noch nicht erwähnt; aber ich sage dies ausdrücklich – ein
tatsächlicher Mehrwert für das Wissenschaftssystem
verbunden. Es ist und kann nicht unser Ziel sein, dass
ein stetiger Einsatz des Bundes an dieser Stelle künftig
zum Ausfall von Anteilen des einen oder anderen Lan-
des führt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Basis, um zu diesem Mehrwert zu kommen, stellt
die geplante Grundgesetzänderung dar.

Lassen Sie mich noch einmal auf das Stichwort „Ko-
operationsverbot“ zurückkommen. Man gewinnt ja in
manchen Diskussionen wirklich den Eindruck, dass in
unserem Bildungssystem ein Stoppschild zwischen
Bund und Ländern steht,


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist es auch!)


das es aber so nicht gibt. Es wurden bereits einige Bei-
spiele wie die Projekte im Hochschulbereich genannt.
Aber ich möchte doch auch noch die Milliarden erwäh-
nen, die inzwischen seitens des Bundes unabhängig von
Mittelaufstockungen für Betriebskosten, Sondervermö-
gen und vielem anderen mehr in die frühkindliche Bil-
dung, in Kitas und Krippen geflossen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist ein nicht unerheblicher Anteil.
Ich möchte als Beispiel auch an das gemeinsame Pro-
gramm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zur Verbes-
serung der Lehramtsausbildung erinnern und nicht zu-
letzt auch an die finanziellen Freiräume, die durch die
Komplettübernahme des BAföG durch den Bund bei den
Ländern entstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, dass je
nach Bundesland ein Großteil des Geldes nicht nur in die
Hochschulen, sondern wiederum auch in Kitas fließt,
aber auch in viele Bereiche der Schulen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie sich entscheiden! Einerseits kritisieren und andererseits loben!)


– Ich möchte jetzt keine Bewertung im Detail vorneh-
men, Herr Mutlu. Sie haben nachher noch Zeit, darauf zu
antworten. – Aber das kommt doch nicht von ungefähr.
Das ist doch jetzt erst möglich geworden: eine verbes-
serte Finanzierung des Bildungssystems mit knapp
1,2 Milliarden Euro jährlich, über diese Legislaturpe-
riode hinaus, aber insgesamt in Länderzuständigkeit.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Ich wollte mit diesen Beispielen nur zeigen: Wir leisten
also bereits einen erheblichen Beitrag über unsere ei-
gentliche Zuständigkeit hinaus.

Bei allen Forderungen nach einem Mehr an Finanzie-
rung: Wir wissen um die Unterschiedlichkeit und Diffe-
renziertheit in den Zielsetzungen der Länder. Am Ende
kann es nicht das Ziel sein, dass der eine das Ziel der
Reise bestimmt und der andere vielleicht nur und für im-
mer die Reisekosten übernimmt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver-
ständlich ist Bildung auch eine gemeinschaftliche Auf-
gabe; aber jeder an seiner Stelle. Da wird uns hier und
heute auch kein Kultusminister widersprechen. Im Ge-
genteil: Wir stehen zur Kulturhoheit der Länder und zur
föderalen Kompetenzzuordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD])


Dies gilt im Übrigen auch für den heutigen Gesetzent-
wurf, der die Überregionalität von Projekten betont und
in bestimmten Fällen die Zustimmung aller Länder er-
fordert; der Kollege Rupprecht hat es ja angesprochen.
Deutschland ist ein großes Land mit teilweise völlig un-
terschiedlichen Regionen und damit verbundenen He-
rausforderungen. Dies gilt für viele Bereiche, auch für
den weiten Raum der Bildung, vor allen Dingen aber für
den Bereich der frühkindlichen und schulischen Bil-
dung. Aus gutem Grund liegen deshalb die Zuständig-
keiten der Länder gerade dort, wo sie sich besser ausken-
nen, Entscheidungen treffen können und im Übrigen
auch wollen.

Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Novelle und
die vorgelegte Grundgesetzänderung gehören zusam-
men. Sie bieten die Chance, eine Strahlkraft in alle Bil-
dungsbereiche hinein zu entfalten, nach innen wie nach





Patricia Lips


(A) (C)



(D)(B)

außen. Sie bieten darüber hinaus Wissenschaft und For-
schung ganz neue und verlässliche Perspektiven. Inso-
fern ist es eine gute Situation für alle Beteiligten: für den
Bund und die Länder, für die Hochschulen und For-
schungseinrichtungen und vor allem für junge Men-
schen, die unser Land mit einer guten Ausbildung nach
vorne bringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805806500

Als nächster Redner hat der Kollege René Röspel das

Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1805806600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Eine Vorbemerkung außerhalb des Themas sei
mir gestattet. Ich finde es richtig, dass auch ein Abgeord-
neter die Möglichkeit haben muss, seinen Vaterpflichten
nachzukommen. Deswegen bin ich gerne kurzfristig für
Swen Schulz eingesprungen, der jetzt bei seinem kran-
ken Kind zu Hause ist. Wir wünschen gute Besserung an
dieser Stelle.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt aber zum Thema. Ich bin sehr froh über diesen
Gesetzentwurf, weil ich glaube, dass wir damit im Be-
reich der Hochschulen einen guten und wichtigen Schritt
weiterkommen und weil dieser Gesetzentwurf auch an-
erkennt, dass die Länder unterschiedliche Voraussetzun-
gen und unterschiedliche Bedingungen haben. In den
Debatten hört man häufig, dass alle Länder gleich seien
und gefälligst die Aufgaben in ihrem Bereich überneh-
men sollen. Das hat man nicht nur bei der Debatte über
den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
heute gemerkt. Das würde vielleicht klappen, wenn die
Bundesländer alle gleich wären, so als wenn man die Sa-
hara als Wüste in Quadrate aufteilen würde. Dann
könnte man sagen, dass dort die Voraussetzungen alle
gleich sind. Das kann funktionieren.

Es ist im realen Leben aber nicht so. Vielmehr – das
klang auch gerade bei Patricia Lips an – spielt es eine
Rolle, welche Regionen in einem Bundesland sind.
Große Unterschiede bestehen zwischen Großstädten und
ländlichen Regionen. Wenn ich aus meiner Großstadt im
Wahlkreis in Richtung ländliche Region gehe, dann ver-
ändert sich viel: die Arbeitslosenquote, die Zahl der So-
zialhilfeempfänger und der Alleinerziehenden sinkt. Al-
les wird anders, in der Regel besser. Deswegen kommt
gerade Großstädten eine besondere Bedeutung zu.

Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Stadt Hagen.
Wir haben zu Beginn des Schuljahres 260 Flüchtlings-
kinder ganz schnell in Auffangklassen aufnehmen müs-
sen. Es waren Kinder, die häufig gar nicht die deutsche
Sprache beherrschen, manchmal nur teilweise, mitunter
Analphabeten sind. Die Stadt steht vor der Herausforde-
rung, diese Kinder zu integrieren, Schulklassen zu bilden
und Lehrer dafür abzustellen. Das klappt mit dem Land
zusammen. Aber ich finde, dies ist nicht allein die Auf-
gabe von Land und Kommune, dies zu regeln – das ballt
sich im Ruhrgebiet –, sondern der Bund hat hier auch
eine Aufgabe. Deswegen ist diese klare Trennung nicht
so einfach.


(Beifall bei der SPD)


In den Ländern gibt es nicht nur unterschiedliche Be-
lastungen, sondern auch unterschiedliche Verfahrens-
weisen. Weil ich gerne nach Bayern in den Urlaub fahre,
vergleiche ich immer NRW und Bayern. NRW unter-
nimmt besondere Anstrengungen, Menschen zum Abitur
zu führen. Die Quote der Studienberechtigten ist fast
doppelt so hoch wie in Bayern. Das liegt nicht an der
Qualität bayerischer Schüler, aber vielleicht an der Be-
sonderheit, dass man in NRW sagt: Wir wollen mehr
Menschen zum Abitur bringen. Das ist eine besondere
Leistung des Landes. Das spiegelt sich auch in der Zahl
der Studierenden pro Einwohner wider. Das habe ich
beim letzten Mal schon gesagt. In NRW liegt sie deutlich
höher als in Bayern oder Sachsen. Das heißt, in NRW
studieren mehr Menschen. Das ist auch gut so. Dann
aber zu sagen: „Seht als Land zu, wie ihr das hinbe-
kommt“, ist zu kurz gedacht und dient nicht der Sache.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will ein weiteres, sehr eindringliches Beispiel
nennen, das uns gestern Morgen beim Forschungsfrüh-
stück der Helmholtz-Gemeinschaft vorgestellt wurde:
„Das Haus der kleinen Forscher“, eine Stiftung mit Mit-
teln aus der Helmholtz-Gemeinschaft und privaten Trä-
gern, die mehr Mathematik, Informatik und Naturwis-
senschaften in die Kindergärten bringen wollen. Der
Geschäftsführer hat einen total engagierten, begeisterten
und begeisternden Vortrag gehalten. Man merkte, dass er
lange Zeit in Ulm bei Manfred Spitzer, einem Neurowis-
senschaftler, war, der seit Jahren – wissenschaftlich be-
legt – sagt, wie wichtig es ist, im frühkindlichen Bereich
mit Bildung anzufangen. Der alte Spruch „Was Häns-
chen nicht gelernt hat, lernt Hans nimmermehr“ gilt ei-
gentlich auch, wenngleich nicht in dieser Rigidität.

Der Geschäftsführer hat gesagt, dass er die Vision hat,
dass er in 30 Jahren auf der Tagung der Nobelpreisträger
sein wird und dort zwei Nobelpreisträger – am besten
Deutsche – nebeneinander sitzen, die sagen: Mensch, du
warst auch im „Haus der kleinen Forscher“ und hast im
Kindergarten dieses Interesse für Naturwissenschaften
entdeckt. – Das ist genau der richtige Weg. Der Weg
zum Nobelpreis fängt im Kindergarten an und nicht erst
in der Hochschule.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Daher ist die Trennung – der Bund ist nur für Hochschu-
len zuständig, alles andere müssen Länder und Kommu-
nen übernehmen – zu kurzsichtig.





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] und Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Bildungsforscher, der gestern dabei war, hat zwei
Punkte der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte he-
rausgehoben und gelobt:

Der erste Punkt war das Ganztagsschulprogramm, das
die rot-grüne Bundesregierung 2003 auf den Weg ge-
bracht hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich daran, dass vom rechten Block des
Hauses die Zwischenrufe kamen: Einheitsschule, Ver-
wahranstalt. Es gab große Proteste. Das hat sich alles ge-
legt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In meinem Wahlkreis gibt es 54 Ganztagsgrundschulen.
Alle wissen, wie gut es ist, eine vernünftige Ausstattung
zu haben, Räume, in denen sich Kinder wohlfühlen, in
denen sie auch den Nachmittag verbringen können. Aber
das Problem ist – Edelgard Bulmahn hat das früher ange-
sprochen –, die Pädagogik darf nicht vom Bund bezahlt
werden. Und das verstehen die Menschen überhaupt
nicht. Zu sagen, für Nachmittagsunterricht sind wiede-
rum die Länder zuständig, das geht an der Lebenswirk-
lichkeit der Menschen vorbei.

Zum zweiten Beispiel, das gelobt wurde: Bei der Stif-
tung „Haus der kleinen Forscher“ geht es darum, früh
anzufangen, in Kindern ein Interesse für bestimmte The-
men zu wecken. Das Programm soll nun – glücklicher-
weise unterstützt durch das BMBF – auf Grundschulen
ausgeweitet werden. Aber sie dürfen nur nachmittags in
die Ganztagsgrundschulen, weil ihre Arbeit durch Bun-
desmittel finanziert wird. Deshalb dürfen sie ihre Arbeit
nicht mit der der Lehrer koordinieren und schon vormit-
tags tätig werden.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kooperationsverbot!)


Das ist so weit an der Lebenswirklichkeit vorbei – das
kann man den Menschen draußen nicht erklären.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir sollten uns davor hüten, Politik zu machen, die an
der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigeht.

Deswegen muss der nächste Schritt sein, die Möglich-
keit zu schaffen, dass der Bund den Ländern in Bil-
dungsfragen Angebote machen und auch Finanzhilfe ge-
ben kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805806700

Als nächster Redner hat der Kollege Özcan Mutlu das

Wort.

Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805806800

Frau Präsidentin! Gestatten Sie mir vorweg einen

Satz zur Rede von Frau Lips. Liebe Frau Lips, es kann
einfach nicht angehen, dass Sie sich heute hierhin stellen
und sagen: „Schaut doch! Viele Gelder aus der BAföG-
Reform gehen auch in die frühkindliche Bildung.“ Bei
der gestrigen BAföG-Debatte haben etliche Ihrer Kolle-
gen das Land Niedersachsen dafür kritisiert, dass es ge-
nau das getan hat. Das ist ein bisschen billig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Thomas Feist [CDU/ CSU]: Das hat sie nicht gesagt!)


– Ja, ja, natürlich. Lesen Sie das im Protokoll nach.

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Wie heißt
es doch so schön? Man erntet, was man sät. Natürlich
vorausgesetzt, dass man etwas ernten will.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Man sollte auch zuhören!)


Wenn ich mir Ihre Bildungspolitik und die Reden heute
vergegenwärtige, dann habe ich da so meine Zweifel. Sie
säen – um beim Bild des Landwirts zu bleiben – entwe-
der überhaupt nicht oder nur spärlich; und wenn Sie et-
was säen, dann lassen Sie die eine Hälfte des Ackers un-
berührt. – Dieses Bild ist symptomatisch für Ihre
Bildungspolitik, die wider besseres Wissen am Koopera-
tionsverbot in der allgemeinen Bildung festhält.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber damit nicht genug: Zwischenzeitlich ist es so
– wir haben es in mehreren Debatten gehört –, dass Sie
sich gut 13 Jahre nach dem ersten PISA-Schock gegen-
seitig auf die Schulter klopfen, weil wir inzwischen im
PISA-Vergleich durchschnittliche Werte erreicht haben.
Aber ein Bildungssystem darf sich nicht nur mit Durch-
schnitt begnügen. Durchschnitt ist für uns nicht genug.
Durchschnitt ist Stagnation, und Stagnation ist kein Er-
folg. Deshalb muss das Kooperationsverbot abgeschafft
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: An uns liegt es nicht!)


Das hat uns auch die jüngste OECD-Studie „Bildung
auf einen Blick“ eindrücklich gezeigt: geringste Bil-
dungsmobilität, weiterhin bestimmt der Geldbeutel der
Eltern darüber, wie erfolgreich die Bildung ist oder eben
nicht, Bildungsinvestitionen unterhalb des OECD-
Durchschnitts. Liebe Kollegen, das ist doch keine Er-
folgsstory! Das ist kein Grund, sich auf die Schulter zu
klopfen.

Wir Grüne waren und sind nach wie vor für Ganztags-
schulen. Ganztagsschulen sind aus unserer Sicht Orte,
die Kreativität und Innovationsfähigkeit befördern, weil
sie an den Potenzialen der Kinder und der Jugendlichen
ansetzen. Gerade weil sie das tun, können sie zu mehr
Chancen-, Teilhabe- und Leistungsgerechtigkeit, also
– das sage ich in Richtung der SPD – zu mehr Bildungs-
gerechtigkeit beitragen.





Özcan Mutlu


(A) (C)



(D)(B)


(René Röspel [SPD]: Das brauchen Sie nicht in unsere Richtung zu sagen! Wir wissen das!)


Deshalb bin ich mit Ihnen einer Meinung: Das Ganztags-
schulprogramm der rot-grünen Regierung – an dieser
Stelle ein Dank an die Präsidentin, die damals in einer
anderen Funktion war – ist eine Erfolgsstory, unsere ge-
meinsame Erfolgsstory,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


und die sollten wir auch fortsetzen. Ich appelliere an die-
ser Stelle an Sie, Herr Kollege Heil. Wenden Sie das
Struck’sche Gesetz an: Kein Gesetz verlässt den Bundes-
tag, wie es hineinkommt. – Stimmen Sie unserem Antrag
zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn wir mit Rot-Grün eine Zweidrittelmehrheit hätten, wäre es schon durch!)


Weil immer noch am Kooperationsverbot festgehalten
wird, können wir nicht mehr in Ganztagsschulen inves-
tieren. Das gilt insbesondere für das Bildungssystem, das
zu einem inklusiven Bildungssystem weiterentwickelt
werden soll. Auch diesbezüglich treten wir auf der
Stelle. Ich kann nur das wiederholen, was ein Kollege
vorhin gesagt hat: Es kann doch nicht sein, dass wir die
UN-Behindertenrechtskonvention ratifizieren – das ha-
ben wir vor fünf Jahren hier getan – und in diesem Punkt
aber immer noch auf der Stelle treten. Wir können als
Bund doch nicht sagen: „Das liegt im Zuständigkeitsbe-
reich der Länder; Stichwort ‚Länderhoheit‘“, während
die Länder wiederum sagen: „Barrierefreie Schulen sind
Aufgabe der Kommunen“, und die Kommunen wiederum
sagen: „Wer bestellt, der zahlt.“ – Das Ergebnis ist: Bei
der Inklusion herrscht Stillstand. Das können wir uns
nicht leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Dieses Problem müssen wir angehen. Auch deshalb ge-
hört dieses Kooperationsverbot abgeschafft.

An dieser Stelle würde ich gerne Frau Sylvia
Löhrmann, die derzeitige KMK-Präsidentin, zitieren,
weil ihr Name und das Land Niedersachsen hier öfter ge-
nannt worden sind.


(Sven Volmering [CDU/CSU]: Die kommt aus NRW!)


– NRW. Habe ich nicht NRW gesagt? Entschuldigung,
ich habe mich versprochen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nordrhein-Westfalen! – Albert Rupprecht [CDU/ CSU]: Oder aus der Schweiz vielleicht? Wer ist denn das eigentlich?)


– Nordrhein-Westfalen. Liebe Kollegen, ich meinte
Nordrhein-Westfalen. Ruhig Blut! Da ich nur noch ein
paar Sekunden Redezeit habe, bin ich irgendwie unter
Druck.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Niedersachsen ich, NRW Löhrmann! Aus Berlin kann man das schon mal verwechseln! Eben schön hier in Brandenburg, Özcan!)


– Gut.

Frau Löhrmann hat gesagt: Wir müssen wegkommen
von einem Denken in Zuständigkeiten und hinkommen
zu einem Denken in Verantwortlichkeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie hat recht. Deshalb sage ich: Das, was Sie hier prakti-
zieren, ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Das Fest-
halten an dem Kooperationsverbot ist verantwortungs-
los. Nutzen Sie die Chance: Nehmen Sie unseren Antrag
an, korrigieren Sie die Fehler aus der FödKom II. Lassen
Sie uns gemeinsam etwas für die Bildung unserer Kinder
und Jugendlichen tun und nicht nur für die universitäre
Bildung. Das ist wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805806900

Als nächster Redner hat der Kollege Tankred

Schipanski das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1805807000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das ist heute eine lebhafte Debatte. Wir würden uns na-
türlich ein bisschen mehr Sachlichkeit wünschen. Herr
Mutlu, das wäre fein. Ich hoffe, Frau Meiritz von Spiegel
Online schaut zu. Sie hat neulich kritisiert, die Debatten
seien nicht mehr lebhaft und die Geschäftsordnung sei so
schwierig. Ich muss sagen: Die Debatte heute ist alles
andere als langweilig. Das macht Spaß. Unsere Ministe-
rin hat in ihrer Rede von einem Gesamtpaket gespro-
chen. Die Grünen dagegen sprechen von einer Junktims-
klausel, von Erpressung.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, dies ist ein Festtag für die
Bundesländer. Das ist eine Festtagswoche für die Bun-
desländer: Gestern gab es eine Milliardenentlastung beim
BAföG, und heute schaffen wir die rechtlichen Grundla-
gen, damit sich der Bund dauerhaft und nicht nur tempo-
rär an den Kosten für die Hochschulen beteiligen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Oliver Kaczmarek [SPD] – Zuruf von der CDU/CSU: Halleluja!)


Das ist wie Ostern und Weihnachten zusammen. Da
kann man überhaupt nicht von Erpressung sprechen.
Das, was Sie hier machen, ist ganz schlechter politischer
Stil.

Wenn ich nach links, auf die Bundesratsbank, blicke,
bin ich aber bitter enttäuscht. Ich möchte unseren Bun-
desländern bei der zweiten und dritten Lesung eine
zweite Chance geben. Ich möchte aber sagen: Ein Wort





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

des Dankes ist bei so viel Engagement des Bundes für
unsere Bildungsrepublik Deutschland mehr als ange-
bracht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805807100

Herr Kollege Schipanski, lassen Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Rossmann zu?


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1805807200

Eine Zwischenfrage? – Aber gerne.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1805807300

Herr Kollege Schipanski, ich möchte es so in eine

Frage kleiden: Haben Sie Verständnis dafür, dass die
Kultusministerkonferenz langfristig zu planen ist, sodass
sie sich mit den manchmal kurzfristig festgelegten Ta-
gesordnungen des Bundestages nicht so leicht vereinba-
ren lässt? Aktuell findet eine Kultusministerkonferenz
statt, an der CDU-Minister, SPD-Minister und andere
Minister teilnehmen.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Es gibt auch Mitarbeiter!)


Wir sollten deshalb die Erwartung bzw. den Wunsch aus-
drücken, dass, wenn Weihnachten ist, wenn wir diesen
Gesetzentwurf verabschieden, die Bundesratsbank be-
setzt ist.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1805807400

Lieber Kollege Rossmann, Sie haben es schon gehört:

Den Landesregierungen gehören nicht nur Kultusminis-
ter an. Es gibt auch Bevollmächtigte beim Bund, die re-
gelmäßig an den Sitzungen teilnehmen, wenn wir über
innere Sicherheit und Ähnliches sprechen. Von daher
hätte ich die Anwesenheit von Ländervertretern als an-
gemessen empfunden. Ich habe gesagt: In der zweiten
und dritten Lesung wird es sicherlich die Möglichkeit
geben, das Engagement des Bundes seitens des Bundes-
rates zu würdigen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist eigentlich die Kanzlerin? Wie steht die Kanzlerin eigentlich zum Kooperationsverbot?)


Das klare Bekenntnis von Politik und Wissenschaft
lautet: Die Hochschulen sind das Herzstück unseres
Wissenschaftssystems. Dieses Herzstück lag bis dato in
der alleinigen Verantwortung der Bundesländer. Diese
nehmen aus gesamtstaatlicher Sicht ihre Verantwortung
nicht vollumfänglich wahr. Daher hilft der Bund seit vie-
len Jahren mit ganz besonderen Konstruktionen. Die
Pakte, die durch die Grundgesetzänderung von 2006 er-
möglicht wurden, sind bereits angesprochen worden.
Aber auch diese Pakte haben ihre rechtlichen Grenzen
erreicht. Wir wollen – das wurde mehrfach angespro-
chen – die Auseinanderentwicklung von außeruniversitä-
ren Forschungseinrichtungen und Hochschulen aufhalten.
Daher liegt heute dieser Gesetzentwurf zur Verfassungs-
änderung vor. Es ist ein historischer Gesetzentwurf, über
den wir seit 2010 diskutieren, den wir 2011 auf dem
Bundesparteitag der CDU faktisch ein Stückchen voran-
gebracht haben, den alle Wissenschaftsorganisationen
seit langem gefordert haben und der einen breiten gesell-
schaftlichen Konsens aufgreift.

Es hat etwas lange gedauert; da hat Herr Gehring
durchaus recht. Man kann aber ohne Goethe sagen: Gut
Ding will Weile haben. Wir haben nun einen Formulie-
rungsvorschlag gefunden, der auch den Bundesrat zu-
friedenstellt. Erinnern wir uns an die letzte Legislaturpe-
riode: Da haben wir einen Änderungsantrag eingebracht,
der im Bundesrat aufgehalten, blockiert wurde. Wir
brauchen für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittel-
mehrheit bei Bundesrat und Bundestag. Von daher freue
ich mich, dass der Bundesrat jetzt zustimmt.

Das KIT in Karlsruhe wurde angesprochen. Wir ha-
ben dort mittlerweile Erfahrungen gesammelt, wie Ko-
operationen zwischen Unis und außeruniversitären Ein-
richtungen laufen können. Ich finde sehr spannend, was
die Fraunhofer-Gesellschaft gegenwärtig vorschlägt: re-
gionale Leistungszentren, wo sich um die Universitäten
herum ein Konzept zur Zusammenarbeit entwickelt. Ich
denke, das ist mit Blick auf Artikel 91 b Grundgesetz ein
interessanter Vorschlag. Für uns ist wichtig, dass Hoch-
schulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
auf Augenhöhe verhandeln.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes macht es erstmals möglich, dass sich der
Bund institutionell engagiert. Für uns ist klar, dass wir
das Geld nicht mit der Gießkanne verteilen, sondern dass
wir dies – genau so, wie es im Gesetzentwurf steht – an
gewissen Kriterien festmachen. Die überregionale Be-
deutung wurde angesprochen. Es geht um Ausstrah-
lungskraft. Dies muss nicht international sein, sondern
kann auch national sein. Wir wollen – auch das steht in
der Gesetzesbegründung – mit dieser Verfassungsände-
rung Exzellenz in Breite und in Spitze verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Breite und Spitze!)


– So ist es, Breite und Spitze.

Die vorgeschlagene Verfassungsänderung löst keines-
falls nur die Hälfte des Problems, wie es von den Grünen
formuliert wird.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Drittel oder ein Viertel!)


Es ist auch nicht nur der kleine Finger einer Hand, son-
dern wir strecken den Bundesländern die ganze Hand
entgegen,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir haben zwei Hände!)


um unsere Kooperationskultur zu vertiefen.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben aber nur Sie! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man braucht beide Hände!)






Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Wir modernisieren den Föderalismus, der in sich selbst
bereits ein Kooperationsgebot enthält. Daher ist die oft
verwendete Vokabel Kooperationsverbot hier falsch.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Der war gut!)


Wenn man den Populismus hinsichtlich des Schulbe-
reichs in dieser Debatte hört, muss man sagen, dass jedes
Bundesland bereits jetzt die Möglichkeit hat, einheitli-
che Schulbücher und einheitliche Lehrpläne einzufüh-
ren.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, Sie sind gegen Einheitsschulen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um Einheitlichkeit!)


Jedes Bundesland hat die Möglichkeit, Sozialpädagogen
einzustellen, digitale Bildungsangebote zu etablieren,
Ganztagsschulen und Horte einzuführen sowie Inklusion
zu betreiben. Dafür bedarf es keiner Grundgesetzände-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: In welchem Land leben Sie denn?)


Leider machen die Bundesländer das nicht; aber das ist
nicht unsere Aufgabe.

Die Länder haben darüber hinaus die Möglichkeit,
sich über ihre Landesgrenzen hinweg zu verständigen,
welche Standards, welche Prüfungen gelten und welche
Bücher in Gesamtdeutschland verwendet werden sollen.
Auch dazu bedarf es keiner Grundgesetzänderung. Ich
verweise auf die Homepage der Kultusministerkonfe-
renz, die ja gerade tagt: Es gibt knapp 150 Vereinbarun-
gen zu gemeinsamen Bildungsstandards, Aufgabenpools,
Zentralprüfungen und der Anerkennung von Abschlüs-
sen. Das sind 150 Vereinbarungen für mehr Vergleich-
barkeit und Einheitlichkeit im deutschen Schulwesen.
Ich appelliere, diese Vereinbarungen nunmehr in einen
verbindlichen Staatsvertrag zwischen den Ländern auf-
zunehmen. Somit hätten wir mehr Transparenz, mehr
Verbindlichkeit, und wir könnten dem Eindruck eines
Wirrwarrs, der hier entsteht, ein ganzes Stück entgegen-
treten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Klar ist: Die Defizite in der Zusammenarbeit der Bun-
desländer untereinander können nicht mit einer Verfas-
sungsänderung behoben werden. Das muss unser Koali-
tionspartner anerkennen. Liebe Frau Gohlke, das hat
auch nichts mit Ideologie zu tun.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Nein!)


Eine Grundgesetzänderung im Bereich der Schule
wird nicht dazu führen, dass es in den Schulen plötzlich
iPads regnet oder Schulen renoviert werden.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es regnet rein in die Schulen, das ist das Problem! Weil der Bund kein Geld geben darf!)


Wir haben eine klare, ausgewogene und funktionale
Aufgabenverteilung in unserem Bundesstaat. Damit ver-
bunden sind föderale Finanzbeziehungen. Wir haben,
lieber Herr Röspel, auch einen Länderfinanzausgleich,
der für genau diese Chancengleichheit in den einzelnen
Bundesländern sorgen soll.


(Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])


Die Bundesländer müssen lernen, dass der Bund keine
zu melkende Kuh ist, die ausgleicht, wenn man in den
Landeshaushalten falsche Schwerpunkte setzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – aber es gab
ja die Zwischenfrage, ohne dass die Uhr gestoppt
wurde –:


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die melkende Kuh!)


Dem Bund liegt das Gesamtwohl sehr am Herzen. Daher
freuen wir uns auf diese Beratungen. Wir geben den
Hochschulen mehr Planungssicherheit. Es geht um Inno-
vationskraft, um die Leistungsfähigkeit unseres Bildungs-
systems. Von daher: Stimmen Sie, liebe Damen und Her-
ren der Opposition, diesem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805807500

Als nächster Redner hat der Kollege Oliver

Kaczmarek das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1805807600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ob das jetzt die ganze Hand, der kleine Finger, ein Drit-
tel oder wie auch immer ist, ich will es mal so formulie-
ren: Zur Kooperation im gesamten Bildungsbereich ist
das heute der erste wichtige Schritt. Der Süden der Re-
publik – es ist ja nicht nur Herr Kretschmann zu über-
zeugen, sondern Herr Spaenle auch noch – braucht noch
ein bisschen Zeit auf dem Weg der Erkenntnis. Die räu-
men wir denen auch ein.

Es ist wichtig, dass wir mit dieser geplanten Grundge-
setzänderung auch etwas anfangen. Das ist ja hier bereits
in einigen Beiträgen deutlich geworden.


(Beifall bei der SPD)


Es stehen einige Entscheidungen an. Der Blick in den
Koalitionsvertrag hilft, um zu sehen, was auf der Agenda
steht: Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Pakt für For-
schung und Innovation, Qualitätspakt Lehre – das sind
Elemente, die das Wissenschaftssystem strukturell be-
einflusst und die internationale Sichtbarkeit Deutsch-
lands als Wissenschaftsstandort nach vorne gebracht ha-
ben. Diesen Impuls wollen wir inhaltlich und strategisch
nachhaltig aufgreifen, weiterentwickeln. Das ist die He-
rausforderung für diese Wahlperiode.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)






Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)

Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Grundfinan-
zierung der Hochschulen zu verbessern – das steht im
Koalitionsvertrag –, die akademische und berufliche Bil-
dung besser miteinander zu verzahnen sowie planbare
und verlässliche Karrierewege in der Wissenschaft zu
schaffen. Deswegen mein Appell an dieser Stelle: Der
Bund muss seinen Gestaltungsraum, der ihm neu eröff-
net wird, umfassend sehen. Exzellenz, damit auch die in-
ternationale Sichtbarkeit des Wissenschaftsstandortes,
und die Breitenförderung sind für uns untrennbar mit-
einander verbunden. Das müssen wir konzeptionell un-
termauern.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU])


Meine Damen und Herren, Kooperation bedeutet,
dass mindestens zwei gleichrangige Partner auf Augen-
höhe miteinander kooperieren. Deswegen möchte ich
gerne zwei Anmerkungen zum Föderalismus machen.

Die erste ist: Der natürliche Kooperationspartner des
Bundes – das ist doch banal – in der Bildungspolitik, in
der Wissenschaftspolitik sind die Länder. Unser Födera-
lismusverständnis unterstreicht auch vor diesem Hinter-
grund in Zukunft die grundsätzliche Zuständigkeit der
Länder für die Wissenschaft.


(Beifall bei der SPD)


Das belegt auch ein Blick in die Zahlen. Die Gesamtaus-
gaben – ich habe es bereits an diesem Platz gesagt,
möchte es aber wiederholen – für die Hochschulen tra-
gen die Länder zu etwa zwei Dritteln, und der Bund
leistet einen wichtigen Beitrag von – gesteigert – etwa
einem Achtel. Wir sollten bei unseren Debatten im Deut-
schen Bundestag nicht den Eindruck erwecken, als wäre
es genau umgekehrt. Die Länder haben die Grundzustän-
digkeit, und das wird auch so bleiben. Und die leisten
damit auch eine ganze Menge.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Eine zweite Anmerkung zum Föderalismus: Die Auf-
hebung des Kooperationsverbotes bedeutet eben nicht
die Aufhebung des Subsidiaritätsprinzips. Alles das, was
in den Ländern entschieden werden soll und muss, muss
auch dort entschieden werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Und wir haben auch die Aufgabe, das zu respektieren.
Das betrifft beispielsweise auch die Entscheidung der
Niedersächsischen Landesregierung, in die frühkindli-
che Bildung zu investieren.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Da gibt es eine Vereinbarung!)


Das ist doch eine Entscheidung – ich lasse jetzt mal bei-
seite, dass es weltexklusiv ist, wenn einige hier behaup-
ten, vorschulische Bildung habe nichts mit schulischer
Bildung zu tun –, die der Landtag getroffen hat, weil es
offensichtlich einen Bedarf gibt. Und wir – das ist unser
Föderalismusverständnis – haben diese Entscheidung an
der Stelle zu akzeptieren.

Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, dass die
Bundesländer mit der BAföG-Entlastung nicht richtig
umgehen können. Gestern ist hier Nordrhein-Westfalen
genannt worden. Ich finde, man muss damit redlich um-
gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Die können überhaupt nicht mit Geld umgehen!)


An der Stelle ein Hinweis: Allein für die Ausfinanzie-
rung des Hochschulpaktes II – dieses Bundesland trägt
allein die Hälfte des Aufwuchses, den die KMK jetzt
noch einmal oben draufgelegt hat, weil dort so viele
Leute studieren – werden zwischen 2015 und 2020
2,4 Milliarden Euro mehr aufgewendet. Die BAföG-Ent-
lastung – ich sage dies nur, weil es ganz wichtig ist; ohne
dem wäre es nämlich gar nicht möglich, in den Hoch-
schulpakt weiter zu investieren, auch was den Hoch-
schulpakt III angeht – wird in dem gleichen Zeitraum
1,7 Milliarden Euro betragen. Das ist also ein wichtiger
Beitrag zur Entlastung der Länder. Aber wir sollten nicht
so tun, als wenn die mit dem Geld nicht umgehen könn-
ten. Sie investieren genau in diesen Zweck, nämlich in
die Verbesserung der Studienbedingungen und der Wis-
senschaft.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb komme ich zu der Schlussfolgerung: Wer
Kooperationen will, der braucht auch eine Kultur der
Kooperation.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die drei Hochschulpakte sind ein gutes Beispiel für ge-
lungene Kooperation; andere Beispiele sind hier schon
angesprochen worden. Aber von diesem Platz soll mir
bitte keiner erzählen, dass diejenigen, mit denen wir ko-
operieren wollen und müssen, zur Kooperation gar nicht
in der Lage oder willens sind. Das entspricht nicht den
Tatsachen. Wir sollten im Interesse des Parlaments eine
andere Tonart einschlagen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805807700

Herr Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Rupprecht?


Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1805807800

Ja, gerne.


Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1805807900

Eine Frage zu stellen, nachdem ich heute schon reden

konnte, ist fast schon unfair, aber diese Sache brennt mir
auf den Nägeln.

Sie sprechen von einer Kooperationskultur. Ich glaube,
zur Kooperation gehört Vertrauen. Es ist doch so: Wir ha-
ben aus unserem Haushalt 1,17 Milliarden Euro bereit-
gestellt, um 35 Prozent der von den Ländern zu tragen-
den BAföG-Kosten zu übernehmen. Wir schultern





Albert Rupprecht


(A) (C)



(D)(B)

diesen Kraftakt. Es gibt eine Vereinbarung zwischen den
Vertretern von Bund und Ländern, dass diese freiwer-
denden Mittel Schulen und Hochschulen zugutekom-
men. Wenige Tage später sagt der Ministerpräsident von
Niedersachsen: Diese Vereinbarung interessiert uns
nicht, wir investieren das Geld da, wo wir wollen. – Ich
möchte ernsthaft die Frage stellen, ob das vertrauensför-
dernd ist.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt so nicht! Das ist nach der Vereinbarung ausdrücklich möglich! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehen Sie sich die Vereinbarung genau an! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kennen Sie die Vereinbarung?)


Ich bitte um Verständnis: Zur Kooperation, zur Zusam-
menarbeit gehört Vertrauen. Vertrauen heißt, Vereinba-
rungen einzuhalten.


Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1805808000

Vertrauen heißt, dass wir darauf vertrauen, dass die

Länder verantwortungsvoll mit dem Geld umgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden nur dann dagegen protestieren, wenn wir
Grund zu der Annahme haben, dass das nicht der Fall ist.
Ich sage noch einmal: Die Annahme, dass die vorschuli-
sche Bildung nichts mit der schulischen Bildung zu tun
habe, teile ich nicht. Deswegen können wir es einer Lan-
desregierung, die einen offensichtlichen Bedarf auf-
greift, nicht vorwerfen – das wäre absurd –, dass sie in
frühkindliche Bildung investiert. Das halte ich für kei-
nen Beitrag zu einer Kooperationskultur.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805808100

Herr Kaczmarek, es gibt den Wunsch nach einer

zweiten Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen
Hubertus Heil.


Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1805808200

Gern, natürlich.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1805808300

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist unge-

wöhnlich, sich hier zu Wort zu melden; denn wir beide,
Herr Rupprecht und ich, haben in der Debatte bereits ge-
sprochen. Aber als Niedersachse fühle ich mich doch he-
rausgefordert, etwas dazu zu sagen.

Herr Kaczmarek, könnten Sie dem Kollegen
Rupprecht, unserem geschätzten Koalitionspartner,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Betonung auf „geschätzt“!)


bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine Vereinba-
rung zwischen Bund und Ländern gibt, die die Verwen-
dung der Mittel schwerpunktmäßig im Bereich Hoch-
schule und Schule sieht? Das macht Niedersachsen im
Übrigen auch.


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Genau das macht es nicht!)


Schwerpunkt heißt aber auch: Man kann bei Bedarf
davon abweichen. Da die Vorgängerregierung – das war
eine schwarz-gelbe – zu wenig im Bereich von Kitas ge-
macht hat, gehört das Geld in den Kitabereich.

Der Bildungsbegriff ist umfassend. Die Verwendung
der Mittel auf diese Weise ist rechtlich möglich. Das ist
keine falsche Verwendung der Mittel, was der Fall wäre,
wenn das Geld beispielsweise in den Ausbau von Park-
buchten gesteckt würde. Das Geld geht in Niedersachsen
eins zu eins in die Bildung: in Schule, Hochschule und
Kita. Könnten Sie den Kollegen einfach bitten, dass er
das zur Kenntnis nimmt?


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805808400

Soweit dies in Form einer Frage geschieht, wird den

Anforderungen Rechnung getragen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1805808500

Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für den Hinweis

und werde Ihre Worte bei geeigneter Gelegenheit in ei-
nem Gespräch übermitteln.


(Heiterkeit)


Ich will zum Schluss kommen. Ich glaube, wir sollten
verhindern, dass Kooperationen in Zukunft eine Sache
– mit Verlaub, Frau Ministerin – der Staatssekretäre und
Minister auf der Verwaltungsebene werden. Wir sollten
ein Interesse daran haben, dass das Parlament bei zu-
künftigen Kooperationen deutlich mehr mitarbeitet. Des-
wegen brauchen wir inhaltliche Debatten, um diesen
großzügigen Rahmen, den wir geschaffen haben, voll
auszunutzen. Wenn das der Kerngehalt und das Wesen
der Debatten für die Zukunft sind, dann bin ich da sehr
zuversichtlich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805808600

Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin

Dinges-Dierig das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alexandra Dinges-Dierig (CDU):
Rede ID: ID1805808700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unter dem Eindruck der gerade geführten Debatte will
ich Ihnen Folgendes sagen: Ich war vorgestern, am Mitt-
wochabend, in Bad Honnef und habe dort an einem Tref-
fen von über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern, Funktionären unserer Hochschulen, aber auch
außeruniversitärer Forschungseinrichtungen teilgenom-





Alexandra Dinges-Dierig


(A) (C)



(D)(B)

men, bei dem es zu einer sehr heftigen Diskussion kam.
Sie war deshalb heftig, weil die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler nicht wussten, dass ein Vertreter der
Politik im Raum war. Ich war zwar anwesend, irgendwo
zwischendrin, aber ansonsten waren sie unter sich. Sie
haben dann über die Politik hergezogen und gefordert,
dass die Politik das einmal zur Kenntnis nehmen sollte.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist aber normal!)


Auf der einen Seite war es amüsant. Auf der anderen
Seite denke ich: Das, was wir hier heute abgeliefert ha-
ben, ging ein Stück in diese Richtung. Ich habe das Ge-
fühl, dass wir uns vielleicht doch ein bisschen zu viel mit
uns selber, der Verteilung von Kompetenzen und Verant-
wortlichkeiten zwischen Bund und Ländern und nicht so
sehr mit dem Kern, nämlich der Zukunft unserer Gesell-
schaft und dem Beitrag der Wissenschaft dazu, beschäf-
tigen. An dieser Stelle sollten wir die Emotionen hier im
Saal ein bisschen runterfahren und sagen: Unser Wissen-
schaftssystem, wie wir es heute haben, übt international
unglaubliche Anziehungskraft aus.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie üben jetzt das Politiker-Bashing, das Sie selber kritisieren! Unglaublich!)


Auch Stefan Hell, der bekanntermaßen gerade den
Nobelpreis erhalten hat, hat das vor zwei Tagen gesagt.
Die Wissenschaftslandschaft in Deutschland wird inter-
national nun ganz anders wahrgenommen. Das ist natür-
lich ein Verdienst von Bund und Ländern, die einen ge-
wissen Rahmen gesetzt haben. In allererster Linie ist es
aber ein Verdienst der Wissenschaft selber. Deshalb
möchte ich an der Stelle einfach einmal Danke an die
Wissenschaft sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt eine Botschaft!)


Wir wissen natürlich auch, dass wir nicht stehen blei-
ben dürfen. Deshalb diskutieren wir ja auch und fragen
uns: Wie könnte es denn weitergehen? Was haben wir
für Erkenntnisse aus den letzten Jahren und Jahrzehnten
gewonnen? Wir lagen weit zurück. Herr Rossmann, ich
glaube, Sie haben Ihre Ausführungen mit einer Rückbe-
trachtung auf das Jahr 1969 angefangen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: 1949!)


– 1949 sogar. Entschuldigung. – Wo wollen wir denn
nun eigentlich hin, und welche Rolle spielt denn jetzt der
Artikel 91 b Grundgesetz in dieser ganzen Ausführung?


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, da bin aber gespannt, was Sie uns erzählen!)


Ich möchte vorab an dieser Stelle betonen: Ich selber
bin überzeugt vom Föderalismus. Föderalismus bedeutet
für mich auch die Achtung der Entscheidungen derjeni-
gen, die Verantwortung tragen. Das sind in dem Fall die
Länder, die hier heute leider nicht vertreten sind; darüber
haben wir aber schon gesprochen. Föderalismus bedeu-
tet aber auch: Wir haben eine Chance, um die besten
Wege zu ringen und dann voneinander zu lernen. Auch
das haben wir immer getan.

Ich weiß, wie schwierig es ist, nach draußen verständ-
lich zu machen, warum es eigentlich sinnvoller ist, dass
mehrere Länder eine Verantwortung haben, als dass der
Bund sagt: Da soll es langgehen. – Das ist sehr schwie-
rig. Wenn man vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgern
spricht – hier greife ich ein Stück weit auf meine Zeit vor
meiner Mitgliedschaft im Bundestag zurück –, muss
man ihnen deutlich machen, dass nicht allein der Wech-
sel der Schule wegen eines Umzugs von einem Bundes-
land in ein anderes ein Problem ist, sondern dass jeder
Wechsel einer Schule, auch innerhalb eines Bundeslan-
des, nicht unerhebliche Probleme mit sich bringt. Das
liegt daran, dass die handelnden Personen vor Ort die
Qualität bestimmen. Die Schulen kennen ihre Kinder vor
Ort, und auch die Universitäten und Fachhochschulen
wissen, mit welchen Studierenden sie es zu tun haben
und mit welchem Lehrpersonal die größten Chancen be-
stehen, das Beste aus ihnen herauszuholen. Deshalb un-
terstütze ich die föderale Grundordnung hundertprozen-
tig.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805808800

Frau Dinges-Dierig, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Gehring zu?


Alexandra Dinges-Dierig (CDU):
Rede ID: ID1805808900

Ja, gerne.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805809000

Nachdem wir eben Zeuge öffentlicher Verhandlungen

innerhalb der Koalition über die Interpretation einer
Bund-Länder-Vereinbarung in Bezug auf das Bildungs-
und Wissenschaftspaket wurden und Sie für die Unions-
fraktion gerade ausgeführt haben, dass Sie unseren Fö-
deralismus sinnvoll finden und die Entscheidungen der
Länder achten, möchte ich Sie fragen: Achtet denn die
Unionsfraktion die Handlungsfreiheit der 16 Bundeslän-
der, die auf der Basis der gemeinsamen Vereinbarung
zum 6-plus-3-Milliarden-Paket jetzt 16 individuelle Bil-
dungs- und Wissenschaftspakete schnüren und genau
von dieser Freiheit, die die Vereinbarung lässt, Gebrauch
machen? Es wäre am Ende einer solchen Debatte sicher-
lich eine spannende und wichtige Klarstellung gegen-
über den Ländern, die, wie Sie gerade betont haben, im
Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung Handlungsfrei-
heit haben und diese jetzt 16-mal ausüben.


Alexandra Dinges-Dierig (CDU):
Rede ID: ID1805809100

Herr Gehring, ich sage hier ganz deutlich, dass ich die

Entscheidungen der Länder respektiere, sofern sie sich
an Vereinbarungen, und zwar Vereinbarungen im Sinne
des ehrbaren Kaufmanns – nicht im Sinne eines Staats-
vertrags –, halten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rainer Spiering [SPD]: Das war keine schlechte Antwort! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die Frage war gut und die Antwort auch!)






Alexandra Dinges-Dierig


(A) (C)



(B)

Meine Damen und Herren, die grundlegende Verant-
wortung für die Hochschulen haben die Länder, und das
wird und soll auch so bleiben; das hatte ich eben ausge-
führt. Es stellt sich aber jetzt die Frage, in welchen Wis-
senschaftsbereichen wir durch eine Veränderung des
Artikels 91 b Grundgesetz noch mehr und stärker koope-
rieren können als bisher. Was bringt uns das für Vorteile?

Ich sage ganz klar: Wenn wir auf die Herausforderun-
gen der Zukunft eine Antwort haben wollen und wenn
wir dabei Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit
– das Thema hatten wir neulich im Ausschuss – berück-
sichtigen wollen, das heißt, wenn wir der Gesellschaft
von morgen etwas hinterlassen wollen, worauf sie auf-
bauen kann, dann brauchen wir einerseits eine verlässli-
che Grundfinanzierung durch die Länder und andererseits
eine stetige Zusammenarbeit von Bund und Ländern in
ausgewählten Bereichen. Das halte ich für sehr wichtig.
Deshalb appelliere ich ganz deutlich an die Länder, ihrer
Verantwortung gerecht zu werden und nicht – das be-
fürchte ich ein bisschen – zu denken, sie könnten aufgrund
der erweiterten Bund-Länder-Zusammenarbeit vielleicht
an der einen oder anderen Stelle bei der Grundfinanzie-
rung sparen. Das darf nicht passieren. Die Zusammenar-
beit bedeutet ein Plus und kein Substitut.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte noch einmal auf die Tagung zurückkom-
men. Es ging dort schwerpunktmäßig um die Exzellenz-
initiative und deren Zukunft. Ich glaube, es ist wichtig,
einmal zu erkennen, was durch die Kooperation eigent-
lich erreicht worden ist. Deshalb ärgere ich mich immer
über den Begriff „Kooperationsverbot“;


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der stimmt!)


denn das gab es ja gar nicht.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist 2006 eingeführt worden!)


Die Kooperation der vergangenen Jahre hat zu einem
Paradigmenwechsel im Wissenschaftsbereich geführt.
Wir haben eine Dynamik im Wissenschaftsbereich, die
uns niemand vorausgesagt hat. Kanada und die USA ha-
ben vor 15 Jahren noch nicht einmal mit dem linken
Auge geblinzelt, wenn es um den Wissenschaftsstandort
Deutschland ging. Heute lädt Kanada Deutschland ein,
um uns zu fragen: Wie macht ihr das eigentlich? Was
habt ihr in den letzten zehn Jahren gemacht? Ihr seid
ganz oben. – Kanada wird demnächst sogar unsere Ex-
zellenzinitiative in den wichtigen Linien übernehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben in diesem Bereich drei ganz wichtige
Punkte: Wir haben die Nachwuchsförderung – ohne die
besten Köpfe geht es nicht –, wir haben die Kooperation
zwischen den Wissenschaftseinrichtungen, und zwar
sowohl zwischen Hochschulen und außeruniversitären
Einrichtungen als auch zwischen Hochschulen und
Fachhochschulen, und wir haben veränderte Hochschul-
strukturen. Genau da können wir jetzt Entwicklungen
verstetigen, und dazu leisten wir mit der Änderung des
Artikels 91 b unseren Beitrag.
Exzellente Forschung schafft auch exzellente Lehre;
das ist ganz wichtig. Exzellente Forschung und exzel-
lente Lehre motivieren junge Menschen, diesen Weg zu
gehen. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir hier
weitermachen. Nur dort haben wir die gut ausgebildeten
Köpfe, die wir morgen brauchen, in Ergänzung zu unse-
rem hervorragenden Berufsbildungssystem.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die Änderung des Artikels 91 b Grundgesetz wird uns
– davon bin ich fest überzeugt – die für die Hochschulen
und damit für die Gesellschaft entscheidenden Zukunfts-
fragen im gemeinsamen Ringen besser beantworten las-
sen. Deshalb begrüße ich die neue Formulierung für den
Hochschulbereich sehr. Ich bin auch fest davon über-
zeugt, dass die deutsche Forschungslandschaft das ge-
nauso sieht wie wir.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805809200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe diese

wirklich spannende Debatte. Es ist doch sehr schön,
wenn man feststellt, dass Entscheidungen, die manchmal
hoch strittig durchgesetzt werden mussten, anschließend
von vielen für gut gehalten werden.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/2710 und 18/2747 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren

Lay, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesetzliche Deckelung und Veröffentlichung
der Zinssätze für Dispo- und Überziehungs-
kredite
Drucksache 18/2741
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,

Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Begrenzung und Vereinheitlichung der
Zinssätze für Dispo- und Überziehungs-
kredite

– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Begrenzung von Dispositions- und Über-
ziehungszinsen

Drucksachen 18/807, 18/1342, 18/2777

(D)






Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Ich weise noch einmal darauf hin, dass nach einer in-
terfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 38 Mi-
nuten vorgesehen sind, und frage die Kolleginnen und
Kollegen, ob es dazu Widerspruch gibt. – Das ist nicht
der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Die Kolleginnen und Kollegen haben inzwischen ihre
Plätze eingenommen. Dann kann ich die Aussprache er-
öffnen. Ich erteile als erster Rednerin der Kollegin Caren
Lay das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805809300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zum wiederholten Male beschäftigt sich das
Hohe Haus mit einem Antrag der Linken, der zum Ge-
genstand hat, dass Dispozinsen endlich gedeckelt wer-
den sollen. Ich sage bewusst: zum wiederholten Male.
Die CDU/CSU-Fraktion war in der Ausschusssitzung
diese Woche so freundlich, das nachzurechnen. In der
Tat, der erste linke Antrag zu diesem Thema wurde
schon vor fünf Jahren eingebracht. Das wurde uns nicht
nur vorgerechnet, sondern auch ein Stück weit vorge-
worfen. Diesen Vorwurf kann ich aber nicht verstehen.
Denn an dem Problem hat sich nichts geändert. Ich darf
Ihnen versprechen, dass die Linke dort, wo Probleme be-
stehen, dranbleiben wird und wir das Thema Deckelung
der Dispozinsen immer wieder auf die Tagesordnung
setzen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Problem ist in der Tat seit langem bekannt. Die
Dispozinsen sind viel zu hoch. Wir haben nach wie vor
die Situation, dass sich die Banken ihr Geld zu einem
historisch niedrigen Leitzins bei der Europäischen Zen-
tralbank leihen können. Dort liegt der Leitzins gerade
einmal bei 0,05 Prozent. Aber sie verleihen es weiter zu
einem durchschnittlichen Dispozinssatz von 10,65 Pro-
zent. Dazwischen liegt eine Spanne von über 10 Prozent-
punkten, wodurch sich die Banken auf Kosten der Ver-
braucherinnen und Verbraucher bereichern. Das ist zu
viel. Das ist kein fairer Preis, und das können wir als
Linke nicht akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Analyse bestand zumindest am Ende der letz-
ten Legislaturperiode kurz vor dem Wahlkampf in die-
sem Hohen Haus Einigkeit. Ich bin sehr gespannt, ob wir
uns wenigstens noch in der Analyse einig sind. Bisher
bestand die Differenz in der Frage, wie wir mit dem Pro-
blem umgehen. Insbesondere die CDU/CSU, aber auch
die FDP haben die Position vertreten, noch einmal mit
den Banken zu reden. Die Ministerin hat damals die
Banken zu Kamingesprächen eingeladen und es ansons-
ten bei freundlichen Appellen belassen. Alle diese
freundlichen Appelle haben nichts genützt. Deswegen
sagen wir: Die Politik muss endlich handeln. Wir brau-
chen einen gesetzlichen Deckel für die Dispozinsen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unser Vorschlag ist eine Deckelung auf 5 Prozent-
punkte über dem Leitzins der Europäischen Zentralbank.
Daran würden die Banken immer noch genug verdienen,
aber bei fairen Preisen für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.

Deswegen möchte ich mich gerne im zweiten Teil
meiner Rede mit Ihren Einwänden beschäftigen, die si-
cherlich gleich kommen werden. Erstens wird mit Hin-
weis darauf, dass man keine Preisvorschriften machen
kann, infrage gestellt, ob man überhaupt eine gesetzliche
Deckelung einführen kann. Ja, meine Damen und Her-
ren, das kann man. Eine vergleichbare gesetzliche Vor-
schrift gibt es bereits bei den Verzugszinsen. Daran ha-
ben wir uns orientiert. Der Deckel liegt ebenfalls bei
5 Prozentpunkten. Deswegen sagen wir: Was beim Ver-
zugszins gesetzlich möglich ist, das muss auch beim
Dispo möglich sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens wird gerne auf den Markt verwiesen und ge-
sagt, man solle die Verbraucherinnen und Verbraucher
nicht bevormunden; das könne der Markt regeln, und je-
der könne sich doch eine andere Bank suchen. Davon
abgesehen, dass die Höhe des Dispozinses nicht das ein-
zige Kriterium bei der Auswahl der Bank ist – es geht
schließlich auch um ein gutes Filialnetz oder eine wohn-
ortnahe Beratungsmöglichkeit –, empfehle ich Ihnen,
diesen Test in Ihrem eigenen Wahlkreis durchzuführen.
Ich habe das gemacht und mir den Landkreis Bautzen
angesehen. Sie finden keine Filialbank, die einen Dispo-
zins von unter 10 Prozent anbietet. Deswegen ist dieses
Argument eine Illusion. Es läuft ins Leere.


(Beifall bei der LINKEN)


Das verschärft sich mit Blick darauf, welche Klientel
zum Großteil betroffen ist. Das sind diejenigen Men-
schen, die keine andere Chance haben, die vielleicht kei-
nen Ratenkredit kriegen oder aus einer ökonomischen
Notlage heraus gezwungen sind, einen Dispokredit auf-
zunehmen. Wenn jemand schon knietief im Dispo steckt,
ist es illusorisch, zu sagen: Such dir doch eine andere
Bank! – Bei welcher anderen Bank kann man in dieser
Situation ein Konto eröffnen? Diese Argumentation ist
nicht tragfähig.


(Beifall bei der LINKEN)


Das, was im Koalitionsvertrag steht, und das, was
vonseiten des Ministers angekündigt wurde, nämlich
dass man Transparenz herstellt und dafür sorgen will,
dass die Banken ausweisen, wie hoch die Dispozinsen
sind, kann man durchaus machen. Aber solange keine
niedrigeren Dispozinsen angeboten werden, wird das ins
Leere laufen. Deswegen sagen wir: Transparenz ist gut,
aber eine gesetzliche Regelung ist besser.


(Beifall bei der LINKEN)


Das dritte und letzte Gegenargument, auf das ich ein-
gehen möchte, lautet, die Banken brauchten die Einnah-
men aus den hohen Dispozinsen wegen der hohen Kos-
ten des Verwaltungsaufwands und wegen des hohen
Ausfallrisikos. Der Verwaltungsaufwand der Banken bei
einem Dispokredit kann nicht höher sein als der bei ei-





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

nem Ratenkredit. Zum Ausfallrisiko hat das Ministerium
selbst eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist:
Das Ausfallrisiko bei Dispokrediten ist mit 0,3 Prozent
lächerlich gering. – Diese Gegenargumentation ist also
nichts anderes als eine Schutzbehauptung. Diese können
wir nicht akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie sich von der CDU/CSU, wie ich vermute,
heute wieder gegen eine gesetzliche Deckelung des Dis-
pozinses aussprechen, dann sollten Sie den Menschen
reinen Wein einschenken. Die Stiftung Warentest hat be-
rechnet, dass die Banken mit jedem Prozentpunkt, den
sie bei den Dispozinsen ansetzen, 380 Millionen Euro im
Jahr verdienen. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestag
einen gesetzlichen Deckel beschließen würde, entginge
den Banken ein Milliardengeschäft. Es ist aber ein Ge-
schäft, das unfair ist und auf Kosten der Verbraucherin-
nen und Verbraucher geht. Deswegen sagen wir: Schen-
ken Sie den Menschen reinen Wein ein! Wenn Sie das
nicht wollen, dann knicken Sie vor der Bankenlobby ein.
Das machen wir nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


In den Bundesländern gibt es Druck. Beispielsweise
im Saarland, im Heimatland des Verbraucherministers
– er ist offenbar nicht anwesend; aber vielleicht kann
man ihm das mit auf den Weg geben –, hat ein entspre-
chendes Bürgerbegehren der Linken die erste Stufe des
Volksbegehrens erreicht. Das ist ein Erfolg und sollte Ih-
nen ein Signal sein, endlich tätig zu werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss. Ein weiteres Argument für
unser Anliegen ist: Die Verbraucherschutzministerkon-
ferenz hat auf Vorschlag des rot-rot regierten Branden-
burg eine gesetzliche Deckelung der Dispozinsen gefor-
dert. Ich kann nur sagen: Das ist eine richtige Forderung.
Folgen Sie diesem Beispiel! Setzen Sie diese Forderung
der Verbraucherschutzministerkonferenz um!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805809400

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Mechthild Heil

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1805809500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! „Und sie bewegen sich doch“ – mit
dieser positiven Nachricht beginnt der Artikel über die
Dispozinssätze in der Oktoberausgabe der Zeitschrift
Finanztest. Gemeint sind die Banken, die dem politi-
schen und dem öffentlichen Druck nachgegeben haben
– das gebe ich zu – und ihre Dispozinssätze gesenkt ha-
ben. Seitdem wir über die Höhe der Dispozinssätze spre-
chen, werden sie von Monat zu Monat gesenkt, und das
ist auch gut so. Das ist genau das, was wir erreichen
wollten. Die Banken haben sich bewegt, und das ganz
ohne staatlichen Eingriff.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das belegt auch die aktuelle Studie der Stiftung
Warentest. Rund drei Viertel der über 100 Banken, die
noch im letzten Jahr besonders hohe Zinssätze gefordert
haben, sind günstiger geworden. Ich kann an dieser
Stelle nur sagen: Schade, dass sich Grüne und Linke
nicht darüber freuen können. Aber ich sage auch ganz
deutlich: Wir sind hier noch nicht am Ende der Entwick-
lung. Liebe Banken, es ist noch viel Luft nach oben.
Nicht jeder in der Branche scheint den Pfiff gehört zu
haben. In Deckung zu gehen, den Kopf einzuziehen mit
der Vorstellung: „Der Sturm wird schon an uns vorüber-
ziehen; die Politik beruhigt sich schon wieder“, das ist
zu kurz gedacht. Das werden wir nicht akzeptieren.

Unsere Erwartungen an die Bankenbranche sind klar:
Gehen Sie mit Ihren Kunden fair um! – Erst wenn die
große Mehrheit der Kunden die Höhe der Dispozinsen
für angemessen hält, sind wir, aber auch Sie von den
Banken, zufrieden und am Ziel. Vorher werden die öf-
fentlichen Debatten und auch die politische Diskussion
– das garantiere ich – nicht enden. Deshalb sei noch ein-
mal ganz klar gesagt: Wir erwarten ein Austarieren der
Interessen der beiden Beteiligten, der Banken und der
Kunden. Aber wir wollen, wenn irgend möglich, keinen
staatlichen Eingriff. Denn die Nachteile, die ein staatlich
verordneter Deckel für die Verbraucher hätte, liegen auf
der Hand:

Der erste Nachteil. Wenn wir staatlich bestimmen,
welche Höhe für einen Dispozinssatz vertretbar ist, wer-
den sich alle Banken an diese Höhe halten. Nehmen wir
an, er liegt, wie Sie gefordert haben, bei 7 Prozent. Wa-
rum sollte eine Bank dann noch billigere Zinssätze an-
bieten? Warum sollte eine Bank, die heute Zinssätze von
4 oder 5 Prozent anbietet – es gibt sogar Banken, die
2 Prozent oder einen Zinssatz von null anbieten –, den
Zinssatz dann nicht auf 7 Prozent erhöhen? Heute bieten
Banken niedrigere Zinsen an, weil sie sich einen Wettbe-
werbsvorteil erhoffen. Kommt der Deckel, wird jede
Bank sofort sagen: 7 Prozent gilt allgemein als fair, also
halten wir uns daran. Mehr verlangt keiner von uns. Wa-
rum sollten wir mehr tun? – Das kann doch nur zulasten
der Verbraucher gehen. Deswegen sind wir dagegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich gebe Ihnen einen zweiten Aspekt zu bedenken:
Wenn wir das zulassen, scheren wir wieder alle Banken
über einen Kamm. Wir wissen aber natürlich alle – ich
habe das schon mehrmals gesagt –, dass die Banken
nicht gleich sind. Man kann eine Direktbank nicht mit
einer Filialbank vergleichen. In Bezug auf die Bereitstel-
lung der Infrastruktur ist eine Filialbank natürlich kom-
plett anders aufgestellt als eine Direktbank. Sie hat des-
halb auch andere Kosten zu tragen. Ein Dispodeckel
kann dem nicht gerecht werden.

Ich komme zu einem zweiten Nachteil für die Ver-
braucher, den Sie mit Ihrem Dispodeckel aushecken. Die
Höhe des Zinssatzes spiegelt auch immer das Ausfallri-
siko wider. Für manche Kunden würde der von Ihnen





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

vorgeschlagene Deckel bedeuten, dass sie keinen Dispo-
kredit mehr erhalten. Sie hätten dann in einem Monat, in
dem das Geld vielleicht ganz knapp ist, keine Möglich-
keit, in den Dispo zu gehen und ihr Konto zu überziehen.

In der Sachverständigenanhörung zu diesem Thema
– auch Sie waren da anwesend – wurde vonseiten der
Schuldnerberatung zwar auch der Wunsch geäußert, dass
die Banken dem einen oder anderen Schuldner zum Ei-
genschutz keinen Dispo einräumen mögen. Das ist aber
etwas komplett anderes. So etwas wäre eine Überein-
kunft zwischen der Bank und dem Kunden, der sich in
Begleitung eines Schuldnerberaters befindet – also quasi
eine Selbstverpflichtung. Das wäre auch absolut sinn-
voll. Dagegen haben wir überhaupt nichts. Was aber für
diesen speziellen Einzelfall sinnvoll ist, taugt noch lange
nicht als Prinzip für die Kunden, welche hier und da ein-
mal einen Dispo beanspruchen wollen. Ein Dispo nur für
Reiche kann doch wohl nicht im Sinne der Opposition
– der Linken und der Grünen – sein!


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schwadronieren da wieder mal was zusammen!)


Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den die
Schuldnerberater in die Diskussion einbringen. Ein nied-
riger Dispozinssatz – wie Sie ihn fordern – kann auch
verführerisch sein und die Verschuldung verstärken. Als
Banken angekündigt haben, den höheren Zinssatz abzu-
schaffen, haben einige Schuldnerberater aufgeheult, damit
werde eine Hürde auf dem Weg zur weiteren Überschul-
dung abgeschafft. Frau Künast, das ist die Argumentation
der Schuldnerberater, nicht meine. Die Schuldnerberater
befürchten, dass die Schuldner nach dem Motto „Mir
fehlt Geld; dann gehe ich halt zur Bank, wo ich einen
Dispo habe und Geld bekomme“ handeln. Diese Ent-
wicklung wollen wir von der CDU/CSU – ich hoffe, das
gilt auch für die SPD – nicht befeuern.

Ich komme zum dritten Nachteil, den der Deckel
hätte. Der Dispozins ist nur eine von mehreren Preis-
komponenten bei einem Girokonto. Wenn wir ihn de-
ckeln – also auch die Kosten für die Verbraucher an die-
ser Stelle deckeln –, kann das nur zu einer Verlagerung
der Gebühren führen. Die Banken werden sich ihr Geld
irgendwo anders holen. Vielleicht werden dann die Kon-
toführungsgebühren erhöht. Vielleicht werden sie über-
haupt erst eingeführt. Oder sonstige Dienstleistungen
– zum Beispiel Buchungen und TAN-Erstellungen –
würden kostenpflichtig.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Solch ein Misstrauen gegen die Banken!)


Auch das ist nicht im Sinne der Verbraucher, und unterm
Strich wäre es für sie auch teurer.

Es könnte natürlich sein, dass Sie von den Linken und
von den Grünen auch diese Kosten deckeln wollen. Was
wäre dann Ihr nächster Schritt? Würden Sie immer wei-
ter auf dem Weg der Regulierung durch den Staat gehen?
„Durch den Staat“ ist eigentlich falsch formuliert; denn
die Linken und die Grünen wissen selbst immer besser,
was für den Einzelnen gut ist nach der Devise „Wenn der
Verbraucher nicht mehr entscheiden kann, ist er am bes-
ten in dieser schönen grün-roten Welt geschützt“. In ei-
ner Welt ohne Selbstbestimmung will ich nicht leben.
Deshalb sagen wir auch ein ganz klares Nein zu Ihren
Forderungen.

Einmal abgesehen von diesen ideologischen und
manchmal vielleicht auch populistischen Zielen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch die Partei des Populismus!)


frage ich: Was wollen Sie denn eigentlich mit diesem
Deckel erreichen? Wenn es Ihnen darum geht, dem Ver-
braucher zu günstigen Konditionen zu verhelfen, ist Ihr
Antrag eigentlich überflüssig.

Es gibt schon Banken, deren Zinssätze unter 5 Pro-
zent liegen. Sie sehen: Der Wettbewerb funktioniert. Sie
haben eben erwähnt, es sei sehr kompliziert, eine Bank
zu wechseln. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntags-
zeitung, eine Zeitung, die zu lesen ich nur jedem emp-
fehlen kann, stand ein wunderbarer Artikel einer Journa-
listin, die versucht hat, die Bank zu wechseln. Ich rate
jedem: Kaufen Sie sich die Zeitung – sie ist letzten
Sonntag erschienen –, lesen Sie den Artikel, und dann
werden Sie sehen, dass dieser Artikel keinen Anspruch
auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Es ist ein einzel-
ner Bericht einer einzelnen Journalistin.

Wenn es Ihnen darum geht, die Menschen mit dem
Dispodeckel vor Überschuldung zu schützen, dann set-
zen Sie komplett an der falschen Stelle an.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Wir wollen faire Preise!)


Sie wollen ein Symptom bekämpfen, ignorieren aber die
Ursachen. Der Dispozinssatz ist nicht die Ursache für
Verschuldung. Der Dispokredit ist ein flexibles Produkt,
das nicht dazu gedacht oder geeignet ist, dauerhaft in
Anspruch genommen zu werden.

Deswegen finde ich den Vergleich des Präsidenten
des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Georg
Fahrenschon sehr treffend. Er sagte: Der Dispokredit ist
vergleichbar mit einem Taxi. Ein Taxi ist kurzfristig ab-
rufbar, der Kunde ist flexibel, und er kann jederzeit aus-
steigen. Wenn er allerdings zum Beispiel von Berlin
nach München fahren möchte, dann sollte er sich nach
einer anderen Fahrgelegenheit umsehen.

So ist es eben auch beim Dispokredit. Er ist geeignet,
um flexibel Engpässe auszugleichen, aber nicht, um dau-
erhaft genutzt zu werden. Wenn das aber passiert, macht
es wenig Sinn, am Produkt herumzuschrauben, sondern
man muss stattdessen die Ursachen für die Überschul-
dung angehen. Deshalb werden wir die Banken ver-
pflichten, Kunden, die erheblich oder dauerhaft ihr
Konto überziehen, über Umschuldungsmöglichkeiten
mit besseren Konditionen zu beraten.

Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, wenn Ban-
ken ihre Zinssätze nicht transparent machen. Es gibt
heute zwar schon weitreichende Informationsverpflich-
tungen – die Konditionen müssen veröffentlicht werden –,
aber ich frage mich wirklich: Warum findet man sie bei





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

manchen Banken nicht im Internet? Ist das kunden-
freundlich? Da kann ich nur sagen: Das ist es nicht. Wa-
rum muss man bei manchen Banken bis in die letzte
Ecke der Filiale gehen, um den Aushang zu finden, auf
dem die Konditionen stehen? Ist das kundenfreundlich?
Auch da muss ich sagen: Natürlich ist das nicht kunden-
freundlich. Warum gelingt es dem einen oder anderen
Journalisten überhaupt nicht, die Zinssätze herauszufin-
den? Das ist sicherlich nicht in Ordnung. Da muss sich
etwas ändern. Das ist in erster Linie eine Sache der Auf-
sicht. Wenn sich das nicht ändert, dann müssen wir als
Politiker – das garantiere ich – da herangehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber, ehrlich gesagt, so weit muss es nicht kommen.
Deshalb mein Appell an die Banken: Es kann auch an-
ders funktionieren. Die vergangenen Monate haben es
gezeigt. Viele Banken haben ihre Zinssätze für die ein-
geräumten Überziehungen gesenkt und für die darüber
hinausgehende eingeräumte Überziehung abgeschafft.
Diesem guten Beispiel müssen einfach noch mehr Ban-
ken folgen. Aber ein rot-grüner Deckel ist einfach der
falsche Weg. Er ist nicht zum Vorteil der Verbraucher.
Wir lehnen deshalb Ihre Forderungen ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805809600

Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-

nen spricht jetzt Nicole Maisch.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805809700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Heil, Sie haben sich gefragt, warum so
viel in den Banken schiefläuft, warum man bis in die
letzte Ecke der Filialbank gehen muss, um die Konditio-
nen zu erfahren, und warum das nicht alles im Internet
steht. Das kann ich Ihnen sagen: weil die Union seit Jah-
ren bei Fehlverhalten der Banken vorsichtig anmahnt,
dass sich etwas ändern sollte, aber im gleichen Atemzug
so wie Sie verspricht, dass es so schlimm dann doch
nicht kommen wird und den Banken die Regulierungen
erspart bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE)


So verhallen natürlich gut gemeinte Appelle im Nir-
gendwo. So kann man finanziellen Verbraucherschutz
nicht machen.

In der Anhörung wurde deutlich: Der Markt für
Dispo- und Überziehungszinsen funktioniert nicht gut.
Es gibt keinen funktionierenden Wettbewerb. Die Kolle-
gin Caren Lay hat gesagt, dass sie sich in ihrem Wahl-
kreis auf die Suche nach einer Filialbank mit günstigen
Dispozinsen gemacht hat. Auch ich habe das getan. Die
findet man nicht. Sie haben zwar gesagt, dass es Ange-
bote von Banken von 4 Prozent gibt – die gibt es sicher –,
aber ich glaube nicht, dass Sie die letzte Rentnerin auf
dem Land in Ihrem oder meinem Wahlkreis dazu brin-
gen werden, ein Onlinekonto bei der Deutschen Skat-
bank zu eröffnen.

Das heißt, die guten Bedingungen, die niedrigen Zin-
sen sind nur einer bestimmten Gruppe von Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern überhaupt zugänglich. Ein gro-
ßer Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher wird
immer noch abgezockt mit Zinssätzen, die deutlich im
zweistelligen Bereich über dem Leitzins liegen. Wenn
sie in die geduldete Überziehung kommen, dann wird es
noch schlimmer; dann grenzt das teilweise an Wucher.

Hier, muss ich sagen, finde ich es nicht staatsinterven-
tionistisch oder sonst irgendwie schlimm, einen gesetzli-
chen Deckel zu fordern. Ein solcher Deckel in Abhän-
gigkeit von einem Leitzins wäre die sauberste Lösung
gewesen. Das hat die SPD im Wahlkampf noch so ver-
treten. Aber wir müssen feststellen: Es gibt derzeit keine
politische Mehrheit für eine solche saubere und vernünf-
tige Lösung. Das finde ich sehr ärgerlich, aber bei man-
chen Dingen braucht es ein bisschen Zeit, bis die Er-
kenntnisse auch bei den großen Parteien eingesickert
sind oder aber die Mehrheiten so sind, dass man Ver-
braucherschutz betreiben kann.

Was hier schon deutlich wird: Unsere beharrliche Kri-
tik und auch die Möglichkeit einer politischen Mehrheit
für mehr Regulierung haben im Markt schon etwas be-
wegt. Wenige Banken – aber immerhin: einige – haben
sich bewegt und haben die unseligen Strafzinsen bei der
geduldeten Überziehung abgeschafft.

Was besonders erfreulich ist: Auch die Regierung hat
sich bewegt, zumindest laut Bild am Sonntag. Da sagt
der Minister:

Da bislang alle Mahnungen seitens der Bundesre-
gierung nichts geholfen haben, werden wir jetzt ein
Gesetz auf den Weg bringen,

– ein Gesetz! –

das die Banken verpflichtet, ihre Dispozinssätze auf
ihrer Internetseite zu veröffentlichen.

Hier haben wir einen kleinen Streit zwischen Schwarz
und Rot. Frau Heil sagt: Es muss nicht zu einem Gesetz
kommen. Der Minister sagt: Es wird ein Gesetz geben,
ein Transparenzgesetz für Dispozinsen. – Hier muss man
der SPD mit auf den Weg geben: Die BamS ist nicht mit
dem Gesetzblatt zu verwechseln. Sie sollten nicht anfan-
gen, „herumzuaignern“ und PR statt Politik zu machen,
sondern dieses Transparenzgesetz, das Sie uns verspro-
chen haben, hier im Deutschen Bundestag auch vorle-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Ich fände es schön, wenn die Menschen, die knietief
im Dispo stecken und informiert werden, dann auch da-
rüber informiert würden, was die roten Zahlen auf dem
Kontoauszug denn gerade in Euro und Cent bedeuten.

Darüber hinaus hat Herr Maas versprochen, die Kre-
ditinstitute zu verpflichten, Kunden, die den Dispo dau-
erhaft nutzen, einen Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen.
Es geht also um ein Anrecht auf ein Beratungsgespräch.





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)

Das finde ich gut. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn
man zum Beispiel ein Angebot für einen günstigen Ra-
tenkredit bekommt. Allerdings wünsche ich mir, dass die
Verbraucher dann nicht mit einer Hausratversicherung
oder so etwas nach Hause gehen, wenn sie eigentlich nur
einen günstigen Kredit brauchen. Man muss also durch-
aus die Gefahren sehen, die in einer solchen Beratungs-
pflicht der Bank bestehen.

Das Europäische Parlament hat im April dieses Jahres
eine Richtlinie angenommen, mit der verschiedene ver-
braucherrelevante Aspekte im Bereich der Kontoführung
geregelt werden. Da sollen Kontogebühren transparenter
werden. Der Kontowechsel, über den wir hier auch
schon gesprochen haben, soll vereinfacht werden. Und
– besonders wichtig –: Jeder Mensch soll ein Konto ha-
ben, das Girokonto für jedermann; auch der Minister hat
es in Interviews bereits mehrfach versprochen.

Ich fände es gut, wenn Sie diese Richtlinie jetzt zeit-
nah umsetzen würden und alle Aspekte, die sie umfasst,
auch hier regeln würden. Sie als SPD haben sich ent-
schieden, es beim finanziellen Verbraucherschutz ein
bisschen kleiner zu machen. Ich finde, zumindest diese
kleinen Dinge, die Sie versprochen haben, sollten Sie
jetzt auch angehen. Ich bin mir ganz sicher: Beim Thema
Dispozins hören und sehen wir uns wieder. Dies war si-
cher nicht die letzte Debatte darüber.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805809800

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Johannes

Fechner, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1805809900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Zahl der über-
schuldeten Menschen in Deutschland ist leider nach wie
vor viel zu hoch. Nach Auskunft der Schufa sind immer
noch rund 6,5 Millionen Menschen überschuldet. Hinter
dieser hohen Zahl stecken Einzelschicksale, Menschen,
die nicht aus eigener Kraft die Schuldenspirale verlassen
können, in die sie oft unverschuldet geraten sind, und die
ihre Kredite eben nicht mehr aus eigener Kraft bedienen
können.

Es ist nicht so, dass jetzt alle Banken ihre Zinsen ge-
senkt hätten. Es ist auch nicht so, dass Betroffene aus
diesem Personenkreis von sich aus in der Lage wären, in
jedem Fall der Schuldenspirale zu entrinnen. Gerade
deswegen ist es unsere Pflicht als Politik, diesen Men-
schen zu helfen, und genau das tun wir, indem wir als
SPD schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben,
dass wir die Banken zu mehr Transparenz und vor allem
zu deutlich weitergehenden Beratungen verpflichten
wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist angekündigt – dafür bin ich dem Bundesjustiz-
ministerium sehr dankbar –, dass noch in diesem Jahr ein
Gesetzentwurf vorgelegt wird, mit dem wir zwei wesent-
liche Ursachen der Schuldenspirale beseitigen wollen:

Eine Ursache ist die fehlende Transparenz. In der An-
hörung war es hochinteressant, zu hören, dass ein Sach-
verständiger den prägnanten Begriff des Transparenzver-
sagens verwendet hat. Wir wollen deshalb die Banken
verpflichten, ihre Dispozinsen und die Überziehungszin-
sen transparenter zu machen. Denn viele Kundinnen und
Kunden schließen die Verträge ab, ohne genau zu wis-
sen, wie hoch die Zinsen sind. Die Schwierigkeiten, das
herauszubekommen, wurden von Vorrednern schon
beschrieben. Deswegen wollen wir die Banken verpflich-
ten, ihre Zinsen im Internet zu veröffentlichen und insofern
für Transparenz zu sorgen, damit sich die Verbraucherin-
nen und Verbraucher entweder auf den Internetseiten der
Banken oder auf den Seiten der Vergleichsportale infor-
mieren können. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme,
weil wir dadurch das Transparenzversagen beseitigen
können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens wollen wir den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern helfen, indem wir die Beratungspflichten der
Banken erweitern. Die betroffenen überschuldeten Ver-
braucher sind ja oft geschäftsunerfahren und kennen sich
mit Kreditverträgen und Zinshöhen nicht genau aus.
Allzu oft haben sie auch zeitgleich soziale Probleme
durch Krankheiten, Arbeitslosigkeit. Genau diese Men-
schen brauchen die kompetente Beratung, weil sie allein
nicht aus der Schuldenspirale herauskommen. Deswegen
ist es unser Ziel, die Banken gesetzlich zu verpflichten,
Wege aus der Dispofalle aufzuzeigen, indem sie ganz
konkret Alternativangebote, angepasst an die jeweilige
Situation, vorlegen. Das ist der entscheidende Punkt: Die
Banken sind verpflichtet, über günstigere Alternativan-
gebote ganz genau zu informieren, um so dem Kunden
den Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Kritik daran, die wir oft gehört haben, dass dies
für die Banken einen hohen zusätzlichen Verwaltungs-
aufwand bedeuten würde, hat sich aus meiner Sicht in
der Anhörung gerade nicht bestätigt. Einige Banken be-
raten ja schon sehr umfangreich und machen das, was
wir beabsichtigen, schon heute. Da haben die Vertreter in
der Anhörung ausdrücklich bestätigt, dass dadurch unter
dem Strich keine nennenswerten Mehrkosten entstehen.

Einen Satz möchte ich natürlich auch zur beantragten
gesetzlichen Deckelung der Dispozinsen sagen. Das ist
für die SPD nach wie vor eine sinnvolle und gute Idee.
Dass es in der Praxis funktioniert, zeigen sehr viele Ban-
ken, die schon heute auf diese Überziehungszinsen ver-
zichten.

Ich bin deshalb nach wie vor der Meinung, dass un-
sere Idee, eine Deckelung bei 8 Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz gesetzlich festzulegen, richtig ist. Ich
bedauere ausdrücklich – ich will kein Geheimnis daraus





Dr. Johannes Fechner


(A) (C)



(D)(B)

machen –, dass da aufseiten der Union keine Bereit-
schaft besteht, obwohl auf der Verbraucherministerkon-
ferenz – da waren auch Ihre Parteifreunde – ausdrücklich
gesagt wurde, dass das eine sinnvolle Maßnahme wäre.
Leider sind wir hier in der Großen Koalition nicht zu ei-
ner Einigung gekommen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber weiter daran arbeiten können Sie doch trotzdem!)


Dennoch will ich am Ende meiner Rede festhalten:
Wir werden einige ganz deutliche Verbesserungen für
die Verbraucherinnen und Verbraucher beschließen, wir
werden für mehr Transparenz sorgen, und wir werden
die Banken verpflichten, die Kundinnen und Kunden,
die Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu bera-
ten. Also Sie sehen – so viel auch zu den Oppositionsan-
trägen –: Wir handeln.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Sie kündigen an!)


Ihre Handlungsaufforderungen in Ihren Anträgen sind
deshalb aus meiner Sicht schlicht nicht erforderlich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805810000

Vielen Dank. – Für die CDU/CSU spricht jetzt

Dr. Volker Ullrich.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1805810100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dispo- und Überziehungszinsen sind auf einem
hohen Niveau. In vielen Fällen sind sie schlichtweg zu
hoch. Wir haben Verständnis für viele Verbraucher, die
diesen Umstand als richtiges Ärgernis und in manchen
Fällen auch als existenzielles Problem betrachten.

Das Wissen um die aktuell niedrigen Zinsen und der
Blick auf den eigenen Kontoauszug vermitteln sicherlich
kein schönes Gefühl. Eine gesetzliche Deckelung der
Dispozinsen ist durchaus eine mögliche Lösung, sie ist
aber bei weitem nicht die wirksamste und die beste. Das
Problem liegt darin, dass wir hier einen Umstand haben,
den die Ökonomen als Informationsasymmetrie bezeich-
nen oder auch als ein Auseinanderfallen zwischen dem,
was die Banken tun, und dem, was die Verbraucher wis-
sen. Wenn sie ein Konto eröffnen, dann denken sie gar
nicht sofort an die Dispozinsen, sondern erst dann, wenn
der Umstand eintritt, dass sie einen Dispo in Anspruch
nehmen, beschäftigen sie sich mit dieser Frage. Des
Weiteren haben wir den Umstand, dass es ihnen, wenn
sie bei einer Bank gelandet sind, die hohe Dispozinsen
anbietet, nicht einfach gemacht wird, das Konto zu
wechseln. Das fängt mit der 22-stelligen neuen Konto-
nummer an und endet bei den Daueraufträgen und ande-
ren Unannehmlichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist der
tatsächliche und wahre Hebel zu mehr Verbraucher-
macht die Möglichkeit, das Konto zu wechseln, seine ei-
gene Bankverbindung in die Hände zu nehmen und dort-
hin zu tragen, wo es niedrigere Zinsen gibt. Das ist
wahre Verbrauchermacht. Das steckt im Wesentlichen
hinter unseren Überlegungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn die Verbraucher stärker aufgeklärt werden, auf
die Höhe der Dispozinsen zu achten, wenn der Konto-
wechsel erleichtert wird und wenn auch die Banken ge-
setzlich verpflichtet sind, auf Alternativen wie Raten-
kredite und andere Möglichkeiten der Umschuldung
hinzuweisen, dann ist das wesentlich wirksamer als ein
Zinsdeckel, der die sonstigen Möglichkeiten des Ver-
brauchers beschneidet und dazu führen wird, dass in
vielen Fällen ein Dispokredit teurer oder nicht mehr ge-
währt wird. Das ist nicht das, was wir unter verbraucher-
freundlicher Politik verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das glauben Sie aber nicht wirklich!)


Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber auch
mit der Frage beschäftigen, weshalb hohe Dispozinsen
zu einem Problem in diesem Land geworden sind.

Zum einen liegt das an der finanziellen Bildung als
Teil des Allgemeinwissens. Ich glaube, hier haben wir in
Deutschland etwas Nachholbedarf, auch an den Schulen,
wo die Sozialisation in Bezug auf finanzielle Beziehun-
gen, Dispokredite oder Ausgabeverhalten dazu führen
könnte, dieses Problem zu minimieren.

Zum anderen müssen wir auch über die Dauerver-
schuldung mancher Menschen in Deutschland sprechen.
Ja, es ist so, dass viele Menschen in Deutschland in zu-
nehmendem Maße von dem betroffen sind, was man
eine negative Sparquote nennt. Das Einkommen, das sie
beziehen, reicht nicht, um ihr Leben zu bestreiten. Ge-
rade im Hinblick auf diesen Punkt hat die Große Koali-
tion gehandelt. Die Einführung eines gesetzlichen Min-
destlohns ist nämlich nichts anderes als ein Instrument,
um die Kaufkraft zu stärken und damit auch wieder mehr
Geld in die Geldbörsen der Menschen zu bringen.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja das Herzensprojekt der Union!)


Das ist ein Erfolg, und das ist viel wirksamer als ein Dis-
podeckel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, dass
die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen, dass die Stär-
kung der Einnahmen der Menschen und dass eine höhere
Flexibilität und Transparenz viel wirksamer sind als das
alleinige Einführen eines Dispodeckels. Wir sind für tat-
sächliche Lösungen und nicht für Scheingefechte.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805810200

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dennis

Rohde das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dennis Rohde (SPD):
Rede ID: ID1805810300

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn man sich die Entwicklung auf dem
Zinsmarkt in den letzten Jahren einmal genauer an-
schaut, dann kann man mit Blick auf die Dispozinsen ei-
gentlich nur von einem Marktversagen sprechen. Auf
der einen Seite erleben wir, dass der EZB-Leitzins und
der Euribor stetig unter 1 Prozent verharren. Für das
Guthaben auf seinem Konto bekommt man kaum noch
Zinsen. Die Zinsen bei Verbraucherkrediten, aber auch
bei Immobilienkrediten sind seit langem im Keller. Das
ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben die we-
nigsten Banken ihre Dispozinsen wirklich spürbar ge-
senkt. Der Durchschnitt liegt immer noch – das konnte
man jüngst in der Zeitschrift Finanztest nachlesen – bei
10,65 Prozent. Es gibt nicht wenige Banken, die immer
noch Dispozinsen in Höhe von 13 oder 14 Prozent erhe-
ben. Wir müssen festhalten: Der Markt reguliert sich
derzeit nicht selbst. Es gibt keinen funktionierenden
Wettbewerb bei den Dispozinsen.

Es stellt sich die Frage, warum das so ist. Da kann ich
jedem nur empfehlen, einmal zu seiner Verbraucherzen-
trale zu gehen und sich schildern zu lassen, wie sie an
ihre Zahlen kommt, wenn sie Erhebungen macht. Das ist
schon spannend. Sie schildert einem nicht nur, dass man
die Zahlen bei vielen Banken nicht im Internet findet,
sondern auch, dass man bei vielen Banken, selbst wenn
man gezielt telefonisch nachfragt, keine Auskunft be-
kommt. Man wird aufgefordert, in die Filiale zu kom-
men. Selbst dort findet man den Aushang nur in der letz-
ten Ecke.

Zusammenfassend kann man sagen: Wir finden einen
vollkommen intransparenten Markt vor. Marktmechanis-
men können gar nicht greifen, weil es überhaupt keine
funktionierende Vergleichbarkeit gibt. Boshaft ausge-
drückt könnte man von einer gezielten Verschleierung
sprechen.


(Beifall bei der SPD)


So weit zur Analyse.

Aber die Frage ist doch: Welche Antwort geben wir
darauf, welche Antwort gibt die Politik darauf? Für uns
ist klar: Es muss mit der Politik des guten Zuredens
Schluss sein, wie sie zuletzt Ilse Aigner bemüht hat.
Warme Worte allein haben nicht geholfen, und sie wer-
den auch in Zukunft nicht helfen. Für uns als Koalition
ist aber auch klar: Eine gesetzliche Deckelung kann und
darf nur Ultima Ratio sein. Sie kann und darf nur die
letzte Lösung sein.

Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Gibt
es Instrumente, um den Wettbewerb wieder zu fördern
und das Marktversagen zu beseitigen? Der Vorschlag, den
der Bundesjustizminister gemacht hat, ist richtig. Wir
müssen zunächst einmal die Banken zu Transparenz
zwingen. Wir müssen sie zumindest zwingen, ihre Dis-
posätze in das Internet zu stellen, damit man sich nicht
nur selbst gezielt informieren kann, sondern damit zum
Beispiel Vergleichsportale auflisten können, welche Bank
welchen Disposatz nimmt, damit hohe Dispozinsen wie-
der zu dem werden, was sie eigentlich sein sollten, näm-
lich nichts anderes als ein Wettbewerbsnachteil, meine
sehr geehrten Damen und Herren.

Für die SPD-Fraktion möchte ich aber auch deutlich
machen: Wenn die Maßnahmen nicht greifen und wenn
wir in ein, zwei Jahren feststellen, dass die Dispozinsen
nicht gesunken sind, dann werden wir wieder eine Dis-
kussion über die gesetzliche Deckelung von Dispozinsen
führen müssen. Für uns ist klar: Es darf keine übermä-
ßige Bereicherung zulasten von überschuldeten Men-
schen geben. Das gehört sich nicht.


(Beifall bei der SPD)


Machen wir uns nichts vor: Die Debatte, die wir hier
führen, ist auch eine Gerechtigkeitsdebatte. Hohe Zinsen
sind für viele Menschen gefühlt ungerecht. Deshalb ist
die Forderung, hier einzugreifen, nicht nur richtig, son-
dern auch populär. Ich habe schon, als wir das erste Mal
über die Anträge debattiert haben, gesagt, dass wir auch
den Blick auf die überschuldeten Menschen legen müs-
sen, auf diejenigen, für die Dispozinsen vielleicht ein un-
angenehmes Symptom, aber längst nicht die Ursache
sind, weil die Ursache bei ihnen wesentlich tiefer sitzt.
Wir müssen Menschen helfen, einen Weg aus der Schul-
denfalle zu finden. Deshalb ist das, was Johannes
Fechner vorhin angekündigt hat, genau richtig. Diese
Menschen müssen gezielte Beratungsangebote bekom-
men. Wir müssen auch die Banken in die Pflicht neh-
men. Wenn sie feststellen, dass sich seit langer Zeit je-
mand im Dispo befindet, dann kann man das nicht
ignorieren. Wir müssen die Banken verpflichten, eine
Beratung anzubieten und eine für die Situation passende
Lösung zu erarbeiten. Das muss auch Verpflichtung der
Banken sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Maisch, ich gebe Ihnen recht, die Debatte ist
nicht beendet, sie fängt gerade erst an. Unsere Gesetz-
entwürfe werden kommen. Wir sind wirklich guten Mu-
tes, dass wir Regelungen auf den Weg bringen werden,
die die Dispozinsen endlich nach unten korrigieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805810400

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist

der Kollege Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1805810500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

der heutigen Debatte möchte ich noch einmal darauf hin-
weisen, dass wir das Problem der Zinssätze für Dispo-
und Überziehungskredite heute zum x-ten Mal diskutie-
ren. Ich erinnere mich an Debatten in der letzten Legisla-
turperiode. Das Problem wurde immer wieder herausge-
arbeitet. Passiert ist gar nichts.

Jetzt – das ist der wichtige Punkt – handeln wir end-
lich. Wir haben endlich eine Regierung, die das Problem
erkannt hat und seine Lösung in ihr Programm aufge-
nommen hat. Wir werden für Transparenz sorgen und
das Thema aus den dunklen Ecken der Banken herausho-
len. Für alle wird deutlich werden, was sie zahlen müs-
sen. Wir lassen denen Hilfe zugutekommen, die sie brau-
chen. Mit diesen Forderungen sind wir als SPD in die
Regierung gegangen. Bundesminister Heiko Maas wird
sie umsetzen. Das ist eine gute Nachricht zum Wochen-
ende.


(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Ullrich [CDU/ CSU]: Wir werden es umsetzen!)


– Sie werden es umsetzen. Dazu möchte ich hier festhal-
ten: Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Banken ver-
pflichten werden. Verpflichten kann man in Deutschland
nur mit einem Gesetz. Deshalb brauchen wir an dieser
Stelle ein richtiges Gesetz und keine schwammigen Re-
gelungen.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen aber auch beobachten, dass der Markt
dort sehr verkrustet ist. Meine Vorredner haben das an-
gesprochen. Wir haben es mit einer Betonwand zu tun,
die seit der Finanzkrise 2008, 2009 aufgebaut wurde. Ich
glaube aber, dass unsere Maßnahmen helfen werden,
dass sich Banken am Markt bewegen werden. Aber wir
könnten auch mit der Situation konfrontiert werden – das
ist eventuell zu befürchten –, dass die Zinssätze starr
bleiben.

Deshalb bin ich sehr dafür, dass die Entwicklung be-
obachtet wird. Aber ich sage auch klar und deutlich:
Wenn sich zeigt – und damit müssen wir rechnen, so die
Einschätzung der SPD –, dass die Maßnahmen nicht aus-
reichen, dann müssen wir eben eine gesetzliche Ober-
grenze einführen.

Ich möchte hier nicht das Argument hören, eine sol-
che Grenze würde dazu führen, dass der Markt nicht
mehr funktioniert. Das Gegenteil ist richtig: Die Akteure
werden sich weiterhin auf dem Markt tummeln, aber zu
vertretbaren Dispozinsen, die deutlich niedriger und
wieder an den Leitzins gekoppelt sind. Sollte das Pro-
blem bestehen bleiben, dann werden wir uns von der
SPD verstärkt für eine gesetzliche Beschränkung von
Dispozinsen einsetzen. Das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,
dass wir uns im finanziellen Verbraucherschutz nicht nur
um die Dispozinsen kümmern. Wir werden noch weitere
Maßnahmen ergreifen. Einige weitere Themen sind be-
reits angesprochen worden. Erstens. Wir beschränken
die Dispozinsen und machen sie transparent. Zweitens.
Wir wollen ein Girokonto für jedermann. Drittens. Wir
sorgen für die Einführung eines Finanzmarktwächters.

All das sind gute Signale. Seit die SPD wieder das
Verbraucherschutzministerium innehat, spielt Verbrau-
cherschutzpolitik in unserem Land wieder eine Rolle.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Die hat schon vorher eine Rolle gespielt!)


Das ist die beste Nachricht zum Wochenende; alles Gute.
Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805810600

Vielen Dank. – Angesichts all der guten Wünsche

kann am Wochenende ja nichts mehr passieren.

(Heiterkeit)


Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2741 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/2777.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/807 mit dem Titel
„Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze für
Dispo- und Überziehungskredite“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/1342 mit dem Titel „Begrenzung
von Dispositions- und Überziehungszinsen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/

CSU und SPD
Europa – Vorreiter im Kampf gegen die To-
desstrafe
Drucksache 18/2738

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Todesstrafe weltweit ächten

Drucksache 18/2740





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Schwabe, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1805810700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, es ist klar: Man kann eine solche menschen-
rechtspolitische Debatte nicht beginnen, ohne Malala
Yousafzai und Kailash Satyarthi zur Verleihung des Frie-
densnobelpreises zu gratulieren.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich komme zu einem unerquicklicheren Thema, zum
Kampf gegen die Todesstrafe. Ich will mit Erlaubnis der
Präsidentin ein bisschen länger zitieren. Albert Camus
schrieb in seinem wirklich sehr eindringlichen Text Der
Ruf nach dem Henker – ich glaube, bis heute gibt es für
dieses Thema keinen besseren und eindringlicheren
Text; ich empfehle jedem, den Text zu lesen, auch wenn
das nicht ganz leicht ist –:

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde ein Mörder
wegen eines ungewöhnlich scheußlichen Verbre-

(er hatte eine ganze Bauernfamilie, Eltern und Kinder, umgebracht)

teilt. Es handelte sich um einen Landarbeiter, der in
einer Art Blutrausch getötet hatte, dessen Fall je-
doch durch den Umstand erschwert wurde, daß er
seine Opfer außerdem bestahl. Der Prozeß erregte
großes Aufsehen. Die Öffentlichkeit war der Mei-
nung, daß für ein solches Ungeheuer selbst die Ent-
hauptung eine zu milde Strafe sei.

Dies war auch, wie mir versichert wurde, die An-
sicht meines Vaters, den insbesondere die Ermor-
dung der Kinder empört hatte. Jedenfalls gehört zu
dem wenigen, das ich von ihm weiß, die Tatsache,
daß er zum erstenmal in seinem Leben beschloß, ei-
ner Hinrichtung beizuwohnen. Er stand mitten in
der Nacht auf, um sich mit vielen anderen Leuten
zusammen ans andere Ende der Stadt auf den Richt-
platz zu begeben. Was er an jenem Morgen sah, er-
zählte er keinem Menschen. Meine Mutter berichtet
nur, daß er mit verstörtem Gesicht überstürzt nach
Hause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung einen
Augenblick auf sein Bett legte und sich plötzlich er-
brach. Er hatte eben die Wirklichkeit entdeckt, die
sich hinter den hochtrabenden, bemäntelnden Re-
densarten verbarg.

Wenn die Vollstreckung des Rechts dem ehrbaren
Bürger, zu dessen Schutz es da ist, nur Übelkeit be-
reitet, kann schwerlich behauptet werden, sie sei
dazu angetan, ihrer eigentlichen Aufgabe getreu
mehr Frieden und Ordnung in das Gemeinwesen zu
bringen. Es wird im Gegenteil deutlich, daß sie ge-
nauso empörend ist wie das Verbrechen und daß
dieser weitere Mord die der Gesellschaft zugefügte
Beleidigung nicht nur nicht wiedergutmacht, son-
dern durch eine neue Schmach verschärft.

Das ist das, was Albert Camus dazu schreibt. Ich
finde, viel eindrücklicher kann man nicht beschreiben,
worum es bei dem Thema geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])


Zweifellos – das ist das Positive – ist die Todesstrafe
weltweit auf dem Rückzug. Die Zahl der Länder mit To-
desstrafe ist deutlich abnehmend. Knapp 100 haben sie
mittlerweile abgeschafft, weitere 36 praktizieren sie nicht
mehr, und in der Generalversammlung der Vereinten Na-
tionen gibt es eine klare Mehrheit, die sich gegen die
Todesstrafe ausgesprochen hat. Umso bitterer ist, dass
über 90 Prozent der Hinrichtungen durch fünf Länder in
der Welt vollzogen werden: China, Iran, Saudi-Arabien,
Pakistan und leider auch die USA. Ich will es ausdrück-
lich sagen, auch in Anwesenheit von Ministerpräsident
Li aus China: Wir haben große Achtung vor China, aber
es ist in der Tat eine Schande – anders kann ich das nicht
benennen –, dass China an der Spitze der Zahl der Hin-
richtungen weltweit steht. Das werden wir immer wieder
benennen. Ich bin davon überzeugt, dass andere das bei
den Gesprächen in diesen Tagen auch benennen werden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe die positive Entwicklung geschildert. Umso
mehr erzürnt es mich und andere, dass es kürzlich eine
Veränderung der Position auf den Malediven gab. 60 Jahre
lang währte ein Moratorium gegen die Todesstrafe. Die-
ses wurde mittlerweile aufgegeben. Sogar Kinder und
Jugendliche sind auf den Malediven mittlerweile von der
Todesstrafe bedroht.

Damit das, was ich jetzt noch sage, nicht falsch ver-
standen wird: Die Todesstrafe ist falsch und ein Verbre-
chen, egal wie und an wem sie vollzogen wird. Beson-
ders abscheulich ist sie allerdings, wenn Menschen dabei
ermordet werden – wie soll man das anders benennen? –,
die unschuldig sind. Auf Spiegel Online konnte man erst
gestern den Fall von Manuel Velez nachlesen, der zum
Glück nach neun Jahren aus der Todeszelle entlassen
wurde, weil klar geworden ist: Er kann den Mord, der
ihm zur Last gelegt wurde, gar nicht verübt haben. Be-
sonders abscheulich ist die Todesstrafe auch, wenn sie
an psychisch Kranken vollzogen wird. Deswegen ist es
gut, dass genau diese Fälle in diesem Jahr im Mittel-
punkt der Kampagne zum Welttag gegen die Todesstrafe
der Menschenrechtsorganisationen stehen.

Zwei Staaten muss ich am Ende meiner Rede beson-
ders – in Anführungsstrichen – würdigen. Der eine ist
der letzte Staat in Europa, der die Todesstrafe vollzieht,
weswegen er nicht Mitglied des Europarates sein kann:
Weißrussland. Auch das ist eine Schande. Es gibt eine
gute Situation in Europa, wir haben an der Stelle welt-
weit eine Vorbildfunktion, aber diese wird leider von
Weißrussland ein Stück weit unterminiert. Das muss sich
dringend ändern.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Ich will auch noch einmal die USA und auch Japan
nennen. Genau deshalb, weil wir in vielen Fragen ge-
meinsame Werte haben, auch was die Menschenrechte
betrifft, ist es besonders betrüblich, dass die USA und
auch Japan die Todesstrafe vollziehen. Wie gut wäre es
für die Welt, welchen Vorbildcharakter würde es haben,
wenn die Vereinigten Staaten von Amerika endlich die
Todesstrafe abschaffen würden! Ich denke, das müssen
wir bei unseren Gesprächen immer wieder deutlich ma-
chen.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805810800

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Annette Groth,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805810900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am heutigen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe
müsste ein Aufschrei mit der Forderung durch die Welt
gehen: Verbietet endlich diese barbarische Strafe und
ächtet Regierungen und Verantwortliche, die die Verhän-
gung der Todesstrafe zulassen und die Tötung von Men-
schen anordnen! Wir dürfen nicht mehr schweigen,
wenn wir Regierungsvertreterinnen und Regierungsver-
treter treffen, in deren Ländern die Todesstrafe immer
noch nicht abgeschafft ist.

Leider hat die Zahl der Hinrichtungen im Jahre 2013
wieder deutlich zugenommen. Das ist eine Schande.
Schon lange fordert die Linke ein Verbot der Todes-
strafe; denn sie ist grausam und in keiner Weise zu recht-
fertigen. Ich kann – Frank Schwabe geht es wahrschein-
lich genauso – nicht begreifen, dass Staaten wie die USA
noch immer die Todesstrafe anwenden. Ich erwarte von
der Bundesregierung, dass sie sich auch gegenüber den
Vereinigten Staaten deutlicher als bisher zu der brutalen
Ermordung von Verurteilten äußert. Mit 79 Todesurtei-
len wurden im Jahr 2013 in den USA mehr Todesurteile
verhängt als im Jahr zuvor, 2012. Die in jüngster Zeit
durchgeführten Hinrichtungen mit der Giftspritze in den
USA haben zu weltweiter Empörung geführt. Es ist
barbarisch, Menschen mit der Todesspritze zu quälen
und erst nach langem Leiden qualvoll sterben zu lassen.

Auch wenn 150 von 193 Staaten die Todesstrafe ab-
geschafft haben, leben noch immer zwei Drittel aller
Menschen in Ländern, die Todesurteile verhängen. In
diesen Staaten werden jedes Jahr mehrere Tausend Men-
schen zum Tode verurteilt und viele Tausend hingerich-
tet. Das ist doch eine Schande für uns alle.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Allein für China geht Amnesty International von
mehreren Tausend Hinrichtungen jährlich aus. In 22 wei-
teren Ländern, darunter Saudi-Arabien, Kuwait und In-
donesien, wurden 2013 fast 800 Menschen hingerichtet.
Von den USA fordern wir, als ersten Schritt ein Morato-
rium für die Todesstrafe zu erlassen und dann in allen
US-Bundesstaaten die Todesstrafe zu verbieten. Wir
müssen den Verantwortlichen in den USA deutlich zu
verstehen geben, dass eine Regierung, die diese Form
der barbarischen Justiz im eigenen Land anwendet, in-
ternational nicht glaubwürdig für die Durchsetzung von
Menschenrechten eintreten kann.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist einfach ein Skandal, dass wir Waffen und Aus-
rüstungen für Militärs und Polizeieinheiten in Länder
liefern, die noch immer die Todesstrafe verhängen und
durchführen. Die jüngste Entscheidung der Bundesregie-
rung, erneut Waffen nach Saudi-Arabien zu liefern, ist
einfach empörend und darf nicht sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Saudi-Arabien werden Menschen brutalst hingerich-
tet. Das Abhacken von Händen oder das Amputieren von
Gliedmaßen sind dort gängige Strafen.

Saudi-Arabien wird auch seit längerem verdächtigt,
am Aufbau der Mörderbanden des sogenannten Islami-
schen Staates mit Geld und Waffen beteiligt gewesen zu
sein. Saudi-Arabien gehört neben dem Iran und dem Irak
zu den drei Ländern, die fast 80 Prozent aller Hinrich-
tungen außerhalb Chinas durchführen. Ich fordere von
der Bundesregierung einen sofortigen Waffen- und Aus-
rüstungsstopp für die saudischen Militärs und Polizeiein-
heiten. Das ist doch das Mindeste, das man erwarten
kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Ermordung von Menschen durch Staaten und Re-
gierungen ohne Gerichtsurteil nimmt zu. Mit den soge-
nannten gezielten Tötungen hat sich eine neue Form der
Ermordung von Menschen ohne jegliche gerichtliche
Prüfung durchgesetzt. Diese Form der Todesstrafe ohne
Richter durch Spezialkommandos des Militärs oder mit
bewaffneten Drohnen wird auch von engen NATO-Ver-
bündeten Deutschlands praktiziert.

Wir Linke fordern von der Bundesregierung, dass sie
diese völkerrechtswidrigen Exekutionen, denen insbe-
sondere zahlreiche Zivilisten zum Opfer fallen, ächtet
und dies auch gegenüber Staaten wie den USA oder Is-
rael, einem der Hauptdrohnenproduzenten, deutlich zum
Ausdruck bringt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere die Bundesregierung auf, im Rahmen der
UN die Einführung eines Registers anzuregen, in dem
alle Todesurteile und deren Begründung erfasst werden.
Dieses Register kann Grundlage für eine juristische Auf-
arbeitung dieser Fälle werden.

Von den deutschen Botschaften fordere ich, dass sie
bei Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe
grundsätzlich protestieren und die Betroffenen in den
Gefängnissen besuchen.






(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805811000

Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805811100

Ich bin sofort fertig. – Wir alle, insbesondere Sie, die

Regierungsvertreter, müssen endlich klar sagen, dass wir
alle für ein Verbot der Todesstrafe kämpfen. Wir wollen
eine Welt ohne Todesstrafe und ohne Drohnen!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805811200

Vielen Dank.- Nächster Redner ist Frank Heinrich,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1805811300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Es ist mehrfach
gesagt worden: Heute ist der Internationale Tag gegen
die Todesstrafe. Heute vor einem Jahr – daran mögen
sich die einen oder anderen erinnern – konnten wir die-
sen Tag im Plenum noch nicht adressieren, angehen –
„feiern“ kann man ja nicht sagen, sondern höchstens „er-
innern“ –. Da steckten CDU, CSU und Sie als SPD noch
in langwierigen Koalitionsverhandlungen. Manche Posi-
tion war umstritten. Um viele Formulierungen wurde ge-
feilscht. Aber es gab auch Positionen, die unstrittig und
eindeutig waren. So wurde unter anderem unter der
Überschrift „Schutz und Förderung von Menschenrech-
ten“ der knappe und eindeutige Satz formuliert:

Wir engagieren uns weiterhin konsequent für die
weltweite Abschaffung der Todesstrafe …

In Deutschland wurde die Abschaffung der Todes-
strafe 1949 in Artikel 102 des Grundgesetzes festge-
schrieben, nicht zuletzt durch die Erfahrung des natio-
nalsozialistischen Unrechtsstaates. Wem stehen nicht die
Beispiele wie die zynischen Todesurteile eines Roland
Freisler gegen Hans und Sophie Scholl und andere Mit-
glieder der Weißen Rose bis heute abschreckend vor Au-
gen? Ich selber konnte mich letzte Woche mit einer
Chemnitzer Gruppe aus meinem Wahlkreis in der Ge-
denkstätte Deutscher Widerstand davon überzeugen.
Durch den Rest des Tages geht man dann nicht be-
schwingt.

Die Todesstrafe ist eine Menschenrechtsverletzung
ohne Wenn und Aber; darin sind wir uns ja quer durch
das Parlament einig. Jeder Mensch hat ein Recht auf Le-
ben. Kein Mensch kann diese seine Würde unwiderruf-
lich verlieren. Deshalb beginnt der Antrag auch genauso.

Der Ruf nach Rache und Vergeltung ist möglicher-
weise menschlich nachvollziehbar, gerade in solchen
Fällen, von denen Sie erzählt haben. Doch führt das zu
Spiralen von Gewalt und im Kern zu Entmenschlichung.
So hält der UN-Sonderberichterstatter gegen Folter jede
Form der Todesstrafe für nicht vereinbar mit dem Verbot
der Folter und grausamer, erniedrigender und unmensch-
licher Behandlung und Strafe.

Der Verzicht auf die Todesstrafe ist ein hohes zivilisa-
torisches Gut, ein Grundwert europäischer Identität, eine
Errungenschaft, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen.
Die Todesstrafe ist grausam und öffnet dem Missbrauch
Tür und Tor. Justizirrtümer werden durch die Todesstrafe
unwiderruflich.

Nach dem letzten Bericht des UN-Generalsekretärs
vom Juli letzten Jahres zur „Question of the Death
Penalty“ werden unverhältnismäßig oft sozial Schwache
und Angehörige ethnischer, religiöser und sexueller Min-
derheiten zum Tod verurteilt. Mein Kollege Schwabe hat
es gerade gesagt. Die Pressemitteilung von Amnesty
International geht insbesondere auf diese besonders ab-
scheuliche Form der Todesstrafe bei Menschen, die psy-
chisch krank sind, ein.

Seit Jahren gibt es außerdem kritische Diskussionen
über Hinrichtungsmethoden. Darauf ist bereits Bezug
genommen worden. Besonders barbarisch sind Enthaup-
tungen und Steinigungen. Weltweite Empörung haben
die geschilderten Hinrichtungen mit der Giftspritze aus-
gelöst, die erst nach langem Leiden zum Tod geführt ha-
ben. Aus den genannten Gründen lehnt Deutschland die
Todesstrafe ab und steht damit glücklicherweise in Eu-
ropa nicht alleine.

Seit 1997 kam die Todesstrafe in Europa nicht mehr
zur Anwendung, außer in dem schon genannten Land
Belarus, das geografisch zu Europa gehört. Bisher liefen
alle Bemühungen von Europarat, von uns, von der EU,
Belarus wenigstens zu einem Hinrichtungsmoratorium
zu bewegen, ins Leere. Dieses Jahr wurden bereits zwei
Gefangene durch Kopfschuss exekutiert, und zwei wei-
teren droht die Hinrichtung. Trotzdem gilt: Europa hat
einen legitimen moralischen Anspruch, im weltweiten
Kampf gegen die Todesstrafe als Vorreiter aufzutreten.

Ich zitiere von der Website des Auswärtigen Amtes
aus den „Leitlinien der EU zur Todesstrafe“:

Die Leitlinien definieren die Bekämpfung der To-
desstrafe als zentrales menschenrechtliches Anlie-
gen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli-
tik …

Auch in ihrem Strategischen Rahmen und Aktionsplan
zählt die Europäische Union die Bekämpfung der Todes-
strafe und der Folter zu ihren Prioritäten auf dem Gebiet
der Menschenrechte. Das ist ein guter und deutlicher
Trend – der Menschenrechtsbeauftragte Strässer hat das
heute Morgen in einer Pressemitteilung deutlich ge-
macht – und weltgeschichtlich betrachtet ein bemerkens-
werter humanitärer und menschenrechtlicher Fortschritt,
den wir hier nicht vergessen dürfen. Und doch: Der
Kampf gegen die Todesstrafe ist noch lange nicht ausge-
kämpft.

Wie notwendig auch europäische Anstrengungen
heute noch sind, zeigt ein Blick in aktuelle Statistiken;
ich will die Zahlen nicht wiederholen, einige sind ge-
nannt worden. Amnesty International geht davon aus,
dass letztes Jahr in mindestens 22 Staaten die Todesstrafe





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

vollstreckt worden ist, 778 Menschen wurden getötet.
Das waren 96 mehr als im Jahr davor. 1925 Menschen
wurden zum Tode verurteilt, und 23 392 Menschen sit-
zen in Todeszellen und warten auf ihre Strafe. Manche
Länder machen aus diesen Zahlen ein Staatsgeheimnis,
wie zum Beispiel China.

In vier Ländern – diese nenne ich bewusst, um auf sie
hinzuweisen –, Indonesien, Kuwait, Vietnam und Nige-
ria, wurde nach einem Moratorium die Todesstrafe wie-
der vollzogen. China behandelt diese Zahlen, wie gesagt,
wie ein Staatsgeheimnis und gibt keine Zahlen bekannt.
Amnesty International schätzt die Zahl der hingerichte-
ten Menschen auf Tausende.

Die Todesstrafe ist häufig ein Mittel staatlicher Ge-
walt zur Einschüchterung von Dissidenten sowie von
ethnischen und religiösen Minderheiten. In vielen isla-
mischen Staaten wird die Apostasie, die Abkehr vom Is-
lam zu einem anderen Glauben, mit dem Tode bestraft.
Wir haben dieses Jahr – das ging durch die Medien und
war in vielen Ländern ein Thema – den Fall der hoch-
schwangeren Meriam Jahia Ibrahim Ischag im Sudan er-
lebt. Die Tochter einer Christin und eines Muslims war
zum Tode verurteilt worden, weil sie nicht den Glauben
ihres Vaters annehmen wollte. Es waren internationale
Proteste, die zu ihrer Freilassung führten. Hier mache ich
die Klammer auf: Das kann also einen Unterschied ma-
chen. Es braucht nicht nur Politik – diese braucht es sehr
wohl auch –, Regeln und Konventionen, sondern es
braucht auch Sie, die Bürger, die mit aufstehen.

Doch zeigt das Beispiel: Mit der Todesstrafe gehen
weitere Menschenrechtsverletzungen, wie in diesem Fall
die Einschränkung der Religionsfreiheit, einher. Christoph
Strässer als Menschenrechtsbeauftragter hat diese Wo-
che auf die Hinrichtung von fünf Männern hingewiesen,
die im September dieses Jahres eine grausame Tat be-
gangen haben, eine brutale Vergewaltigung mehrerer
Frauen in Paghman in Afghanistan. Diese Männer wur-
den innerhalb von drei Wochen von mehreren Instanzen
verurteilt und dann erschossen. Ein faires Verfahren hat
in dem System keinen Platz gehabt.

In Spiegel Online war vorgestern von der 26-jährigen
Reyhaneh Jabbari im Iran zu lesen. Sie hat in Notwehr
einen Exagenten umgebracht, der sie vergewaltigen
wollte. Nun wartet sie wegen Mord auf ihre Tötung.

Erschütternd für Europa ist, dass mit den USA und Ja-
pan zwei befreundete westliche Nationen, die beim Eu-
roparat Beobachterstatus haben, die Todesstrafe prakti-
zieren. Bisher sind alle Appelle zur Abschaffung oder
für ein Moratorium ohne Ergebnis verhallt. Immerhin
sinkt die Zustimmung zur Todesstrafe auch in den Verei-
nigten Staaten. Letztes Jahr hat Maryland als 18. Bun-
desstaat die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen.
Aber wir sind mit diesem Zwischenstand ganz und gar
nicht zufrieden.

Um den Kampf gegen die Todesstrafe weiter voranzu-
treiben, formulieren wir im Antrag deshalb eine Reihe
von Forderungen, die sich etwas anders anhören, aber in
die gleiche Richtung gehen wie die von Ihnen in Ihrem
Antrag formulierten. Ich möchte abschließend zumin-
dest einige davon zitieren. Wir fordern die Bundesregie-
rung auf:

Initiativen für die weltweite Abschaffung der To-
desstrafe voranzutreiben …, insbesondere bei den
Staaten China, Iran, Irak, Saudi-Arabien, USA, Ja-
pan, Somalia, Sudan und Jemen;



gezielt jene Staaten, die den UN-Zivilpakt und das
Zweite Fakultativprotokoll zum UN-Zivilpakt noch
nicht ratifiziert haben, zur Ratifizierung ohne Vor-
behalt aufzufordern;



bilateral und auf europäischer Ebene mit allen dip-
lomatischen Mitteln Belarus von einem Hinrich-
tungsmoratorium zu überzeugen;

– wir sind einig mit dem, was Amnesty an dieser Stelle
fordert –

weiterhin – u. a. über das Ministerkomitee des Eu-
roparates – auf die USA und Japan einzuwirken;

– Sie merken vielleicht, dass ich das zum dritten Mal
nenne; es tut mir weh, dass wir das immer noch machen
müssen –



bei allen Initiativen gegen die Todesstrafe eng mit
zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen-
zuarbeiten und diese in ihrer Arbeit zu unterstützen.

Ich möchte meinen Dank denjenigen aussprechen, die
sich in den letzten Jahren in diesem Bereich besonders
engagiert haben. Eine Organisation habe ich genannt; da
sind aber noch andere. Auch von dieser Stelle: Es ist
klasse, was Sie da treiben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Todesstrafe ist grausam, erniedrigend und men-
schenrechtswidrig. Sie „verstößt gegen das Recht auf
Leben und verletzt die Würde des Menschen“. Lasst uns
gemeinsam dagegen kämpfen, auch gemeinsam in Eu-
ropa.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805811400

Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht

jetzt Omid Nouripour.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805811500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlau-

ben Sie mir, mit der guten Nachricht von heute anzufan-
gen – das hat auch der Kollege Schwabe völlig zu Recht
gemacht –, und zwar mit der Vergabe des Friedensnobel-
preises an Malala Yousafzai und an Kailash Satyarthi.
Ich hatte die Ehre, diese zwei Persönlichkeiten kennen-





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

zulernen. Sie setzen sich schon sehr lange für einen
Kernbereich der Menschenrechte ein – wenn ich „lange“
sage, dann muss man anmerken, dass das bei einer
17-Jährigen schon etwas Besonderes ist –, insbesondere
für die Frauen- und Kinderrechte. Das ist eine sehr freu-
dige Nachricht, dass gerade diese beiden heute ausge-
zeichnet wurden.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich habe in den letzten Jahren immer wieder selbst
eine Person für den Nobelpreis vorschlagen dürfen, und
zwar einen Geistlichen aus dem Iran. Das klingt erst ein-
mal ein wenig befremdlich. Aber Ajatollah Borudscherdi
ist ein Mann, der sich seit Jahren als Quietist ausgezeich-
net hat. Er hat immer wieder heftigst für eine klare Tren-
nung von Religion und Politik geworben, gekämpft und
argumentiert. Er hat viele spannende Schriften verfasst,
die man einem iranischen Geistlichen – so zumindest
lautet ja das Klischee – nicht zutraut, beispielsweise zur
Zweistaatenlösung aus theologischer Sicht. Deshalb ist
er zum Tode verurteilt worden. Denn genau diese Art
Theologie, die Staat und Religion auseinanderhalten
will, erscheint für eine islamische Republik natürlich
ganz unerträglich. Der Mann sitzt seit 2007 im Gefäng-
nis. Er ist schwerst gefoltert worden und hat mittlerweile
sein Augenlicht verloren. Seit wenigen Tagen soll er Be-
richten zufolge in der Todeszelle sitzen.

Iran ist ein besonderes Land im Hinblick auf Hinrich-
tungen, nicht nur weil es sich quantitativ leider in der
Spitzengruppe befindet, sondern weil es dort sehr häufig
zu öffentlichen Hinrichtungen kommt. Das ist eine be-
sonders perverse Art und Weise, die Würde derjenigen,
die hingerichtet werden, zu zerstören, und das auch noch
vor den Augen von Kindern, die das ihr Leben lang nicht
mehr werden vergessen können. Es ist daher umso wich-
tiger, dass man nicht nur über das Thema redet, sondern
auch auf die vermeintlich kleinen Details dieser perver-
sen Techniken, die dort angewendet werden, hinweist.
Auf diese Weise kann man Druck machen, damit das
aufhört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die anderen Länder in der sogenannten Spitzen-
gruppe sind bereits genannt worden. Ich kann nur wün-
schen, dass die Frau Bundeskanzlerin beim heutigen Ge-
spräch mit dem Regierungschef Chinas das Thema
anspricht und die Hinrichtungen dort zur Sprache kom-
men, gerade weil China eine unglaubliche Zahl an Hin-
richtungen vorweist.

Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, heute diese
Diskussion zu führen. Wir müssen sie natürlich auch
weiterhin führen. Ich bin sehr dankbar für die vorliegen-
den Anträge, die anregen, dass man über einzelne Me-
chanismen diskutiert. Wir werden dem Antrag der Koali-
tion zustimmen, auch wenn uns das eine oder andere
fehlt. Beispielsweise verzichten Sie in toto auf die Ein-
zelfälle. Das ist eine Frage der Denkschule; das finden
wir so nicht richtig. Aber es ist zumindest nachvollzieh-
bar, warum Sie es tun. Es ist, glaube ich, auch notwen-
dig, darüber zu sprechen, welche große Rolle deutsche
diplomatische Vertretungen spielen können. Wir haben
viele Fälle erlebt, in denen Botschafter ein sehr großes
persönliches Risiko auf sich genommen haben, um auf
einzelne Fälle hinzuweisen, und sie haben damit auch
sehr viel erreicht. Dafür kann man nur herzlichen Dank
sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Antrag der Linken finden wir sehr vieles richtig.
Was aber dazu führt, dass wir uns enthalten werden, ist
die Forderung nach der Aussetzung der Kooperation
– gerade im Sicherheitsbereich – mit den Staaten, die die
Todesstrafe haben und vollziehen. Hier gibt es Länder,
die zwar Demokratien und unsere Wertepartner sind, die
wir aber mit mehr und nicht mit weniger Engagement
davon zu überzeugen versuchen müssen, dass sie von
der Praxis der Todesstrafe abkommen.

Die USA sind genannt worden. Zu dem Gesagten will
ich nichts hinzufügen, außer zur Praxis der Todeszelle.
Wir kennen einzelne Fälle, in denen Menschen nach der
Urteilsverkündung 40 Jahre lang in der Todeszelle ge-
sessen haben. In dieser Zeit – jeden Tag, 40 Jahre lang –
weiß man nicht, ob man nicht am nächsten Morgen zur
Hinrichtung abgeholt wird. Dabei geht es nicht darum,
dass die Menschen hingerichtet werden, sondern darum,
dass die Todeszelle teilweise systematisch eingesetzt
wird, um die Leute doppelt zu bestrafen. Das ist eines
Rechtsstaates absolut unwürdig.

Ich möchte eine zweite Demokratie nennen, nämlich
Indien. Es gab diese fürchterlichen Fälle von Vergewalti-
gungen brutalster Art inklusive Todesfolge. In der Folge
ist in Indien für solche Fälle die Todesstrafe gesetzlich
verankert worden. Das stieß, muss ich zugeben, in der
Öffentlichkeit zunächst auf großes Verständnis. Es gab
eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Nur, wir haben
in diesen Wochen einige Expertinnen und Frauenrechtle-
rinnen gesprochen, die sagen, dass das unter anderem
dazu führt, dass gerade in den ländlichen Regionen, in
kleinen Dörfern, in denen man für Anzeigen endlich eine
Bresche geschlagen hatte, die Zahl der Anzeigen zurück-
gehen wird; denn teilweise sind es Vergewaltigungen in-
nerhalb der Familie. Das sind kleinste soziale Einheiten.
Die Frau, die einen Mann anzeigt, muss nun damit rech-
nen, dass er hingerichtet wird, was die gesamte soziale
Struktur und das gesamte Gefüge des Dorfes auf Dauer
zerstören würde. Das heißt, dass das, was zunächst als
Gerechtigkeit empfunden wurde, eher dazu führt, dass
bei Vergewaltigungen wieder mehr geschwiegen wird.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805811600

Herr Kollege.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805811700

Letzter Satz. – Das zeigt, dass die Todesstrafe nichts

mit Gerechtigkeit zu tun hat, sondern ausschließlich mit
der Zerstörung von Menschenwürde. Diese irreversible
Art und Weise von Justiz, die immer auch mit vielen Irr-





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

türmern verbunden ist, stößt im Hohen Hause völlig zu
Recht auf unser aller Ablehnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805811800

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Gabriela

Heinrich, SPD-Fraktion.


Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1805811900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rizana Nafeek,
Ramiro Hernandez-Llanas und Rygor Yuzepchuk, diese
Namen stehen stellvertretend für Tausende von Hinge-
richteten weltweit pro Jahr, von denen Amnesty Interna-
tional berichtet. Rizana Nafeek ist am 9. Januar 2013 in
Saudi-Arabien hingerichtet worden. Ihr wurde vorge-
worfen, ein Kind getötet zu haben. Sie hatte unzurei-
chenden anwaltlichen Beistand. Ramiro Hernandez-
Llanas wurde am 9. April 2014 im US-Bundesstaat Te-
xas durch Gift hingerichtet. Er war geistig behindert.
Ihm wurde Mord an seinem Arbeitgeber vorgeworfen.
Rygor Yuzepchuk wurde im April 2014 in Weißrussland
wegen Mordes an einem Mithäftling hingerichtet. Weiß-
russland ist von Berlin keine 800 Kilometer entfernt.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wären jetzt
eigentlich Zahlen zu nennen: In wie vielen Ländern der
Erde vergiftet, hängt, erschießt, steinigt der Staat noch
Menschen? Wie viele Hinrichtungen waren es 2013? Ich
verzichte darauf. Jeder Mensch, der heute in einer To-
deszelle auf seine Ermordung wartet, ist einer zu viel.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich halte fest: Wir fordern, die Todesstrafe weltweit
zu ächten und abzuschaffen. Die Gründe hierfür sind
einfach: Die Todesstrafe widerspricht dem wichtigsten
Menschenrecht, dem Recht auf Leben, und die Todes-
strafe lässt sich bei einem Justizirrtum nicht korrigieren.

Unser Antrag enthält genau diese Botschaft. Er be-
schreibt den Prozess, wie wir uns diesem Ziel annähern
und gegenüber welchen Ländern wir besonders aktiv
werden müssen. Darüber hinaus ist unser Antrag realis-
tisch. Denn wenn schon in einem Land die Todesstrafe
nicht sofort abgeschafft wird, dann sind zumindest – als
erster Schritt – Mindestnormen in Bezug auf die Todes-
strafe einzuhalten. Mindestnormen, das hört sich zynisch
an. Diese Forderung ist aber notwendig, wenn man sich
anschaut, aus welchen Gründen Menschen in den ver-
schiedenen Ländern mit der Todesstrafe bestraft werden:
Das sind Wirtschaftsdelikte, Ehebruch, Gotteslästerung
oder einvernehmlicher, gleichgeschlechtlicher Sex zwi-
schen Erwachsenen. In Ländern wie Iran, Saudi-Arabien
und Sudan steht auf Homosexualität die Todesstrafe.

Meine Damen und Herren, die Abschaffung der To-
desstrafe in der Welt zu fordern, ist wichtig. Darüber hi-
naus haben wir aber durchaus auch in Deutschland
Handlungsbedarf. Zwei Zitate:

Findet diese Dreckschweine und hängt sie auf!
Und:

Todesstrafe für so einen Abschaum! Und alle, die
mitgemacht haben, gleich mit verrecken lassen!

Diese Zitate stammen aus dem Oktober 2014, und diese
Zitate stammen von deutschen Facebook-Nutzern. Sie
finden sofort Kommentare dieser Art, sobald über
schwere Verbrechen berichtet wird.

Natürlich sind solche Kommentare nicht überzube-
werten. Geschützt durch die Anonymität des Netzes lässt
so mancher User jede Zurückhaltung fallen. Mich er-
schrecken der Hass und die Aggression, die in diesen
Kommentaren zum Ausdruck kommen. Die Kampagne
„No Hate Speech“, die vom Europarat unterstützt wird,
hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen für jede Form
der Hassrede zu sensibilisieren. Solche Kommentare ge-
hören dazu, und sie machen etwas mit unserer Gesell-
schaft.

Denn auch aktuelle sozialwissenschaftliche Daten
können uns nicht egal sein: Umfragen zeigen, dass
25 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Staat
dürfe die Todesstrafe für Schwerverbrecher einführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir schon
seit längerem keine Diskussion in Deutschland mehr zur
Todesstrafe führen, müssen wir trotzdem immer wieder
deutlich machen, dass die Todesstrafe zivilisatorischen
Rückschritt bedeutet.


(Beifall im ganzen Hause)


Reyhaneh Jabbari und Iwao Hakamada: Diese Men-
schen leben noch, veranschaulichen jedoch die Grau-
samkeiten der Todesstrafenpraxis. Reyhaneh Jabbari
– Sie sagten es schon, Herr Heinrich – sitzt im Iran in
der Todeszelle, weil sie einen Mann getötet hat, aus Not-
wehr, wie sie sagt, weil er sie vergewaltigen wollte. Iwao
Hakamada veranschaulicht wie kein anderer, dass die
Todesstrafe abgeschafft werden muss. Er saß 45 Jahre in
der Todeszelle in Japan. Vor kurzem hat sich durch einen
DNA-Test herausgestellt, dass er Opfer eines Justizirr-
tums sein könnte.

Danke schön.


(Beifall im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805812000

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Stefan Heck,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Stefan Heck (CDU):
Rede ID: ID1805812100


Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt,
dass Wissenschaft, Gesetzgebung und Erfahrung
sich vereinigen, um darzutun, dass die Zeit nahe ist,
in welcher die Todesstrafe als Überbleibsel alter
Zeiten aufgehoben wird. Wann diese Zeit eintreten
wird, steht in höherer Hand; sobald aber die Über-
zeugung siegt, dass die Todesstrafe weder notwen-
dig noch nützlich ist, dass ihre Beibehaltung selbst
Nachteile erzeugt, wird sie verschwinden, eben so
wie die Blätter im Herbste abfallen.





Dr. Stefan Heck


(A) (C)



(D)(B)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Diese Worte stammen von Carl Joseph Anton
Mittermaier, dem bedeutendsten deutschen Strafrechtler
des 19. Jahrhunderts, Professor in Heidelberg und nicht
zuletzt Mitglied der deutschen Nationalversammlung in
der Paulskirche. Das Zitat stammt aus einer umfassen-
den Monografie Mittermaiers zur Todesstrafe aus dem
Jahre 1862. Denn das Verbot der Todesstrafe gemäß
§ 139 der Paulskirchenverfassung war wie die vielen an-
deren fortschrittlichen Ideen dieses Verfassungsdoku-
ments mit seinem politischen Scheitern Theorie geblie-
ben. Mittermaier kämpfte nun aber akademisch gegen
ein Relikt an, dem er schon 1862 keine lange Zukunft
mehr gab. Doch auch im Herbst 2014 ist die Todesstrafe
noch keineswegs verschwunden. Überhaupt irrte
Mittermaier, wenn er davon ausging, dass die Todes-
strafe so verschwinden würde, wie die Blätter im Herbst
abfallen. Als Mittermaier dies 1862 schrieb, stand die
schrecklichste Phase dieser furchtbaren Strafe, die tau-
sendfach an Unschuldigen im Dritten Reich vollstreckt
wurde, in unserem Land noch bevor.

Nach dem Erscheinen von Mittermaiers Werk sollten
noch mehr als 100 Jahre vergehen, bis die Todesstrafe
1987 endlich auch in der DDR und damit in ganz
Deutschland abgeschafft sein sollte. Vielen ist heute gar
nicht mehr bewusst, dass das SED-Regime die Todes-
strafe noch bis in die jüngste Vergangenheit dazu miss-
brauchte, Regimegegner und abtrünnige Funktionäre zu
verfolgen. Selbstverständlich gab es für die Delinquen-
ten keinen fairen Prozess. Ein Wink der SED-Oberen
entschied über Leben und Tod im Unrechtsstaat DDR.

Der lange Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe
lehrt uns: Auf das Verschwinden der Todesstrafe darf
man nicht warten wie auf das Verschwinden der Blätter
im Herbst. Es ist die Verpflichtung unserer Politik, aktiv
gegen diese grausame Strafe zu kämpfen. Dabei ist es
richtig, dass wir auch 24 Jahre nach der Wiedervereini-
gung und der verfassungsrechtlichen Ächtung dieser
Strafe in ganz Deutschland dieses Thema nicht verges-
sen. Heute ist die Abschaffung der Todesstrafe nämlich
nicht bloß eine Abwägung von Für und Wider. Im Ge-
genteil: Das Grundgesetz hat uns als höchsten Wert un-
serer Rechtsordnung die Würde des Menschen verdeut-
licht. Dies entspricht unserer geschichtlichen Erfahrung.
Zugleich hat sich in Europa die Erkenntnis durchgesetzt,
dass die Anerkennung der Würde des Menschen die
Konsequenz der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen
und Teil des gemeinsamen europäischen, christlich-jüdi-
schen Erbes ist. Deswegen ist es richtig, dass die Forde-
rung nach der Abschaffung der Todesstrafe seit langem
ein wesentlicher Bestandteil der Menschenrechtspolitik
der Bundesrepublik Deutschland ist, wo der besondere
Wert eines Menschen im Mittelpunkt steht.

Es ist gut, dass wir heutzutage – Weißrussland wurde
bereits mehrfach als Beispiel genannt – nicht nur auf das
allmähliche Verschwinden der Todesstrafe in Europa
hinweisen, sondern auch darauf hinwirken, dass Länder
wie Saudi-Arabien, China, der Irak und der Iran, aber
auch gefestigte Demokratien wie die Vereinigten Staaten
von Amerika und Japan die Todesstrafe endlich abschaf-
fen oder zumindest deren Vollstreckung aussetzen. Be-
sonders deutlich müssen wir das dort zum Ausdruck
bringen, wo zur Todesstrafe hinzutritt, dass sozusagen
im Vorlauf zu der Vollstreckung der Strafe die wichtigs-
ten Grundsätze des Rechtsstaates nicht beachtet werden.
Länder wie China, Saudi-Arabien oder der Iran richten
ohne fairen Prozess hin. Es kommt sogar vor, dass Min-
derjährige hingerichtet werden. Dort wird die Todes-
strafe nicht nur für schwerste Verbrechen verhängt, son-
dern häufig genug auch dazu genutzt, Oppositionelle zu
verfolgen und schließlich umzubringen.

Mich persönlich erschüttert – das wurde schon ange-
sprochen –, wie viele Länder bis heute noch immer Exe-
kutionen zum öffentlichen Spektakel und den Verurteil-
ten damit zum Objekt von Gaffern machen, die sich am
Leid eines wehrlosen Menschen ergötzen. Gleichviel
welch ein Verbrechen ein Mensch begangen haben mag,
öffentliche Enthauptungen auf den Marktplätzen Saudi-
Arabiens, an Kränen aufgeknüpfte Verurteilte im Iran
und in gefüllten Fußballstadien erschossene Delinquen-
ten in China, das sind Bilder staatlicher Verrohung. Uns
muss schmerzlich bewusst werden, welche Gräben sich
zwischen unserer Auffassung von Menschenrechten und
der in Saudi-Arabien, im Iran oder in China auftun.
Wenn wir diese Länder heute kritisieren, dann ist das
kein Zeichen westlicher Arroganz oder Überheblichkeit,
sondern Ausdruck unserer unerschütterlichen Überzeu-
gung. Wir sind der Überzeugung, dass Menschenrechte
unveräußerlich sind. Sie gelten für jeden Menschen und
stehen nicht zur Disposition der Politik.


(Beifall im ganzen Hause)


Dabei vergessen wir natürlich nicht, unsere Freunde,
mit denen wir viele Grundwerte teilen, daran zu erin-
nern, welche Konsequenzen unserer Auffassung nach
aus diesen Grundsätzen zu ziehen sind. Es ist deshalb
richtig, dass wir alle auch darauf hingewiesen haben,
dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Position
zur Todesstrafe überdenken müssen.

Ich weiß, dass eine weltweite Abschaffung der Todes-
strafe nur in kleinen Schritten erfolgen kann. Oft genug
geht die Verhängung der Todesstrafe Hand in Hand mit
der Verletzung von zahlreichen anderen Menschenrech-
ten. Deswegen sollten wir, finde ich, hier deutlich sagen:
Eine diskriminierende Anwendung der Todesstrafe ge-
genüber Minderheiten ist verwerflich und nicht hin-
nehmbar. Die Verhängung der Todesstrafe gegen zur Tat-
zeit Minderjährige ist ein schreiendes Unrecht, und die
Hinrichtung von Schwangeren ist schlicht und einfach
ein Verbrechen. Ein fairer Prozess sowie ein rechtskräfti-
ges Urteil sind das Mindeste, was jemandem gewährt
werden muss, dem die Todesstrafe droht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur die Blät-
ter fallen von selbst im Herbst vom Baum. Beim Thema
„Todesstrafe“ müssen wir hingegen dranbleiben und ak-
tiv werden. Mittermaiers Argumente gegen die Todes-
strafe sind inzwischen Bestandteil der Verfassungsdog-
matik unseres Grundgesetzes und wurden mit dem
Schutz der Würde jedes einzelnen Menschen noch wei-
ter vertieft. Kämpfen wir weiter dafür, dass die Todes-
strafe verschwindet! Der Herbst kann für sie eigentlich
nicht früh genug kommen.

Vielen Dank.





Dr. Stefan Heck


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805812200

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Wir

kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/2738
mit dem Titel „Europa – Vorreiter im Kampf gegen die
Todesstrafe“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.


(Beifall im ganzen Hause)


Tagesordnungspunkt 24b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die LINKE auf Drucksache 18/2740
mit dem Titel „Todesstrafe weltweit ächten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Vereinbarte Debatte

Weltmädchentag – Bildung und Gesundheit
von Mädchen als Voraussetzung für Entwick-
lung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Claudia
Lücking-Michel von der CDU/CSU-Fraktion. Bitte
schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU):
Rede ID: ID1805812300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! „Menschenrechte sind Frau-
enrechte!“, „Frauenrechte sind Menschenrechte!“: eine
Selbstverständlichkeit? Mitnichten! Zur Geschichte der
Menschenrechte gehört die Geschichte der Ausgrenzung
von ihnen. Ihre Versprechungen galten die längste Zeit
nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Frauen
und Mädchen gehörten meistens nicht dazu. Dabei reden
wir nicht von grauer Vorzeit. Erst 1993 konnten die
Frauenrechte als universelle Menschenrechte in den Ab-
schlussdokumenten der UNO-Menschenrechtskonfe-
renz in Kairo – immerhin auf dem Papier – verankert
werden.

Als ich dann 1995 hochmotiviert als Mitglied der
deutschen Delegation an der 4. UNO-Weltfrauenkonfe-
renz in Peking teilnehmen konnte, war ich von dem
Glauben beseelt: Jetzt haben wir Frauen es bald ge-
schafft. Mitnichten! Die letzten Jahre und die aktuellen
schrecklichen Erfahrungen zeigen uns, dass es nicht im-
mer nur zum Guten vorangeht, sondern sich Entwicklun-
gen in fürchterlicher Weise auch umkehren können. Die
Berichte von Frauenrechtlerinnen aus dem Nordirak, die
wir vor kurzem in der Gruppe der Frauen unserer Frak-
tion zu Gast hatten, hörten sich an wie Berichte aus ei-
nen Horrorfilm: Frauen und Mädchen als Freiwild, sys-
tematisch vergewaltigt, als Sklavinnen verkauft und von
den eigenen Familien als angeblich Entehrte verstoßen.

Wir debattieren heute aus Anlass des morgigen dritten
internationalen Weltmädchentages. Dieser weltweite
Aktionstag, für den sich unser Haus 2011 interfraktionell
eingesetzt hat, ist 2014 wichtiger denn je; denn über die
Jahre haben wir lernen müssen: Mädchen werden nach
wie vor vielfältig benachteiligt, diskriminiert, sind Ge-
walt oft schutzlos ausgeliefert. Der aktuelle Bericht der
Weltbank zeigt dies in erschreckenden Zahlen.

Die Unterdrückung von Mädchen, ihre Ungleichbe-
handlung und Entrechtung beginnt dabei nicht erst im
Kindesalter, nicht erst mit der Geburt, sondern oft genug
schon im Mutterleib. Ultraschall macht es möglich, un-
erwünschten weiblichen Nachwuchs schon während der
Schwangerschaft zu töten. Wo kein Ultraschall verfüg-
bar ist, werden unerwünschte Mädchen bis heute noch in
manchen Fällen kurz nach der Geburt einfach getötet.

Ich war in Dörfern in Indien, wo das Ersticken eines
Säuglings mit einer Handvoll Reis nach wie vor gesell-
schaftlich akzeptiert war. Mütter, die sich weigerten, da-
bei mitzumachen, bekamen den ganzen Druck ihres
sozialen Umfeldes zu spüren. Dabei waren es oft ökono-
mische Gründe: Mädchen waren einfach zu teuer; denn
die Mitgift treibt die Familie in den Ruin und ihre Ar-
beitskraft geht nach der Hochzeit zudem an die Schwie-
gerfamilie verloren. Eine niederschwellige Geburtenre-
gistrierung, wie sie es leider in vielen Ländern immer
noch nicht gibt, würde schon helfen, um die Neugebore-
nen besser zu schützen und später auch ihre Rechte zu
schützen.

Bis 2015 sollten eigentlich die acht Millenniumsziele
der Vereinten Nationen, die sogenannten MDGs, erreicht
sein. Hierzu gehören auch Dinge wie Gleichstellung von
Mädchen und Jungen, Grundschulbildung für alle, Sen-
kung der Kindersterblichkeit und die Verbesserung der
Gesundheit von Müttern. Aber – wir wissen es alle – in
vielen Ländern sind wir von diesen Zielen nach wie vor
weit entfernt. Wenn wir jetzt zudem in den Irak, nach
Syrien oder nach Nigeria blicken, dann wissen wir: Wir
sind erst recht zum Handeln gezwungen. Zwar wurde
schon 1995 in Peking gefordert, dass Mädchen weltweit
einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung erhalten,
aber davon sind wir ebenso weiterhin weit entfernt.
Nichts ist daher enttarnender als der Name „Boko
Haram“, der übersetzt etwa bedeutet: Westliche Bildung
ist gottlos.

Heute Vormittag – wir haben es wahrscheinlich alle
mitbekommen – wurde bekannt, dass das pakistanische
Mädchen Malala den diesjährigen Friedensnobelpreis er-
hält.


(Beifall im ganzen Hause)


Herzlichen Glückwunsch auch von dieser Stelle! Ich
freue mich und wir freuen uns offensichtlich alle über
diese Entscheidung. Sie ist nicht nur eine wichtige Sym-





Dr. Claudia Lücking-Michel


(A) (C)



(D)(B)

bolfigur, sondern man kann fast sagen: Sie ist Märtyrerin
für Bildung geworden.

Schon gestern hatte ich mir ein Zitat von ihr vor der
UN-Jugendgeneralversammlung aufgeschrieben, das ich
jetzt erst recht, nach der Preisverleihung, hier vortragen
möchte. Sie sagt:

Bildung ist weder islamisch noch westlich, Bildung
ist menschlich.

Sie fährt dann fort:

… für Bildung ist Frieden unerlässlich. In vielen
Teilen der Welt, vor allem in Pakistan und Afgha-
nistan, halten Terrorismus, Kriege und Konflikte
Kinder davon ab, zur Schule zu gehen. Wir alle sind
diese Kriege leid. … Lasst uns zu unseren Büchern
und Stiften greifen. Das sind unsere mächtigsten
Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift
können die Welt verändern. Bildung ist die einzige
Lösung. Bildung geht vor.

Besser kann man es wohl kaum formulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen aus Erfahrung: Mädchen Bildung zu er-
möglichen, sie über ihren eigenen Wert und ihre Rechte
aufzuklären, ihnen praktisches Wissen für ein selbstbe-
stimmtes Leben zu vermitteln, verändert ganze Gesell-
schaften. Frauen mit Schulbildung heiraten in der Regel
später, bekommen weniger Kinder und sind dann besser
in der Lage, für diese zu sorgen. Jedes zusätzliche Schul-
jahr für ein Mädchen erhöht später bei der jungen Frau
das potenzielle Einkommen um 10 bis 20 Prozent. Das
sind wichtige Schritte, um den Kreislauf der Armut
nachhaltig zu durchbrechen.

Lassen Sie uns also alles tun, damit Mädchen ihr
Recht auf Bildung verwirklichen können. Damit setzen
wir den Hebel an der richtigen Stelle an. Dabei geht es
um formale Schulbildung ebenso wie um sexuelle Auf-
klärung und Gesundheitsversorgung.

Unser Augenmerk muss dabei verstärkt auf die Grup-
pen unter den Mädchen gerichtet sein, die noch einmal
in besonderer Weise gefährdet und benachteiligt sind
– man braucht es nicht zu erklären –: Flüchtlingsmäd-
chen – sie erleiden nicht nur vielfach besondere Gewalt,
sondern müssen auch enorme Anpassungsleistungen
vollbringen –, arbeitende Mädchen – sie brauchen Un-
terstützung, damit ihre Lage überhaupt gesellschaftlich
sichtbar wird –, traumatisierte Mädchen, Mädchenwai-
sen – sie sind ganz allein auf der Welt –, Opfer von
Zwangsprostitution und Menschenhandel.

Die Stellung der Mädchen reflektiert dabei eins zu
eins die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Darum
trete ich dafür ein, dass wir in der Post-2015-Entwick-
lungsagenda die Gleichberechtigung von Frauen und
Mädchen sowie die Wahrung von Frauen- und Mädchen-
rechten als eigenständige Ziele aufnehmen.


(Beifall im ganzen Hause)

Das muss vor allen Dingen folgende Aspekte beinhalten:
Beendigung der Diskriminierung von Mädchen, Beseiti-
gung von gewaltsamen Praktiken, vor allen Dingen bei
Früh- und Zwangsverheiratung, Beendigung der weibli-
chen Beschneidung, gleichberechtigte gesellschaftliche
und politische Teilhabe von Mädchen und Frauen, und
das heißt in der Regel: vollständige ökonomische Unab-
hängigkeit durch gute eigene Arbeitsmöglichkeiten.

Der morgige Weltmädchentag erinnert an unsere Ver-
antwortung, zu handeln. Als Parlamentarier müssen wir
uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, eine gleichberech-
tigte Entwicklung von Mädchen überall auf der Welt zu
ermöglichen. Wir müssen darauf achten, dass wir bei al-
len Maßnahmen, die wir uns in der Entwicklungszusam-
menarbeit vornehmen, die Interessen von Mädchen und
Frauen im Blick behalten. Wir müssen darauf achten,
dass sie vor Ort bei allen Entscheidungen mit einbezo-
gen werden und dass unsere Fachkräfte nicht nur mit den
Männern vor Ort verhandeln. Es geht um Empowerment.

Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass bald der
Tag kommt, an dem der Satz „Frauenrechte sind Men-
schenrechte“ nicht nur auf dem Papier gilt. Noch ist es
bis dahin ein weiter Weg.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805812400

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Annette Groth,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805812500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Anlässlich des internationalen Mädchentages beklagen
wir einmal die weltweite Benachteiligung, Diskriminie-
rung und Gefährdung von Mädchen in vielen Ländern
der Welt. Ein Mädchen zu gebären, gilt bei vielen immer
noch als Enttäuschung. Mädchen werden zwangsverhei-
ratet, sexuell weit häufiger missbraucht als Jungen und
auch noch bestraft, wenn sie infolge des Missbrauchs
schwanger werden.

Weltweit sind etwa 150 Millionen Frauen Opfer von
Genitalverstümmelung. 2 Millionen Mädchen sind jedes
Jahr davon bedroht. Das ist eigentlich unglaublich, und
ich finde, wir alle sind aufgerufen, aktiv gegen diese bru-
tale Art der Körperverletzung zu kämpfen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ein zunehmendes Problem – meine Vorrednerin hat es
schon angesprochen – ist das Kidnapping von Mädchen
und Frauen, um sie zwecks Zwangsheirat nach China zu
bringen. Wir hatten heute ein Gespräch mit Leuten aus
Kambodscha, die uns genau das erzählten. Kidnapping
von Frauen gibt es nicht nur in Kambodscha; das gibt es
auch in Myanmar, in Laos und in anderen Teilen der
Welt. In China fehlen Millionen von Frauen, weil – Sie
haben es schon gesagt – viele Mädchen abgetrieben wur-
den. Jetzt besteht dort ein großes Problem, nämlich Frau-
enmangel, und man holt sich Frauen gewaltsam aus an-





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)

deren Ländern. Es ist eigentlich ein Non-Thema. Darum
sollten wir uns viel stärker kümmern.

Weltweit besuchen 31 Millionen Mädchen im Grund-
schulalter keine Schule, 5 Millionen mehr als Jungen.
31 Millionen Mädchen, die im Grundschulalter sind, ge-
hen nicht zur Schule! Zwei Drittel aller Analphabeten
weltweit sind weiblich. Das ist kein Zufall, sondern ein
strukturelles Problem.

Über die Hälfte der Weltbevölkerung sind Mädchen
und Frauen. Weltweit erbringen sie – oder wir – zwi-
schen 60 und 70 Prozent der Arbeitsleistungen. Bezahlt
wird davon aber nur ein Drittel. Es ist ein Skandal, dass
Frauen nur einen Bruchteil des Welteinkommens erhal-
ten und nur etwa 1 Prozent des weltweiten Eigentums
besitzen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei werden allein in Afrika circa 80 Prozent der land-
wirtschaftlichen Erzeugnisse nur von Mädchen und
Frauen produziert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauen und Mäd-
chen geht es – das wurde schon gesagt – am schlimms-
ten in Kriegen und bei anderen Katastrophen. In solchen
Ausnahmesituationen wird deutlich, wie verletzlich
Mädchen sind. Sie kommen bei Naturkatastrophen nicht
nur vierzehnmal häufiger um als Jungen, sondern sie
werden in deren Folge auch viel öfter Opfer von Gewalt
und Zwang.

Jedes Jahr werden weltweit 1,7 Millionen Mädchen
unter 15 Jahren verheiratet; bei Mädchen unter 18 Jahren
sind es immerhin noch 10 Millionen. Das ist eigentlich
ungeheuerlich.

Ich bin am Dienstag von einer Reise an die syrisch-
türkische Grenze bei Kobane zurückgekommen. Dort
habe ich Flüchtlingslager besucht und war tief beein-
druckt von der Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölke-
rung. Sie versorgen die Flüchtlinge praktisch allein,
ohne internationale Hilfe, die aber angesichts des nahen-
den Winters dringend erforderlich ist.

In einem Lager, das ich besucht habe, waren von den
circa 2 100 Flüchtlingen 85 Prozent Frauen und Kinder.
„Es ist ein Krieg gegen Frauen“, sagten mir türkische
und kurdische Feministinnen, die wie ich eine Solidari-
tätsreise in diese Region machten. Viele der Frauen sind
schwer traumatisiert und waren auf ihrer Flucht teilweise
massiver Gewalt ausgesetzt. Die IS-Terroristen benutzen
Frauen als Druckmittel, verkaufen sie, vergewaltigen sie
und zwingen sie in Ehen.

Ganze Menschenhändlerringe haben sich auf den
Handel mit syrischen Mädchen „spezialisiert“. Fast die
Hälfte der Opfer ist noch minderjährig. Das Geschäft mit
den Mädchen, die für etwa 600 Euro verkauft werden,
boomt, so zum Beispiel in Ägypten, weil sich viele
Ägypter eine Heirat mit Ägypterinnen aus finanziellen
Gründen nicht leisten können.
In vielen Fällen sind die Käufer dieser syrischen
Mädchen Scheichs aus Saudi-Arabien und anderen Golf-
staaten, aber auch Männer aus Frankreich und sogar aus
Deutschland, wie ich in der Türkei erfahren musste. Das
ist doch finsterstes Mittelalter und muss wirklich von
uns allen bekämpft werden.


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Vorrednerin hat es gesagt: Statt immer mehr
Gelder in Rüstung zu stecken, in unproduktive Waffen,
die töten,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat sie aber nicht gesagt!)


sollten wir viel mehr Geld in Bildung stecken und insbe-
sondere ins Gesundheits- und Bildungssystem. Das bie-
tet Mädchen die einzige Möglichkeit, etwas für sich zu
tun. Das sollten Sie bitte auch in den anstehenden Haus-
haltsberatungen beherzigen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805812600

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Frak-

tion ist Michaela Engelmeier, der ich auch ganz herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren darf.


(Beifall)



Michaela Engelmeier (SPD):
Rede ID: ID1805812700

Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vorab möchte ich natür-
lich ein besonderes Mädchen würdigen. Ich bin tief be-
rührt, dass Malala den Friedensnobelpreis erhalten hat.
Ich finde, Malala steht wie keine andere als Symbol
– Sie haben es schon angedeutet, Frau Lücking-Michel –
dafür, dass sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um ihr
Recht auf Bildung einzufordern.


(Beifall im ganzen Hause)


Heute möchte ich über die gesellschaftliche Gruppe
sprechen, die von extremer sozialer und ökonomischer
Ungleichheit und Ungerechtigkeit betroffen ist: die Mäd-
chen. Wir haben diesen internationalen Weltmädchentag
eingeführt, um auf die Lage von Mädchen aufmerksam zu
machen, denn sie sind immer noch besonders häufig Op-
fer von Gewalt, Ausbeutung, Ausgrenzung und Benach-
teiligungen, und das weltweit. „Because I am a Girl“,
„Die Welt wird Pink“, damit begehen wir morgen den in-
ternationalen Weltmädchentag. Mit dem Zeichen Pink
soll ein Zeichen gesetzt werden. Das kräftige Pink der
„Because I am a Girl“-Kampagne hat eine starke Signal-
kraft. Sie vermittelt Lebensfreude und Mut zur Offen-
sive, genau das, was Mädchen motivieren kann, selbst
für ihre Rechte zu kämpfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch wir hier im Deutschen Bundestag wollen uns
einsetzen, die Rechte von Mädchen Wirklichkeit werden





Michaela Engelmeier


(A) (C)



(D)(B)

zu lassen. Wir wollen mit parlamentarischen Initiativen
dafür sorgen, dass Mädchen mehr Gleichberechtigung
erfahren, dass 4 Millionen Mädchen mindestens neun
Jahre zur Schule gehen oder eine vergleichbare Bildung
erhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Probleme, die wir lösen müssen, gibt es genug. Laut
UNICEF werden mehr als 60 Millionen Mädchen vor ih-
rem 18. Lebensjahr gegen ihren Willen verheiratet. In
Bangladesch werden 66 Prozent aller Mädchen Opfer
von Zwangs- oder Frühverheiratung. Sie werden nicht
nur ihrer Kindheit beraubt, sondern auch ihrer Chancen
auf Bildung und Beruf. Mädchen aus den ärmsten
20 Prozent der Haushalte haben ein dreifach höheres Ri-
siko, als Kind verheiratet zu werden. Schwangerschaften
und Geburten sind die Haupttodesursache von Mädchen
im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Es besteht ange-
sichts dieser Zahlen dringender Handlungsbedarf, auch
zur Unterstützung politischer Reformen.

Auf ein Problem möchte ich besonders aufmerksam
machen. Viele Mädchen werden nach ihrer Geburt nicht
offiziell registriert; aber nur wer registriert ist, hat Mit-
bestimmungsrechte und Zugang zu Bildung. Ohne Ein-
trag in ein Geburtenregister erhält man keinen Pass, hat
man keine Bürger- und Wahlrechte, kann man keinen
Besitz erwerben oder erben und wird man häufiger
Opfer von Menschenhandel. Für nicht registrierte Kin-
der ist zudem der Zugang zu staatlicher Bildung schwie-
rig bis unmöglich. Ich werbe dafür, möglichst nieder-
schwellige Registrierungsangebote zu schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der Impfdokumentation die Papiere gleich um die
Registrierung zu erweitern oder etwa mittels einer Re-
gistrierung via Handy zu agieren, die zum Beispiel in
Afrika weit verbreitet sind, das wären Möglichkeiten.
Ich werbe hier dafür, unsere Kraft und Energie gemein-
sam dafür einzusetzen, die besondere Situation von
Mädchen nicht nur zu beachten, sondern alles dafür zu
tun, um sie zu verbessern.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie unbefriedigend die Situation in Sachen Bildung
ist, verdeutlicht „Plan International Deutschland“. Ich
lege Ihnen den Mädchenbericht von „Plan“ besonders
ans Herz. Laut „Plan International Deutschland“ gehen
weltweit rund 75 Millionen Mädchen nicht zur Schule.
Etwa ein Drittel aller Mädchen ist von der Sekundarbil-
dung, also der Möglichkeit, eine weiterführende Schule
zu besuchen, völlig ausgeschlossen. Wenn wir sicher-
stellen, dass Mädchen von Geburt an die gleichen Chan-
cen wie Jungen erhalten, dann helfen wir ihnen und ih-
ren Familien dabei, den Kreislauf der Armut zu
durchbrechen, und geben ihnen die Chance, selbstbe-
wusste Frauen, Mütter, Berufstätige und Leitfiguren zu
werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ein zusätzliches Jahr weiterführender Schulbildung
kann das spätere Einkommen eines Mädchens um durch-
schnittlich 15 bis 25 Prozent erhöhen. Mit der Möglich-
keit, ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften zu kön-
nen, wird sie sich und ihre Kinder aus der Armut
befreien können. Sie wird das, was sie verdient hat, in
ihre Kinder investieren, in deren Gesundheit, Bildung
und Zukunft. Ein gebildetes Mädchen wird mit größerer
Wahrscheinlichkeit später heiraten als eines ohne Bil-
dung, weniger und gesündere Kinder zur Welt bringen.
Mit jedem zusätzlichen Jahr Schulbildung einer jungen
Mutter sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder
sterben, um 5 bis 10 Prozent.

In Nigeria gehen 10,5 Millionen Kinder im schul-
pflichtigen Alter nicht zur Schule. Zwei Drittel davon
sind Mädchen. Wir erinnern uns – tun wir das noch? – an
die entführten Schülerinnen, die zu einem Symbol im
Kampf gegen Boko Haram geworden sind. 211 Mädchen
sind verschwunden. Die entführten Mädchen sind ein
Symbol des Terrors und für das ausgesprochene Schul-
verbot. Ihre Entführung und ihr ungewisses Schicksal
soll eine Drohung an alle Eltern und Mädchen sein, den
Schulbesuch für Mädchen zu vergessen. Momentan ist
die Befreiung der Mädchen völlig aus den Augen des öf-
fentlichen Interesses und der Medien geraten. Wir müs-
sen Sorge dafür tragen, dass das Interesse an der Freiheit
der Mädchen nicht stirbt.


(Beifall im ganzen Hause)


Mein Appell für den Weltmädchentag lautet: Machen
wir nicht nur darauf aufmerksam, vor welcher Heraus-
forderung Mädchen vor allem in Entwicklungsländern
stehen, sondern handeln wir. Von Gesetzesänderungen
und einem Politikwandel werden 400 Millionen Mäd-
chen und Jungen profitieren. Nutzen wir das kommende
Jahr, wenn die Staatengemeinschaft neue Ziele im Rah-
men der Post-2015-Agenda verhandelt. Was dort ent-
schieden wird, wird die Entwicklungszusammenarbeit in
den nächsten 15 Jahren beeinflussen. Was in diesen Zie-
len nicht verankert wird, das wird vergessen bleiben. Da-
für muss nicht nur Gleichberechtigung ein eigenes Ziel
in der Agenda sein, sondern es müssen auch die Rechte
von Mädchen und jungen Frauen in alle anderen Ziele
der neuen UN-Entwicklungsagenda einfließen, wenn wir
sie erreichen wollen. Nur dann ist eine nachhaltige Ver-
änderung machbar.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, möchte ich Ih-
nen gerne den Mädchenbericht und den Sticker „Be-
cause I am a Girl“ überreichen. Bitte.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805812800

Vielen Dank. – Eigentlich ist es umgekehrt. Das Ge-

burtstagskind bekommt etwas geschenkt, aber ich nehme
das auch gerne an.





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805812900

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Eigentlich ist dies heute ein schönes Thema. Wir zele-
brieren heute einen Tag, den es vor drei Jahren noch
nicht gegeben hat. Es war eine Initiative der Kanadier,
diesen Mädchentag einzuführen. Wir haben uns im AwZ,
im Ausschuss für Entwicklungspolitik, intensiv damit
auseinandergesetzt und uns zunächst einmal die Frage
gestellt: Noch ein Tag, der gefeiert werden muss und an
dem gedacht werden soll? Wir sind aber ganz schnell zu
der Überzeugung gekommen, dass es durchaus ein sinn-
voller Tag ist; denn wir Entwicklungspolitiker wissen
natürlich, dass die Frau letztendlich die Trägerin der Ent-
wicklung in vielen Ländern dieses Globusses ist. Wir
wissen natürlich auch: Wenn die Frau die Trägerin der
Entwicklung ist, müssen wir dazu beitragen, dass die
Frau nicht nur Bildung hat. Es wird immer wieder von
Bildung gesprochen. Das ist richtig. Aber wir müssen
uns darüber im Klaren sein, dass die Bildung unbedingt
dafür sorgen muss, dass das Selbstbestimmungsrecht,
das Selbstbewusstsein, die Persönlichkeitsbildung domi-
nieren müssen. Eine Frau, die nur lesen und schreiben
lernt, muss nicht unbedingt eine Führungspersönlichkeit
sein. Sie muss auch nicht unbedingt Selbstbewusstsein
haben. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Frauen
fördern.

Wir haben ein schönes Beispiel – das ist heute schon
mehrfach genannt worden –: Malala. Die damals Elfjäh-
rige hat die Initiative ergriffen und einen Internetblog
gestaltet, in dem sie für das Bildungsrecht für Mädchen
eingetreten ist. Sie hat das unter einem Pseudonym ge-
macht; denn sie wusste sehr wohl, wie gefährlich es in
Pakistan sein kann, mit dem richtigen Namen öffentlich
zu werden. Irgendwann schafften es die Taliban, heraus-
zufinden, wer hinter diesem Pseudonym steckte. Am
9. Oktober 2012 kam es zum Mordanschlag auf Malala.
Zwei Schüsse wurden abgefeuert. Einer traf sie am
Kopf, einer am Hals. Sie schwebte sehr lange in Lebens-
gefahr. Gott sei Dank wurde sie gerettet. Eine Devise,
die Malala schon immer hatte, hieß – das Zitat wurde
schon genannt –:

Ein Kind, eine Lehrkraft, ein Buch, ein Stift können
die Welt verändern.

Das ist genau der Grund, warum die Taliban sagten:
Diese Frau, dieses Mädchen ist eine Gefahr für uns. Die
Taliban wollen alles, nur keine Veränderung. Deswegen
haben sie auch auf Malala geschossen.

Der Antrag zur Einführung des Mädchentages wurde
von allen Fraktionen mitgetragen. Unsere Aufgabe wird
allerdings sein, diesen Antrag auch mit Leben zu füllen.
Es gibt schon Erfolge. Wir diskutieren im Deutschen
Parlament über den Mädchentag. Ich bitte Sie, dazu bei-
zutragen, dass die Thematik, die hinter dem Mädchentag
steht, auf keinen Fall vergessen wird und dass wir durch
viele unserer Entscheidungen die Gendergerechtigkeit
immer in den Mittelpunkt stellen.
Es gibt inzwischen viele positive Entwicklungen.
Wenn wir uns einmal die MDGs anschauen, die im Jahr
2000 verabschiedet wurden: Dort wurden zum ersten
Mal Forderungen zur Stärkung von Mädchen und Frauen
positiv formuliert. Sie haben Wirkung gezeigt. Aller-
dings sind wir mit dem Ergebnis absolut nicht zufrieden.
Gerade im Bereich der Bildung müssen wir sagen, dass
in vielen Ländern 80, 90, manchmal 96 Prozent der Kin-
der eingeschult werden. Wie viele dieser Kinder bis zum
sechsten Jahr in der Schule sind, wird nirgendwo erfasst.
Es wird auch nirgendwo erfasst, welche Qualität diese
Schulbildung hat. Also: Hier muss noch sehr viel mehr
geschehen. Es sollte im Rahmen der Entwicklungspoli-
tik mehr Hilfestellung geleistet werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen uns aber auch die globale Entwicklung
stets vor Augen halten. Fragile Staaten sind eine Bedro-
hung für gesamte Gesellschaften. Aber, wie so oft, gibt
es in den Gesellschaften eine Bevölkerungsgruppe, die
stärker und empfindlicher von der jeweiligen Situation
betroffen ist als andere: Mädchen und Frauen.

Denken Sie nur an die Situation in den Flüchtlingsla-
gern. Ich habe die Ortschaft Dadaab in Kenia besucht.
Die Frage, wie Frauen in den UN-geführten Lagern ge-
schützt werden können, ist dort ein riesiges logistisches
Problem, das bis heute noch nicht zufriedenstellend ge-
löst worden ist.

Das Thema Menschenhandel wurde angesprochen,
das ist bis zu 95 Prozent Frauen- und Mädchenhandel.
Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Mädchen
schlechtergestellt sind als die Jungen.

Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Die MDGs laufen 2015 ab, die SDGs folgen. Wir haben
mit „Plan Deutschland“ darüber gesprochen, ob sie zu-
frieden sind mit der Ausformulierung der Ziele der inter-
nationalen Gemeinschaft in Bezug auf Mädchenförde-
rung und die Gleichstellung der Frau. Es wurde klipp
und klar gesagt: Nein, das, was bisher in den SDGs for-
muliert worden ist, bleibt hinter den MDGs zurück. –
Das darf aber nicht sein. Es wird also unsere Aufgabe im
nächsten Jahr sein, die Diskussion über die SDGs fortzu-
führen und sie mit Leben zu füllen.

Danke schön.


(Beifall im ganzen Hause)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805813000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Martin Patzelt,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Martin Patzelt (CDU):
Rede ID: ID1805813100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Ich möchte zunächst meine Freude darüber
zum Ausdruck bringen, dass diese Debatte geführt wird.
Sie ist richtig und wichtig, und meine Vorredner haben
bereits ausgeführt, warum das so ist. Uns obliegt die





Martin Patzelt


(A) (C)



(D)(B)

Aufgabe – auch wenn wir an diesem Freitagnachmittag
in relativ kleiner Zahl versammelt sind –, die Aufmerk-
samkeit, zumindest in unserem Land, auf die Problema-
tik zu richten, die vielfach mit Fakten, Zahlen und Daten
beschrieben wurde.

Es kann einen grausen. An die vorhergehende Debatte
über die Todesstrafe schließt sich nun die Debatte über
den Weltmädchentag an. Ich gebe Ihnen recht, Herr
Kekeritz: Es ist ein Anlass zur Freude, dass es Mädchen
gibt.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Dass es den Tag gibt!)


Ich bin sehr dankbar, dass ich als Mann hier reden
darf. Ich tue das aus ganzem Herzen, weil wir alle unser
Leben einer Frau verdanken


(Annette Groth [DIE LINKE]: Das ist wahr!)


und weil ich glaube, dass die Frauen eine gewisse Ver-
antwortung dafür tragen, wie Männer werden.

Die primäre Sozialisation, die wir alle erfahren, wird
von unseren Müttern geleistet. Wenn man das Übel an
der Wurzel packen will – meine Vorredner haben rich-
tige und empfehlenswerte Vorschläge gemacht, die ich
aufgreifen will –, dann muss man meiner Meinung nach
den Fokus auf die Rolle der Mutter richten; denn Frauen
leisten Sozialisationshilfe für ihre Kinder.

Das Thema Bildung ist diskutiert worden. Herr
Kekeritz, ich denke, das ist doch etwas vielschichtiger;
denn wer lesen und schreiben kann, der hat auch die
Möglichkeit, sich zu informieren und über Medien und
Literatur andere Bilder von Welt, von Gesellschaft und
von Selbstverständnis zu entwickeln. Das ist die Voraus-
setzung dafür, dass eine Frau, die ein Kind zur Welt
bringt und in seinen ersten Lebensjahren begleitet, für
sich selbst ein Gefühl der Würde und des Wertes entwi-
ckelt.

Ich will all die Zahlen und Fakten, die genannt wor-
den sind, nicht wiederholen. Der Report von „Plan Inter-
national“ ist wirklich eine sehr umfängliche und hilfrei-
che Analyse dessen, was sich im Moment in der Welt
abspielt. Ich kann dem Verein „Plan International“ nur
danken, dass er damals die Initiative ergriffen hat. „Plan
Canada“ hat dafür gesorgt, dass die UN diesen Aktions-
tag initiiert haben. Wir als Deutsche haben uns ein paar
Jahre später diesem Mahntag angeschlossen.

Mit dem Report hat der Verein „Plan International“
den Ball wieder aufgenommen. Er bleibt kontinuierlich
dran, und dafür wollen wir danken. Das macht einmal
mehr das Zusammenspiel von zivilen Trägern und von
Initiativen aus der Gesellschaft heraus deutlich, die sol-
che Themen im Zusammenwirken mit der Politik immer
wieder ins Bewusstsein rücken. So können wir einen
größtmöglichen Effekt erzielen.

Da hier schon vieles gesagt wurde, was ich nicht wie-
derholen möchte, will ich den Blick auf die gegenwär-
tige Situation richten: Jeder Mann, der mordet, der tötet,
der ein schlechtes Bild von Frauen hat, der sich Massen-
bewegungen anschließt und sich unkontrolliert verhält,
ist – das habe ich schon gesagt – irgendwann einmal er-
zogen worden. Wir haben in den letzten Tagen von
Minister Müller gehört, was er durch Augenzeugen er-
fahren hat; er war sichtlich berührt davon. Eine Frau hat
ihm berichtet, wie ein ganzes Dorf von der IS-Truppe
behandelt wurde: 500 Männer mussten beiseitetreten
und wurden vor den Augen der Kinder, ihrer Kinder, er-
schossen. Die Frauen mit Kindern wurden ausgesondert.
Alle jungen Frauen, alle Mädchen wurden an die Solda-
ten vergeben, jeweils zwei oder drei, und die übrig ge-
bliebenen wurden in vergitterten Autos davongefahren,
zum Verkauf auf dem Sklavenmarkt weitergeschickt. –
Das alles passiert gegenwärtig, heute und jetzt. Deswe-
gen ist auch die Frage nach den Waffen nicht so einfach
zu beantworten, Frau Groth. Wir haben alle die Pflicht,
das nach unserem Selbstverständnis und vor dem Hinter-
grund unseres Grundgesetzes Mögliche zu tun, um sol-
chen entarteten, archaischen, furchtbaren Geschehnissen
entgegenzutreten, notfalls auch mit Gewalt, mit interna-
tional abgestimmter Gewalt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Jurk [SPD])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Blick nach
innen, in unser Land, ist wichtig. Die Medienberichte
aus den Flüchtlingslagern zeigen, dass dort auch kleine
Mädchen leben, dass Kinder und Frauen in Massenla-
gern unter Männern leben. Personen, die sich fremd wa-
ren, müssen vielleicht jahrelang zusammen weiterleben.
Wir haben auch die Aufgabe, in unserem Land, in unse-
rer unmittelbaren Nähe zu schauen, wo es Mädchen und
Frauen gibt, die unter menschenunwürdigen Zuständen
leben; denn auch sie stehen unter dem Schutz unseres
Grundgesetzes. Wir haben alle Anstrengungen darauf zu
richten, dass die Rechte und die Würde von Frauen und
Mädchen auch in unserer unmittelbaren Nähe gewahrt
bleiben. Alle Appelle, die wir in die weite Welt hinaus-
senden, was wir richtigerweise tun, verpuffen und verlie-
ren ihre Wirkung, wenn wir nicht ganz deutlich und für
alle nachvollziehbar sagen: Dort, wo wir Verantwortung
übernommen haben, handeln wir unter Achtung der
Menschenwürde.

In diesem Zusammenhang möchte ich an meinen Ap-
pell erinnern, darüber nachzudenken, Frauen und Kinder
– vornehmlich – in privaten Verhältnissen unterzubrin-
gen, um sie so schnell wie möglich aus den Massenun-
terkünften zu befreien. Das ist nur eine Anregung. Das
kann aber nur, wer dazu in der Lage ist. Das ist aber ein
Baustein in der Palette möglicher Initiativen. Ich bin
froh, dass es jetzt, wo sich die Nachrichten über die Si-
tuation in den Flüchtlingslagern verdichten, in Deutsch-
land in vielen Städten und Gemeinden bürgerliche und
kirchliche Initiativen und Hilfen für die Flüchtlinge gibt,
die hoffentlich nur vorübergehend, aber vielleicht auch
dauerhaft bei uns bleiben.

Die Hilfe für bedrängte Mädchen und Frauen in der
Welt ist ein ethisches Gebot. Das ist auch etwas, was wir
für uns tun; denn die furchtbaren Geschehnisse, die wir
alle jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, beängstigen uns
zunehmend, die einen mehr, die anderen weniger. Grund
für all diese Geschehnisse ist, dass es in den Entschei-





Martin Patzelt


(A) (C)



(D)(B)

dungsetagen Männer gibt und auch Frauen, die mit Ge-
walt Konflikte lösen wollen, die mit alten, archaischen
Weltbildern agieren, die den Krieg und die Gewalt als
Lösungsmuster bei Konflikten und Ungleichheiten be-
trachten.

Ich kann nur immer wieder nachdrücklich und aus
tiefster Überzeugung dafür werben, Folgendes zu beden-
ken: Die Entwicklungshilfe, die wir leisten, alle Gelder,
die wir für Bildungsinitiativen in Ländern ausgeben, in
denen es kein funktionierendes Bildungssystem gibt,
dienen dazu, den Frieden auf der Welt zu mehren und die
Situation von Frauen und Kindern zu verbessern. Wir
müssen mit unseren NGOs Gespräche darüber führen, in
welcher Weise sie in den Ländern Unterstützung leisten,
an welche Bedingungen sie ihre Unterstützung knüpfen
und – auch das wurde schon genannt – wen sie für ihre
Aufgaben in Anspruch nehmen und zu Hilfe rufen.

Wir alle sagen: Bildung kostet Geld. Das ist wahr. In
vielen Ländern mangelt es auch deshalb an Bildung,
weil die Länder das dazu notwendige Geld nicht haben.
Bei den Preisen, die wir für Produkte aus Entwicklungs-
ländern zahlen, schließt sich der Kreis. Wenn wir als ei-
ner der reichsten Teile dieser Welt so wenig für Produkte
zahlen, dann kann die Armut, die letzten Endes auch Bil-
dungsarmut bedeutet, nicht beseitigt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805813200

Herr Kollege, Sie denken an die Zeit, ja?


Martin Patzelt (CDU):
Rede ID: ID1805813300

Ja. – Sie sehen also, hier schließt sich der große Kreis.

Wir müssen Verständnis dafür schaffen, dass es nicht da-
bei bleiben kann, dass wir nur die eine Gruppe im Auge
behalten.

Ich sage Ihnen: Heute Nachmittag feiern wir unser
jährliches Herbstfest. Meine sechs Enkeltöchter werde
ich dort wiedersehen. Ich freue mich darauf. Ich werde
dies auch vor dem Hintergrund der Diskussion, die wir
hier geführt haben, erleben. Ich glaube, wir alle haben
genug zu tun, um hier am Ball zu bleiben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805813400

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Ulla Schulte, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ursula Schulte (SPD):
Rede ID: ID1805813500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wür-
digen heute den 11. Oktober, den Tag, den die Vereinten
Nationen zum Weltmädchentag ausgerufen haben. Das
ist auch gut so. Denn einen solchen Tag können wir dazu
nutzen, um auf die Rechte von Frauen und Mädchen auf-
merksam zu machen, und er gibt uns Gelegenheit, zu
verdeutlichen, dass die Forderung auf ein selbstbe-
stimmtes, chancengleiches und erfolgreiches Leben für
Mädchen noch lange nicht überall erfüllt ist. Ja, wir sind
in einigen Ländern sogar noch meilenweit von der recht-
lichen Gleichstellung entfernt. Das müssen wir uns und
der gesamten Weltöffentlichkeit immer wieder ins Ge-
dächtnis rufen. Ich bin sicher: Wir verspielen unsere Zu-
kunft, wenn wir in unseren Forderungen nachlassen.
Mädchen müssen gefördert werden. Mädchen brauchen
gleiche Chancen und gleiche Rechte, und das weltweit
und in allen Bereichen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dennoch ist der Weltmädchentag vielleicht am Ende
nur ein Symbol. Reiht sich der Mädchentag nur in die
endlose Kette von Feier- und Gedenktagen ein? Nach
dem Muttertag, dem Frauentag und dem Weltkindertag
auch noch einen Weltmädchentag? Immer wenn ich über
diese speziellen Frauenfeiertage rede, sehe ich verdrehte
Männeraugen. Glauben Sie mir, ich kann die Gedanken
dieser Männer lesen. Viele Männer fragen sich auch
heute noch: Muss das denn sein? Was wollen die Frauen
denn noch? Haben sie noch nicht genug erreicht?


(Annette Groth [DIE LINKE]: Nein, haben wir nicht!)


Ihre alles entscheidende Frage lautet: Wo bleiben eigent-
lich wir Männer?

Vor kurzem hielt Emma Watson, die Ihnen als Schau-
spielerin aus den Harry-Potter-Filmen vielleicht bekannt
ist, ihre erste Rede als UN-Sonderbotschafterin für
Frauen- und Mädchenrechte. Sie sagte zu genau diesem
Problemfeld:

Sowohl Männer als auch Frauen sollten sich sensi-
bel fühlen dürfen, sowohl Männer als auch Frauen
sollten sich stark fühlen dürfen. Wir wollen nicht
darüber sprechen, dass Männer in geschlechtstypi-
schen Stereotypen gefangen sind, aber ich kann se-
hen, dass sie es sind.

Mein Ansatz ist, dass wir einen Weltmädchentag
brauchen, weil Mädchen in vielen Ländern immer noch
aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert werden, weil
sie keinen Zugang zu Bildung haben, weil sie keinen Zu-
gang zum Arbeitsmarkt haben, weil sie anders als ihre
Brüder keinen Zugang zu medizinischer Versorgung ha-
ben, weil sie immer wieder Opfer sexualisierter Gewalt
werden und – im schlimmsten Fall – weil sie gar nicht
erst geboren werden. Weibliche Föten werden abgetrie-
ben, und neugeborene Mädchen werden getötet.

Hierzu ein kleines Beispiel. Ich kenne eine junge
Neonatologin, also eine Ärztin, die sich um Frühchen
kümmert. Sie hat mir erzählt, dass sie während ihrer
Hospitanz in einem indischen Krankenhaus einem ge-
sunden kleinen Mädchen auf die Welt geholfen hat. Nie-
mand hat sich über die Geburt dieses kleinen Mädchens
gefreut, selbst die eigene Mutter nicht. Es war halt nur





Ursula Schulte


(A) (C)



(D)(B)

ein Mädchen, kein Junge, kein Stammhalter. Das Mäd-
chen war, wie gesagt, gesund. Aber am anderen Tag war
es aus unerklärlichen Gründen verstorben.

Hier beginnt Diskriminierung. Ich finde, das ist eine
viel zu harmlose Beschreibung. Selektierung ist wohl pas-
sender. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Dagegen
müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mit-
teln einschreiten. Ich weiß nur zu gut, dass sich hier kul-
turelle Traditionen und Menschenrechte gegenüberste-
hen. Ich will auch kein westliches Sendungsbewusstsein.
Ich möchte nur, dass man jedem Menschen unabhängig
vom Geschlecht das Recht auf ein menschenwürdiges
Leben einräumt, nicht mehr, aber auf keinen Fall weni-
ger.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was können wir nun mit Blick auf die Entwicklungs-
länder tun? Wir müssen den Gordischen Knoten von Ar-
mut und begrenztem Zugang zu guten Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen durchbrechen. Bildung ist und
bleibt der Schlüssel zur Veränderung. Gelingt es einem
Entwicklungsland, die Alphabetisierung von jungen
Mädchen voranzutreiben, sinken erfahrungsgemäß Ge-
burtenrate und Kindersterblichkeit, und das Pro-Kopf-
Einkommen steigt. Die Ausbildung von Mädchen wirkt
sich positiv auf die gesamte Entwicklung eines Landes
aus.

Die bisher jüngste Friedensnobelpreisträgerin ist heute
schon oft zitiert worden, aber ich tue es noch einmal, weil
das, was sie zum Thema „Bildung in den Entwicklungs-
ländern“ gesagt hat, so einfach und klar ist. Dies sollten
wir verinnerlichen. Malala hat an ihrem 16. Geburtstag
gesagt:

Lasst uns zu den Büchern und Stiften greifen. Das
sind unsere mächtigsten Waffen. Ein Kind, ein Leh-
rer, ein Buch und ein Stift können die Welt verän-
dern. Bildung ist die einzige Lösung. Bildung geht
vor.

Was soll man dazu noch sagen? Das muss man einfach
umsetzen.

Wir sollten aber nicht nur auf die Entwicklungsländer
schauen. Auch bei uns in Europa, auch bei uns in
Deutschland ist die Umsetzung der tatsächlichen Gleich-
stellung von Mädchen und jungen Frauen noch nicht
überall Realität. Grundsätzlich haben Mädchen und
junge Frauen in den letzten Jahrzehnten viel erreicht.
Wir können bei ihnen einen Anstieg von guten und sehr
guten Bildungsabschlüssen feststellen. Wir sehen, dass
53 Prozent der Studierenden in der Europäischen Union
weiblich sind, in Deutschland sind es 49,5 Prozent. Da-
rauf können wir stolz sein.

Dennoch: Bei Schulbesuchen und vielen Gesprächen
in den Schulen musste ich feststellen, dass sich die Be-
rufswahl von Mädchen und jungen Frauen heute noch
immer auf einige wenige Berufe verengt, eben auf die
traditionellen Mädchenberufe, die zudem noch geringe
Bezahlung und vor allem einen Mangel an Aufstiegs-
möglichkeiten aufweisen. Aus diesem Grund brauchen
wir eine noch gezieltere Berufsorientierung für Mäd-
chen, die nicht auf festgefahrenen Rollenklischees auf-
baut, sondern das Interesse an Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften und Technik weckt. Mädchen soll-
ten auch hier ihre Kreativität entwickeln können.

Nach wie vor gibt es bei uns auch benachteiligte
Mädchen. Ihnen werden der Zugang zu Bildung und der
Einstieg in das Berufsleben erschwert. Das trifft in ganz
besonders hohem Maße auf Mädchen und junge Frauen
mit Migrationshintergrund zu. Wir dürfen davor die Au-
gen nicht verschließen, sondern müssen Angebote ma-
chen, die diesen Mädchen ein selbstbestimmtes Leben
ermöglichen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805813600

Kollegin Schulte, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Das Minus auf der Anzeige weist darauf hin, dass Sie
Ihre Redezeit schon über eine Minute überzogen haben.


Ursula Schulte (SPD):
Rede ID: ID1805813700

Ich komme zum Schluss und sage nur noch, dass ich

finde, dass die Männer mit ihren rollenden Augen den-
noch in einem Punkt recht haben: Bei aller Förderung
von jungen Frauen und Mädchen dürfen wir die Förde-
rung der Jungen nicht aus den Augen verlieren. Wir
müssen deren Interesse für Familienarbeit, für Kinderer-
ziehung, für Hausarbeit wecken. Nur wenn diese Aufga-
ben in Zukunft partnerschaftlich verteilt werden, kann
Gleichberechtigung gelingen.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es Mädchen
und Frauen gut geht. Denn dann geht es auch den Män-
nern und Jungen gut. Und das ist doch das, was wir ge-
meinsam erreichen wollen.

Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805813800

Das war der letzte Beitrag in der vereinbarten Debatte

zum Weltmädchentag. Ich schließe die Aussprache und
rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Kerstin Andreae, Anja Hajduk, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fördermitteltransparenz erhöhen

Drucksachen 18/980, 18/1676

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Andrea Wicklein (SPD):
Rede ID: ID1805813900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nach dieser sehr bewegenden und emotiona-
len Debatte fällt es natürlich etwas schwer, eine Antrags-
beratung durchzuführen. Aber wir haben jetzt die Auf-
gabe, über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zu diskutieren, die Fördermitteltransparenz zu
erhöhen.

Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Anliegen, das wir
teilen. Auch wir wollen weitgehende Transparenz bei
der Vergabe von Fördermitteln.


(Zuruf der CDU/CSU: Haben wir doch!)


Es ist richtig und notwendig, die Bürgerinnen und
Bürger, die gesamte Öffentlichkeit darüber zu informie-
ren, was mit den Steuergeldern in Milliardenhöhe pas-
siert. Aber trotzdem kann ich Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, jetzt schon sagen, dass
wir Ihren Antrag leider ablehnen müssen. Ich werde Ih-
nen auch die Gründe, die dazu führen, im Einzelnen er-
läutern.

In Ihrem Antrag bleiben wichtige Fragen und Fakten
unerwähnt. Sie erwecken den Eindruck – das verstehe
ich, ehrlich gesagt, nicht –, dass es noch keine Transpa-
renz darüber gibt, wer, was und in welchem Umfang
durch den Bund gefördert wird. Ich finde, mit dem För-
derportal des Bundes sind wir auf einem sehr guten Weg.
Jede Bürgerin, jeder Bürger, jedes Unternehmen und
auch Ihre Fraktion hat die Möglichkeit, sich im Internet
bei www.foerderportal.bund.de über die Fördermaßnah-
men von fünf Bundesministerien umfassend zu infor-
mieren.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maßnahmen, nicht die Verteilung!)


In einer öffentlichen Datenbank sind dort mehr als
110 000 abgeschlossene und laufende Fördervorhaben
abrufbar. Sie können dort täglich recherchieren und er-
halten bereits heute Informationen über Namen und Ort
des Zuwendungsempfängers sowie über Fördersumme,
Laufzeit, Thema, Projektträger und darüber hinaus sogar
noch viele andere Informationen mehr. Ich jedenfalls
schaue regelmäßig auf diese Seite und informiere mich
über die Förderprojekte in meinem Wahlkreis. Auch Sie
sollten das bei Gelegenheit vielleicht einmal tun.

Wir haben darüber hinaus die Förderdatenbank, die
dort integriert ist und die einen vollständigen und aktuel-
len Überblick über die Förderprogramme des Bundes,
der Länder und auch der Europäischen Union gibt. Diese
Förderdatenbank ist sehr benutzerfreundlich. Sie um-
fasst eine Förderberatung als Erstanlaufstelle für alle
Fragen rund um die Forschungs- und Innovationsförde-
rung als auch das Onlineantragssystem mit den Antrags-
formularen. Auch die Förderrichtlinien sind dort veröf-
fentlicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, all das erwähnen Sie in Ihrem Antrag nicht.

Im Übrigen beziehen Sie sich in Ihrem Antrag auf die
Transparenzinitiative der EU im Zusammenhang mit den
EU-Agrarfonds. Ich gebe Ihnen zwar recht, dass die Ver-
öffentlichung der Förderung an Landwirte durchaus posi-
tiv ist. Allerdings stehen diese Informationen nur zwei
Jahre im Netz und dann nicht mehr. Im Gegensatz dazu
das Förderportal des Bundes: Ich habe für meinen Wahl-
kreis, für Potsdam, nachgeschaut und festgestellt, dass
die Daten von 1 227 Fördermaßnahmen seit 1990 abruf-
bar sind. Das heißt also: 25 Jahre Transparenz. Was wol-
len wir mehr? Wo finden Sie das?

Aber es gibt noch einen weiteren Grund für unsere
Ablehnung. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass – ich
zitiere – „eine Abwägung zwischen dem Transparenz-
interesse der Öffentlichkeit und dem Schutz personen-
bezogener Daten der Fördermittelempfängerinnen und
-empfänger erfolgen“ soll. Wer soll das denn bitte bei
Zehntausenden von Förderungen im Einzelfall entschei-
den?


(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es!)


Welcher bürokratische Aufwand ist damit verbunden,
dies rechtssicher zu entscheiden?


(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Ganz richtig!)


Ist der Nutzen Ihres Vorschlages wirklich so groß, dass
er diesen bürokratischen Aufwand rechtfertigt? Auch da-
rauf geben Sie keine Antwort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch bei einem weiteren Punkt kann ich Ihnen nicht
folgen – dieser Punkt ist für mich eigentlich der ent-
scheidende –: Unter Ziffer 10 Ihres Antrages fordern
Sie, dass „die Ziele und wesentlichen Resultate“ von
Forschungsprojekten veröffentlicht werden sollen. In Ih-
rer letzten Rede, Frau Andreae, zu diesem Thema wur-
den Sie noch konkreter, da sagten Sie:

Es braucht diese gute Datenlage auch für uns Parla-
mentarier, um besser entscheiden zu können, ob
Förderprogramme fortgeführt, aufgestockt oder lie-
ber beendet werden sollten.

Wären Sie wirklich in der Lage, wissenschaftliche Er-
gebnisse zu bewerten, die oftmals erst nach vielen Jah-
ren Früchte tragen?

Der aktuelle deutsche Nobelpreisträger Stefan Hell ist
das beste Beispiel dafür, dass sich wissenschaftliche Ar-
beit oftmals erst nach sehr vielen Jahren auszeichnet. Da
wollen Sie uns sagen, dass wir Parlamentarier über Sinn
und Unsinn von Förderprogrammen anhand der von Ih-
nen geforderten Daten entscheiden könnten? Ich glaube
das nicht.

Insofern sind aus unserer Sicht die bereits heute im
Förderportal veröffentlichten Daten zu geförderten Pro-
jekten ausreichend; eine hohe Transparenz ist gegeben.
Reserven und Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich bei
dem Umfang der eingestellten Förderprogramme. Inso-
fern begrüße ich ausdrücklich das Anliegen des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Energie, zukünftig alle
Förderprogramme und Projekte des Ministeriums mit
einzustellen. Ich denke, das ist noch mal ein ganz wichti-
ger Schritt in die richtige Richtung.





Andrea Wicklein


(A) (C)



(D)(B)

Ihrem Antrag aber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, werden wir heute leider aus den besag-
ten Gründen nicht zustimmen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805814000

Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805814100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jedes Jahr vergibt der Bund sehr viele Fördermittel an
Unternehmen, aber auch an Verbände und Vereine. Und
die Grünen wollen jetzt, dass dies transparenter ge-
schieht. Die Linke wird dem Antrag zustimmen und die
für meine Begriffe sehr bedauerliche Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Grunde fordern doch die Grünen nichts anderes,
als dass die Europäische Transparenzinitiative aus dem
Jahr 2007 nun auch im eigenen Land umgesetzt wird.
Was ist denn, bitte schön, dagegen einzuwenden? – Es
wurden doch schon auf europäischer Ebene – auch im
Hinblick auf die Punkte, die gerade angesprochen wur-
den – positive Erfahrungen gemacht. Dass die Bundesre-
gierung und die Regierungskoalition jetzt hier auf die
Bremse treten und „Nein, danke“ zu einer Erweiterung
der Transparenz sagen, finden wir falsch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nach-
vollziehbar, dass die Menschen, die Bürgerinnen und
Bürger, auf EU-Ebene das Recht haben, diese Informa-
tionen über Förderungen abzurufen, im eigenen Land
aber nicht. Warum eigentlich? – Die Bundesregierung
sollte nicht hinter die EU zurückfallen und muss diesen
Missstand für meine Begriffe umgehend beheben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die das alles fi-
nanzieren, haben das Recht darauf, zu erfahren, wie ihr
Geld verwendet wird.

Uns ist wichtig, dass den Empfängern der Fördermit-
tel kein zusätzlicher Aufwand entsteht. Die erweiterten
Informations- und Dokumentationspflichten dürfen für
meine Begriffe nicht zulasten der Antragsteller, also der-
jenigen, die die Fördergelder bekommen, gehen. Oft
sind dies nämlich kleine Unternehmen oder auch ehren-
amtlich tätige Vereine und Verbände, die keine eigene
Rechtsabteilung oder keine eigene Abteilung zur Ak-
quise von Fördergeldern haben. Sie wollen mit dem
Geld, das sie bekommen, arbeiten und es nicht fast aus-
schließlich verwalten. An dieser Stelle sei wirklich ange-
regt, den Prozess der Antragstellung generell zu verein-
fachen und auch zu entbürokratisieren, damit noch mehr
Fördermittel bei kleinen Unternehmen oder bei kleineren
Verbänden ankommen.
Ich bestreite nicht, dass die zunehmende Transparenz
im Ergebnis dazu führt, dass ein zunehmender Aufwand
betrieben werden muss und dies zulasten der Verwaltung
geht. Aber wir können uns nicht hier hinstellen und sa-
gen – so wie es meine Vorrednerin gerade angedeutet hat –:
Wir haben kein Personal, damit haben wir auch keine Fi-
nanzmittel, und deswegen können wir das alles nicht
machen. – Wir brauchen eine leistungsfähige Verwal-
tung und eine angemessene Ausstattung dieser Verwal-
tung, damit diese Aufgaben übernommen werden kön-
nen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bürgerinnen und Bürger haben schlichtweg ein An-
recht darauf.

Auch wir nehmen es ernst, wenn Unternehmen heute
sagen, dass zusätzliche Transparenz zur Offenlegung
von betrieblichen Geheimnissen führen kann. Insbeson-
dere viele kleine Unternehmen befürchten, dass mit der
Veröffentlichung eines Projekttitels die Forschungs- und
Entwicklungsarbeiten offengelegt werden. Ebenso fürch-
ten sie, dass ihre Finanzkalkulationen der Konkurrenz
bekannt werden. Die im Antrag der Grünen vorgesehene
Regelung besagt, dass in Einzelfällen von einer Einzel-
veröffentlichung abgesehen werden kann. In der Realität
allerdings besteht zumindest die Gefahr, dass jeder För-
dermittelempfänger versuchen wird, sich bei jeder Gele-
genheit darauf zu berufen. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, das ist ein reales Problem. Dafür brauchen wir eine
Lösung. Man muss darüber entscheiden können – und
das möglichst in allen Einzelfällen –, wie man damit um-
geht. Das wird sicherlich nicht ganz einfach. Aber die
Lösung im Umkehrschluss darf nicht heißen: Wir ma-
chen weiter mit Intransparenz.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Jurk [SPD]: Intransparenz? Quatsch!)


Denn umgekehrt ist auch klar, dass kein Unternehmen
verpflichtet ist, einen Antrag auf Fördermittel zu stellen.

Dennoch: Der Antrag der Grünen geht in die richtige
Richtung. Alles in allem unterstützen wir den Antrag,
auch wenn wichtige Details noch weiteren Klärungsbe-
darf nach sich ziehen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist in Ordnung!)


Denn Transparenz – das ist die Meinung der Linken –
schafft immer auch Akzeptanz bei der Vergabe öffentli-
cher Mittel.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805814200

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege

Mark Hauptmann.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Mark Hauptmann (CDU):
Rede ID: ID1805814300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und

Herren! Wir befassen uns mit dem Thema der Förder-
mitteltransparenz. Zuallererst ist festzuhalten: Das An-
sinnen ist im Kern richtig und begrüßenswert. Trans-
parenz ist gerade bei der Verteilung von Fördermitteln
seitens des Bundes nicht nur wünschenswert, sondern
schlichtweg notwendig. Staatliche Maßnahmen müssen
kontinuierlich auf ihren Erfolg überprüft werden, und
die Datenbanken mit den entsprechenden Informationen
müssen dafür öffentlich zugänglich sein. Außerdem
müssen die Beantragung von Fördermitteln und der Zu-
gang zu entsprechenden Formularen für den Antragstel-
ler einfach gestaltet werden.

Kritisch hingegen sehen wir in dem Antrag der Frak-
tion der Grünen die Vorschläge, wie Sie dieses lobens-
werte Ziel erreichen möchten. Sie fordern erstens die
Einführung einer gesetzlichen Regelung, zweitens die
Ausweitung bereits bestehender Datenbanken und drit-
tens die Offenlegung sensibler Daten. Lassen Sie mich
also kurz auf diese einzelnen Punkte eingehen, um Klar-
heit in der Debatte zu schaffen.

Per Gesetz soll die Fördermitteltransparenz erhöht
werden, da die derzeitige Datenlage intransparent und
durch die Zivilgesellschaft sowie durch uns Parlamenta-
rier kaum zu kontrollieren sei. So steht es im Antrag.
Neue Gesetze sind jedoch nur dann erforderlich, wenn
ihr Erlass wirklich notwendig ist. Das wäre dann gege-
ben, wenn die aktuelle Datenlage tatsächlich so schlecht
wäre, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen.

Der Antrag spricht von einem berechtigten und wach-
senden Interesse der Bürgerinnen und Bürger, über die
Verwendung ihrer Steuergelder in Form von staatlichen
Fördermitteln informiert zu werden. Hier suggerieren
Sie gewissermaßen, dass es heute gar keine oder nur un-
zureichende Möglichkeiten gibt, sich darüber zu infor-
mieren. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-
nen, erwecken den Anschein, als ob geradezu willkürlich
und ungeprüft Mittel seitens des Bundes verteilt würden.
Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal fünf wesentliche
Informationsmöglichkeiten nennen, die es bereits heute
gibt und die sehr umfassend und transparent sind.

Da ist zum Ersten die Förderdatenbank des Bundes.
Sie gibt einen Überblick über die aktuellen Förderpro-
gramme des Bundes, der Länder und der EU für die ge-
werbliche Wirtschaft.

Zweitens haben wir den Förderkatalog des Bundes. Er
eröffnet allen interessierten Bürgern die Möglichkeit,
sich online über abgeschlossene Fördervorhaben der be-
teiligten Bundesministerien – für Bildung und For-
schung, für Wirtschaft und Energie, für Umwelt, für Er-
nährung und Landwirtschaft sowie für Verkehr und
digitale Infrastruktur – zu informieren.

Drittens haben Sie die Möglichkeit, in der Datenbank
des Förderkataloges nachzuforschen und Auskunft über
110 000 abgeschlossene und laufende Förderprojekte zu
erhalten; weitere sollen aufgenommen werden.

Viertens werden die aktuellen Leitlinien der Subven-
tionspolitik jedes Jahr im Subventionsbericht der Bun-
desregierung dargestellt. Das ist eine weitere Möglich-
keit, sich darüber zu unterrichten, ob wir mit diesen
Förderprogrammen tatsächlich Arbeitsplätze schaffen
und Wachstum in unserem Land generieren, was wir ja
als Zielstellung haben.

Schlussendlich schafft fünftens das Informationsfrei-
heitsgesetz für alle Bürger einen Rechtsanspruch, sich
über einzelne Förderprojekte des Bundes zu erkundigen.

Verständlicherweise – so sehen wir es von der
Unionsfraktion – muss es jedoch bei aller Transparenz
auch Ausnahmen geben; denn gerade bei der Förderung
wirtschaftlicher Vorhaben ist ein angemessener Umgang
mit sensiblen Daten erforderlich. Laut Ihrem Antrag for-
dern Sie die grundsätzliche Veröffentlichung des ge-
nauen Förderprogramms, des Namens der Firma, der
Postleitzahl, der Gemeinde des Unternehmenssitzes so-
wie die Angabe, wer Empfängerin oder Empfänger der
Fördermittelzahlungen ist. Eine solche Regelung kann in
einzelnen Bereichen sinnvoll sein; das wollen wir nicht
abstreiten. Beispiele dafür, wo es sinnvoll sein kann,
sind Förderprojekte in der Regionalentwicklung, im
Tourismus oder zur Kulturförderung.

Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch mein Vor-
redner angesprochen hat: Was spricht eigentlich dage-
gen? Für nicht sinnvoll oder sogar schädlich halten wir
die Veröffentlichung von unternehmensbezogenen Da-
ten. Denn was bedeutet es, hier völlige Transparenz zu
schaffen und alle betriebsbezogenen sensiblen Daten
aufzugreifen und zu veröffentlichen? Unternehmen, ins-
besondere mittelständische Unternehmen, sind auf die
Entwicklung innovativer Produkte angewiesen. Wir alle
kennen zum Beispiel das ZIM-Projekt und andere Pro-
jekte, für die Fördermittel vergeben werden. Nur mit ei-
ner hohen Innovationskompetenz können zukunftsrele-
vante Produktentwicklungen auf den Markt gebracht
werden. In letzter Konsequenz bedeuten Ihre Vor-
schläge, dass die Unternehmen Daten veröffentlichen
müssen, die in sehr starkem Maße sensible Bereiche be-
treffen.

In der Luftfahrtbranche, aber auch in anderen Berei-
chen können wir schon heute sehen, dass die Veröffentli-
chung sensibler Daten dazu beiträgt, dass sich Konkurren-
ten einen sehr genauen Blick über andere Unternehmen
verschaffen können, so zum einen, wie viele staatliche
Mittel dieses Unternehmen seitens des Bundes be-
kommt, und zum anderen, woran andere Unternehmen
forschen. Es gibt in gewisser Weise auch in der Unter-
nehmenskommunikation einen gewissen Schutz des
geistigen Eigentums. Wenn zum Beispiel ein Unterneh-
men an einer Patentlösung arbeitet, dann hat es ein be-
rechtigtes Interesse daran, sicherzustellen, dass es als
Innovations- und Impulsgeber für eine neue Idee letzt-
endlich diese Idee auch verwirklichen kann. Wenn es
aber vorher bereits alle sensiblen Daten bis in den Be-
reich der Verteilung einzelner Kosten veröffentlichen
muss,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen sie doch gar nicht! Das ist doch Unfug! Glatter Unfug!)






Mark Hauptmann


(A) (C)



(D)(B)

dann sehen wir dies politisch als schädlicher an als mehr
Fördermitteltransparenz.

Mein letzter Kritikpunkt greift auf, was bereits die
Kollegin Wicklein angesprochen hat. Wir sehen die Ge-
fahr, dass Sie mit diesen neuen Kriterien hinsichtlich der
Fördermitteltransparenz in Ihrem Antrag einen hohen
zusätzlichen Verwaltungsaufwand kreieren werden. Sie
haben nicht darauf hingewiesen, welche Folgekosten ge-
rade auch im Hinblick auf die Dokumentationspflicht
entstehen werden. Daraus wird unserer Meinung nach
mehr Bürokratie entstehen, und es wird zu einem ver-
stärkten administrativen Ausbau kommen. Dabei wollen
wir als gemeinschaftliches Ziel insgesamt einen Büro-
kratieabbau, also eine Verschlankung der staatlichen Bü-
rokratiemechanismen. Sie verstecken allerdings den
Transparenzgedanken und schaffen unter dem Deckman-
tel der Informationsfreiheit ein Bürokratiemonster.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Transparenz, sehr geehrte Damen und Herren, ist not-
wendig und erforderlich. Das gestehen wir sehr gerne zu.
Gerade bei der Verteilung von Bundesmitteln muss
Transparenz herrschen. Transparenz ist jedoch kein
Selbstzweck – das ist der feine Unterschied zu Ihnen,
sehr geehrte Kollegen der Grünen –, vor allem dann
nicht, wenn er in letzter Konsequenz mehr Schaden als
Nutzen bringt.

Ihr Antrag übersieht die bereits vorhandenen Infor-
mationsmöglichkeiten; ich habe Ihnen fünf sehr umfang-
reiche Informationsmöglichkeiten genannt. Er verletzt
letztendlich den Datenschutz der Unternehmen im Hin-
blick auf innovative Forschungen, und er schafft über-
flüssige Bürokratie, die wir eigentlich verhindern
wollen. Deshalb lehnen wir gemeinsam mit der Koali-
tionsfraktion Ihren Antrag ab.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805814400

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805814500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde es schön, dass Sie alle die Intention des Antrags,
Transparenz zu schaffen, für richtig halten; das freut mich.
Die Bürgerinnen und Bürger haben ein wachsendes Inte-
resse daran, zu erfahren, was mit ihren Steuergeldern ge-
schieht; und das ist auch richtig so. Schließlich werden
die Fördermittel aus Steuergeldern finanziert.

Nun gehe ich auf Ihre Kritikpunkte ein. Sie erinnern
sich sicherlich noch an die Debatte über die Mittel aus
dem EU-Agrarfonds. Big Player der Agrarwirtschaft wie
Südzucker, große Molkereien und die Queen von Eng-
land waren Empfänger von Agrarmitteln. Deswegen
wurde damals die EU-Transparenzrichtlinie in Kraft ge-
setzt. Nun kann man im Internet in einer Datenbank se-
hen, wer wie viel erhält. Wunderbar! Das hat geklappt,
funktioniert, ist machbar. Das können wir auch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Andrea Wicklein [SPD]: Das machen wir ja auch!)


Wenn Sie nun sagen, es handele sich hier um Daten-
sammelwut, dann entgegne ich Ihnen: All die Daten sind
bereits vorhanden. Sie haben des Weiteren eingewendet,
dass wir viel Bürokratie aufbauen, und gefragt, wer prü-
fen würde, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, zu sa-
gen, dass es nicht funktioniert. Aber ein Unternehmen,
das sich an Förderprojekten beteiligen will, muss doch
einen Antrag stellen. Dann sind die Daten da, und es
wird geprüft, ob das betreffende Unternehmen berechtigt
ist, Fördermittel in Anspruch zu nehmen. Und dann kann
man auf Basis dieser Prüfung im Normalfall sagen: Das
machen wir transparent. – Das geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Richtig ist: Transparenz ist kein Selbstzweck. Deswe-
gen haben wir alles mit dem damaligen Bundesdaten-
schutzbeauftragten Peter Schaar besprochen. Er hat gesagt:
Ihr müsst eine Bagatellgrenze von 25 000 Euro einfüh-
ren. Er hat gesagt: Natürlich müsst ihr sorgsam abwägen
zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit
und dem Schutz der Daten.

Es geht auch nicht um eine kleinteilige Kostenauflis-
tung. Worum geht es dann? Es geht darum, zu erfahren,
wer von welchen Fördertöpfen profitiert, wer Fördermit-
tel bekommt. Es geht nicht um die Maßnahmen selbst.
Sicherlich gibt es dazu diverse Datenbanken. Aber bis-
her liegt im Dunkeln: Wer profitiert? Wie werden die
Mittel verteilt?


(Thomas Jurk [SPD]: Nein!)


Hier wollen wir Transparenz schaffen. Das ist der An-
satz, den wir in unserem Antrag gewählt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich nenne Ihnen als Beispiel die Plattform E-Mobility.
Wissen Sie, wer die Profiteure der Millionen aus diesem
Programm sind, das aufgelegt wurde, um die Entwicklung
der Elektromobilität anzuschieben? Die Mittel verteilen
sich auf diverse Ministerien. Das Wirtschaftsministerium
jedenfalls fährt die Mittel von 280 Millionen Euro auf
220 Millionen Euro zurück. Mich interessiert, wen das
eigentlich betrifft. Natürlich habe ich als Abgeordnete
mehr Möglichkeiten; das weiß ich. Ich kann beispiels-
weise das Ministerium fragen etc.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann muss man aber auch eine gescheite Antwort kriegen! Das ist das Nächste! – Thomas Jurk [SPD]: Genau das ist der Punkt! Es gibt Transparenz!)


Der Unterschied ist allerdings, dass wir Transparenz für
die Bürgerinnen und Bürger schaffen wollen. Nicht nur
wir Abgeordnete, sondern auch die Bürgerinnen und
Bürger sollen Bescheid wissen.





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist richtig, dass Sie im Bundeswirtschaftsministe-
rium jetzt die Förderprogramme stärker evaluieren. Ich
finde die Ansätze, die Sie, Frau Gleicke, im Ausschuss
vorgestellt haben, richtig. Aber dann sollten wir auch
schauen, ob die Förderung beim Mittelstand, bei den In-
novativen, den jungen Unternehmen, den Start-ups an-
kommt. Lassen Sie uns hier doch Transparenz schaffen,
damit wir mehr wissen. Ja, es geht um eine effizientere
Arbeit und eine bessere Haushaltskontrolle. Was ge-
schieht mit den Milliarden in den Fördertöpfen? Sie kön-
nen nicht ernsthaft dagegen sein, dass hier Transparenz
geschaffen wird. Ihre Argumente sind aus der Luft ge-
griffen. Weder wollen wir ein Bürokratiemonster schaf-
fen, noch leiden wir unter Datensammelwut. Wir wollen,
dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfahren,
was mit ihren Steuergeldern im Fördermittelbereich ge-
schieht. Wir als Abgeordnete wollen gleichzeitig, wenn
es im Haushaltsverfahren um die Aufstockung von För-
dermitteln geht, besser einschätzen können: Sind die
Mittel richtig eingesetzt, oder haben wir Spielraum, um
die Mittel besser einzusetzen? Das ist das, was wir errei-
chen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Forderung nach mehr Transparenz ist in der heu-
tigen Zeit absolut erforderlich. Wir sollten alles daran-
setzen, hier immer wieder nachzulegen. Es ist in Ord-
nung, wenn Sie unseren Antrag kritisieren, weil er noch
nicht alle Fragen beantwortet und nicht jedes Detail
klärt. Wir können über alles reden. Was mich nur so er-
staunt, ist, dass wir im Ausschuss über diese Kritik-
punkte gar nicht gesprochen haben. Wo sind denn Ihre
Initiativen, die die Transparenz, die Sie hier zumindest
in der Prosa loben, einfordern? Wir haben nicht den Ein-
druck, dass Sie wirklich daran arbeiten, Transparenz bei
den Fördermitteln zu schaffen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das wollen die nicht!)


Ich hätte mich gefreut, wenn wir hier zusammen wei-
ter daran gearbeitet hätten, wenn Sie hier nicht nur kriti-
siert, sondern Ihrerseits Vorschläge gemacht hätten; denn
das sind wir den Menschen in diesem Land schuldig. Die
sollen erfahren, was mit ihren Steuergeldern passiert.
Außerdem wollen wir unsere Arbeit an der Stelle besser
kontrollieren. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesen
Gedanken an anderer Stelle noch einmal aufgreifen wür-
den.

In diesem Sinne noch einen schönen Nachmittag!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805814600

Das Wort hat der Kollege Thomas Jurk für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Thomas Jurk (SPD):
Rede ID: ID1805814700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Offensichtlich sind wir uns alle ei-
nig. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten unterstützen grundsätzlich Forderungen nach einer
höheren Transparenz bei der Vergabe von Fördermitteln.
Allerdings – das unterscheidet uns, sehr verehrte Frau
Vorrednerin – sehen wir keinen dringenden und erst
recht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf; denn
die mit Ihrem Antrag verbundene Forderung nach Veröf-
fentlichung von Informationen über die Vergabe von
Fördermitteln ist in wesentlichen Politikbereichen längst
Realität.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


So veröffentlichen die Ministerien für Wirtschaft und
Energie, für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-
cherheit, für Ernährung und Landwirtschaft, für Verkehr
und digitale Infrastruktur sowie für Bildung und For-
schung mit dem Förderkatalog des Bundes im Internet
Informationen über laufende und abgeschlossene För-
dervorhaben.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, es sind die Maßnahmen, nicht die Beträge!)


Dabei handelt es sich – mit wenigen Ausnahmen – um
alle Fördermaßnahmen in den genannten Ressorts, die
über das Projektinformationssystem „profi“ adminis-
triert werden. Um mit Zahlen zu argumentieren: Allein
im Geschäftsbereich des Bundeswirtschaftsministeriums
werden knapp 27 000 Vorhaben – davon rund 4 500 lau-
fende – aufgeführt. Allein diese Zahlen machen doch
deutlich, was bereits verfügbar ist.

Das Bundeswirtschaftsministerium plant zudem, die
Transparenz bei der Fördermittelvergabe dadurch weiter
zu erhöhen, dass mittelfristig weitere Fördermaßnahmen
im Förderkatalog des Bundes veröffentlicht werden.

Außerdem stehen mit der Förderdatenbank des Bun-
des die von Ihnen geforderten Informationen über die
Förderprogramme für die Öffentlichkeit, aber auch für
interessierte Abgeordnete bereits zur Verfügung.

Ebenso erfolgt die unter Ziffer 4 Ihres Antrags gefor-
derte „Vorabinformation der Fördermittelempfängerin-
nen und -empfänger über die Veröffentlichung“ in der
Regel schon jetzt. Das geschieht nämlich entweder
durch die Förderrichtlinie an sich oder durch den jeweili-
gen Zuwendungsbescheid.

Zudem erlaube ich mir an dieser Stelle den dezenten
Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz, das wohl
jedem Bürger das Recht einräumt, Zugang zu amtlichen
Informationen – auch von Bundesbehörden – zu erlan-
gen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das schon einmal gemacht?)


Dass der Antrag der Grünen, sehr verehrte Damen
und Herren, im Detail wenig durchdacht ist, zeigt sich
auch an einer anderen Stelle. So soll – ich zitiere – „die





Thomas Jurk


(A) (C)



(D)(B)

öffentliche Hand“ gesetzlich verpflichtet werden, Infor-
mationen über Förderleitlinien und die Empfänger von
Fördermitteln zu veröffentlichen. In der Begründung Ih-
res Antrages nehmen Sie jedoch nur auf den Bund Be-
zug. Ihnen ist offensichtlich selbst nicht klar, was Sie
wollen. Soll denn nur der Bund oder sollen auch die
Länder und Gemeinden sowie die Anstalten und Körper-
schaften des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet wer-
den?

Ich vermisse in Ihrem Antrag – die Debattenredner
haben bereits darauf hingewiesen – Finanzierungsvor-
schläge für die von Ihnen angedachten gesetzlichen Re-
gelungen. Hat sich bei Ihnen eigentlich schon jemand
einmal darüber Gedanken gemacht, wie aufwendig die
von Ihnen geforderte Ausnahmeprüfung bei der Veröf-
fentlichungspflicht in Fällen ist, in denen es – ich zitiere
aus dem Antrag – „durch die Veröffentlichung zu Rück-
schlüssen auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse kom-
men kann“? – Der Kollege von den Linken hat darauf
hingewiesen, dass man so etwas wie eine Einzelfallprü-
fung vornehmen könne. Entschuldigung! Der Einzelfall
muss doch aber erst einmal definiert werden. Das heißt,
dass alle Anträge geprüft werden müssen,


(Andrea Wicklein [SPD]: Wer soll das, bitte, tun?)


um den Einzelfall herauszufiltern, der dann wieder her-
ausgenommen wird. Schönen Dank auch! Das ist Büro-
kratie pur.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Haben wir doch gesagt! Schönen Dank für die Wiederholung!)


– Schönen Dank, dass Sie es verstanden haben!

Oder haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber
gemacht, welche Kosten es verursacht, wenn in jedem Ein-
zelfall – ich zitiere erneut aus dem Antrag der Grünen –
„eine Abwägung zwischen dem Transparenzinteresse der
Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener Daten
der Fördermittelempfängerinnen und -empfänger erfol-
gen“ soll, indem – jetzt kommt es – „die Erforderlichkeit
der Veröffentlichung nach Bezugsdauer, Häufigkeit so-
wie Art und Umfang der Zuwendung geprüft wird“? –


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles im Antrag drin!)


Ich hoffe, Sie konnten Ihrem eigenen Text jetzt noch fol-
gen, Frau Andreae.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, steht alles im Antrag drin!)


Klar ist jedenfalls, dass Sie, ob Sie es nun wollen oder
nicht, ein unfinanzierbares Bürokratiemonster schaffen.
Das Gegenteil von gut ist bekanntermaßen gut gemeint.

Frau Kollegin Andreae, ich habe interessiert zur Kennt-
nis genommen, dass Sie in der von Ihnen in der letzten
Debatte zu Protokoll gegebenen Rede darauf hingewie-
sen haben, dass insbesondere die neuen Regelungen, die
Sie uns per Antrag hier unterjubeln wollen, Ihnen die
Chance zu neuen Möglichkeiten der Haushaltskontrolle
einräumen.

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Da muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie sich und Ihrer
Arbeit ein Armutszeugnis ausstellen wollen.

Hinter Ihnen sitzt Frau Kollegin Hajduk. Wir sind ge-
meinsam Berichterstatter zum Einzelplan 09, Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Energie. Frau Kollegin
Hajduk, geben Sie mir recht, dass das Ministerium tat-
sächlich bemüht ist, auf Ihre Anfragen sehr transparent
und offen zu antworten, dass also für unsere Arbeit als
Abgeordnete noch andere Möglichkeiten bestehen, In-
formationen zu erlangen und unserem grundgesetzlichen
Auftrag gerecht zu werden, im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger nachzuvollziehen, was die Verwaltung ge-
rade treibt oder nicht? – Nun gut, Frau Hajduk wider-
spricht mir gerade nicht. Also stelle ich fest, dass das im
Hinblick auf das BMWi durchaus der Fall ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805814800

Kollege Jurk, sie hat sich aber auch nicht gemeldet,

um Ihre Redezeit zu verlängern. Deshalb muss ich Sie
jetzt darauf aufmerksam machen, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Thomas Jurk (SPD):
Rede ID: ID1805814900

Frau Präsidentin, ich hatte genau das jetzt erwartet.

Ich freue mich, dass sie es nicht getan hat, weil sie mich
gerade bestätigt hat.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da macht sich jemand wieder einmal die Welt, wie sie ihm gefällt!)


Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen überflüssig,
unausgegoren und unfinanzierbar ist. Deshalb werden
wir diesem Antrag nicht zustimmen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805815000

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege

Hansjörg Durz.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1805815100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn man die Reden in dieser Debatte verfolgt, dann
wird deutlich, dass wirklich alle das gleiche Ziel verfol-
gen, nämlich dass insbesondere dann, wenn Steuergelder
für Fördermittel eingesetzt werden, größtmögliche Trans-
parenz sichergestellt sein muss, dass die politischen Ent-
scheidungsprozesse transparent gemacht werden müssen
und dass die Verwendung von finanziellen Mitteln für
die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein muss.





Hansjörg Durz


(A) (C)



(D)(B)

Wenn man den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es in
Deutschland mit der Transparenz bei Fördermitteln nicht
sehr weit her ist. Dem ist aber nicht so; vielmehr ist ge-
nau das Gegenteil der Fall. Wir haben im Rahmen der
Debatte eine ganze Reihe von Möglichkeiten gehört, wie
man sich informieren kann,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über die Maßnahmen! Aber es geht um die Verteilung! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Welche Firmen kriegen was, und wer spendet?)


wie nicht nur wir als Abgeordnete uns informieren kön-
nen – auch über die Verteilung –, sondern wie auch die
Bürgerinnen und Bürger sich genauer informieren kön-
nen. Ich will die eine Maßnahme noch einmal herausstel-
len: 110 000 bereits abgeschlossene und noch laufende
Vorhaben der Projektförderung sind im Förderkatalog
des Bundes nachzulesen. Da kann man genau sehen, wer
gefördert wird, wer fördert, was gefördert wird, wie
lange gefördert wird und wie viel gefördert wird. Es gibt
also sehr detaillierte Informationen.

In Ihrem Antrag beschreiben Sie aber auch einen ers-
ten Konflikt im Zusammenhang mit Transparenz. Ich zi-
tiere:

Um einen ausreichenden Schutz der Grundrechte
und der personenbezogenen Daten zu gewährleis-
ten, muss sorgsam zwischen dem Transparenzinte-
resse der Öffentlichkeit und dem Schutz personen-
bezogener Daten von Fördermittelempfängerinnen
und -empfängern abgewogen werden.

Sie weisen also darauf hin, dass Transparenz auch
Grenzen hat und dass zwischen Transparenz und dem
Schutz personenbezogener Daten abgewogen werden
muss.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich möchte auf einen zweiten Konflikt hinweisen, ein
zweites Themenfeld, in dem es auch abzuwägen gilt. Sie
orientieren sich in Ihrem Antrag – Sie erwähnen das an
mehreren Stellen – am EU-Agrarfonds. Bei diesen EU-
Agrarfördermitteln geht es ganz konkret um Direktzah-
lungen, um sogenannte Betriebsprämien, die unabhängig
von Art und Umfang der landwirtschaftlichen Produk-
tion gewährt werden, die einerseits an ganz konkrete
Auflagen gebunden sind, andererseits aber vor allem ei-
nen klaren Maßstab haben, nämlich die Fläche. Hier sind
die Richtlinien klar, hier ist der Maßstab klar, hier kann
auch miteinander verglichen werden.

Aber wie ist der Maßstab zum Beispiel bei der Förde-
rung von Innovationen? Abstrakt gesehen klingt „Her-
stellung von Transparenz“ immer sehr einleuchtend.
Wenn es aber konkret wird, wird es etwas schwieriger.
Betrachten wir zum Beispiel ganz konkret das Zentrale
Innovationsprogramm Mittelstand, ZIM, das von allen
hier positiv gesehen wird. Das ist ein Programm zur För-
derung von Forschung, Entwicklung und Innovation,
insbesondere für kleine und mittelständische Unterneh-
men. Der größte Teil der Antragsteller beschäftigt 10 bis
49 Mitarbeiter. Die Förderung über ZIM ist sehr hetero-
gen. Es werden sehr viele verschiedene Technologiefel-
der unterstützt.

Es gibt natürlich klare Förderrichtlinien, nicht aber
den einen Maßstab, mit dem die einzelnen Empfänger
der Förderung verglichen werden können. Es findet eine
regelmäßige Evaluation statt, die den Erfolg und den
sinnvollen Einsatz der Mittel belegt. Der Bericht darüber
wird auch regelmäßig veröffentlicht. Bei der Evaluation,
aber auch bei der Befragung der Unternehmen und der
Projektträger kommt auf die Frage, warum denn ZIM so
erfolgreich ist, stets die Antwort, dass es unbürokratisch
in der Antragstellung, aber auch in der Abwicklung ist.


(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es! – Andrea Wicklein [SPD]: Richtig!)


Sollte man hier noch mehr Transparenz schaffen wol-
len, so ist zusätzlicher bürokratischer Aufwand zwin-
gend erforderlich – für die Projektträger, aber eben auch
für die KMU.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Somit wäre genau ein entscheidender Faktor, ein Er-
folgsfaktor von ZIM, nämlich das Unbürokratische, zu-
nichtegemacht.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist einfach falsch, was Sie sagen! – Gegenruf des Abg. Mark Hauptmann [CDU/ CSU]: Es ist absolut richtig!)


Das Pendant zu ZIM auf EU-Ebene ist das Techno-
logieförderprogramm Horizon 2020. Dieses Programm
wird seitens der Unternehmen und der Projektträger we-
gen der Amtshürden und vor allem wegen des bürokra-
tischen Aufwands kritisiert. Es wird von deutschen Un-
ternehmen sehr wenig in Anspruch genommen, wenn
überhaupt, dann eher von größeren und nicht von KMU,
eben wegen dieses bürokratischen Aufwands.

Das Augenmerk sollte unseres Erachtens viel eher da-
rauf gelegt werden, wie wir es schaffen, mehr Informa-
tionen für die Unternehmen bereitzustellen und damit
mehr Licht ins Dickicht der Förderlandschaft von Bund,
Ländern und EU zu bringen. Hier brauchen wir eine
Transparenzoffensive. Wir wollen mehr Informationen
über die Chancen und Möglichkeiten der Programme für
die Unternehmen. Wir wollen, dass sich noch mehr
kleine und mittelständische Unternehmen auf den Weg
machen, um Innovationen anzugehen und umzusetzen.

Das bedeutet zusammenfassend: Transparenz, Förder-
mitteltransparenz – ja, aber mit Maß und Ziel. Wir sind
der Auffassung, dass die richtige Balance zwischen
Transparenz und bürokratischem Aufwand gegeben sein
muss, und lehnen daher den Antrag der Grünen ab.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schö-
nes Wochenende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805815200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Fördermitteltransparenz erhöhen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1676, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/980 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 15. Oktober 2014, 13 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen erholsamen Nachmittag, wenn das möglich ist.