Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-öffnet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 5auf: 10. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung dergeringfügigen Beschäftigungsverhältnisse– Drucksache 14/280 –
Ich erteile das Wort Bundesminister Walter Riester.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Seit Monaten beherrscht kaum ein sozialpolitischesThema die Debatte so stark wie die Zukunft der sozial-versicherungspflichtigen geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse.
– Es liegt nicht an uns, es liegt an der Materie. – DieDiskussion erfolgt in den Fraktionen und in den Par-teien.
– Das ist keine Katastrophe. Eine Katastrophe ist, daßdie Diskussion nicht früher erfolgte und daß nicht frühergehandelt wurde.
Die Diskussion über dieses Thema ist gerechtfertigt.Ich will Ihnen die Problematik an zwei kleinen Beispie-len aufzeigen.Erstes Beispiel. Ein Handwerksgeselle steht in einemregulären Beschäftigungsverhältnis. Der Geselle arbeitet38,5 Stunden in der Woche in einem Tischlerbetrieb undzahlt von seinen 4 000 DM brutto Steuern und Sozialab-gaben. Nach Feierabend jobbt er für einen anderen Be-trieb – bis jetzt sozialabgabenfrei – auf 630-DM-Basis.Die Pauschalsteuer zahlt möglicherweise der Arbeitge-ber.
– Nein, das muß der Arbeitgeber nicht. Die Steuerpflichtbei Arbeitgebern ist nicht gegeben.Dieser Handwerksgeselle mit einem Gesamteinkom-men von 4 630 DM muß bis zum heutigen Tag nur für4 000 DM Steuern und Abgaben zahlen. Ein andererArbeitnehmer, der das gleiche Einkommen mit nur ei-nem Job erzielt, ist für das gesamte Einkommen steuer-und sozialabgabenpflichtig. Damit subventionierenheute Arbeitnehmer mit ihrem regulären Arbeitsverhält-nis die Zweitjobs derjenigen, die noch etwas hinzuver-
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dienen wollen. Niemand kann behaupten, daß das inOrdnung ist. Hier klafft eine Gerechtigkeitslücke.Zweites Beispiel. Eine alleinerziehende Frau mit zweiKindern arbeitet in einem geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnis. Viel mehr kann sie den Umständen be-dingt häufig auch gar nicht tun. Diese Frau, die insge-samt eine Dreifachbelastung zu tragen hat, erhält nachjetziger Rechtslage nicht einmal die Chance, für einenPfennig ihres Verdienstes Rentenansprüche zu erwer-ben. Auch hier klafft eine Gerechtigkeitslücke.Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsver-hältnisse werden wir diese Lücken schließen.
Wir haben die Argumente aller Beteiligten, der Wirt-schaft, der Gewerkschaft und der Sozialversicherung,genau zur Kenntnis genommen und – wo berechtigt – inden Gesetzentwurf einfließen lassen. In diesem Hausdürfte eine große Mehrheit mit mir der Meinung sein,daß wir die geringfügigen Beschäftigungsverhältnissereformieren müssen. Die Entwicklung ist aus dem Rudergelaufen.
Ursprünglich waren die geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse die Ausnahme. Auftragsspitzen sollten auf-gefangen werden; einigen Personengruppen sollte dieMöglichkeit gegeben werden, sich ein paar Mark dazu-zuverdienen. Doch heute ist in vielen Bereichen dieAusnahme zur Regel geworden. Die Möglichkeit, ge-ringfügige Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, wirdzunehmend mißbraucht. In Deutschland hat die Zahlder geringfügig Beschäftigten in den vergangenen Jah-ren sprunghaft zugenommen.Dazu nur ein paar Zahlen: Nach einer Untersuchungdes Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspoli-tik war von 1992 bis 1997 ein Anstieg von 4,5 Millionenauf 5,6 Millionen Personen in geringfügigen Arbeitsver-hältnissen zu verzeichnen. Das entspricht einer Zunahmevon 24 Prozent in 5 Jahren. Die Zahl der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist im glei-chen Zeitraum um 7 Prozent bzw. um 2 Millionen abge-sunken. In manchen Branchen ist der Zuwachs sogardramatisch. Im Einzelhandel stieg die Zahl der gering-fügig Beschäftigten in 10 Jahren um 157 Prozent, imGastgewerbe sogar um 172 Prozent.Diese Zahlen bestätigen: Es geht bei dieser Beschäf-tigungsform nicht mehr nur um eine sinnvolle Ergän-zung zu den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnissen, sondern es geht in weiten Bereichenum die konsequente Flucht aus der Solidargemein-schaft. Diesen Trend werden wir stoppen.
Unsere Reform der geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse ist eine Reform für mehr Wettbewerbsfä-higkeit, für mehr Arbeitsplätze und für mehr Gerechtig-keit.
Das sind wir den Beschäftigten, der Solidargemeinschaftder Beitragszahler und – das betone ich ganz besonders– den Arbeitnehmerinnen im Lande schuldig;
denn der Erwerb von Rentenansprüchen bleibt nichtlänger ein Privileg derjenigen, die mit ihrem Einkom-men über der Geringfügigkeitsgrenze liegen.
Jede Frau und jeder Mann kann künftig von der erstenverdienten Mark an Rentenansprüche erwerben.
Damit tragen wir insbesondere den Bedürfnissen derFrauen Rechnung. Sie, die bislang oft in ungeschütztenBeschäftigungsverhältnissen beschäftigt waren, könnensich endlich eigenständig gegen Invalidität und Alter ab-sichern.
Damit schließen wir eine Lücke im Sozialversicherungs-system.
Damit bringen wir auch wieder ein Stück mehr Ordnungin den Arbeitsmarkt. Künftig sind von der ersten Markan Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen. Wir stop-pen damit auch die Erosion des Beitragsfundamentes.Ordnung auf dem Arbeitsmarkt heißt aber auch mehrTransparenz. Jedes Beschäftigungsverhältnis, ob für 300oder 630 DM im Monat, wird künftig auf der Lohnsteu-erkarte vermerkt.
– Nein, das heißt nicht mehr Bürokratie. Das heißt erst-mals die Kontrollmöglichkeit und auch die Verhinde-rung von zunehmender Schwarzarbeit.
Ein Wort aber auch zu den Bedenken in der Wirt-schaft: Durch den systematischen Mißbrauch der 630-DM-Jobs verschaffen sich Teile der Wirtschaft Wettbe-werbsvorteile zu Lasten derer, die Monat für Monat ihreBeiträge für die Sozialversicherung verantwortungsvollentrichten. Diese Wettbewerbsverzerrung werden wirbeenden.
Bundesminister Walter Riester
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Wir wollen diese Beschäftigungsform wieder zu demmachen, wozu sie einmal gedacht war. Sie soll nämlichdie notwendige Flexibilität im Arbeitseinsatz dort ge-währleisten, wo dies mit normalen Arbeitsverhältnissennur schwierig möglich wäre. Mittelfristig werden wirdaher die Ausweitung der geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse eindämmen. Das gelingt uns, indemwir die Geringfügigkeitsgrenze bei 630 DM einfrieren.Ich betone ausdrücklich: Die Bundesregierung willdie 630-DM-Jobs nicht abschaffen.
Sie ist sich sehr wohl bewußt, daß sie in einer Vielzahlvon Wirtschaftsbereichen gebraucht werden. Sie ist sichauch bewußt, daß erhebliche Teile der geringfügig Be-schäftigten diese Arbeit ausführen, um sich etwas hinzu-zuverdienen.
Für die Arbeitgeber, die bislang eine Pauschalsteuerauf die 630 DM entrichtet haben, ändert sich von derBelastung her nicht viel. Ab 1. April 1999 müssen dieArbeitgeber für geringfügige BeschäftigungsverhältnissePauschalbeiträge von 12 Prozent an die Rentenversi-cherung und 10 Prozent an die Krankenversicherung lei-sten. Keine Arbeitnehmerin und kein Arbeitnehmer mußbefürchten, daß das geringfügige Beschäftigungsver-hältnis nun unrentabel wird.
Es bleibt bei unserem Versprechen: Wenn die monatli-chen Einkünfte 630 DM nicht übersteigen, bleiben siesteuerfrei.
– Das ist nicht sowieso so, denn bisher waren sie nichtsteuerfrei.Bei verheirateten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern bleibt es auch dann bei der Steuerfreiheit,wenn der andere Ehegatte eigene Einkünfte erzielt. Da-mit wollen wir die Funktion der 630-DM-Jobs alsBrücke in den Arbeitsmarkt stärken.
– Vielleicht können Sie einmal zuhören, dann könnenSie anschließend besser argumentieren.
Nach einer Untersuchung des DIW in Berlin hatten28 Prozent aller Frauen in Westdeutschland, die im Jahr1991 geringfügig beschäftigt waren, fünf Jahre spätereinen sozialversicherungspflichtigen Job.
Fast ein Drittel aller geringfügig beschäftigten Frauenhat also den Sprung in ein reguläres Arbeitsverhältnisgeschafft.Meine Damen und Herren, unsere Reform ist gut. Sieüberfordert die Wirtschaft nicht, sie ist sozial ausgewo-gen, und sie sorgt für mehr Beitragsgerechtigkeit.
Unsere Reform macht ein weiteres Aufsplitten von Ar-beitsverhältnissen unattraktiver und verhindert ein Aus-weichen in die Schwarzarbeit.
Außerdem bieten wir künftig allen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern, unabhängig von Arbeitszeit undEinkommen, die Möglichkeit, sich für ihr Alter abzusi-chern.
Darum hoffe ich auf breite Zustimmung zu diesemGesetzentwurf von allen, denen an einer wirklichenVerbesserung des Status quo gelegen ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester,Ihre Rede paßte zu allem möglichen, nur nicht zu demGesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben.
Ich fange einmal mit einer konkreten Zahl an. Sie ha-ben tatsächlich die Unverfrorenheit besessen, hier von4,5 bis 5,6 Millionen 630-DM-Arbeitsverhältnissen zusprechen. Wenn Sie sich Ihren Gesetzentwurf ansehen,können Sie feststellen, daß Sie dort von 2,5 Millionengeringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ausgehen.
Angesichts dieses Zahlenwerks wird deutlich: In Ihremkonkreten Gesetzentwurf legen Sie das schon nicht mehrzugrunde, womit Sie hier Propaganda machen.
Sie sollten den Frauen auch ganz konkret sagen, wases für sie bedeutet, wenn dies Gesetz würde. Eine Frau,die ein Jahr lang in einem 630-DM-Arbeitsverhältnis tä-tig ist, erwirbt einen Rentenanspruch von schlappen7 DM. Sie müßte 150 Jahre weiterarbeiten, um über-haupt auf ein Niveau zu kommen, das dem Sozial-hilfeniveau entspricht. Das zeigt doch die Qualität des-sen, was Sie hier vorgelegt haben.
Bundesminister Walter Riester
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Das, was sich in den letzten Wochen in der Koalitionbei diesem Thema abgespielt hat, spottet jeder Beschrei-bung.
Herr Kollege Kues,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Im Prinzip gerne.
Ich möchte aber zunächst einmal einige Gedanken aus-
führen.
Das ist virtuelle Politik à la Bundeskanzler Gerhard
Schröder. Man sagt, man müsse etwas tun. Man will
aber nichts tun, und wenn man etwas tut, tut man es so,
daß die Menschen das am besten überhaupt nicht mer-
ken. Ich biete Ihnen jede Wette an, daß dies nicht der
letzte Vorschlag ist, den Sie gemacht haben. Man mußte
seine Rede, Herr Minister Riester, geradezu am Nach-
richtenticker entwerfen, um mitzubekommen, was sich
in den letzten Stunden alles geändert hat. So ist nämlich
die Wirklichkeit.
Ihr Gesetzentwurf ist ein Armutszeugnis dieser Re-
gierung.
– Ich sage Ihnen gleich, weshalb das nicht platt ist. –
Wir stimmen in der Ablehnung fast nahtlos mit prak-
tisch allen Gewerkschaften der Dienstleistungsbranche –
ob ÖTV, ob DAG, ob HBV, ob Postgewerkschaft oder
IG Medien – überein. Ich finde, es ist eine interessante
Entwicklung, wenn CDU/CSU und Gewerkschaften bei
der Ablehnungsfront „Seit' an Seit' marschieren“.
Wie lautet die Kritik der Gewerkschaften? Erstens.
Eine wirkliche Mißbrauchsbekämpfung, geschweige
denn Eindämmung findet nicht statt. Gestern hat Frau
Engelen-Kefer sogar gesagt, es komme zu einer Aus-
weitung dieser Beschäftigungsverhältnisse. Zweitens. Es
werden im wesentlichen Beiträge in die Sozialkassen
geleitet, um – das sind jetzt meine Worte – die Löcher
einigermaßen zu stopfen, die Sie durch unhaltbare Ver-
sprechungen sowohl bei den Krankenkassen als auch in
der Rentenkasse aufgerissen haben.
Wenn ich nur die Zahlen genauer ansehe – interes-
santerweise haben Sie in den letzten Tagen das Zahlen-
blatt des Gesetzentwurfes noch einmal geändert –, dann
fällt mir folgendes auf: Sie veranschlagen Steuerminder-
einnahmen in Höhe von 1,37 Milliarden DM. Dem ste-
hen für 1999 – im Jahre 2000 wird dies wieder anders
sein – im Bereich der Sozialversicherungen Mehrein-
nahmen in Höhe von 3,4 Milliarden DM gegenüber. Das
heißt, rund 2 Milliarden DM werden zusätzlich einge-
nommen. Damit wird eines klar: Sie wollen sich zu La-
sten der Bürgerinnen und Bürger bereichern, um Ihre
Politik zu kaschieren.
Diejenigen unter Ihnen – das paßt zu Ihnen, Frau
Schmidt –, die sich ehrlich engagiert und geglaubt ha-
ben, es gehe bei der Diskussion über die 630-Mark-Jobs
wirklich um eine bessere Alterssicherung der Frauen,
stehen doch wie begossene Pudel da. Wenn man Ihren
Gesetzentwurf genau betrachtet, dann ist festzustellen,
daß der Vorschlag so neu wie ein alter Hut ist, den Sie
lediglich gewendet haben – statt Steuern jetzt Abgaben –
und den Sie vor allem den Frauen andrehen wollen, wo-
bei Sie dann noch behaupten, er stehe ihnen gut.
Herr Kollege Kues,
gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin
Schmidt?
Jetzt gestatte ich
eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Kues,
sind Sie mit mir der Meinung, daß Rentenansprüche von
Frauen nicht nur in geringfügiger Beschäftigung – also
die knapp 7 DM pro Monat – erworben werden können,
sondern daß für die Frauen durch unsere Option eine
große Chance eröffnet wird
– Sie sollten zuhören; ich glaube es, sonst würde ich es
nicht sagen; Sie kennen mich doch lange genug –, weil
im Erwerbsleben einer Frau eine geringfügige Beschäf-
tigung oft zu anderen Beschäftigungen hinzukommt, und
daß mit dieser Option Rentenbiographien geschlossen
und weitergehende Ansprüche auch im Hinblick auf die
Rente langjährig Versicherter, im Hinblick auf die Rente
nach Mindesteinkommen, Erwerbsunfähigkeitsrenten
und anderes mehr erworben werden können? Sind Sie
insofern mit mir der Meinung, daß der Vorteil dieser
Regelung nicht darin besteht, daß die Rentenansprüche
im Alter um 6,78 DM erhöht werden, sondern darin, daß
ein komplettes Angebot geschaffen wird, also eine Zu-
sammenfügung von Renten bzw. Einzahlungszeiten er-
möglicht wird angesichts dessen, daß Frauen in ihrem
Erwerbsleben vor der Ehe oft zeitlich voll, während der
Erziehung der Kinder geringfügig beschäftigt und an-
schließend wieder in Vollzeit erwerbstätig sind?
Frau KolleginSchmidt, wenn man sich Ihre Frage richtig zu Gemüteführt – „Was könnte alles passieren, wenn ...?“ –, dannmerkt man schon, wie kompliziert diese ganze Regelungist. Sie vergessen vor allen Dingen eines: Männer undFrauen erwerben erst dann zusätzliche Rentenansprüche,Dr. Hermann Kues
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wenn sie selbst vorher zusätzlich einzahlen. Und Siesollten auch die Summe nennen: Wenn es um ein Be-schäftigungsverhältnis geht, bei dem die Bezahlung un-ter 300 DM liegt, dann muß ein Mindestsatz von 58,60DM – 19,5 Prozent von 300 DM – eingezahlt werden.Das heißt: Wenn ich Geld mitbringe, erwerbe ich einenzusätzlichen Rentenanspruch. Das war im gesamten Sy-stem auch bisher schon möglich.
Noch einmal: Wer Geld mitbringt, der kann bei der vonIhnen vorgesehenen Regelung irgendwann eine mini-male Rente bekommen.Ich habe mein Beispiel eben auf die Summe von300 DM bezogen. Bei einer Frau, die 100 DM im Monatverdient, muß der Arbeitgeber 12 DM zahlen, und siemuß den Rest, nämlich 46,50 DM, tragen. Damit erwirbtsie, auf das Jahr gerechnet, einen Rentenanspruch von7 DM monatlich. Das ist das Ergebnis Ihres Entwurfs.Ich finde, das ist im Grunde genommen keine Lösung.
Der Minister hat oft das Wort „gerecht“ gebraucht.Ich wundere mich eigentlich nicht, daß Sie eine büro-kratische Lösung vorschlagen. Es paßt in mein Bild vonIhnen, daß eine komplizierte Regelung herausgekom-men ist. Aber daß Sie geringverdienende Frauen mit die-ser Regelung schamlos zur Kasse bitten, ist nach meinerfesten Überzeugung nicht nur dreist, sondern – soviel zudem Wort „gerecht“ – in hohem Maße ungerecht.
Man könnte sich auch grundsätzlicher damit beschäf-tigen. Dann stellte man fest, daß es von ganz besondererGüte ist, wie Sie das seit hundert Jahren gewachseneVersicherungsprinzip, das Paritätsprinzip, in der So-zialversicherung umgehen. An sich muß gelten: Wereinzahlt, bekommt dann, wenn der Versicherungsfalleintritt, Leistungen entsprechend seinen Einzahlungen.Bei Ihrer Regelung bekommt man dann noch längstnicht etwas heraus, ganz zu schweigen davon, daß dereine Arbeitnehmer Rentenbeiträge in Höhe von 9,75Prozent zahlen muß – nämlich die Hälfte des regelmäßi-gen Beitrags von 19 Prozent –, um Ansprüche zu erwer-ben, während bei dem anderen schon 7,5 Prozent rei-chen. Daß dies nicht zusammenpaßt, ist ein Grund dafür,daß führende Verfassungsrechtler sagen: Vermutlich istdas Gesetz in der jetzt vorgelegten Form auch verfas-sungswidrig.
Noch einmal zum Versicherungsprinzip. Wer 7,5 Pro-zent einzahlt, der hat, wie ich versucht habe, deutlich zumachen, zwar nur bescheidene Rentenansprüche; aberim Verhältnis zur nur geringen Eigenleistung hat er be-achtliche Ansprüche auf Invaliditätsrente und Rehabili-tationsleistungen, also Kuren. Das alles ist ungerechtund im Endeffekt unsozial.
Ich glaube, daß Sie einfach mit unserer Grundphilo-sophie vom Sozialstaat wenig anfangen können. Dienämlich besteht darin, daß große Risiken staatsfern soli-darisch abgesichert werden müssen und die Leistungenden Beiträgen entsprechen. Damit können Sie nichts an-fangen. Heute morgen habe ich ein Interview mit Ihnen,Herr Riester, im Deutschlandradio gehört. Sie haben ge-sagt, die vorgesehene Regelungen bringe nur Vorteile.Ich behaupte einmal: Sozialpolitische Lösungen, die nurmit Vorteilen verbunden sind, gibt es nicht. Es gibt nursozialpolitisch gerechte Lösungen, und diese müssenStrukturen so verändern, daß das angestrebte Ziel er-reicht wird.
Herr Kollege Kues,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert
von der PDS-Fraktion?
Nein, das möchteich im Moment nicht.
Ich verstehe deshalb sehr wohl, daß prominente Par-teifreunde von Ihnen – aus den Gewerkschaften, Ren-tenexperten, aber auch Verfassungsrechtler – händerin-gend Nachbesserungen fordern, noch heute morgen.Und wenn es nicht Ihre Parteifreunde wären, dann wür-den sie nicht nur von „Nachbesserungen“ reden. Das istin diesem Fall reine Höflichkeit. Sie kommen Ihremselbstgesteckten Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämp-fen, keinen Schritt näher.Ein wichtiges Ziel allerdings würden Sie erreichen,wenn dieser Entwurf tatsächlich so in das Gesetzblattkäme. Denn mit der geplanten Regelung – vielleicht istauch das, wenn auch nicht ursprünglich, Ihre Absichtgewesen – wird sich die Zahl der Erwerbstätigen erhö-hen und das Verhältnis von Arbeitslosen zu Erwerbstäti-gen vermindern. Nach überschlägigen Berechnungenkönnte sich die Arbeitslosenquote dadurch sogar um ei-nen Prozentpunkt vermindern. Ich sage aber jetzt schon:Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Das sind im Endeffekt statistische Tricks. Auch derKollege Merz hat gestern gesagt: Wir werden uns genauansehen, wie sich die Zahl der Erwerbstätigen vor die-sem Hintergrund verändert. Wenn Sie wirklich etwasbewegen wollten – dazu bräuchten Sie aber Mut –, dannmüßten Sie ein Konzept für den gesamten Niedriglohn-bereich vorlegen. Es verhält sich doch heute so, daß esjenseits der 630-Mark-Mauer eine Beschäftigungsfallegibt, die bewirkt, daß sich Teilzeitbeschäftigung nichtlohnt, daß derjenige, der 640 DM verdient, außerordent-lich hohe Sozialabgaben hat. Für einen Arbeitnehmer,der zwischen 800 und 900 DM verdient, lohnt sich eineTeilzeitbeschäftigung nicht. Diese geradezu prohibitiveAbgabenschwelle müßte beseitigt werden. Das setzt aberein in sich schlüssiges Gesamtkonzept voraus, und dasDr. Hermann Kues
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setzt vor allen Dingen auch voraus, daß Sie den Mut ha-ben, diese Dinge anzupacken.
Ich fasse zusammen: Ihr Gesetzentwurf paßt im Hin-blick auf das Problem vorn und hinten nicht – wie einKonfirmationsanzug nach 20 Jahren. Ihr Gesetzentwurfist in hohem Maße sozial ungerecht; er bringt einen Bü-rokratisierungsschub mit sich. Ihr Gesetzentwurf bietetkeinerlei Hilfe für diejenigen Arbeitslosen, die im Nied-riglohnbereich tätig werden wollen, und zwar so, daßsich Arbeit für sie auch wirklich lohnt.Vielen Dank.
Das Wort hat Kolle-
gin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Morgen! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Dr. Kues, ich muß eingangs eini-ge Bemerkungen zu Ihrer Rede machen. Ich freue michschon darüber, daß Sie meinen, daß unsere Gesundheits-reform möglicherweise dazu führen kann, daß es dem-nächst Arbeitnehmerinnen geben wird, die 150 Jahrelang berufstätig gewesen sein werden. Ich glaube aller-dings, Herr Dr. Kues, daß diese Ihre Einschätzung etwasan der Realität vorbeigeht.
An der Realität gehen auch andere Wahrnehmungenvorbei, die Sie hier vorgetragen haben. Sie sprachen da-von, daß wir Löcher in die Sozialkassen gerissen hättenund wir sie nun stopfen wollten. Ich muß Sie dann dochnoch daran erinnern – Ihr Gedächtnis scheint kurz zusein –, daß Sie von der CDU/CSU und F.D.P. es waren,die in den letzten Jahren genügend Zeit hatten, genausolche Löcher zu reißen.
Wir hingegen haben es in nur drei Monaten zuwege ge-bracht, mit der ökologisch-sozialen Steuerreform
– ja, meine Damen und Herren – ein Reformprojekt aufden Weg zu bringen, mit dem wir in der Lage sein wer-den, die Rentenversicherungsbeiträge sogar um 0,8 Pro-zent zu senken.
Das ist die Realität, und daß die Sie aufregt, kann ichallerdings gut verstehen.Sie haben recht: Mit diesem Gesetz haben wir unswirklich mitten in ein gesellschaftliches Spannungsfeldplaziert. Mindestens 6 Millionen Menschen, vor allenDingen Frauen, arbeiten in diesen geringfügigen Be-schäftigungsverhältnissen. Es ist selbstverständlich, daßauf Grund der sehr unterschiedlichen Lebenssituationennatürlich sehr unterschiedliche Erwartungen und Anfor-derungen an unser Gesetzesvorhaben gerichtet werden;das erfahren wir in vielen Briefen und Anrufen. Es gibtviele Unternehmerinnen und Unternehmer in diesemLand, die natürlich versuchen, die jetzige Lösung beiden geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zu ver-teidigen.Es gibt viele Grüne, viele SPDlerinnen und SPDlerund viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter,aber insbesondere Frauenpolitikerinnen und -politikerquer durch die Reihen, die erwarten, daß die sozial un-gesicherten Arbeitsverhältnisse kurz und schmerzlos ab-geschafft werden.
Meine Damen und Herren, genau zwischen diesenPolen – damit umreiße ich das Feld – befinden wir unsin einer sehr engagierten Diskussion.
Das Engagement möchte ich Ihnen von der CDU nichtabsprechen, aber genau in dieser Auseinandersetzungschwingen Sie sich mit Ihrem Antrag zum Moralapostelauf. Das steht Ihnen nicht zu.
Sie fordern ein Konzept gegen den Mißbrauch, denSie in den letzten Jahren zu verantworten hatten.
Ich glaube – das ist auch in der Rede von Herrn Dr.Kues deutlich geworden –, daß Sie dieses Konzept nurdeshalb fordern können, weil Sie unseres nicht verstan-den haben.
Ich will Ihnen das an zwei Punkten, die Sie vorgetragenhaben, exemplarisch vorführen:Sie behaupten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern würde mit diesem Gesetz „schamlos“ – ich zi-tiere Sie – in die Taschen gegriffen. Das ist schlichtwegeine Lüge.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen keinemüde Mark. Die Arbeitgeber werden – das ist ein Fort-schritt – von der ersten Mark an bei jedem Beschäfti-Dr. Hermann Kues
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gungsverhältnis in die Sozialkassen zahlen. Das ist dieRealität.
Sie wissen offenbar auch nicht, was Sie gut undschlecht finden. Auf der einen Seite beklagen Sie, derfreiwillige Mindestbeitrag für den Erwerb eines Renten-anspruchs sei zu hoch. Drei Minuten später sagen Sie,die Leistungen, die erworben werden können, nämlichReha-Maßnahmen, BU- und EU-Renten, seien zu hoch.Wie wollen Sie es denn gern haben, Herr Dr. Kues? Sojedenfalls geht es nicht.Realität ist, daß Sie in den letzten Jahren dem Druckder Wirtschaft, übrigens auch dem Druck der F.D.P.,selbstverständlich nachgegeben haben und der grenzen-losen Ausweitung der Billigjobs Tor und Tür geöffnethaben. Deswegen sind wir in diese Situation gekommen.Wir wollen tatsächlich versuchen, den Mißbraucheinzudämmen. Ich glaube, daß wir mit diesem Gesetzeinen guten Schritt vorankommen, den Mißbrauch ein-zudämmen, den Arbeitnehmerinnen eine freiwillige Op-tion auf einen Rentenanspruch zu eröffnen und die So-zialkassen zu stabilisieren. Diesen Weg wollen und wer-den wir mit unserem Gesetz gehen. Ich glaube, meineDamen und Herren von der CDU, Herr Blüm hätte si-cher Tränen in die Augen bekommen, wenn er so einAngebot erhalten hätte. Ihnen ist das jedoch in den letz-ten Jahren nicht einmal im Traum eingefallen.
Das große Ziel, zum Beispiel die Billigjobs mit einemFederstrich abzuschaffen oder in normale Arbeitsver-hältnisse zu überführen, schaffen wir nicht. Aber trotzall dieser Wünsche und vieler Kritik, die vorgetragenwird, müssen wir eines deutlich feststellen: Es gibt mitdiesem Gesetz eindeutige Verbesserungen gegenüberdem ursprünglichen, dem jetzigen Zustand.Wir werden die Sozialversicherung mit diesen Bei-trägen stabilisieren. Das ist der erste Punkt. Wir werdendie Möglichkeit für einen freiwilligen Rentenanspruchfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den klein-sten Arbeitsverhältnissen eröffnen. Das ist ein Fort-schritt.
Die Nebenjobs werden steuerpflichtig werden, das heißt,auch hier schaffen wir eine Steuerungerechtigkeit ab. Eswird auch so sein, daß die Grenze der Geringfügigkeitauf 630 DM festgelegt wird; sie wird gedeckelt. DenAufwuchs, den Sie in den letzten Jahren zugelassen ha-ben, wird es nicht mehr geben.
Die Mitbestimmungsrechte in den Betrieben werden er-weitert. Wir werden mit der Meldepflicht, mit der Ein-tragung auf die Lohnsteuerkarte endlich die Grauzoneauf diesem Arbeitsmarkt ein wenig mehr ins Licht brin-gen. Wir werden die Möglichkeit haben, die Entwick-lung zu beurteilen.
Meine Damen und Herren, die Zahl der geringfügi-gen Beschäftigungsverhältnisse ist in den letzten Jah-ren wirklich exorbitant gestiegen. Sie haben vorhin dieZahlen vom Minister gehört: etwa sechs Millionen. DieCDU behauptet heute in ihrem Antrag immer noch, daßdiese Jobs eingerichtet worden wären, um im Mittel-stand die Auftragsspitzen abzufedern. Das mag am An-fang so gewesen sein. Aber die Zeit hat Sie überholt,und Sie haben das zugelassen. Die Zahlen, die real vor-liegen, zeigen doch ganz eindeutig: Es kann hier über-haupt nicht mehr ums Abfedern von Auftragsspitzen ge-hen. Wir haben Betriebe, in denen die Minijobs nicht dieAusnahme, sondern die Regel sind.
Wir haben nichts gegen Auftragsspitzen im Mittelstand;die müssen abgefedert werden, überhaupt keine Frage.Aber wir haben eindeutig etwas dagegen, daß Arbeitge-berinnen und Arbeitgeber sich immer mehr aus der Soli-darität des Sozialstaates verabschieden können.
Die vorliegenden Zahlen belegen: Es hat diese Um-wandlung von Normalarbeitsverhältnissen in geringfü-gige Beschäftigungsverhältnisse stattgefunden. Das hatzu Ausfällen in der Sozialversicherung in Milliardenhö-he und zu dem geführt, was gerade Sie beispielsweisevon der F.D.P. nicht gut finden können: daß Arbeitgebe-rinnen und Arbeitgeber, die diese Beschäftigungsver-hältnisse nicht einrichten wollen, zum Beispiel bei denGebäudereinigern, bei den Handelsketten, gezwungensind, das zu tun, weil sie sonst einen Wettbewerbsnach-teil hätten. Das ist eine Situation, die wir nicht akzeptie-ren können.Wir haben Verbesserungen erzielt. Ich habe das gera-de angesprochen. Wir haben die Beitragspflicht ab derersten Mark für den Arbeitgeber in diesem Gesetz vor-gesehen. Da kommen Sie und viele andere daher undsprechen von einer schnöden Bereicherung der Sozial-kassen
– „Richtig!“ rufen Sie jetzt auch noch dazwischen;
ich sage gleich etwas dazu – und davon, daß hier Geldervon der einen in die andere Tasche gesteckt werden, unddas wäre es dann. Nein, meine Damen und Herren, um-gekehrt wird ein Schuh daraus. Die finanzielle Basis derSozialkassen ist bedroht, und dazu haben Sie in denletzten Jahren Ihren Beitrag geleistet.
Dr. Thea Dückert
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Die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme ist abernun einmal an Erwerbsarbeit gebunden. Die Solidarge-meinschaft braucht eben genau diese Beiträge, um demsozialstaatlichen Auftrag der Sicherung gegen Lebensri-siken überhaupt nachkommen zu können.Frau Schwaetzer, ich finde es sehr entlarvend für dieF.D.P., wenn Sie bei der notwendigen Stabilisierung desSozialsystems von einem Abkassiermodell sprechen.
– „Wenn es doch stimmt!“ rufen Sie auch noch dazwi-schen. Ich sage Ihnen: Genau daran wird Ihre Haltunggegenüber den sozialen Sicherungssystemen deutlich;daran wird deutlich, daß Sie sich auf eine Klientel be-ziehen, die dicke Taschen hat und eher in die Privatver-sicherung geht.
Wir machen hier eine Politik für eine andere Klientel,nämlich für kleine Einkommen und für Frauen.
Meine Damen und Herren, ich verstehe, daß die Wirt-schaft sich über dieses Gesetz ärgert, jedenfalls viele,und zwar diejenigen, die die Pauschalsteuer auf die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt haben.Diejenigen, die abgewälzt haben, haben jetzt in der Tathöhere Ausgaben. Das ist klar. Aber ich sage Ihnenauch: Ich kann überhaupt keine Trauer darüber empfin-den, daß diejenigen auf der Arbeitgeberseite, die sichaus der Verantwortung gestohlen haben, jetzt in die Ver-antwortung gezwungen werden.
Das wird nebenbei auch dazu führen, daß viele Beschäf-tigte gerade im tariflich abgesicherten Bereich nach die-ser Reform möglicherweise höhere Einkommen habenwerden oder aber ihre Arbeitszeit verkürzen können.Ich habe eingangs gesagt: Wir versuchen – undkommen dabei auch voran –, den Mißbrauch zu be-kämpfen. Auf diesem unübersichtlichen Markt ist dasaber ungeheuer schwer. Mit dem Eintrag auf die Lohn-steuerkarte und der Meldung bei den Sozialkassen wer-den wir überhaupt erst einen Überblick über diese Ver-hältnisse bekommen.Es wird uns auch möglich sein, verschleierte Doppel-beschäftigung aufzudecken, zum Beispiel wenn sicheinzelne nicht gemeldet haben. Wir werden auch ganzmoderne Formen der Schwarzarbeit aufdecken können,die Sie, Frau Schwaetzer, ja eindämmen wollen. FrauSchwaetzer, die modernen Formen der Schwarzarbeitbestehen doch darin, daß Arbeitgeber einen Beschäftig-ten für einen 630-Mark-Job anmelden, ihn aber voll ar-beiten lassen und schwarz entlohnen oder Arbeitslohn anfiktive Beschäftigte auszahlen. Das ist eine moderneForm der Schwarzarbeit, die an dieser Stelle beendetwird.
Genau da gehören Vollzeitarbeitsplätze hin.Auch die Entdynamisierung ist eine Maßnahme, dieAusweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhält-nisse einzudämmen. Eine andere Maßnahme, den Miß-brauch dieser Beschäftigungsverhältnisse zu verhindern,sind die erweiterten Mitbestimmungsrechte der Betriebs-räte. Das allein wird nicht reichen; das weiß ich auch.Aber wir sind auf dem richtigen Weg.Meine Damen und Herren von der CDU, Sie werfenuns vor – und haben das hier eben wieder getan –, daßdem Beitrag, den die Arbeitgeber an die Krankenversi-cherung zahlen, angeblich keine Gegenleistung gegen-übersteht.
– Das ist richtig: Es erfolgt keine direkte Gegenleistung.
– Hören Sie doch zu! – Aber in diesem Bereich gibt esschon Gegenleistungen. Diejenigen, die in solchen Be-schäftigungsverhältnissen sind – das gilt auch für alleanderen –, bekommen schon heute Sachleistungen ausder Krankenversicherung, das volle Paket. Anders istjetzt nur, daß die Leistungen, die vorher über Mitversi-cherung kostenlos zu erlangen waren, nun mit einemBeitrag belegt werden.
Wenn man behauptet, es gebe da keine Gegenleistung,ist das schlichtweg falsch. Ich denke, unser Vorschlagist eine faire Lösung. Man kann da noch weitergehen;das ist wahr.Die Rentenversicherung ist anders strukturiert. Hierkönnen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tat-sächlich eine Option bekommen. Natürlich müssen sieeinen Mindestbeitrag zahlen; das ist bei jeder Versiche-rung so. Für den Erwerb des Rentenanspruchs muß einMindestbeitrag von 300 DM gezahlt werden.Diese Option ist besonders für Frauen mit ganz be-stimmten Erwerbsbiographien interessant, nämlich fürdiejenigen, die – das ist für gebrochene Erwerbsbiogra-phien normal – schon an anderer Stelle Rentenbeiträgegezahlt, aber noch keine Rentenansprüche erworben ha-ben, weil die Mindestzeiten der Beitragszahlung nichteingehalten wurden. Diese Frauen haben sicherlich eingroßes Interesse daran – und auch die Möglichkeit –, indiese Rentenversicherung einzusteigen.
Dr. Thea Dückert
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Das ist ein Vorteil. Den können sie wählen. Sie könnensich einen Einstieg in eine wirklich eigenständige Absi-cherung eröffnen.Ich weiß, daß viele lieber eine Pflichtversicherunghätten. Ich weiß aber auch, daß diese Pflichtversiche-rung für viele Frauen nicht günstig wäre, und zwar dann,wenn es in Zukunft möglicherweise zu einer Senkungder Ansprüche käme, die sie sich schon erarbeitet haben.Das ist natürlich ein schwieriges Feld. Deswegen denkeich, daß dieser erste Schritt, diese freiwillige Option fürFrauen, in diese Arbeitsverhältnisse zu gehen, sinnvollist. Damit erreichen sie in der Tat einen geringen An-stieg ihres Anspruchs auf Altersrente.Aber das ist, wie Sie schon richtig gesagt haben, nichtder zentrale Punkt. Der zentrale Punkt ist, daß es einVollpaket mit Rente, Reha-Leistungen sowie BU- undEU-Leistungen gibt. Das ist ein gutes Angebot.Sie wissen aber auch, daß die spannende und kontro-verse Diskussion in der letzten Zeit insbesondere um dieSteuerfrage ging. Wir haben besonders in diese Steuer-frage unser Herzblut hineingesteckt, weil uns von An-fang an die Ankündigung, daß die Nebenjobs nicht ver-steuert werden sollen, überhaupt nicht gepaßt hat, undzwar aus Steuergerechtigkeitsgründen. Wir haben andieser Stelle erreicht, daß die Nebenjobs besteuert wer-den. Es wird so sein, daß Arbeitsverhältnisse zusam-mengezählt werden. Es wird so sein, daß kleine Arbeits-verhältnisse, also eine Vielzahl von Nebenjobs, zusam-mengezählt werden. Wir erreichen damit, daß all dieje-nigen dann – wo immer sie auch arbeiten –, wenn sie inder Summe ihrer Arbeitsverhältnisse die Grenze der Be-steuerbarkeit überschreiten, besteuert werden. Ne-benjobs werden besteuert. Das war in der Debatte vomletzten Herbst hier noch anders angekündigt wor-den. Wir sehen es als einen großen grünen Erfolg an,an dieser Stelle eine Ungerechtigkeit verhindert zu ha-ben.
Dennoch, meine Damen und Herren: Auch wenn wirerfolgreich in diesem Punkt waren, muß man feststellen,daß die Regelung zur Besteuerung einen Schönheits-fehler hat. Sie hat den Schönheitsfehler – das sage ichhier ganz deutlich; da konnten wir uns auch nicht durch-setzen –, daß Ehefrauen ihr Einkommen aus geringfügi-gen Beschäftigungsverhältnissen bis 630 DM nicht derBesteuerung zuführen müssen. Ihr Einkommen wirdnicht der gemeinsamen Besteuerung mit dem Ehepartnerzugerechnet. Das empfinden wir als Ungerechtigkeit.Das empfinden wir auch als ungut gegenüber anderenPersonengruppen, zum Beispiel gegenüber Alleinerzie-henden. Aber ich sage auch: Wir konnten uns hier nichtdurchsetzen. Aber es ist eine Aufforderung an uns, dafürzu sorgen, daß zum Beispiel das Ehegattensplitting ab-geschafft wird.Alles in allem: Es gibt Schattenseiten, aber die gutenSeiten des Gesetzentwurfs überwiegen. Die Sozialkas-sen werden gestärkt; der Mißbrauch wird eingeschränkt;die Rentenoption wird eröffnet, und die Nebenjobs wer-den besteuert. Wenn ich das alles zusammennehme, mußich das Fazit ziehen: Gar nicht schlecht, Herr Specht.
Das Wort hat nun die
Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen ha-ben es selber zugegeben, daß sie in der Steuer- und So-zialpolitik einen Fehlstart hingelegt haben. Einige habenauch dazu gesagt, daß sie jetzt einmal eine Denkpausenehmen wollten. Leider – das zeigen die vorliegendenSeiten – haben Sie diese Denkpause für die 630-Mark-Verträge nur dazu genutzt, Regelungen vorzuschlagen,die aufs höchste verfassungsrechtlich bedenklich sind,sozialpolitisch nicht zu den Effekten führen, die Sie da-mit im Auge haben, und arbeitsmarktpolitisch ausge-sprochen negativ wirken.
Sie haben einen Gesetzentwurf zusammengeschu-stert, der in seiner Widersprüchlichkeit und Kompli-ziertheit wirklich nicht zu überbieten ist.
Es gibt 57 Druckseiten – das muß man sich einmal vor-stellen – für die Regulierung der geringfügigen Be-schäftigung. Das ist wirklich eine Höchstleistung. Siewird zu nichts anderem führen als zu mehr Schwarzar-beit und nichts sonst.
Es beginnt schon mit dem Festschreiben der Versi-cherungsfreigrenze. Verbal wollen Sie Arbeitnehmernund Betrieben die notwendige Flexibilität erhalten. Dashat schließlich Ihr Kanzler versprochen. Herr Riester hates heute morgen wiederholt. Aber tatsächlich frieren Siediese Flexibilität ein. Das ist nichts anderes als der Todauf Raten für den sich schon heute in einem engenRahmen bewegenden Rest an individueller Gestaltungauf dem Arbeitsmarkt. – Nein, Sie können diese Be-schäftigungsverhältnisse nicht abschaffen. Aber Siewürgen sie ab. Das ist auch so gewollt; denn das ist derKompromiß zwischen den Versprechen Ihres Kanzlersund der Ideologie von Rotgrün.
Sie vernichten weitere Arbeitsplätze; denn mit derZusammenlegung von Haupt- und Nebenbeschäfti-gung und der Abschaffung der individuellen Freigrenzewird natürlich das Arbeitsverhältnis auch für den Ar-beitgeber teurer.Daß es Ihnen, meine Damen und Herren, nur umschlichtes Abkassieren geht, das zeigt doch – Frau Dük-kert, da müssen Sie irgend etwas nicht richtig mitbe-Dr. Thea Dückert
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kommen haben –, daß Sie Beiträge von den Arbeitge-bern erheben, aber die Arbeitnehmer im Regelfall kei-nerlei zusätzliche Ansprüche haben.
Da können Sie auch nicht mit Ihrer etwas schiefen Ar-gumentation kommen, sie seien über die Familienmit-versicherung krankenversichert. Bei den Beamten kas-sieren Sie genauso ab, und die erhalten nichts aus dergesetzlichen Krankenversicherung. In der Rentenversi-cherung entstehen regelmäßig keine Ansprüche. Genau-sowenig wie die ausschließlich geringfügig Beschäftig-ten, für die Sie Pauschalbeiträge einführen, die vom Ar-beitgeber zu zahlen sind, bekommen diejenigen, die eineNebenbeschäftigung haben, eine Gegenleistung für dieseBeiträge.Ich muß schon sagen: Im Abkassieren haben Sie inden ersten 100 Tagen Ihrer Regierung schon beachtlicheKreativität entwickelt.
Darauf muß man ja erst einmal kommen. Ich versuche,mir vorzustellen, was Sie uns gesagt hätten, wenn wir inder vergangenen Legislaturperiode an irgendeiner Stelleeine solche Regelung vorgeschlagen hätten.
Meine Damen und Herren, Frauenverbände und Ge-werkschaften haben Sie damit auch auf die Palme ge-bracht. Wenn ich mir heute morgen die Fraktion derGrünen anschaue, frage ich mich, warum eigentlich kei-ne Frauenpolitikerin redet und warum sich die Begeiste-rung für die Rede der Kollegin Dückert, die sich jawirklich große Mühe gegeben hat, sehr in Grenzen hielt.Das zeigt doch schon, daß Sie mit den vorliegenden Re-gelungen selber nicht im reinen sind.Sie sind lautstark ausgezogen, den Sozialversiche-rungsschutz zu verbessern. Dabei wirkt das schlechteGewissen richtig menschlich, das Sie bei Ihrem Pau-schalbeitrag plagt; denn nichts anderes hat dazu geführt,daß Sie die Optionsmöglichkeit erfunden haben. Die be-schränkt sich nun allerdings auf die Rentenversicherung,bei der man dann für 58,60 DM im Monat den Anspruchauf die Kur, auf die Invalidenversorgung und auf diespätere Berechnung der Rente nach Mindesteinkommenerwerben kann. Wir geben zu, daß Sie mit dem Schlie-ßen von möglichen Beitragslücken einen richtigen Punktzu fassen versucht haben. Aber was sagen Sie eigentlichder Krankenschwester, die Monat für Monat eine großeLeistung erbringen muß, um einen solchen Versiche-rungsschutz zu bekommen? Ist das wirklich gerecht?Entspricht das Ihren Vorstellungen von Gerechtigkeitgegenüber den Krankenschwestern und denjenigen, diesich sehr mühsam durchs Leben schlagen müssen? Ichkann mir das nicht vorstellen.
Im übrigen gehe ich davon aus, daß Sie nicht damitrechnen, später die Veränderungen in der gesetzlichenRentenversicherung vornehmen zu müssen, wenn dieBeitragszahler diese zusätzlichen Ansprüche bezahlenmüssen.Auch im Betriebsverfassungsrecht schrecken Sienicht vor Verfassungsverstößen zurück. Sie haben zwarmühsam eingesehen, daß Sie die ungeliebten 630-DM-Verträge nicht verbieten können. Dem steht ja schließ-lich das Grundrecht auf Berufsfreiheit entgegen. Des-halb verbietet Ihnen Art. 12 des Grundgesetzes aberauch, den Abschluß dieser Verträge durch die Hintertürdes Betriebsverfassungsgesetzes zu erschweren. Der Ar-beitgeber entscheidet auf Grund seiner unternehmeri-schen Entscheidungsfreiheit, die von der Verfassung hermitbestimmungsfrei ist – das wissen Sie ganz genau –,in welchem Umfang er solche Verträge anbietet. DerArbeitnehmer entscheidet auf Grund seiner Vertrags-freiheit – in gleicher Weise verfassungsrechtlich ge-schützt –, ob er ein solches Angebot annimmt. Ein Veto-recht des Betriebsrats ist deshalb mit Art. 12 des Grund-gesetzes nicht zu vereinbaren.
Sie winken da jetzt so ab. Ich bin ganz sicher, daß Ih-nen das die Sachverständigen bei der Anhörung nochsagen werden. Und wir werden ganz bestimmt geradedarüber bei den Ausschußberatungen noch zu reden ha-ben. Ich hoffe zumindest, daß Sie dieses Mal mit uns ei-ne sachliche Debatte dazu führen und es nicht so wie beidem letzten Gesetzentwurf machen, wo auf unsere Fra-gen von Ihrer Fraktion nicht einmal geantwortet wurde,geschweige denn irgendein Beitrag zur Auflösung vonWidersprüchlichkeiten geliefert wurde. Ich bitte darum,auf unsere Fragen doch ein wenig mehr Antwort zu ge-ben.Kommen wir zum Steuerrecht. Sie wollen schließ-lich das Wort Ihres Kanzlers einhalten und die 630-DM-Verträge von der Lohnsteuer ausnehmen. Dies mußmißlingen. Ihr Entwurf zeigt das auch. Es ist wirklichKrampf, was Sie dazu in Ihren Gesetzentwurf hineinge-schrieben haben. In Ihrer Ausschlußklausel steht: Wennzu den 630 DM weitere Einkünfte kommen, gleichgültigin welcher Höhe und woher, fällt die Lohnsteuerfreiheitwieder weg.Schauen wir uns doch einmal an, welche Einkünftedas sein können: Zinseinnahmen aus Bausparverträgen –Lohnsteuerfreiheit weg; Einnahmen aus Vermietung undVerpachtung des selbstgenutzten Eigenheims – Lohn-steuerfreiheit weg. Für diesen Teil des Gesetzentwurfesträgt niemand sonst die politische Verantwortung als IhrSpitzenmann, der SPD-Vorsitzende und FinanzministerOskar Lafontaine.Das Nächste ist nun wirklich ein tolles Stück – ichbin deswegen ganz sicher, daß Sie sich auch das nocheinmal anschauen müssen –: Nach Ihrem Vorschlagbleibt die verheiratete Arbeitnehmerin mit einem 630-DM-Vertrag ohne eigenes Haus, ohne Bausparvertrag –für diese Arbeitnehmerin leistet im übrigen der Ehe-mann Unterhalt – lohnsteuerfrei. Die geschiedene Ar-beitnehmerin, der der Exehemann wegen Kindererzie-hung Unterhalt zahlen muß, hat dadurch weitere Ein-künfte. Sie wird mit ihren 630 DM lohnsteuerpflichtig.Dr. Irmgard Schwaetzer
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Halten Sie das eigentlich für gerecht? Halten Sie das füreine von irgend jemandem überhaupt noch nachvoll-ziehbare Regelung?
Stellen Sie sich vor, meine Partei hätte eine solcheKlausel vorgeschlagen. Sie hätten uns sofort die Privile-gierung der Millionärsgattin und die Bestrafung der Ar-beiterfrau unterstellt.
Aber Sie wischen das alles mit einer Handbewegung soweg. Diese Regelungen werden die von Ihnen so gelobteSteuerfreiheit zu einem Märchen werden lassen.
Dies wird keine Brücke zurück in den Arbeitsmarkt fürFrauen nach der Erziehungsphase. Denn wer sollte sol-che Arbeitsplätze noch anbieten? Außer einem Großbe-trieb verfügt wirklich niemand über die personellen Ka-pazitäten, um Ihre komplizierten Regelungen umzuset-zen. Sie führen die Frauen hinters Licht.
Sie sind in dieser Legislaturperiode mit dem Willenund dem Versprechen angetreten, Ordnung auf dem Ar-beitsmarkt zu schaffen. Aber Ordnung um welchenPreis? Um den Preis der Todregulierung des letzten biß-chen Flexibilität, das es bis heute überhaupt noch gege-ben hat.
Sie haben so eine Art unglückliche Liebe zu dem Be-griff der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Sie kennenFlexibilität und Transparenz nur in den Reden Ihres Ar-beitsministers, aber nicht wirklich in Ihren Regeln.
Ziehen Sie deshalb die notwendige Konsequenz, undverzichten Sie auf dieses Gesetz! Es ist nicht frauen-freundlich, es führt in die Schwarzarbeit, und deswegenist es überflüssig.
Auch Ihre eigenen Wähler würden Ihnen den Ab-schied von diesem Gesetz sicherlich danken. Sie schik-ken nämlich Kopien der Protestschreiben, die an Sie ge-hen, auch an uns. Nachdem Sie die Handelsvertreter unddie übrigen Selbständigen schon bisher mit Ihren Ge-setzgebungskünsten auf die Palme gebracht haben, krie-gen wir jetzt auch noch die Briefe all derer aus den Ge-werkschaften, die diese Ihre Regelungen nicht habenwollen.
Diese Briefflut hat die Opposition nun wirklich nichtverdient.
Eine Anhörung zu Ihrem Meisterwerk werden wir Ih-nen natürlich nicht ersparen. Über die Bewertung durchunabhängige Sachverständige sollten Sie sich keine Illu-sionen machen. Deswegen appelliere ich schon heute anSie: Entwickeln Sie die Fähigkeit zur Selbstkritik!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Kolle-
gin Knake-Werner, PDS-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte KolleginSchwaetzer, mit der Fähigkeit zur Selbstkritik ist das jaimmer so eine Sache. Ich hätte mir in den letzten 16 Jah-ren auch einmal eine so engagierte Rede von Ihnen ge-wünscht, wie Sie sie jetzt als Vertreterin einer Opposi-tionspartei vortragen. Wenn Sie hier gegen das Abkas-sieren wettern, dann haben Sie wohl schon wieder ver-gessen, wo Sie in den letzten Jahren hingelangt habenund bei wem Sie in die Taschen gegriffen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Tendenz steigend“war seit vielen Jahren die Prognose für die Entwicklunggeringfügiger Beschäftigung. Was einstmals als Aus-nahme gedacht war, ist zur Regel geworden. Wer hierMißbrauch betrieben hat, ist ziemlich eindeutig: Das wa-ren die Arbeitgeber, die immer hemmungsloser undschamloser sowie zum Teil mißbräuchlich die Möglich-keit versicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse ge-nutzt haben. Auch das will ich wegen des Kurzzeitge-dächtnisses der alten Bundesregierung sagen: Sie habendabei nicht selten Schmiere gestanden.Ich will nur ein Gesetz nennen, das dazu beigetragenhat, daß Zehntausende versicherungspflichtige in versi-cherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse umgewandeltwurden: Das war das Ladenschlußgesetz, das zu einerunsäglichen und völlig überflüssigen Ausweitung derLadenöffnungszeiten geführt hat.
Sie hat bewirkt, daß heute in manchen Drogeriemärktenund -ketten bis zu 70 Prozent der Beschäftigten in ge-ringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, das heißt: ver-sicherungsfrei, arbeiten.Nun liegt der Gesetzentwurf der neuen Regierungvor. Nach dem peinlichen Schnellschuß des Bundes-kanzlers vom November ist Ihnen leider weder sozial-politisch noch frauenpolitisch der große Wurf gelungen.Ich denke, Sie haben kaum eines der im ZusammenhangDr. Irmgard Schwaetzer
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mit geringfügiger Beschäftigung anstehenden Problemegelöst. Ich finde, daß hier – das bedauere ich sehr – einewichtige Chance zu grundlegenden Veränderungen ver-tan worden ist. Es ist Ihnen weder gelungen, die Soli-dargemeinschaft insgesamt zu stärken, noch ist es Ihnengelungen, auf die Lebenssituation der Frauen wirklicheinzugehen.Wir von der Linken hier im Hause waren uns doch inden letzten Jahren völlig einig darin, daß geringfügigeBeschäftigung ein Problem ist, das vor allen DingenFrauen betrifft, da ihnen Arbeitsverhältnisse zugemutetwerden, die keinen sozialen Schutz bieten, bei denen siedem Heuern und Feuern ausgesetzt sind und mit demDruck der Altersarmut leben müssen. Das wollten wirverändern. Nach unseren Vorstellungen sollte diesenFrauen mehr soziale und arbeitsrechtliche Sicherheit ge-geben werden. Dafür haben wir ja übrigens auch ge-meinsam in Bündnissen mit Gewerkschafterinnen undVertreterinnen der Kirchen, mit dem Frauenrat und an-deren gestritten. Dieses sollte der Kernpunkt einer neuengesetzlichen Regelung sein. Deshalb haben auch wir vonder PDS schon sehr frühzeitig gefordert, daß jede be-zahlte Arbeitsstunde versicherungspflichtig gemachtwird, für sie also Beiträge in die Sozialkassen zu zahlensind.Wenn diese Beiträge von den Arbeitgebern nun in dieSozialkassen gezahlt werden, dann ist das ein guterSchritt. Wenn daraus aber keine Leistungen resultieren,dann ist dieser Schritt doch viel zu kurz und halbherzigund verstößt außerdem gegen den Gleichheitsgrundsatz.Ich weiß nicht, wie Sie damit zum Beispiel vor demBundesverfassungsgericht bestehen wollen.Eines muß man deutlich sagen: Angesichts des vonmir gerade beschriebenen vorrangigen Ziels, geringfügi-ge Beschäftigung im Interesse von Frauen zu regeln,sind wir damit keinen Schritt vorangekommen.
Natürlich ist es richtig, daß mit dem vorgelegten Ge-setzentwurf durch die Beitragspflicht zur Renten- undKrankenversicherung die Flucht der Arbeitgeber ausdem sozialen Sicherungssystem endlich eingedämmtwird und die Chance besteht, die Finanzgrundlagen derSozialkassen zu stabilisieren. Das erfreut mein Herz alsSozialpolitikerin. Für mich aber bleibt die zentrale Fra-ge: Was haben die betroffenen Frauen von diesem Ge-setz?Es ist ein bißchen haarspalterisch, Frau Dückert,wenn hier gesagt wird, diese Frauen müßten gar nichtsbezahlen. Das ist doch Unsinn. Wenn sie Leistungen ha-ben wollen, dann müssen sie auch bezahlen, und zwareinen Beitrag in Höhe von knapp 50 DM. Und ich mußschon sagen: Bei 630 DM Einkommen sind 50 DM ein-fach unzumutbar. Ich kann nicht verstehen, warum Siediesen Schritt nicht konsequent vollziehen. Wenn Sieschon die paritätische Finanzierung des Sozialsystemsan dieser Stelle durchbrechen, warum tun Sie das dannnicht komplett? Warum zahlen die Arbeitgeber nicht,wie es im Gesetzentwurf der Gruppe der PDS aus derletzten Legislaturperiode enthalten war, bis zur Höhedes Existenzminimums beide Beitragsanteile? Das be-greife ich nicht. Hier sollten Sie wirklich konsequentsein.In der Tat ist der Grund für Ihr Vorgehen bezüglichder Krankenversicherung, das Solidarprinzip durch dieBeiträge der Arbeitgeber weiter zu stärken. Sie haltendamit an der Vorstellung fest, daß Frauen grundsätzlichdurch zweite Hand versichert sind, ein Prinzip, von demman sich aus frauenpolitischer Sicht endlich verabschie-den muß.
Ein Drittes – das ist mir besonders wichtig –: keineBeiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das ist fürmich völlig unverständlich, weil damit die geringfügigBeschäftigten weiterhin von arbeitspolitischen Maß-nahmen ausgeschlossen werden, von Fortbildung undUmschulung. Hier wäre eine Brücke zum Wiederein-stieg in den Arbeitsmarkt gegeben und auch die Chanceauf existenzsichernde Beschäftigung in der Zukunft.
Insgesamt glaube ich, daß, was die frauenpolitischeSeite angeht, in diesem Gesetzentwurf eine Menge vonLeerstellen bleibt. Ich glaube, es gibt noch viel zu tun.Nun zur Steuerseite. Sie wollen die geringfügige Be-schäftigung grundsätzlich steuerfrei stellen, wenn diesdie einzige Einnahmequelle ist; das finde ich gut. Au-ßerdem wollen Sie die Einkünfte aus Nebenjobs besteu-ern; auch das halte ich für gut und längst überfällig.Frau Dückert, bei Ehefrauen, egal wie hoch die Ein-künfte ihrer Männer sind, soll das Einkommen aus dergeringfügigen Beschäftigung steuerfrei bleiben. Ich fin-de dies richtig, und zwar deshalb, weil dies endlich nichtmehr das Klischee der Ehefrau als Zuverdienerin bedientund weil damit ein Schritt dahin gemacht wird, die tra-ditionellen Rollenmuster aufzubrechen. Natürlich weißich, daß dies dazu führen kann, daß einige Frauen dannein nettes Taschengeld haben werden. Für die allermei-sten Frauen aber wird dies ein Schritt zu mehr Eigen-ständigkeit und Unabhängigkeit sein. Das müssen wirfördern; wir unterstützen dies. Dazu gehört aber auch,daß Sie sich zur Lösung des Problems des Ehegatten-splittings – erst dann ist dies konsequent – durchringen.
Die gleiche Bezahlung von geringfügiger Beschäfti-gung in Ost und West endlich durchgesetzt zu habenhalten wir unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellungder Frauen für richtig. Wir unterstützen dies; denn eswar den Frauen in Ostdeutschland nicht mehr zu er-klären – sie empfanden es als Demütigung –, warum sie100 DM weniger bekommen sollten.Aber unter beschäftigungspolitischen Aspekten ist esin der Tat ein riesengroßes Problem. Durch die geringe-ren Tarifeinkommen in Ostdeutschland entsteht nämlichdie Situation, daß sich viele Frauen, die heute teilzeit-oder noch vollzeitbeschäftigt sind, überlegen werden, obsie nicht mehr Geld in der Tasche haben, wenn sie aufeine geringfügige Beschäftigung ausweichen. Darin liegtfür die Arbeitgeber die Chance, daß die Akzeptanz dergeringfügigen Beschäftigung erhöht wird. Das ist eineDr. Heidi Knake-Werner
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fatale Entwicklung für die Frauen und für die Sozialkas-sen.Für die Arbeitgeber ist es im wesentlichen ein Null-summenspiel. Die einzige Änderung für sie ist, daß siein Zukunft die Pauschalsteuer, wie sie es in der Ver-gangenheit nicht selten gemacht haben, nun nicht mehrauf die abhängig Beschäftigten abwälzen können. DieVersicherungsbeiträge müssen sie tatsächlich zahlen.Aber trotzdem bringt den Arbeitgebern diese Rege-lung erhebliche Vorteile. Geringfügige Beschäftigung istimmer noch billiger als sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung. Viele Leistungen, die auch den gering-fügig Beschäftigten auf Grund tarifvertraglicher und ge-setzlicher Regelungen zustehen, werden ihnen die Ar-beitgeber weiterhin vorenthalten können. Das gilt zumBeispiel für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, fürdas Urlaubsgeld, für das Weihnachtsgeld und natürlichauch für den Kündigungsschutz. Das finde ich bedauer-lich. Die Arbeitgeber werden jede Chance nutzen, dieseVorteile in Anspruch zu nehmen. Daher glaube ich, daßsie sich nur zum Schein beklagen. In Wirklichkeit ist esdie Lösung, die ihnen am meisten entgegenkommt.Zum Schluß noch eine Bemerkung. Gerade im Jahrder deutschen EU-Ratspräsidentschaft hätte die Bundes-regierung mit einem beherzteren Gesetzentwurf zur Ein-dämmung geringfügiger Beschäftigung durchaus Punktesammeln können. Auch diese Chance hat sie leider ver-paßt. Die Bundesrepublik Deutschland ist inzwischenneben Großbritannien das einzige Land in Europa, dassich noch diese Art von versicherungsfreier Beschäfti-gung in diesen Größenordnungen leistet. Dies nur zudem immer wieder bemühten Argument von der Wett-bewerbsfähigkeit.Die Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes,Professor Ursula Nelles, stellt fest: Dieses Gesetz istnicht nur ein frauenpolitisches Ärgernis, sondern auchein Verstoß gegen das europäische Gleichbehand-lungsrecht. Ich denke, sie hat recht. Liebe Kolleginnen– das sage ich ganz bewußt –, es ist noch Zeit, uns ge-meinsam darauf zu besinnen, solche Peinlichkeiten inder Zukunft zu vermeiden.Danke schön.
Das Wort hat nun die
Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Als Neue muß ichgleich am Anfang feststellen: Die Opposition hört nichtrichtig zu und kann auch nicht richtig addieren.
– Das ist sehr schön, Herr Schäuble. Ich danke Ihnenschon im voraus.
Ich werde es Ihnen als Neue einfach machen, meineRede zu verfolgen und zu verstehen.Mit unserem Gesetzentwurf legen wir zu einem wei-teren, seit Jahren nicht gelösten Problem ein Reform-programm vor. Der Bundesminister für Arbeit hat schondarauf hingewiesen: Innerhalb von fünf Jahren hat sichdie Zahl der geringfügig Beschäftigten um 1,1 Millionenerhöht. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten ist aber um 2 Millionen zurückgegangen.16 Jahre lang war die alte Regierung nicht in der La-ge, diesen Mißstand auf dem Arbeitsmarkt aufzugreifenund zu beseitigen.
Wenn ich an die F.D.P. denke, glaube ich, daß einigevon Ihnen das auch gar nicht wollten.
Sicherlich ist dies ein Grund, warum Sie jetzt dort sit-zen, wo Sie sitzen, nämlich auf der Oppositionsbank.Unser Gesetz ist ein weiterer Baustein in unseremBemühen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und dieversicherungspflichtigen Arbeitsplätze zu erhalten; dennwas eine Ausnahme von der Regel sein sollte, entwik-kelte sich zu einer Ursache für den Wegfall von sozial-versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen.Von den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissensind in allererster Linie Frauen betroffen. Der Anteil ge-ringfügig beschäftigter Frauen in Westdeutschlandhat in den letzten zehn Jahren um 74 Prozent und inOstdeutschland in den letzten fünf Jahren um 75 Pro-zent zugenommen. Allein in Sachsen-Anhalt – von dortkomme ich – sind 84 Prozent der geringfügig Beschäf-tigten Frauen. Ähnlich sieht es in den anderen ostdeut-schen Ländern aus. Auch in den westdeutschen Ländernliegen die Zahlen noch bei über 70 Prozent.Frauen wollen arbeiten, wollen nicht ausgegrenztwerden und möchten auch gehört werden. Sie möchtenaber nicht nur in diesen Billigjobformen beschäftigtsein. Sie wollen vor allen Dingen – das möchte ich nocheinmal klarstellen – Vollzeitjobs haben.
Der eine oder andere behauptet ja, Frauen möchtendie „drei Ks“ in Anspruch nehmen. Ich glaube, das istnicht so. Nur 7 Prozent aller geringfügig beschäftigtenFrauen üben diese Tätigkeit länger als 10 Jahre aus.20 Prozent sehen darin eine Chance für den beruflichenWiedereinstieg. 22 Prozent dieser Frauen fehlt einfachdie berufliche Alternative. Die meisten von ihnen sindjedoch auf dieses Einkommen angewiesen, und damitsind sie auch erpreßbar.Mit unserem Gesetz wird klargestellt: Auch 630-DM-Jobs sind Arbeitsverhältnisse, für die Regeln geltenmüssen. Diese Regeln bestehen ja auch schon, wie rich-tig erkannt wurde. Geringfügig Beschäftigte haben An-spruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahltenDr. Heidi Knake-Werner
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Urlaub, Kündigungsschutz und andere Arbeitnehmer-rechte. Aber – das ist das Neue – künftig müssen dieArbeitgeber darauf hinweisen und die Beschäftigtenüber ihre Rechte informieren; denn sonst werden sie re-greßpflichtig gemacht. Das war bis jetzt nicht der Fall.
Eine der für mich wichtigsten Änderungen – das mußich wirklich einmal klarstellen; denn das, was hiermanchmal dazu gesagt wird, finde ich schon eigenartig –betrifft die Rentenversicherung: Frauen und Männernwird die Möglichkeit eingeräumt, durch Zuzahlung indie Rentenversicherung, und zwar in Höhe von 7,5 Pro-zent, einen Rentenanspruch zu erwerben.Herr Dr. Kues, hören Sie bitte noch einmal zu: Na-türlich ist uns bewußt, daß 6,78 DM Rente im Monat fürein Jahr Arbeit bei einem Monatseinkommen von 630DM nicht viel ist. Allerdings beträgt der Eigenanteilauch nur 47,25 DM. Jetzt könnten Sie natürlich wiederetwas einwerfen. Aber dann müßte ich Ihnen sagen, daßSie – Sie hatten ja am 19. Januar einen Gesetzentwurfeingebracht – die Ziffer 5 Ihres eigenen Gesetzentwurfeswahrscheinlich nicht kennen bzw. überflogen haben.Darin heißt es, daß Sie die gesetzliche Rentenversiche-rung auf die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisseausdehnen wollen. Genau dies geschieht mit den 6,78DM, die wir als Option einführen. Ich verstehe daher dieDiskussion nicht.
Trotz der vielleicht geringen Höhe des erworbenenRentenanspruchs ist dies ein wichtiger Schritt. Vor al-lem werden damit die Lücken in der Rentenbiographiegeschlossen. Das ist gerade für Frauen, die nach derWende oft aus der Beschäftigung herausgefallen sind,sich in der Sozialhilfe befinden und keinen Rentenan-spruch in dieser Zeit erwerben, wichtig. Ich bitte also,darüber nachzudenken – auch die liebe PDS.Zudem sollte man sich nicht nur auf die absolutenZahlen konzentrieren. Wir müssen auch sehen, daßdurch den Erwerb von Rentenansprüchen damit zusam-menhängende Ansprüche geschaffen werden: volle Be-rücksichtigung bei den Wartezeiten, Entgeltpunktbe-rechnung, Rehabilitation – ganz wichtig –, Rente nachMindesteinkommen, Schutz vor Berufsunfähigkeitund Erwerbsunfähigkeit, vorgezogene Altersgrenzen.Alles zusammen trägt dazu bei, daß die sozial- undarbeitsrechtliche Lage der geringfügig Beschäftigtenverbessert wird; denn oft werden sie ja als Ausputzerund intelligenzgeminderte Menschen dargestellt, diekeine Ahnung von dem haben, was sie eigentlich ma-chen. Diese Diskriminierung dürfen wir nicht unbeachtetlassen.
Für mich gehen Frauen aus dieser Gesetzgebung so-zial gestärkt hervor. Die bisher häufig zu beobachtendeAusnutzung der geringfügig Beschäftigten, die auf die-sen Verdienst angewiesen sind, wird gestoppt. Schutz-rechte werden ihnen nicht länger vorenthalten.Unser Gesetz ist zugleich auch ein wichtiges Instru-ment zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Wir erwarten, daßdamit die zunehmende Zahl der geringfügigen Beschäf-tigungsverhältnisse zu Lasten von Voll- und Teilzeitar-beitsplätzen eingedämmt wird. Besonders in Ost-deutschland wurden aus sogenannten Kostenersparnis-gründen – das müßte besonders die F.D.P. wissen – Ar-beitsverhältnisse in geringfügige Beschäftigungsverhält-nisse umgewandelt. Zudem sind mehrere tausend Ar-beitsplätze verlorengegangen. Jetzt läuft auch noch dasABM-Wahlgeschenk aus. Ich möchte da aus meinemWahlkreis Sangerhausen/Mansfelder Land eine Zahlnennen: Wir sind jetzt wieder bei 24,1 Prozent Arbeits-losen. Wahlversprechungen sollten gehalten werden,aber Sie konnten es nicht.Die erhebliche Umwandlung in geringfügige Be-schäftigungsverhältnisse ist mit eine Folge der Um-strukturierung der Wirtschaft in den neuen Ländern undhängt natürlich auch mit der Strukturverschiebung hinzum Dienstleistungsgewerbe zusammen. Das mag miteine Erklärung sein. Nichtsdestotrotz sind Arbeitslosen-zahlen von bis zu 25 und 30 Prozent in vielen Regionender neuen Länder alarmierend. Dort können wir keinegeringfügige Beschäftigung brauchen, sondern dort be-nötigen wir Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze.Wir rechnen damit, daß unser Gesetz die Ausweitungdes Mißbrauchs der 630-DM-Jobs eindämmen wird;denn die Arbeitgeber müssen künftig steuerfrei gezahlteLöhne auf den Lohnsteuerkarten der geringfügig Be-schäftigten eintragen. Dadurch wird eine bessere Kon-trolle möglich.Hat ein Arbeitnehmer mehrere solcher Jobs, werdensie auf der Lohnsteuerkarte zusammengerechnet, ent-sprechend behandelt und nach den allgemeinen steuerli-chen und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungenabgewogen. So verlieren sie ein Stückchen an Attrakti-vität, und Angebot und Nachfrage sinken. Zugleich wirddafür gesorgt, daß die Arbeitsstunden für den Arbeitge-ber nicht mehr unterschiedliche Kosten verursachen.Außerdem wird mit unserem Gesetz ein weiteres Zielder Bundesregierung erreicht, nämlich der Erosion derFinanzgrundlagen der beitragsfinanzierten Sozialversi-cherungen entgegenzuwirken. Die Aufsplittung von so-zialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen in ge-ringfügige Beschäftigungsverhältnisse hat beiden Sozi-alversicherungssystemen Milliardenbeträge entzogen.Unser Gesetzentwurf wird dazu führen, daß diesen Ver-sicherungssystemen noch in diesem Jahr 3,4 MilliardenDM zugeführt werden.
– Das wird so sein, Frau Schwaetzer.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassenSie mich in diesem Zusammenhang fragen: WelcheWirklichkeit nehmen Sie eigentlich noch wahr, wennSie der Meinung sind – ich zitiere aus dem von Ihnenvorliegenden Antrag –:Aufgrund des enormen Kostendrucks, dem sichviele Unternehmen und Selbständige gegenüberse-Silvia Schmidt
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hen, besteht die Gefahr, daß künftig zunehmend so-zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält-nisse in geringfügige Beschäftigungsverhältnisseumgewandelt werden und damit die Finanzgrund-lage der sozialen Sicherungssysteme erodiert.Richtig, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, aber diese Tendenz besteht schon seit Jahren, undSie haben 16 Jahre lang nicht gehandelt. Was soll das al-so?
Da kann ich wirklich nur noch sagen: Wer zu spätkommt, den bestraft der Wähler.Zum Schluß möchte ich nochmals betonen: UnserGesetzentwurf ist ein erheblicher sozialpolitischer Fort-schritt. Nicht alle wünschenswerten Forderungen wer-den erfüllt. Das kann aber bei der Komplexität diesesThemas auch nicht gewährleistet werden. Wichtig fürdie SPD-Fraktion ist: Geringfügige Beschäftigungenwerden zu ordentlichen Arbeitsverhältnissen entwickelt,die den Arbeitnehmern ihre Rechte zusichern.Ich danke Ihnen.
Dies war die erste
Rede der Kollegin Schmidt. Meine herzliche Gratula-
tion.
Nun hat das Wort der Kollege Julius Louven,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Am 19. Novemberletzten Jahres hat von diesem Pult aus mit tragenderStimme und gequältem Gesicht der Bundeskanzler einedritte Variante zur Lösung der 630-Mark-Verträge vor-getragen. Ich habe ihm damals geantwortet und gesagt,ihm sei sein telegenes Lächeln inzwischen vergangen,weil er sich wohl nicht vorstellen konnte, wie schwierigdie Problemlösung in diesem Bereich ist.Wäre der Bundeskanzler heute hier, dann würde ichihm sagen: Mit der Variante vier machen Sie sich nunrestlos lächerlich.
Wenn Sie, Herr Minister, und die Redner der Regie-rungskoalition meinen, wir hätten dieses Problem nichtgelöst, so ist dies richtig.
Aber Sie haben ja in der letzten Legislaturperiode zudiesem Bereich einen Gesetzentwurf vorgelegt, den Sieheute am liebsten totschweigen würden. Denn der warso unmöglich, daß Sie heute davon nichts mehr wissenwollen.
Wir in der alten Koalition, Herr Gilges, waren unsimmerhin einig. Dies haben wir am 11. Dezember 1997in einer Entschließung zum Ausdruck gebracht, in der eshieß:Für schutzwürdige Personen muß ein ausreichenderVersicherungsschutz sichergestellt werden.Genau dies war immer Ihr Anliegen. Ich könnte Ihnenjetzt eine ganze Reihe entsprechender Zitate zum Bei-spiel von Frau Buntenbach,
von Frau Onur, von den Kolleginnen Lotz und Schmidtund von Ottmar Schreiner vorlesen, der uns in seinerbekannt liebenswürdigen Art seinerzeit vorwarf, wir sei-en Sozialbanausen, weil wir diese Menschen ohne Ver-sicherungsschutz ließen.
Ich könnte jetzt Zitate von Ihnen nennen, die denUmfang von 14 DIN-A4-Seiten erreichen würden, indenen Sie gefordert haben, was auch wir sagten:Für schutzwürdige Personen muß ein ausreichenderVersicherungsschutz sichergestellt werden.
Gerd Andres, inzwischen Parlamentarischer Staatsse-kretär beim Arbeitsminister, hat am 1. Oktober 1997hier in einer Rede anläßlich einer Debatte zu diesemProblembereich mit der Aussage begonnen, „das MottoMittendrin und trotzdem draußen“ beschreibe das Pro-blem sehr genau. So Gerd Andres. Er führte weiterhinaus:Jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse muß sozi-alversicherungspflichtig sein. Das ist die richtigeLogik in unserem System.Er rief uns zu:Warum stopfen Sie dieses Loch nicht? Warum tunSie nichts?
Daraufhin habe ich genau heute vor einem Jahr einPapier dazu vorgelegt, wie ich mir die Lösung des Pro-blems vorstellen könne. Ich habe mich dabei auch aufdie Einlassungen von Gerd Andres bezogen. Für michwaren fünf Punkte wichtig. Ich habe sie am 19. Novem-ber 1998 genannt. Ich will sie heute wiederholen:Erstens. Der flexible Zugriff auf Arbeitnehmer, die adhoc bereit sind, auch zu unpopulären Arbeitszeiten tätigzu werden, muß möglich bleiben.Sylvia Schmidt
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Zweitens. Die Arbeitsverhältnisse dürfen sich nichtwesentlich verteuern – weder für die Arbeitnehmer nochfür die Arbeitgeber.Drittens. Der Einstieg in eine normale Teilzeitbe-schäftigung, die jetzt an der sogenannten 630-Mark-Mauer endet, muß mit einer Neuregelung erleichtertwerden.Viertens. Wir müssen alles vermeiden, was Arbeit-nehmer und Arbeitgeber in die Illegalität treibt.Fünftens. Wir brauchen Regelungen, die einfach undhandhabbar sind.
Im Ausschuß hat Gerd Andres im Januar dieses Jah-res erklärt, daß man sich auf dieser Basis, also auf derBasis meines Papiers, sofort einigen könne. Sogar dieDeutsche Angestellten-Gewerkschaft hat sich positivgeäußert, Lutz Freitag sogar fast überschwenglich.In der Aktuellen Stunde vom 19. November des letz-ten Jahres hat Ihr Fraktionsvorsitzender Struck aufGrund meiner Einlassungen gesagt, daß er es begrüße,daß wir uns in der CDU/CSU von der F.D.P. freige-schwommen hätten, und er darauf vertraue, auf Grundmeiner fünf Punkte eine Regelung mit breiter Mehrheitim Bundestag beschließen zu können.Nun, meine Damen und Herren von der SPD und demBündnis 90/Die Grünen, Ihr Gesetzentwurf: Er ist einabsoluter Flop, Herr Minister.
Nicht nur – o Graus –, daß er 57 Seiten umfaßt. Er istvielmehr auch inhaltlich eine Katastrophe. Lieber GerdAndres, lieber Minister Riester, beide sind Sie führendin Gewerkschaften tätig gewesen. Mit Ihren Gewerk-schaften, den Kirchen, den Frauenverbänden und vielenanderen haben Sie immer den Standpunkt vertreten, diehier beschäftigten Menschen bräuchten eine soziale Ab-sicherung. Nun legen Sie einen solchen Gesetzentwurfvor. Schämen Sie sich nicht, Herr Minister?
Sie sprechen hier davon, dies sei sozial ausgewogen.Sagen Sie doch einmal nach draußen, was daran sozialausgewogen ist!
Ich frage mich auch, wo der Aufschrei der von mirangesprochenen Verbände bleibt. Sie müssen diesenwohl eine Schlaftablette verpaßt haben. Anders kann ichmir deren Verhalten – die Tatsache, daß sie ruhig sind –nicht erklären.Die Arbeitgeber haben künftig Sozialversicherungs-beiträge zu zahlen; Leistungsansprüche können diebetroffenen Arbeitnehmer aber nur durch zusätzlichefreiwillige Beiträge erwerben. Meine Damen und Her-ren, dies ist doch nun wirklich ein Witz! Ich habe mirnie vorstellen können, daß deutsche Sozialdemokratenso einen Nonsens vorlegen können.
Auch die steuerlichen Regelungen schreien zumHimmel; die Kollegin Schwaetzer hat dies deutlich ge-macht. Sie haben doch genügend Verfassungsrechtler inIhren Reihen, um zu erkennen, daß diese Regelungennicht haltbar sind. Und man sieht es den gequälten Ge-sichtsausdrücken der Kolleginnen und Kollegen hier jaauch an.
Im übrigen wundere ich mich darüber, daß sich all die,von denen ich Kritisches zitieren könnte – auch von Ih-nen, Frau Onur –, heute so ruhig verhalten.
Es ist schon eigenartig. Sie schreiben in die Begrün-dung zum Gesetzentwurf – das muß man sich wirklichauf der Zunge zergehen lassen –:Bei verheirateten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer bleibt es auch dann bei der Steuerfreiheit,wenn der andere Ehegatte eigene Einkünfte erzielt.Bei anderen wird einfach zusammengerechnet.Diesen Sachverhalt garnieren Sie mit der Klammer-bemerkung „Brücke zur Rückkehr in das Arbeitsleben“.Herr Minister – Sie haben das auch erwähnt –, erläuternSie doch einmal, worin die „Brücke zur Rückkehr in dasArbeitsleben“ hier besteht!
Eine Brücke zur Rückkehr in normale Beschäftigungs-verhältnisse gibt es nur – dies ist meine feste Überzeu-gung –, wenn wir die 630-Mark-Mauer, wo die gering-fügige Beschäftigung derzeit endet, überwinden. Dazuhabe ich Vorschläge gemacht.Darüber hinaus muß man sich einmal anschauen, wieSie von der Regierungskoalition dies alles kontrollierenwollen, welche bürokratischen Regeln Sie installieren.Angesichts dessen tun mir insbesondere die Arbeitgeberbei den kleinen und mittelständischen Betriebe leid, diedem ausgesetzt sind – typisch SPD!
Selbst die Gemeinden müssen Sie – es ist nicht zu glau-ben – verpflichten, kontrollierend tätig zu werden.Mit dem Art. 10 dieses Gesetzes ändern Sie das Be-triebsverfassungsgesetz dahin gehend, daß sie den Be-triebsräten in dieser Frage ein Mitspracherecht geben.Wenn das Verhältnis von sozialversicherungspflichtigenArbeitsverhältnissen und solchen mit einer geringfügi-gen Beschäftigung unausgewogen ist, kann der Be-triebsrat seine Zustimmung verweigern. Was heißtdenn „unausgewogen“? Das ist ein unbestimmterRechtsbegriff. Wenn man sich nicht einigt, sollen dieArbeitsgerichte die Frage der Unausgewogenheit ent-scheiden.Julius Louven
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Nun stellen Sie sich das einmal in der Praxis vor: EinGroßgastronom mit 30 Beschäftigten hat an einem Wo-chenende eine große Gesellschaft zu bewirten. Er kanndies nur mit zusätzlich 20 oder 30 geringfügig Beschäf-tigten bewältigen. Der Gastronom muß dafür den Be-triebsrat fragen. Der Betriebsrat sagt nein. Dann müßteder Gastronom zum Arbeitsgericht, um klären zu lassen,was in diesem Fall „ausgewogen“ heißt. Bis entschiedenist, ist die Veranstaltung natürlich vorbei bzw. sie hatgar nicht stattgefunden.
Der Betriebsfrieden ist gestört, die mittelständige Wirt-schaft geschädigt. So wollen Sie den Mittelstand för-dern!
Geschmunzelt habe ich auch bei dem Art. 16 diesesGesetzes. Er besagt, daß die Bundesregierung bis zum31. März 2003 über die Auswirkungen dieses Gesetzesberichten muß. Dieses Datum wurde sicher aus wohler-wogenen Gründen gewählt: nach der nächsten Bundes-tagswahl.Ziel Ihres Gesetzentwurfes ist – so heißt es unterSpiegelstrich fünf der Zielbeschreibung – „mittelfristigdie Ausweitung dieser Beschäftigungsverhältnisse ein-zudämmen“. Das Gegenteil wird der Fall sein. UnterSpiegelstrich sechs führen Sie als Ziel an, „Ausweichre-aktionen in den Bereich der Schwarzarbeit ... zu verhin-dern“. Das Gegenteil wird der Fall sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren von denRegierungsfraktionen, Ihre Parteifreundin Heide Simo-nis, die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin, hatsich im „Handelsblatt“ in dieser Woche von dem Ge-setzentwurf distanziert. Sie bezeichnet ihn als mehr alsunglücklich. Der rheinland-pfälzische ArbeitsministerFlorian Gerster – ebenfalls Ihr Parteifreund – äußertesich ähnlich scharf.Die Arbeitgeber, die zunächst nach den Äußerungendes Bundeskanzlers vom 19. November nicht unzufrie-den waren, weil eine Verteuerung dieser Arbeitsverhält-nisse für sie nicht erfolgte, sind inzwischen besorgt, we-gen der Kompliziertheit des Gesetzes sogar entsetzt. DasDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht vonStückwerk, und die Gewerkschaften schweigen, weil siewohl schweigen müssen.
Dies alles darf Sie doch nicht unberührt lassen, meineDamen und Herren. Ich stelle mir vor, wir hätten einsolches Gesetz vorgelegt. Welches Szenario hätten Siedann wohl veranstaltet?
Verlieren Sie, meine Damen und Herren, nicht IhrGesicht und Ihre Glaubwürdigkeit! Ziehen Sie diesenMurks zurück!
Ihre Regierungserklärung haben Sie überschrieben mit:Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen. – Ich denke, dieDeutschen vertrauten auf Ihre Vernunft – bisher aller-dings in vielen Punkten vergeblich.
Das Wort hat Bun-desministerin Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!Ich habe die Debatte um die nichtversicherungspflich-tigen Beschäftigungsverhältnisse über viele Jahre mit-verfolgt, auch als Arbeitssenatorin. Während wir dieDebatte geführt haben, während über viele Jahre, zumTeil auch von Ihnen, Kritik an dieser Form der nichtver-sicherungspflichtigen Beschäftigung geäußert wurde, hatdie Zahl dieser Beschäftigungsverhältnisse stark zuge-nommen. Die Zahlen haben wir gehört. Von ihnen hat esin den letzten Jahren immer mehr gegeben, und ohneNot sind ordentliche Arbeitsverhältnisse richtiggehendatomisiert worden. Sie haben die ganze Zeit zugeschaut,und wir wären schon zufrieden gewesen, wenn da ein-mal ein Gesetzesentwurf von Ihnen auf den Tisch ge-kommen wäre, auch wenn es nur Stückwerk gewesenwäre, wenn wenigstens ein Schritt in die richtige Rich-tung gegangen worden wäre.
Insofern dürfen Sie hier nicht von „Armutszeugnis“ re-den. Es ist ein Armutszeugnis für Sie, daß es so weitkommen konnte und daß wir jetzt dastehen und sagenmüssen: Es gibt 5 bis 6 Millionen solcher Beschäfti-gungsverhältnisse. Wir müssen jetzt fragen: Wie schaf-fen wir es, daß wir die unterschiedlichen Interessen ineinem vernünftigen Gesetzentwurf bündeln?Hier wird immer die Realität ein wenig schöngeredet.Wieviel Schwarzarbeit um diese nichtversicherungs-pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse herum entstan-den ist, das müßten Sie, Frau Schwaetzer, doch sehr ge-nau wissen.
Es wird ein solches Beschäftigungsverhältnis eingerich-tet, und weitere Tätigkeiten im Umfeld dieses Beschäf-tigungsverhältnisses werden mehr und mehr durchSchwarzarbeit abgedeckt. Das konnte geschehen, weil esJulius Louven
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keine Möglichkeit des Nachweises und der Kontrollegab.
Ich bin der Auffassung, daß wir auf Grund des jetzteingeführten Nachweises – jedes dieser Beschäftigungs-verhältnisse muß auf der Steuerkarte nachgewiesenwerden –
überhaupt erst wissen, was hier los ist, und wir die Ent-wicklung verfolgen können. Ich kann Ihnen auch ver-sprechen: Wir werden sehr genau hinschauen, wie sichdieser Bereich in den nächsten Jahren entwickeln wird.Wir sind flexibel; wir werden mit Sicherheit, wenn sichdas eine oder andere nicht bewährt, auch bereit sein,Änderungen vorzunehmen. Das ist doch gar keine Frage.Aber wir müssen doch erst einmal den richtigen Einstieghinbekommen, indem wir sagen: Was gibt es denn indiesem Land? Was passiert da? In welchen Bereichenkönnen wir schnell für eine Regelung sorgen?Denn auf Grund dieses Zuwachses der nichtversiche-rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gab es dieallseits beklagte Erosion der sozialen Sicherungssyste-me. Wir können uns auf der einen Seite nicht hinstellenund darüber klagen, daß es immer weniger Beitragszah-ler gibt, wenn wir auf der anderen Seite hinnehmen, daßsich Millionen aus diesen Sicherungssystemen völlig le-gal verabschieden können. Ich denke, daß wir mit demjetzt vorliegenden Gesetzesentwurf dem einen starkenRiegel vorschieben werden. Deswegen bin ich froh, daßwir nun endlich einen solchen Gesetzentwurf auf demTisch haben.
Es geht darum, der Erosion unserer Sozialversiche-rungssysteme entgegenzusteuern. Das wurde ja von ei-nigen beklagt und mit dem Wort „Zwangsabgabe“ kriti-siert. Aber ich denke, wir alle kennen die Situation unse-rer sozialen Kassen und wissen, daß es dringend not-wendig ist, daß in diesem Bereich etwas passiert, daßwir eine Versicherungspflicht einführen.
– Darauf komme ich noch.Wir eröffnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerndie Möglichkeit, mit freiwilligen Beiträgen Rentenan-sprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung zu er-werben. Das ist wirklich sehr zu begrüßen.
– Nicht in dieser Form. Auch dazu sage ich noch etwas.Ich bin davon überzeugt, daß wir mit diesen Arbeits-verhältnissen den Mißbrauch stoppen werden, und zwardadurch, daß wir das Melde- und entsprechende Kon-trollverfahren eingeführt haben.Wer arbeitet eigentlich in den nichtversicherungs-pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen? Es waren 1997knapp 40 Prozent Haushaltsführende – so heißt das soschön –, also Frauen, es waren rund 13 Prozent Schülerund Studenten und etwa 11 Prozent Rentner.Nun möchte ich aus frauenpolitischer Sicht einigePunkte aufgreifen, die mir sehr am Herzen liegen unddie auch die Abgeordneten bewegen. Zu mir sind in denletzten Jahren viele Frauen gekommen, die sagten: Ichwill entweder eine volle Arbeitsstelle oder wenigstenseine ordentlich abgesicherte Teilzeitstelle, aber ich be-komme sie nicht; ich bekomme nur 620- oder 520-DM-Jobs angeboten, und zwar nicht nur im Handel, sondernauch in den Apotheken, in den Arztpraxen und anders-wo. So erging es den Frauen, obwohl sie etwas ganz an-deres wollten.Wir wissen, daß die Pauschalsteuer in großem Um-fang auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab-gedrückt wurde. Das merken wir jetzt auch an den Re-aktionen der Arbeitgeber auf unsere Regelung, daß Bei-träge in die sozialen Sicherungssysteme gezahlt werdensollen. Diese Möglichkeit des Abwälzens haben Arbeit-geber nun nicht mehr, es ist jetzt also sehr viel wenigerattraktiv, in die nichtversicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnisse auszuweichen. Ich denke, daß Frauen,weil die Attraktivität für geringfügige Beschäftigung fürdie Arbeitgeber wegfällt, nun bessere Chancen haben,mittelfristig ordentliche Teilzeitarbeit oder eine Voll-zeitarbeit zu bekommen.Mein nächster Punkt bezieht sich auf die sozialen Si-cherungssysteme. Ich möchte auf das Thema Renten-versicherung eingehen. Es ist wirklich abenteuerlich,was dazu von der einen oder anderen Seite gesagt wur-de. Das paßt auch nicht unbedingt zusammen.Wir haben die Option für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer geschaffen, sich mit eigenen Rentenbei-trägen Anwartschaften zu erwerben und Rentenbiogra-phien zu schließen. Ich sage das noch einmal; man kannes nämlich nicht oft genug sagen; denn es scheint offen-sichtlich noch nicht angekommen zu sein. Es geht nichtnur um die 7 DM, die es mehr an Rente gibt.
Es geht vor allen Dingen darum, daß vollwertigePflichtbeitragszeiten, also die volle Berücksichtigungbei der Wartezeit, bei der Rente nach Mindesteinkom-men, bei Rehabilitation und bei Erwerbsunfähigkeit undvorgezogener Altersgrenze, erreicht werden.Ich betrachte das nicht als unsozial oder ungerecht.Ich halte das im höchsten Grad für die Frauen für wich-tig. Ich hoffe – ich bitte parteiübergreifend alle darum,daß wir den Frauen diese Option nahebringen –, daßviele Frauen von dieser Option Gebrauch machen. Vor-gesehen haben wir – das verteufeln Sie als ein Stück Bü-rokratie – auch die Pflicht zur Beratung der Arbeitgeberüber diese Möglichkeiten und gleichzeitig die Belehrungdarüber, welche Rechte geringfügig Beschäftigte über-Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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haupt haben, nämlich das Recht auf Lohnfortzahlung imKrankheitsfall und das Recht auf Urlaub. Das war vielenbisher unbekannt und wurde auch nicht unbedingt pro-pagiert.
– Ja, das gab es. Ich habe nicht gesagt, daß es das nichtgab. Es war aber vielen bisher unbekannt, und jetzt gibtes die Pflicht der Belehrung. Verbunden mit der Optiondes Erwerbs von Rentenanwartschaften kann das, denkeich, für Frauen in diesem Bereich sehr hilfreich sein.
– In der Regel pflegen Arbeitgeber mit ihren Arbeit-nehmern beim Einstellungsgespräch zu reden. Jetzt ste-hen dabei diese Dinge auf der Tagesordnung, das istdoch so.Ich halte es für sehr wichtig, daß die Nebenbeschäf-tigungen voll angerechnet werden. Das heißt, wir wer-den jetzt mehr sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung haben. Für uns ist das keine Frage der Statistik.
– Das ist Ihre alte Denke, die hier durchkommt.
Es geht uns schlichtweg darum, eine Gerechtigkeits-lücke zu schließen, weil es niemandem zu vermitteln ist,daß bestimmte Anteile des Erwerbseinkommens von derVersicherungspflicht und der Besteuerung ausgenom-men sind.Ich sage auch ganz klar: Nicht alle frauenpolitischenPunkte sind erfüllt worden. Es sind durchaus noch Wün-sche offen. Es gibt, wie wir wissen, eine ganze MengeDiskussionen. Es ist auch nicht so, daß die Briefe nichtbei uns landen würden. Es ist auch nicht so, daß mitGewerkschaften nicht darüber diskutiert würde; die re-den nicht nur mit Ihnen, sondern genauso mit uns. EinRedeverbot gibt es da sowieso nicht.Aber ich habe keine Schwierigkeiten mit der Nicht-besteuerung des Einkommens der Ehefrau, weil ich den-ke: Na prima, endlich wird dieses Einkommen als eige-nes Einkommen gewertet. Das kann doch eigentlichauch nicht schaden.
Ich denke, daß wir sehr genau hingucken werden, wasin der nächsten Zeit passiert. Entwickeln sich diese Be-schäftigungsverhältnisse so, wie wir das mittelfristigwollen? Dieser Blick wird überhaupt erst möglich – –
Frau Ministerin – –
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich komme zum
Schluß.
Nein, es ist eine
Zwischenfrage vom Kollegen Laumann angemeldet.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, Herr Laumann,
bitte.
Frau Ministerin,
Sie sprachen gerade davon, daß Sie es für richtig halten,
daß der 630-DM-Vertrag einer Ehefrau nicht besteuert
wird. Da möchte ich Sie fragen: Halten Sie das für ge-
recht? Wenn ein Rechtsanwalt oder Zahnarzt seine Frau
für 630 DM beschäftigt, kann er diese 630 DM von sei-
ner Steuer absetzen; aber das Einkommen dieser Frau
wird nicht steuerpflichtig. Halten Sie das gegenüber dem
Facharbeiter, der abends kellnern geht und sich 400 DM
dazuverdient und das dann voll versteuern muß, wirklich
für gerecht?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich will noch ein-
mal deutlich machen, was ich gesagt habe. Ich kenne
alle diese Beispiele. Ich habe keine Schwierigkeiten da-
mit, daß das Einkommen von Frauen als eigenes Ein-
kommen behandelt wird. Daß Mißbrauch von mir in
keiner Form toleriert wird, ist eine andere Frage. Aber
Arbeitseinkommen von Frauen, ordentlich erworben,
sind eigenständige Arbeitseinkommen.
– Ja, mit Arbeit erworben.
Eine weitere Zwi-schenfrage – –Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich möchte jetztzum Schluß kommen.
– Wir wollen doch diese Debatte jetzt nicht weiterfüh-ren. Ich kenne doch Ihre Beispiele.
– Nein, das bringt mich nicht in Verlegenheit.
– Das zeigt nicht, daß das nicht zu regeln ist. Ich habenur meine Meinung über Arbeitseinkommen von Frauenmitgeteilt. Das wird doch wohl noch legitim sein. Das isteine Meinung, mit der wir uns sicher noch befassenwerden.
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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1162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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Ich meine, daß der Gesetzentwurf den richtigen Wegvorgibt. Er stoppt die Aushöhlung sozialversicherungs-pflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Er stabilisiert diesozialen Sicherungssysteme. Er stoppt den Mißbrauch;wir haben die Meldepflicht für alle und die Kontrolle. Erbietet insbesondere Frauen die Möglichkeit, über frei-willige Beiträge Ansprüche in der Rentenversicherungzu erwerben. Er belastet Arbeitnehmer und Arbeitgebernicht ungebührlich hoch. Er vermeidet Ausweichreak-tionen in die Schwarzarbeit.Es ist immer eine schwierige Gratwanderung zwi-schen den unterschiedlichen Interessenlagen, zwischenzu hoher Belastung der Beschäftigungsverhältnisse aufder einen Seite und Aushöhlung unseres Sozialversiche-rungssystems auf der anderen Seite. Ich bin davon über-zeugt, daß wir das gemeistert haben. Wir werden dieweitere Entwicklung sehr genau im Auge behalten.Danke.
Das Wort hat Kolle-
gin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministe-rin Bergmann! Diese Regelung zu verteidigen ist wahr-lich ein schwerer Job für eine Frauenministerin.
Wenn Sie hier sagen, Sie seien auf dem richtigen Weg,bessere Chancen für Vollzeit und reguläre Teilzeit zuschaffen, dann sage ich: Sie sind hier auf einem Holz-weg.
Sie haben in diesem Gesetz keinen Riegel, mit dem Sieder Aufsplitterung von regulärer Beschäftigung wirklichwehren können. Da machen Sie sich etwas vor. Ich rateIhnen in der Tat: Beobachten Sie die Auswirkungen die-ses Gesetzes! Es wird zu mehr geringfügiger Beschäfti-gung führen und die reguläre Beschäftigung weiter ab-senken.Hieran wird deutlich: Selbst in den ersten hundertTagen, in denen die neue Regierung im Amt ist, sind dieWahlversprechen gegenüber den Frauen nicht einmaldas Papier wert, auf dem sie geschrieben sind.
SPD und Grüne hatten in Deutschland gemeinsammit dem DGB ein Frauenbündnis initiiert – mittendrinund trotzdem draußen. Da sind Sie für die bessere so-ziale Sicherung der Frauen eingetreten und dafür, denMißbrauch bei der geringfügigen Beschäftigung zu be-kämpfen. Ich erinnere mich noch gut, daß sich die Kol-legin Onur – sie ist jetzt nicht mehr hier – noch im Aprilvergangenen Jahres mit großer Vehemenz für die Baga-tellgrenze bei der geringfügigen Beschäftigung ausge-sprochen hat. Der damalige Fraktionsvorsitzende Schar-ping hat die bestehenden Regelungen als frauenfeindlichbezeichnet und gefordert: Gebt den Frauen ordentlicheTeilzeitarbeitsplätze. – Was ist diese Aussage jetzt nochwert? Nichts. Was ist mit der Absenkung der Geringfü-gigkeitsgrenze? Nicht einmal um eine müde Mark sen-ken Sie diese Grenze ab. Nichts geschieht an dieserStelle. Im Gegenteil: In den neuen Bundesländern erhö-hen Sie die Geringfügigkeitsgrenze. Es ist das erste Mal,daß geringfügige Beschäftigung amtlich ausgeweitetwird.
Frauen wurde im Wahlkampf vorgegaukelt, daß SPDund Grüne ihre Interessen vehement vertreten würden.Aber hier zeigt sich: Das ist alles nur heiße Luft. Beidiesem Gesetzentwurf geht es nämlich nicht um dieVerbesserung der Situation der 3,3 Millionen Frauen ingeringfügiger Beschäftigung – mitnichten.Bundeskanzler Schröder selbst hat in der berühmtenAktuellen Stunde am 19. November 1998, als er inner-halb von zehn Tagen seinen dritten Vorschlag vorstellte,drei Zielsetzungen genannt. An keiner Stelle – ich beto-ne: an keiner Stelle! – war dort die Rede davon, daß diesoziale Sicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer verbessert werden soll. Dieses zentrale Ziel istbei ihm offensichtlich unter den Tisch gefallen.
Dagegen zieht sich wie ein roter Faden durch diesesogenannte Reform die Grundlinie der neuen Regierung,nämlich immer neue Finanzquellen zu Lasten der Ar-beitnehmer und der Arbeitgeber zu erschließen, statt diedringend gebotenen Reform- und Sparmaßnahmen inAngriff zu nehmen.
Zweifellos muß man die Lage der Sozialkassen sehrernst nehmen.
– Wenn Sie hier so schreien, dann stellen Sie auch eineFrage! Dann können wir miteinander diskutieren.
Die Erosion der sozialen Sicherungssysteme, dasheißt die Flucht aus diesen Sicherungssystemen, müssenwir sehr ernst nehmen. Wir haben eine Antwort gege-ben, indem wir in der letzten Legislaturperiode Refor-men im Rentenbereich durchgesetzt haben. Aber Siehatten nichts Eiligeres zu tun, als diese Rentenreformzurückzunehmen, ohne ein eigenes Konzept vorzulegen.
Sie haben damit dafür gesorgt, daß sich die Finanzsitua-tion in diesem Bereich deutlich verschlechtert.Rechnen wir es einmal nach. Der VDR sagt: Für dieJahre 1999 und 2000 kostet allein die Aussetzungdes demographischen Faktors 4,3 Milliarden DM.Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1163
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Schauen wir jetzt einmal auf die Einnahmen, die Sie aufGrund der Neuregelung der geringfügigen Beschäfti-gung erwarten; Sie haben es ausgeführt. Sie hoffen auf4,75 Milliarden DM in zwei Jahren. Wir können hier al-so eine einfache Gegenrechnung machen. Durch Ihrenmangelnden Mut, Ihre geringe Bereitschaft zu Struktur-reformen in der Rentenversicherung werden dieseMehreinnahmen sofort wieder aufgefressen werden.
Es nützt nichts, an Symptomen zu kurieren. Sie müs-sen den Mut zu einer Reformpolitik haben, statt restau-rative Politik zu betreiben.
Was leistet dieser Gesetzentwurf eigentlich? Von derersten Mark an, heißt es, sollen Beiträge zur Sozialversi-cherung erhoben werden. Das ist eigentlich eine froheBotschaft. Konkret bedeutet das aber: statt der bisher20prozentigen Pauschalbesteuerung jetzt 10 Prozent indie Krankenversicherung, 12 Prozent in die Rentenver-sicherung.
Aber aus diesen Beiträgen folgen keine Leistungen. Dasist der zentrale Mangel an Ihrem Gesetz.
– Wollen Sie, Herr Gilges, endlich einmal etwas fragen,oder wollen Sie immer nur schreien?
Eine Zwischenfrage,
bitte, Herr Schemken.
Frau Kollegin, sind
Sie mit mir der Meinung, daß sich Herr Gilges viel zu-
viel aufregt?
Lieber Herr
Schemken, in der Tat muß man sagen: Wer so laut
schreit, hat wahrscheinlich nicht viel zu bieten.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Ja, nachdem er ge-
schrien hat, soll er jetzt auch fragen.
Es geht mir ganz gut. Ich ha-
be einen sehr niedrigen Blutdruck, Herr Schemken, der
zwischen 65 und 90 liegt. Deshalb tut es mir gut, wenn
ich mich morgens ein bißchen aufrege. Das möchte ich
nur nebenbei erwähnen.
Aber ich wollte ganz konkret etwas fragen: Frau
Kollegin, Sie haben gesagt, es gebe keinen Belastungs-
unterschied bei der Steuer. Das ist schlicht und einfach
falsch, was Sie sagen. Es ist zwar richtig,
– warten Sie doch einmal ab! –, daß 20 Prozent Pau-
schalbesteuerung per Gesetz erhoben werden. Aber die
tatsächliche Besteuerung lag bei 22,8 Prozent.
– Es freut mich, daß der Kollege zuhört. Er versteht ja
etwas davon.
Die Arbeitgeber sparen 0,8 Prozent ein; das ist die
Tatsache. Deshalb ist Ihre Rechnerei schlicht und ein-
fach falsch. Ich bitte Sie darum, auch einmal zur Kennt-
nis zu nehmen, daß die tatsächliche Belastung – ich sage
das noch einmal – bei 22,8 Prozent liegt.
Die zukünftige Belastung liegt bei 22 Prozent. Das ist
eine Einsparung von 0,8 Prozent.
Zur zweiten Frage, die ich Ihnen stellen muß
– das ist die eigentliche Frage –: Arbeitnehmer und Ar-
beitgeber – das haben Sie eben behauptet – würden zu-
sätzlich belastet. Tatsächlich gibt es keine Mehrbela-
stung; vielmehr findet nur eine Umschichtung statt. Sa-
gen Sie doch einmal im Detail, welche zusätzlichen
finanziellen Belastungen für den Arbeitgeber entstehen!
Ich habe gerade eben vorgerechnet, daß es Einsparungen
gibt. Welche zusätzlichen Belastungen entstehen denn
für den Arbeitnehmer?
Herr Gilges, zu-nächst darf ich einmal feststellen: Ich finde es schonbemerkenswert, wie Sie sich jetzt für die Arbeitgeberstark machen. Das habe ich bei Ihnen noch nie erlebt.
Wenn Sie nicht so geschrien und mir statt dessen auf-merksam zugehört hätten, dann hätten Sie gemerkt: Esging mir an dieser Stelle zum einen deutlich um dieAuswirkungen auf die Finanzlage der Rentenversiche-rungen. Dazu habe ich gesagt, daß Sie hier fast ein Null-summenspiel betreiben, wenn Sie auf der einen SeiteReformen zurücknehmen und damit Mehrbelastungenschaffen, während Sie auf der anderen Seite wieder neueFinanzquellen erschließen müssen.Zum anderen muß ich Ihnen sagen: Mir geht es hierum die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die näm-Dr. Maria Böhmer
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lich nichts von diesem Beitrag haben, den der Arbeitge-ber jetzt zahlt.
Es gibt doch einen Bruch im Bereich der Sozialversi-cherung, wenn hier Beiträge gezahlt werden und darauskeine Leistungen erfolgen. Sie müßten aufstehen in die-sem Parlament und sich mit Vehemenz gegen eine sol-che Regelung aussprechen.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen Gilges?
Ja, bitte.
Ich wollte Sie, Frau Kollegin,
nur fragen, ob es Ihnen bekannt ist, daß der Arbeitneh-
mer – das war in der Vergangenheit so – keinen An-
spruch auf die Beitragszahlungen der Arbeitgeber hat.
Die alte Bundesregierung hat in den 80er Jahren zum
Beispiel ein Gesetz vorgelegt, nach dem türkische
Arbeitnehmer Versicherungsbeiträge ausgezahlt beka-
men, nachdem sie in die Türkei zurückgekehrt waren.
Sie bekamen aber nur diejenigen Versicherungsbeiträge
ausgezahlt, die sie selber eingezahlt hatten, während Sie
damals die Beiträge der Arbeitgeber eingespart bzw. in
der Rentenkasse belassen haben. Das war immer so und
soll nach meiner Meinung auch so bleiben. Das ist auch
richtig. Aber Sie stellen jetzt neue Grundsatzprinzipien
in der Sozialversicherung auf, mit denen Sie – wenn Sie
sie durchhalten – in Ihrer eigenen Fraktion große Pro-
bleme bekommen.
Herr Kollege, Ihre
Frage!
Ich habe ja gefragt, ob ihr das
bekannt ist.
Herr Gilges, ich
habe gerade den Präsidenten gebeten, die Uhr anzuhal-
ten. Wenn man die Debatte jetzt so lebhaft führt – das
macht mir auch Spaß –, dann sollte das aber nicht auf
die Redezeit angerechnet werden, Herr Präsident.
Lieber Herr Gilges, Sie sind lange genug im Aus-
schuß für Arbeit und Soziales. Deshalb wundere ich
mich darüber, wie Sie so an der Sache vorbeireden kön-
nen.
Ihnen dürfte doch, da Sie noch länger als ich diesem
Ausschuß angehören, sehr bewußt sein, auf welchen
Prinzipien unser Sozialversicherungssystem beruht.
Bei unserem Sozialversicherungssystem ist von emi-
nenter Bedeutung, daß, wer Beiträge leistet, auch An-
spruch auf Leistung hat. So wollen wir es auch für die
Zukunft halten.
Frau Kollegin
Böhmer, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Ab-
geordneten Seifert?
Bitte.
Ich möchte auf Ihre Antwort
auf die vorhergehende Frage zurückkommen. Wollen
Sie allen Ernstes sagen, daß es für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer nichts ist, wenn sie Ansprüche
auf Reha-Leistungen sowie EU- und BU-Ansprüche
erwerben können? Sie sagten eben, sie bekämen nichts
heraus. In Anbetracht dessen, daß sie bisher bei gering-
fügigen Beschäftigungen nichts dergleichen hatten, ist
das jetzt doch ganz schön viel.
Ich habe ansonsten nicht viel Grund, diesen Gesetzent-
wurf zu verteidigen. Aber an diesem Punkt kann man
doch nicht sagen, das sei nichts.
Herr Kollege, ich
bin Ihnen dankbar, daß Sie diese Frage gestellt haben;
das gibt mir Gelegenheit zur Klarstellung. Wenn mit
diesem neuen Gesetz eine Einladung ausgesprochen
wird, freiwillig den Rentenbeitrag mit eigenen Beiträgen
um 7,5 Prozent aufzustocken, um dann Leistungen zu
erhalten, dann werde ich jeder Frau und jedem Mann in
geringfügiger Beschäftigung raten, dieses Geld lieber ins
Sparschwein zu stecken, statt später so kümmerliche
Rentenleistungen herauszubekommen, wie wir es eben
gehört haben.
Auch wenn Sie eben Reha, Berufs- und Erwerbsunfä-
higkeit erwähnt haben, kann ich nur sagen: Suchen Sie
diejenigen im Lande, die bereit sind, diesen Beitrag in
die Rentenversicherung zu zahlen. Ich habe gerade im
Fernsehen etliche Interviews gesehen, in denen Frauen
das strikt zurückgewiesen haben, weil sie wissen, daß
sie an dieser Stelle verschaukelt werden.
Gestatten Sie eineweitere Zwischenfrage der Kollegin Schmidt?Dr. Maria Böhmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1165
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Ja, bitte.
Frau Kollegin Böh-
mer, jetzt drängt sich mir doch eine Frage auf, die ich
stellen möchte. Im Antrag der CDU/CSU steht unter
Punkt 5, daß die geringfügig Beschäftigten in die So-
zialversicherung, vor allen Dingen in die Rentenversi-
cherung, einbezogen werden sollten. Können Sie mir
einmal sagen, wie hoch nach Ihrem Konzept die Beiträ-
ge sein sollen und welche Leistungen jemand erhält, der
für 500 DM beschäftigt ist und dementsprechend ab
1. April 19,5 Prozent in die Rentenversicherung einzah-
len müßte?
Liebe Frau
Schmidt, wir haben immer das Prinzip der Hälftigkeit
gehabt und sind sogar mit Blick auf Arbeitnehmerinnen
mit geringfügiger Beschäftigung, als es um die Arbeits-
plätze im Privathaushalt und den Arbeitsscheck ging, ei-
nen Schritt weitergegangen. Wir haben dort nämlich
vorgesehen gehabt, die Frauen mit ihrem geringen Ver-
dienst nicht zusätzlich zu belasten. Um ihnen aber die
Möglichkeit zu geben, daß sie ihre Rentenansprüche
langsam aufstocken können, sollte der Arbeitgeber beide
Beitragsanteile bezahlen. Das halte ich an der Stelle für
eine durchaus vernünftige Regelung.
Jetzt lassen Sie mich aber noch etwas antworten: Es
macht mich betroffen – wir haben so lange bei diesem
Thema gekämpft; dabei standen Sie in vorderster Reihe
der SPD –, daß ich jetzt registrieren muß, wie sehr Sie
diese Neuregelung verteidigen, wie sehr Sie auf einmal
für die Beibehaltung der geringfügigen Beschäftigung
plädieren und sagen, das ermögliche den Frauen, nach
der Familienzeit wieder in den Beruf zurückzukehren.
Liebe Frau Schmidt, das ist nicht der Fall. Sehen Sie
doch bitte, was sich hier abspielt. Es wird ein neuer Bil-
liglohnsektor etabliert, und Sie drängen die Frauen
durch diese Neuregelung in solche Beschäftigungsver-
hältnisse, weil ihnen keine andere Beschäftigung mehr
angeboten werden wird.
Die Kollegin Böh-
mer bittet darum, jetzt im Gesamtzusammenhang fort-
fahren zu können, nachdem sie einige Zwischenfragen
zugelassen hat. Dieser Bitte müssen wir entsprechen.
Frau Böhmer, Sie haben das Wort.
Ich füge gern dashinzu, was ich eben zu den Privathaushalten gesagt ha-be: Das war für dieses Segment eine Lösung, die wir ge-funden haben; ansonsten bleiben wir bei den Prinzipien,die die Sozialversicherung bietet. Wir würden dort ge-nauso handeln, wie wir es in anderen Bereichen eben-falls tun.
– Da Sie die Sozialversicherung kennen, gehe ich davonaus, daß Sie es interpretieren können.Ich möchte mit Überlegungen fortfahren, die den Ge-setzentwurf betreffen. Ich will noch einmal ganz deut-lich machen: Diese Neuregelung läßt all die Millionenvon Frauen, die 630-DM-Jobs haben, im Bereich der so-zialen Sicherung außen vor. Das ist für den DeutschenFrauenrat mit seinen 11 Millionen Mitgliedern und fürdie DGB-Frauen mit ihren immerhin 2,6 Millionen Mit-gliedern, die sich alle an dem Frauenbündnis beteiligthaben, um für bessere soziale Sicherung zu kämpfen, einSchlag ins Gesicht.
Die Frauen stehen mit ihrer Kritik nicht allein: DGB,DAG und Juristinnenbund – die Frauen haben breiteUnterstützung. Sie haben sie auch aus den Reihen derSPD selbst. Mein Kollege Louven hat eben auf die kriti-schen Äußerungen des rheinland-pfälzischen Sozialmi-nisters Gerster hingewiesen. Mit Recht kritisiert er dieverfassungsrechtliche Bedenklichkeit dieser Neurege-lung. Wenn ich die Äußerungen von Heide Simonis lese,die den Entwurf für kontraproduktiv hält, dann kann ichnur sagen: Es stimmt.Ich wundere mich, daß ich heute keine derjenigenFrauen von seiten der Grünen im Parlament sehe, dieimmer für eine Änderung im Bereich der geringfügigenBeschäftigung eingetreten sind. Sie sind angesichts die-ser Neuregelung offensichtlich verstummt. Es tut mirfast leid, das miterleben zu müssen; denn der Gesetz-entwurf enthält ein völlig antiquiertes Frauenbild. Mitdem Gesetz wird erneut die Rolle der zuverdienendenEhefrau festgeschrieben, die die eigene soziale Absiche-rung lediglich durch eine Option erwerben kann und an-sonsten auf die Rente des Ehemanns verwiesen wird.Das kann nicht die neue Zeit sein.
Wenn Sie behaupten, hiermit werde der Aufsplittungvon Beschäftigungsverhältnissen ein Riegel vorgescho-ben, dann entgegne ich dem: Glauben Sie ernsthaft, daßnur ein Arbeitgeber angesichts der Neuregelung ernst-lich gehindert würde, weiterhin mit geringfügigen Be-schäftigungsverhältnissen zu kalkulieren und Vollzeitar-beitsplätze aufzusplitten? Ich meine, nein. Auch die Re-gelung im Betriebsverfassungsgesetz wird dafür keinHemmschuh sein. Sie werden sehen: Leider werden indiesem Bereich mehr statt weniger Arbeitsplätze entste-hen.Das schlimme ist: Die Chancen, daß wirklich reguläreTeilzeitarbeitsplätze entstehen, werden erheblich gerin-ger werden. Genau das ist der Bereich, in dem wir Inno-vationen gebraucht hätten. Sie ignorieren diesen Be-reich.
In der Tat, der Juristinnenbund hat recht, wenn er voneinem frauenpolitischen Ärgernis spricht. Ich sage: Hiereröffnet sich eine neue Diskriminierung für Frauen;denn der Billiglohnsektor wird für Frauen in diesem
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1166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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Land zementiert. Sie machen geringfügige Beschäfti-gung durch diesen Gesetzentwurf hoffähig.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil es be-zeichnend ist, daß von seiten der SPD ein Beschäfti-gungssektor wieder einmal völlig auf die Seite gescho-ben wird. Ich meine damit die Arbeitsplätze im Privat-haushalt. Dieser Gesetzentwurf geht an den Bedürfnis-sen der Arbeit im Privathaushalt vollkommen vorbei;denn wir sind dort mit Kleinstarbeitsverhältnissen kon-frontiert. Wie wollen Sie es schaffen, daß diejenigenFrauen, die drei oder vier Stunden arbeiten, bei einerFestschreibung der Grenze auf 630 DM jemals dieChance auf eine ordentliche Teilzeitarbeit haben?Dann steht noch die Drohung im Raum, daß Sie dievon uns durchgeführten Reformen – steuerliche Anreize,Haushaltsscheckverfahren, Dienstleistungszentren – zu-rücknehmen. Ich habe zwei Anfragen an die Bundesre-gierung gestellt. Die Antworten waren dürftig und ent-larvend. Wenn Sie diese Reformen zurücknehmen – ichsage das hier in aller Deutlichkeit – führt das zu einerklaren Arbeitsplatzvernichtung im Bereich der privatenHaushalte. Davor kann ich Sie nur warnen.
Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Haushalts-scheckverfahrens und geeignete steuerliche Rahmenbe-dingungen für Dienstleistungszentren. Das würde wei-terführen und den Millionen Frauen und all den Famili-en helfen, die mit diesem Bereich zu tun haben.
Mein Fazit: Ein Gesetz, das die Billigjobs fest-schreibt, die Aufsplittung regulärer Arbeitsverhältnissein geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nicht stoppt,die Arbeitsplätze in Privathaushalten außen vor läßt unddie soziale Sicherung der Frauen nicht verbessert, istkein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Ein solchesGesetz ist sozial ungerecht. Das werden wir nicht mit-machen.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich das Wort der Kollegin Ulla Schmidt,
SPD-Fraktion.
Ich unterhalte mich
eben so gerne mit Ihnen. –
Frau Kollegin Böhmer, wir kennen uns lange genug
und arbeiten lange genug an diesem Thema. Ich wäre ja
froh, wenn Sie in den letzten Jahren wirklich Reformen
in dieser Frage auf den Weg gebracht hätten. Das hätte
es uns nämlich einfacher gemacht: Wir hätten auf vor-
handenen Reformen aufbauen und diese weiterentwik-
keln können.
Die heutige Situation wird, wie schon oft gesagt wur-
de, von unterschiedlichen Interessenlagen bestimmt.
– Lassen Sie mich einmal ausreden; ich habe Sie eben
auch ausreden lassen. – Auf der einen Seite haben wir
die Situation, daß die Realeinkommen der Familien sin-
ken. Das führt leider dazu, das die 630 DM, die in die-
sen Jobs verdient werden können, ganz dringend als zu-
sätzliches Einkommen benötigt werden, um die Kosten
zu bezahlen, die für Kindererziehung und andere Dinge
entstehen. Auf der anderen Seite existiert zwar eine Pau-
schalbesteuerung auf der Arbeitgeberseite, aber Sie wis-
sen doch so gut wie ich – denn auch Sie haben all die
Briefe erhalten –, daß 80 Prozent der Arbeitgeber die
20 Prozent nicht selber gezahlt haben, sondern sie auf
ihre Beschäftigten abgewälzt haben.
Wir haben jetzt eine Regelung vorgeschlagen – ich
bitte Sie angesichts der vielfältigen Situationen, die zu
berücksichtigen sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir
Schritt für Schritt vorgehen müssen –, gemäß der der
Bertrag, der derzeit pauschal gezahlt werden muß – das
waren einschließlich Kirchensteuer und Solidarzuschlag
22,8 Prozent –, in die Sozialkassen eingezahlt werden
soll.
Außerdem dürfen die Arbeitgeber diese Abgaben nicht
mehr auf die Beschäftigten abwälzen, sondern sie müs-
sen sie tatsächlich selbst bezahlen. Das ist ein Fort-
schritt.
Weiterhin wollen wir, daß 12 Prozent in die Renten-
versicherung eingezahlt werden. Die Beschäftigten – das
sind vor allen Dingen die Frauen – erhalten mit einer
Zuzahlung von 7,5 Prozent die Option, ihre Rentenbio-
graphien zu vervollständigen. Es geht doch nicht um
die 7,5 Prozent; das wissen doch auch Sie. Wenn wir
von den 500 DM, die jemand verdient, 19,5 Prozent
nehmen, dann kommt es auf das gleiche heraus, ob die-
ser Satz hälftig gezahlt wird oder 12 Prozent plus 7,5
Prozent gezahlt werden. Aber durch die 19,5 Prozent
wird es möglich, Rentenanwartschaften zu erwerben
bzw. zu erhöhen. Wir versuchen dadurch, einen Weg für
Frauen zu finden, denen die Anwartschaften fehlen und
die, obwohl sie jahrelang in die Rentenversicherung ein-
gezahlt haben, noch nicht einmal einen Anspruch auf
Altersrente erworben haben. Jetzt können sie diesen An-
spruch erwerben. Ich halte das für einen Fortschritt.
Frau KolleginSchmidt, ich muß darauf hinweisen, daß es sich um eineKurzintervention handelt.Dr. Maria Böhmer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1167
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(D)
Ich gehe auf die
Punkte ein.
Es tut mir leid, dann
muß Ihre Fraktion das anders regeln. Ich gebe Ihnen
noch die Gelegenheit zu einem Abschlußwort.
Ich gehe dann noch
auf die Dienstleistungsagenturen ein. Eine Regelung für
Dienstleistungsagenturen und für die Beschäftigung in
privaten Haushalten muß jetzt folgen,
weil wir wollen, daß mit diesem Gesetz – da haben Sie
völlig recht – von der ersten Stunde an eine unbürokrati-
sche Handhabung der Versicherungspflicht für den pri-
vaten Haushalt einhergeht.
Wir werden das so durchführen. Im Gegensatz dazu ha-
ben Sie eine steuerliche Absetzbarkeit nur den Familien
ermöglicht, die ihren Angestellten mehr als 620 DM
zahlten.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion.
– Entschuldigung, Frau Kollegin Kramme, ich habe
nicht gesehen, daß sich Frau Kollegin Böhmer zu einer
Antwort auf die Kurzintervention gemeldet hat.
Dazu haben Sie das Recht, Frau Böhmer. Ich gebe
Ihnen das Wort.
Herzlichen Dank,
Herr Präsident.
Liebe Frau Schmidt, ich muß sagen: Aus jedem Ihrer
Worte spricht das schlechte Gewissen gegenüber der
vorliegenden Regelung. Ich kann mir gut vorstellen, wie
es in Ihrem Inneren aussieht.
Diese Regelung zu unterschreiben erfordert schon viel
Überwindung. So etwas hätte keine und keiner von uns
unterschrieben.
Das als einen Einstieg, als einen Schritt in die richtige
Richtung zu bezeichnen ist schon mehr als kühn.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode – das ist
im Hause bekannt – heftig um Regelungen im Bereich
der Geringfügigkeit gerungen. Aber wir wollten ver-
nünftige Regelungen, nicht solche Scheinlösungen wie
die Ihren.
– Vielleicht könnten Sie etwas aufmerksam sein.
Sie sind an Ihren eigenen Worten und an den Kriteri-
en, die Sie in der letzten Legislaturperiode aufgestellt
haben, zu messen; das ist der entscheidende Punkt: Von
diesen Kriterien und diesen Worten ist nichts, aber auch
gar nichts übriggeblieben.
Beschämend finde ich, daß der Arbeitgeberbeitrag
zur Sozialversicherung jetzt als die Lösung für die so-
ziale Sicherung der Frauen bezeichnet wird. Das ist er
nicht. Zum einen gibt es auch heute schon die Möglich-
keit, freiwillige Beiträge zu leisten. So viel Neues ist al-
so nicht daran. Zum anderen muß ganz klar gesagt wer-
den: Das, was dabei herauskommt, sind Minilösungen.
Deshalb verstehe ich jede Frau, die das nicht in An-
spruch nimmt.
Wir sind uns darüber einig, daß es letztendlich nicht
darum geht, 7 DM mehr Rente zu bekommen. Es geht
vielmehr um die Chance, mehr reguläre Teilzeitstellen
für Frauen zu schaffen. Das wird aber durch die Fest-
schreibung der Geringfügigkeitsgrenze auf 630 DM – im
Osten wird diese Grenze sogar noch von 530 DM auf
630 DM angehoben – verhindert. Sie müssen sich ein-
mal vorstellen, wie viele Frauen in den neuen Bundes-
ländern durch die neue gesetzliche Regelung seitens der
Bundesregierung nun auf einen Schlag ihre bisherige so-
zialversicherungsrechtliche Absicherung verlieren; sie
fallen aus der Arbeitslosenversicherung heraus.
Wer dort nämlich bisher für ein Einkommen zwischen
530 DM und 630 DM gearbeitet hat, wird jetzt durch die
Anhebung der Grenze auf 630 DM von dieser Absiche-
rung ausgeschlossen. Das finde ich schon bemerkens-
wert.
Das Ergebnis wird daher weniger reguläre Teilzeitar-
beit sein; denn Teilzeitarbeit wird in einem Korridor bis
1 400 DM absolut unattraktiv. Sie sollten etwas anderes
auf den Tisch legen, über das man vernünftig reden
kann.
Nun gebe ich im
zweiten Anlauf der Kollegin Anette Kramme, SPD-
Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrteAnette Kramme
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1168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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Frau Böhmer! Die Vergangenheit wird häufig durch denWeichzeichner wahrgenommen. Sie, die alte Bundesre-gierung, haben einen Koloß, ein Ungetüm auf dem Ar-beitsmarkt gefüttert, gehegt und wuchern lassen. DiesesUngetüm ist das 630-DM-Arbeitsverhältnis.Eine ganz einfache Tatsache ist ursächlich für dieWucherung: Das 630-DM-Arbeitsverhältnis ist im Ver-gleich zum Normalarbeitsverhältnis ungerechtfertigt be-günstigt. Die Pauschalsteuer wird im Regelfall auf dieBeschäftigten überwälzt. Sozialversicherungsabgabensind nicht zu zahlen. Es handelt sich um Billigjobs.Die Marginalität dieser Arbeitsverhältnisse bewirktselber noch einmal zusätzliche Benachteiligungen: Ar-beitnehmern und Arbeitnehmerinnen werden die ihnenzustehenden Rechte wie die Lohnfortzahlung und dasUrlaubsentgelt vorenthalten. Die volkswirtschaftlichenund individuellen Wirkungen sind katastrophal: Die630-DM-Jobs beinhalten die Erosion der Finanzgrund-lagen der Sozialversicherung. Den Beschäftigten wirdein ausreichender sozialer und arbeitsrechtlicher Schutzvorenthalten. Der Mißbrauch ist der Weggefährte derbisherigen Regelung.
Die Dimension des Problems im Jahre 1999 machtNeuregelungen nicht einfach. 6 Millionen Arbeitsver-hältnisse von heute auf morgen der vollen Steuer- undSozialversicherungspflicht zuzuführen würde massiveEinschränkungen für viele Arbeitnehmerfamilien be-deuten. Dabei ist zu berücksichtigen: Eine große Zahlder geringfügigen Arbeitsverhältnisse sieht schlechthinunakzeptable Bruttolöhne vor. Wir haben dennoch einenangemessenen Weg gefunden.Wir werden ein weiteres Wahlkampfversprecheneinlösen. Wir haben den Kündigungsschutz und dieLohnfortzahlung im Krankheitsfalle wiederhergestellt.Wir haben die Scheinselbständigkeit bekämpft und da-mit fast 1 Million Menschen eine neue Perspektive inder Sozialversicherung gegeben. Jetzt gehen wir an dieUmsetzung des zugesagten Versprechens, die 630-DM-Arbeitsverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht zu-rückzuführen. Die rotgrüne Koalition handelt gemäß ih-ren Ankündigungen.Das Gesetz der Koalition wird dem Ungetüm der un-gesicherten 630-DM-Beschäftigung endgültig den Kopfabschlagen. Ich nenne hierzu fünf Punkte:Erstens. Unser Ziel war es, daß es keine Zwei-Klassen-Jobs mehr gibt. 630-DM-Jobs besitzen nichtlänger eine finanzielle Attraktivität für die Unterneh-men. Durch die zwingend festgelegten Arbeitgeberbei-träge zur Renten- und Krankenversicherung in Höhe von22 Prozent wird das geringfügige Arbeitsverhältnis demNormalarbeitsverhältnis weitgehend gleichgestellt. Wirgehen davon aus, daß durch diese Regelung eine weitereZerstückelung von Arbeitsplätzen verhindert wird. Wirgehen weiter davon aus, daß wieder mehr Arbeitsplätzemit höherer Stundenzahl angeboten werden.
– Doch!Zweitens. Deshalb lassen wir es auch nicht länger zu,daß es neben einer Hauptbeschäftigung ein geringfügi-ges Arbeitsverhältnis ohne Sozialversicherungs- undSteuerpflicht gibt. Haupt- und Nebenbeschäftigungenwerden addiert, so daß vollumfänglich alle Abgaben an-fallen. Es ist nämlich nicht einsichtig, daß eine zusätzli-che Arbeitsleistung auf der Basis eines geringfügigenArbeitsverhältnisses bei den Sozialabgaben und bei derSteuer im Verhältnis beispielsweise zur Mehrarbeit fi-nanziell begünstigt wird.Drittens. In diesem Zusammenhang steht auch diedauerhafte Festschreibung der Geringfügigkeitsgrenzeauf 630 DM. Es ist eine seit Jahren erhobene Forderungder SPD, die Geringfügigkeitsgrenze nicht länger anzu-heben.Viertens. Damit sind die Maßnahmen zur Eindäm-mung des Mißbrauchs der 630-DM-Jobs noch nicht er-schöpft. Wir geben den Betriebsräten ein gewichtigesund bedeutsames Instrumentarium an die Hand. Be-triebsräte müssen nicht mehr länger zuschauen, wiekontinuierlich Vollzeitarbeitsplätze in geringfügige Ar-beitsplätze umgewandelt werden. Betriebsräte könnenkünftig nach § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes dieZustimmung zur Einstellung von Arbeitskräften auf630-DM-Basis verweigern, wenn im Betrieb „kein aus-gewogenes Verhältnis von Arbeitsverhältnissen mit ei-ner geringfügigen Beschäftigung ... und sonstigen Ar-beitsverhältnissen gewährleistet ist“.
Eine generelle Quotierungsregelung lehnen wir ab, dasie nur den Status quo in einzelnen Branchen festschrei-ben könnte. Es wäre im übrigen zu befürchten, daß vieleUnternehmen diese Maximalquote als Zielquote verste-hen und die geringfügige Beschäftigung aufstockenwürden. § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes ermög-licht eine sachnahe Einigung zwischen den Betriebs-partnern.Fünftens. Wir werden es nicht länger zulassen, daßgeringfügig Beschäftigte an einem Tag sie selbst, amnächsten Tag der Bruder und am übernächsten Tag dieOma sind. Wir holen die 630-DM-Arbeitsverhältnisseaus der Anonymität zurück. Alle geringfügigen Be-schäftigungsverhältnisse sind der Sozialversicherungvon den Arbeitgebern zu melden und vor allen Dingenauf der Lohnsteuerkarte zu vermerken.
Die Gemeinde teilt dem Finanzamt die Zahl der mitSteuerklasse VI ausgestellten Lohnsteuerkarten mit. Esbesteht die Auskunftspflicht der Sozialversicherung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, erstmals seit Ein-führung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisseschaffen wir neuen sozialen Schutz.
Erstmals können Frauen, die in geringfügigen Arbeits-verhältnissen beschäftigt sind, für die Versicherungs-pflicht in der Rentenversicherung optieren. Es wirdnicht mehr so sein, daß Frauen ihr Leben lang arbeitenund keine Rente erhalten. Wie war es denn bisher? EsAnette Kramme
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1169
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gab viele Frauen, die immer zum Familieneinkommenbeitragen mußten, ihr Leben lang gearbeitet und den-noch keine eigenen Rentenansprüche erworben haben.Darüber hinaus gibt es Hunderttausende von Frauen, dieauf Grund ihrer Familienleistungen keine hinreichendenBeitragszeiten erwerben konnten. Diesen Frauen gebenwir mit der neuen 630-DM-Regelung durch die freiwil-lige Zuzahlung die Chance, einen eigenständigen Ren-tenanspruch zu erwerben. Wir geben den Frauen damitauch ein Stück Würde zurück, die Sie von derCDU/CSU diesen Frauen vorenthalten haben.
Künftig erlangen Frauen den vollständigen Schutz derRentenversicherung, und das zu einem geringen, redu-zierten Beitragssatz. Das heißt, Sie können Rehabilitati-onsmaßnahmen, die Rente wegen Berufs- und Erwerbs-unfähigkeit und vorgezogene Altersrenten beziehen. DieRentenberechnung erfolgt gegebenenfalls nach Mindest-einkommen.Erstmals werden geringfügig Beschäftigte mit demneuen Nachweisgesetz Anspruch auf Dokumentation ih-rer Arbeitsbedingungen haben. Nach dem Nachweisge-setz muß der Arbeitgeber sie auch auf die Versiche-rungsmöglichkeit bei der Rentenversicherung hinweisen.Der Gesetzentwurf ist auch für die Sozialversiche-rung richtig: Die künftigen Mehreinnahmen der gesetz-lichen Rentenversicherung werden auf 2,85 MilliardenDM geschätzt, die der gesetzlichen Krankenversiche-rung auf 2,25 Milliarden DM.Abschließend folgendes: Die Bundesregierung wirddem Parlament bis zum 31. März 2003 über die Auswir-kungen dieses Gesetzes auf den Arbeitsmarkt, die Sozi-alversicherung und die öffentlichen Finanzen berichten.Wir werden uns nicht scheuen, erforderlichenfalls wei-tergehende Schritte in die Wege zu leiten.
Das war die erste
Rede der Kollegin Anette Kramme. Ich möchte ihr dazu
im Namen des Hauses gratulieren.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Johannes Sing-
hammer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Noch nie wardas Wort eines Bundeskanzlers so wenig wert wie dasvon Gerhard Schröder in der Diskussion um die 630-DM-Jobs.
Eine neue Art des Regierens hat begonnen: Kanzler-worte mit eingebautem Verfallsdatum.Erster Akt. Auf dem Innovationskongreß,
dem Wahlkongreß der SPD, der im Jahr 1997 dieGrundlagen für den Wahlkampf der jetzigen Regie-rungspartei setzte, schlug Gerhard Schröder vor, dieZahl der 630-DM-Jobs auf höchstens 10 Prozent in ei-nem Unternehmen zu begrenzen – Quotierungslösung.Zweiter Akt. Am 10. November 1998 erklärte Ger-hard Schröder hier in diesem Hause in nichts Geringe-rem als der Regierungserklärung, dem großen Programmder Regierung für die nächsten vier Jahre, das in einembesonders feierlichen Rahmen vorgestellt wurde: DieGrenze für geringfügige Beschäftigung wird auf 300DM abgesenkt. Das war ein Schwenk um 180 Grad.Dritter Akt: Nur wenige Tage später, in der denkwür-digen Aktuellen Stunde am 19. November, änderte derBundeskanzler erneut seine Meinung und schlug vor, dieGeringfügigkeitsgrenze nicht auf 300 DM abzusenken.Statt dessen sollte die Pauschalsteuer entfallen unddurch eine Sozialversicherungspflicht ersetzt werden.Lautstark verkündete der Bundeskanzler – ich zitiere –:Diese Arbeitsverhältnisse bleiben steuerfrei, undzwar unabhängig von weiteren Einkünften.Heute, keine zwei Monate später, liegt ein Gesetz-entwurf vor, der diese früheren Ankündigungen wiederauf den Kopf stellt. Hat nämlich ein Arbeitnehmer einen630-DM-Job nebenbei, so sind die Einkünfte eben nichtsteuerfrei, und der Arbeitgeber zahlt dennoch 10 Prozentan die gesetzliche Krankenversicherung und 12 Prozentan die gesetzliche Rentenversicherung.Im Klartext heißt das: die vierte Lösung innerhalbkürzester Zeit, und viele der Geringverdiener werdennach dieser Lösung Steuern zahlen müssen. Da kommtauf viele eine böse Überraschung und ein böses Erwa-chen zu. Das wird vor allem beispielsweise diejenigentreffen, die in der Früh Zeitungen austragen. Sie werden,wenn sie noch einen zweiten Verdienst haben, spüren,daß ihnen dann nur mehr ganz wenig in der Kasse bleibt.Das ist der typische Fall, der dann wahrscheinlich in dieSchwarzarbeit gehen wird.
Das, was die Bundesregierung hier geboten hat, istein Zickzackkurs, der einer völligen Desorientierungentspricht. Man kann das nur so bezeichnen: Das heißtnicht regieren, sondern lavieren. Das ist das Prinzip Ih-res Handelns.
Das einzige, worauf sich die Menschen in unserem Landbei diesen ständigen Wechseln der Aussagen noch ver-lassen können, ist der Satz: Es gilt das gebrochene Wort.Dem Durcheinander in der Verfahrensweise ent-spricht das Durcheinander in den jetzt neu angebotenenLösungswegen. Eine innere Systematik ist nicht mehrerkennbar, Widersprüche liegen offen zutage.Anette Kramme
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1170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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Herr Kollege Sing-
hammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schemken?
Sehr gerne.
Herr Kollege Sing-
hammer, ich habe eine Frage zu einem Punkt, der bisher
wenig beachtet wurde. Sind Sie mit mir der Meinung,
daß die sozialstaatliche Sicherheit, die darin liegt, daß in
alle Versicherungen zweiteilig gezahlt wird, einmal vom
Arbeitgeber und einmal vom Arbeitnehmer, ob es in die
Gesundheitskasse, die Rentenkasse, die Arbeitslosenver-
sicherung oder – darauf haben wir sehr geachtet – die
Pflegeversicherung ist, jetzt erstmalig durchbrochen
wird und hier ein grundsätzliches Prinzip, nämlich daß
beide Seiten Beiträge zahlen und damit für den Arbeit-
nehmer aus seiner Arbeit ein Anspruch entsteht,
gröblich vernachlässigt wird?
Herr Kollege
Schemken, ich teile Ihre Auffassung. Ich halte es für
sehr bedenklich, daß man das erfolgreiche Sozialversi-
cherungssystem, das auf dem Prinzip Leistung und
Gegenleistung gründet, hier erstmals in systemwidriger
Weise zu sprengen versucht, indem das Prinzip Leistung
nicht mehr dem Prinzip Gegenleistung entsprechen soll.
Ich halte das für eine gravierende Verschlechterung, für
einen gefährlichen Eingriff auch in die Grundsätze
unseres bewährten Sozialversicherungssystems. Ich
warne schon heute alle Arbeitnehmer und auch Arbeit-
geber, was die Folgen, auch in anderen Systemen, be-
trifft: Wo ist das Ende, wenn man hier einmal anfängt?
Ich teile alle Befürchtungen, die Sie hier angesprochen
haben.
Die jetzige Regelung führt zu einer Reihe von absur-
den Konstellationen. Ein Teil ist hier schon angespro-
chen worden. Ich darf noch zwei Beispiele hinzufügen.
Der jetzige Entwurf stellt die 630-DM-Jobs hinsichtlich
des Arbeitnehmerbeitrags besser, weil die geringfügig
beschäftigten Arbeitnehmer nur 7,5 Prozent zahlen,
während ein Familienvater und auch jeder andere Ar-
beitnehmer 10 Prozent Beiträge von seinem normalen
Verdienst entrichten muß.
Die Ungerechtigkeiten, die es bei Verheirateten mit
sich bringt, wenn ein Ehepartner nur einen 630-DM-Job
hat, sind schon geschildert worden. Das führt dazu, daß
beispielsweise die Frau eines Generaldirektors keine
Steuern zu zahlen braucht, wenn sie nur einen 630-DM-
Job zusätzlich zum Verdienst des Mannes hat,
während eine alleinerziehende junge Mutter, die auf
mehrere Verdienstquellen angewiesen ist, steuerpflichtig
wird. Das ist eine grobe Ungerechtigkeit.
Die jetzt noch kurzfristig eingeführte Regelung mit
dem Betriebsrat wird in der Konsequenz eine neue
Quotenregelung bedeuten, die Sie ganz am Anfang der
Debatte, also anläßlich Ihres Innovationskongresses im
Jahre 1997, schon einmal angekündigt haben.
Das einzig wirklich Beschäftigungsfördernde dieser
neuen Lösung ist ein Beschäftigungsprogramm für mehr
Bürokratie und Verwaltung. So muß der Arbeitnehmer
künftig eine Erklärung abgeben, daß er keine weiteren
Einkünfte erzielt. Der Arbeitgeber muß diese Belege
zum Lohnkonto nehmen. Zusätzlich hat der Arbeitgeber
den steuerfrei gezahlten Arbeitslohn auf der Lohnsteu-
erkarte oder auf einer Bescheinigung einzutragen. Der
Umfang der Prüfungspflicht der zuständigen Finanzäm-
ter und Sozialbehörden wird immens ausgedehnt.
Der vorliegende Gesetzentwurf erreicht, wenn Sie
ehrlich sind, das von Ihnen selbst gesteckte Ziel nicht.
Die Situation bei den geringfügig Beschäftigten wird
nicht besser, sondern schlechter.
Noch ein wichtiger Punkt: Viele Nachbarschaftshil-
fen gerade im karitativen Bereich führt die neue Rege-
lung in Existenzkrisen, weil viele im freiwilligen sozia-
len Bürgerengagement tätige Nachbarn die Pauschal-
steuer bisher nicht zahlen mußten, jetzt aber ihr Arbeit-
geber die Sozialversicherungsbeiträge auf alle Fälle ent-
richten muß.
Beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft ökumenischer
Nachbarschaftshilfe und Sozialdienste aus München er-
klärt, daß diese Neuregelung sie künftig vor unlösbare
finanzielle Probleme stellen wird – mit allen Folgen, die
das in bezug auf die Nachbarschaftshilfe und gerade auf
die Pflegebedürftigen mit sich bringt.
Deshalb mein Rat an Sie: Überarbeiten Sie diesen
Gesetzentwurf. Wenn Sie schon uns, den Wohlfahrts-
verbänden, den Gewerkschaften und vielen anderen,
nicht glauben, dann sollten Sie wenigstens Ihren eigenen
Parteigenossen, zum Beispiel Frau Ministerpräsidentin
Simonis oder Herrn Sozialminister Florian Gerster,
glauben, der erst am Montag im „Handelsblatt“ erklärt
hat: Das steht auf wackligem Grund.
Das steht nicht nur auf wackligem Grund. Das ist oh-
ne jedes Fundament. Mein Rat an Sie: Schubladisieren
Sie diesen Entwurf schleunigst.
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Weiermann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Mei-ne Damen! Meine Herren! Unser Gesetzentwurf ist keinProgramm für mehr Bürokratie, wie mein Vorredner ge-rade sagte, sondern ein Stück zurück zu Solidität undAnstand eines Sozialstaates.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1171
(C)
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Ich habe wie die meisten in diesem Raum fast dreiStunden aufmerksam zugehört. Ich habe mich gefragt:Was hat die Opposition eigentlich in der jetzt laufendenLegislaturperiode vor? Ihre Kritik glaubt Ihnen dochkeiner – wenn ich das an dieser Stelle einmal deutlichsagen darf – angesichts dessen, daß Sie – es ist fast einePhrase, wenn man das immer wieder sagen muß; aberIhr Vorgehen zwingt uns dazu, das zu tun – 16 Jahrelang Gelegenheit hatten, die Umstände, über die wirheute diskutieren, in Ihrem Sinne zu verändern, wennSie meinen, daß das, was heute vorgelegt worden ist,nicht vernünftig ist. Sie haben darüber lamentiert unddiskutiert. Aber Änderungen haben Sie nicht durchge-bracht.
Wenn ich ausgerechnet von der F.D.P. Kritik höre,muß ich doch sagen – bei aller Freundschaft zumindestim Ton, die in diesem Hause zu herrschen hat –: Ich ka-piere den Begriff „Abkassieren“ aus Ihrem Mund über-haupt nicht. Wenn es in diesem Hause bisher eine kalteFraktion gab, dann war es die F.D.P.-Bundestagsfraktionmit ihrer Eiseskälte im Bereich der Sozialpolitik.
– Das sind keine Phrasen, sondern Argumente, die die-jenigen, die auf der Tribüne sitzen und zuhören, unddiejenigen, die am Radio und im Fernsehen die Debattenverfolgen, realistisch nachvollziehen können. Sonst wä-ren ja die Union und die F.D.P. noch Regierungspartei-en, nicht die Sozialdemokraten und die Grünen.
Herr Kollege
Weiermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Schwaetzer? – Bitte.
Herr Kollege,
wie sonst, wenn nicht als Abkassieren, könnte man denn
den Tatbestand, den Sie einführen wollen, verstehen? Es
werden Beiträge eingesammelt, obwohl für diese im
Regelfall keine Leistungen gewährt werden. Das ist
wirklich etwas Neues in unserem Sozialversicherungs-
recht. Läßt man die Ideologie einmal beiseite: Was an-
deres als Abkassieren ist das?
Die Einführung die-
ses Systems, so wie wir das vorhaben, schafft in der Tat
die Möglichkeit, die sich in Schwierigkeiten befinden-
den Sozialkassen zu füllen. Aber Sie können nicht sa-
gen, hier kassiere man ab. Die Einnahmen durch die Er-
hebung dieser Beiträge sind erforderlich, weil Ihre Poli-
tik es nicht fertiggebracht hat, von den hohen Arbeitslo-
senzahlen herunterzukommen, weil Sie es nicht fertig-
gebracht haben, 6 Millionen befristete Arbeitsverhältnis-
se entsprechend zu ändern, weil Sie es nicht fertigge-
bracht haben, die Entwicklung bei der Scheinselbstän-
digkeit zu stoppen. Überschlägig gerechnet kommt man
so auf 12 bis 13 Millionen Menschen, die unter norma-
len Arbeitsverhältnissen arbeiten wollen. Im Wege des-
sen, was wir vorgeschlagen haben, wird nun wieder
mehr in die Sozialkassen eingezahlt. Wenn sie dabei
eigene Ansprüche verwirklichen wollen, müssen sie sel-
ber 7,5 Prozent aufbringen. Mir fehlt das Verständnis,
um zu erkennen, inwiefern das unsozial sein soll.
Gestatten Sie eine
weitere Zusatzfrage der Kollegin Schwaetzer? – Bitte.
Herr Kollege, Sie
haben ja nicht bestritten, daß dem Einsammeln dieser
Beiträge im Regelfall kein Leistungsanspruch gegen-
übersteht. Es ist überhaupt nicht bestritten worden, daß
man durch einen sehr geringen Beitrag von 58,60 DM
im Monat eine Fülle von zusätzlichen Leistungen be-
kommt. Nur, die Arbeitnehmer in zehn Jahren werden
dafür die Rechnung präsentiert bekommen.
Sie haben also nicht bestritten, daß das zum erstenmal
in unserer Sozialversicherung auseinanderklafft.
Frau Kollegin
Schwaetzer, ich möchte Sie bitten, eine Frage zu stellen.
Jawohl, Herr
Präsident. – Sie stimmen mir doch zu, daß Sie eben ge-
sagt haben, die Kassen sollten gefüllt werden? Was an-
deres als Abkassieren ist das?
Nachdem sich die
Arbeitgeber dieses Landes, unterstützt von der konser-
vativ-liberalen Regierung der letzten 16 Jahre, aus ihrer
sozialpolitischen Verantwortung gestohlen haben, halten
wir diesen Schritt für unumgänglich.
Herr Kollege Wei-
ermann, gestatten Sie auch der Kollegin von Renesse
eine Zwischenfrage? – Bitte.
Herr Kollege, würdenSie der Kollegin Schwaetzer, die ja erfreulicherweiseneu dabei ist in der Sozialpolitik, erläutern, daß dies inkeiner Weise neu ist in der Rentenversicherung, sonderndaß es dies bereits des öfteren gab bzw. noch heute gibt:bei der früher existierenden – und dann mit Recht abge-schafften – Heiratserstattung; bei der von der damaligenWolfgang Weiermann
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1172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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Koalition, nicht von uns, geförderten Rückkehr vonAusländern, die in die Sozialversicherung eingezahlthatten; bei der bis heute bestehenden Möglichkeit, daßBeamte, die früher einmal in die Rentenversicherungeingezahlt haben, ihre Beiträge erstattet bekommen?
Sie alle erhalten lediglich ihren Arbeitnehmerbeitrag zu-rück. Der Arbeitgeberanteil ist – würden Sie das bitteerläutern – die Konkretisierung der Sozialpflichtigkeitdes Arbeitgebers und erfüllt nicht die Voraussetzungenfür eigene Anwartschaften. Die Konten standen damalsauf Null, obgleich in diesen Fällen der Arbeitgeberbei-trag bei den Versicherungen verblieb.
Frau von Renesse,ich brauche das nicht zu erläutern. Ich unterstreiche IhreAusführungen und schließe mich Ihren Worten an.
Ich darf an dieser Stelle deutlich machen, daß die Re-gelung der geringfügigen Arbeitsverhältnisse, die ei-gentlich nur eine Sonderregelung sein sollte, im Laufeder Jahre regelrecht pervertiert worden ist. Es gibt nahe-zu 6 Millionen solcher ungeschützten Arbeitsverhältnis-se, und sie können nach unserem Dafürhalten nicht mehrals Sonderfall gelten. Vielmehr handelt es sich dabei –wie ich eingangs schon sagte – um eine Erosion derSozialversicherung insgesamt. Mittlerweile gibt es eineVielzahl von Unternehmen in Deutschland, die sich re-gelrecht auf die ausschließliche Einstellung von gering-fügig Beschäftigten spezialisiert haben. Das sind insbe-sondere die Handelsketten.Der Deckmantel der Sozialversicherungsfreiheit wirdzunehmend auch genutzt, um bestehende arbeits- und ta-rifrechtliche Regelungen zu umgehen, so der Sachver-ständige Professor Dr. Bäcker Anfang Dezember 1997in der Anhörung zum SPD-Gesetzentwurf. Hier wirdSozialdumping in großem Umfang betrieben. Dabeigeht es nicht nur darum – das muß an dieser Stelle deut-lich festgehalten werden –, billige Arbeitskräfte zu ha-ben, im Klartext: Menschen zu Tagelöhnern zu degra-dieren, sondern auch darum, bestehende Tarifverträgeund gesetzliche Bestimmungen zu umgehen und ihreWirksamkeit auf Null zu bringen. Auch dieses Zielsteckt dahinter.
Die Sozialversicherungsfreiheit bewirkt – wie wir dasin unserem bereits erwähnten Antrag festgestellt haben –vielfach eine Subventionierung ungeschützter Arbeits-verhältnisse – das wird auch so gesehen –, die von derAllgemeinheit der beitragszahlenden Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer sowie der Betriebe finanziert werdenmuß. Die DAG spricht in diesem Zusammenhang voneiner staatlichen Subvention in Höhe von rund 42 Pro-zent der Personalkosten. Auch diesen Punkt gilt es fest-zuhalten. Deswegen werden wir die alte gesetzliche Re-gelung nicht länger tolerieren.
Die alte Regelung widerspricht auch zutiefst demGrundsatz der Wettbewerbsneutralität auf dem Ar-beitsmarkt. Hier wird eine Ausnahmeregelung zuneh-mend mißbraucht, um generell Lohnkosten zu sparenund sich ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu ver-schaffen. Diese extreme Wettbewerbsverzerrung gehtsomit zu Lasten der Betriebe mit sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten und damit insbesondere zu La-sten des Mittelstandes. Ich möchte den Mittelständlersehen, der nicht schon längst über die Tatsache stöhnt,daß es keine Wettbewerbsgleichheit mehr gibt. Da Sie,meine Damen und Herren von der F.D.P., immer sagen– zumindest nach außen –, Sie seien für eine Besser-stellung des Mittelstandes,
muß ich Ihnen sagen, Sie können jetzt einen Schritt indie richtige Richtung tun und können dem Mittelstandzu einer Wettbewerbsgleichheit verhelfen, die er im ge-genwärtigen System nicht hat.
Die Beseitigung bzw. drastische Einschränkung dersozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisseführt nicht zur Abschaffung der Teilzeitarbeit, sonderngerade zu einer Schaffung ordentlicher, sozialverträgli-cher, das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesre-publik stützender Teilzeitarbeitsplätze. Frau Schwaetzer,daß dies möglich ist, können Sie am Beispiel der Nie-derlande sehen. Dort ist jede regelmäßig geleistete Ar-beitsstunde von der ersten Minute an sozialversichert.
In einzelnen Punkten gibt es ja durchaus eine Über-einstimmung der Meinungen, nämlich wenn es darumgeht, daß die bestehende Gesetzeslage so nicht weiteraufrechterhalten werden kann. Ich weiß von HerrnSchäuble und Herrn Glos, also von der CDU/CSU-Fraktion, daß sie des öfteren die gegenwärtige Regelungkritisiert haben. Was uns fehlt, ist in der Tat der mutigeSchritt, diese Kritikpunkte bei der Formulierung einesGesetzes zu berücksichtigen, das Zukunft hat, das funk-tioniert und das den Menschen das Gefühl gibt, in dieserunserer Gesellschaft gebraucht zu werden und sozial ab-gesichert zu sein.
Wir meinen, daß der Gesetzentwurf klug und maßvollist.
Wir möchten Sie bitten, ihn zu unterstützen und ihm Ih-re Stimme zu geben. Ich will an dieser Stelle deutlichmachen, daß wir mit diesem Gesetzentwurf den Men-Margot von Renesse
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1173
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schen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen aus derAnonymität ihrer Jobs heraushelfen und den regulärenArbeitsmarkt und das Wirtschafts- und Sozialsystem derBundesrepublik stärken wollen. Wir ermöglichen denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern damit die Inte-gration in den ordentlichen und sozialverträglichen Ar-beitsmarkt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und
Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 14/280
und 14/290 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf der Ko-
alitionsfraktionen auf Drucksache 14/280 soll zusätzlich
an den Innenausschuß, den Sportausschuß, den Aus-
schuß für Tourismus sowie an den Ausschuß für Kultur
und Medien überwiesen werden. Gibt es anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Ja-
nuar 1999 zur steuerlichen Behandlung von
Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfrei-
betrag bei Ehepaaren im Zusammenhang mit
der aktuellen Behandlung des Steuerent-
lastungsgesetzes und seiner haushälterischen
Auswirkungen
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort für die
antragstellende Fraktion der Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Kinder und Jugendliche sind in derBundesrepublik Deutschland zu einem Armutsrisikogeworden. 3 Millionen Menschen leben von Sozialhilfe,davon sind rund ein Drittel – 1 Million – Kinder und Ju-gendliche. In den letzten Jahren ist es leider nicht gelun-gen, die grundgesetzliche Stellung von Kindern alsGrundrechtsträgern und eigenständigen Rechtspersön-lichkeiten fester zu verankern. Wir haben dazu entspre-chende Gesetzentwürfe bereits in den letzten zwei Le-gislaturperioden eingebracht.Wir wissen natürlich, daß es für eine kinderfreundli-che Gesellschaft mehr als der materiellen Sicherstellungbedarf, aber es ist schon ein trauriges Zeichen, wenn erstUrteile des Bundesverfassungsgerichts die Politik dahingehend treiben, daß der Gesetzgeber tätig wird. Ohnedie Peitsche des Bundesverfassungsgerichts hat sich inden letzten Jahren nur sehr wenig getan.Das Bundesverfassungsgericht hatte klargestellt, daßdas Existenzminimum von Kindern und Jugendlichensteuerfrei zu stellen ist. Mit dem Urteil vom 19. Januarwird diese Position untermauert. Das macht noch einmaldeutlich, daß die materielle Sicherstellung des Exi-stenzminimums von Kindern keine Manövriermasse fürdie Politik ist und sein kann.
Das Urteil enthält in mehrerlei Beziehung sehr inter-essante Aussagen. Als erstes zur Frage der Kinderbe-treuungskosten: Es ist klargestellt, daß die Betreuungvon Kindern über den existentiellen Sachbedarf und denerwerbsbedingten Betreuungsbedarf hinaus prinzipielleine Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit derEltern verursacht. Damit hat das Bundesverfassungsge-richt einen wesentlichen Denkschritt vollzogen.Inzwischen wird die Betreuung von Kindern nichtmehr ausschließlich in Abhängigkeit von der Berufstä-tigkeit gesehen. Das heißt, auch die Damen und Herrenim Bundesverfassungsgericht haben die Änderung in derRealität zur Kenntnis genommen; denn es ist nicht mehrso, daß in einer intakten Familie einer, meistens der Va-ter, arbeitet und die Mutter zu Hause ist, um die Kinderzu betreuen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir dieRechtsprechung eindeutig.Beim Haushaltsfreibetrag ist das schon etwas kompli-zierter; denn im Steuerrecht wurde der Haushaltsfreibe-trag eingeführt, um Alleinerziehenden einen Ausgleichfür den ihnen entgangenen Steuervorteil durch das Ehe-gattensplitting, also die Tatsache, daß bei Verheiratetendurch die gemeinsame steuerliche Veranlagung dieSteuerbelastung gemindert wird, zu gewähren. Das Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts sieht das etwas an-ders.Ich sage hier ganz klar für die PDS: Wir freuen unsüber jede Mark, die auch verheiratete Eltern für ihreKinder bekommen. Ich mache aber ganz deutlich, daßdarin ein Problem besteht. Wir sind uns alle darüber imklaren, daß früher oder später Alleinerziehende klagenwerden, weil sie dann wieder die Gleichbehandlung vomBundesverfassungsgericht fordern werden.Wir sind deshalb an einem Punkt, wo wir uns als Po-litikerinnen und Politiker endlich der Frage stellen müs-sen, ob das Einkommensteuerrecht strukturell überhauptin der Lage ist, die Prinzipien der Besteuerung nach derLeistungsfähigkeit und der sozialen Gerechtigkeit auf-rechtzuerhalten, und ob es möglich ist, auf diese Art undWeise das Leben mit Kindern zu erleichtern. Es ist nichtso. Wir wissen, daß die Frage der Individualbesteuerungnun wirklich mit voller Kraft auf der Tagesordnungsteht.
Die Individualbesteuerung ermöglicht dann auch, ei-nen ganz wesentlichen Schritt nach vorn zu tun auf derGrundlage der steuerlichen Freistellung des Existenzmi-nimums von Kindern. Das ist eine positive Anerkennungdes Lebens mit Kindern. Alle Änderungen der letztenJahre bezüglich des Haushaltsfreibetrages und der Erhö-hung des Kindergeldes hatten genau für die 1 MillionKinder und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben unddie ich am Anfang meiner Rede erwähnte, keine Aus-Wolfgang Weiermann
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1174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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wirkungen; denn die Sozialhilfe wird immer mit demKindergeld gegengerechnet. Lassen Sie uns hier einenrichtigen Schritt vorwärts tun! Gehen wir gemeinsamzur Individualbesteuerung über, bei einem Kindergeld,das wirklich die Existenz von Kindern sichert! Das wäreein konsequenter Schritt.
Hier muß ich Sie von der Koalition und der Regie-rung wirklich fragen: Wollen Sie die Peinlichkeit bege-hen und die Politik der alten Regierung fortsetzen unddie jeweiligen Zeiträume des Bundesverfassungsge-richtsurteils bis zum letzten ausnutzen? Oder können wirnicht gemeinsam eine umfassende Gesetzesänderunghinsichtlich der existentiellen Steuerfreistellung für Kin-der und einer entsprechend positiven Kindergeldzahlungeinleiten, die noch in diesem Jahr handhabbar wird be-züglich aller Kinder und Jugendlichen, die von Sozial-hilfe leben? Wir müssen tatsächlich Vorschläge wie dievom Bundesverband für Alleinerziehende aufgreifenund sie natürlich entsprechend in die jetzt beginnendeHaushaltsberatung und die mittelfristige Finanzplanungeinbringen.
Ich gebe das Wort
der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Dr. Barbara
Hendricks.
D
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wir müssen uns heute leider mit ei-ner weiteren Erblast befassen, die uns die alte Regie-rungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. hinterlassen hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem am19. Januar 1999 veröffentlichten Beschluß entschieden,daß die Regelungen des Einkommensteuergesetzes überden steuermindernden Abzug von Kinderbetreuungs-kosten und eines Haushaltsfreibetrages mit Art. 6 desGrundgesetzes unvereinbar sind. Die Entscheidungendes Bundesverfassungsgerichts sind für Fälle ergangen,in denen Eltern sich gegen die geltenden Regelungenzum Abzug von Kinderbetreuungskosten und zur Ge-währung eines Haushaltsfreibetrages gewendet haben.Das Bundesverfassungsgericht hat also die aus Ihrer Re-gierungszeit stammenden Regelungen für verfassungs-widrig erklärt, meine Damen und Herren von der Oppo-sition.
Aber das ist nicht alles. Sie haben die hier vom Bun-desverfassungsgericht verworfenen Regelungen zumAbzug von Kinderbetreuungskosten auf Grund einer an-deren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus1982 eingeführt. Jetzt hat Ihnen das Bundesverfassungs-gericht bescheinigt, daß Sie seine Entscheidung aus1982 trotz seines eindeutigen Auftrages nicht verfas-sungskonform umgesetzt haben.
Sie haben damals ab 1984 den § 33 c Einkommen-steuergesetz – eine Regelung zum Abzug von Kinder-betreuungskosten für Alleinerziehende – eingeführt.Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht nun-mehr als verfassungswidrig verworfen. Das gleiche giltim übrigen für den Haushaltsfreibetrag, weil beide Vor-schriften letztlich dazu geführt haben, daß sich beinichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern eineBevorzugung gegenüber Ehegatten mit Kindern ergebenkonnte. Dies ist mit dem im Grundgesetz verankertenbesonderen Schutz von Ehe und Familie nicht vereinbar.Das hätte für eine christliche Volkspartei, deren damali-ger Vorsitzender die Familie stets im Munde führte, ei-gentlich einsichtig sein müssen.
Aber Reden ist eben eines, und Tun ist ein anderes.Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeberwegen Ihrer Untätigkeit jetzt verpflichtet, spätestens biszum 1. Januar 2000 die Abziehbarkeit von Kinderbe-treuungskosten neu zu regeln. Andernfalls ist ab diesemZeitpunkt in allen Fällen, in denen Steuerpflichtige fürein Kind einen Kinderfreibetrag oder Kindergeld erhal-ten, bei der Feststellung des zu versteuernden Einkom-mens ein Betrag von 4 000 DM vom Einkommen abzu-ziehen, zuzüglich 2 000 DM für jedes weitere Kind.Des weiteren wird der Gesetzgeber verpflichtet, bisspätestens 1. Januar 2002 die Abziehbarkeit des soge-nannten Haushaltsfreibetrags, der nach der Lesart desBundesverfassunsgerichts den Erziehungsbedarf abzu-decken hat, neu zu regeln.Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die genann-ten Regelungen – rückwirkend ab 1984 – als mit demGrundgesetz nicht vereinbar erklärt. Gleichzeitig hat esaber bestimmt, daß diese Regelungen weiterhin anzu-wenden sind. Das gilt – wie schon an anderer Stelle aus-geführt – hinsichtlich der Kinderbetreuungskosten bisDezember dieses Jahres und hinsichtlich des Haushalts-freibetrages bis 31. Dezember 2001. Finanzielle Aus-wirkungen ergeben sich also bereits ab dem Haushalts-jahr 2000, aber nicht für das laufende Jahr.In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, HerrMerz, daß Ihr Aufruf an die Familien, die noch nichtendgültig ergangenen Steuerbescheide als vorläufig er-klären zu lassen, Unfug ist. Die Regelungen haben keineAuswirkungen auf dieses Jahr.
Dieser Aufruf verunsichert die Familien mehr, als esnötig wäre.
– Ja, ein Schnellschuß.Dr. Barbara Höll
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1175
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Die Bundesregierung begrüßt die Wegweisung desBundesverfassungsgerichts. Sie entspricht unserem po-litischen Ziel einer steuerlichen Entlastung und damiteiner Stärkung der Familien.Wir haben diese Forderungen schon während IhrerRegierungszeit erhoben. Ich erinnere hier insbesonderean das Jahressteuergesetz 1996, mit dem die neuen Re-gelungen zum Kindergeld und Kinderfreibetrag einge-führt wurden. Damals haben wir vergeblich eine stärkereErhöhung des Kindergeldes gefordert und im übrigenauch einen Entschließungsantrag zu den Kinderbetreu-ungskosten gestellt. Beides wurde von Ihnen abgelehnt.
Wären Sie schon damals einige Schritte so gegangen,wie wir das in unserer Oppositionszeit wollten,
so wäre der Nachholbedarf, den wir jetzt auf Grund desVerfassungsgerichtsurteils haben, nicht so groß.
Wie ernst es uns mit der Forderung nach Nachbesse-rung war und ist – wir haben hier sofort gehandelt; FrauKollegin Wülfing, Sie wissen das sehr wohl –, könnenSie daraus ersehen, daß wir das Kindergeld für das ersteund zweite Kind unmittelbar nach Übernahme der Re-gierungsverantwortung um jeweils 30 DM monatlich er-höht haben.
Sie haben diese Forderung immer damit abgetan, daß essich um eine sozialpolitische Wohltat handele, die nichtnotwendig sei.
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen eindeutigbescheinigt, daß Sie familienfeindliche Politik betriebenhaben.
Wir müssen jetzt die Versäumnisse ausbaden, die sichin den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit angesammelt ha-ben.
Wir stellen uns dieser Aufgabe mit Freude. Deshalbwerden wir rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorlegen,der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts be-achtet und auch den haushaltspolitischen Notwendig-keiten Rechnung trägt.Die Aussagen über Steuermindereinnahmen vonmehr als 20 Milliarden DM sind in diesem Zusammen-hang voreilig. Sie treten nur ein, wenn diese Regierungnichts täte, wenn sie das Aussitzen zur Methode erhebenwürde. Das allerdings war Ihr Stil. Er mußte das Verfas-sungsgericht provozieren. Wir werden so nicht handeln.
Selbstverständlich, Herr Kollege Hauser, werden wirfür unseren Gesetzentwurf auch die Ergebnisse einesGutachtens des Ifo-Instituts von 1996 auswerten, das Siezwar in Auftrag gegeben hatten, aber während Ihrer Re-gierungszeit – soweit ich weiß, auf Ihre ausdrücklicheWeisung hin, Herr Kollege Hauser – unter Verschlußgehalten haben, und zwar ganz offensichtlich deshalb,weil in diesem Gutachten auf Ungereimtheiten bei derBesteuerung von Ehegatten und Alleinerziehenden hin-gewiesen wurde. Das allerdings paßte nicht in Ihr fi-nanzpolitisches Konzept. Es hätte in Ihr familienpoliti-sches Konzept passen müssen. Aber Sie haben Ihr im-mer vorgegebenes familienpolitisches Konzept überBord geworfen, weil Sie nicht wußten, wie Sie finanz-politisch damit umgehen sollten. Das war das Problem.Deswegen gab es die Weisung, das Ifo-Gutachten nichtzu veröffentlichen. Wir haben die Freigabe des Gutach-tens veranlaßt.Der alten Bundesregierung und der sie tragendenehemaligen Mehrheit in diesem Haus war auch durchsolche Gutachten weder zu raten noch zu helfen. Skan-dalös an Ihrer Politik war und bleibt, daß Sie Familienund Kindern in unserem Land seit 1984 vorenthaltenhaben, was ihnen von Verfassungs wegen zugestandenhätte. Das werden wir ändern.
Als nächster Redner
spricht der Kollege Hansgeorg Hauser, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Es war natürlich klar, daß die neue Regierung es auf dieTour versuchen würde, sich auf Erblasten usw. zurück-zuziehen.
Ich wäre da an Ihrer Stelle sehr zurückhaltend.Wir sollten das Ganze einmal sehr nüchtern analysie-ren: Zum einen ist das jetzige Bundesverfassungsge-richtsurteil in dieser Form für jeden eine Überraschunggewesen.
Wer etwas anderes behauptet, der lebt in einer anderenWelt.Zum anderen hat die neue Regierung hier absolutkeinen Anlaß, zu behaupten, sie hätte das, was vomParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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1176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
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Bundesverfassungsgericht angemahnt worden ist, schonlängst in Angriff genommen. Wenn man sich das soge-nannte Steuerentlastungsgesetz anschaut,
dann stellt man fest, daß darin beispielsweise nichts überKindergartenbetreuungskosten zu finden ist – ein Anlie-gen, von dem Sie immer behaupten, daß es für Siedringlich sei. Vorgesehen ist dagegen beispielsweise dieStreichung von Schulgeld. Doch auch das wird in demneuen Urteil als zu berücksichtigender Teil der Kostenbei der Kindererziehung erwähnt.
– Schulgeld für private Schulen. Dort, wo staatliche Lei-stungen nicht mehr ausreichen, wird zusätzlich etwasgezahlt. Das streichen Sie als abzugsfähige Ausgaben.Das zeigt, daß Sie durchaus nicht in der Richtung han-deln, die Sie jetzt überall vorgeben.Im übrigen, Frau Kollegin Hendricks: Das Themaheißt eigentlich Konsequenzen für die Bundesregierung.Über Konsequenzen habe ich aber von Ihnen nichts,aber auch gar nichts gehört.
Eines ist sehr wichtig, nämlich daß wir durch diesesUrteil eine Bestätigung für den Grundsatz bekommenhaben: Ehe und Familie dürfen gegenüber anderen Le-bens- und Erziehungsgemeinschaften nicht schlechter-gestellt werden, auch nicht schlechter als beispielsweiseAlleinerziehende. Insofern ist dieses Urteil ein gewisserWiderspruch zu dem, was 1982 festgelegt worden ist.Die Festigung des Schutzes von Ehe und Familie, der inArt. 6 des Grundgesetzes festgelegt ist, wird hier aus-drücklich bestätigt. Deshalb sind alle Bemühungen – ichkomme nachher noch einmal darauf zurück –, diemit dem Urteil verbundenen Kosten durch die Abschaf-fung des Ehegattensplittings zu finanzieren, der falscheWeg.Wir müssen eine weitere Lehre aus dem Urteil zie-hen, nämlich daß eine Entlastung für alle Einkommengeboten ist und nicht nur einseitig für untere Einkom-men. Hier muß etwas getan werden. Am besten ge-schieht das über eine sich über den gesamten Tarif ent-sprechende Entlastung.Ich möchte noch eine weitere Feststellung treffen:Die finanziellen Größenordnungen sind offensichtlichsehr umstritten. Es gibt Schätzungen von 20 bis 35 Mil-liarden DM.
Das rührt sicherlich daher, daß es noch einen großenInterpretationsbedarf gibt. Das muß noch sorgfältig un-tersucht werden. Aber eines sage ich gleich vorweg: Wirwerden jegliche Gegenfinanzierung durch Steuererhö-hungen ablehnen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuerfür diese Zwecke würde wieder die Familien treffen; ei-ne Abschaffung des Ehegattensplittings würde wiederdie Familien treffen; die Einführung der Ökosteuer wür-de ebenfalls wieder die Familien treffen. Wenn Sie dasEhegattensplitting abschaffen wollen, dann handeln Sieverfassungswidrig. Die Kappung des Ehegattensplit-tings, die Sie vorsehen – das haben die Anhörungen er-geben –, ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Siekennen die Entscheidungen des Bundesverfassungsge-richts von 1957 und 1982. Darin wurde sehr deutlichzum Ausdruck gebracht, daß das Ehegattensplitting kei-ne Steuervergünstigung ist, die man beliebig auf denPrüfstand stellen kann.Meine Damen und Herren, wir werden das Urteil kri-tisch analysieren und beispielsweise prüfen müssen, obes um eine Pauschale geht. Mit „Betreuungs- und Erzie-hungsbedarf“ sind ja vollkommen neue Begriffe einge-führt worden, wohingegen der Haushaltsfreibetrag alsBegriff in Frage gestellt worden ist. Da müssen wir auchkritisch hinterfragen, ob über die Pauschale hinaus nochzusätzliche Aufwendungen bei Nachweis abzugsfähigwären, und man muß sich natürlich fragen, ob das nichterheblich ausufert und dadurch neue Streitfälle entste-hen; das werden wir sicherlich noch diskutieren müssen.E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
die Regelung für die Altfälle. So wie es of-
fensichtlich zur Zeit diskutiert wird, ergibt sich eine an-
dere Meinung als die, die Sie hier vertreten. Daher soll-
ten Sie zusammen mit Ihren Länderkollegen schnellst-
möglich eine Regelung, auch eine Sprachregelung, fin-
den, wie das zu behandeln ist. Sie sind es den Steuer-
pflichtigen schuldig, daß man hier keine Hoffnungen
weckt – Sie haben das nicht getan; das sage ich aus-
drücklich –,
daß das für die anderen noch offen sei. Insofern hat Herr
Kollege Merz hier keinen Unfug erzählt, wie Sie ihm
unterstellen,
sondern etwas gesagt, was auch von allen Experten so
gesagt worden ist. Kümmern Sie sich bitte darum, daß
das sehr schnell geregelt wird.
Zum Schluß: Überprüfen Sie die Regelungen im
Steuerentlastungsgesetz sehr sorgfältig. Wir haben eine
ganze Reihe von verfassungsrechtlichen Bedenken.
Verhindern Sie, daß es auch bei diesem Gesetz wieder
„Endstation Karlsruhe“ heißt.
Ich gebe das Wortdem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Kollege Hauser, Altlastensa-nierung ist ein etwas zwiespältiges Geschäft. Man hatviel Arbeit damit, freut sich aber, daß es nachher nurbesser werden kann.
Hansgeorg Hauser
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1177
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Rotgrün ist auf eine weitere Erblast der RegierungKohl gestoßen. Das Verfahren, das dem Karlsruher Ur-teil vorausging, lief seit 1984; die Haushaltsrisiken sindseit Dienstag nachträglich auf insgesamt knapp 40 Milli-arden DM gestiegen. Nun werden wir uns der Heraus-forderung stellen.Die Karlsruher Entscheidung bietet aber auch dieChance für einen großen Wurf, für eine zeitgerechtesteuerliche Neuregelung für Familien. Das Bundesver-fassungsgericht hat uns aufgetragen, den existentiellenSach- und Betreuungsbedarf, der bei der Kindererzie-hung anfällt, angemessen zu berücksichtigen. Sowohldas Existenzminimum als auch darüber hinausgehendeKosten bei der Kindererziehung sind steuerlich freizu-stellen. Dies ist durch Erhöhung sowohl des Freibetragesals auch des Kindergeldes möglich. Aus unserer Sicht isteindeutig eine Kindergeldlösung anzustreben, wie es dasrotgrüne Steuerentlastungsgesetz deutlich macht. Dorthaben wir unmittelbar nach Amtsantritt mit der Erhö-hung des Kindergelds auf 250 DM – demnächst auf 260DM – einen großen Schritt in die richtige Richtung ge-tan – hart kritisiert von der Opposition.
Die Neuregelung sollte aber nicht bei einer Erhöhungvon Freibeträgen stehenbleiben. Vielmehr sollten wirwirklich einen größeren Wurf wagen. Wir sollten dieAnregung der Richterinnen und Richter aufgreifen, ei-nen Grundtatbestand zu schaffen, der alle kinderbezoge-nen Entlastungen umfaßt. Mit der Neuregelung könnenwir auch einen beherzten Schritt wagen, das Leben mitKindern statt den Trauschein zu fördern.
Ich möchte ebenso wie die Kollegin Hendricks einenBlick auf das 82er Urteil des Bundesverfassungsgerichtszum gleichen Thema werfen. Nach unserer Einschät-zung hat Karlsruhe eine Wendung in der Einschätzungdes Ehegattensplittings vollzogen. Damals hatten Al-leinerziehende geklagt. Um in den Genuß des Splittingszu kommen, sollte es statt des Ehegatten- ein Familien-splitting geben. Die Ausweitung des Splittings wurdedamals abgelehnt. Die verminderte Leistungsfähigkeitvon Alleinerziehenden wurde aber anerkannt; als Kom-pensation wurde damals der Freibetrag erhöht. 1982 be-fand man, das Ehegattensplitting habe eine familienpo-litische Dimension. 1999 befindet Karlsruhe, das Ehe-gattensplitting habe nichts mit der Kindererziehung zutun; es sei explizit keine Kompensation für die Erzie-hungsarbeit, da auch Ehepaare ohne Kinder davon pro-fitieren. – Lesen Sie es nach! – Die höchsten Richterin-nen und Richter zeigen damit ein vom Trauschein unab-hängiges Familienverständnis. Das begrüßen wir aus-drücklich.
Wenn Erziehungsarbeit gemäß Karlsruhe demnächstüber hohe Freibeträge berücksichtigt werden muß, dannhat das Ehegattensplitting keine familienpolitische Di-mension mehr. Es fördert nicht mehr das Zusammenle-ben mit Kindern, sondern lediglich die Institution Ehe.Darum – nicht aus Spargründen – hält Bündnis 90/DieGrünen eine erneute politische Debatte über das Ehe-gattensplitting für notwendig.
Wir befinden uns damit in guter Gesellschaft. Auchdie schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin HeideSimonis und die Vorsitzende des Ausschusses für Fami-lienangelegenheiten, die Kollegin Hanewinckel, habensich für Veränderungen beim Ehegattensplitting ausge-sprochen.
– Eine sehr gute Gesellschaft, Herr Koppelin.Als ersten Schritt sollten wir die Kappung des Ehe-gattensplittings, wie es derzeit im – zugegebenermaßenkomplizierten – Steuerentlastungsgesetz vorgesehen ist,überdenken und es gegebenenfalls aus diesem Gesetzherausnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat be-tont, daß verheiratete Eltern nicht schlechter als unver-heiratete Eltern gestellt werden dürfen.Dieses Kriterium wird auch von einer gerechten Indi-vidualbesteuerung erfüllt. Bereits bei den Beratungendes Steuerentlastungsgesetzes haben die HamburgerFrauensenatorin wie auch das DIW ein Realsplitting füralle Ehepaare vorgeschlagen. Wir sollten auch die Si-tuation von Nichtverdienenden und Sozialhilfeempfän-gerinnen im Auge behalten.
Zugegeben, wir haben ein Finanzierungsprobleme.Aber sobald wir einen genauen Überblick haben, werdenwir auch dafür eine Lösung finden. Debatten über Steu-ererhöhungen sind absolut kontraproduktiv. Vor allemdie Opposition verliert in solchen Debatten schnell denÜberblick und beklagt sich dann bei uns.
Wir freuen uns auf eine politische Debatte, weil wirein gerechtes, verfassungsgemäßes und modernes Fami-liensteuerrecht wollen. Den dezenten Hinweis aus Karls-ruhe, eine einfache und klare Regelung zu treffen, soll-ten wir nicht nur bei diesem Gesetz berücksichtigen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die heutige Aktuelle Stunde ist ein würdi-ger Abschluß von steuerpolitischen Chaostagen, die wirKlaus Wolfgang Müller
Metadaten/Kopzeile:
1178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999
(C)
in der letzten Woche erlebt haben und die nicht mehr zuüberbieten sind.
Wir hatten am Montag in der Anhörung zur soge-nannten Ökosteuer – ich möchte das Wort Ökosteuer indicken Anführungszeichen verstanden wissen – einentotalen Verriß dieser Steuer durch die Sachverständigenund die beteiligten Verbände. Wir hatten am Dienstag inder Anhörung zum sogenannten Steuerentlastungsgesetz1999/2000/2002 ebenfalls einen totalen Verriß durch diemeisten Sachverständigen.
– Natürlich haben Sie immer ein, zwei Alibileute dabei,die dann Ihre Meinung stützen, aber mehr sind es dochnicht, Herr von Larcher.Am Dienstag mittag wurde dann die Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts bekannt, die Anlaß fürdiese Diskussion heute ist. Hier ist ein Volumen vonmindestens 22 Milliarden DM aufzubringen. FrauHendricks, ich bin ganz sicher, daß Sie mit Ihren Ein-schätzungen falsch liegen. Bei 22 Milliarden DM liegtdie Untergrenze, die das Bundesverfassungsgericht ge-zogen hat. Wir als Gesetzgeber sind jederzeit in der La-ge, darüber hinauszugehen. Aber wir sind auf gar keinenFall in der Lage, darunter zu bleiben.Wir hatten dann am Mittwoch im Finanzausschuß ei-ne richtige Phantomdebatte über dieses sogenannteSteuerentlastungsgesetz, in der jeder Knackpunkt nocheinmal in Frage gestellt wurde, indem gesagt wurde:Darüber denken wir noch einmal nach, da kommt wahr-scheinlich noch etwas anderes. – Wir wollen einmal se-hen, was.Wir hatten am Donnerstag, das heißt gestern, nocheinmal eine solche Phantomdebatte über die sogenannteÖkosteuer. Auch da hieß es bei wichtigen Dingen: Eskommt nicht so, wie es im Entwurf steht; es wird nochanders werden.Heute erleben wir diese Aktuelle Stunde über dieAusführung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts.Von Ihnen, Frau Staatssekretärin, haben wir dazu über-haupt nichts gehört.
Was Sie gesagt haben, das war nur eine Schelte für dieVergangenheit.Ich darf einmal daran erinnern, daß es sich im Be-reich der Steuergesetzgebung in der Regel um zustim-mungsbedürftige Gesetzentwürfe handelt. Daran ist derBundesrat genauso beteiligt.
Das heißt, Sie waren genauso in der Verantwortung wiedie vorherige Regierung. Insofern ist diese Schelte fürdie Vergangenheit nicht gerade sehr zielführend.
Wenn wir uns die öffentliche Diskussion anschauen,dann sehen wir jetzt nur eine Debatte über Steuererhö-hungen. Herr Müller, für die Opposition muß ich sagen:Entschuldigen Sie bitte, daß wir den Überblick verlieren.Auch Sie alle haben ihn verloren. Jeden Tag kommt auseiner anderen Ecke der Regierungskoalition ein neuerAnstoß zur Steuererhöhungsdebatte.Ich nenne die Mehrwertsteuer, die Mineralölsteuer,die Einschränkung oder Abschaffung des Ehegatten-splittings und die Wiedereinführung der privaten Ver-mögensteuer. Das rasselt nur so. Deshalb ist es ganzklar, daß wir, um den Überblick nicht zu verlieren, ver-suchen, Ihre verwinkelten Gedankengänge etwas nach-zuvollziehen.Da bin ich ausnahmsweise einmal einer Meinung mitdem Finanzminister Lafontaine, der gesagt hat: Bittekeine Steuererhöhungsdebatte! – Aber bitte nicht nurkeine Steuererhöhungsdebatte, sondern auch keineSteuererhöhungen. Das ist ja das Entscheidende!
– Frau Scheel klatscht auch, das freut mich besonders indiesem Zusammenhang. – Deshalb müssen Sie durchEinsparungen im Haushalt und nicht etwa durch neueSteuererhöhungen versuchen, das erforderliche Volumenfreizuschaufeln. Wir haben es eben schon vom KollegenHauser gehört: Alle im Moment in die Diskussion ein-gebrachten Vorschläge zu Steuererhöhungen bringenBenachteiligungen gerade für die Familien mit sich, undsind deshalb kontraproduktiv. Es muß also um Einspa-rungen im Haushalt gehen. Das ist keine leichte Arbeit.Darum beneiden wir Sie nicht. Aber nur diese Maßnah-men sind der richtige Weg.
– Wir sind nicht schadenfroh, Herr von Larcher, über-haupt nicht. –
Nehmen Sie die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts als goldene Brücke,
um Ihre bisherigen Steuerpläne, seien es die Steuerent-lastungsgesetze oder die Ökosteuer, sei es die noch ganznebulöse und sich nur am Horizont schwach abzeich-nende Unternehmenssteuerreform, wieder einzusam-meln, neu zu überdenken und neu zu machen.
Sie hätten jetzt eine wunderbare Gelegenheit, Ihr Ge-sicht zu wahren und trotzdem etwas Vernünftiges vor-zulegen.Gisela Frick
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Der Kollege Singhammer hat eben im Zusammen-hang mit der 630-Mark-Regelung von einer „Schubladi-sierung“ gesprochen – ein sehr schönes, neues Wort. Ichwürde sagen, das reicht nicht. Legen Sie die Sachennicht in die Schubladen, sondern schmeißen Sie sie inden Papierkorb oder – besser noch – in den Reißwolf.
Das Wort hat FrauBundesminister Dr. Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!Frau Frick, Ihr Beitrag war sicher ein ehrenwerter Ver-such, von dem eigentlichen Thema hier abzulenken. Ichdenke aber, er ist nicht gelungen.
Wir werden mit Sicherheit keine Dinge zurücknehmen,nur weil wir jetzt ein Paket auf den Tisch bekommenhaben, das unsere politische Arbeit und Richtung unter-stützt. Es handelt sich dabei allerdings – auch dasmöchte ich noch einmal wiederholen – um eine Erblastder vergangenen Jahre. Das Bundesverfassungsgerichthat sich in der Vergangenheit mehrfach bemüht, durchseine Urteile den Weg zu mehr steuerlicher Gerechtig-keit zu ebnen. Doch die alte Regierung hat diese Urteile,die die Lasten der Familien betreffen, schlichtweg igno-riert.
Deshalb können wir jetzt sagen, auch wenn wir zurZeit nocht keine detaillierten Vorschläge vorlegen kön-nen, wie das im einzelnen zu finanzieren sein wird: Esist auch unsere politische Richtung, die damit bestätigtwird. Ich will hier noch einmal daran erinnern, daß Siees waren, die noch nicht einmal die Erhöhung des Kin-dergeldes auf 220 DM wollten. Das haben die SPD-geführten Länder im Bundesrat durchgesetzt.
Vorhin war schon die Rede von Selbstkritik. Diewäre an dieser Stelle wirklich einmal angebracht. Siehaben den Familien in den letzten Jahren wirklich eini-ges vorenthalten. Wir versuchen jetzt, die Richtung zuändern und den Familien schrittweise mehr zukommenzu lassen. Daß sich hier eine solche Last angesammelthat, verdanken wir wirklich Ihrer Politik, die die frühe-ren Urteile des Bundesverfassungsgerichts nie umgesetzthat.
Obwohl Sie, wie wir alle wissen, über Familien undFamilienförderung gerne reden, haben Sie die Verant-wortung dafür auf die Eltern abgewälzt. Wir meinenschon, daß die Erziehung der Kinder in erster Linie inder Verantwortung der Eltern liegt. Das heißt aber nicht,daß die Gesellschaft und die Politik sie damit alleine las-sen darf, wie Ihre Politik es getan hat. Es ist Ihnen janicht einmal gelungen bzw. sehr schwergefallen, daseinfache Existenzminimum von Kindern von der Steuerfreizustellen.Jetzt unterstreicht das Bundesverfassungsgericht, daßdie Leistungen der Familien weit über den existentiellenSachbedarf von Kindern hinausgehen, und fokussiertden Blick auf die Betreuungsleistungen in den Familien.Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesseder Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt.Der Staat hat dementsprechend dafür Sorge zu tragen,daß es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise undauch zeitweise auf eigene Erwerbstätigkeit zugunstender persönlichen Betreuung der Kinder zu verzichtenwie auch Familien- und Erwerbstätigkeit miteinander zuverbinden.Das Bundesverfassungsgericht hat zwar, weil es inder Vergangenheit üble Erfahrungen gemacht hat, wiemit seinen Urteilen umgegangen wurde, enge Vorgabenim Hinblick auf den Zeitraum gemacht. Aber es hat unsnicht auf bestimmte Lösungen festgelegt – obwohl es imFalle nicht rechtzeitigen Handelns des Gesetzgeberspräzise Rechtsfolgen definiert. Vielmehr weist das Bun-desverfassungsgericht ausdrücklich auf die Möglichkeithin, „die gesamte kindbedingte Minderung der steuerli-chen Leistungsfähigkeit in einem Grundtatbestand zu er-fassen, der alle kindbezogenen Entlastungen umfaßt“und einfach und bürgernah ist.
In diesem Zusammenhang macht das Bundesverfas-sungsgericht mehrfach auf das Kindergeld und den Kin-derfreibetrag aufmerksam.Wir werden die verschiedenen möglichen Lösungeneiner generellen steuerlichen Berücksichtigung von Be-treuungs- und Erziehungsbedarf prüfen und in der Bun-desregierung die erforderlichen Entscheidungen treffen.Dabei werden wir aber die Erfahrungen berücksichtigen,die wir mit dem kumulierenden dualen System des Fa-milienlastenausgleichs gemacht haben. Dieses Systemhat gesellschaftspolitisch falsche Auswirkungen, weildie Freibeträge bei niedrigen Einkommen nicht oder nurteilweise genutzt werden können,
dafür aber bei steigendem Einkommen eine immer höhe-re Entlastung eintritt.
Diesen Effekt wollen wir nicht wieder erreichen.
Gisela Frick
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Vorhin hat Herr Hauser hier von einer einseitigenEntlastung der Bezieher kleiner Einkommen gespro-chen. Dies muß ich schon als Zynismus betrachten; denngenau das Gegenteil hat in der Vergangenheit stattge-funden: eine einseitige Entlastung der Bezieher hoherEinkommen.
Die Bundesregierung wird Lösungsmöglichkeiten er-arbeiten, welche das Existenzminimum sowie den Be-treuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern, wie vomBundesverfassungsgericht gefordert, steuerlich ange-messen berücksichtigen. In einer solchen Herausforde-rung liegt auch die Chance – da gebe ich Ihnen recht,Herr Müller –, strukturell moderne Wege einzuschlagen.Das heißt: Die steuerliche Entlastung ist gemäß dem Te-nor des Bundesverfassungsgerichtsurteils dort anzuset-zen, wo die stärkste Förderung erfolgen muß: bei denFamilien mit Kindern.Ich denke, daß dieses Urteil unsere Bemühungen um-eine Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes unter-stützt; denn wenn man dem Gedanken des Bundesver-fassungsgerichts hinsichtlich der Betreuungsleistung vonMüttern und Vätern folgt, ist der Weg, den wir gehenwollen, richtig, nämlich die Inanspruchnahme des Er-ziehungsurlaubs flexibler zu gestalten, um Erwerbstätig-keit und Kinderbetreuung besser miteinander vereinba-ren zu können. Die Bundesregierung wird also in Kürzeeinen Reformentwurf zu Elterngeld und Elternurlaubeinbringen.Das Bundesverfassungsgericht hat diese unsere poli-tische Richtung deutlich bestärkt. Die Bundesregierunghat von Anfang an deutlich gemacht, daß Kinder undJugendliche an der Spitze ihrer Politik stehen: nicht nurdurch die Erhöhung des Kindergeldes, sondern auchdurch die Auflegung des Sofortprogramms zur Schaf-fung von Ausbildungsplätzen für 100 000 Jugendlicheund durch die Regelung zur Ausbildungsförderung. Dassind Leistungen, die auch von seiten der Opposition ru-hig anerkannt werden könnten; denn sie dienen den Fa-milien und den Kindern in unserem Land.
Wir werden dies in Umsetzung der Entscheidung ausKarlsruhe fortführen, und zwar nicht nur, weil es recht-lich geboten ist – das ist selbstverständlich –, sondernweil dieser Weg in voller Übereinstimmung mit denÜberzeugungen dieser rotgrünen Regierung steht.Danke.
Ich gebe der Kolle-
gin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Bevor ich zu demeigentlichen Thema spreche, will ich noch eine Vorbe-merkung machen, Frau Kollegin Bergmann. Sie habennoch einmal das 100 000 Jugendliche betreffende Pro-gramm angesprochen, mit dem diese jungen Menschenqualifiziert werden sollen, einen Beruf ergreifen zu kön-nen, obwohl sie mit einem schlechten Schulabschlußentlassen worden sind. Ich erwähne diesen Punkt ganzbewußt als Hessin,
weil es mich immer wieder empört, daß dieses Geldnicht in die Schulen gesteckt wird und dadurch den Kin-dern und Jugendlichen ein Hauptschulabschluß ermög-licht wird, der sie befähigt, einen Lehrberuf zu ergreifen.
Jetzt müssen wir Notprogramme hinnehmen, weil dieverfehlte Schulpolitik in einigen Bundesländern unserejungen Menschen ins Leben entläßt, unfähig, einenLehrberuf zu ergreifen, weil sie noch nicht einmal dieFlächenberechnung beherrschen, die sie für den Maler-beruf dringend brauchen.
Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Thema. DasUrteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein sehr gutesUrteil für die Familien in Deutschland. Wir sollten unsalle darüber freuen. Man merkt die große Freude bei denRegierungsparteien deutlich, so auch heute in dieser De-batte.
Die Partei, die im Wahlkampf angetreten ist, die Fa-milien ein Stück zu stärken und ihnen eine Erhöhung desKindergeldes zuzugestehen,
denkt doch sehr kurz. Das ist bei beiden Redebeiträgenvon Vertretern der Regierung deutlich geworden. DieFrau Staatssekretärin und die Frau Ministerin schauennoch nicht einmal in die alten Unterlagen, die sie in ih-ren Ministerien vorfinden müßten.Wir sollten uns einmal zurückerinnern und uns fra-gen: Wie war das damals? Wer hat denn den Kinderfrei-betrag abgeschafft? 1975 haben die Sozialdemokratenmit einem Federstrich diese Kinderfreibeträge abge-schafft.
– Es kommt noch schöner, Frau Staatssekretärin. Ichwußte gar nicht, daß Sie von der Regierungsbank Zwi-schenrufe machen dürfen.Im Plenum sitzt eine ehemalige Ministerin, die 1980sehr lautstark in dem damaligen Wahlkampf angekün-Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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digt hat: Wir erhöhen das Kindergeld. Das wurde tat-sächlich gemacht.
Wissen Sie, was nach der Wahl passiert ist? Schauen Sieeinmal in Ihren alten Unterlagen nach! Diese Kinder-gelderhöhung wurde sofort wieder zurückgenommen,weil nicht genug Geld in der Kasse war, um die ge-machten Wahlversprechungen nachher tatsächlich einlö-sen zu können. Wir können Ihnen versichern: Wir wer-den die Familien in Deutschland davor schützen, daß soetwas noch einmal passiert.
Dabei haben wir das Bundesverfassungsgericht auf un-serer Seite.
1982 haben wir sofort nach Übernahme der Regie-rung die Kinderfreibeträge wieder eingeführt und konti-nuierlich erhöht, ebenso wie das Kindergeld.
– Herr von Larcher, Sie haben sich heute schon durcheine Reihe von „qualifizierten“ Zwischenrufen bemerk-bar gemacht.
Ich hoffe, daß jeder einzelne Zwischenruf im Proto-koll festgehalten wird, damit die breite Öffentlichkeit IhrVerständnis von Familienpolitik erkennt. Ich kann schonverstehen, daß Ihnen dieses Thema nicht paßt.Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und die Anerken-nung von Kindererziehungszeiten bei der Rente sindwährend unserer Regierungszeit eingeführt worden.Diese Vorhaben hatten Sie zwar in der Schublade,konnten sie aber nie verwirklichen.Jetzt auf einmal reden Sie wieder vom Ehegatten-splitting. Das Ehegattensplitting wurde von Ihnen dochnoch nie geliebt. Das Urteil des Bundesverfassungsge-richts macht an dieser Stelle deutlich, daß die Familien-leistung anerkannt wird und daß man nicht mit einemFederstrich durch die Begrenzung des Ehegattensplit-tings die entstandene Haushaltslücke schließen kann.Wir werden auch sehr genau aufpassen, daß Sie nichtmit einer Mehrwertsteuererhöhung die Familien nochzusätzlich belasten.
Auch die von Ihnen geplante Ökosteuer, die Energie-steuer, die den Familien in jedem Lebensbereich sehrtief in die Tasche greift, wird von uns ebenfalls genauauf die für die Familien entstehenden Belastungen über-prüft.Einen weiteren Punkt, der von uns im Rahmen unse-rer Familienpolitik immer verfolgt wurde, hat diesesUrteil deutlich gemacht, nämlich die Gleichstellung derLeistungen für Alleinerziehende und Familien.
– Sie waren doch in diesem Zeitraum Parlamentarierinund konnten sehen, daß Vorhaben, die Sie im Hinter-kopf hatten, von uns umgesetzt wurden. Ich verstehe garnicht, daß Sie heute nach der Debatte um die 630-DM-Beschäftigungen noch den Mut haben, immer wiederDinge einzufordern, die Sie während Ihrer Regierungs-zeit nicht umgesetzt haben.
– Nein, weil Sie Kinderfreibeträge abgeschafft und Kin-dergelderhöhungen wieder zurückgenommen haben.
Frau Kollegin
Rönsch, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich
will Ihnen zum Schluß sagen: Wir werden im Sinne der
Familien mithelfen und mit dazu beitragen, daß die 20
bzw. 22 Milliarden DM von den Kommunen, von den
Ländern und vom Bund für die Familien bereitgestellt
werden. Wir werden gerne den Haushalt daraufhin
durchforsten, welche Posten und Positionen, die Ideolo-
gie in Ihrem Sinne darstellen, besser für Leistungen an
die Familie herangezogen werden können.
Als nächste Redne-
rin spricht Frau Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauRönsch, mir fällt dazu nur ein: Es schlägt dem Faß denBoden aus!
Sie waren von 1990 bis 1994 Familienministerin. In die-ser Zeit hat das Bundesverfassungsgericht die Gesetzge-ber aufgefordert, das Existenzminimum und das Kinder-geld steuerlich anders zu behandeln, weil die damaligeRegierung den Leuten das Geld weggesteuert hat.
Jetzt sagen Sie, wir hätten nicht den Mut zum Handeln.Dazu fällt einem fast nichts mehr ein, außer den Kopf zuschütteln.
Hannelore Rönsch
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Wenn Sie dann noch sagen, wir hätten das Verfas-sungsgericht auf unserer Seite, kann ich dazu nur sagen:Ja, wunderbar. Wir haben immer – zu Recht – gesagt,daß es im Prinzip ein Armutszeugnis für die Politik ist –das muß man einmal ganz ernsthaft so sehen –, wenndas Bundesverfassungsgericht in den verschiedenen Ur-teilsbegründungen damals permanent anmahnen mußte,daß der Staat den Familien oder auch Alleinerziehendendie Unterstützungen zukommen läßt, die ihnen eigent-lich zustehen. In den 16 Jahren Kohl-Regierung habenwir jedoch nie erlebt, daß der Gesetzgeber gehandelthätte. Als Opposition konnten wir damals nur sagen:Das bedauern wir sehr; wir bemühen uns, das sinnvollmit umzusetzen. Wir haben Sie damals bei der Umset-zung der Anhebung des Kindergeldes und der Erhöhungdes steuerfreien Existenzminimums unterstützt, habenuns sehr aktiv und sehr konstruktiv an der Debatte be-teiligt. Das möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen,da Sie hier solch eine Mär verbreiten wollen.Wenn auf der anderen Seite – das geht jetzt an FrauProfessor Frick; das ist klar – gesagt wird, es gebe steu-erpolitische Chaostage,
Verrisse unserer Steuerentlastungspläne usw., dann mußich dazu sagen: Wir haben Anhörungen durchgeführt.Nach unserem parlamentarischen Verständnis führen wirAnhörungen durch, um uns die Vorschläge und Überle-gungen von Sachverständigen anzuhören. Deswegenmacht man Anhörungen. Das ist nicht „just for fun“,sondern sollte auch einen Sinn machen. Danach wertenwir die Ergebnisse der Anhörungen selbstverständlichganz sorgfältig aus und diskutieren sie in aller Ruhe inden Fachausschüssen. Dies haben wir in dieser Wochesowohl bei der Einkommensteuerreform als auch bei derökologischen Steuerreform im ersten Durchgang so ge-tan. Das ist ein ganz normales ordentliches Verfahren.Man braucht sich hier gar nicht aufzuregen.Was den Überblick betrifft: Für uns ist vollkommenklar, daß wir das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, die Einkommensteuerreform, demnächst zeit-gerecht – so wie wir es vorhatten – rückwirkend zum1. Januar 1999 in der Form, in der es mit den fachlichenÄnderungen in einzelnen Punkten vorliegt, in der zwei-ten und dritten Lesung beschließen.
Das geschieht vollkommen unabhängig von dem Bun-desverfassungsgerichtsurteil, das wir jetzt diskutieren.Wir wollen auch die ökologisch-soziale Steuerreformin zweiter und dritter Lesung beschließen, und zwar dar-an gekoppelt, daß es keine weitere Anhebung der Mine-ralölsteuer geben wird. Um auch das klarzustellen: Esbleibt so, wie es zwischen den Koalitionspartnern be-sprochen worden ist. Das hat mit dem Bundesverfas-sungsgerichtsurteil null zu tun, es ist davon vollkommenlosgelöst. Diese ökologisch-soziale Steuerreform ist inKoppelung mit der Absenkung um die 0,8 Prozent-punkte bei der Rentenversicherung vorgesehen.
Dabei bleibt es 1999. Jede andere Diskussion ist hierfehl am Platz.
– Die 7 Prozent zusätzliche Mineralölsteuer, FrauRönsch, beziehen sich auf einen Verfahrensweg für dieZukunft à la Großbritannien. Das hat nur etwas damit zutun, wie man das in den nächsten Stufen in den nächstenJahren systematisch angeht. Es hat nichts mit irgendwel-chen Gegenfinanzierungen zu tun, sondern betrifft dieFrage, wie wir mit der zweiten und dritten Stufe umge-hen.
Machen wir das mit irgendwelchen blöden Benzinpreis-debatten, oder machen wir das prozentual? Darüber darfman wohl nachdenken. Aber es darf absolut nicht in die-sen Zusammenhang gestellt werden. Das ist vollkom-men falsch interpretiert worden;
da sage ich auch an die Damen und Herren von der Pres-se. Es war nicht nur ein Mißverständnis, sondern eineabsolute Ente, daß die „Bild“-Zeitung diesen Zusam-menhang hier hergestellt hat.
Abschließend komme ich zu der Frage der neuenVorgabe bei der Gegenfinanzierung. Selbstverständlichwird, steuerpolitisch gesehen, alles, was an familienpo-litischen Maßnahmen verankert ist, diskutiert werden.Wir werden über das Splitting reden; das ist klar. Natür-lich werden wir darauf achten, die Vorgaben verfas-sungskonform umzusetzen. Ich sage Ihnen: Das Mannafällt nicht vom Himmel. Wir müssen für 2000 bis 2002eine ordentliche Haushaltsplanung machen. Es wird mitden Ländern zu beraten sein, ob die Länder dazu über-haupt bereit sind. Bayern hat einen Beschluß gefaßt, daßdurch die Steuergesetzgebung des Bundes keine Mehr-belastung für die Länder entstehen darf – Gruß anStoiber. Sie reden immer von Nettoentlastung. Das zeigtdas Doppelspiel der CSU in dieser Frage.
Wir werden einen guten Gesetzentwurf vorlegen.
Davon gehen wir von seiten der Regierungsfraktionenaus. Wir werden das tun, was den Familien mit Kindernzusteht. Wir werden das Leben mit Kindern steuerlichChristine Scheel
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erleichtern. Das war immer das Ziel der jetzigen Regie-rung und wird es, gerade bei der Umsetzung, auch blei-ben.Vielen Dank.
Das Wort hat der
Abgeordnete Dr. Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Als Fraktionsvorsitzender hat man denVorteil, für alles und auch wieder für nichts Experte zusein. Deshalb ist man dann so erfolgreich in der Politik.Ich will Ihnen folgendes sagen: Ich habe mich sehrüber die Rede von Frau Rönsch gewundert. Darf ich Ih-nen wenigstens einen Satz aus der Pressemitteilung desBundesverfassungsgerichts vorlesen, der wie folgt lau-tet:Der Zweite Senat hat den Beschwerdeführern rechtgegeben und die angegriffenen gesetzlichen Vor-
alle nachfolgenden Fassungen für verfassungswid-rig erklärt.Daß man in diesem Zusammenhang ernsthaft behauptenkann, daß das Verfassungsgericht an Ihrer Seite steht,wenn es gerade festgestellt hat, daß Sie hier eine verfas-sungswidrige Bestimmung nach der anderen verabschie-det haben, ist mehr als ein Salto mortale.
Warum fällt es Ihnen eigentlich so schwer, sich ein-mal hier hinzustellen und zu sagen: Wir haben einenFehler gemacht, und jetzt wird es eine gemeinsame Auf-gabe des Parlaments sein, diesen Fehler zu bereinigen.
Das wäre dann wenigstens ein ehrlicher Anfang. Aberstatt dessen kommen Sie mit ominösen Feststellungen zuIhrer Familienpolitik, die vom Bundesverfassungsge-richt bestätigt worden sei, obwohl Sie Jahr für Jahr Be-stimmungen erlassen haben, die sich alle als verfas-sungswidrig herausgestellt haben.Ich kann allerdings – auch das will ich deutlich sagen– nicht ganz die Äußerungen der neuen Regierung tei-len, das entspreche doch der politischen Richtung, diesie vorgegeben habe. Ich habe Ihre Koalitionsvereinba-rung noch einmal gelesen. Darin steht zu alledem nichts.Es sind dort auch keine Vorhaben diesbezüglich ange-kündigt worden. Auch im Haushalt 1999 findet sich da-für keine müde Mark.
So ganz kann das Ihren unmittelbaren Plänen also nichtentsprochen haben. Auch das hätte man ehrlicherweisesagen können.
Ich will noch etwas zur Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts sagen. Was ist denn da in Wirklichkeitpassiert? Seit Jahren sagt das Bundesverfassungsgerichtbei verschiedenen Gelegenheiten, daß das Existenzmi-nimum von Kindern zu sichern ist, daß Alleinerziehendeund Eheleute, die Kinder erziehen, nicht über Gebührbelastet werden dürfen und daß die Aufwendungen fürKinder zu berücksichtigen sind.Seit Jahren trickst die alte Mehrheit in dieser Frageherum, indem sie das Existenzminimum immer herun-terrechnet und dann dazu übergeht, nur bestimmteGruppen einzubeziehen und andere herauszulassen. Jetzthat es dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsge-richts ganz offenkundig gereicht. Er hat gesagt: Wenn esnichts nutzt, daß wir den Schutz von Familien in dieVerfassung hineinschreiben, und wenn mit Hilfe vonTricks versucht wird, unsere diesbezüglichen Entschei-dungen und damit die Verfassung zu unterlaufen, dannmüssen wir eben einen anderen Weg gehen und klareTermine und Summen nennen. Dann gibt es kein Rüttelnund kein Deuteln mehr. Dann weiß der Gesetzgeberendlich, was er zu tun hat.Daß das erforderlich ist, das ist die eigentlicheSchande für unser Haus und dafür, was wir bewirkt ha-ben. Dazu sollten letztlich wir alle selbstkritisch Stel-lung nehmen.
Ich will aber zu den in dem Beschluß des Bundesver-fassungsgerichts angegebenen Fristen und deren Rück-wirkung noch etwas sagen. Mir gefällt es nicht, daß auchdie neue Koalition, wenn sie denn schon meint, die För-derung von Familien sei ihre politische Richtung, ernst-haft bis zum letztmöglichen Tag warten will. In den ent-sprechenden Beschlüssen steht ja immer „spätestens“.Warum sagen Sie nicht: „Unter solchen Bedingungenberaten wir über den Haushaltsentwurf neu“, und warumversuchen Sie nicht gleich, eine gerechte Regelung her-zustellen? Warum nutzen Sie die Frist bis zum letztenTag aus?
Die Ungerechtigkeit bzw. die Verfassungswidrigkeit be-steht doch schon jetzt. Das hätte zumindest ich erwartet.Es ist nicht ganz richtig, daß hier gesagt wird, daßkeine Rückwirkung erfolgen wird. Ich will Sie daraufhinweisen – auch ich habe das Urteil natürlich nochnicht vorliegen –, was in der entsprechenden Pressemit-teilung des Bundesverfassungsgerichtes am Schlußsteht. Da steht nämlich, daß der Bundesfinanzhof zuprüfen hat, ob man den Beschwerdeführern die ver-Christine Scheel
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fassungsrechtlich gebotene Entlastung gewähren kann.Dann steht dort: Wenn dies nach dem geltenden Rechtnicht geht, „müßte der Gesetzgeber insoweit eine rück-wirkende Regelung treffen“.Das bezieht sich dann nicht nur auf die Beschwerde-führer, sondern auf all diejenigen, deren Einkommen-steuerbescheid noch nicht rechtskräftig ist. Dann ent-steht wieder die große Ungerechtigkeit, daß diejenigen,die nichts unternommen haben, weil sie sich auf dieVerfassungskonformität der Gesetze verlassen haben,leer ausgehen und daß diejenigen, die etwas unternom-men haben, etwas bekommen.Deshalb sage ich Ihnen: Beseitigen Sie diese Unge-rechtigkeit, und regeln Sie dies dann rückwirkend füralle. Anders ist eine Gerechtigkeit diesbezüglich nichtherstellbar.
Noch zwei Bemerkungen. Wenn es um die Finanzie-rung geht, dann sollte man über unsere Anträge aufWiedereinführung der privaten Vermögensteuer und dieEinführung einer Luxussteuer und über Abrüstungnachdenken. Ich halte den Verteidigungsetat auch imHaushaltsentwurf dieser Bundesregierung für 1999 nachwie vor für dramatisch hoch.Letzte Bemerkung. Eine Gerechtigkeitslücke bleibt.Damit konnte sich das Bundesverfassungsgericht nichtbeschäftigen. Aber ich finde, wir sollten uns endlicheinmal damit beschäftigen. Es gibt in diesem LandeMillionen Menschen, die so wenig verdienen, daß siekeine Steuern zahlen können. Die haben überhauptnichts von irgendwelchen Steuerentlastungsvorschriften.Lassen Sie uns doch einmal zu einer direkten Förderungübergehen! Einer Sozialhilfeempfängerin, die jetzt einerhöhtes Kindergeld bekommt, wird die Erhöhung imRahmen der Sozialhilfe wieder abgezogen. Die hatnichts von Ihrer Kindergelderhöhung. Wir brauchenendlich direkte Förderungen für Kinder von Eltern mitEinkommen im unteren Bereich. Sonst bleiben alle Re-gelungen zur Steuerentlastung ungerecht.
Das Wort hat Frau
Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Leistungen, die egal inwelcher Form in den Familien erbracht werden, müssenvom Gesetzgeber besser anerkannt werden. Das machtdieses Bundesverfassungsgerichtsurteil sehr deutlich.Was daraus noch deutlicher hervorgeht, ist, daß überviele Jahre hinweg der Gesetzgeber die Familien steuer-lich zu schlecht behandelt hat.
Wie oft haben wir denn im Finanzausschuß erlebt,daß wir um jede finanzielle Besserstellung der Familienregelrecht ringen mußten!
Angesichts dessen muß ich der Kollegin Scheel ein biß-chen widersprechen: Wir haben doch damals die Regie-rung bei der Kindergeldregelung nicht unterstützt. Wirhaben sie regelrecht dazu gezwungen, das Kindergeld indieser Weise festzusetzen.
Ich will nicht alle Einzelheiten aufzählen. Diese kannman in den Protokollen des Finanzausschusses nachle-sen. Aber wie viele Vorschläge zu den Kinderbetreu-ungskosten und in bezug auf erwachsene behinderteKinder haben wir gemacht, um die Situation von Famili-en zu verbessern! Jedesmal mußten wir die Regierungentweder zum Jagen tragen, oder sie hat sofort all dasabgelehnt, was wir auf den Tisch gelegt haben.
Es erscheint mir reichlich unverfroren, daß die Opposi-tionskolleginnen und -kollegen jetzt so tun, als seien esnicht sie gewesen, die die familienpolitischen Defiziteüber Jahre haben größer und größer werden lassen. Die-ses schnelle Drehen im Wind dieses Urteils erstauntmich ganz arg.
Es ist noch keine acht Wochen her, daß Frau Hassel-feldt in der Debatte zum Steuerentlastungsgesetz dieKindergelderhöhung mit einem Weihnachtsgeschenkverglichen hat – wie absurd angesichts dieses Urteils.
Und weil Sie, Frau Frick, hier so tun, als hätten Sie dierichtigen Ideen, als hätten Sie die richtigen Entschei-dungen getroffen, will ich zitieren, was Sie dazu gesagthaben:Auch wir halten es für wünschenswert, die Leistun-gen für Familien zu verbessern. Wir aber haben ei-nen anderen Ansatz.Ja, Sie haben einen anderen Ansatz. Es ist aber der fal-sche. Das können Sie jetzt in dem Urteil nachlesen.
Diese politischen Fehleinschätzungen in der Fragedes Rechts auf Kindergeld über Jahre hinweg haben da-zu geführt, das das Bundesverfassungsgerichtsurteil soextrem kurze Fristen gesetzt und so exakte Vorgabengemacht hat. Allerdings haben wir uns über solch exakteVorgaben schon ein bißchen gewundert. Wenn Sie IhreAussagen zu diesem Urteil heute mit Ihren Aussagendamals in der Debatte über unser Steuerentlastungsge-setz vergleichen, müßten Sie eigentlich mit schamrotemGesicht durch dieses Parlament laufen.
Ich will auch darauf hinweisen, daß wir einen Ent-schließungsantrag zu Ihrem alten Steuerreformgesetz aufden Tisch gelegt haben, in dem in bezug auf die Kinder-betreuungskosten stand: Wir wissen, daß es notwendigist, die Kinderbetreuungskosten unabhängig vom Fami-lienstand der Eltern und unabhängig von ihrer Erwerbs-Dr. Gregor Gysi
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tätigkeit zu berücksichtigen. Und auch Sie hätten es wis-sen müssen: Es gab dazu ein Ifo-Gutachten, das beimBMF seit 1996 unter Verschluß gehalten wurde. Ange-sichts dessen wundere ich mich sehr, daß Sie so tun, alshätten Sie nicht gewußt, daß da Handlungsbedarf be-steht.
Wir werden in aller Ruhe beraten, wie wir dieses Ver-fassungsgerichtsurteil umsetzen.Noch eines steht in diesem Urteil, was mir sehr wich-tig ist: Der Gesetzgeber hat nicht das Recht, in irgendei-ner Form moralisch zu werten, in welcher Art und Wei-se Eltern ihre Kinder betreuen, ob alleine, ob zusammenoder mit Hilfe eines Dritten. Eben das werden wir beider Umsetzung dieses Urteils berücksichtigen. Wir wer-den uns alleine von der Tatsache lenken lassen, daß dieLeistungsfähigkeit der Eltern durch Unterhalt, durch Er-ziehungs- und Betreuungsleistungen steuerlich einge-schränkt ist. Das wird unsere Leitlinie bei dem neu zuerarbeitenden Gesetz sein.
Dieses Parlament hat durch das Bundesverfassungs-gerichtsurteil – das ist wahr – eine große Hausaufgabeaufbekommen. Es wird nicht einfach, das umzusetzen.Aber ich finde, die Familien hätten es verdient, daß manhier im Parlament nicht polemisch darüber diskutiert.Statt zu erzählen, was alles im Chaos endet, sollten Sielieber bereit sein, vorurteilsfrei gemeinsam mit uns zuüberlegen, welche Wege offenstehen. Ich kann Sie nurauffordern, in diesem Bereich jede Vermischung mit ih-rem Bedürfnis, Opposition destruktiv zu betreiben, inZukunft zu unterlassen. Ich finde, die Familien haben esverdient, daß wir ganz offen und sachlich über dieseWege diskutieren.Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort
dem Abgeordneten Norbert Barthle, CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrter HerrPräsident Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurdemehrfach gesagt, daß wir von der CDU/CSU-Fraktiondieses Urteil begrüßen. Ich will das wiederholen und ausganz persönlicher Sicht unterstreichen. Als Vater vonzwei Kindern weiß ich sehr wohl, welche finanziellenBelastungen mit der Betreuung und Erziehung von Kin-dern alltäglich verbunden sind.Die bisherige gesetzliche Regelung genügt – das sagtdas Bundesverfassungsgericht in lobenswerter Deutlich-keit – dem Kriterium der Freistellung des Existenzmi-nimums nicht. Ich unterstreiche an dieser Stelle, diegrundsätzliche Kritik von Frau Scheel, was die Kompe-tenzzuschreibung von Politik und BVG anbelangt. Nur,daraus nun den Schluß zu ziehen, es handele sich um ei-ne Ohrfeige für die alte Bundesregierung, wie es mehr-fach gesagt wurde, halte ich für billige Polemik undletztendlich für Geschichtsklitterung.
Ich will Ihnen sagen, warum. Wahr ist doch vielmehr,daß die dem BVG-Beschluß zugrunde liegende Verfas-sungsbeschwerde sich auf das Jahr 1983 bezieht, undwahr ist doch auch, daß die neue Bundesregierung 1982einen sozialpolitischen Scherbenhaufen vorgefundenhat. Die SPD-geführte Bundesregierung hatte zwischen1975 und 1982
im Sozialbereich Kürzungen in Höhe von fast 95 Milli-arden DM vorgenommen, darunter – man höre und stau-ne – die Kürzung des Kindergeldes beim zweiten unddritten Kind um 20 DM, die Kürzung des BAföG, denWegfall des Haushaltsfreibetrags für Alleinerziehendeusw. Diesen familienpolitischen Kahlschlag hat damalsdie CDU/CSU-Fraktion zunächst einmal korrigiert.Stichworte wie „Erziehungsgeld“, „Anerkennung vonKindererziehungszeiten in der Rente“, „verbesserte Lei-stungen für Alleinerziehende“ usw. umschreiben nur ei-nen kleinen Teil der familienpolitischen Leistungen.1998 erreichten die Entlastungen bei den Familien einVolumen von fast 77 Milliarden DM; das sind 49 Milli-arden DM mehr als bei der Regierungsübernahme 1982.Auch das ist wahr.
Grundsätzlich halte ich wenig von diesen rückwärts-gewandten Betrachtungen. Ich denke, wir sollten denBlick nach vorn richten. Denn die deutsche Öffentlich-keit, Millionen von Eltern, auch wir hier im Parlament,erwarten von der Regierungskoalition ganz konkreteVorschläge, wie sie die zu erwartenden Steuerausfällevon mindestens 22,5 Milliarden DM pro Jahr denn fi-nanzieren will. Wenn ich mir die bisherigen finanzpoli-tischen Schnellschüsse und Rohrkrepierer der rotgrünenRegierung anschaue,
dann schwant mir nichts Gutes. Sollten Sie bei Ihrer bis-herigen Logik bleiben, werden am Ende die Eltern dieihnen zustehenden Entlastungen unter dem Strich selbstfinanzieren müssen, damit auch ja alles aufkommens-neutral ist. Nach der Logik Ihrer Gegenfinanzierungs-strategie werden manche sogar noch etwas drauflegenmüssen.
Eine neue Angst geht um in Deutschland, hört man indiesen Tagen, die Steuerangst, so titelte die „Bild“-Zeitung. Da ist etwas Wahres dran.
Man kann nur hoffen, dieses Urteil führt bei der Koali-tion zu der Erkenntnis, daß an einer gründlichen Konso-Nicolette Kressl
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lidierung der Staatsfinanzen, am Sparen im besten Sinnedes Wortes kein Weg vorbeiführt.
Deshalb eine dringliche Bitte: Denken Sie nicht einmalim Traum daran, zur Gegenfinanzierung das Ehegatten-Splitting weiter einzuschränken oder gar ganz abzu-schaffen, wie man lesen kann. Dies würde der Urteils-begründung der Karlsruher Richter völlig zuwiderlau-fen, die ihre Entscheidung gerade auf den besonderenSchutz von Ehe und Familie abgestellt haben. Das istgut so. Übrigens, eine Erhöhung der Mineralölsteuer um7 Prozent, Frau Scheel, würde vielleicht gerade einmal4,5 bis 5 Milliarden DM im ersten Jahr erbringen undzahlreiche, vor allem kinderreiche Familien insbesonde-re im ländlichen Raum, die einen ausgeprägten innerfa-miliären Fahrdienst organisieren müssen, erheblich bela-sten. Bedenken Sie das nochmals.Meine sehr verehrten Damen und Herren, vernünftig,finanzpolitisch redlich wäre es nach diesem Urteil, dasSteuerentlastungsgesetz und die sogenannte ökologischeSteuerreform komplett zurückzuziehen, angesichts derSteuermindereinnahmen neu zu beraten und eine konsi-stente Steuerreform auf den Tisch zu legen, die diesenNamen auch verdient.
Für diejenigen in der Regierungskoalition, die es einfachnicht begreifen wollen – entschuldigen Sie, wenn ich dasso sage –, will ich das an Hand des Bildes der zuge-knöpften Weste nochmals verdeutlichen: Bei Ihrer Steu-erreform nutzt es wenig, nur die obersten zwei Knöpfefrisch zuzumachen. Da bleiben die Verwerfungen. Dasganze Ding muß geöffnet werden, und man muß vonvorne anfangen; dann kommt etwas Gescheites heraus.
Wenn Sie das tun: Nehmen Sie die Ergebnisse dermehrtägigen Anhörung ernst, auf der über Ihr Reform-konzept ein vernichtendes Urteil gesprochen wurde!Gehen Sie daran, die Grundanliegen der PetersbergerBeschlüsse nochmals nachzulesen, nämlich niedrigereSteuersätze und eine Nettoentlastung für alle!
Dann sind Sie auf dem richtigen Weg.Danke.
Ich darf auch dem
Kollegen Barthle im Namen des Hauses zu seiner ersten
Rede gratulieren.
Ich gebe nunmehr der Kollegin Lydia Westrich von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Auch heute sprühen in dieser Aktuel-len Stunde die Funken, obwohl alle Fraktionen die Si-tuation begrüßen, die zumindest in diesem Zeitrahmennicht von uns geschaffen wurde, mit der wir aber sehrsorgsam und verantwortlich umgehen müssen. Dahernützen Beiträge à la Kollegin Rönsch überhaupt nichts.
Ich sehe das Urteil mit einem lachenden und einemweinenden Auge. Ich sehe es mit einem lachenden Au-ge, weil diese Entscheidung wunderbar in unser sozial-demokratisches Konzept hineinpaßt, lang aufgestauteForderungen von Familien ernst zu nehmen und Zug umZug umzusetzen.
Vielleicht, Frau Kollegin Rönsch, hätten Sie die auf-geregten, glücklichen Gesichter der Vertreterinnen undVertreter der Familienverbände bei der Anhörung zumSteuerentlastungsgesetz sehen sollen, als das Urteil amDienstag bekannt wurde. Sie hätten aber auch die an-fängliche Ungläubigkeit in diesen Gesichtern sehen sol-len. Dabei ist mir sehr schmerzhaft bewußt geworden,daß die Familien nach 16 Jahren christlich-demokratischer und liberaler Politik nichts Gutes mehrvom Staat erwartet haben, leider zu Recht.
Sie haben nach 16 Jahren familienfreundlicher Sonn-tagsreden in Ihrer Regierungszeit und tatsächlichem Er-leben eines permanenten Einkommensverlustes in deneigenen Portemonnaies das Vertrauen in die Politikverloren. Wie oft hat Ihr Altbundeskanzler die Familieals Keimzelle der Gesellschaft und des Staates bezeich-net; er hat aber in 16 Jahren keinen Finger gerührt, die-ser Keimzelle auch genügend Nährlösung zuzuführen?
Selbst als das Verfassungsgericht die Berücksichti-gung des Existenzminimums für Kinder zwingend vor-geschrieben hat, meine Damen und Herren aus derCDU/CSU und F.D.P., haben Sie zugelassen, daß diesesverfassungsrechtlich zwingend vorgeschriebene Kinder-geld als Sozialklimbim bezeichnet wurde und dessenEinsparung als ständig verfügbare Masse zur Gegenfi-nanzierung von Unternehmenssteuererleichterungen zurVerfügung stand. Man kam sich ja manchmal wie in ei-nem Steinbruch vor.
Da haben Sie – Sie haben das auch jetzt wieder erwähnt– das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Vermögen-steuer sehr viel ernsthafter umgesetzt und verteidigt.Das verlorengegangene Vertrauen der Familien in diePolitik geht ganz auf Ihr Konto; das nehmen wir nichtauf unseren Rücken. Deshalb habe ich auch ein weinen-des Auge. Wäre dieses Urteil des Bundesverfassungsge-richts bereits vor der Bundestagswahl ergangen, wärenSie in der Familienpolitik mit Pauken und TrompetenNorbert Barthle
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durchgefallen und wären Ihre Fraktionen mit noch vielkleinerer Besetzung im Bundestag vertreten.
Die Frage der Steuergerechtigkeit wird nämlich von denBürgern viel sensibler aufgenommen, als Sie gedachthaben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ichweiß nicht, ob Sie bei der Größe Ihrer Fraktion noch vielzu lachen haben.Wir als Sozialdemokratische Partei Deutschlands ha-ben uns gemeinsam mit unserem KoalitionspartnerBündnis 90/Die Grünen zum Ziel gesetzt, die Familien-politik in dieser Legislaturperiode in den Mittelpunktunserer Politik zu stellen. Die Erziehung von Kinderngeht uns nämlich alle etwas an.
Sie ist, wie es das Verfassungsgericht ausdrücklich fest-stellt, eine gesellschaftliche Aufgabe. Es liegt sehr wohlin unserem Interesse, wenn Kinder beispielsweise Mit-glieder in Vereinen werden, um Kontakte unter Gleich-altrigen zu finden, in ein soziales Umfeld integriert wer-den und vorbereitet sind, später einmal ein verantwortli-ches Leben in unserer Gesellschaft zu führen.Die Kinder sind unsere Zukunft. In ihren Händenliegt die Zukunft unseres Gemeinwesens, und sie sollensich auch in diesem Gemeinwesen zurechtfinden. Des-halb sind in unseren Plänen zur Steuerreform zu Rechtbereits umfangreiche Entlastungsmaßnahmen für Fami-lien mit Kindern enthalten. Mit der Erhöhung des Kin-dergeldes zum 1. Januar 1999 haben wir eine erste kon-krete Maßnahme ergriffen, die den durch die Erziehungvon Kindern entstehenden Mehrbelastungen Rechnungträgt.Natürlich bleibt noch einiges zu tun, damit wir dieVorgaben des Urteils erfüllen. Angesichts einer ange-spannten Haushaltslage stellt dies natürlich eine großefinanzpolitische Herausforderung dar. Allerdings kön-nen Sie davon ausgehen, daß wir auch diese meisternwerden, weil wir das Verfassungsgericht und die Fami-lien ernst nehmen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses
Urteil steht in einem originären Zusammenhang mit der
Steuerreform. Sie sollten wegen des Finanzierungszu-
sammenhangs nicht von Erblasten sprechen, sondern
sich um Ihren eigenen finanzpolitischen Trümmerhaufen
kümmern.
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Steuererhöhungen sind nicht grundsätzlichauszuschließen. Da sagte der Minister: Es soll keineSteuererhöhungen geben. Da sagt der ParlamentarischeGeschäftsführer: Das Thema Mehrwertsteuer steht imZusammenhang mit der EU. Soll hier mit einer Ausredevielleicht schon vorgebaut werden? Da sagt Frau Scheel:keine Verbrauchsteuererhöhung. Dann sagt sie: Ver-brauchsteuererhöhung doch, 7 Prozent Ökosteuer. Dannsagt der Finanzminister wieder: keine Steuererhöhun-gen. Dann sagt Frau Simonis: Ehegattensplitting sollherangezogen werden, also Gegenfinanzierung im glei-chen Bereich.
Frau Matthäus-Maier warnt davor, Geld aus der Öko-steuer herauszunehmen.Meine Damen und Herren, sind es etwa Scheinge-winne, die hier eingesetzt werden sollen? Warum mußman überhaupt auf so etwas eingehen?
Da sagt dann die Haushaltsexpertin Titze-Stecher: DasGanze geht nur bei Verzicht auf Mehrwertsteuererhö-hung oder Ehegattensplitting. Ihr FinanzministerSchleußer aus Nordrhein-Westfalen warnt davor undsagt: Denkt daran, beim Ehegattensplitting ist gar nichtso viel zu holen. Recht hat er, und zwar aus zwei Grün-den: erstens, weil es finanziell nicht geht, und zweitens,weil das Verfassungsgericht genau das Gegenteil gesagthat.
Sie haben es immer noch nicht kapiert. Da sagt derHaushaltsexperte Metzger: schmerzhafte Eingriffe inLeistungsgesetze. Meine Damen und Herren, wen trifftdenn das? Doch in erster Linie wieder kinderreiche Fa-milien und diejenigen, denen das Verfassungsgericht ge-rade etwas eingeräumt hat.Sie haben zunächst einmal den Schuldenberg gegen-über den Ländern und Kommunen abzutragen.
1,8 Milliarden DM haben Sie mit dem Kindergelderhö-hungsgesetz entgegen dem Grundgesetz nicht erfüllt,obwohl es doch die SPD-Länder waren, die im Bundes-rat bei der Neuregelung des Familienlastenausgleichesgerade den Rechtsanspruch der Länder und Kommunendurchgesetzt haben. Jetzt halten Sie sich überhaupt nichtdaran. Das ist doch eine Schuld, die Sie noch einlösenmüssen. Sie werden spätestens im Bundesrat merken,daß dies auch eingefordert wird.
Meine Damen und Herren, im Steuerentlastungsge-setz haben Sie in der letzten Lesung 36 Änderungen an-gekündigt. Wir haben ja nichts dagegen und würden unsfreuen, wenn Sie denn aus den Anhörungen gelernt hät-Lydia Westrich
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ten. Aber ich empfinde es schon als verantwortungslos,die gesamte Wirtschaft und die Menschen mit irgend-welchen angekündigten Änderungen zu beunruhigen –das haben wir in der Expertenanhörung deutlich spürenkönnen – und hinterher dann wieder Teile zurückzu-nehmen.
Wenn ich Ihre Steuerpolitik, Herr von Larcher, ansehe,dann muß ich ehrlich sagen: Die Echternacher Spring-prozession kommt mir vor wie das 24-Stunden-Rennenvon Le Mans.Es geht doch bei Ihnen immer nach der gleichenMethode – wir kennen das aus Niedersachsen –: HerrSchröder kündigt 100 Prozent an, nimmt 10 Prozentzurück, läßt sich dafür feiern und macht die Menschenvergessen, daß 90 Prozent bleiben. Deshalb sollten Siesich von dem von allen Experten verworfenen Entwurfverabschieden. Werfen Sie ihn in den Papierkorb! Ma-chen Sie einen neuen Entwurf unter Berücksichtigungdes Bundesverfassungsgerichtsurteils. Dann tun Sie et-was Vernünftiges.Schönen Dank.
Der Kollege From-
me hat seine erste Rede gehalten. Auch ihm darf ich da-
zu gratulieren.
Ich gebe nunmehr als letzter Rednerin der Kollegin
Ingrid Matthäus-Maier von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bestätigtdie Zielsetzung der Politik dieser Bundesregierung, dieFamilien mit Kindern finanziell zu entlasten. Wir habenvor der Wahl gesagt, aus ökonomischen, familienpoliti-schen und verfassungsrechtlichen Gründen werden wirdas Kindergeld auf 250 DM anheben. Wir haben diesesVersprechen gehalten.
Ich erinnere mich, wie wir über all die Jahre kämpfenmußten. Wir mußten Theo Waigel doch praktisch jedeKindergelderhöhung, auch von nur 10 DM, mühsam ausder Nase ziehen.
Er und Sie haben immer erst dann gehandelt, wennKarlsruhe Sie dazu verurteilt hatte. Haben Sie vergessen,wie schön die Kollegin Margot von Renesse einmal ge-sagt hat: „Theo Waigel verhält sich wie ein unterhalts-pflichtiger Vater, der erst dann zahlt, wenn er voll-streckbar verurteilt ist.“? Meine Damen und Herren, daswar doch die Situation.
Noch im letzten Herbst – ich erinnere mich gut; dageht es gar nicht so sehr um Sie – haben all die klugenVerfassungsrechtler, Professor Bareis, die Forschungs-institute, der Steuerzahlerbund gesagt, wir sollten dieAnhebung des Kindergeldes, diese Erhöhung des So-zialtransfers doch bitte unterlassen – daß sie nicht „So-zialklimbim“ gesagt haben, ist schon ein Wunder – undstatt dessen den Spitzensteuersatz senken.
Ich persönlich habe mich mit Herrn Schäuble dreimalauseinandergesetzt, weil er die 250 DM Kindergeldpartout nicht wollte. Stellen Sie sich einmal vor, wo wirstünden, wenn wir diese 250 DM jetzt nicht hätten.
Den Vogel in Sachen Heuchelei hat Herr Däke vomSteuerzahlerbund abgeschossen. Im letzten Herbst hatder Steuerzahlerbund eine Schrift herausgegeben „DurchEinsparungen die Lasten mindern“. Da heißt es zumBeispiel zum Thema „Familienlastenausgleich“:Die geltende Ausgestaltung des Familienlastenaus-gleichs geht deutlich über das verfassungsrechtlichGebotene hinaus
und ist daher fiskalisch entsprechend teuer.Weiter unten steht geschrieben, man könnte aus demFamilienlastenausgleich fiskalisch 8,5 Milliarden DMherausholen.Gestern hat Herr Däke in der „Welt“ ein Interviewgegeben, in dem er gefragt wurde, wie die Notwendig-keit, das Urteil umzusetzen, finanziert werde. Da sagteer, sie hätten Vorschläge für Einsparungen gemacht: beiden Sozialtransfers und bei den Fördermitteln. Dakönnte man kurzfristig 40 Milliarden DM herausholen.
Das stelle man sich einmal vor: Zuerst verlangt dieserfamose Herr Däke die Kürzung des Familienlastenaus-gleichs um 8,5 Milliarden DM, um den Spitzensteuer-satz zu senken. Dann hofft er auf das kurze Gedächtnisder Menschen und der Medien und sagt uns gestern, wirkönnten die 8,5 Milliarden DM, die er verfassungswid-rig aus dem Familienlastenausgleich herausnehmen will,benutzen, um Karlsruhe zu bezahlen. – Meine Damenund Herren, das ist ein Abgrund von Heuchelei.
Wir alle, egal ob Schwarz, Rot, Grün oder Blaugelb,sollten das, was dieser Mann, der im Moment durch dieTalk-Shows zieht, zu diesem Thema äußert, zurückwei-sen.
Jochen-Konrad Fromme
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1189
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Herr Hauser hat gesagt, wir hätten uns zu den Kin-derbetreuungskosten nie geäußert. Das ist nicht richtig.Ich gebe gerne zu: In diesem Gesetzentwurf steht davonnichts. Wir sind belehrt worden, das zu ändern. Das istgut so. Aber darf ich Sie darauf hinweisen, daß zumBeispiel im familienpolitischen Programm der Fraktion,das unter Leitung von Frau Ulla Schmidt erarbeitet wur-de, ausdrücklich steht: „steuerliche Berücksichtigungvon Kinderbetreuungskosten nicht nur für Alleinstehen-de“. Sie können gerne kritisieren, daß wir das noch nichtgemacht haben.Aber darf ich Sie auch daran erinnern, wie oft ichunter Ihrem Hohngelächter folgendes gesagt habe: Eskann doch wohl nicht sein, daß die Kindergartenbeiträgefür Otto Normalverbraucher nicht von der Steuer ab-setzbar sind
– da erinnert man sich noch gut –, während es durch dasDienstmädchenprivileg für reiche Leute möglich ist, dieKindergärtnerin vom Vormittag für die Betreuung derKinder am Nachmittag von der Steuer abzusetzen?
Bei uns war das ein Thema. Ich gebe gerne zu: In un-serem Gesetzentwurf steht es nicht. Wir werden danachbessern müssen. Das tun wir auch. StaatssekretärinHendricks hat das Vorgehen bis zum Sommer angespro-chen.Die Familien können sich auf eines verlassen: Wirwerden sowohl die Eheleute mit Kindern als auch dieAlleinerziehenden mit Kindern berücksichtigen. Siewerden in dem Gesetzentwurf, den wir vorlegen werden,entlastet werden. Sie werden als Gewinner daraus her-vorgehen. Darauf können sich Familien mit Kindernverlassen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen undHerren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sindam Schluß unserer Tagesordnung. Ich wünsche Ihnenein schönes Wochenende.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Mittwoch, den 27. Januar 1999, 14 Uhr ein.Die Gedenkstunde zum Gedenktag für die Opfer desNationalsozialismus beginnt um 11 Uhr.Die Sitzung ist geschlossen.
Ingrid Matthäus-Meier
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1191
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Anlagen zum Stenographischen BerichtAnlage 1Liste der entschuldigten AbgeordnetenAbgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlichAndres, Gerd SPD 22.1.99Austermann, Dietrich CDU/CSU 22.1.99Bachmaier, Hermann SPD 22.1.99Dr. Bartsch, Dietmar PDS 22.1.99Bierwirth, Petra SPD 22.1.99Dr. Blank, Joseph-TheodorCDU/CSU 22.1.99Brüderle, Rainer F.D.P. 22.1.99Brudlewsky, Monika CDU/CSU 22.1.99Bulling-Schröter, Eva PDS 22.1.99Buntenbach, Annelie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN22.1.99Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN22.1.99Dietzel, Wilhelm CDU/CSU 22.1.99Eymer, Anke CDU/CSU 22.1.99Friedhoff, Paul K. F.D.P. 22.1.99Friedrich , PeterSPD 22.1.99Glos, Michael CDU/CSU 22.1.99Götz, Peter CDU/CSU 22.1.99Günther , JoachimF.D.P. 22.1.99Hanewinckel, Christel SPD 22.1.99Hartnagel, Anke SPD 22.1.99Hasenfratz, Klaus SPD 22.1.99Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 22.1.99Hauser , NorbertCDU/CSU 22.1.99Herzog, Gustav SPD 22.1.99Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN22.1.99Hohmann, Martin CDU/CSU 22.1.99Imhof, Barbara SPD 22.1.99Jelpke, Ulla PDS 22.1.99Knoche, Monika BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN22.1.99Kossendey, Thomas CDU/CSU 22.1.99Kraus, Rudolf CDU/CSU 22.1.99Küchler, Ernst SPD 22.1.99Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlichLabsch, Werner SPD 22.1.99Lemke, Steffi BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN22.1.99Lengsfeld, Vera CDU/CSU 22.1.99Lippmann-Kasten, HeidiPDS 22.1.99
SPD 22.1.99Maaß , ErichCDU/CSU 22.1.99Dr. Merkel, Angelika CDU/CSU 22.1.99Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 22.1.99Neumann , VolkerSPD 22.1.99Niebel, Dirk F.D.P. 22.1.99Nietan, Dietmar SPD 22.1.99Nooke, Günter CDU/CSU 22.1.99Pau, Petra PDS 22.1.99Dr. Pfaff, Martin SPD 22.1.99Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 22.1.99Roth , Adolf CDU/CSU 22.1.99Rühe, Volker CDU/CSU 22.1.99Rupprecht, Marlene SPD 22.1.99Scharping, Rudolf SPD 22.1.99Schmidt , SilviaSPD 22.1.99Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 22.1.99Schultz , ReinhardSPD 22.1.99Dr. Schwarz-Schilling, ChristianCDU/CSU 22.1.99Siebert, Bernd CDU/CSU 22.1.99Dr. Stadler, Max F.D.P. 22.1.99Dr. Thalheim, Gerald SPD 22.1.99Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 22.1.99Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 22.1.99Uldall, Gunnar CDU/CSU 22.1.99Willner, Gert CDU/CSU 22.1.99Wissmann, Matthias CDU/CSU 22.1.99Wolf , HannaSPD 22.1.99Zeitlmann, Wolfgang CDU/CSU 22.1.99
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Anlage 2Amtliche MitteilungenDer Bundesrat hat in seiner 733. Sitzung am 18. De-zember 1998 beschlossen, den nachstehenden Gesetzenzuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab-satz 2 Grundgesetz nicht zu stellen:– Siebtes Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes– Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse derParlamentarischen Staatssekretäre– Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Siche-rung der Arbeitnehmerrechte– Gesetz zur Änderung des Versorgungsreformgesetzes 1998 und andererGesetze
– Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzord-nung und anderer Gesetze
– Steueränderungsgesetz 1998– Viertes Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
– Gesetz zu dem Abkommen vom 18. September 1998 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschland und der EuropäischenZentralbank über den Sitz der Europäischen Zentralbank– Steuerentlastungsgesetz 1999– Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenver-sicherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz – GKV-SolGZu den beiden letztgenannten Gesetzen hat der Bun-desrat die folgenden Entschließungen gefaßt:Entschließung des Bundesrates zum Steuerentlastungsgesetz 1999:1. Der Bundesrat geht bei der Zustimmung zum Steuerentlastungsgesetz1999 davon aus, daß das mit dem Entwurf eines Steuerentlastungsge-setzes 1999/2000/2002 über eine Verbreiterungsteuerlicher Bemessungsgrundlagen insgesamt vorgesehene Volumenzur Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen vom Deutschen Bundes-tag so beschlossen wird. Angesichts der schwierigen Lage der öffentli-chen Haushalte sind Steuerausfälle, die über die im Entwurf des Steuer-entlastungsgesetzes genannten rd. 15 Milliarden DM hinausgehen, nichtzu verkraften.
gegenüber dem Bund bei der Finanzierung des Familienleistungsaus-gleichs für 1999 auf rd. 4 Milliarden DM; weiterhin besteht eine Aus-gleichsforderung für die Jahre 1996 bis 1998 in Höhe von 5,7 Milliar-den DM. Der Bundesrat erwartet, daß der Deutsche Bundestag imweiteren Gesetzgebungsverfahren zum Steuerentlastungsgesetz eineRegelung beschließt, die der verfassungsrechtlich abgesichertenLastenverteilung beim Familienleistungsausgleich entspricht und eineKompensation der Einnahmenausfälle bei Ländern und Gemeindensicherstellt.Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Stärkung der Solidarität inder gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz– GKV-SolGa) Der Bundesrat unterstützt nachdrücklich die zentralen Anliegen desvorliegenden Gesetzes, zu den Grundprinzipien einer solidarisch finan-zierten, paritätischen sozialen Krankenversicherung zurückzukehren,die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung
kurzfristig zu stabilisieren und damit die Voraussetzungen für einegrundlegende Strukturreform in der GKV zum Jahr 2000 zu schaffen.Er begrüßt, daß damit – wie von ihm in der Vergangenheit wiederholtgefordert – der Weg der zunehmenden Aushöhlung der Funktionstüch-tigkeit der GKV, wie er von der alten Bundesregierung in den letztenJahren beschritten wurde, gestoppt wird.b) Wesentliche Elemente des Gesetzes erfüllen vom Bundesrat seit länge-rem nachdrücklich vertretene Forderungen. Dies gilt insbesondere für– die Aufhebung des Kopplungsautomatismus von Beitragserhöhun-gen mit weiteren Zuzahlungsanhebungen,– die Beseitigung klassischer Elemente der privaten Versicherungs-wirtschaft , die die solidari-schen Finanzierungsgrundlagen der GKV, namentlich die Solidaritätder Gesunden mit den Kranken, tendenziell aushöhlen,– die Rückkehr zu qualitäts- und kostensteuernden Strukturen in derzahnmedizinischen Versorgung für alle Versicherten, unabhängigvon ihrem Alter,– den Einstieg in eine Rückführung der überhöhten Zuzahlungen vorallem für chronisch Kranke und ältere Versicherte.c) Der Bundesrat weist darauf hin, daß die Finanzneutralität des Gesetzesfür die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 1999 bewahrt bleibenmuß. Aufgrund des erreichten Beitragssatzniveaus in der GKV undseines unmittelbaren Einflusses auf das Ziel der mittelfristigen Rück-führung der Lohnnebenkosten auf unter 40 % hat die Stabilität der Bei-tragssätze der GKV höchste Prioritätd) Der Bundesrat geht davon aus, daß im Rahmen der von der Bundes-regierung zum 1. Januar 2000 angekündigten durchgreifenden Struktur-reform in der GKV Gelegenheit bestehen wird, auf eventuelle Pro-blemlagen, die mit dem Gesetz verbunden sein könnten, angemessen zureagieren. Er teilt die Ziele der Strukturreform, für mehr Wettbewerbum Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturenzu sorgen. Von der zu Beginn des Jahres 2000 in Kraft tretendenStrukturreform sind ausreichend Impulse zu erwarten, um die GKVdauerhaft leistungsfähig und bezahlbar zu erhalten. Der Bundesrat wirddie Ausgestaltung der Strukturreform von Beginn an konstruktiv be-gleiten.Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 4420Deutscher BundestagStenographischer BerichtTag des Gedenkensan die Opfer des NationalsozialismusGedenkstunde des Deutschen BundestagesBonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999I n h a l t :Präsident Wolfgang Thierse............................. 1193 ABundespräsident Dr. Roman Herzog................ 1195 ADeutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1193
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Tag des Gedenkensan die Opfer des NationalsozialismusGedenkstunde des Deutschen BundestagesBonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999Beginn: 11.01 Uhr
Herr Bundespräsi-
dent! Herr Bundeskanzler! Herr Bundesratspräsident!
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Wir geden-
ken heute, am Tag der Befreiung des Konzentrations-
und Vernichtungslagers Auschwitz vor 54 Jahren, aller
Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der
27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Sie, sehr ver-
ehrter Herr Bundespräsident, haben ihn 1996 prokla-
miert und damals betont, daß gerade dieses Gedenken
nicht in Ritualen erstarren darf.
Der 27. Januar ist für uns Deutsche Anlaß, öffentlich,
aber auch jeweils persönlich zurückzublicken auf eine
Phase unserer jüngeren Geschichte, auf ein Geschehen,
das noch immer alle Vorstellungskraft sprengt. Gerade
deshalb ist es unverzichtbar, im Erinnern zugleich die
Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ins Auge zu fas-
sen. Theodor W. Adornos bekannte Feststellung, die er-
ste Aufgabe an jede Erziehung sei, dafür Sorge zu tra-
gen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne,
richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen
von uns. Deshalb ist dieser Gedenktag eine nachdrückli-
che Forderung zur Wachsamkeit. Die Erinnerung an das
millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Ge-
waltherrschaft mit ihrem menschenverachtenden Ras-
senwahn über Europa und andere Teile der Welt ge-
bracht hat, verlangt, schon den Anfängen jeder Wieder-
holungsgefahr entgegenzutreten.
Um das gemeinsame Erinnern an das Geschehene hat
es in den vergangenen Wochen und Monaten in der
deutschen Öffentlichkeit eine intensive Debatte gege-
ben. Ich will auf die Art und Weise dieser Auseinander-
setzungen nicht eingehen, insbesondere nicht über Stil-
fragen urteilen. Wichtiger und zukunftsweisender ist die
Feststellung, daß diese Debatte notwendig und nützlich
ist. Wenn ich sie richtig wahrgenommen habe, hat diese
Debatte deutlich gemacht, daß wir derzeit in Politik und
Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen. Vie-
les von dem, was zuletzt kontrovers erörtert wurde,
hängt wohl zusammen mit dem Aufeinandertreffen un-
terschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen. Zu der
Generation derer, die die Schrecken des Nationalsozia-
lismus aus eigenem Erleben, aus schlimmsten Erfahrun-
gen kennen, und der Generation der Töchter und Söhne
der Opfer und der Täter treten die Jüngeren, denen das
ganze Ausmaß des Grauens, die Mechanismen der Aus-
grenzung, die menschenverachtende Brutalität der Täter,
die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Masse und vor
allem das unermeßliche Leid der Opfer nur über histori-
sches, also vermitteltes Wissen zugänglich gemacht
werden können. Die Frage dieser Vermittlung müssen
wir deshalb über fünf Jahrzehnte nach der Befreiung von
Auschwitz neu diskutieren. Die genannte Debatte hat
gezeigt, daß veränderte und erweiterte Zugänge zum
Geschehenen notwendig sind. Wir brauchen den gesell-
schaftlichen Diskurs über das richtige Maß, die ange-
messenen Formen des Erinnerns, wie Sie, sehr geehrter
Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede am 9. November
letzten Jahres in Berlin festgestellt haben.
Das richtige Maß, die angemessene Form zu finden
verlangt nach einer Prüfung in zweierlei Richtung: Was
ist dem entsetzlich Geschehenen angemessen? Was ist
für Gegenwart und Zukunft richtig? Ein Zuviel kann
problematisch sein, ein Zuwenig erst recht. „Darf man
nicht wissen wollen?“ – So hat Thomas Mann gefragt
und nach 1945 mit einem entschiedenen Nein geant-
wortet. Dieses Nein gilt bis heute für alle Demokraten
und – so hoffe ich – mit gleicher Entschiedenheit. Hal-
ten wir daran fest: Verpflichtende Erinnerung, Gedenken
der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen
Verantwortung – das war das moralische Fundament,
das gehörte zur Raison d'être der neubegründeten deut-
schen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Es
gibt keine kollektive Schuld, gewiß; aber das heißt nicht,
daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven
1194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. In
ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein,
nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher
Form auch immer, zuzulassen.
Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie der
künftigen Generationen, durch die Übernahme der poli-
tischen Haftung Verantwortung für die Vergangenheit
zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem
deutschen Staat begangenen Unmenschlichkeiten wach-
zuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen
keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formel-
ler Ritualisierung erstarren, sowenig Erinnerung gänz-
lich ohne Riten auskommt.
Gerade wegen dieser gemeinsamen Grundüberzeu-
gung gilt es, uns in Gesellschaft und Politik über die Art
und Weise des Erinnerns und Gedenkens immer neu zu
verständigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf
zwei problematische Erfahrungen hinweisen. Zum
einen: Historische Aufklärung soll und kann politisches
Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung
rufen. Daß sie auch zur Trauer um die Toten, zu Em-
pathie mit den Opfern führt, dessen können wir nicht
mehr so sicher sein. Zur Dialektik der Aufklärung – das
wissen wir inzwischen – gehört eben auch, daß sie als
einseitige, gar bloß rationale ihr Gegenteil bewirken
kann, nämlich die Kälte der Verdrängung. Insofern darf
gerade in der Annäherung an die nationalsozialistischen
Verbrechen nicht versäumt werden, das Entsetzliche so
zu vermitteln, daß es auch mit dem Herzen erfahren und
begriffen wird. Insofern auch ist Gedenken immer mehr
als aufgeklärtes Wissen, sosehr dieses Gedenken immer
auch und neu des Anstoßes durch historische, bestimmte
Erinnerung bedarf.
Zugleich aber gilt es, den jungen Menschen histori-
sches Wissen und emotionale Betroffenheit so zu ver-
mitteln, daß sie eine Beziehung zur Gegenwart, also ge-
genwärtige moralische Sensibilität und politische Ver-
antwortung ermöglichen. Betroffenheit, die bloß ratlos
macht, Wissen, das folgenlos bleibt, solcherart Ergeb-
nisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß
und gesellschaftlich folgenlos. Die Gefährdungen der
Demokratie, die Mechanismen von Stigmatisierung und
Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und
Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen
und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart
zu beobachten und in ihr zu handeln, darum geht es.
Was damals Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homo-
sexuelle, politische Gegner waren, das können heute an-
dere Personen und Gruppen sein, die durch Stigmatisie-
rungsprozesse ausgegrenzt werden.
Eine zweite problematische Erfahrung bringe ich aus
der DDR mit: Gedenken darf niemals verordnetes, gar
zwanghaftes Erinnern sein. Dies hat der staatlich ange-
ordnete Antifaschismus uns nachdrücklich vor Augen
geführt. Aus einem ehedem authentischen und glaub-
würdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herr-
schaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der
SED-Diktatur. So wurden Gedenken und Erinnerung an
die nationalsozialistischen Verbrechen von vielen – ge-
wiß nicht von allen in der DDR – zunehmend als auto-
ritär und formelhaft empfunden und waren von proble-
matischer Wirkung. Die Erfolge der Rechtsextremisten
gerade in ostdeutschen Ländern sind auch ein spätes
Echo solch unfreier Erinnerung.
Wenn wir diese widersprüchlichen Erfahrungen ernst
nehmen, dann können wir mit aufmerksamer Gelassen-
heit feststellen: Jede Generation hat das Recht und steht
vor der Herausforderung, ihre eigene Form des Geden-
kens zu entwickeln. Sie muß sich dem Geschehen auf
ihre Art und Weise stellen, ihren eigenen Zugang suchen
und finden. Nur so halten wir unser kollektives Ge-
dächtnis in einer Weise lebendig, die für Jüngere und
Ältere, für Angehörige der Erlebnisgeneration wie ihre
Kinder und Kindeskinder einen gemeinsamen Horizont
des Verstehens und zugleich eine Basis des Gesprächs
über das Geschehene bietet.
Ich halte es im übrigen für ein Zeichen der Stärke un-
serer Demokratie, daß wir über diese Fragen gegenwär-
tig so intensiv debattieren. Es ist ein Stück Selbstaufklä-
rung der Gesellschaft, wenn sie öffentlich darüber dis-
kutiert, wie sie mit der Vergangenheit, mit der Erinne-
rung an die Zeiten der Inhumanität und Menschenver-
achtung, der Diskriminierung und des Genozids umge-
hen kann und will. Gerade deswegen ist die Kontroverse
um ein Holocaust-Denkmal in Berlin von solchem Ge-
wicht, und gerade deshalb gehört diese Debatte auch in
unser Parlament. Der Deutsche Bundestag wird sich in
den nächsten Wochen und Monaten diesem Thema auf
verantwortliche Weise widmen und hoffentlich zu einer
tragfähigen und überzeugenden Entscheidung kommen.
Meine Damen und Herren, neue Ansätze des Erin-
nerns – das bedeutet auch andere Formen des Geden-
kens im Deutschen Bundestag. Wir hören nun drei Stük-
ke aus dem „Requiem für einen polnischen Jungen“ –
einem Werk, das der Heidelberger Komponist Dietrich
Lohff nach Texten von Opfern der Nationalsozialisten
verfaßt hat.
Die Kunst ist ein wichtiges Medium der Erinnerung,
ein anderes ist die Sprache. Sie, sehr geehrter Herr
Bundespräsident, haben das öffentliche Wort stets in
ganz besonders unverwechselbarer Weise zu nutzen
gewußt: zu kritischen und differenzierten Stellung-
nahmen, aber ebenso zu Aussagen, die verbinden und
Gemeinschaft schaffen, Worte, in denen die gemein-
samen Aufgaben, Ziele und Überzeugungen unserer
parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kom-
men. Diese Übereinstimmung deutlich zu machen ist
an keinem Tag wichtiger als an unserem Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus. Ich möchte Sie
deshalb bitten, nach dem Requiem das Wort zu ergrei-
fen und zu uns zu sprechen.
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1195
(C)
(D)
Bundespräsident Dr. Roman Herzog: Herr Präsi-
dent! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Was
Menschen anderen Menschen an Leid und Grausamkei-
ten zufügen können, das ist tief in das individuelle wie
in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Deutschen ein-
gebrannt. Der heutige Tag, der auf die Befreiung von
Auschwitz hinweist, ist bleibende Erinnerung daran.
Aber die vergangenen Monate haben doch auch wie-
der gezeigt, daß wir – worauf ich oft genug hingewiesen
habe – die bleibende Form dieses Erinnerns noch nicht
gefunden haben. Wieder ist eine Debatte darüber ent-
standen, in welcher Form wir uns redlich an die Verbre-
chen des Nationalsozialismus erinnern sollten, ja sogar
auch wieder darüber, ob es – fünfzig Jahre nach dem
Ende des Grauens – überhaupt noch notwendig sei, daß
wir uns immer wieder von neuem selbst mit diesem Teil
unserer Geschichte konfrontieren.
Ich werde sogleich noch ein paar Worte zu den ernst-
hafteren Teilen der Diskussion sagen. Vorweg aber das
eine: Wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnerns
erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglich
ablassen. Das hat noch nicht einmal etwas mit National-
sozialismus und Holocaust zu tun, sondern es ergibt sich
aus zwei ganz einfachen, fast möchte ich sagen: banalen
Erfahrungen.
Ohne gründliches Wissen um seine Geschichte kann
auf die Dauer kein Volk bestehen. Das war in den
jüngstvergangenen Jahrzehnten zwar nicht immer völlig
unbestritten; aber diese Zeit ist, wenn ich recht sehe,
vorbei. So frei und so souverän ist überhaupt kein Volk,
daß es ohne Wissen um seine Vergangenheit bestehen
könnte.
Wenn ein Volk aber versucht, in und mit seiner Ge-
schichte zu leben, dann ist es sehr gut beraten, in und
mit seiner ganzen Geschichte und nicht nur mit ihren
guten und erfreulichen Teilen zu leben. Ich habe es
schon des öfteren gesagt und wiederhole es hier bewußt:
Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Natio-
nalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung aus-
zublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektu-
eller Feigheit, und Feigheit ist das letzte, was ich von
meinem Volk erleben möchte. Das hat für mich auch
nichts damit zu tun, ob uns andere immer wieder an un-
sere Geschichte erinnern, ja nicht einmal damit, aus
welchen Gründen und mit welcher Absicht sie das tun.
Unserer Geschichte haben wir uns ohne Rücksicht dar-
auf zu stellen, was andere aus ihr machen, und übrigens
auch ohne Rücksicht darauf, was andere aus ihrer eige-
nen Geschichte machen. Aufrechnungen und Hinweise
auf die Defizite anderer lenken nur von der Sache ab.
Wenn ich mich unserer Geschichte zu stellen versuche,
versuche ich das nicht in Schande, sondern ich versuche
es in Würde und mit Redlichkeit.
Aber – der Bundestagspräsident sagte es bereits – wir
leben in einer Zeit des Generationswechsels, in einer
Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur
Erinnerung an Mitgeteiltes. In einer solchen Zeit ist es
unerläßlich, daß man sich der Formen des Erinnerns
noch einmal in allem Ernst vergewissert. Deshalb war es
gut, daß die Debatte stattgefunden hat, die sich mit den
Namen Bubis und Walser verbindet. Es ist ohnehin im-
mer gut, wenn sich Positionen klären und wenn nicht
unausgesprochen bleibt, was viele Menschen – so oder
so – denken. Aber diese Debatte hat auch viele Gedan-
ken zutage gefördert, die wir in ihrer Bedeutung erst
richtig erkennen werden, wenn sich der unvermeidliche
Pulverdampf verzogen haben wird.
Ich will aber auch sagen, was mich an dieser De-
batte gestört hat. Martin Walsers Rede – man mag zu
ihr stehen, wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das
Vergessen plädiert – hat eine wichtige Auseinanderset-
zung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das
wohl auch. Diese Auseinandersetzung hat in der Tat
auch stattgefunden, teils in bemerkenswerten Diskussi-
onsbeiträgen von dritter Seite, teils in dem faszinieren-
den, glücklicherweise dokumentierten Streitgespräch
zwischen den beiden Hauptkontrahenten. Daneben aber
gab es gewissermaßen business as usual: Schon nach
kurzer Zeit fielen Teile der allgemeinen Debatte wieder
in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung zu-
rück – als stünden hier die ewigen Verdränger oder gar
Leugner und dort die ewigen Beschuldiger, ja Selbst-
beschuldiger. Solche Art der Auseinandersetzung ist
unsinnig und fruchtlos. Der Holocaust ist das aller-
letzte, was wir solchen primitiven Denkschablonen
oder, sagen wir es deutlich: der political correctness
überlassen dürfen.
Ich möchte nicht mißverstanden werden. Was ich hier
kritisiere, lag nicht an Ignatz Bubis. Ignatz Bubis legt
natürlich immer wieder den Finger in Wunden, die weh
tun, und löst damit auch manche heftige Reaktion aus.
Aber er hat den Schrecken der Lager am eigenen Leibe
erlebt, und er hat seine Angehörigen dort verloren. Er
hat also jedes Recht, in Fragen unserer Geschichte emp-
findlich, ja auch einmal leidenschaftlich zu reagieren.
Dennoch: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie gerade er
im Ausland für das heutige Deutschland eintritt und wie
er auch Ansprüche, die er für ungerecht hält, mit aller
Entschiedenheit zurückweist. Viel zu wenige bei uns
wissen um die Angriffe, denen er auch dieserhalb ausge-
setzt ist. Ich sage es geradeheraus: Ignatz Bubis ist ein
deutscher Patriot.
Aber ich will hier nicht über Personen reden, sondern
über die hinter uns liegende Debatte. An ihr hat mich
noch etwas ganz anderes nachdenklich gestimmt. Wie-
der einmal hat sie sich fast ausschließlich unter Vätern
und Großvätern, unter Müttern und Großmüttern abge-
spielt, und das, obwohl wir doch wissen, wie ernsthaft
sich große Teile unserer Jugend gerade auch mit den
Schattenseiten unserer Vergangenheit beschäftigen. Es
ist ja nur die eine Seite der Realität, wenn immer wieder
darauf hingewiesen wird, daß vielleicht ein Viertel die-
ser Jugend von den damaligen Verbrechen nichts weiß.
Andersherum gelesen bedeutet das doch, daß dann drei
Viertel sehr wohl Bescheid wissen. Ich möchte von hier
aus gerade jenen Opfern der NS-Zeit meinen Dank sa-
gen, die weder Mühe noch Aufwand, noch Schmerz
scheuen, um ihre Geschichte und ihre Erlebnisse in Ge-
sprächen mit jungen Menschen weiterzugeben, solange
es Alter und Gesundheit eben zulassen.
1196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Dennoch bleibt es wahr: Auch in der jüngsten De-
batte haben sich die jungen Menschen kaum hörbar ge-
macht. Ich frage mich, woran das liegt, denn, wie ge-
sagt, an fehlendem Wissen und fehlendem Interesse
kann es nach allem, was ich weiß und beobachte, nicht
liegen. Ich stelle nur eine Frage: Liegt es vielleicht dar-
an, daß die ältere Generation – was ihr gewiß niemand
verübeln kann – wieder einmal über ihre eigenen Ver-
wicklungen und Verkrampfungen diskutiert hat, nicht
aber darüber, was das alles für die jungen Menschen be-
deutet und welche Konsequenzen diese aus der Ge-
schichte ziehen sollen? Liegt es vielleicht sogar daran,
daß diese Jugend längst dabei ist, ihr eigenes Verhältnis
zu dieser Geschichte zu gewinnen, ohne daß das schon
in greifbaren Formeln seinen Ausdruck gefunden hätte?
Wie auch immer: Wenn es so wäre, dann hätten wir
darauf mehr zu achten als auf „richtiges“ Reden in der
Eltern- und Großelterngeneration. Denn wie die jungen
Menschen, die die Zukunft unseres Volkes bestimmen
werden, über die Frage denken, ist heute schon ungleich
wichtiger als alle Auseinandersetzungen und Begriffs-
klärungen zwischen denen, die sich damit nunmehr seit
über 50 Jahren befassen.
Es geht heute ja nicht mehr so sehr um die Frage, ob,
sondern es geht um die Frage, in welcher Weise wir uns
erinnern sollen. Die besondere Bedeutung, die diese
Fragestellung heute bekommt, entsteht dadurch, daß in-
zwischen die weit überwiegende Mehrheit der Deut-
schen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen
gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Neue
Generationen sind herangewachsen, so daß Erinnerung,
selbst in der jetzigen Elterngeneration, nur mehr eine
vermittelte, keine eigene mehr sein kann. Deshalb fehlt
der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
heute die zusätzliche Aufladung durch einen Generatio-
nenkonflikt wie in den 60er Jahren. Es fehlt ihr auch das
Tribunalartige, das sie lange Zeit, vielleicht unvermeid-
licherweise, bestimmt hat.
Meine Damen und Herren, das hat Folgen: Niemand
aus der jetzt in die Verantwortung hineinwachsenden
Kinder- und Enkelgeneration kann beispielsweise aus
der deutschen Vergangenheit heraustreten, indem er die
Pose moralischer Überlegenheit annimmt. Niemand
kann sich im nachhinein auf die Seite der Opfer oder der
Widerstandskämpfer phantasieren und politische Gegner
auf die Seite der Täter stellen. Der Nationalsozialismus
– wir mögen das wollen oder nicht – ist unser gemein-
sames, schreckliches Erbe.
Aber: Mit dem Verschwinden der Generation, aus der
viele durch persönliche Schuld, durch Mitläufertum oder
einfach durch Wegschauen in das Verbrechen verstrickt
waren, wird auch ein neues Hinsehen möglich. Das kann
doch auch eine große Hoffnung sein.
Eine Gefahr könnte freilich darin liegen, daß die Er-
innerung einfach ausbleibt, daß neue Generationen – wir
sprachen bereits darüber – einfach sagen, das alles gehe
sie nichts mehr an, und sie wollten deswegen auch
nichts mehr davon wissen. Ich sage hier mit allem
Nachdruck: Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Aus
eigener Erfahrung weiß ich, wie gesagt, daß die Kennt-
nisse über den Nationalsozialismus bei unseren Jugend-
lichen und jungen Erwachsenen beachtlich sind, vor al-
lem aber, daß das Interesse, sich weiterhin damit zu be-
schäftigen, groß ist. Es sind eher einige der Älteren, der
60- bis 70jährigen, die ihre Verdrängungswünsche auf
die Jugend projizieren oder sie ihr sogar einreden wol-
len. Das macht mir Mut zu sagen: Ich sehe eher die
Chancen.
Die jüngeren Leute kennen – ich nenne nur ein paar
Beispiele – die Tagebücher von Anne Frank, das Hitler-
Buch von Sebastian Haffner, die Tagebücher von Viktor
Klemperer, sie haben die Holocaust-Serie und „Schind-
lers Liste“ gesehen, sie fahren an die Orte des Schrek-
kens, sie pflegen Gedenkstätten und Gräber, sie arbeiten
an Dokumentationsprojekten ihrer Schulen mit, und sie
sehen sich auch die historischen Sendungen im Fernse-
hen an. Kein anderes Thema hat beim Schülerwettbe-
werb zur deutschen Geschichte so viele Einsendungen
gehabt wie die Ausschreibungen zum Thema „Alltag im
Nationalsozialismus“. Keine Frage: Unsere jungen
Leute diskutieren und forschen, sie fragen, sie schauen
hin.
Darin liegt die Chance, die Erinnerung wachzuhalten.
Dazu gehört es dann aber, daß die jüngeren Generatio-
nen nicht nur passive Zuhörer der alten bleiben. Ich
möchte direkt an diese Jüngeren appellieren, meine Da-
men und Herren: Wir brauchen Sie auch als aktive Dis-
kussionsteilnehmer. Wir brauchen Ihre Fragen, die
wahrscheinlich ganz anders sind als die unseren, wir
brauchen Ihre Sichtweisen, Ihre Art der Auseinanderset-
zung, Ihr Interesse. Und Sie sollten sich in die Diskus-
sionen einmischen. Ich sage es direkt: Brechen Sie mit
Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten
Sprachspiele auf! Wenn das gelingt, dann hat die Erin-
nerung eine Zukunft.
Zur Zukunft der Erinnerung gehört aber noch mehr.
Zunächst: Wir brauchen Orte der Erinnerung. Dabei
denke ich nicht allein an ein zentrales Mahnmal. Dar-
über soll und wird der Deutsche Bundestag entscheiden.
Ich bin froh, daß es eine lange, über weite Strecken au-
ßerordentlich ernsthafte und fruchtbringende Debatte
über das Mahnmal gegeben hat. Es muß aber jetzt bald
eine tragfähige Entscheidung getroffen werden.
Eines möchte ich aber hinzufügen: Wir Deutschen
müssen dieses Mahnmal um unserer selbst willen bauen.
Wir bauen es nicht für das Ausland, wir bauen es nicht
als Demonstration dauernder Schuld. Wir bauen es auch
nicht in wohlfeiler, letztlich aber unehrlicher Identifika-
tion mit den Opfern. Es muß das werden, was sein Name
sagt: gewiß eine bleibende Erinnerung an die Verbre-
chen, vor allem aber ein Gedenken an die Opfer und an
ihr Leid sowie ein Mahnmal für die jeweils Lebenden.
Wir sollten, über das ganze Land verbreitet, noch
mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung ha-
ben. Der Nationalsozialismus hat eben nicht nur in Ber-
lin stattgefunden, in Nürnberg oder in München. Überall
hat es Szenen des Schreckens gegeben. Überall gab es
Schulen, aus denen die jüdischen Kinder entfernt wur-
den. Überall gab es Geschäfte, die den Besitzern weg-
gnommen wurden. Überall hatte die SA ihre Verhör-
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1197
(C)
(D)
keller. Überall gab es Sammelstellen für die Transporte.
Wer sich nur ein wenig damit beschäftigt, der kann her-
ausfinden, wie sich das Verbrechen in das Land hinein-
gefressen hat, wie sich das Verbrechen ganz in seiner
nächsten Umgebung abgespielt hat.
Auch hier geht es nicht um deutsche Selbstbezichti-
gung. Durch die konkrete Erinnerung an konkreten Or-
ten wird die den späteren Generationen fremder werden-
de Geschichte als tatsächliche Realität greifbar. Die
Menschen sollen es wissen: Das alles hat sich nicht ir-
gendwo in einer grauen Vorzeit abgespielt, sondern hier,
in Deutschland, in meiner Stadt, in einer Zeit, in der es
schon Autos, Telefone und Radios gab, unter Menschen,
die nicht sehr viel anders lebten als wir. Die Topogra-
phie des Terrors läßt sich im alltäglichen Leben der Welt
finden.
Auch in der regionalen Aufarbeitung, in der konkre-
ten Suche nach Zeugnissen und Orten liegt übrigens eine
Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Na-
tionalsozialismus. Die Schule hat ihre besonderen Chan-
cen. Sie hat aber auch ihre Probleme; denn der National-
sozialismus ist kein Unterrichtsgegenstand wie alle an-
deren und auch kein beliebiges Objekt der Zeitge-
schichte. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung histo-
rischer Fakten. Wer sich dieser Geschichte stellt, der
wird als moralisches Subjekt selbst in Frage gestellt, der
muß sich doch einfach fragen: Wieso haben die Täter so
gehandelt, wieso die Mitläufer? Wieso konnten sie sich
nicht in ihre Opfer hineinfühlen? Wie funktioniert Ver-
führung? Wie funktioniert Massensuggestion? Er wird
auch um die Frage nicht herumkommen: Bin ich sicher,
daß ich nicht mitgemacht hätte? Wäre nicht auch ich nur
Zuschauer geblieben? Hätte nicht auch ich so furchtbare
Angst gehabt, daß ich eben nicht widerstanden hätte?
Die Beschäftigung mit dieser Zeit geht deshalb not-
wendigerweise mit der Erziehung zu Gewissensbildung
und Verantwortung einher. Dabei ist es für die Lehrer
und Erzieher gewiß schwierig, die rechte Balance zu
halten. Der Nationalsozialismus darf nicht nur als abge-
schlossener Lehrstoff einer endgültig vergangenen Ge-
schichte behandelt werden. Andererseits darf er aber
auch nicht durch platte und leichtfertige Aktualisierun-
gen zur Moraldidaktik herhalten müssen. Das würde nur
ein einzigartiges Verbrechen relativieren.
Lernziel – wenn man das überhaupt so nennen kann –
wäre nicht nur eine möglichst genaue Kenntnis dessen,
was im Dritten Reich geschehen ist, sondern auch so et-
was wie eine Einübung in Empathie, in das Sichhinein-
versetzen, das Hineinfühlen, und übrigens auch in Miß-
trauen gegen die großen Vereinfacher. Kenntnis der
Verbrechen und Gedenken an die Leiden sind zwei sehr
verschiedene Dinge. Aber wir brauchen beides, damit
die daraus erwachsenden Lehren tatsächlich in den Köp-
fen und Herzen ankommen. Das sind wirklich an-
spruchsvolle Ziele; aber mit weniger dürfen wir uns
nicht zufriedengeben.
Natürlich hat der Schulunterricht seine besonderen
Schwierigkeiten. Wie prinzipiell jeder Unterrichtsinhalt
auf den Widerwillen der Schüler stoßen kann – zum
Beispiel weil es eine nicht geliebte Schule ist, die ihn
vermittelt –, so kann die Ablehnung auch in diesem Fall
zu besonders fatalen Blockaden und Verweigerungshal-
tungen führen. Um der wichtigen Sache willen – und
nicht, um das Thema herunterzuspielen – muß hier des-
halb sehr sorgfältig – ich sage bewußt auch: sehr wohl-
überlegt – vorgegangen werden. Und vor allem: Die
Schule darf von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein
gelassen werden, nur weil es mehr als je zuvor um die
nachfolgenden Generationen geht.
Lassen Sie uns die Lerninhalte und die Lehrmethoden
sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorien-
tiert diskutieren! Auch das ist eine Aufgabe, die noch
vor uns steht. Denn daß es jetzt um die jungen Men-
schen in unserem Land geht, das müßte eigentlich vor
aller Augen sein. Darauf sollten wir uns endlich einstel-
len. Hier gibt es Dinge zu bedenken, die bisher nicht so
eindeutig waren.
Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist
nicht schuld an Auschwitz. Aber natürlich: Auch sie ist
in besonderem Maße verantwortlich dafür, daß sich so
etwas wie Holocaust und Auschwitz nicht und niemals
wiederholt. Die Mehrheit der heutigen Deutschen ist
auch nicht schuld an Selektion, Vertreibung und Völ-
kermord. Aber sie muß ihre besondere Verantwortung
dafür fühlen, daß da in der Welt, wo wir auch nur ein
wenig mitzureden haben, kein Platz mehr für diese Art
von Verbrechen sein darf.
Es trifft zu: Unser Erbe heißt Verantwortung. Aber
selbst diese Verantwortung bezieht sich, was die nach-
folgenden Generationen betrifft, nicht auf die Vergan-
genheit, sondern auf die Zukunft. Es gibt – um nur ein
Beispiel dafür zu nennen – eine falsche Einschätzung
des Nationalsozialismus, die gleichzeitig eine gefährli-
che Verharmlosung darstellt. Ich meine, wir sind heute
zu leicht geneigt, zu glauben, schon am Anfang, 1933,
hätte jeder sehen können, wohin das alles führen mußte.
Darüber kann man ja reden. Viele haben es ja damals
auch gesehen. Aber damit wird zugleich suggeriert, wir
seien heute intellektuell und moralisch gegen eine solche
Blindheit gefeit. Und das stimmt eben nicht. Das eine ist
eine historische Täuschung, das andere eine fromme Il-
lusion. Wenn wir den Anfängen wehren wollen, müssen
wir also unablässig wachsam sein.
Das gilt vor allem für den Antisemitismus. Der mag
in Deutschland gegenwärtig nicht größer sein als in an-
deren Ländern. Aber wenn bei uns noch immer jüdische
Gräber geschändet werden, muß uns das mehr in Empö-
rung und Gegenwehr versetzen als andere. Bei uns dür-
fen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen.
Aufmerksam sein müssen wir auch auf unseren
Sprachgebrauch. Schon antijüdische Redensarten und
Witze haben bei uns keinen Platz mehr. Manche Wörter
und Ausdrücke sind einfach – man mag es drehen und
wenden, wie man will – so beschmutzt, daß wir sie nie
mehr unbefangen in den Mund werden nehmen können.
Denken Sie nur an den Begriff „Selektion“ oder an ver-
gleichbare Begriffe.
Aufmerksam sein müssen wir auf alle Anzeichen von
Aussonderung, von Diskriminierung anderer wegen der
Herkunft, des Glaubens oder aus welchem Grund auch
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
1198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
immer. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich hinzufü-
gen: Da, wo es um berechtigte Ansprüche auf Entschä-
digung oder Wiedergutmachung geht, muß dafür gesorgt
werden, daß die Opfer bekommen, was ihnen zusteht.
Auch das hat nichts mit Instrumentalisierung oder mit
sogenannter ewiger Aufrechnung zu tun, sondern einzig
und allein mit Recht und Gerechtigkeit.
Eines ist klar: Auschwitz hat unser Bild vom Men-
schen verfinstert. Was einmal historische Wirklichkeit
war, gehört für immer zu den furchtbaren Möglichkeiten
des Menschen, deren Wiederholung – in welcher Form
auch immer – nicht ausgeschlossen werden kann. Die
Dämme und Sicherungen müssen also immer wieder
aufs neue gebaut werden.
Ivo Andric hat in seinem Roman „Die Brücke über
die Drina“ in ganz anderem Zusammenhang das folgen-
de geschrieben – ich zitiere –:
Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger.
Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich
nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der
guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war
jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die
Dämme waren weggeräumt. Wie oft in der
menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub,
ja auch Mord, stillschweigend zugelassen unter der
Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen,
unter festgelegten Losungen und gegen eine be-
grenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Na-
mens oder einer bestimmten Überzeugung verübt
wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen
Auges lebte, konnte sehen, wie sich eine ganze Ge-
sellschaft in einem Tage verwandelte.
Dieser Text handelt vom Jahr 1914. Wer ihn heute
liest, erkennt, daß „die Dämme der guten Sitten und der
Gesetze“ überall und jederzeit nur dann Bestand haben,
wenn sie ständig erneuert und gepflegt werden.
Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich in Deutsch-
land eine Gesellschaft entwickelt, in der es vieles
gibt, von dem man am Anfang nicht einmal zu träu-
men wagte. Wir haben ganz gewiß nicht die beste al-
ler denkbaren Welten. Aber wir haben einen Fundus
an Toleranz und Freiheit, an Demokratie und Rechts-
staatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Ent-
faltung, an sozialer Sicherheit, an Presse- und Mei-
nungsfreiheit erreicht, von dem wir alle profitieren
und über den wir uns alle freuen können. Jeder ein-
zelne dieser Aspekte unseres Gemeinwesens ist auch
eine Antithese zu dem, was der Nationalsozialismus
verkündet hat.
So ist Deutschland heute, und so kennt und respek-
tiert man es in der Welt. An der Verteidigung der Ge-
rechtigkeit, an der Stärke des Rechts, am Wert der Frei-
heit und am Schutz der Schwachen kann man heute
Deutschland erkennen. Das höre ich in vielen Ländern
der Welt, die ich besuche, und das ist nicht nur eine
politische Höflichkeitsfloskel. So soll es auch bleiben.
Natürlich müssen wir auch in diesen Fragen den Blick
nach vorn richten. Ein Grund zum Ausblenden der Ver-
gangenheit ist das aber nicht. Dazu geben uns die Opfer
das Recht nicht, und dazu gibt uns vor allem unsere
Verantwortung für die Zukunft des Menschen kein
Recht.
Musikalische Gestaltung:
Bonner Kammerchor, Kammerorchester
Leitung: Peter Henn
Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn
53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44
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Bundespräsident Dr. Roman Herzog
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1193
(C)
(D)
Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
Beginn: 11.01 Uhr
Herr Bundespräsi-
dent! Herr Bundeskanzler! Herr Bundesratspräsident!
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Wir geden-
ken heute, am Tag der Befreiung des Konzentrations-
und Vernichtungslagers Auschwitz vor 54 Jahren, aller
Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der
27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Sie, sehr ver-
ehrter Herr Bundespräsident, haben ihn 1996 prokla-
miert und damals betont, daß gerade dieses Gedenken
nicht in Ritualen erstarren darf.
Der 27. Januar ist für uns Deutsche Anlaß, öffentlich,
aber auch jeweils persönlich zurückzublicken auf eine
Phase unserer jüngeren Geschichte, auf ein Geschehen,
das noch immer alle Vorstellungskraft sprengt. Gerade
deshalb ist es unverzichtbar, im Erinnern zugleich die
Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ins Auge zu fas-
sen. Theodor W. Adornos bekannte Feststellung, die er-
ste Aufgabe an jede Erziehung sei, dafür Sorge zu tra-
gen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne,
richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen
von uns. Deshalb ist dieser Gedenktag eine nachdrückli-
che Forderung zur Wachsamkeit. Die Erinnerung an das
millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Ge-
waltherrschaft mit ihrem menschenverachtenden Ras-
senwahn über Europa und andere Teile der Welt ge-
bracht hat, verlangt, schon den Anfängen jeder Wieder-
holungsgefahr entgegenzutreten.
Um das gemeinsame Erinnern an das Geschehene hat
es in den vergangenen Wochen und Monaten in der
deutschen Öffentlichkeit eine intensive Debatte gege-
ben. Ich will auf die Art und Weise dieser Auseinander-
setzungen nicht eingehen, insbesondere nicht über Stil-
fragen urteilen. Wichtiger und zukunftsweisender ist die
Feststellung, daß diese Debatte notwendig und nützlich
ist. Wenn ich sie richtig wahrgenommen habe, hat diese
Debatte deutlich gemacht, daß wir derzeit in Politik und
Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen. Vie-
les von dem, was zuletzt kontrovers erörtert wurde,
hängt wohl zusammen mit dem Aufeinandertreffen un-
terschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen. Zu der
Generation derer, die die Schrecken des Nationalsozia-
lismus aus eigenem Erleben, aus schlimmsten Erfahrun-
gen kennen, und der Generation der Töchter und Söhne
der Opfer und der Täter treten die Jüngeren, denen das
ganze Ausmaß des Grauens, die Mechanismen der Aus-
grenzung, die menschenverachtende Brutalität der Täter,
die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Masse und vor
allem das unermeßliche Leid der Opfer nur über histori-
sches, also vermitteltes Wissen zugänglich gemacht
werden können. Die Frage dieser Vermittlung müssen
wir deshalb über fünf Jahrzehnte nach der Befreiung von
Auschwitz neu diskutieren. Die genannte Debatte hat
gezeigt, daß veränderte und erweiterte Zugänge zum
Geschehenen notwendig sind. Wir brauchen den gesell-
schaftlichen Diskurs über das richtige Maß, die ange-
messenen Formen des Erinnerns, wie Sie, sehr geehrter
Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede am 9. November
letzten Jahres in Berlin festgestellt haben.
Das richtige Maß, die angemessene Form zu finden
verlangt nach einer Prüfung in zweierlei Richtung: Was
ist dem entsetzlich Geschehenen angemessen? Was ist
für Gegenwart und Zukunft richtig? Ein Zuviel kann
problematisch sein, ein Zuwenig erst recht. „Darf man
nicht wissen wollen?“ – So hat Thomas Mann gefragt
und nach 1945 mit einem entschiedenen Nein geant-
wortet. Dieses Nein gilt bis heute für alle Demokraten
und – so hoffe ich – mit gleicher Entschiedenheit. Hal-
ten wir daran fest: Verpflichtende Erinnerung, Gedenken
der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen
Verantwortung – das war das moralische Fundament,
das gehörte zur Raison d'être der neubegründeten deut-
schen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Es
gibt keine kollektive Schuld, gewiß; aber das heißt nicht,
daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven
1194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. In
ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein,
nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher
Form auch immer, zuzulassen.
Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie der
künftigen Generationen, durch die Übernahme der poli-
tischen Haftung Verantwortung für die Vergangenheit
zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem
deutschen Staat begangenen Unmenschlichkeiten wach-
zuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen
keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formel-
ler Ritualisierung erstarren, sowenig Erinnerung gänz-
lich ohne Riten auskommt.
Gerade wegen dieser gemeinsamen Grundüberzeu-
gung gilt es, uns in Gesellschaft und Politik über die Art
und Weise des Erinnerns und Gedenkens immer neu zu
verständigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf
zwei problematische Erfahrungen hinweisen. Zum
einen: Historische Aufklärung soll und kann politisches
Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung
rufen. Daß sie auch zur Trauer um die Toten, zu Em-
pathie mit den Opfern führt, dessen können wir nicht
mehr so sicher sein. Zur Dialektik der Aufklärung – das
wissen wir inzwischen – gehört eben auch, daß sie als
einseitige, gar bloß rationale ihr Gegenteil bewirken
kann, nämlich die Kälte der Verdrängung. Insofern darf
gerade in der Annäherung an die nationalsozialistischen
Verbrechen nicht versäumt werden, das Entsetzliche so
zu vermitteln, daß es auch mit dem Herzen erfahren und
begriffen wird. Insofern auch ist Gedenken immer mehr
als aufgeklärtes Wissen, sosehr dieses Gedenken immer
auch und neu des Anstoßes durch historische, bestimmte
Erinnerung bedarf.
Zugleich aber gilt es, den jungen Menschen histori-
sches Wissen und emotionale Betroffenheit so zu ver-
mitteln, daß sie eine Beziehung zur Gegenwart, also ge-
genwärtige moralische Sensibilität und politische Ver-
antwortung ermöglichen. Betroffenheit, die bloß ratlos
macht, Wissen, das folgenlos bleibt, solcherart Ergeb-
nisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß
und gesellschaftlich folgenlos. Die Gefährdungen der
Demokratie, die Mechanismen von Stigmatisierung und
Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und
Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen
und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart
zu beobachten und in ihr zu handeln, darum geht es.
Was damals Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homo-
sexuelle, politische Gegner waren, das können heute an-
dere Personen und Gruppen sein, die durch Stigmatisie-
rungsprozesse ausgegrenzt werden.
Eine zweite problematische Erfahrung bringe ich aus
der DDR mit: Gedenken darf niemals verordnetes, gar
zwanghaftes Erinnern sein. Dies hat der staatlich ange-
ordnete Antifaschismus uns nachdrücklich vor Augen
geführt. Aus einem ehedem authentischen und glaub-
würdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herr-
schaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der
SED-Diktatur. So wurden Gedenken und Erinnerung an
die nationalsozialistischen Verbrechen von vielen – ge-
wiß nicht von allen in der DDR – zunehmend als auto-
ritär und formelhaft empfunden und waren von proble-
matischer Wirkung. Die Erfolge der Rechtsextremisten
gerade in ostdeutschen Ländern sind auch ein spätes
Echo solch unfreier Erinnerung.
Wenn wir diese widersprüchlichen Erfahrungen ernst
nehmen, dann können wir mit aufmerksamer Gelassen-
heit feststellen: Jede Generation hat das Recht und steht
vor der Herausforderung, ihre eigene Form des Geden-
kens zu entwickeln. Sie muß sich dem Geschehen auf
ihre Art und Weise stellen, ihren eigenen Zugang suchen
und finden. Nur so halten wir unser kollektives Ge-
dächtnis in einer Weise lebendig, die für Jüngere und
Ältere, für Angehörige der Erlebnisgeneration wie ihre
Kinder und Kindeskinder einen gemeinsamen Horizont
des Verstehens und zugleich eine Basis des Gesprächs
über das Geschehene bietet.
Ich halte es im übrigen für ein Zeichen der Stärke un-
serer Demokratie, daß wir über diese Fragen gegenwär-
tig so intensiv debattieren. Es ist ein Stück Selbstaufklä-
rung der Gesellschaft, wenn sie öffentlich darüber dis-
kutiert, wie sie mit der Vergangenheit, mit der Erinne-
rung an die Zeiten der Inhumanität und Menschenver-
achtung, der Diskriminierung und des Genozids umge-
hen kann und will. Gerade deswegen ist die Kontroverse
um ein Holocaust-Denkmal in Berlin von solchem Ge-
wicht, und gerade deshalb gehört diese Debatte auch in
unser Parlament. Der Deutsche Bundestag wird sich in
den nächsten Wochen und Monaten diesem Thema auf
verantwortliche Weise widmen und hoffentlich zu einer
tragfähigen und überzeugenden Entscheidung kommen.
Meine Damen und Herren, neue Ansätze des Erin-
nerns – das bedeutet auch andere Formen des Geden-
kens im Deutschen Bundestag. Wir hören nun drei Stük-
ke aus dem „Requiem für einen polnischen Jungen“ –
einem Werk, das der Heidelberger Komponist Dietrich
Lohff nach Texten von Opfern der Nationalsozialisten
verfaßt hat.
Die Kunst ist ein wichtiges Medium der Erinnerung,
ein anderes ist die Sprache. Sie, sehr geehrter Herr
Bundespräsident, haben das öffentliche Wort stets in
ganz besonders unverwechselbarer Weise zu nutzen
gewußt: zu kritischen und differenzierten Stellung-
nahmen, aber ebenso zu Aussagen, die verbinden und
Gemeinschaft schaffen, Worte, in denen die gemein-
samen Aufgaben, Ziele und Überzeugungen unserer
parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kom-
men. Diese Übereinstimmung deutlich zu machen ist
an keinem Tag wichtiger als an unserem Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus. Ich möchte Sie
deshalb bitten, nach dem Requiem das Wort zu ergrei-
fen und zu uns zu sprechen.
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1195
(C)
(D)
Bundespräsident Dr. Roman Herzog: Herr Präsi-
dent! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Was
Menschen anderen Menschen an Leid und Grausamkei-
ten zufügen können, das ist tief in das individuelle wie
in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Deutschen ein-
gebrannt. Der heutige Tag, der auf die Befreiung von
Auschwitz hinweist, ist bleibende Erinnerung daran.
Aber die vergangenen Monate haben doch auch wie-
der gezeigt, daß wir – worauf ich oft genug hingewiesen
habe – die bleibende Form dieses Erinnerns noch nicht
gefunden haben. Wieder ist eine Debatte darüber ent-
standen, in welcher Form wir uns redlich an die Verbre-
chen des Nationalsozialismus erinnern sollten, ja sogar
auch wieder darüber, ob es – fünfzig Jahre nach dem
Ende des Grauens – überhaupt noch notwendig sei, daß
wir uns immer wieder von neuem selbst mit diesem Teil
unserer Geschichte konfrontieren.
Ich werde sogleich noch ein paar Worte zu den ernst-
hafteren Teilen der Diskussion sagen. Vorweg aber das
eine: Wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnerns
erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglich
ablassen. Das hat noch nicht einmal etwas mit National-
sozialismus und Holocaust zu tun, sondern es ergibt sich
aus zwei ganz einfachen, fast möchte ich sagen: banalen
Erfahrungen.
Ohne gründliches Wissen um seine Geschichte kann
auf die Dauer kein Volk bestehen. Das war in den
jüngstvergangenen Jahrzehnten zwar nicht immer völlig
unbestritten; aber diese Zeit ist, wenn ich recht sehe,
vorbei. So frei und so souverän ist überhaupt kein Volk,
daß es ohne Wissen um seine Vergangenheit bestehen
könnte.
Wenn ein Volk aber versucht, in und mit seiner Ge-
schichte zu leben, dann ist es sehr gut beraten, in und
mit seiner ganzen Geschichte und nicht nur mit ihren
guten und erfreulichen Teilen zu leben. Ich habe es
schon des öfteren gesagt und wiederhole es hier bewußt:
Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Natio-
nalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung aus-
zublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektu-
eller Feigheit, und Feigheit ist das letzte, was ich von
meinem Volk erleben möchte. Das hat für mich auch
nichts damit zu tun, ob uns andere immer wieder an un-
sere Geschichte erinnern, ja nicht einmal damit, aus
welchen Gründen und mit welcher Absicht sie das tun.
Unserer Geschichte haben wir uns ohne Rücksicht dar-
auf zu stellen, was andere aus ihr machen, und übrigens
auch ohne Rücksicht darauf, was andere aus ihrer eige-
nen Geschichte machen. Aufrechnungen und Hinweise
auf die Defizite anderer lenken nur von der Sache ab.
Wenn ich mich unserer Geschichte zu stellen versuche,
versuche ich das nicht in Schande, sondern ich versuche
es in Würde und mit Redlichkeit.
Aber – der Bundestagspräsident sagte es bereits – wir
leben in einer Zeit des Generationswechsels, in einer
Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur
Erinnerung an Mitgeteiltes. In einer solchen Zeit ist es
unerläßlich, daß man sich der Formen des Erinnerns
noch einmal in allem Ernst vergewissert. Deshalb war es
gut, daß die Debatte stattgefunden hat, die sich mit den
Namen Bubis und Walser verbindet. Es ist ohnehin im-
mer gut, wenn sich Positionen klären und wenn nicht
unausgesprochen bleibt, was viele Menschen – so oder
so – denken. Aber diese Debatte hat auch viele Gedan-
ken zutage gefördert, die wir in ihrer Bedeutung erst
richtig erkennen werden, wenn sich der unvermeidliche
Pulverdampf verzogen haben wird.
Ich will aber auch sagen, was mich an dieser De-
batte gestört hat. Martin Walsers Rede – man mag zu
ihr stehen, wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das
Vergessen plädiert – hat eine wichtige Auseinanderset-
zung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das
wohl auch. Diese Auseinandersetzung hat in der Tat
auch stattgefunden, teils in bemerkenswerten Diskussi-
onsbeiträgen von dritter Seite, teils in dem faszinieren-
den, glücklicherweise dokumentierten Streitgespräch
zwischen den beiden Hauptkontrahenten. Daneben aber
gab es gewissermaßen business as usual: Schon nach
kurzer Zeit fielen Teile der allgemeinen Debatte wieder
in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung zu-
rück – als stünden hier die ewigen Verdränger oder gar
Leugner und dort die ewigen Beschuldiger, ja Selbst-
beschuldiger. Solche Art der Auseinandersetzung ist
unsinnig und fruchtlos. Der Holocaust ist das aller-
letzte, was wir solchen primitiven Denkschablonen
oder, sagen wir es deutlich: der political correctness
überlassen dürfen.
Ich möchte nicht mißverstanden werden. Was ich hier
kritisiere, lag nicht an Ignatz Bubis. Ignatz Bubis legt
natürlich immer wieder den Finger in Wunden, die weh
tun, und löst damit auch manche heftige Reaktion aus.
Aber er hat den Schrecken der Lager am eigenen Leibe
erlebt, und er hat seine Angehörigen dort verloren. Er
hat also jedes Recht, in Fragen unserer Geschichte emp-
findlich, ja auch einmal leidenschaftlich zu reagieren.
Dennoch: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie gerade er
im Ausland für das heutige Deutschland eintritt und wie
er auch Ansprüche, die er für ungerecht hält, mit aller
Entschiedenheit zurückweist. Viel zu wenige bei uns
wissen um die Angriffe, denen er auch dieserhalb ausge-
setzt ist. Ich sage es geradeheraus: Ignatz Bubis ist ein
deutscher Patriot.
Aber ich will hier nicht über Personen reden, sondern
über die hinter uns liegende Debatte. An ihr hat mich
noch etwas ganz anderes nachdenklich gestimmt. Wie-
der einmal hat sie sich fast ausschließlich unter Vätern
und Großvätern, unter Müttern und Großmüttern abge-
spielt, und das, obwohl wir doch wissen, wie ernsthaft
sich große Teile unserer Jugend gerade auch mit den
Schattenseiten unserer Vergangenheit beschäftigen. Es
ist ja nur die eine Seite der Realität, wenn immer wieder
darauf hingewiesen wird, daß vielleicht ein Viertel die-
ser Jugend von den damaligen Verbrechen nichts weiß.
Andersherum gelesen bedeutet das doch, daß dann drei
Viertel sehr wohl Bescheid wissen. Ich möchte von hier
aus gerade jenen Opfern der NS-Zeit meinen Dank sa-
gen, die weder Mühe noch Aufwand, noch Schmerz
scheuen, um ihre Geschichte und ihre Erlebnisse in Ge-
sprächen mit jungen Menschen weiterzugeben, solange
es Alter und Gesundheit eben zulassen.
1196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
Dennoch bleibt es wahr: Auch in der jüngsten De-
batte haben sich die jungen Menschen kaum hörbar ge-
macht. Ich frage mich, woran das liegt, denn, wie ge-
sagt, an fehlendem Wissen und fehlendem Interesse
kann es nach allem, was ich weiß und beobachte, nicht
liegen. Ich stelle nur eine Frage: Liegt es vielleicht dar-
an, daß die ältere Generation – was ihr gewiß niemand
verübeln kann – wieder einmal über ihre eigenen Ver-
wicklungen und Verkrampfungen diskutiert hat, nicht
aber darüber, was das alles für die jungen Menschen be-
deutet und welche Konsequenzen diese aus der Ge-
schichte ziehen sollen? Liegt es vielleicht sogar daran,
daß diese Jugend längst dabei ist, ihr eigenes Verhältnis
zu dieser Geschichte zu gewinnen, ohne daß das schon
in greifbaren Formeln seinen Ausdruck gefunden hätte?
Wie auch immer: Wenn es so wäre, dann hätten wir
darauf mehr zu achten als auf „richtiges“ Reden in der
Eltern- und Großelterngeneration. Denn wie die jungen
Menschen, die die Zukunft unseres Volkes bestimmen
werden, über die Frage denken, ist heute schon ungleich
wichtiger als alle Auseinandersetzungen und Begriffs-
klärungen zwischen denen, die sich damit nunmehr seit
über 50 Jahren befassen.
Es geht heute ja nicht mehr so sehr um die Frage, ob,
sondern es geht um die Frage, in welcher Weise wir uns
erinnern sollen. Die besondere Bedeutung, die diese
Fragestellung heute bekommt, entsteht dadurch, daß in-
zwischen die weit überwiegende Mehrheit der Deut-
schen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen
gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Neue
Generationen sind herangewachsen, so daß Erinnerung,
selbst in der jetzigen Elterngeneration, nur mehr eine
vermittelte, keine eigene mehr sein kann. Deshalb fehlt
der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
heute die zusätzliche Aufladung durch einen Generatio-
nenkonflikt wie in den 60er Jahren. Es fehlt ihr auch das
Tribunalartige, das sie lange Zeit, vielleicht unvermeid-
licherweise, bestimmt hat.
Meine Damen und Herren, das hat Folgen: Niemand
aus der jetzt in die Verantwortung hineinwachsenden
Kinder- und Enkelgeneration kann beispielsweise aus
der deutschen Vergangenheit heraustreten, indem er die
Pose moralischer Überlegenheit annimmt. Niemand
kann sich im nachhinein auf die Seite der Opfer oder der
Widerstandskämpfer phantasieren und politische Gegner
auf die Seite der Täter stellen. Der Nationalsozialismus
– wir mögen das wollen oder nicht – ist unser gemein-
sames, schreckliches Erbe.
Aber: Mit dem Verschwinden der Generation, aus der
viele durch persönliche Schuld, durch Mitläufertum oder
einfach durch Wegschauen in das Verbrechen verstrickt
waren, wird auch ein neues Hinsehen möglich. Das kann
doch auch eine große Hoffnung sein.
Eine Gefahr könnte freilich darin liegen, daß die Er-
innerung einfach ausbleibt, daß neue Generationen – wir
sprachen bereits darüber – einfach sagen, das alles gehe
sie nichts mehr an, und sie wollten deswegen auch
nichts mehr davon wissen. Ich sage hier mit allem
Nachdruck: Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Aus
eigener Erfahrung weiß ich, wie gesagt, daß die Kennt-
nisse über den Nationalsozialismus bei unseren Jugend-
lichen und jungen Erwachsenen beachtlich sind, vor al-
lem aber, daß das Interesse, sich weiterhin damit zu be-
schäftigen, groß ist. Es sind eher einige der Älteren, der
60- bis 70jährigen, die ihre Verdrängungswünsche auf
die Jugend projizieren oder sie ihr sogar einreden wol-
len. Das macht mir Mut zu sagen: Ich sehe eher die
Chancen.
Die jüngeren Leute kennen – ich nenne nur ein paar
Beispiele – die Tagebücher von Anne Frank, das Hitler-
Buch von Sebastian Haffner, die Tagebücher von Viktor
Klemperer, sie haben die Holocaust-Serie und „Schind-
lers Liste“ gesehen, sie fahren an die Orte des Schrek-
kens, sie pflegen Gedenkstätten und Gräber, sie arbeiten
an Dokumentationsprojekten ihrer Schulen mit, und sie
sehen sich auch die historischen Sendungen im Fernse-
hen an. Kein anderes Thema hat beim Schülerwettbe-
werb zur deutschen Geschichte so viele Einsendungen
gehabt wie die Ausschreibungen zum Thema „Alltag im
Nationalsozialismus“. Keine Frage: Unsere jungen
Leute diskutieren und forschen, sie fragen, sie schauen
hin.
Darin liegt die Chance, die Erinnerung wachzuhalten.
Dazu gehört es dann aber, daß die jüngeren Generatio-
nen nicht nur passive Zuhörer der alten bleiben. Ich
möchte direkt an diese Jüngeren appellieren, meine Da-
men und Herren: Wir brauchen Sie auch als aktive Dis-
kussionsteilnehmer. Wir brauchen Ihre Fragen, die
wahrscheinlich ganz anders sind als die unseren, wir
brauchen Ihre Sichtweisen, Ihre Art der Auseinanderset-
zung, Ihr Interesse. Und Sie sollten sich in die Diskus-
sionen einmischen. Ich sage es direkt: Brechen Sie mit
Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten
Sprachspiele auf! Wenn das gelingt, dann hat die Erin-
nerung eine Zukunft.
Zur Zukunft der Erinnerung gehört aber noch mehr.
Zunächst: Wir brauchen Orte der Erinnerung. Dabei
denke ich nicht allein an ein zentrales Mahnmal. Dar-
über soll und wird der Deutsche Bundestag entscheiden.
Ich bin froh, daß es eine lange, über weite Strecken au-
ßerordentlich ernsthafte und fruchtbringende Debatte
über das Mahnmal gegeben hat. Es muß aber jetzt bald
eine tragfähige Entscheidung getroffen werden.
Eines möchte ich aber hinzufügen: Wir Deutschen
müssen dieses Mahnmal um unserer selbst willen bauen.
Wir bauen es nicht für das Ausland, wir bauen es nicht
als Demonstration dauernder Schuld. Wir bauen es auch
nicht in wohlfeiler, letztlich aber unehrlicher Identifika-
tion mit den Opfern. Es muß das werden, was sein Name
sagt: gewiß eine bleibende Erinnerung an die Verbre-
chen, vor allem aber ein Gedenken an die Opfer und an
ihr Leid sowie ein Mahnmal für die jeweils Lebenden.
Wir sollten, über das ganze Land verbreitet, noch
mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung ha-
ben. Der Nationalsozialismus hat eben nicht nur in Ber-
lin stattgefunden, in Nürnberg oder in München. Überall
hat es Szenen des Schreckens gegeben. Überall gab es
Schulen, aus denen die jüdischen Kinder entfernt wur-
den. Überall gab es Geschäfte, die den Besitzern weg-
gnommen wurden. Überall hatte die SA ihre Verhör-
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1197
(C)
(D)
keller. Überall gab es Sammelstellen für die Transporte.
Wer sich nur ein wenig damit beschäftigt, der kann her-
ausfinden, wie sich das Verbrechen in das Land hinein-
gefressen hat, wie sich das Verbrechen ganz in seiner
nächsten Umgebung abgespielt hat.
Auch hier geht es nicht um deutsche Selbstbezichti-
gung. Durch die konkrete Erinnerung an konkreten Or-
ten wird die den späteren Generationen fremder werden-
de Geschichte als tatsächliche Realität greifbar. Die
Menschen sollen es wissen: Das alles hat sich nicht ir-
gendwo in einer grauen Vorzeit abgespielt, sondern hier,
in Deutschland, in meiner Stadt, in einer Zeit, in der es
schon Autos, Telefone und Radios gab, unter Menschen,
die nicht sehr viel anders lebten als wir. Die Topogra-
phie des Terrors läßt sich im alltäglichen Leben der Welt
finden.
Auch in der regionalen Aufarbeitung, in der konkre-
ten Suche nach Zeugnissen und Orten liegt übrigens eine
Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Na-
tionalsozialismus. Die Schule hat ihre besonderen Chan-
cen. Sie hat aber auch ihre Probleme; denn der National-
sozialismus ist kein Unterrichtsgegenstand wie alle an-
deren und auch kein beliebiges Objekt der Zeitge-
schichte. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung histo-
rischer Fakten. Wer sich dieser Geschichte stellt, der
wird als moralisches Subjekt selbst in Frage gestellt, der
muß sich doch einfach fragen: Wieso haben die Täter so
gehandelt, wieso die Mitläufer? Wieso konnten sie sich
nicht in ihre Opfer hineinfühlen? Wie funktioniert Ver-
führung? Wie funktioniert Massensuggestion? Er wird
auch um die Frage nicht herumkommen: Bin ich sicher,
daß ich nicht mitgemacht hätte? Wäre nicht auch ich nur
Zuschauer geblieben? Hätte nicht auch ich so furchtbare
Angst gehabt, daß ich eben nicht widerstanden hätte?
Die Beschäftigung mit dieser Zeit geht deshalb not-
wendigerweise mit der Erziehung zu Gewissensbildung
und Verantwortung einher. Dabei ist es für die Lehrer
und Erzieher gewiß schwierig, die rechte Balance zu
halten. Der Nationalsozialismus darf nicht nur als abge-
schlossener Lehrstoff einer endgültig vergangenen Ge-
schichte behandelt werden. Andererseits darf er aber
auch nicht durch platte und leichtfertige Aktualisierun-
gen zur Moraldidaktik herhalten müssen. Das würde nur
ein einzigartiges Verbrechen relativieren.
Lernziel – wenn man das überhaupt so nennen kann –
wäre nicht nur eine möglichst genaue Kenntnis dessen,
was im Dritten Reich geschehen ist, sondern auch so et-
was wie eine Einübung in Empathie, in das Sichhinein-
versetzen, das Hineinfühlen, und übrigens auch in Miß-
trauen gegen die großen Vereinfacher. Kenntnis der
Verbrechen und Gedenken an die Leiden sind zwei sehr
verschiedene Dinge. Aber wir brauchen beides, damit
die daraus erwachsenden Lehren tatsächlich in den Köp-
fen und Herzen ankommen. Das sind wirklich an-
spruchsvolle Ziele; aber mit weniger dürfen wir uns
nicht zufriedengeben.
Natürlich hat der Schulunterricht seine besonderen
Schwierigkeiten. Wie prinzipiell jeder Unterrichtsinhalt
auf den Widerwillen der Schüler stoßen kann – zum
Beispiel weil es eine nicht geliebte Schule ist, die ihn
vermittelt –, so kann die Ablehnung auch in diesem Fall
zu besonders fatalen Blockaden und Verweigerungshal-
tungen führen. Um der wichtigen Sache willen – und
nicht, um das Thema herunterzuspielen – muß hier des-
halb sehr sorgfältig – ich sage bewußt auch: sehr wohl-
überlegt – vorgegangen werden. Und vor allem: Die
Schule darf von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein
gelassen werden, nur weil es mehr als je zuvor um die
nachfolgenden Generationen geht.
Lassen Sie uns die Lerninhalte und die Lehrmethoden
sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorien-
tiert diskutieren! Auch das ist eine Aufgabe, die noch
vor uns steht. Denn daß es jetzt um die jungen Men-
schen in unserem Land geht, das müßte eigentlich vor
aller Augen sein. Darauf sollten wir uns endlich einstel-
len. Hier gibt es Dinge zu bedenken, die bisher nicht so
eindeutig waren.
Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist
nicht schuld an Auschwitz. Aber natürlich: Auch sie ist
in besonderem Maße verantwortlich dafür, daß sich so
etwas wie Holocaust und Auschwitz nicht und niemals
wiederholt. Die Mehrheit der heutigen Deutschen ist
auch nicht schuld an Selektion, Vertreibung und Völ-
kermord. Aber sie muß ihre besondere Verantwortung
dafür fühlen, daß da in der Welt, wo wir auch nur ein
wenig mitzureden haben, kein Platz mehr für diese Art
von Verbrechen sein darf.
Es trifft zu: Unser Erbe heißt Verantwortung. Aber
selbst diese Verantwortung bezieht sich, was die nach-
folgenden Generationen betrifft, nicht auf die Vergan-
genheit, sondern auf die Zukunft. Es gibt – um nur ein
Beispiel dafür zu nennen – eine falsche Einschätzung
des Nationalsozialismus, die gleichzeitig eine gefährli-
che Verharmlosung darstellt. Ich meine, wir sind heute
zu leicht geneigt, zu glauben, schon am Anfang, 1933,
hätte jeder sehen können, wohin das alles führen mußte.
Darüber kann man ja reden. Viele haben es ja damals
auch gesehen. Aber damit wird zugleich suggeriert, wir
seien heute intellektuell und moralisch gegen eine solche
Blindheit gefeit. Und das stimmt eben nicht. Das eine ist
eine historische Täuschung, das andere eine fromme Il-
lusion. Wenn wir den Anfängen wehren wollen, müssen
wir also unablässig wachsam sein.
Das gilt vor allem für den Antisemitismus. Der mag
in Deutschland gegenwärtig nicht größer sein als in an-
deren Ländern. Aber wenn bei uns noch immer jüdische
Gräber geschändet werden, muß uns das mehr in Empö-
rung und Gegenwehr versetzen als andere. Bei uns dür-
fen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen.
Aufmerksam sein müssen wir auch auf unseren
Sprachgebrauch. Schon antijüdische Redensarten und
Witze haben bei uns keinen Platz mehr. Manche Wörter
und Ausdrücke sind einfach – man mag es drehen und
wenden, wie man will – so beschmutzt, daß wir sie nie
mehr unbefangen in den Mund werden nehmen können.
Denken Sie nur an den Begriff „Selektion“ oder an ver-
gleichbare Begriffe.
Aufmerksam sein müssen wir auf alle Anzeichen von
Aussonderung, von Diskriminierung anderer wegen der
Herkunft, des Glaubens oder aus welchem Grund auch
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
1198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999
(C)
immer. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich hinzufü-
gen: Da, wo es um berechtigte Ansprüche auf Entschä-
digung oder Wiedergutmachung geht, muß dafür gesorgt
werden, daß die Opfer bekommen, was ihnen zusteht.
Auch das hat nichts mit Instrumentalisierung oder mit
sogenannter ewiger Aufrechnung zu tun, sondern einzig
und allein mit Recht und Gerechtigkeit.
Eines ist klar: Auschwitz hat unser Bild vom Men-
schen verfinstert. Was einmal historische Wirklichkeit
war, gehört für immer zu den furchtbaren Möglichkeiten
des Menschen, deren Wiederholung – in welcher Form
auch immer – nicht ausgeschlossen werden kann. Die
Dämme und Sicherungen müssen also immer wieder
aufs neue gebaut werden.
Ivo Andric hat in seinem Roman „Die Brücke über
die Drina“ in ganz anderem Zusammenhang das folgen-
de geschrieben – ich zitiere –:
Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger.
Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich
nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der
guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war
jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die
Dämme waren weggeräumt. Wie oft in der
menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub,
ja auch Mord, stillschweigend zugelassen unter der
Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen,
unter festgelegten Losungen und gegen eine be-
grenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Na-
mens oder einer bestimmten Überzeugung verübt
wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen
Auges lebte, konnte sehen, wie sich eine ganze Ge-
sellschaft in einem Tage verwandelte.
Dieser Text handelt vom Jahr 1914. Wer ihn heute
liest, erkennt, daß „die Dämme der guten Sitten und der
Gesetze“ überall und jederzeit nur dann Bestand haben,
wenn sie ständig erneuert und gepflegt werden.
Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich in Deutsch-
land eine Gesellschaft entwickelt, in der es vieles
gibt, von dem man am Anfang nicht einmal zu träu-
men wagte. Wir haben ganz gewiß nicht die beste al-
ler denkbaren Welten. Aber wir haben einen Fundus
an Toleranz und Freiheit, an Demokratie und Rechts-
staatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Ent-
faltung, an sozialer Sicherheit, an Presse- und Mei-
nungsfreiheit erreicht, von dem wir alle profitieren
und über den wir uns alle freuen können. Jeder ein-
zelne dieser Aspekte unseres Gemeinwesens ist auch
eine Antithese zu dem, was der Nationalsozialismus
verkündet hat.
So ist Deutschland heute, und so kennt und respek-
tiert man es in der Welt. An der Verteidigung der Ge-
rechtigkeit, an der Stärke des Rechts, am Wert der Frei-
heit und am Schutz der Schwachen kann man heute
Deutschland erkennen. Das höre ich in vielen Ländern
der Welt, die ich besuche, und das ist nicht nur eine
politische Höflichkeitsfloskel. So soll es auch bleiben.
Natürlich müssen wir auch in diesen Fragen den Blick
nach vorn richten. Ein Grund zum Ausblenden der Ver-
gangenheit ist das aber nicht. Dazu geben uns die Opfer
das Recht nicht, und dazu gibt uns vor allem unsere
Verantwortung für die Zukunft des Menschen kein
Recht.
Musikalische Gestaltung:
Bonner Kammerchor, Kammerorchester
Leitung: Peter Henn