Herr Kollege
Schemken, ich teile Ihre Auffassung. Ich halte es für
sehr bedenklich, daß man das erfolgreiche Sozialversi-
cherungssystem, das auf dem Prinzip Leistung und
Gegenleistung gründet, hier erstmals in systemwidriger
Weise zu sprengen versucht, indem das Prinzip Leistung
nicht mehr dem Prinzip Gegenleistung entsprechen soll.
Ich halte das für eine gravierende Verschlechterung, für
einen gefährlichen Eingriff auch in die Grundsätze
unseres bewährten Sozialversicherungssystems. Ich
warne schon heute alle Arbeitnehmer und auch Arbeit-
geber, was die Folgen, auch in anderen Systemen, be-
trifft: Wo ist das Ende, wenn man hier einmal anfängt?
Ich teile alle Befürchtungen, die Sie hier angesprochen
haben.
Die jetzige Regelung führt zu einer Reihe von absur-
den Konstellationen. Ein Teil ist hier schon angespro-
chen worden. Ich darf noch zwei Beispiele hinzufügen.
Der jetzige Entwurf stellt die 630-DM-Jobs hinsichtlich
des Arbeitnehmerbeitrags besser, weil die geringfügig
beschäftigten Arbeitnehmer nur 7,5 Prozent zahlen,
während ein Familienvater und auch jeder andere Ar-
beitnehmer 10 Prozent Beiträge von seinem normalen
Verdienst entrichten muß.
Die Ungerechtigkeiten, die es bei Verheirateten mit
sich bringt, wenn ein Ehepartner nur einen 630-DM-Job
hat, sind schon geschildert worden. Das führt dazu, daß
beispielsweise die Frau eines Generaldirektors keine
Steuern zu zahlen braucht, wenn sie nur einen 630-DM-
Job zusätzlich zum Verdienst des Mannes hat,
während eine alleinerziehende junge Mutter, die auf
mehrere Verdienstquellen angewiesen ist, steuerpflichtig
wird. Das ist eine grobe Ungerechtigkeit.
Die jetzt noch kurzfristig eingeführte Regelung mit
dem Betriebsrat wird in der Konsequenz eine neue
Quotenregelung bedeuten, die Sie ganz am Anfang der
Debatte, also anläßlich Ihres Innovationskongresses im
Jahre 1997, schon einmal angekündigt haben.
Das einzig wirklich Beschäftigungsfördernde dieser
neuen Lösung ist ein Beschäftigungsprogramm für mehr
Bürokratie und Verwaltung. So muß der Arbeitnehmer
künftig eine Erklärung abgeben, daß er keine weiteren
Einkünfte erzielt. Der Arbeitgeber muß diese Belege
zum Lohnkonto nehmen. Zusätzlich hat der Arbeitgeber
den steuerfrei gezahlten Arbeitslohn auf der Lohnsteu-
erkarte oder auf einer Bescheinigung einzutragen. Der
Umfang der Prüfungspflicht der zuständigen Finanzäm-
ter und Sozialbehörden wird immens ausgedehnt.
Der vorliegende Gesetzentwurf erreicht, wenn Sie
ehrlich sind, das von Ihnen selbst gesteckte Ziel nicht.
Die Situation bei den geringfügig Beschäftigten wird
nicht besser, sondern schlechter.
Noch ein wichtiger Punkt: Viele Nachbarschaftshil-
fen gerade im karitativen Bereich führt die neue Rege-
lung in Existenzkrisen, weil viele im freiwilligen sozia-
len Bürgerengagement tätige Nachbarn die Pauschal-
steuer bisher nicht zahlen mußten, jetzt aber ihr Arbeit-
geber die Sozialversicherungsbeiträge auf alle Fälle ent-
richten muß.
Beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft ökumenischer
Nachbarschaftshilfe und Sozialdienste aus München er-
klärt, daß diese Neuregelung sie künftig vor unlösbare
finanzielle Probleme stellen wird – mit allen Folgen, die
das in bezug auf die Nachbarschaftshilfe und gerade auf
die Pflegebedürftigen mit sich bringt.
Deshalb mein Rat an Sie: Überarbeiten Sie diesen
Gesetzentwurf. Wenn Sie schon uns, den Wohlfahrts-
verbänden, den Gewerkschaften und vielen anderen,
nicht glauben, dann sollten Sie wenigstens Ihren eigenen
Parteigenossen, zum Beispiel Frau Ministerpräsidentin
Simonis oder Herrn Sozialminister Florian Gerster,
glauben, der erst am Montag im „Handelsblatt“ erklärt
hat: Das steht auf wackligem Grund.
Das steht nicht nur auf wackligem Grund. Das ist oh-
ne jedes Fundament. Mein Rat an Sie: Schubladisieren
Sie diesen Entwurf schleunigst.