Gesamtes Protokol
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich einigen Kollegen ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren. Ich beginne mit Herrn Kollegen Dr. Helmut Lippelt, dem wir ganz herzlich zum 65. Geburtstag am 24. März gratulieren;
dem Kollegen Johannes Nitsch gratulieren wir zu seinem 60. Geburtstag, den er ebenfalls am 24. März feiern konnte,
sowie dem Kollegen Werner Labsch, der am 15. April seinen 60. Geburtstag beging.
Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
2. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Elektrizitätswirtschaft - Drucksache 13/7425 -
3. Vereinbarte Debatte zur Iran-Politik
4. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annelle Buntenbach, Marieluise Beck , Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeits- und soziallrechtlicher Schutz für abhängige Selbständige - Drucksache 13/ 7421 -
5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in China im Rahmen der gemeinsamen Außenpolitik der EU
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Günter Graf , Robert Leidinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Abschiebepraxis von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina - Drucksache 13/7424 -
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, Heidemarie Lüth und der Gruppe der PDS: Auftrag zur Erweiterung des Vierten Berichtes der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation - Drucksache 13/7422 -
8. Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Strafverfolgung für DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität - Drucksache 13/7423 -
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Des weiteren ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 8, der Anträge zur Wehrmachtsausstellung betrifft, den Tagesordnungspunkt 10, Rehabilitation und Kuren, sowie Tagesordnungspunkte 16 a und b zur Großen Anfrage der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion abzusetzen.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 157. Sitzung des Deutschen Bundestages am
20. Februar 1997 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Abgeordneten Peter Conradi, Norbert Gansel, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre - Drucksache 13/6452 -
überwiesen:
Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Der in der 163. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. März 1997 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten - Drucksache 13/7163 -
überwiesen:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Der in der 167. Sitzung des Deutschen Bundestages am
21. März 1997 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eines Steuerreformgesetzes 1998 - Drucksache 13/7242 -
überwiesen:
Finanzausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingberachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts
- Drucksache 13/7274 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Michaele Hustedt, Gila Altmann , Franziska Eichstädt-Bohlig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Energiewirtschaft (EnergieG)
- Drucksache 13/5352 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
ZP2 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Elektrizitätswirtschaft
- Drucksache 13/7425 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entsprechend.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Reform des Energierechts geht es mir nicht um ordnungspolitische Rechthaberei.
Es geht vielmehr um eine effiziente und wettbewerbsfähige Energieversorgung in Deutschland. Es
geht um preisgünstige und umweltfreundliche Energie. Letztlich geht es um Arbeitsplätze in diesem Land.
Eines ist klar: Diese Ziele werden wir nicht erreichen, wenn wir das alte, das gegenwärtige System fortbestehen lassen.
Die heutigen Monopolstrukturen, verankert im System der geschlossenen Versorgungsgebiete, sind ein schwerwiegender Nachteil für unsere Wirtschaft. Sie bieten wenig Anreiz für Innovationen und Kostensenkungen; sie bieten weniger, als es unter dem Druck des Wettbewerbs in anderen Branchen der Fall ist. Die Monopolstrukturen sind in der Form, wie sie existieren, ein Standortnachteil für Deutschland geworden.
Wir haben im gewerblichen Bereich Strompreise, die durchschnittlich 20 bis 30 Prozent über denen benachbarter Staaten liegen. Der Mangel an Wettbewerbserfahrung schwächt die internationale Position der deutschen Energiewirtschaft, wenn es darum geht, bei der Privatisierung in anderen Ländern beteiligt zu sein oder Betreibermodelle anzugehen. Eine Reform des Energiewirtschaftsrechts ist unausweichlich.
Ein unverzichtbares Kernelement dieser Reform muß es sein, die geschlossenen Versorgungsgebiete bei Strom und Gäs aufzuheben. Nur dadurch wird Wettbewerb möglich, und nur dadurch werden die enormen Rationalisierungsreserven, die in der Energiewirtschaft bestehen, aufgedeckt - Reserven, die in der Technik und in der Organisation der Betriebe existieren. Der Wettbewerb, der nun entsteht, wird innovative Unternehmen hervorbringen, die mit einer schlankeren Organisation, modernster Technik und - anders als bisher - mit intelligenten Dienstleistungen an den Markt gehen.
Meine Damen und Herren, durch Rationalisierung und Kostendruck werden die Preise insgesamt sinken. Es gibt Schätzungen, wonach das preiswirksame Einsparpotential in der deutschen Stromwirtschaft bei 25 Prozent liegt. Die staatliche Aufsicht über die Stromtarife, die erhalten bleibt, soll gewährleisten, daß alle Abnehmer davon profitieren.
Abgesehen davon liegt es im wirtschaftlichen Interesse der Versorgungsunternehmen, daß nicht nur, wie immer behauptet wird, einige wenige Großkunden, sondern alle Abnehmer an der besseren Preissituation partizipieren werden. Nur so können die Versorger ihre Marktposition langfristig sichern. Sie können keine Selektion zu Lasten der kleinen Verbraucher betreiben.
In einer Umfrage von Arthur D. Little rechneten auch diejenigen Unternehmen, die einen Energieverbrauch von weniger als 5 Megawatt pro Jahr haben - das sind mittlere Unternehmen -, mit deutlich niedrigeren Strompreisen. Alles andere, was von der Opposition behauptet wird, ist Legende.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Mit dieser Reform wird es im übrigen zu keinem übermäßigen Konzentrationsprozeß in der Strom- und Gaswirtschaft kommen. Im Gegenteil: Es werden zusätzliche Anbieter in die Strom- und Gasmärkte vorstoßen. Zugleich wollen wir durch diesen Gesetzentwurf mehr Transparenz bei den Unternehmen erreichen, indem wir eine Trennung der Rechnungslegung für die Bereiche Erzeugung, Übertragung und Verteilung gesetzlich festlegen. Das sogenannte Unbundling wird in Deutschland durch die Umsetzung dieses Gesetzes herbeigeführt.
Nun gibt es auch solche, die behaupten, daß die kommunalen Versorger künftig im Wettbewerb keine Chance hätten. Wer das meint, der unterschätzt offensichtlich die Leistungsfähigkeit vieler Stadtwerke und übersieht auch, daß sich viele Stadtwerke - das sind nicht unbedingt diejenigen, die laut auf sich aufmerksam machen; aber es sind viele - auf den Wettbewerb, der ins Haus steht, freuen und darauf, daß sie die Synergieeffekte geltend machen können, die auf Grund des Wettbewerbs entstehen.
Die Stadtwerke können umfassende Dienstleistungen anbieten. Sie befinden sich nach wie vor nahe am Kunden. Sie sind starke Konkurrenten auf Grund der gewachsenen Strukturen, zumal sie nach der Reform nicht mehr an einen einzelnen und möglicherweise sogar teuren Energielieferanten gebunden sind. Sie haben die Freiheit, Energie auch von anderer Stelle zu beziehen.
Den spezifischen Problemen in den neuen Bundesländern trägt diese Reform ebenfalls Rechnung. Die Absatzinteressen und die erheblichen Strukturinvestitionen der ostdeutschen Braunkohleunternehmen sollen soweit wie möglich berücksichtigt werden. Ich warne aber vor der Forderung, die Energieunternehmen in den neuen Bundesländern für mehrere Jahre vom Wettbewerb generell auszunehmen. Dies würde am Ende in den neuen Ländern zu dauerhaften Preisnachteilen bei Strom und Gas führen und wäre damit schädlich für den weiteren Aufbau Ost.
Diese Reform wird nicht nur die Energiepreise senken; sie wird unsere Energie darüber hinaus auch umweltfreundlicher machen.
- Das paßt nicht in Ihr Klischee - meine Aussage ist aber richtig -, wie all das nicht in Ihr Klischee paßt, was auf Wettbewerb abzielt und auf die Tatsache, daß Wettbewerb auch im Umweltschutz mehr Kräfte freisetzen und mehr erreichen kann als die staatlichen Regulierungswerke, die Sie über alles stülpen wollen.
Kraft-Wärme-Koppelung und erneuerbare Energien erhalten zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit einen besonderen gesetzlichen Schutz. Im Einzelfall kann dies bedeuten, daß ein Abnehmer höhere Kosten für Energie in Kauf nehmen muß, wenn der Wechsel zum günstigeren Angebot die KraftWärme-Koppelung und die erneuerbaren Energien
gefährdet. Ich bitte, dies zu beachten, wenn Sie den Gesetzentwurf würdigen. Das ist in diesem Gesetzentwurf vorgesehen.
Im übrigen wird das Stromeinspeisungsgesetz durch diese Reform nicht unmittelbar angetastet. Ich werde dazu in Kürze eine Novellierung vorlegen, die den Bedingungen in diesem Bereich Rechnung trägt.
Die Abnahmepflicht und die erhöhte Vergütung für regenerative Energien werden erhalten bleiben. Aber, meine Damen und Herren, Sie können von mir keine gigantischen Förderprogramme für regenerative Energien erwarten.
Es kommt darauf an, daß wir die Energieversorgungsunternehmen ins Boot nehmen. Sie und nicht die staatlichen Ausgabeprogramme müssen einen zusätzlichen Beitrag dazu leisten, daß wir bei den regenerativen Energien vorankommen.
- Sie müssen sich einmal mit dem Gesetz auseinandersetzen und sollten nicht Ihre Klischees und Vorbehalte pflegen. Ihre Zwischenrufe zeugen davon, daß Sie sich den Gesetzentwurf überhaupt nicht angeguckt haben. Sie wissen überhaupt nicht, worum es geht.
Sie denken in Ihren Kategorien: Wir wollen die Stadtwerke so, wie sie sind - gewachsene Strukturen, 100 Jahre alt -, erhalten; da sitzen wir alle mit unseren Freunden und sehen, daß das in der Vergangenheit schön gegangen ist, so soll es auch in der Zukunft weitergehen. Aber Wettbewerb ist im Sinne der Arbeitsplätze angesagt.
Sie können auch nicht erwarten, daß ich die zahlreichen Ausnahmeregelungen in den Gesetzentwürfen der Opposition gutheiße, die wiederum nur ein Ziel haben: den Wettbewerb auszuhebeln.
Sie von der SPD wollen einen generellen Vorrang der Kraft-Wärme-Koppelung ohne jegliche Größenbegrenzung. Was heißt das im Klartext? Das heißt, es können unabhängig vom Energiebedarf, unabhängig von bestehenden Versorgungskapazitäten beliebig viele und beliebig große Kraft-Wärme-Koppelungsanlagen geschaffen werden. Wollen wir das, und was kommt noch hinzu?
Die Anlagen sind - das wissen Sie genau, wenn Sie sich mit den Dingen befaßt haben - häufig am Markt vorbei gebaut worden, was den Wärmebedarf angeht. Es kommt niemand daran vorbei, das zuzugeben. Einen Bestandsschutz mit Absatz- und Vergütungsgarantie hat kein Betreiber einer solchen Anlage. Und wenn er einen solchen hätte, so gäbe es keinerlei Anreiz zur Innovation. Wir würden in Deutschland ein Museum für Umwelttechnologie in diesem Bereich entstehen lassen.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Wir brauchen Wettbewerb, wir brauchen unternehmerische Initiative, wir brauchen Innovationsbereitschaft auch für mehr Umweltschutz. Der technische Fortschritt, den wir durch den Wettbewerb in der Energiewirtschaft anregen, wird dem Umweltschutz einen größeren Dienst erweisen als jedes staatliche Subventionsprogramm.
Weniger Staat und weniger Regulierung, das muß für die Energiereform insgesamt gelten. Deswegen haben wir uns bewußt gegen detaillierte Spezialregeln für den Nutzungszugang entschieden. Wir würden anderenfalls einen Wust von Regulierungen entstehen lassen und damit den Wettbewerb auf Jahre behindern. Wesentlich effektiver ist, so meine ich, wenn die beteiligten Verbände die Detailfragen, insbesondere die Frage des Durchleitungsentgelts, in einer Vereinbarung untereinander klären. Die Verhandlungen zu solchen Verbändevereinbarungen laufen im übrigen; sie sind auf gutem Weg.
Meine Damen und Herren, die Auswirkungen der Reform auf Gemeinden und Stadtwerke habe ich wiederholt mit den kommunalen Spitzenverbänden diskutiert. Die Belange der Kommunen finden, wie ich meine, ihren Niederschlag im Referentenentwurf. Das kommunale Wegerecht und der kommunale Anspruch auf Konzessionsabgaben in voller Höhe werden nicht angetastet, sondern erhalten sogar einen zusätzlichen Schutz.
Darüber hinaus können die Gemeinden weiterhin Gewinne aus der Energieversorgung vor Steuern mit Verlusten aus anderen Sparten ihres Betätigungsfeldes verrechnen. Das heißt, Gewinne können nach wie vor zur Finanzierung von Straßenbahnen, Stadtbibliotheken oder Hallenbädern herangezogen werden. Aber diese Gewinne müssen anders als bisher im Wettbewerb erwirtschaftet werden, und das wollen wir. Dann ist die Quersubventionierung möglich und nicht vorher. Wir können nicht von einer Liberalisierung im Energierecht sprechen und dabei die wichtigste Stufe, den Wettbewerb um den Endabnehmer, von vornherein außer acht lassen.
Entsprechend problematisch ist dann auch die kommunale Forderung nach dem sogenannten Alleinabnehmersystem. Die Beziehungen zwischen den Stromkunden und den Stromlieferanten dürfen nicht durch einen Dritten, in diesem Fall das bestehende Versorgungsunternehmen, dominiert werden. Das bestehende Versorgungsunternehmen wird immer mitsprechen 'können und mitsprechen müssen, weil es auch Besitzer bzw. Eigentümer des Netzes ist; das ist gar keine Frage. Aber die Beziehungen zwischen dem Stromkunden im klassischen Versorgungsgebiet und dem Versorgungsunternehmen klassischer Provenienz dürfen nicht dominant sein, sondern wichtig sind die Beziehungen zwischen dem Endabnehmer und möglicherweise dem neuen Stromablieferer. Darauf kommt es an; das ist der Wettbewerb, und darauf stellen wir ab. Deshalb haben wir das sogenannte Alleinabnehmermodell nicht ins Gesetz geschrieben. Auch wenn dieser Begriff, im übrigen in ganz anderem Zusammenhang, in der Binnenmarktrichtlinie Strom auftaucht, heißt das nicht, daß wir dieses System in Deutschland für praktikabel halten. Gedacht war dabei an Frankreich mit im wesentlichen nur einem Unternehmen und nicht an Deutschland, wo wir 900 Stadtwerke haben.
Wir wollen mehr Transparenz ohne überzogene Bürokratie schaffen und für Wettbewerbsgerechtigkeit sorgen. Wir brauchen den Wettbewerb um den Kunden. Auch die Kommunen brauchen diesen Wettbewerb als Standortfaktor für eine Industrie- und Gewerbeansiedlung in der eigenen Region.
Meine Damen und Herren, die Reform des Energiewirtschaftsrechts ist im übrigen nicht nur eine deutsche Angelegenheit; sie ist europäische Aufgabe. Der Fahrplan zum einheitlichen europäischen Binnenmarkt Strom steht. Deshalb müssen wir jetzt die Reform des nationalen Energierechts zügig umsetzen.
Aber selbst mit Blick allein auf den Standort Deutschland haben wir gute Gründe zum schnellen Handeln, zur zügigen Umsetzung. Die Reform wird die Unternehmen von Kosten entlasten. Die Rationalisierungspotentiale in den Unternehmen, die Sie alle kennen - das müssen Sie zugeben, wenn Sie fair sind -, müssen aufgelöst werden; sie müssen weitergegeben werden an den Kunden. Damit sorgen wir für Wettbewerbsfähigkeit bei den deutschen Energieversorgern, die sie im internationalen Zusammenhang auch brauchen, heute aber nicht wahrnehmen können, weil sie keine Erfahrungen haben. Die Engländer, die Franzosen und auch die Italiener beteiligen sich weltweit an der Privatisierung und machen Betreibermodelle. Kaum jemand von uns macht das, auch weil die Erfahrungen in bezug auf den Wettbewerb um den Kunden fehlen.
Wir wollen Investitionen anregen und Arbeitsplätze in Deutschland sichern; darauf kommt es uns an. Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie um Zustimmung zum Reformentwurf der Bundesregierung.
Schönen Dank.
Es spricht jetzt der Kollege Volker Jung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir müssen uns heute in der ersten Lesung mit einem Vorhaben von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt auseinandersetzen, das genauso kläglich scheitern kann wie alle seine bisherigen Bemühungen auf dem Feld der Energiepolitik.
Herr Rexrodt, Sie blicken auf eine lange Reihe von gescheiterten Ansätzen und Vorschlägen zurück. Zweimal sind Sie mit Ihren Bemühungen um einen Energiekonsens wegen Ihres sturen Festhaltens an Maximalpositionen gescheitert, und ein drittes Mal ist dies auch nicht ausgeschlossen.
Volker Jung
Realistische Maßnahmen zum Klimaschutz, der von allen Parteien im Bundestag übereinstimmend für dringlich gehalten wird, haben Sie gar nicht erst vorgeschlagen. Deshalb bescheinigen Ihnen auch Ihre eigenen Gutachter, daß Sie das Ziel, die CO2Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent zu senken, glatt verfehlen werden.
Eine Energiesparpolitik, die Sie selbst fordern, können wir schlicht nicht erkennen. Deswegen steigt der Energieverbrauch in unserem Land auch wieder an und mit ihm die Klimagasemissionen.
Ihre schwachen Energiesteuervorschläge sind schon im Vorfeld von dem wirtschaftspolitischen Flügel Ihrer Partei abgeblockt worden, und mit Ihren Kürzungsvorschlägen bei der deutschen Steinkohleförderung haben Sie einen politischen Proteststurm ausgelöst, den Sie hoffentlich so schnell nicht vergessen werden. Den Kompromiß in letzter Minute haben andere zustande gebracht, nicht Sie.
Jetzt konfrontieren Sie uns mit einem Gesetzentwurf zur Energierechtsreform, der von der übergroßen Mehrheit des Bundesrates abgelehnt wird und für den Sie im Bundestag noch nicht einmal die volle Unterstützung der Koalitionsfraktionen haben.
Aber wir müssen handeln, meine Damen und Herren. Die europäische Stromrichtlinie ist seit Februar in Kraft. Sie muß in zwei Jahren umgesetzt sein; das ist uns wohl bewußt.
Wir haben die Stromrichtlinie nicht gewollt, jedenfalls nicht so, wie sie verabschiedet worden ist. Wir haben frühzeitig darauf hingewiesen, daß sie schwerwiegende Konstruktionsmängel aufweist.
Da ist einmal die Wahlmöglichkeit zwischen dem verhandelten Netzzugang und dem Alleinabnehmersystem, das zwar als ein gleichwertiges Wettbewerbssystem dargestellt worden ist, das aber die bestehenden Staatsmonopole zum Beispiel in Frankreich im wesentlichen unangetastet lassen wird, wenn zu dem Regime der öffentlichen Dienstleistungsverpflichtung auch die staatliche Langfristplanung gehört - wir haben dies im Wirtschaftsausschuß eindringlich dargestellt -, mit der praktisch jede Marktöffnung verhindert werden kann.
Da ist zum anderen die Diskriminierung der zumeist kommunalen Verteilerunternehmen, die anders als die Großverbraucher vom europäischen Wettbewerb ausgeschlossen sind.
Damit ist aber am Ende die Rechnung von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt doch noch aufgegangen. Mehrmals ist er mit seinem Gesetzentwurf hier in Bonn gescheitert; gleichzeitig hat er aber seine Reformpläne auf dem Umweg über Brüssel vorangetrieben. Hier wurde sozusagen über Bande gespielt - ein Spiel, das auch seine drei Vorgänger sehr gut beherrschten; ich erinnere nur an die Kohlepolitik.
Das heißt, der Wettbewerb kommt, zunächst bei der Elektrizitätsversorgung, später möglicherweise auch bei der Gasversorgung.
Als gute Europäer akzeptieren wir dieses Ergebnis. Wir werden mithelfen, die europäische Stromrichtlinie in nationales Recht umzusetzen, allerdings so, daß wir ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen, um eine effiziente, umweltverträgliche und zugleich kommunalfreundliche Energieversorgung zu schaffen.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, setzen einseitig auf reinen Preiswettbewerb. Eckpunkte Ihres Gesetzentwurfs sind die Beseitigung der kartellrechtlichen Ausnahmeregelung für die leitungsgebundene Energieversorgung, die ein Durchleitungsrecht von Strom und Gas und die Möglichkeit des Baus von Direktleitungen begründen soll. Damit werden die Demarkationsverträge praktisch untersagt und Konzessionsverträge in der alten Form nicht mehr möglich sein. Mit einem Wort: Der Gebietsschutz soll entfallen; geschlossene Versorgungsgebiete wird es nicht mehr geben.
Die kommunalen Spitzenverbände haben eindringlich darauf hingewiesen, daß dieses Wettbewerbssystem dazu führen wird, daß lukrative Großabnehmer aus dem Versorgungsbereich der Stadtwerke herausgebrochen werden können. Dagegen werden sich die Stadtwerke nur schwer wehren können. Das liegt nicht daran, daß sie nicht kostenbewußt und wirtschaftlich arbeiten. Das liegt vor allem daran, daß sie systembedingte Wettbewerbsnachteile haben, die sie nicht aus eigener Kraft beheben können.
Die Fixkosten der kommunalen Versorgungsunternehmen beruhen insbesondere auf der Anschluß-
und Versorgungspflicht, die trotz des Wettbewerbs - das ist im Grunde völlig systemwidrig - nicht aufgehoben werden soll. Sie müssen Kapazitäten vorhalten, um jeden Kunden, der das wünscht, an ihr Netz anzuschließen. Werden dann auch noch Großabnehmer aus ihrem Kundenkreis herausgebrochen, müssen die steigenden Kosten in Form von höheren Preisen an die verbleibenden Kunden weitergegeben werden.
Das heißt: Wenn die Industriekunden mit Kampfpreisen umworben werden, werden am Ende die Tarifkunden - das sind die Haushaltskunden, die kleinen und mittleren Unternehmen - die Zeche bezahlen müssen.
Eine mögliche Anpassungsreaktion wäre auch, die Gleichpreisigkeit in Stadt und Land aufzugeben. Dann werden die Strom- und Gaspreise im ländlichen Raum gegenüber den städtischen Ballungsgebieten erheblich steigen. Das trägt mit Sicherheit
Volker Jung
nicht dazu bei, die Standortbedingungen in strukturschwachen Gebieten zu verbessern.
Zu den Wettbewerbsnachteilen gehört schließlich, daß das geltende Kommunalrecht die Betätigung der Stadtwerke grundsätzlich auf ihr Gemeindegebiet beschränkt. Es wäre zwar prinzipiell möglich, die in dieser Hinsicht einschlägigen Bestimmungen der Gemeindeordnung zu ändern, wie es auch vom Bundeswirtschaftsminister angeregt worden ist. Diese Forderung ist und bleibt richtig, meine Damen und Herren. Aber dabei handelt es sich um Landesrecht. Wer etwas Phantasie hat, der wird sich vorstellen können, was am Ende herauskommen würde, wenn man die Änderung von 16 Gemeindeordnungen durch 17 Landesparlamente bringen wollte - ein unmögliches Unterfangen.
Es würde auf jeden Fall viel Zeit kosten, in der sich die Versorgungsstrukturen verändern und viele Stadtwerke vom Markt verschwinden.
Bezeichnenderweise sind in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung keine Vorschriften gegen einen Verdrängungswettbewerb, für eine Fusionskontrolle oder gar Fusionsverbote vorgesehen. Das steht im krassen Gegensatz zu der vorgegebenen Intention des Gesetzentwurfs, auf den Energiemärkten mehr Wettbewerb zu schaffen.
Der dadurch ausgelöste Konzentrationsprozeß ist bereits im vollen Gange, meine Damen und Herren, insbesondere im deutsch-französischen Grenzgebiet. Ich nenne nur die großen Stadtwerke in Stuttgart und Karlsruhe, die Verbindungen mit ihren Vorlieferanten, den Neckarwerken und dem Badenwerk, eingehen. Das ist ein Vorgriff auf die gesetzliche Regelung.
Es ist zu befürchten, daß bei einer Zurückdrängung der kommunalen Versorgungsstufe das Aufkommen aus den Konzessionsabgaben erheblich geschmälert wird und, noch viel gravierender, ein Teil der Wertschöpfung nicht mehr in den Kommunen verbleibt, sondern in die Kassen von mehr oder weniger anonymen Konzernzentralen fließt.
Die anfallenden Gewinne würden dann nicht mehr zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben zur Verfügung stehen.
Wer dies will oder, wie Herr Rexrodt, zumindest billigend in Kauf nimmt, der muß darlegen, meine Damen und Herren, wie er bei der akuten Finanznot der Städte die entstehenden kommunalen Finanzierungslücken decken will.
Die kommunale Versorgungswirtschaft hat bei der umweltfreundlichen Gestaltung der Energieversorgung eine Vorreiterrolle eingenommen; das ist unbestritten. Die kommunalen Energieversorgungsunternehmen wandeln sich bewußt in Energiedienstleistungsunternehmen um. Reiner Preiswettbewerb
wird sie allerdings dazu zwingen, sich viel stärker an kurzfristigen Rentabilitätsüberlegungen zu orientieren. Energiedienstleistungen, die keine Absatzsteigerung versprechen, sondern Verbrauchseinschränkungen bezwecken, werden kaum aufrechtzuerhalten sein. Mit einem Ausbau der kommunalen KraftWärme-Kopplung, die wegen ihrer hohen Brennstoffausnutzung besonders umweltfreundlich ist, ist schon gar nicht zu rechnen.
Die Umweltverträglichkeit soll zwar als gleichberechtigtes Ziel neben der Versorgungssicherheit und der Preisgünstigkeit Gesetzeszweck werden; aber es werden keine Instrumente vorgesehen, mit denen dieses Zielumgesetzt werden kann.
Um es zusammenzufassen:. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist und bleibt auch nach der Gegenäußerung der Bundesregierung zu der vernichtenden Stellungnahme 'des Bundesrates extrem einseitig, kommunalfeindlich, ökologisch blind und verfehlt die selbstgesteckten Ziele.
Darum haben wir einen eigenen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem wir zeigen wollen, daß ein alternativer Ordnungsrahmen aus einem GuB möglich ist. Das möchte ich an einigen Eckpunkten unseres Gesetzentwurfes darlegen.
Erstens. Wir wollen die Gasversorgung zunächst aus dem Reformwerk ausklammern. Wir halten es für ein abenteuerliches Unterfangen, mit der europäischen Stromrichtlinie gleich auch die Gasrichtlinie, die es noch gar nicht gibt und die es vielleicht überhaupt nicht geben wird, in nationales Recht umsetzen zu wollen. Aber Herr Rexrodt will sie schon in diesem Sommer umgesetzt haben.
Zweitens. Wir halten das Unbundling nach der europäischen Stromrichtlinie für zwingend. Dazu mußte sich die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung auch durchringen. Eine rechnungsmäßige Trennung von Erzeugung, Netzbetrieb und Verteilung ist notwendig, damit man Wettbewerb in den Bereichen einführen kann, in denen dies möglich und sinnvoll ist, nämlich bei der Stromerzeugung und der Stromverteilung, und den Netzbetrieb, der mit Sicherheit eine Monopolveranstaltung bleiben wird, so regulieren kann, daß er den Wettbewerb nicht behindert. Der Direktleitungsbau, der vorgesehen ist, wird schon aus ökonomischen Gründen eher die Ausnahme bleiben, von dem ökologischen Unsinn paralleler Leitungen einmal völlig abgesehen.
Ausschlaggebend wird - drittens - sein, daß ein diskriminierungsfreier Zugang zum Netzmonopol für jeden Stromerzeuger und jeden Stromverbraucher geschaffen wird. Wenn schon Durchleitung,
Volker Jung
dann aber keine, mit der beliebig manipuliert werden kann oder die sich erst über lange Kartell- und Gerichtsverfahren durchsetzen muß, wie es das Bundeswirtschaftsministerium vorschlägt.
Viertens. Wir wollen das verfassungsmäßige Recht der Kommunen auf Selbstverwaltung schützen.
Dazu gehört nach unserem Verständnis auch die Energieversorgung, die traditionell den Kern der kommunalen Wirtschaft darstellt.
Wir wollen den Gemeinden die Wahlmöglichkeit geben, den Wettbewerb völlig freizugeben - dann gibt es natürlich auch keine Anschluß- und Versorgungspflicht -, eine Pflicht zur Versorgung bestimmter Kundengruppen, zum Beispiel Tarifkunden, einzuführen oder auch einem Versorgungsunternehmen die Rechte und Pflichten eines Alleinabnehmers zu übertragen.
Das Argument, an dem der Bundeswirtschaftsminister verbissen festhält - was er auch heute wieder demonstriert hat -, damit würden die Gemeinden den Wettbewerb abschotten wollen, wird auch durch seine ständige und gebetsmühlenartige Wiederholung nicht richtiger.
Ich muß an dieser Stelle daran erinnern, daß den Koalitionsfraktionen die halbherzige Zustimmung zu der europäischen Stromrichtlinie mit dem nicht weniger verbissenen Argument des Bundeswirtschaftsministers abgerungen wurde, das Modell des Alleinabnehmers sei ein gleichwertiges Wettbewerbsmodell, weil er die vom Lieferanten gewährten Preisvorteile an den Kunden weitergeben muß. Dies kann nicht nur für die Electricité de France, sondern dies muß auch für jedes Stadtwerk gelten, wenn es dazu von der Gemeinde beauftragt wird.
Fünftens. Wir wollen die Konzessionsabgabe an den örtlichen Netzbetrieb binden und damit auf eine einwandfreie rechtliche Grundlage stellen. Die zum x-tenmal nachgebesserten Vorschläge des Bundeswirtschaftsministeriums, um bestehende Konzessionsverträge zu schützen, gelten eben nur für bestehende Konzessionsverträge. Wie künftige Verträge aussehen werden, die auf einer unsicheren Rechtsgrundlage abgeschlossen werden müssen, bleibt ein wohlbehütetes Geheimnis der Beamten des Bundeswirtschaftsministeriums.
Sechstens. Wir wollen das Stromeinspeisungsgesetz in das Energiegesetz einbeziehen, weil es sonst auf der Strecke bleiben würde.
Strom aus erneuerbaren Energien muß vorrangig in das Netz eingespeist und von den Netzbetreibern, die die Mehrkosten den Netzbetriebskosten zuschlagen können, mit festen Sätzen vergütet werden. Um die regionale Ungleichbelastung auszugleichen, sind die Netzbetreiber auf allen Ebenen aufgefordert, einen Kostenausgleich durchzuführen.
Siebtens. Ebenso wollen wir mit dem Strom aus Kraft-Wärme-Koppelung verfahren. Wir wollen nicht nur Investitionsruinen verhindern; wir wollen diese Technologie dauerhaft schützen und ihren Anteil ausbauen. Sie stellt nicht nur eine besonders vorteilhafte ökologische Variante dar, sie ist auch die vorrangige Energieerzeugungsart von Stadtwerken, die Eigenerzeugung betreiben. Nah- und Fernwärme auf der Grundlage von Kraft-Wärme-Koppelung sind wettbewerbsfähig, wenn gesichert ist, daß der Strom auch abgesetzt werden kann.
Schließlich achtens. Wir wollen vermeiden, daß die horrenden Investitionen zur Nachrüstung der Braunkohlenkraftwerke in den neuen Bundesländern Investitionsruinen werden. Auch hier hat sich der Bundeswirtschaftsminister zur Nachbesserung gezwungen gesehen. Was er allerdings vorschlägt, kann den Stromstreit in den neuen Bundesländern nicht entschärfen. Wenn die Sicherung der ostdeutschen Braunkohleverstromung ein Abwägungsgrund bei der Durchleitung sein soll, dann kann das ostdeutsche Verbundunternehmen VEAG den Regionalversorgern und insbesondere den Stadtwerken alternative, preisgünstige Bezugsquellen verschließen, aber sich selbst Großkunden aus dem Versorgungsgebiet dieser Unternehmen herausbrechen. Das ist eine völlig schiefe Schlachtordnung, und deshalb ist dieser Vorschlag für uns inakzeptabel.
Wir wollen für eine Übergangszeit eine bundesweite Verpflichtung zur Abnahme von ostdeutschem Braunkohlestrom begründen, der ja im Prinzip, das heißt nach Abschreibung der Investitionen, wettbewerbsfähig ist. Es ist ohnehin unsere Auffassung, daß dies kein ostdeutsches, sondern als Folge der deutschen Einigung ein nationales Problem ist.
Die Abnahmeverpflichtung könnte nach unserer Vorstellung gehandelt werden, so daß nur ein finanzieller Ausgleich der Belastungen stattfindet. Das ist richtlinienkonform; das ist marktgerecht, und das entspricht unserer nationalen Verantwortung.
Meine Damen und Herren, wir meinen, mit unserem Gesetzentwurf aufzeigen zu können, wie man unser Energierecht richtlinienkonform, umweltgerecht und kommunalfreundlich reformieren kann. Dafür haben wir die Unterstützung der sozialdemokratisch geführten Landesregierungen, möglicherweise auch einiger anderer Landesregierungen. Wir sind in einem konstruktiven Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden und nicht zuletzt auch mit den Umweltverbänden.
Volker Jung
Wir stehen vor einer intensiven Debatte in einem komplexen Gesetzgebungsverfahren. Dazu sollten wir uns die notwendige Zeit nehmen. Es ist bei diesem Thema völlig unangemessen, es jetzt bis zur Sommerpause durchpeitschen zu wollen.
Dazu kündige ich bereits heute an, daß wir eine gründliche Anhörung der betroffenen Gruppen und Verbände verlangen werden, in der auch unser Gesetzentwurf vorbehaltlos geprüft werden soll. Es ist unser Ziel, schon im Bundestag zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Ich halte überhaupt nichts davon, daß das Reformvorhaben weiterhin in Konfrontation mit dem Bundesrat betrieben und am Ende im Vermittlungsausschuß entschieden wird. Deshalb sind wir zur Kooperation bereit.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung und der Koalition ist es, die Rahmenbedingungen für unsere Volkswirtschaft zu verbessern. Unsere Vorstellungen haben wir im „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" zusammengefaßt, und die Liberalisierung der Energiemärkte in Deutschland ist ein wesentlicher Teil dieses Programms.
Wir brauchen durchgreifende Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, um die Zukunft Deutschlands zu sichern, um aus Arbeitslosen Beschäftigte zu machen und um den Menschen in diesem Lande eine gute Perspektive für die Zukunft zu geben.
In den vergangenen Jahren haben wir die Monopole und Marktbarrieren bei der Bahn, bei der Post, im Bereich der Telekommunikation und im Versicherungswesen erfolgreich abgeschafft.
Die Beseitigung dieser monopolistischen Strukturen hat sich für die Kunden positiv ausgewirkt, zum Beispiel durch niedrigere Gebühren und besseren Service. Sie hat sich aber auch auf die Volkswirtschaft insgesamt positiv ausgewirkt, zum Beispiel durch größere Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen gegenüber ausländischen Konkurrenten.
Jetzt gilt es, den letzten großen Monopolbereich bei uns in Deutschland dem Wettbewerb zu öffnen. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, daß sich das Aufheben von Monopolen für die beteiligten Menschen immer positiv ausgewirkt hat.
Nicht umsonst heißt es in einem Sprichwort: Konkurrenz belebt das Geschäft. Deswegen können wir davon ausgehen: Die Liberalisierung der Energiemärkte wird sich zum Guten der Menschen bei uns auswirken.
In den vergangenen Jahren hat es bereits eine Reihe von Vorstößen gegeben, um eine Änderung des Energiewirtschaftsrechts zu erreichen. Leider sind diese nicht erfolgreich gewesen. Angesichts der derzeitigen globalen Änderungen können wir uns ein erneutes Steckenbleiben aber nicht erlauben.
Wir müssen erfolgreich sein, Herr Kollege Jung. Deswegen freue ich mich, daß Sie Ihre Rede mit dem Hinweis beendet haben, Sie seien bereit für eine Kooperation. Ein Scheitern kann sich keiner mehr erlauben. Ihre Andeutung einer Kooperationsbereitschaft paßt aber überhaupt nicht mit einem pauschalen Rundumschlag gegen den Wirtschaftsminister zusammen.
Wir weisen diesen ausdrücklich und nachdrücklich zurück.
Ich begrüße es, daß die Bundesregierung trotz des enormen Drucks der Interessenverbände - dies war bisher bei allen Abschaffungen von Monopolen das gleiche - an ihrem klaren Deregulierungs- und Wettbewerbskurs festgehalten hat.
Der Nationalökonom Schumpeter hat schon vor über hundert Jahren dem Sinne nach gesagt: Wenn man den Monopolisten das Monopol wegnehmen will, dann gehen denen die Argumente nie aus. Dieser Spruch gilt auch am Ende dieses Jahrhunderts noch.
Der Produktionsfaktor Energie entscheidet mit über die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Produkte. Eine Mehrbelastung in der Größenordnung von etwa 6 Milliarden DM, die die deutsche Volkswirtschaft im Vergleich mit den Franzosen zu tragen hat, kann auf Dauer nicht mehr verkraftet werden.
Wenn ich einen Vergleich der Strompreise innerhalb der EU vornehme, dann stelle ich fest, daß Deutschland hierbei nicht gut abschneidet. Ich habe Vergleichsrechnungen für zwei Modellbetriebe, die ich hier vortragen möchte.
Im ersten Beispiel geht es um ein mittelgroßes Unternehmen, das im Drei-Schicht-Betrieb arbeitet, 24 Millionen Kilowattstunden Jahresverbrauch hat, aus dem Chemiebereich ist und zirka 400 Mitarbeiter
Gunnar Uldall
hat. Dieser Modellbetrieb würde in Deutschland 2,9 Millionen DM Stromkosten haben. In Frankreich hätte dieses Unternehmen 2,6 Millionen DM Stromkosten, in den Niederlanden 2,3 Millionen DM und in England 2,1 Millionen DM.
Meine Damen und Herren, das französische Unternehmen hat gegenüber dem deutschen Unternehmen einen Vorteil von 10 Prozent. Das niederländische Unternehmen hat gegenüber dem deutschen Unternehmen einen Vorteil von 20 Prozent. Das englische Unternehmen hat einen Vorsprung von 25 Prozent.
Für einen Betrieb, wie ich ihn eben beschrieben habe, heißt das in absoluten Zahlen: Das Unternehmen in England muß 800 000 DM weniger aufwenden. Das sind die Kosten für zehn Arbeitskräfte. Zehn Arbeitskräfte verbergen sich hinter den Prozentzahlen, die ich genannt habe.
Wir beklagen, daß unsere Unternehmen einen zu starken Personalabbau betreiben. Deswegen müssen wir sehen, daß wir die Betriebe auch im Nichtpersonalkostenbereich entlasten. Wir müssen dafür sorgen, daß die Unternehmen in Deutschland auch im Energiekostenbereich entlastet werden.
Je länger wir mit dem Wettbewerb warten, desto größer werden die Strompreisnachteile gegenüber unseren europäischen Konkurrenten. Können wir uns das angesichts der schwierigen Beschäftigungssituation in Deutschland wirklich noch länger erlauben? Können wir uns das wirklich auf Dauer erlauben?
Ich möchte einen zweiten Vergleich, für einen kleineren Betrieb, anstellen: Ein Betrieb mit 30 Mitarbeitern, zum Beispiel ein Sägewerk, arbeitet in zwei Schichten und hat einen Jahresverbrauch an Energie von 2 Millionen Kilowattstunden. In Deutschland muß dieses Unternehmen dafür 347 000 DM aufwenden; in den Niederlanden wären es 261 000 DM, 25 Prozent weniger; in Frankreich wären es 247 000 DM, also 30 Prozent weniger; in England wären es 189 000 DM, 45 Prozent weniger. Das heißt, bei einem solch kleinen Betrieb wirken sich die Energiekosten in Deutschland noch negativer aus als - wie in dem eben genannten Beispiel - bei einem großen Betrieb.
Meine Damen und Herren, dies geht auf Dauer nicht, wenn wir unsere Betriebe im gesamteuropäischen Markt wettbewerbsfähig halten wollen.
Aber es betrifft nicht nur die kleineren Betriebe, es betrifft nicht nur den Mittelstand; es betrifft auch die Großunternehmen. Fachleute haben mir erklärt, daß ein in Deutschland produziertes Mittelklasseauto auf Grund der überhöhten Energiepreise um 300 DM
teurer ist. Es könnte um diesen Betrag billiger hergestellt werden, wenn man den Strom aus dem Ausland, zum Beispiel von EdF auf der anderen Rheinseite, beziehen würde.
Wir kämpfen in Deutschland derzeit um eine Senkung der Lohnstückkosten. Da dürfen wir doch nicht die Augen verschließen vor den gewaltigen Möglichkeiten zur Senkung der Stückkosten bei uns in Deutschland, die wir durch eine Rationalisierung im Energiebereich erreichen können.
Der DIHT-Präsident, Stihl, hat am 10. April in Stuttgart erklärt, daß die Produktion des „Smart"Autos im wesentlichen deshalb nicht in Deutschland, sondern in Frankreich stattfindet, weil die Energiekosten in Frankreich um 30 Prozent niedriger sind. Meine Damen und Herren, hier müssen wir aufwachen, können wir nicht so tun, als dürfte es so weitergehen.
Ich könnte weitere Beispiele nennen, etwa aus der Chemieindustrie. Überall zeigt sich das gleiche Bild: Unsere Energiekosten liegen zu hoch. Deswegen, so zeigt auch eine aktuelle Befragung deutscher Industrieunternehmen, gehen drei Viertel der Unternehmen von einer deutlichen Senkung der Stromrechnung aus, wenn der Strommarkt bei uns liberalisiert wird. Die Stromkosten sind ein wichtiger Entscheidungsfaktor in der Frage, ob sich ein Unternehmen in Deutschland ansiedelt oder nicht. Wettbewerb bei der Energieversorgung steigert die Attraktivität des Standortes Deutschland.
Um die Kostenstruktur unserer Wirtschaft zu verbessern, wird immer wieder an den Personalkosten herumgequetscht. Hier haben wir die Chance, einmal etwas außerhalb des Personalkostensektors zu tun. Ich sage allen, gerade aber auch Ihnen, Herr Jung, die Sie sich gewerkschaftlich engagieren: Nutzen wir gemeinsam diese Chance!
Auch bei uns in Deutschland gibt es ganz gewaltige Strompreisunterschiede. Eine Untersuchung des Instituts für Energetik und Umwelt in Leipzig hat ergeben, daß der Strompreis für Gewerbekunden bei uns in Deutschland zwischen 22,8 Pfennig und 40,7 Pfennig schwankt.
Die Stromerzeuger in Deutschland haben die gleichen Abschlüsse mit den Gewerkschaften. Sie müssen die gleichen Steuern zahlen. Sie haben die gleichen Zinssätze zu entrichten, wenn sie Kredite aufnehmen. Und trotzdem haben sie solche gewaltigen Unterschiede bei den Strompreisen. Das zeigt doch, daß es bei uns in Deutschland enorme Effizienzunterschiede unter den einzelnen Stromlieferanten geben muß. Diese Effizienzunterschiede werden durch den Wettbewerb gnadenlos aufgedeckt. Genau das wollen wir von der Koalition, Herr Jung.
Gunnar Uldall
In der Gegenäußerung auf die Stellungnahme des Bundesrates macht die Bundesregierung deutlich, daß es eine Reihe von Einwänden gibt, die man berücksichtigen will. Die gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf vorgenommenen Korrekturen zur Berücksichtigung ökologischer und kommunaler Belange sind beachtlich. Auch die besondere Situation der ostdeutschen Braunkohle wird jetzt berücksichtigt, und das halte ich für sachgerecht.
Ich möchte dennoch auf einige Einzelfragen eingehen. Ich bin sehr dafür, die berechtigten Interessen der Kommunen zu wahren, aber ein generelles Nein zum Wettbewerb, wie man es bisweilen aus den Kreisen der Kommunen hören kann, wird es nicht geben.
- Die begeisterte Zustimmung von Herrn Jung erfreut und motiviert mich, auch weiterhin für ein gutes Gesetz zu kämpfen.
Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Stadtwerke ist ein Anliegen der Koalition. Aber warum sind die kommunalen Versorgungsunternehmen so wenig selbstbewußt?
Ich bin sicher, daß sich diese Unternehmen schnell und erfolgreich auf die neue Situation einstellen können.
Einiges wurde hinsichtlich der Konzessionsabgabe geändert. Die Gemeinden können in Zukunft den Abschluß von Verträgen mit Energieversorgungsunternehmen ablehnen, wenn sich diese nicht zur Zahlung der Konzessionsabgabe verpflichten. Ich gehe davon aus, daß die Bedenken der Kommunen in diesem Punkt damit weitestgehend ausgeräumt sind.
Das sogenannte kommunale Alleinkäufermodell, wonach die Kommune allein entscheidet, wer die Stromkunden in der Gemeinde versorgt, ist mit dem Wettbewerbsprinzip nicht vereinbar. Denkbar wäre aber eine Lösung, wonach der Kunde, der einen Liefervertrag kündigen will, der Kommune die Gelegenheit gibt, ein Angebot abzugeben. Die Entscheidung darüber, wer den Strom liefert, müßte aber allein der Kunde treffen. Ich glaube, daß das ein Weg ist, auf dem man mit den Kommunen zu einer Einigung kommen kann.
Meine Damen und Herren, der Bundesrat begrüßt in seiner Stellungnahme die Zielsetzung des Gesetzentwurfs ausdrücklich. Auch der Bundesrat will durch den Wettbewerb in der Energiewirtschaft einen Beitrag zur Verbesserung der Standortbedingungen leisten. Trotz Ablehnung des Gesetzes im ersten Durchgang sehe ich daher durchaus Chancen, dieses Gesetz in vernünftiger Form gemeinsam über die Bühne zu bringen.
Ich sage allerdings auch, daß die Vorschläge der SPD nicht akzeptabel sind, da so das Monopol der 900 Stadtwerke zementiert wird. Es gibt weiterhin 900 Anbieter, von denen jeder seinen festen Kundenkreis hat, der ihm nicht gegen seinen Willen weggenommen werden kann, Herr Jung.
Allerdings können die Kommunen nach Ihren Vorschlägen freiwillig auf ihr Monopol verzichten. Ich kenne jedoch in der ganzen Wirtschaftsgeschichte keinen einzigen Monopolisten, der jemals freiwillig auf sein Monopol verzichtet hat. Das wird auch hier nicht der Fall sein.
Wir wollen mit diesem Gesetz nicht mehr, wir wollen weniger Bürokratie. Im Detail wird man über einzelne Punkte weiterringen. Gerade gegenüber den Kommunen haben wir uns um eine faire Lösung bemüht. Wir werden uns weiter um den Konsens bemühen; gleiches gilt für die Sondersituation der neuen Bundesländer.
Auch in der Energiepolitik müssen wir in Zukunft zwischen mehr Markt oder neuem Dirigismus wählen. Zum Wohle unserer Bürger und unserer Wirtschaft wählen wir den Markt.
Vielen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bündnisgrünen sagen eindeutig ja zum Wettbewerb, zur Liberalisierung der Energiemärkte. Aus unserer Sicht ist die Monopolwirtschaft wenig effizient, sie hat uns sehr viele Überkapazitäten beschert, die die Bürger und die Wirtschaft bezahlen müssen. Die Monopole blockieren die Innovation und die ökologische Energiewende und nehmen überhöhte Gewinne. Durch diese Finanzmacht erarbeiten sie sich wirtschaftliche Macht, indem sie Schritt für Schritt die gesamte Infrastruktur in diesem Lande aufkaufen. Sie erlangen damit auch politische Macht und werden zu einem Problem für die Demokratie.
- Überhaupt nicht aber.
Ich möchte ein Beispiel für die überholten Monopolgewinne nennen. In Dänemark nimmt die NESA - sie ist mit der Schleswag vergleichbar - einen Nettostrompreis von 8,77 Pfennig, während die Schleswag 21 Pfennig nimmt. In Dänemark werden noch verschiedene Ökosteuern aufgeschlagen. Dort kommt man auf knapp 27 Pfennig Stromendpreis. Auch in Deutschland kommen wir ohne Ökosteuern, also ohne Möglichkeiten zur Senkung der Lohnnebenkosten, auf 27 Pfennig Endpreis. Die Differenz im Nettoenergiepreis liegt bei 12 Pfennig. Das fließt in die Taschen der Monopolkonzerne. Damit bauen sie an ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht.
Michaele Hustedt
Wir sagen ja zur Einführung von Wettbewerb. Es ist längst überfällig, das alte Energiewirtschaftsgesetz zu novellieren, das noch aus dem Jahre 1935 stammt und in dem der Reichsenergieminister noch als Verantwortlicher genannt wird. Wir waren deshalb auch die erste Bundestagsfraktion, die zur Einführung von Wettbewerb im Energiemarkt einen Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode auf den Tisch gelegt hat.
Aus unserer Sicht ist, wenn tatsächlich Wettbewerb zustande kommt, die entscheidende Frage, ob es einen gleichberechtigten Zugang zum Netz gibt. Denn das Netz ist - das sagt auch die Monopolkommission - ein natürliches Monopol. Die Besitzer des Netzes können über verschiedene Tricks, durch überhöhte Preise oder dadurch, daß sie sagen: „Das Netz ist ausgelastet, wir können nicht durchleiten", Mitkonkurrenten vom Markt fernhalten.
In unserem Entwurf haben wir die konsequenteste Lösung daraus gezogen. Wir schreiben vor, daß es eine eigentumsrechtliche Trennung von Netz, Stromerzeugung und Verteilung gibt
und daß der Zugang zum Netz durch einen Strompool gewährleistet wird und damit für kleine und große Stromanbieter wettbewerbsneutral ist.
Das ist, um das deutlich zu machen, keine Verstaatlichung des Netzes - das versteht Herr Rexrodt immer wieder falsch -, sondern nur eine kartellrechtliche Vorschrift, daß Netz und Stromerzeugung bzw. -verteilung nicht in einer Hand sein darf.
Dieses Modell wird auch in Ländern, die für ihre Wettbewerbsfreudigkeit durchaus bekannt sind, angewandt und hat sich dort bewährt. Sie haben genau dieses Modell gewählt, weil sie der Argumentation, die ich soeben vorgetragen habe, folgen. Das sind Länder wie zum Beispiel Großbritannien, Kalifornien und Norwegen.
Das Wirtschaftsministerium mußte in der Begründung zum eigenen Gesetzentwurf feststellen:
Andererseits kann ein Modell der Trennung von Erzeugung/Beschaffung und Netz zu besonders hoher Wettbewerbsintensität führen.
Rexrodts Entwurf wird aus unserer Sicht die acht großen Stromkonzerne in diesem Land stärken. Herr Jung hat schon einige Ausführungen dazu gemacht. Der gerade wachsende Mittelstand im Energieversorgungsbereich, die dezentrale Energieversorgung, die umweltfreundliche Energieversorgung, die Stadtwerke, das sind alles die Bereiche, die bei dieser Art von Wettbewerb, wie Sie ihn vorschlagen, auf der Strecke bleiben. Sie waren gezwungen, wenigstens die Muß-Vorschrift des EU-Rechts in Ihre Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates aufzunehmen, so daß zumindest eine buchhalterische Trennung vorgenommen wird.
Die Frage ist aber, ob das ausreicht, um die Netzbesitzer daran zu hindern, Mitkonkurrenten, die kein
Netz besitzen, vom Markt fernzuhalten. Deswegen fordern wir zusammen mit der SPD im Bundesrat und auch hier einen Durchleitungstatbestand, der genau festschreibt, wie Preise gebildet werden, unter welchen Bedingungen der Netzbesitzer die Durchleitung ablehnen darf und - das ist am weitestgehenden - daß die Beweislast umgekehrt wird. Das heißt, derjenige muß klagen, der die Durchleitung ablehnt, und nicht derjenige, der durchleiten will.
In der Begründung zum Gesetzentwurf aus dem Wirtschaftsministerium wird dies eindeutig positiv gesehen.. Aber es ist weder im Gesetzentwurf noch in der Gegenäußerung enthalten. Warum? Ganz klar: Im Gegensatz zum buchhalterischen Unbundling haben die Stromkonzerne dazu nicht ihr Ja gegeben. Dagegen wehren sie sich in der Tat mit Händen und Füßen. Das Wirtschaftsministerium kuscht und ist nicht bereit, gegen die großen Strommonopole tatsächlich Wettbewerb einzuführen. Das stärkt aus unserer Sicht den Gerichtsstandort Deutschland und wird den Wirtschaftsstandort schwächen.
Zusammenfassend zum Liberalisierer Rexrodt: Ich finde, dieser Gesetzentwurf ist mehr Schein als Sein. Damit wird nicht ein tatsächlich fairer Wettbewerb stattfinden, sondern es wird in diesem Bereich zu Konzentrationsprozessen kommen. Wer Monopolstrukturen abschafft, hat damit eben noch lange nicht die Monopole abgeschafft.
Ich möchte zum zweiten Punkt kommen. Wir sind für die Marktwirtschaft und für Wettbewerb. Aber eins muß man immer wieder bedenken: Der Markt hat keine Richtung, und er ist auch niemandem Rechenschaft schuldig. Das heißt, er kann eine positive Dynamik für die Volksgemeinschaft auslösen oder eine negative Dynamik. Deswegen muß aus unserer Sicht der Staat Rahmenbedingungen so setzen - insbesondere für den Schutz der Lebensgrundlagen-, daß derjenige, der Gewinn auf dem Markt machen will, auch dem Gemeinwohlinteresse dient.
Mit dem Energiewirtschaftsgesetz werden die Weichen auch dafür gestellt, ob wir das CO2-Ziel erreichen können oder nicht, ob wir eine umweltverträgliche Energieversorgung haben werden oder ob wir weiter immer mehr CO2 produzieren.
Wenn man sich über Energie unterhält, geht es eben nicht nur darum, die Kosten zu senken. Es geht auch um andere Interessen. Herr Rexrodt ist in seiner großen Unfähigkeit zu differenzieren anscheinend auch unfähig, den Umweltschutz zu beachten.
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir die Vorrangregelung für umweltfreundliche Energieerzeugung, die Vorrangregelung für Sonne, Wind, Biogas und Wasser und auch die Vorrangregelung für KraftWärme-Koppelung und eine kostendeckende Vergütung für diese umweltfreundliche Energieerzeugung,
Michaele Hustedt
weil dieses im Gemeinwohlinteresse „Erhaltung der Lebensgrundlagen" ist.
Herr Uldall hat in seiner Rede nicht einmal das Wort Umweltschutz in den Mund genommen. Das ist ein Zeichen dafür, wie die Union und auch die F.D.P. an dieses Gesetzvorhaben herangehen.
Herr Rexrodt hat sich für den Umweltschutz noch nie interessiert.
Er will jetzt sogar die Chance nutzen, durch Einführung des Wettbewerbs das Stromeinspeisungsgesetz
unwirksam zu machen und vom Tisch zu bekommen.
- Ich weiß sehr wohl, daß es wahr ist.
Frau Merkel hätte hier eine große Aufgabe gehabt. Sie hätte für den Umweltschutz und für eine umweltverträgliche Energieversorgung kämpfen müssen. Am Anfang war das Umweltministerium für das grüne Poolmodell. Es gab mehrere positive Gutachten - diese wiesen in unsere Richtung -, die das grüne Poolmodell als gelungene Verknüpfung zwischen Wettbewerb und Umweltschutz sahen.
Im September 1995 hat Frau Merkel noch gefordert: freier Zugang Dritter zum Netz - Forderung des Bundesrates. Hat sie es durchgesetzt? - Nein! Dann hat sie einen echten Durchleitungstatbestand gefordert - Forderung des Bundesrates. Hat sie sich durchgesetzt? - Nein! Dann hat sie eine Aufnahme des Vorrangs regenerativer Energien und Kraft-WärmeKopplung gefordert - Forderung des Bundesrates. Hat sie sich durchgesetzt? - Nein! Sie hat sich lediglich mit einem „bitte, bitte, bitte" an die großen Stromkonzerne durchgesetzt, etwas mehr für die regenerativen Energien zu tun. Was wir davon halten, das können Sie sich denken.
Ich kann nur sagen: Blüm, der Minister im Sozialbereich, kämpft wenigstens für seine Sache.
- Herr Blüm, Entschuldigung, Minister Blüm. - Mit Frau Merkel haben wir dagegen eine Umweltministerin „light" . Ich kann nur mit Adenauers Worten sagen: „Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernst genommen. "
Die Konsequenz wird sein, daß das CO2-Ziel nicht erreicht werden kann. Früher hat man durch den tiefen Griff in die Haushaltskasse verfehlte Strukturen ausgeglichen. Sie wissen alle, das wird nicht mehr gehen. Das heißt, man muß sich schon dafür entscheiden, in die Rahmenbedingungen auch den Umweltschutz mit einzuarbeiten. Andernfalls wird er nicht stattfinden.
Moderne Umweltpolitik heißt: die Verbindung von Innovation, Schaffung von Arbeitsplätzen und Umweltschutz. Moderne Wirtschaftspolitik aus meiner Sicht, Herr Uldall, ist eben nicht nur auf die Kostensenkung beschränkt, sondern umfaßt die Frage, wie der Innovationsstandort Deutschland durch Zukunftstechnologien gefördert werden kann. In Ihrer Politik ist falsche Umweltpolitik mit falscher Wirtschaftspolitik gemixt. Das heißt: eine falsche Bundesregierung.
In der Gegenäußerung - man sollte das kaum glauben - wird es sogar noch schlimmer. Anstatt ernsthafte Kompromisse in den Bereichen echter Wettbewerb und Umweltschutz zu schließen, wird versucht, insbesondere die Ostbundesländer Sachsen und Brandenburg durch einen Ausnahmetatbestand - genannt: Braunkohle - schlicht und einfach zu kaufen. Aber real ist es ein Ausnahmetatbestand für die VEAG.
Auch ist es nicht ein Bestandsschutz, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach wollen die Stromkonzerne jetzt das, was sie nach der ostdeutschen Vereinigung den Stadtwerken nicht abringen konnten, in einer zweiten Flurbereinigungswelle erreichen.
Die VEAG hat in fünf Jahren bei 31,5 Milliarden DM Umsatz 6,5 Milliarden DM Profit gemacht. Das sind Profitraten, nach denen sich jedes Unternehmen der Großindustrie die Finger schlecken würde, natürlich auf Grund der Monopolwirtschaft und der Erhebung überhöhter Preise: 2 Pfennig mehr im Osten als im Westen.
Die VEAG macht mit diesem Geld in der Weise Politik, daß sie eine Kampfkasse auf dem 70-ProzentMarkt finanziert, mit der sie umweltfreundliche Energieerzeugung, zum Beispiel durch die Stadtwerke, aber auch durch Betriebe, systematisch mit Dumpingangeboten auf dem 30-Prozent-Markt unterbietet. Das heißt, sie fördert mit dieser Kampfkasse auf dem 30-Prozent-Markt auch eine Energiestruktur in Ostdeutschland, die rückwärts gewandt ist und die auch, wenn es so weitergeht, zum Standortnachteil für die ostdeutschen Bundesländer wird.
Wir sagen: Wenn man für die ostdeutsche heimische Braunkohle eine Ausnahme machen will, dann kann man das - Herr Jung hat das dargestellt - über andere Wege erreichen, zum Beispiel über eine bestimmte Quotenregelung, aber nicht über eine Ausnahme gerade von VEAG vom Wettbewerb. Bevor man überhaupt die VEAG herausnehmen will, ist aus unserer Sicht völlig klar, daß die Gewinnsituation und die Profitlage von VEAG auf den Tisch und überprüft werden muß; denn wir alle wissen, daß die Länderaufsichten in dieser Frage nicht funktionieren.
Wir werden deshalb prüfen, ob es möglich ist, 25 Prozent der Stimmen in diesem Bundestag zusammenzubekommen, um einen Untersuchungsausschuß für die Preispolitik der VEAG einsetzen zu können.
Ich sage nur eines: Daß Herr Rexrodt diesen Weg gegangen ist, zeigt wieder einmal deutlich, daß Sie
Michaele Hustedt
der Monopolwolf im neoliberalen Schafspelz sind und daß Sie nicht einen tatsächlich fairen und echten Wettbewerb wollen.
Vorrang für die Braunkohle und für die VEAG, aber keinen Vorrang für umweltverträgliche Energieerzeugung. - Es wird von uns, obwohl wir ein eindeutiges Ja zum Wettbewerb sagen, zu diesem Entwurf im Bundestag und im Bundesrat keine Zustimmung geben. Wenn Sie jetzt wieder mit dem alten Vorwurf der Blockadepolitik kommen, dann sage ich: Wir haben unsere Vorstellungen und die SPD hat ihre Vorstellungen vorgelegt. Wir haben über den Bundesrat Kompromißvorschläge auf den Tisch gelegt.
Wenn es in dieser Legislaturperiode zu keiner Beschlußfassung mehr kommen sollte, hängt das an der Kompromißunfähigkeit des Wirtschaftsministers, weil er eben nicht einen Interessenausgleich zwischen den Monopolisten, den großen Stromkonzernen, und den kleinen Unternehmen und der Umwelt herstellen kann. Außerdem ist er politikunfähig und anscheinend nicht in der Lage, zu differenzieren.
Nur die Stromkonzerninteressen zu vertreten und nur auf Kostensenkung zu setzen reicht aus unserer Sicht nicht, wenn man eine zukunftsfähige Energieversorgung haben will. Wir wollen Innovation. Wir wollen auch Mittelstand im Energieversorgungsbereich. Wir wollen vor allen Dingen auch den Umweltschutz und die Sicherung von Lebensgrundlagen.
Wenn es in dieser Legislaturperiode deswegen nicht zu einer Beschlußfassung kommen sollte, ist es nicht unsere Schuld, sondern dann hat das mit dem sturen Festhalten - Herr Jung sagte das schon - von Herrn Rexrodt zu tun. Dann muß man eben 1998 mit einer neuen Mehrheit ein tatsächlich zukunftsfähiges Energiegesetz machen.
Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Versorgung mit Energie und die Kosten der leitungsgebundenen Energien gehören zu den wesentlichen Faktoren, die den Wirtschaftsstandort Deutschland bestimmen. Sie beeinflussen unmittelbar seine Wettbewerbsfähigkeit. Auch deshalb gehören Fragen der Energieversorgung zu den Zukunftsfragen dieses Landes.
Unsere Betriebe in Deutschland haben im europäischen Vergleich Wettbewerbsnachteile, bei Gas und Strom von über 10 Milliarden DM. Herr Uldall hat
das hier an einer ganzen Reihe von Beispielen eindrucksvoll vorgeführt.
Deshalb gehört zu den großen Reformvorhaben auch die Liberalisierung der Energiewirtschaft, einer der letzten Monopolbereiche unserer Volkswirtschaft. Diese Reform ist Bestandteil des Koalitionsvertrages für die 13. Legislaturperiode und des 50Punkte-Programms der Bundesregierung für Investitionen und Arbeitsplätze.
Die F.D.P. begrüßt, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung heute, nach erheblicher Vorlaufzeit, als Novelle des Energiewirtschaftsrechts beraten werden kann. Er ist eine gute Grundlage für die anstehenden parlamentarischen Beratungen. Unser Dank gilt dem Bundeswirtschaftsminister, der diese Reform durch seinen persönlichen Einsatz auf den Weg gebracht hat.
In seiner Federführung liegt der Gesetzentwurf, der die Errichtung eines marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens vorsieht und eindeutig die Handschrift eines Liberalen trägt.
Kernpunkte der Novelle sind die Beseitigung der Monopolstrukturen und das Aufbrechen der heutigen Monopolmärkte. Damit können verbesserte Kostenstrukturen entstehen, die den Belangen der Energieverbraucher entsprechen; denn sie werden die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen steigern, und sie werden die Kosten für die privaten Haushalte günstig beeinflussen.
Ein Blick auf die heutige Marktsituation zeigt, wie dringend notwendig dieser Schritt ist. In der Stromwirtschaft teilen sich die drei großen Energiekonzerne RWE, VEBA und VIAG einen Marktanteil von etwa 75 Prozent an der Versorgung mit elektrischer Energie.
Die übrigen 25 Prozent verteilen sich auf weitere Regionalunternehmen und die städtischen Versorger. In der deutschen Gaswirtschaft hält ein einziger Anbieter, die Essener Ruhrgas AG, einen Anteil von zwei Dritteln des Marktes. Das restliche Drittel teilen sich im wesentlichen Thyssen und Bayerngas sowie die Wintershall AG. Bei Erdgas sind die Anbieter zu 75 Prozent auf das Ausland angewiesen. Sie kaufen vorwiegend Gas aus Rußland, Norwegen und den Niederlanden.
Die Stromerzeuger hingegen können ihr Produkt selbst erzeugen. Probleme mit Lieferanten, mit Lieferverträgen, mit Wettbewerbern und mit anderen Marktfaktoren kennen sie nicht. De facto verfügen die Stromerzeuger in ihren jeweiligen abgegrenzten Versorgungsgebieten über eine Alleinstellung. Wettbewerb muß für sie deshalb ein Fremdwort sein.
Der Preis für Industriestrom spiegelt ihre marktbeherrschende Stellung wider. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit weitem Abstand an der Spitze. Auch ich will ein Beispiel nennen, Herr Uldall: Die Kilowattstunde kostet in Düsseldorf 13,2
Paul K. Friedhoff
Pfennige, dagegen in Luxemburg nur 8,4 Pfennige. Das ist ein erheblicher Unterschied.
Darüber hinaus profitieren die Energieversorger von ihrer Monopolsituation und dehnen sie zunehmend auch auf andere Wirtschaftszweige aus. Die Abfallbranche, die Wasserversorgung und insbesondere der Zukunftsmarkt der Telekommunikation sind ihre neuen Spielfelder. Der Schaffung wettbewerblicher Strukturen unter Beteiligung kleiner und mittlerer Unternehmen hat diese Entwicklung mit Sicherheit nicht gedient. Die F.D.P. sieht dies mit großer Sorge.
Das zur Zeit geltende Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1935, das unter anderem hinsichtlich der Elektrizitäts- und Gasversorgung zum Ziel hat, „volkswirtschaftsschädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern" , ist ein Relikt aus Zeiten der Planwirtschaft. Die Vorschriften des GWB, die verschiedene Vertragsabreden möglich machen, flankieren das Energiewirtschaftsgesetz, stellen es aber nicht in Frage. Zwar wird die Freistellung der Energiewirtschaft von den kartellrechtlichen Verboten durch gesetzliche Korrektive, wie die Mißbrauchsaufsicht und die begrenzte Freistellung, auf eine Laufzeit von maximal 20 Jahren eingeschränkt, doch diese Ansätze sind zu eng, um die energiewirtschaftlichen Strukturen tiefgreifend zu ändern. Noch prägen Gebietsschutz und Konzessionsverträge, Höchstpreisbindungen und Verbundverträge unser Energiewirtschaftsgesetz. Das ist nicht gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland, das ist nicht gut für die Arbeitsplätze, und das ist auch nicht gut für die Verbraucher.
Der vorliegende Regierungsentwurf sieht vor, die spezielle Investitionsaufsicht für Strom- und Gasanlagen, die in § 4 des Energiewirtschaftsgesetzes festgeschrieben sind, aufzuheben. Die Aufnahme der Versorgung durch neue Anbieter gemäß § 5 des Energiewirtschaftsgesetzes soll erleichtert werden. Die Preisaufsicht für Stromtarife sowie die Kartellaufsicht über sonstige Strom- und Gastarife bleiben hingegen erhalten und werden effizienter, da echte Marktpreise als Vergleichspreise zur Verfügung stehen. Die F.D.P. begrüßt diese Schritte, tragen sie doch wesentlich zur Deregulierung in diesem Bereich bei.
Instrumente des Wettbewerbs sollen der Leitungsbau - soweit ökologisch vertretbar - und stärkere Nutzung der vorhandenen Netze durch Dritte sein.
Im Gegensatz zum vorliegenden Regierungsentwurf ist der SPD-Vorschlag eines Gesetzes über die Elektrizität von einer Regelungsdichte, die unserem Anliegen nach Deregulierung und Einführung von wettbewerblichen Strukturen völlig entgegensteht. Unter dem Deckmantel einer Umwelt- und Kommunalschutzpolitik soll Altes bewahrt werden und sollen Besitzstände erhalten bleiben.
So wird zum Beispiel der Netzzugang Dritter zwar als Rechtsanspruch ausgestaltet, gleichzeitig jedoch wieder massiv eingeschränkt, indem eine umfassende Vorrangsregelung zum Beispiel für KraftWärme-Koppelung, erneuerbare Energien und Strom aus ostdeutscher Braunkohle verankert wird.
Das ist der Unterschied zum Markt. Wenn Sie eine Marktöffnung wollen, dürfen Sie hier keine Schutzzäune errichten, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf tun.
Auch wir Freien Demokraten wollen den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien und eine Zukunft für die ostdeutsche Braunkohle, aber nicht ohne Wettbewerb. Ziel des Gesetzes muß es sein, den Weg für eine Senkung der im internationalen Vergleich deutlich zu hohen Strompreise zu bewirken und den Wirtschaftsstandort Deutschland zu entlasten. Das geht nach unserer festen Überzeugung nur durch Marktmechanismen.
Bereits eine Strompreissenkung um einen Pfennig je Kilowattstunde bedeutete nach Informationen der betroffenen Industrie im Bereich der Herstellung von Massenkunststoffen einen Rückgang der Herstellungskosten um 20 bis 50 DM je Tonne. Damit ist eine deutliche Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit solcher Produkte im internationalen Markt verbunden. Das wird den Arbeitsplätzen und den Verbrauchern sicher zugute kommen.
Frau Hustedt, Sie haben hier soeben erklärt: Auch wir Grüne wollen den Wettbewerb. Heute kann man im „Handelsblatt" lesen, was Sie darunter verstehen:
Zugleich solle ein öffentlich beaufsichtigter Pool entstehen, um die Strompreisbildung, die Stromeinspeisung und -abnahme zu regeln.
Dies ist allerdings ein Wettbewerb, wie wir ihn uns nicht vorstellen. Das hat mit Markt und Deregulierung auch nicht viel zu tun.
Das Beispiel der Energiewirtschaft, ihr langes zähes Ringen um einen neuen Ordnungsrahmen und um wettbewerbliche Strukturen, sollte uns bei den kommenden parlamentarischen Beratungen dazu ermutigen, die notwendigen Schritte zur Erneuerung dieses Ordnungsrahmens im Energierecht auch wirklich zu gehen. Die F.D.P. wird sich dafür einsetzen, daß dieses Gesetz mit den im Verfahren immer üblichen Veränderungen und Verbesserungen auf den Weg gebracht werden kann.
Paul K. Friedhoff
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner Herr Abgeordneter Rolf Köhne.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Versorgung mit elektrischer Energie ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Sie bringt notwendigerweise wegen der Leitungen natürliche Monopole hervor. In anderen Staaten, zum Beispiel in Frankreich, ist sie deshalb in staatlicher Hand. In Deutschland hingegen wird die Energiewirtschaft von wenigen Konzernen kontrolliert. Befassen wir uns einmal kurz mit diesen.
Die RWE, der größte von ihnen, hat 1995 rund 22 Milliarden DM im Bereich Energie umgesetzt. Macht und Einfluß des RWE-Konzerns entspringen dabei einem kaum durchschaubaren Geflecht von Kapital und Politik. Im Versorgungsgebiet der RWE streichen ungefähr 2000 Politiker und Verwaltungsbeamte über Pöstchen im Konzern oder in einer seiner zahlreichen Töchter Nebenverdienste ein. Obwohl eigentlich durch die Beteiligung zahlreicher nordrhein-westfälischer Kommunen das mehrheitliche Stimmrecht bei der Politik liegt, setzen sich so die Interessen des Konzerns durch.
Die Nummer zwei im Energiegeschäft, die Preussenelektra, leidet so ungeheuer unter der Last der Einspeisung von Strom aus Windenergie, daß sie im letzten Jahr nach Steuern nur schlappe 45 Prozent mehr Gewinn, insgesamt 1,8 Milliarden DM, erzielen konnte. Als ausgleichende Gerechtigkeit hat sie auch proportional weniger Steuern als im Vorjahr bezahlt.
Einer der eifrigsten Fürsprecher dieses Konzerns ist im übrigen „Mächte-gern-Kanzler" Schröder.
Der dritte im Bunde, die Bayernwerke, unterscheiden sich von den anderen beiden hauptsächlich dadurch, daß sie über die VIAG besonders mit der bayerischen Staatsregierung verfilzt sind. Der ehemalige Finanzminister Georg von Waldenfels wurde offensichtlich mit einem Aufsichtsratsmandat dafür belohnt, daß er den für die VIAG lukrativen Verkauf der Bayernwerke eingefädelt und abgewickelt hat.
Der vierte Konzern, die VEAG, kontrolliert 70 Prozent der Stromerzeugung in Ostdeutschland und gehört - na, wem wohl? - zu je einem Viertel den ersten drei genannten Konzernen. Kein Wunder also, daß der Strom im Osten angesichts dessen, daß die Profite durch drei geteilt werden müssen, besonders teuer ist.
Die drei großen Konzerne kontrollieren aber nicht nur den Osten, sondern mit der Ruhrkohle AG, der Rheinbraun und der Laubag auch den Abbau der Kohle in Ost und West, also die Rohstoffe, die sie an sich selber verkaufen. Außerdem unterhalten sie bzw. ihre Mutterkonzerne, VEBA und VIAG, zahlreiche Tochtergesellschaften in den Bereichen der Abfallwirtschaft, der Ver- und Entsorgung sowie der Telekommunikation und in anderen wesentlichen Bereichen des öffentlichen Lebens. Es besteht die Gefahr, daß sich gerade diese Konzerne zu Infrastrukturkonzernen entwickeln, die immer mehr öffentliche Aufgaben übernehmen, wofür wir dann teuer bezahlen müssen.
Dringt man noch etwas tiefer in die Eigentumsverhältnisse ein, so stößt man immer wieder auf ein Konglomerat von sechs Banken und Versicherungen, nämlich die Allianz, die Münchener Rück, die Dresdner Bank, die Deutsche Bank, die Bayerische Vereinsbank und die Bayerische Hypo, die wiederum über zahlreichste Kanäle so miteinander verflochten, verheiratet und verschwägert sind, daß sie sich im wesentlichen selber besitzen und kontrollieren, darüber hinaus auch das Geld von Millionen Kleinaktionären und Sparern.
- Das ist Gegenstand der Debatte, Herr Kollege Grill.
Summa summarum kann man nämlich feststellen: Das profitträchtige Geschäft mit elektrischer Energie wird von einflußreichen Kapitalkreisen kontrolliert, deren geballte ökonomische Macht die politische Macht dieser Bundesregierung weit übertreffen dürfte. Diese Macht ist durch niemanden legitimiert. Allein schon zur Wahrung der Demokratie ist es deshalb geboten, diese Macht zu entflechten und gesellschaftlicher Kontrolle zu unterwerfen. Darin liegen nämlich die Gründe für die hohen Strompreise.
Aber auch aus umweltpolitischer Sicht ist dies dringend geboten.
Die Energiekonzerne haben aus finanziellem Interesse große Überkapazitäten in der Stromerzeugung geschaffen und behindern so den dringend erforderlichen Übergang auf rationelle Energienutzung und regenerative Quellen. Über die Rückstellungen für die Entsorgung von Atomanlagen haben sie dem Staat Steuern in Höhe von rund 20 Milliarden DM vorenthalten und ihre Kriegskassen um 55 Milliarden DM aufgefüllt. Das sind die realen Gründe, weswegen gegen eine Bevölkerungsmehrheit an der Atomenergie festgehalten wird, Kollege Grill.
Wenn der Wirtschaftsminister und andere hier immer vom Kampf gegen die Monopole sprechen,
Rolf Köhne
dann meinen sie aber etwas ganz anderes. Sie meinen das Monopol der Gemeinden und Kommunen auf die Verfügbarkeit über ihre Straßen und Plätze. Sie meinen das Recht auf kommunale Selbstverwaltung, das im Grundgesetz garantiert wird. Das wollen Sie aushebeln. Genau darum geht es.
Es geht nicht gegen diese drei Konzerne, sondern es geht gegen die kleinen 900 Stadtwerke - das muß man hier einmal ganz klar unterstreichen -;
denn das Wettbewerbssystem, das hier eingeführt werden soll, wird allein die großen Energieversorgungsunternehmen und die Großkunden besserstellen. Für die kommunalen Unternehmen besteht doch überhaupt keine Chancengleichheit. Durch das Herausbrechen von Großkunden werden kommunale Versorgungsunternehmen erhebliche Einbußen erleiden, so daß eine Reihe von ihnen über die Klinge springen wird.
Anstelle eines freien Wettbewerbs zugunsten aller Verbraucher werden letztendlich die industriellen Großabnehmer profitieren. Das kleine und mittelständische Gewerbe und die privaten Haushalte werden die Zeche zahlen. Darauf läuft das Ganze hinaus, was hier vorgeschlagen wird.
Die Bundesregierung beseitigt durch die geplante Aufhebung geschlossener Versorgungsgebiete und ausschließlicher Wegerechte die verfassungsrechtlich garantierte Regelungskompetenz der Gemeinden für die örtliche Versorgung der Bevölkerung mit Energie. Das muß aufhören.
Die Verhandlungsposition der Städte und Gemeinden bezüglich der Konzessionsabgabe bleibt trotz der Nachbesserungen, die Sie vorgenommen haben, geschwächt. Sie wird nach Auslaufen bestehender Verträge zu Einnahmeverlusten bei den Gemeinden führen, die momentan ohnehin schon gebeutelt sind und durch Ihre Politik immer mehr gebeutelt werden.
Außerdem werden der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Klimaschutz in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht berücksichtigt. Die umweltfreundliche Kraft-Wärme-Kopplung wird durch das Herausbrechen einzelner Großkunden möglicherweise sogar gefährdet. Auch andere umweltfreundliche Varianten der Energieerzeugung werden durch den künftig vorgesehenen Wettbewerb stark behindert.
Fazit: Es wird vor allem einen Verdrängungswettbewerb gegen die Stadtwerke geben. Darüber hinaus passiert noch etwas ganz anderes, Herr Rexrodt: Dadurch, daß Sie in Ihrem Gesetzentwurf keinerlei Regelung dafür getroffen haben, wie denn die Durchleitung erfolgen soll, haben Sie automatisch dafür gesorgt, daß sich die drei großen Konzerne, die kapitalmäßig ohnehin schon miteinander verflochten sind, jetzt auch noch zusammensetzen müssen, daß sie sozusagen betriebswirtschaftlich und technisch kooperieren müssen. Damit werden Sie die Kapitalkonzentration weiter erhöhen. Das wird möglicherweise darauf hinauslaufen, daß diese drei großen Stromkonzerne am Ende fusionieren. Das genau ist das Ergebnis. Es geht also nicht um den Kampf gegen die Monopole, sondern es geht darum, Möglichkeiten für eine neue Konzentration im Energiebereich zu schaffen. Das ist das, was dieser Entwurf beabsichtigt.
Aus unserer Sicht müßte eine Neuordnung der Elektrizitätswirtschaft folgende Eckpunkte umfassen: Erstens ist Energieversorgung eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Nach Art. 28 Grundgesetz obliegt das den kommunalen Gebietskörperschaften.
Zweitens. Die ökonomische Macht der Energiekonzerne muß durch eine Neuordnung der Eigentumsverhältnisse und eine konsequente Trennung von Erzeugung, Transport und Verteilung gebrochen werden. Die Übertragungsnetze als natürliche Monopole sind dabei besonderer gesellschaftlicher Kontrolle zu unterwerfen. Das gebietet schon Art. 14 des Grundgesetzes, nach dem das Eigentum dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
Drittens muß auch übergeordnet ein Vorrang für regenerative Energieträger und Kraft-Wärme-Kopplung festgeschrieben werden. Die derzeitigen Regelungen im Stromeinspeisungsgesetz müssen beibehalten und um weitere Maßnahmen zur Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung und Photovoltaik erweitert werden. Das wäre eine echte Alternative zur Monopolwirtschaft.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Köhne, das, was ich hier eben gehört habe, war eine leicht verwestlichte Form meines fast vergessenen Marxismus-Leninismus-Unterrichts.
Ich kann nur sagen: Alle diese Theorien scheinen ziemlich gescheitert zu sein. Ich schlage deshalb vor, sie nicht auf ein so kompliziertes Gebiet wie „mehr Wettbewerb im Energierecht" anzuwenden;
denn um dieses Gebiet ringt man selbst unter demokratischen Verhältnissen nun auch schon seit vielen Jahrzehnten. Ich glaube, wir müssen uns der Sache mit aller Ernsthaftigkeit widmen.
Neben dem Regierungsentwurf liegen noch zwei andere Entwürfe zur Debatte vor. Als erstes muß man sagen - Frau Hustedt, soweit kann ich Ihnen sogar folgen -: Wettbewerb und Umweltschutz dürfen keine Gegensätze sein. Wer meint, man kann es den
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Kommunen ersparen, ihren Bürgern zu sagen, wie teuer der öffentliche Personennahverkehr ist, indem man das irgendwie untransparent über die Strompreise gleich mal mitregelt, der tut weder dem Umweltschutz noch den Bürgern, noch sich selbst einen Gefallen.
Aus diesem Grunde muß doch ganz klar sein: Auch Umweltpolitiker scheuen sich nicht vor Transparenz. Wir brauchen den Wettbewerb.
Ich will noch hinzufügen: Ich gehöre zu denen, denen daran liegt, daß in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch Strom erzeugt wird. Wir können uns natürlich all den Diskussionen entziehen und sagen: Wir machen hier das, was wir für richtig halten. Aber dann wird man im europäischen Wirtschaftsraum Strom aus Frankreich, Strom aus Norwegen oder sonstwoher beziehen.
Dann haben wir gar nichts gewonnen, weil wir nicht fähig waren, unsere eigenen Monopole zu brechen. Und die Elektrizitätsversorgungsunternehmen wären nach meinem Eindruck durchaus in der Lage, sich anderen Geschäftsfeldern zuzuwenden.
Nun ist aber völlig unstrittig, daß die Energierechtsreform wesentliche Auswirkungen hat. Sie birgt Chancen und Risiken für die umweltpolitischen Belange und für die Fragen der nachhaltigen Entwicklung in sich.
Ich glaube, daß die Herausforderung des Schutzes unseres Klimas, nämlich die Reduktion der CO2Emissionen, ein Punkt sein muß, der uns auch bei dieser Reform beschäftigt. Deshalb halten wir es für notwendig, daß mehr Strom aus erneuerbaren Quellen produziert wird, um das Ziel der Reduktion der CO2-Emissionen um 25 Prozent zu erreichen. Wir brauchen die Kraft-Wärme-Kopplung und eine höhere Effizienz bei Kraftwerken mit fossilen Brennstoffen.
- Nun schreien Sie doch nicht gleich! Ich bin ja noch gar nicht bei den Instrumenten; ich bin erst bei den Zielen.
Ich finde es ziemlich unerträglich, daß wir trotz gleicher Ziele unentwegt darüber debattieren, ob wir es schaffen, diese Ziele zu erreichen, und daß Sie stets erzählen, daß wir es nicht schaffen. Nun lassen Sie es uns doch einmal versuchen und in Ruhe diskutieren. Ich sage jedenfalls ganz deutlich: Ich stehe zu dem Reduktionsziel.
Unter diesem Blickwinkel betrachte ich natürlich auch die Frage: Wie sieht es mit der Energierechtsnovelle aus? Wir brauchen marktwirtschaftliche Mechanismen. Frau Hustedt, der Ansatz, den Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen, ist natürlich theoretisch interessant und in der Tat auch von Mitarbeitern meines Ministeriums - auch mit meiner Billigung, wenn ich das hier so sagen darf - immer wieder verfolgt worden. Aber wir brauchen natürlich eine Novellierung des Energiewirtschaftsrechts nach den deutschen Gegebenheiten, und das sind eben nicht die britischen. Deshalb können wir jetzt nicht einfach mal den Elektrizitätsversorgungsunternehmen die Leitungen wegnehmen; dann kommen wir nämlich in „kleine Konflikte" mit der Verfassung.
Deshalb ist das Poolmodell auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland aus meiner Sicht nicht anwendbar, obwohl theoretisch interessant und umweltpolitisch auch handhabbar, allerdings mit schärfsten Eingriffen des Staates - das muß man ganz klar sagen -, die man ablehnen kann, und auch mit schwerwiegenden Fragen, wo denn nun wer wie an welcher Schraube drehen soll, um den Zugang von regenerativen Energien zum Leitungsnetz zu regeln. Dafür brauchen Sie wieder Gremien, und damit haben Sie wieder eine Menge Regulierung. Es gibt also viele Fragestellungen.
Nun haben wir in dem neuen Energiewirtschaftsgesetz, so wie es der Bundeswirtschaftsminister, die gesamte Bundesregierung hier heute vorgelegt hat, das Prinzip der Umweltverträglichkeit als gleichberechtigtes Ziel neben Preiswürdigkeit und Versorgungssicherheit.
- Aber, Herr Schütz, die Voraussetzung ist doch erst einmal, daß es gleichberechtigt ist. Das ist ganz im Sinne der nachhaltigen Entwicklung.
Diese heißt nämlich nicht nur „Umweltpolitik", und dann kommt eine Weile gar nichts, und anschließend guckt man mal nach Ökonomie und Sozialem. Wir brauchen die Gleichberechtigung. Sie steht in § 1 des Gesetzes.
Ferner - das verschweigen Sie einfach - ist natürlich die Gesamtheit der Energiegesetze zu sehen. Man kann sagen: Wir inkorporieren das Stromeinspeisungsgesetz in das Energiewirtschaftsgesetz. Oder man sagt: Wir wollen das Stromeinspeisungsgesetz erhalten, an das Energiewirtschaftsgesetz und seine Veränderungen anpassen und im Stromeinspeisungsgesetz das regeln, was wir für die Förderung regenerativer Energien für notwendig halten. Man kann beide Wege gehen. Es gibt gute Gründe, zu sagen: Wir trennen das; denn es macht keinen Sinn, bei den wettbewerblichen Komponenten von vornherein immer wieder auch alle Förderinstrumente unterzumischen. Aber ich glaube, daran braucht man nicht den allerletzten Prinzipienstreit zu entzünden.
Die Bundesregierung eröffnet durch den vorliegenden Gesetzentwurf die Option, den Anteil der Elektrizitätserzeugung aus erneuerbaren Energien und
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
aus Kraft-Wärme-Kopplung zu steigern. Damit sind wir wieder bei unserem Prinzipienstreit, den wir unentwegt durch die Umweltpolitik tragen: Muß der Staat alles bis ins letzte vorgeben, oder kann man den Betrieben und der Wirtschaft auch die Chance geben, eigene kreative Überlegungen anzustellen und entsprechende Versuche zu machen? Denn wer behaupten würde, in der deutschen Elektrizitätswirtschaft gäbe es heute keine Anstrengungen, erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Energieinformation und -beratung zu fördern, der lebt an der Wirklichkeit vorbei. Schon heute sind die wirtschaftlichen Anstrengungen im Wettbewerb der einzelnen Energieversorgungsunternehmen durchaus zu sehen, auch auf mehr Energieeffizienz, Kraft-Wärme-Kopplung und vieles andere hinzuarbeiten.
Deshalb sagen wir: Bereits vor der europäischen Stromrichtlinie, die besagt, es könne Vorrang für erneuerbare Energien geben, hatten wir in Deutschland das Instrument des Stromeinspeisungsgesetzes, und das wollen wir weiter nutzen. Ich sage Ihnen auch: Wir wollen dieses Instrument ganz bewußt weiter nutzen, um andere Formen der Energieerzeugung zu fördern, zum Beispiel die Windenergie, um die es in allen politischen Bereichen und aus gutem Grund eine ganze Reihe von Kämpfen gibt, aber auch die Energieerzeugung aus Biomasse. Diese sehe ich als eine der Formen erneuerbarer Energien an, die eine Chance haben, demnächst wettbewerbsfähig zu werden. Diesbezüglich sind wir in gutem Kontakt mit dem Bundeslandwirtschaftsministerium und mit Herrn Rexrodt ohnehin. Er hat nicht das geringste gegen Biomasse; das ist mir noch nie aufgefallen.
- Entschuldigung, falls ich jetzt etwas gesagt habe, was mißverstanden werden kann. Wir sind uns schon einig.
Wir brauchen alle Formen der erneuerbaren Energien. Und ich sage Ihnen: Die Stromerzeugung aus Solarenergie ist diejenige Form, die heute - bezogen auf erneuerbare Energiequellen - am weitesten von der Wettbewerbsfähigkeit entfernt ist.
Ich spreche einen weiteren Punkt an: Sie tun den erneuerbaren Energien keinen Gefallen, wenn Sie diese vom Wettbewerb ausnehmen und keinerlei Druck ausüben, damit auch sie wettbewerbsfähig werden. Es hilft überhaupt nichts, die Windenergie auf diese Weise zu fördern und auf die Einspeisungsvergütungen überhaupt keinen Druck zu machen, so daß dann anschließend die kommunale Finanzierung über einen Windpark erfolgt. Es muß hier viel mehr Druck gemacht werden, damit auch auf diesem Sektor eine wettbewerbsfähige Energieerzeugung entsteht. Genau deshalb wird auch über neue Einspeisungsvergütungen geredet. Es wird nicht die Windenergie „totgemacht" oder das Stromeinspeisungsgesetz ausgehebelt. Es wird Druck gemacht, technische Innovationen zu entwickeln. Ich glaube, das ist in unser aller Interesse.
Ich will abschließend noch sagen, daß ich - auch im Sinne der Umwelt - hoffe, daß der jetzige Regierungsentwurf in unseren parlamentarischen Beratungen und dann auch im Bundesrat eine Mehrheit finden wird. Da wird es sicherlich Diskussionen sowohl in Richtung Kommunen, in Richtung neue Bundesländer als auch um erneuerbare Energien geben. Aber meiner Meinung nach werden wir mit einem verstärkten Wettbewerb im Energierecht und der gleichzeitigen Anpassung des Stromeinspeisungsgesetzes ein Instrument haben, mit dem wir bessere Voraussetzungen für eine umweltverträgliche Energieerzeugung schaffen.
Ich sage ganz deutlich: Ich stehe dazu, daß wir den Anteil erneuerbarer Energien erhöhen, daß wir uns hierfür Ziele setzen, daß darüber zwischen Bundesregierung und Bundestag gesprochen wird, um geeignete Instrumente dafür zu finden. Aber ich bin auch der Ansicht, daß man der Wirtschaft erst einmal die Aufgabe stellen kann, sich selbst Gedanken zu machen, bevor man mit dem großen staatlichen Hammer kommt.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Michaele Hustedt.
Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, daß unser Poolmodell zwar theoretisch interessant sei und eine gute Mischung zwischen Wettbewerb und Umweltschutz darstelle
- ich werde gleich langsamer -, sich aber die Stromkonzerne ihre Macht nicht so einfach nehmen lassen würden - das wird auch in der Begründung ihres Gesetzentwurfes gesagt -, sondern es zu Klagen kommen würde, deren Verhandlung zehn Jahre dauern und damit den Wettbewerb hinauszögern würde. Ich glaube, das ist ein vorgeschobenes Argument. Man hätte, wenn man tatsächlich gewollt hätte, den gleichen Weg wie Großbritannien, Kalifornien und andere Länder gehen können.
Sie wissen genau wie ich - aus diesem Grund war es überhaupt möglich, diesen kleinen Schritt pro Wettbewerb zu machen -, daß die Stromkonzerne in einer sehr merkwürdigen Lage sind, weil sie im Bereich der Telekommunikation als Neuanbieter auf dem Markt sind und genau das, was sie im Bereich der Energieversorgung ablehnen, im Bereich der Telekommunikation gegenüber einem Betrieb in staatlicher Hand fordern. Die Stromkonzerne wären in außerordentlich arge Bedrängnis geraten, ihren Widerstand gegen neutrale Netze politisch argumentativ rüberzubringen, wenn es einen Deal gegeben hätte: Man hätte in beiden Bereichen, im Telekommunika-
Michaele Hustedt
tions- und im Energiemarkt, einen fairen Wettbewerb eingeführt. Dann aber hätte es die Bereitschaft der Bundesregierung geben müssen, auch im Bereich der Telekommunikation neutrale, faire Netze einzurichten. Dann hätte man diese Forderung auch als Grundsatzforderung an die Energieversorgungsunternehmen im Energiebereich stellen können. So hätte durchaus ein Deal zwischen diesen beiden Bereichen entstehen können. Dies wäre auch durchsetzbar gewesen.
Deswegen halte ich das Argument, daß es nur zu Klagen gekommen wäre und daß dies in unserem Land nicht durchsetzbar ist, für sehr weit hergeholt. Ich glaube eher, daß es keine Bereitschaft gegeben hat, sich tatsächlich mit den großen Stromkonzernen anzulegen.
Zweitens zum Stromeinspeisungsgesetz: Frau Merkel, zwischen Anpassen und Abbauen besteht ein Unterschied. Auch ich bin dafür, das Stromeinspeisungsgesetz an die liberalisierten Märkte anzupassen. Was Herr Minister Rexrodt aber im Augenblick in seinem Haus plant, ist Abbau. Von Ihnen hätte ich heute klare Worte erwartet, daß im Wirtschaftsministerium a) geplant wird, daß die Kofermentation vom Bundesrat nicht übernommen wird, die gerade für die Biomasse den großen Sprung in die Wirtschaftlichkeit darstellt, und b) darüber diskutiert wird, die Vergütungssätze so abzusenken, daß eine Ausweitung der Windenergie im Binnenland nicht mehr möglich ist. Dazu hätte ich von Ihnen heute klare Worte erwartet. Sie hätten sagen sollen: Das mache ich nicht mit. Ich bin für den Ausbau der regenerativen Energien; dafür werde ich in den Kampf gehen.
Präsidentin. Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin Merkel, möchten Sie antworten?
Ja, kurz, Frau Präsidentin.
Frau Hustedt, Sie haben gesagt, Sie glaubten, die Realisierung des Pool-Modells wäre machbar gewesen. Wir sind nach Abwägungen zu dem Schluß gekommen, daß es nicht gegangen wäre, zumindest nicht in „endlicher Zeit" .
Jetzt sage ich Ihnen einmal etwas anderes: Auch das Pool-Modell bietet keinerlei Gewißheit dafür, daß damit die regenerativen Energien besser gefördert werden. Ich habe aus Ihrem Munde noch nicht gehört, daß Großbritannien durch die Anwendung des Pool-Modells das Mekka der Förderung regenerativer Energien geworden sei. Es ist ein anderer systematischer Ansatz, der aber mitnichten garantiert, daß für die regenerativen Energien mehr getan werden kann. Das Stromeinspeisungsgesetz kann dasselbe leisten wie die Quoten für regenerative Energien im Rahmen des Pool-Modells.
Nun zu Ihren Aussagen bezüglich der regenerativen Energien und des Stromeinspeisungsgesetzes. Ich halte es für ein ziemlich starkes Stück, mir zu unterstellen, daß ich mich für die Anpassung des Stromeinspeisungsgesetzes an die Gegebenheiten des Energiewirtschaftsgesetzes eingesetzt hätte, um anschließend im Stromeinspeisungsgesetz keine einzige Form der regenerativen Energieerzeugung mehr fördern zu können. - Das will niemand bei uns.
Frau Hustedt, Sie müssen ganz klar sehen, daß es im Bereich der Windenergie zu Verzerrungen gekommen ist - das ist überhaupt keine Frage -, daß es zu regionalen Ungleichgewichten in bezug auf die Belastung der Stromkunden kommt, auch daß es zu einer ziemlich einseitigen Weiterentwicklung der Windenergie gekommen ist - mit aus meiner Sicht zweifelhaften Nebenwirkungen. Die Sanierung der kommunalen Finanzen ist wirklich nicht Aufgabe der Förderung regenerativer Energien.
Deshalb sage ich: Wir müssen den Druck beibehalten. Aus diesem Grund wird es eine ausführliche Diskussion im Parlament über die einzelnen Gegebenheiten des Stromeinspeisungsgesetzes geben.
Unsere Diskussionen mit dem Bundeswirtschaftsminister beziehen sich zur Zeit auf die Frage: Wie können wir die Grundlage verbreitern? Deshalb halte ich Zielvorgaben für vernünftig.
Wir müssen auch die anderen Formen erneuerbarer Energien fördern. Es ist absurd, nur an die Sonnenenergie zu denken und die naheliegende Biomasse fast gar nicht mit einzubeziehen. Lassen Sie uns in dieser Richtung weiterarbeiten!
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietmar Schütz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Merkel, ich stimme Ihrem Satz zu: Wettbewerb und Umweltschutz dürfen kein Gegensatz sein. - Das ist eine klare Position, die wir teilen.
Wir sind der Meinung, daß die Zielsetzung eines Energiewirtschaftsgesetzes auch Wettbewerbsbestimmungen beinhalten darf, aber nicht nur. Ein Energiewirtschaftsgesetz muß gleichzeitig ökologische Reformen mit Instrumenten auf dem Stromsektor einleiten, um die Belastungen durch den Verbrauch von Energie nicht nur zur Ressourcenschonung, sondern auch zum Schutz der Umwelt zu begrenzen. Diese Instrumente aber sind im Gesetz überhaupt nicht vorhanden. Sie erheben in Ihrem Gesetzentwurf zwar die Forderung, daß Strom umweltgerecht produziert werden muß. Aber kein einziges Instrument dafür ist im Energiewirtschaftsgesetz enthalten. Wir alle wissen: Für die Durchsetzung der CO2-Reduktionsziele ist das Energiewirtschaftsgesetz für Strom - und später auch für Gas - ein Schlüsselgesetz.
Dietmar Schütz
Das muß stimmen. Wenn das nicht stimmt, können wir vieles nicht erreichen.
Auf dänische und niederländische Initiative, aber auch mit Unterstützung der Briten und der Nordeuropäer insgesamt gewährt die europäische Richtlinie an verschiedenen Stellen einen Vorrang für regenerative Energien und Kraft-Wärme-Kopplungen in den Netzen. Weder bei der Formulierung der EG- Richtlinie selbst noch jetzt, bei der Umsetzung der Richtlinie, hat diese Bundesregierung den Willen gezeigt, zu einer umweltverträglichen Energieversorgung in diesem Gesetz beizutragen. Dies zeigt wieder einmal: Die Bundesregierung ist in keiner Weise Vorreiter einer umweltverträglichen Energieversorgung.
Sie ist eher Nachzügler, und was die Instrumente der EG-Richtlinie selbst angeht, ist sie an vielen Stellen sogar Verweigerer einer nach vorne weisenden ökologisch verantwortbaren Energieversorgung.
Wir haben bei dem Thema „Ausbau der regenerativen Energien" in diesem Hause zwischen allen Fraktionen immer wieder einen engen Schulterschluß gehalten und versucht, dieses wichtige Anliegen gemeinsam zu sichern und zu fördern. Mit der Vorlage dieses Regierungsentwurfes, der kein einziges Instrument beinhaltet, das diesem Thema Rechnung trägt, gibt die Bundesregierung diese gemeinsame Position meines Erachtens auf.
Uns liegt ein reines Deregulierungsgesetz vor, das, wie gesagt, auf keinen Fall Umweltschutzgesichtspunkten dient, obwohl doch die Erfahrungen aus den Niederlanden, aber vor allen Dingen aus Dänemark und Großbritannien zeigen, daß wirksamer Wettbewerb und Umweltschutz in der Energiewirtschaft im Rahmen eines EU-konformen Energierechts miteinander vereinbar sind. Herr Uldall, Dänemark zeigt, daß normierter Wettbewerb und normierter Umweltschutz in einem Gesetz zu den niedrigsten Strompreisen in der EU führen. Das zeigt Ihnen doch, daß auch Sie das ins Gesetz hineinschreiben sollten, wenn Sie die Bedingungen des Wettbewerbs mittragen.
Das Beispiel Frankreich, das Sie gebracht haben, ist völlig abwegig, weil Frankreich subventionierte Strommärkte hat. Sie hätten besser Dänemark mit den niedrigsten Strompreisen der EU als Beispiel anführen sollen. Das wäre richtig gewesen.
Das bisherige Stromeinspeisungsgesetz, so wie Sie, Frau Merkel - sie ist im Augenblick nicht zu sehen -
es hier erneut dargelegt haben, reicht nicht aus, um den Absatz für den regulierten Strom auf den deregulierten Märkten zu sichern. Wir brauchen eine stringente Vorrangeinräumung für regenerative Energien im Energiewirtschaftsgesetz selbst. Wenn dies nicht geschieht, wird der entfesselte Markt die regenerativen Energien vom Markt fegen. Dies geschieht dann auf Grund der Marktgesetze und wegen der mangelnden rechtlichen Sicherheit, für die diese Bundesregierung dann die politische Verantwortung trägt.
Wenn das Stromeinspeisungsgesetz parallel und unverbunden zum Energiewirtschaftsgesetz in novellierter Fassung erhalten bleibt, müßte sich die Regierungskoalition mindestens bei zwei Komplexen Gedanken machen, wie das miteinander zu verbinden ist.
Zum ersten Komplex müssen sie sich fragen lassen: Wieso nehmen Sie die Vorrangsregelung nicht mit in das Gesetz hinein, obwohl doch die EU-Richtlinie sie expressis verbis mit an die Hand gibt?
Was - so müssen Sie sich fragen lassen - bedeutet diese Unterlassung im Hinblick auf den Bestand des späteren Stromeinspeisungsgesetzes? Wie interpretiert das ein Richter? Wieso, meine Damen und Herren von der Koalition, gibt es im Energiewirtschaftsgesetz im Hinblick auf das Stromeinspeisungsgesetz keine Einpaß- oder Kollisionsnorm? Wieso wird bei der Normierung zur Deregulierung an keiner Stelle erwähnt, daß eine Stromerzeugung in regulierten Märkten, wie es im Stromeinspeisungsgesetz bei den regenerativen Energien geschieht, weiterhin Bestand haben soll? All diese Fragen müssen Sie sich stellen und in dem Gesetz beantworten. Diese Fragen können Sie nicht einfach außen vor lassen.
Zum zweiten Komplex: Ein entscheidender Strukturfehler des geltenden Stromeinspeisungsgesetzes ist die ungleichmäßige und fast willkürliche Belastung der einzelnen Energieversorgungsunternehmen mit den Kosten der Einspeisung. Wenn auch die Höhe der Zusatzbelastung rechtlich streitig ist, so ist doch klar, daß die EVU in den Starkwindgebieten und in den Alpengebieten Sonderbelastungen haben. Es kann doch nicht angehen, daß wir diese Sonderbelastung ohne jeglichen Kostenausgleich bestehen lassen und in das Gesetz keine einzige Norm dahin gehend hineinschreiben, wie wir damit umgehen wollen oder wie wir zum Beispiel auf der Netzebene einen Kostenausgleich schaffen wollen. Das haben wir vor. So etwas müssen Sie in dieses Gesetz hineinschreiben; es gibt keinen anderen Platz für solche Regelungen. Deswegen ist der Gesetzentwurf
Dietmar Schütz
auch an dieser Stelle falsch, und die Regelungen dort sind unvollständig.
Wenn ich die Positionen von Frau Merkel, die im Vorfeld dieser Debatte durch die Presse gegangen sind, Revue passieren lasse, dann kann ich nur feststellen, daß sie mit ihrem Widerstand gegen ein Gesetz, das allein Wettbewerbsaspekte berücksichtigt, gescheitert ist. In Richtung Koalition und auch in Richtung meiner Kollegen, mit denen ich gemeinsam gestritten habe, sage ich: Wir müssen, wenn wir regenerative Energien überhaupt weiter sichern wollen, das gemeinsam an dieser Stelle, in diesem Gesetz tun. Ich hoffe, daß Sie gemeinsam mit Frau Merkel wieder dieses Terrain betreten und Entsprechendes im Gesetz vorsehen.
Bevor ich zu unserem Gesetzentwurf komme, lassen Sie mich noch etwas zu den Mehrkosten der Stromeinspeisung selbst sagen. Bei den Windkraftanlagen rechnen wir im Augenblick mit Mehrkosten von etwa 200 Millionen DM; hinzu kommen nach unseren Berechnungen etwa 150 Millionen DM, die sich aus der Vorrangeinräumung für die KraftWärme-Koppelung ergeben. Das wären jetzt etwa 350 Millionen DM. Wenn ich das auf das Jahr 2005 hochrechne, dann ergibt sich, daß wir bei rund 500 Millionen DM Zusatzkosten anlangen werden. Bei einem Gesamtumsatz auf dem Strommarkt von 120 Milliarden DM macht das einen Kostenanteil der regenerativen Energien von 0,5 Prozent aus. Das kann man doch weiß Gott aushalten, wenn wir diese Summe auf alle Energieversorgungsunternehmen verteilen. Man kann dann nicht von Wettbewerbsverzerrung oder von Zusatzkosten reden: Das muß der Strommarkt aushalten können. Das müßten wir schleunigst durchsetzen.
Meine Damen und Herren, in unserer Gesetzesvorlage normieren wir in Abstimmung mit den sozialdemokratisch regierten Ländern, aber auch mit den kommunalen Spitzenverbänden aus Gründen des Umweltschutzes die Vorrangeinspeisung für Elektrizität aus erneuerbaren Energien oder aus KraftWärme-Koppelung. Wir sagen: Wer ein überörtliches oder ein örtliches Netz betreibt, soll verpflichtet werden, diese Elektrizität abzunehmen. Der Netzbetreiber zahlt eine festgelegte Mindestvergütung, deren Struktur sich an diejenige des jetzigen Stromeinspeisungsgesetzes anlehnt. Neben der durch die EG- Richtlinie angeregten Vorrangeinräumung wollen wir einen Mehrkostenausgleich zwischen den Netzbetreibern schaffen. Die aufnehmenden Netzbetreiber sollen auf der Netzebene einen Kostenausgleich durchführen. Wie dies im einzelnen gestaltet werden soll, wollen wir in einer Rechtsverordnung, die wir auch noch mit Ihnen besprechen wollen, regeln. Dies ist meines Erachtens im Kontext mit der Vorrangeinräumung der einzige, verfassungsrechtlich gangbare Weg, um eine Kostenverteilungsstruktur herzustellen. Die früher diskutierte Fondslösung, die wir im Rahmen des Stromeinspeisungsgesetzes diskutiert haben, ist wegen des Urteils zum Kohlepfennig verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. Ich glaube, Sie sollten sich unseren Strukturvorstellungen anschließen, damit wir auch dieses durchsetzen können.
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, weil Sie nicht unrecht haben, was die Wettbewerbssituation angeht, sagen: Wir haben durchaus auch Quotenmodelle diskutiert. Aber die Quotenmodelle, wie sie jetzt zum Beispiel in den USA Anwendung finden, sind so weit von unseren jetzigen Regelungen entfernt, daß es sehr schwer wird, sie bei uns umzusetzen. Deswegen glauben wir, daß wir mit dem Netzmodell einen praktikableren Weg gehen. Ich hoffe, daß Sie uns da folgen.
Ich will abschließend betonen, daß wir in unserem Entwurf endlich einmal eine Minimalkostenregelung normieren - auf gut deutsch: Least-Cost Planning -, um Effizienz- und Produktivitätsteigerungen, aber auch den Gedanken der Planung und der Dienstleistung in die Energieversorgungsunternehmen hineinzutragen. Das passiert ja im Augenblick noch gar nicht. Es werden nur Profite gemacht, damit man in die Telekommunikation einsteigen kann. Aber daß man auch den Bürger im Auge behalten muß, findet sich in dem Gesetz nicht. Auch das, Herr Rexrodt, sollten wir in das Gesetz hineinschreiben: Die Energieversorgungsunternehmen müssen Dienstleister werden.
Nur mit allen diesen von mir genannten Schritten werden wir die Ressourcen schonen und regenerative Energien langfristig sichern. Ich hoffe, Sie folgen uns auf diesem Weg. Wir sollten in den nächsten Beratungsrunden zusammenarbeiten, um endlich etwas Vernünftiges auf den Weg zu bringen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort in der Debatte erhält jetzt der Kollege Ernst Hinsken.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In letzter Zeit haben wir alle viele Briefe bekommen:
Briefe von „a" wie Ablehnung von Greenpeace vor wenigen Tagen über „n" wie nachdenklich von den Kommunen bis „z" wie Zustimmung von den Verbundgruppen. Damit das gleich 'eindeutig klar ist: Ich stehe für ein eindeutiges Ja,
für ein Ja zur wettbewerblichen Neuordnung des
Energiewirtschaftsrechts, weil es keinen Grund gibt,
Ernst Hinsken
weiter an der monopolistischen Organisation des Strom- und Gasmarktes festzuhalten.
Herr Kollege Schutz, ich möchte aufgreifen, was Sie soeben gesagt haben. Sie haben den Kollegen Uldall darauf aufmerksam gemacht, daß die günstigsten Strompreise in Dänemark zu verzeichnen sind. Das ist nicht zu bestreiten. Ich möchte hier aber bemerken, daß das darauf zurückzuführen ist, daß der Strom in Dänemark natürlich überwiegend aus Importkohle hergestellt wird, die nur schwer entschwefelbar ist.
Das wollen wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Darauf lege ich größten Wert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie von der SPD haben eine ganze Reihe von Kritikpunkten zu zentralen Regelungen des Gesetzentwurfes formuliert, die ich nur teilweise verstehe. Zähle ich die Forderungen nach - Wettbewerbsausnahmen für die Kommunen und ihre Werke, Wettbewerbsausnahmen für die Kraft-Wärme-Kopplung, Wettbewerbsausnahmen für die erneuerbaren Energien, Wettbewerbsausnahmen für heimische Energieträger usw. -, so stelle ich fest, daß das Ziel eines fairen und chancengleichen Wettbewerbs bei Strom und Gas, den wir im Interesse von Wirtschaft und Verbrauchern so dringend brauchen, konterkariert wird.
Obwohl Sie genau wissen, daß wir für die Wirtschaft bessere Rahmenbedingungen brauchen, wollen Sie wie bei der Senkung von Wirtschaftssteuern bremsen, sich querlegen, sich verweigern, den Wirtschaftsstandort Deutschland für die Zukunft attraktiver zu gestalten und somit auch mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Kollege Uldall hat dazu bereits einige Beispiele gebracht.
Verehrter Herr Kollege Jung, es liegt in der Natur der Sache, daß es bei einzelnen Punkten verschiedene Meinungen gibt. Aber was Sie von der Opposition wollen, ist, den Gesetzentwurf vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Sie haben die Philosophie des Liberalisierungsziels scheinbar noch nicht erkannt, wonach das Vertrauen in die Überlegenheit wettbewerblich organisierter Marktprozesse und die ordnungspolitisch gebotene Zurückhaltung des Staates bei gleichzeitiger Verbesserung der Angebotsbedingungen und Handlungsspielräume für die Wirtschaft zum politischen Grenzstein auch bei der Reform des Energiewirtschaftsrechtes werden.
Mit diesem Gesetz soll doch erreicht werden, daß wir in Deutschland im internationalen Vergleich wettbewerbsfähigere Strom- und Gaspreise bekommen. Konkurrenz belebt das Geschäft. Wettbewerb ist das beste Preisregulativ. Noch so effiziente staatliche Aufsicht kann ihn nie ersetzen. Energiepreise zählen seit jeher zu den wichtigsten Wettbewerbsfaktoren. Dem Rechnung zu tragen ist Ziel dieser Novelle.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es darf nicht übersehen werden, daß die industriellen Strompreise in Deutschland zu den höchsten in der Europäischen Union zählen. Auch im weltweiten Preisvergleich liegt die Bundesrepublik ganz oben.
Auch hierauf hat Kollege Uldall bereits verwiesen.
Im Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gilt es zu berücksichtigen, daß die Stromkosten zirka zwei Drittel der gesamten industriellen Energiekosten ausmachen. Wir, die Politik, sind in der Pflicht, für eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen einzutreten.
Auf keinen Fall dürfen neue Faktoren die Strompreise belasten.
Mit dem Wegfall des Kohlepfennigs und der Umstellung der Verstromungshilfen auf Finanzplafonds ist ein erster wichtiger Schritt zum Abbau politischer Lasten im Strompreis getan. Jetzt geht es um den nächsten Schritt, um die Liberalisierung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist schon interessant festzustellen, daß jetzt schon zahlreiche Unternehmen Kostensenkungsprogramme ankündigen, die klar zeigen, daß bei Gas und vor allem bei Strom mittelfristig noch erhebliche Kosten- und Preissenkungspotentiale bestehen. Es sollte deshalb für alle klar sein: Die Liberalisierung des Strom- und Gasmarktes ist, auch völlig unabhängig von europarechtlichen Vorgaben, aus standortpolitischer Sicht ein absolutes Muß.
Es muß aber auch darauf geachtet werden, daß der neue Ordnungsrahmen wirklich die Voraussetzungen für echten Wettbewerb schafft und die Vorteile des Wettbewerbs möglichst allen Kunden und Verbrauchergruppen zugute kommen. Es müssen auch die Voraussetzungen geschaffen werden, daß alle heute tätigen Versorgungsunternehmen künftig faire Chancen haben, sich im Markt zu behaupten. Dies muß selbstverständlich auch für die kommunalen Unternehmen gelten; sie haben Anspruch auf vergleichbare Ausgangsbedingungen.
Unsere Sorge um faire Wettbewerbsbedingungen gilt auch den zahlreichen mittelständischen Energieversorgern, die bisher einen hervorragenden Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung in Deutschland geleistet haben. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß dies auch künftig so bleibt - was
Ernst Hinsken
allerdings keine Bestandsgarantie für jedes bestehende Versorgungsunternehmen bedeuten kann.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Koppelung muß dies genauso gelten wie für die aus erneuerbaren Energien. Allerdings sollte uns klar sein, daß eine besondere Berücksichtigung dieser Anliegen das Wettbewerbsziel keinesfalls in Frage stellen darf.
Für die CSU möchte ich feststellen, daß wir aus diesen Gründen einen Durchleitungstatbestand für Strom für erforderlich halten, damit die Durchleitung als Wettbewerbsinstrument hinreichend wirksam werden kann und das notwendige Maß an Rechtssicherheit für alle Beteiligten besteht.
Wir sind die Meinung, daß die Politik im Kernelement der Reform eine Grundentscheidung fällen und die nähere Ausgestaltung nicht den Gerichten überlassen werden sollte. Ich meine, daß wir als Gesetzgeber unseren Aufgaben nachkommen müssen, nämlich Prioritäten zu setzen und bei Interessenkollisionen zu entscheiden. So könnte ein spezieller Durchleitungstatbestand die Beachtung schutzwürdiger Interessen zum Beispiel für Kraft-Wärme-Koppelungsanlagen oder Stromerzeugung aus regenerativen Energien gesetzlich normieren.
Den Formulierungsvorschlag der Bayerischen Staatsregierung für einen Durchleitungstatbestand, der mir vorliegt, halte ich für eine hervorragende Diskussionsgrundlage.
Der Vorzug dieses Vorschlags liegt zum Beispiel auch darin, daß einwandfrei geregelt werden könnte, daß derjenige, der die Durchleitung verweigert, nachweisen muß, daß ein Grund für die Durchleitungsverweigerung vorliegt. Wir brauchen eine klare Beweislastregelung, und zwar in diesem Sinne. Ich habe Zweifel, ob der Gesetzentwurf diesen Anforderungen genügt.
Es kann nämlich nicht sein, daß der Netzinhaber künftig Gerichtsprozesse nahezu beliebig in die Länge zieht, bis den kleinen und mittleren Stromproduzenten die Luft ausgeht.
Es erscheint mir auch besonders wichtig, darauf hinzuweisen, daß die vom Bundeswirtschaftsministerium vorgesehene Alternativlösung des Baus von Direktleitungen in einem dichtbesiedelten Land wie der Bundesrepublik weder ökologisch noch ökonomisch relevant sein dürfte.
Sie sehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Wir sind momentan im Entscheidungsprozeß. Heute ist die erste Lesung. Wir wollen vor allen Dingen auch anstreben, daß die Diskussion ergänzt wird durch ein Hearing, das sicherlich aufschlußreich sein kann.
Wenn Sie bereit sind, sich ein bißchen zu bewegen,
damit diese Energierechtsnovelle umgesetzt werden kann, dann sind Sie auf dem richtigen Weg.
Ich möchte Sie darum herzlich bitten.
Von dem Erfordernis eines Durchleitungstatbestandes könnte allenfalls dann abgesehen werden, wenn es der Energiewirtschaft gelingt, klare, allgemein verbindliche und einklagbare Regelungen zu vereinbaren.
Wie bereits gesagt wurde, sind wir der Meinung, daß Preisvorteile aus dem Wettbewerb allen Kunden zugute kommen müssen. Es darf keinen Wettbewerb in der Form geben, daß die Vorzugskonditionen bei lukrativen Kunden durch Preisanhebungen bei uninteressanten Abnehmern subventioniert werden.
Deshalb sollte in die Gesetzesbegründung aufgenommen werden, daß die im Wettbewerb gebildeten Preise auch als Maßstab für die Preisbildung bei den Sonderabnehmern heranzuziehen sind, die nach wie vor von einem Monopol versorgt werden, und daß im Monopolbereich in der Regel nur solche Preis- und Konditionsdifferenzierungen sachlich gerechtfertigt sind, die den energiewirtschaftlichen Abnahmeeigenschaften der belieferten Unternehmen entsprechen.
Wir werden auch darum besorgt sein, daß bei der Versorgung der Tarifkunden durch eine Anpassung der Bundestarifordnung Strom sichergestellt wird, daß Kosten-Preis-Verschiebungen zu Lasten der Tarifkunden rechtlich ausgeschlossen sind. Lassen Sie mich abschließend feststellen, daß ich mit dem bayerischen Wirtschaftsminister Dr. Wiesheu einig bin, daß verhindert werden soll, daß zum Beispiel Erfolge guter Regionalstruktur- bzw. Mittelstandspolitik, wie wir sie in Bayern verzeichnen können, durch die Liberalisierung des Strommarktes konterkariert werden, indem etwa die Fläche gegenüber Ballungsgebieten oder mittelständische Betriebe gegenüber Großabnehmern benachteiligt werden.
Für uns, die Unionsparteien, insbesondere die CSU, gilt auch, daß diese Novelle nicht gegen die
Ernst Hinsken
Kommunen, sondern nur mit ihnen durchgeführt werden soll. Darauf legen wir größten Wert.
Auf Drängen der CSU wurden durch die rechtliche Absicherung der Konzessionsabgabe Verbesserungen erreicht. Es kann aber keinen Zweifel daran geben, daß die Belange der Kommunen bei den Gesetzesberatungen noch eine bedeutende Rolle spielen werden. Ich habe bereits gesagt, daß ich auf die Anhörung setze. Sie dürfen sicher sein, daß deren Ergebnisse für uns bei der weiteren Entscheidungsfindung von großer Bedeutung sind.
Ich meine, daß wir gerade bei der Frage, welches öffentliche Interesse oder welche Gruppe besonders schutzwürdig ist, aus wirtschaftlicher Sicht das eigentliche Ziel, die wettbewerbliche Öffnung der Strom- und Gasmärkte, zu keiner Zeit aus dem Auge verlieren dürfen. Darauf bitte ich besonderen Wert zu legen. Wir brauchen die Liberalisierung, weil sie sinnvoll und zweckmäßig ist und wir dadurch auch in Deutschland international wettbewerbsfähige Strom- und Gaspreise erreichen.
Wenn uns daran gelegen ist, bis zum Jahre 1999 die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, dann bitte ich Sie, sich nicht weiter zu verweigern, sondern konstruktiv mitzuarbeiten und verschiedene Probleme mit uns gemeinsam zu lösen, damit wir dieses dringend erforderliche Gesetz möglichst bald unter Dach und Fach bringen.
Ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit herzlich bedanken.
Ich gebe dem Abgeordneten Werner Labsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der Weg zu diesem Pult war lang, die Mauern hoch. Ich bin dabei 60 Jahre alt geworden. Heute bin ich hier, ich bedanke mich für die Glückwünsche.
Als Cottbusser Abgeordneter -
Herr Kollege, dieser Beifall gilt wahrscheinlich Ihrem Fußballverein.
- muß ich bei dem Begriff Energie an den gleichnamigen Fußballclub denken. Das ist in Anbetracht der Ereignisse auch verständlich. Der FC Energie Cottbus - die Schalker Knappen des Lausitzer Reviers - hat den hochkarätigen Bundesligisten das Fürchten gelehrt. Den eventuell anwesenden Karlsruher Abgeordneten mein etwas geheucheltes Bedauern, den Cottbusser Energiespielern ein Glückwunsch aus dem Deutschen Bundestag.
Nun aber, meine Damen und Herren, zu dem ernsteren Teil, zur Lage der Energie, Energie aus Braunkohle, dem Lebensnerv der Lausitz, zur ersten Lesung der Gesetzesvorlagen zur Energiewirtschaft.
Die sozialdemokratische Energiepolitik, in unserem Gesetzentwurf über die Elektrizitätswirtschaft nachvollziehbar nachzulesen, beinhaltet alle Aspekte der Energiewirtschaft - von der Vorsorgepflicht bis hin zur Versorgungssicherheit. Die Kompetenzen der Energiewirtschaft, der Gebietskörperschaften und der Verbände sind von vornherein in unserer Gesetzesvorlage einbezogen.
Als Abgeordneter aus dem dritten deutschen Kohlerevier, dem mitteldeutschen und dem Lausitzer Revier, werde ich mich in meinem Redebeitrag auf die Betroffenheit unseres Reviers beschränken. Ich kann das, weil meine Kollegen ausgiebig und kompetent die anderen Aspekte mit behandeln. In Anbetracht des Gesetzentwurfes der Bundesregierung aus dem Hause des Ministers Rexrodt ist es nötig, so vorzugehen.
Die Privatisierung der Braunkohle- und Stromwirtschaft im Osten war eine der wenigen gelungenen Aktionen der Treuhandanstalt. „Sanieren statt Liquidieren" hieß der Auftrag. Bei uns ist das tatsächlich vollzogen worden. Es mußten im Gegensatz zu vielen, auch notwendigen Dingen keine Überlebenshilfe - womöglich eine Energietransfusion für die Ostler - und keine Subvention geleistet werden. Selbsthilfe durch Sanierung, Ertüchtigung der Kraftwerke waren und sind noch immer die richtigen Entscheidungen.
Für diese Sanierung, diesen eingeleiteten Strukturwandel im Revier hin zu einer marktfähigen, selbsttragenden Wirtschaft werden einerseits ab 1994 bis zu 30 Milliarden DM aufgewendet. Andererseits haben 80 000 Kumpel ihren Preis für die Marktfähigkeit der ostdeutschen Energiewirtschaft, den noch immer bedeutendsten industriellen Kern des Ostens, bereits jetzt mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze bezahlen müssen. Sie sind wegrationalisiert worden, sie werden in dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht.
Herr Rexrodt, Ihr im Gesetzentwurf bekundetes besonderes Interesse für die neuen Bundesländer erscheint nicht nur als Augenwischerei, es ist Augenwischerei. Es ist zu befürchten, daß, wenn sich Ihre Formulierung als Übergangsregelung durchsetzen sollte, auch für die restlichen 20 000 Beschäftigten in dieser Wirtschaft der Erhalt der Arbeitsplätze auf längere Sicht fragwürdig wird und in Zweifel zu ziehen ist. Herr Rexrodt, Ihre Wettbewerbsbeschränkungsklausel, in Art. 4 als Paragraph angehängt, die im Widrigkeitsstreit mit Drittanbietern die Belange der
Werner Labsch
ostdeutschen Stromwirtschaft berücksichtigen soll, wird in der Praxis wirkungslos bleiben. Das ist hier auch schon von Herrn Hinsken und anderen gesagt worden.
Wie und mit welchen Chancen auf Erfolg soll denn die ostdeutsche Stromwirtschaft Wettbewerbswidrigkeiten bei Durchleitungsverträgen Dritter nachweisen? Wenn das vielleicht doch einmal nach langem Prozeß möglich sein sollte, warum dann nur bis 2003? Es gibt Fragen über Fragen. Es ist zudem auch keine angemessene Übergangszeit, um 30 Milliarden DM an Investitionen vor Billigimporten - egal, ob es der subventionierte französische Atomstrom oder die polnischen Dumpinglieferungen sein werden - zu schützen.
Herr Kollege, ich muß Sie bitten, auf die Redezeit zu achten.
Ja.
Herr Rexrodt, wenn Sie meinen, erst damit den Kostendruck auf Grund der immensen Investitionen von den Unternehmen zu nehmen, dann müssen Sie sich besser mit unserem Gesetzestext vertraut machen. Er bietet einen echten flankierenden Schutz der ostdeutschen Braunkohle - nachzulesen in § 18 unseres Gesetzentwurfes.
Er besagt:
Wer Elektrizität an letzte Verbraucher im Geltungsbereich des Gesetzes liefert oder zur eigenen Versorgung erzeugt, hat ... 0,10 kWh ... der Elektrizitätserzeugung auf Basis ostdeutscher Braunkohle zu beziehen. Die Bezugspflicht soll durch Verträge mit anderen Lieferunternehmen
... so erfüllt werden, daß eine Abnahme der Elektrizität in räumlicher Nähe zur Erzeugung möglich ist.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. In Anbetracht von netto 470 Milliarden kWh Verbrauch und 120 Milliarden DM Umsatz im Jahr in Deutschland handelt es sich bei dieser recht bescheidenen Solidaritätsleistung um Pfennigbeträge für den Endverbraucher.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zwar nicht zum Ende, aber zum Schluß kommen.
Danke.
Die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, die fern des dritten deutschen Kohlereviers, der Lausitz, ihren Wohnsitz haben, bitte ich um Unterstützung der flankierenden Schutzmaßnahmen für die Braunkohle. Die Kolleginnen und Kollegen,
die im Kohlerevier Mitteldeutschland und Lausitz leben, fordere ich auf, ebenfalls zuzustimmen.
- Ich entschuldige mich, daß ich überzogen habe. Es wird so doll nicht gewesen sein.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Unsere besten Wünsche begleiten Sie und den Klub, soweit das unsere eigenen Klubbindungen zulassen.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will in Anbetracht der Kürze der Zeit darauf verzichten, auf das, was Sie, Herr Köhne, wieder einmal deutlich gemacht haben, näher einzugehen. Ich will nur wenige Sätze dazu sagen.
Wer die maroden Energieanlagen in der ehemaligen DDR von Halle bis nach Rostock besichtigt hat, der ist wirklich erstaunt, mit welcher Frechheit Sie hier auftreten und dann noch über Demokratie reden. Denken Sie doch einmal bitte daran, daß in Greifswald die Kernkraftwerke von Herrn Töpfer und nicht von der SED stillgelegt worden sind!
Damit ist das, was Sie hier gesagt haben, hinreichend relativiert.
Wenn man sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung und auch mit den konkurrierenden Gesetzentwürfen auseinandersetzt, dann wird deutlich, daß wir nicht nur einen Wettbewerb im Dienste der Wirtschaft und der Umwelt ausschreiben, sondern daß wir auch unter uns einen Wettbewerb haben. Dies geht natürlich nicht so, wie das hier zum Teil aus der Sicht der SPD und der Grünen geklungen hat, indem man sagt: Das, was ihr da vorlegt, wird all diesen Dingen, die wir machen wollen, nicht gerecht; denn nur unsere Lösung ist richtig.
Es gibt an den beiden Gesetzentwürfen eine Fülle von Kritik, und es gibt eine Fülle von Fragen, weil Ihre Gesetzentwürfe zentrale Fragen - wie der Wettbewerb sein soll, wie die Durchleitung funktionieren soll, wie der Vorrang aussehen soll - nicht beantworten. Wenn Sie wie wir durchaus der Meinung sind, daß die Monopole abgeschafft werden müssen und daß wir an die Stelle der Monopole den Wettbewerb setzen wollen, dann müssen Sie das stringent durchhalten. Die Gesetzentwürfe der Grünen und der SPD
Kurt-Dieter Grill
schaffen ein Mehr an Dirigismus und an staatlichen Eingriffen, anstatt die Monopole abzuschaffen.
Der zweite Punkt. Wenn man die Monopole so kritisiert, wie Sie das tun - manche machen das ja nur in Richtung PreußenElektra, Bayernwerk und andere große Unternehmen -, und wenn Sie dabei glaubwürdig sein wollen, dann müssen Sie auch die Monopole der kleinen Unternehmen auf der darunter liegenden Ebene genauso kritisch sehen, wie Sie die Monopole der großen anschauen; sonst wird die Frage des Wettbewerbs von Ihnen nicht glaubwürdig dargestellt. Die vorgelegten Alternativen der Opposition schaffen, wie gesagt, mehr Bürokratie und mehr Regelung. Sie liegen eher auf dem Wege zum staatlichen Dirigismus.
Bei allem Respekt vor hoheitlichen Aufgaben muß hier allerdings dann nicht nur die verfassungsrechtliche Frage der kommunalen Selbstverwaltung gestellt werden, gerade angesichts dessen, wie die SPD jetzt Regelungen mit Bezug auf die Gemeindeebene treffen will. Sie gehen nicht auf die verfassungsrechtlich garantierte Gewerbefreiheit ein, die für die Energieerzeugung gilt. Dieser Frage sind Sie ausgewichen. Sie beantworten sie nicht, bzw. Sie können sie auch gar nicht aushebeln - ich komme auf diesen Punkt wieder zurück -, weil das Recht auf Energieerzeugung dort abgesichert ist.
So sind also in einer bestimmten Art und Weise die Vorschläge der Opposition eine Verschlechterung des jetzigen Zustandes. Ich denke, daß das, was Sie hier vorgelegt haben, auch außer acht läßt, daß es nicht nur einen Wettbewerb um Lieferanten und Kunden, sondern auch einen Wettbewerb um die Technologien und ihre Anwendung gibt, also sozusagen einen inneren Wettbewerb, wenn ich das aus meiner Sicht beschreiben soll. Denn mit dem Weg in immer bessere und effizientere Stromerzeugungsanlagen - nehmen wir einmal die GuD-Kraftwerke - kann der einzelne heute im Grunde genommen mit der Eigenerzeugung sowohl gegen Stadtwerke, die zu teuer sind, als auch gegen die Stromlieferanten auf der Verteiler- und der Erzeugerebene selber Wettbewerb machen. Dieses wird bei der Betrachtung, die Sie anstellen, vollkommen außer acht gelassen.
Deswegen wird es also eben nicht nur den Wettbewerb um Lieferanten, Kunden oder Technik geben, sondern wir müssen auch - dies lösen wir in einem viel größeren Maße aus, als wir das offensichtlich heute glauben - den Wettbewerb von Energiesystemen in die Betrachtung miteinbeziehen. Das, was mit dem Wettbewerbsmodell der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition ausgelöst wird, ist in dieser Debatte heute morgen meines Erachtens nicht hinreichend ausgeleuchtet worden, daß wir nämlich mit diesem Energiewirtschaftsgesetz nach einer Phase von Zentralisierung der Energieerzeugung in Deutschland eher den Weg in Richtung Dezentralisierung einläuten. Auch dies wirft eine Reihe von Fragen auf, die mit den Gesetzentwürfen nicht beantwortet werden. Ich verweise etwa auf die Frage der Versorgungssicherheit und die des Abbaus von Überkapazitäten.
Das Fazit ist, daß das vorgelegte Modell der Koalition selbst bei einer nicht ausdrücklichen Regelung der Durchleitung, unabhängig von dem, was Ernst Hinsken gesagt hat, das Modell ist, das die Monopole konsequent abschafft und damit auch der von Ihnen massiv vorgetragenen Kritik an den Monopolen viel eher gerecht wird als das, was Sie uns als Ersatz vorgelegt haben.
Beim SPD-Entwurf kann man das so beschreiben, daß man sagt: Es steht zwar Wettbewerb darüber, aber es ist kein Wettbewerb drin. Die Durchleitung ist zum Beispiel auch eine Frage, bei der die Verbändevereinbarungen auf dem Wege sind. Wenn Sie dann bei den Kommunen sogar noch eine Freistellung von § 1 des GWB vornehmen wollen, also sozusagen ein allgemeines Kartellaufsichtsverbot erlassen, dann ist es doch geradezu evident, daß Sie im kommunalen Bereich eher noch eine Verschärfung der Monopole herbeiführen, als daß Sie auch an dieser Stelle Wettbewerb stattfinden lassen.
Ich komme zu dem, Herr Schütz, was Sie gesagt haben. Ich denke, daß wir bei der Debatte über das Stromeinspeisungsgesetz eben nicht nur fragen müssen: Wie sieht das Stromeinspeisungsgesetz aus? Wir werden uns vielmehr auch die Frage stellen müssen, inwieweit es mit dem Energiewirtschaftsrecht kompatibel ist oder gemacht werden muß. Das sind doch Fragen, die wir offen angehen müssen. Seien Sie doch dankbar, wenn an dieser Stelle noch ein Stück Offenheit vorhanden ist! Es ist eben nicht nur eine willkürliche Belastung, von der Sie reden. Auch das, was Sie uns von der SPD als Verteilungsmodell vorgeben, entbehrt nicht einer gewissen Willkürlichkeit. Ich denke, daß wir in diesem Zusammenhang bei Ihnen doch einmal nachfragen müssen, wie denn der Vorrang vor allen anderen aussehen soll, wie denn der Netzzugang unentgeltlich gestaltet werden soll; ich erwähne hier die Abnahmepflicht durch die Netzbetreiber und die konkrete Vergütung.
Mit der Integration in das Energiewirtschaftsgesetz werfen Sie mehr Fragen auf, als Sie in diesem Zusammenhang an Antworten auf Probleme geben. Ich weise den Vorwurf zurück, wir hätten die Umwelt nicht hinreichend berücksichtigt. Das ist doch schlicht und einfach falsch. Das ist das erste Energiewirtschaftsgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in das die Umwelt als gleichrangiges Ziel eingeführt wird.
Was wollen Sie denn eigentlich mehr? Das gilt sowohl für die Abwägung hinsichtlich der Einleitung und Durchleitung bei der Kraft-Wärme-Kopplung als auch hinsichtlich der erneuerbaren Energien. Hier ist auf Grund des Diskussionsprozesses sozusagen nachgerüstet worden. Daher können Sie nicht sagen, Umwelt und ökologische Orientierung seien nicht berücksichtigt.
Kurt-Dieter Grill
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch zwei Bemerkungen machen. Ich habe Ihren Gesetzentwurf bzw. den Vorlauftext einmal durchgelesen. Sie führen Dänemark an. Herr Schütz, wenn Sie über Dänemark reden, dann müssen Sie aber auch sagen, daß es in Dänemark zum Beispiel einen gespaltenen Strompreis gibt: günstiger für die Wirtschaft und teurer für den privaten Verbraucher.
Das steht in Ihrem Gesetz aber nicht. Sie haben vielmehr in allen Diskussionsbeiträgen so getan, als sei es unanständig, für die Industrie, und zwar für die Arbeitsplätze und für die Konkurrenzfähigkeit, günstigere Strompreise zu schaffen als für die nicht so effizienten Haushalte. Zu diesem Unterschied, den es in Dänemark gibt, haben Sie ausdrücklich nichts gesagt. Er kommt auch in Ihrer Begründung nicht vor.
Ich will noch etwas zur kommunalen Seite sagen. Die Kommunen haben es nicht verdient, daß Sie das Energierecht und die Energiepolitik - laut Ihren eigenen Aussagen - nicht im Sinne des Querverbundes und der Gewinne von Stadtwerken nutzen wollen. Statt dessen sagen Sie, die Kommunen sähen in der lokalen Energieversorgung die Chance, andere Geschäftsbereiche zu finanzieren und damit Aufgaben der Daseinsvorsorge im öffentlichen Interesse zu erfüllen. So werde oft der öffentliche Personennahverkehr über die Gewinne aus der Energieversorgung bezuschußt. Auch würden Schulen, Kindergärten und andere soziale Einrichtungen der Gemeinden aus diesen Gewinnen unterhalten. - Es kann doch nicht angehen, daß Sie uns ein Energiewirtschaftsgesetz vorlegen, dessen Ziel es ist, die sozialen Aufgaben der Kommunen zu finanzieren. So kommen Sie doch im Ergebnis dazu, daß Sie die mittelständische Wirtschaft und die Arbeitsplätze belasten und daß die Kosten nicht offen und ehrlich ausgewiesen sind. Dann dient der Stromverbrauch zur Finanzierung des Kindergartens.
Das kann nicht sein. Gewinne werden die Kommunen auch in Zukunft machen, meine Damen und Herren. Davon unbeschadet gibt es genügend Vertreter von Stadtwerken, die in Gesprächen mit uns gesagt haben: Befreit uns von unseren kommunalen Grenzen, und wir nehmen es mit RWE, PreussenElektra und den anderen Großen spielend auf. Geben wir also den Kommunen die Chance, im Wettbewerb mitzuhalten.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident, und zwar mit folgender Bemerkung. Das, was Sie hier mit dem Alleinkäufer-
modell vorgelegt haben, ist meines Erachtens eine
völlig falsche Interpretation der Richtlinie. Der Alleinkäufer schaltet den Wettbewerb nicht aus.
Herr Kollege!
Wenn Sie Ihren Entwurf also sauber durchdekliniert hätten, dann könnten wir uns wirklich über Wettbewerb unterhalten. So müssen wir uns leider über den Unterschied zwischen Wettbewerb und noch mehr Dirigismus streiten. Auf diese Auseinandersetzung sind wir gespannt.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Reinhard Schultz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon einigermaßen verblüfft über diese Diskussion und nicht zuletzt auch über die aus meiner Sicht erfreuliche Uneinigkeit im Regierungslager. Die Regierung hat ja lange genug gebraucht, um überhaupt einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dieser Gesetzentwurf ist an Überschaubarkeit kaum zu übertreffen. Es steht so gut wie nichts darin, außer einer Vertonung der Rexrodtschen Parole: Wettbewerb, Wettbewerb, Wettbewerb!
Nun zu den einzelnen Punkten. Herr Grill, es gibt in der Beschreibung der Zielsetzung den kleinen, zarten Hinweis, daß der Umweltschutz gleichwertiges Ziel sein solle, aber instrumentell wird das in keiner Weise unterlegt. Es ist ungefähr so, als würden Sie ein Schild an den Knast kleben, auf dem „Kindergarten" steht. Das wäre genau derselbe Etikettenschwindel.
Das haben Sie ja auch zugegeben: Als der Bundesrat relativ geharnischt und detailliert zu Ihrem Gesetzentwurf Stellung genommen hat und unter anderem klare Regeln hinsichtlich Marktzugang und der Definition umweltverträglicher Energieversorgung eingeklagt hat, mußten Sie ja klein beigeben und nachschieben, daß das im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens geregelt werde.
Im Gesetzentwurf selber steht aber nichts drin. Wir werden demnächst so weit kommen, daß wir, wenn sich die Koalition nicht einigen kann, Gesetzentwürfe vorgelegt bekommen, auf denen lediglich die Überschrift steht, während der Rest dann im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens erledigt wird. Das ist ein zumindest eigenartiger Vorgang, der aber ohne Frage nicht ohne Reiz für die Opposition ist, weil wir uns dann stärker gestalterisch einbringen können; das wollen wir übrigens auch.
Reinhard Schultz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß die SPD mit einem komplett eigenständigen Gesetzentwurf angetreten ist, der alle in Ihrem Entwurf erkennbaren Regelungsdefizite schließt. Über diese kann man im einzelnen reden, aber es ist ein handhabbarer und so, wie er vorliegt, umsetzbarer Entwurf, der die Gleichgewichtigkeit von Ressourcenschutz und Umweltverträglichkeit auf der einen und preisgünstiger Stromversorgung auf der anderen Seite ernst nimmt.
Etwas verwunderlich ist die Art der Vorgehensweise des federführenden Ministers. Er erarbeitet im Rahmen seiner allgemeinen Deregulierungsorgie einen Gesetzentwurf, ohne dabei im gleichen Atemzug die europäische Ebene zu berücksichtigen. Was in der Stromrichtlinie der EU steht, spiegelt sich mit kaum einem Wort im Gesetzentwurf wider, so daß von einer Umsetzung der EU-Stromrichtlinie gar nicht die Rede sein kann.
Er geht sogar weiter. Er nimmt die Gasversorgung mit hinein, obwohl die EU die Gasversorgung zum jetzigen Zeitpunkt ausdrücklich nicht regeln kann. In der Stellungnahme gegenüber dem Bundesrat wird nachgeschoben, daß noch etwas nachgeliefert wird, wenn sich die EU auf Ministerratsebene Ende Mai dazu geäußert hat. Das ist ein Witz und eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Nur wenige beherrschen sie, Herr Rexrodt, Sie gehören nicht dazu. Deswegen muß der Bereich Gas auf jeden Fall aus dem Gesetz herausgenommen werden. Es handelt sich hier um einen eigenständigen Sachverhalt, der, wenn überhaupt Regelungsbedarf besteht, in einem eigenen Gesetz geregelt werden muß.
Im übrigen vertun Sie sich auch beim Vergleich zwischen Strom und Gas ganz erheblich. Während es im Strombereich eine Reihe von Mitspielern gibt, mehrere Stromversorger - mit oder ohne Netz -, Stadtwerke und Konkurrenz aus dem Ausland, haben wir es im Gasbereich mit einer relativ überschaubaren Zahl an Wettbewerbern zu tun, die überhaupt eine Rolle am Markt spielen. Wenn Sie auch die Gasversorger dazu zwingen, über Durchleitungsrechte ihre mit eigenem Geld aufgebaute Infrastruktur zu öffnen, werden Sie zu „low cost" lediglich Russen und einigen wenigen anderen die Möglichkeit geben, sich mit Dumpingpreisen die Stadtversorgung in Darmstadt oder anderswo unter den Nagel zu reißen. Das geht so lange, bis keiner mehr mithalten kann. Insofern ist das wenig durchdacht, weil wir auf dem europäischen Gasmarkt eine völlig andere Struktur als auf dem Stromversorgungsmarkt haben. Das nimmt aber auch nicht wunder, weil einen fehlender Sachverstand ja nicht unbedingt am Politikmachen hindern muß.
Es wird das Hohelied vom Binnenmarkt gesungen und gezeigt, welche tollen Strompreise andere haben und was auf uns im Hinblick auf das Jahr 1999 zukommt. Ich habe mir die Mühe gemacht, bei den Regierungen der EU-Länder amtlich anzufragen, wie sie denn eigentlich mit der Stromrichtlinie umgehen
und was sie damit verbinden. Normalerweise hätte man erwarten müssen, es komme im Rahmen der Harmonisierung etwas ähnliches dabei heraus, wie es Herr Rexrodt hier vorgestellt hat. Kein Wort davon!
Die Franzosen geben in einem amtlichen Schreiben beglückt bekannt, daß sie ihre nationale Unabhängigkeit, ihren Service publique und die Stellung der nationalen Stromversorgung als Staatsunternehmen ungefährdet behalten können. Das ist eine interessante Mitteilung.
Die Engländer sind die einzigen, die sich mehr Wettbewerb gewünscht hätten. Das kann ich mir auf Grund ihrer jetzigen Situation vorstellen.
Die Spanier geben zwei Antworten: Sie wären bei den wettbewerblichen Regelungen gerne weitergegangen, da sie gerne mehr exportieren würden, würden aber in ihrem Land Wettbewerb nur auf niedrigstem Niveau zulassen. Auch das ist ein interessanter Vorgang im Hinblick auf die Öffnung des Binnenmarktes für Strom.
Österreich schreibt auf wienerische Art, man sei hocherfreut, daß es nach großen Anstrengungen gelungen sei, den Bestand des österreichischen Elektrizitätssystems zu sichern. Das sieht fast genauso wie unseres aus. Auch hier liegt eine ganz interessante Interpretation der Stromrichtlinie vor.
Die Niederländer sagen, Wettbewerb dürfe keine Einbahnstraße sein, mahnen aber ein stärkeres ökologisches Korsett in bezug auf den Ausbau einer zukünftigen Energieversorgung an.
Lediglich Irland ist glücklich. Denn es importiert 100 Prozent seiner Energie. Dort kommt es wirklich nur auf den Preis an. Insofern ist für Irland Wettbewerb wirklich etwas Segensreiches. Alle anderen EU-Staaten äußern sich skeptisch oder sagen: Laßt die alle in der EU einmal machen; wir machen unsere alte Politik so wie bisher.
Das ist die Wirklichkeit innerhalb der EU in amtlicher Interpretation einer Richtlinie. Das beruht nicht auf irgendwelchen Zeitungskommentaren, sondern auf Schreiben der zuständigen Regierungen, zugeleitet über die Botschaften hier in Deutschland. Es kann mir also nicht unterstellt werden, ich würde ausländischen Regierungen irgend etwas unterjubeln wollen. Es handelt sich um amtliche Stellungnahmen.
Herr Rexrodt, Sie machen angesichts dieser europäischen Wirklichkeit in Reinkultur Wettbewerb um des Wettbewerbes willen. Das führt zu dem Ergebnis, daß sich die Tatsache - das wird zu Recht kritisiert -, daß sich im Laufe der Zeit im Grunde genommen drei regionale Energieversorger 75 Prozent des Marktes unter den Nagel gerissen haben, nicht ändern wird, sondern daß daraus eine Marktbeteiligung von 100 Prozent wird und daß das geringfügige Korrektiv in Sachen Versorgungssicherheit, Preisausgleich und Verzahnung mit anderen Aufgaben der Daseinsvorsorge auf kommunaler Ebene, nämlich das Instrument der Stadtwerke, auch noch ausgehebelt wird, das in den größeren Städten derzeit die
Reinhard Schultz
einzige Gegenmacht zu den großen Regionalversorgern darstellt.
Ich selber habe mich viele Jahre lang mit den Monopolstrukturen in der Energieversorgung auseinandergesetzt. Sie können mir glauben: Ich hin überhaupt nicht glücklich damit. Ich will bestätigen, daß die Regionalversorger eine Menge an Beweglichkeit dazugelernt haben und daß sie, sowohl was den Wasserkopf als auch - das ist viel wichtiger - was die rationelle Form ihrer Energieversorgung angeht, Rationalisierungsbedarf auch in den eigenen Reihen sehen.
Deswegen setzt unser Gesetzentwurf richtig an. Wir eröffnen zwei Märkte, nämlich den Verteilermarkt und den Erzeugermarkt. Wir geben eine ökologische .Generalvorschrift: Jeder, der Energie auf der Basis regenerativer Energiequellen oder aber auf der Basis von Kraft-Wärme-Koppelung anbietet, darf an diesem Markt teilhaben. Denn wir wissen, daß er zum heutigen Zeitpunkt noch nicht gegen Dumpingpreise anstinken kann. Wir wollen auch in der Zukunft eine vernünftige Energieversorgung haben und müssen deswegen Marktchancen für regenerative Energien, höhere Wirkungsgrade und KraftWärme-Koppelung, die unter reinen Marktmechanismen hoffnungslos untergehen würden, eröffnen.
Herr Grill, Sie waren derjenige, der am stärksten das Alleinabnehmermodell angegriffen hat, das eine der denkbaren Alternativen für die Verhaltensweisen von Kommunen und Stadtwerken ist. Wir haben ja gesagt: Entweder lassen die Kommunen jeden zu - das können sie frei entscheiden -, oder aber sie werden Alleinabnehmer des Single Bayernwerk, müssen dann aber den niedrigsten Wettbewerbspreis an ihre Kunden weitergeben. Das heißt, auch in dieser Situation wird Markt lediglich gebündelt, der Vorteil des Preismechanismus aber voll an die Verbraucher weitergegeben.
Wer - außer die Großunternehmen wie Bayer Leverkusen usw., die einen direkten Vertrag abschließen - soll künftig - etwa die Oma, die frierend in ihrer Mansarde sitzt die Abnehmer auf diesem Markt vertreten? Da gibt es doch gar keine organisierte Nachfragenmacht. Das Interesse der vielen kleinen Verbraucher kann nur auf kommunaler Ebene organisiert werden. Stadtwerke und kommunale Rechte sind eine Form der Verbraucherorganisation, um über Ökologie und Preisgerechtigkeit mitentscheiden zu können.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Grill, um einen Begriff aus der Kraftwerkstechnik zu nehmen: Genauso wenig wie jeder Rost ein Grill ist, ist
automatisch jeder Alleinabnehmer gleichzeitig ein Monopolist.
Wir wollen Wettbewerb nur im Rahmen einer Ordnung, die Verbraucherschutz sowie zukunftssichere Energien sicherstellt und gleichzeitig Preisgerechtigkeit walten läßt. Das ist unser Ziel. Wenn wir uns auf dieser Ebene einigen, dann bin ich gespannt, was im Laufe des Jahres dabei herauskommt.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Ernst Hinsken.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schultz, Sie haben vorhin auf den bestehenden Meinungswirrwarr verwiesen, darauf, daß es - auch bei uns - zu viele verschiedene Meinungen gibt. Gerade dieser Gesetzentwurf muß, so glaube ich, so umfangreich diskutiert werden, daß er hernach nicht nur den Bundestag, sondern auch den Bundesrat passiert.
Ich möchte aber darauf hinweisen, daß ich in meiner Rede auch gesagt habe, größten Wert darauf zu legen, daß hier - das liegt uns sehr am Herzen - nicht etwas eingebracht wird und umgesetzt werden soll, was sich gegen die Kommunen richtet, sondern in Zusammenarbeit mit diesen geschehen soll.
Es verwirrt mich zum Beispiel, wenn in den vielen Briefen, die ich von Stadtwerken und Kommunen, insbesondere auch aus meinem Heimatland Bayern, bekomme, darauf verwiesen wird, daß man gewisse Angst davor hat, hier unter die Räder zu kommen. Andernorts höre ich in persönlichen Gesprächen, daß große Stadtwerke in SPD-regierten Städten, zum Beispiel in Köln oder Wuppertal, nachhaltig die Liberalisierung fordern. Das ist eine unglaubliche Sache, die ich einfach nicht nachvollziehen kann. Deshalb wäre es schon gut, wenn Sie auf Ihre Kollegen vor Ort unmittelbar einwirken würden, mit einer Zunge und nicht mal so und mal so zu reden, so daß diese Uneinigkeit nicht zu guter Letzt verstärkt in den Deutschen Bundestag hineingetragen wird.
Ich meine, daß in bezug auf die Frage, inwieweit die Kommunen einbezogen werden sollen bzw. müssen, der Vorschlag des Kollegen Uldall aufgegriffen werden sollte. Er weist in die richtige Richtung.
Auch der Bundeswirtschaftsminister hat in der Vergangenheit immer wieder gesagt, er möchte alles daransetzen, daß es hier zu einer Regelung kommt, die auch den Kommunen dienlich ist und die diese gegebenenfalls mitzutragen bereit sind. Jeder muß etwas nachgeben, um dieses wichtige Gesetzesvorhaben, das wir dringend brauchen und durchsetzen müssen, auch durchsetzen zu können.
Ernst Hinsken
Ich setze darauf, daß gerade die angestrebte Anhörung noch Licht ins Dunkel bringt, daß man daraus die Konsequenzen zieht.
Deshalb möchte ich nochmals an Sie appellieren, bereit zu sein, daran mitzuarbeiten und mitzuwirken,
daß wir diese Gesetzesnovelle möglichst bald unter Dach und Fach bekommen. Unsere Republik braucht sie; denn wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen, sondern befinden uns im internationalen Wettbewerb und dürfen gegenüber den europäischen Nachbarn nicht abgehängt werden.
Ich bedanke mich.
Herr Kollege Schultz, Sie können darauf antworten. - Bitte!
Lieber Kollege Hinsken, ich habe große Hochachtung vor Ihnen. Ich habe auch Verständnis für die Betroffenheit.
Ich weiß, eine größere Bäckerei ist ein energieintensiver Betrieb, der allein nicht in der Lage wäre, den Preisdiktaten von drei großen verbliebenen Monopolen standzuhalten. Deswegen weiß ich Sie tatsächlich und ideell auf unserer Seite; das ist keine Frage. Ich hoffe, Sie halten das im weiteren Verfahren durch.
Ich habe als Abgeordneter aus dem Westfälischen, wo ja nach wie vor die eine oder andere Gemeinde von einer CDU-Mehrheit regiert wird, etwa 60 Briefe von Stadtdirektoren und Bürgermeistern erhalten, die mich dringend aufgefordert haben, den Gesetzentwurf zur Änderung des Energierechts von Rexrodt so schnell wie möglich abzublocken; denn sie haben auch ohne Stadtwerke eine Riesenangst davor, daß ihnen nicht nur die Konzessionsabgabe genommen wird, sondern ihnen auch das Recht, über die Energiepolitik zur Daseinsvorsorge der Bürger beizutragen, endgültig beschnitten werden soll.
Insofern weiß ich: Es gibt einen großen Rückhalt auch innerhalb der Kommunalpolitiker der CDU, der sich leider in dem Verhalten - mit Ausnahme von Ihnen - der meisten Ihrer Redner noch nicht widergespiegelt hat. Aber es ist ja der Sinn eines Beratungsverfahrens, daß sich Schritt für Schritt Mainstreams herausbilden. Ich hoffe, wir beide stehen an der Spitze.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/ 7274, 13/7425 und 13/5352 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Anke Fuchs , Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Insolvenzen in der deutschen Wirtschaft - Drucksachen 13/1488, 13/2416 -
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ernst Schwanhold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor ungefähr zwei Stunden wurde bei AP veröffentlicht, daß die Pleitewelle wieder schneller rollt. 2004 Unternehmen sind im Januar 1997 in den Konkurs getrieben worden. Das sind 6 Prozent mehr als im Vergleichsmonat des Jahres 1996. Bei 'den Unternehmen sind es sogar 7,3 Prozent.
- Darauf werden wir noch zurückkommen, Herr Kollege Friedhoff.
Die Bundesregierung feiert also tatsächlich Rekorde, und zwar fast ausschließlich Negativrekorde: Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung.
Heute sollten wir über die Frage reden: Schaffen wir es eigentlich, Arbeitsplätze in dem Maße wiederaufzubauen, wie sie an anderer Stelle vernichtet werden, oder hat das Problem der Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Pleiten eine hausgemachte politische Komponente, und wie können wir diese überwinden?
500 000 Arbeitsplätze sind durch Konkurse im Jahre 1996 verlorengegangen. Im Jahre 1995 sind es ein paar weniger gewesen. Im Jahre 1994, dem Referenzjahr, sind 380 000 Arbeitsplätze durch Konkurse verlorengegangen. Das muß zu denken geben. Dies hat eine hausgemachte Komponente und ist nicht unabhängig von der Regierung, selbst wenn ich weiß, daß Unternehmen auch pleite gehen, wenn sie ein Mißmanagement haben. Wir müssen uns den Rahmen anschauen, der in die Konkurse hineinführt, und sollten nicht in Teilnahmslosigkeit verfallen, Sprüche des Wirtschaftsministers wiederholen und sagen, Wirtschaft finde sowieso in der Wirtschaft statt, und man könne nichts dagegen tun.
Ernst Schwanhold
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Erhalt von Arbeitsplätzen ist die zentrale Frage. Die Frage lautet: Welchen Rahmen können wir setzen, damit Unternehmen am Markt bleiben, einen Markt finden und profitorientiert arbeiten können?
Ich stelle die Zahl der Konkurse nur deshalb in den Vordergrund, weil in Europa der Trend eigentlich umgekehrt ist. In Europa insgesamt ist der Anstieg der Zahl der Konkurse außerordentlich gering. Für den Anstieg ist allein die Bundesrepublik Deutschland verantwortlich. Alle unseren europäischen Nachbarländer haben keine ansteigenden Konkurswellen. Dies muß uns zu denken geben.
Herr Kollege Uldall und Herr Kollege Friedhoff, Sie sind ja wirtschaftspolitische Sprecher der Regierungsfraktionen. Vielleicht ist dieses Thema auch für Sie so interessant, daß Sie hören möchten, was ein Oppositionspolitiker dazu zu sagen hat.
Um 14,6 Prozent - so wurde von der „Creditreform" vor wenigen Tagen angekündigt - werden die Konkurse bei uns steigen, und im europäischen Umfeld werden es nur 1,5 Prozent sein. Dies ist genau die Querschnittsumme, die sich aus dem Anstieg bei uns ergibt. Die europäischen Zahlen sind also diesmal nicht Referenzzahlen, auf die Sie sich berufen können. Weil alle anderen besser sind, müssen Sie sie vielmehr bei der Antwort auf die Frage berücksichtigen, was Sie falsch gemacht haben.
Die dramatische Zunahme der Unternehmenszusammenbrüche ist also höchstens zum Teil mit konjunkturellen Problemen zu erklären. Denn da geht es ja durchaus ein kleines Stück bergauf. Darüber freuen wir uns natürlich. Die Rezession, auf die Sie im Referenzjahr 1994 für die Jahre 1992 und 1993 abgehoben haben, kann für die aktuellen Zahlen, die gerade für den Januar veröffentlicht worden sind, nicht herangezogen werden. Somit ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung zu einem Teil verantwortlich, und nur durch sie sind auch die europäischen Abweichungen zu erklären.
Lassen Sie mich weiterhin den gravierenden Tatbestand der zunehmenden Insolvenzzahlen daraufhin hinterfragen, was eigentlich getan werden muß. Die Pleiten - etwa bei der AG Weser und der Konkurs des Maschinenbauers Traub - erregen Aufmerksamkeit. Immer dann, wenn es um Hunderte oder Tausende. von Arbeitsplätzen geht, tritt irgendein Politiker, ganz gleich, welcher Couleur, werbewirksam auf. Der Mittelstand stirbt still, und in jedem mittelständischen Unternehmen gehen Arbeitsplätze verloren.
Die Vielzahl der Arbeitsplätze geht in den Unternehmen bis zu zehn oder bis zu 50 Beschäftigten verloren. Deshalb müssen wir eine Mittelstandpolitik in den Vordergrund unserer Beratungen rücken.
Der Antwort der Bundesregierung entnehme ich, daß 32 Prozent der Unternehmensinsolvenzen Betriebe mit bis zu fünf Beschäftigten betrifft, insgesamt 48 Prozent Betriebe mit bis zu zehn Beschäftigten und insgesamt 78 Prozent solche mit bis zu 50 Beschäftigten. Ich kenne keine wirtschaftspolitische Initiative dieser Bundesregierung aus den letzten vierzehneinhalb Jahren, die sich mit den fast 80 Prozent der Unternehmensinsolvenzen der mittelständischen Unternehmen auseinandergesetzt hat, keine einzige Initiative.
Hilmar Kopper hat mit seiner schlimmen Entgleisung, als er von den Peanuts sprach, nur das ausgesprochen, was für diese Regierung und für die 26 000 Insolvenzen und für die im vergangenen Jahr vernichteten 500 000 Arbeitsplätze gilt. Dies war für die Bundesregierung kein Anlaß, irgendwelche Schlußfolgerungen zu ziehen. Das sind für Sie Peanuts im Sinne der Kopperschen Argumentation.
Dabei läuft ein bedenklicher Erosionsprozeß in der mittelständischen Wirtschaft in diesem Jahr ungebremst weiter, und diese Regierung sieht keinen Handlungsbedarf. Ich finde das empörend.
In der letzten Zeit hört man ja ohnehin nur sehr wenig aus dem Bundeswirtschaftsministerium, doch was von der Regierung noch rudimentär gemacht wird, wie das Investitionsprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau, muß sogar noch der Kanzler persönlich verkünden, und dann zieht er zwei Wochen später mit einem Vorschlag nach, den die Sozialdemokraten ihm gerade vorgelegt haben.
Also, Herr Wirtschaftsminister, die Mittelstandspolitik muß in den Vordergrund rücken, und wenn Sie schon sonst nichts mehr zu sagen haben, weil die Regierung Ihnen alles weggenommen hat, dann werden Sie wenigstens ein anständiger Mittelstandspolitiker, und machen Sie ein Mittelstandsministerium aus Ihrem Haus!
Aber auch das scheint zu spät zu sein.
Was sind die Ursachen der dramatischen Pleitewelle in Deutschland? - Zu geringe Eigenkapitalkraft gerade der mittelständischen Unternehmen in der Gründungsphase, Steuer- und Abgabenlast für mittelständische Unternehmen, mangelnde unternehmerische Ausbildung von jungen Unternehmern
- stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr Hinsken, ich antworte gerne besonders von Technikern, schlechte Zahlungsmoral der öffentlichen Auftraggeber, die dabei eine ganz besondere Rolle spielen.
Wenn Koalition und Bundesregierung bereit wären zu handeln, dann könnten Sie doch beim nächsten Steuergipfel in der kommenden Woche mit uns vereinbaren, daß die Lohnnebenkosten zum 1. Juli 1997 gesenkt werden. Das haben wir Ihnen doch angebo-
Ernst Schwanhold
ten; das wäre doch ein Entlastungsprogramm für die mittelständischen Unternehmen.
Dann würden Sie mit 2 oder gar 3 Prozent Entlastung dafür sorgen, daß 1,5 Prozent der Lohnsumme auch bei den Unternehmen verblieben. Dieser Betrag von 1,5 Prozent ist angesichts der Ertragssituation der mittelständischen Wirtschaft ein durchaus guter Schluck aus der Pulle. Warum blockieren Sie das eigentlich? Das könnten Sie sofort mit uns haben.
Wenn wir uns dann noch über eine finanzierbare und ausgewogene Steuerreform verständigen wollen, in deren Rahmen der Steuersatz für gewerbliche Einkünfte in angemessener Weise gesenkt wird, dann wären Sie wiederum dicht bei dem, was wir Ihnen in einem zweiten Schritt angeboten haben. Auch das könnten Sie mit uns haben, aber das steht nicht im Vordergrund Ihrer Betrachtungen.
Im Vordergrund Ihrer Betrachtungen steht die Frage danach, wie Sie Vermögen entlasten können, nicht aber Unternehmen, insbesondere mittelständische Unternehmen.
Wie kommen denn sonst die Ungleichheiten zwischen der Steuerbelastung von Vermögen und Kapitalertrag im Verhältnis zur Steuerbelastung auf Arbeitsplätze und auf unternehmerische Tätigkeiten zustande? Das kann doch nur das Ergebnis Ihrer Politik sein, Herr Friedhoff; erwecken Sie doch nicht den Eindruck, als ob Sie damit nichts zu tun hätten!
Lassen Sie uns also darüber nachdenken, was in den nächsten Wochen geschehen kann. Die unverschuldeten Zahlungsschwierigkeiten, in die manche mittelständischen Unternehmen geraten, könnten auch durch Überbrückungshilfen behoben werden. Damit wären diese Unternehmen nicht darauf angewiesen, entweder den Zylinderhut zu nehmen oder sich weiterhin mit Krediten, in unerträglicher Gutsherrenart von Fürsten deutscher Großbanken gewährt, zu verschulden, Krediten, die hinterher nicht mehr abzutragen sind.
Wir sollten Unterstützung dabei geben, daß Unternehmen, die Aufträge haben, die ertragsstark sind, die zur Zeit am Markt Schwächen haben, in die nächste Aufschwungphase gerettet werden, weil es allemal billiger ist, Unternehmen im Markt zu halten, als hinterher über Neugründungen zu versuchen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zahl der vernichteten Arbeitsplätze ist in jedem Fall höher als das, was wir erhalten könnten, wenn Sie dort eine Initiative starteten.
Die Konjunkturbelebung ist ein nächster Punkt, über den wir nachdenken müssen. Es gehen im wesentlichen Unternehmen in Konkurs, die binnenmarktorientiert sind, weil natürlich völlig klar ist: Die Exportkonjunktur ist das einzige, was läuft. Sie aber denken immer noch darüber nach, wie Sie den Export steigern oder die Angebotsseite verbessern können, anstatt auch einmal Überlegungen darüber anzustellen, daß zum Beispiel Handwerker aus dem Baubereich Aufträge in Deutschland brauchen, übrigens auch Aufträge von der öffentlichen Hand, zum Beispiel durch Verstetigung der öffentlichen Ausgabepolitik, die nicht nur darauf ausgerichtet ist, Steuereinnahmeausfälle durch Sparen zu kompensieren, sondern auch darüber nachdenkt, wie Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik unter der Bedingung von Wachstumsorientierung und Orientierung an der Erhaltung von Arbeitsplätzen auszusehen hat.
Ich bin beim Arbeitsmarkt und bei der Konjunkturbelebung. Nach wie vor überwiegen bei uns die Rationalisierungsinvestitionen. Rund 50 Prozent des Investitionsvolumens wird für Rationalisierungsinvestitionen verausgabt. Vorzieheffekte einer Steuerreform könnten insofern auch negative Arbeitsmarkteffekte haben, wenn das geschieht, was Sie jetzt vorhaben, wenn nämlich die degressiven Abschreibungsbedingungen verschlechtert werden. Dies würde kurzfristig zu erneuten Rationalisierungsschüben auch in der mittelständischen Wirtschaft führen, was einerseits gewünscht ist, aber andererseits Arbeitsmarkteffekte hätte. Wenn wir nicht binnenwirtschaftlich in eine Wachstumsphase bei Investitionen und der Nachfrage kommen, kann dies am Ende auch noch negative Aspekte haben.
Davor ist zu warnen.
Die Auftragseingänge boomen nur beim Export; binnenwirtschaftlich stagniert alles. Die Produktivitätsentwicklung neutralisiert Wachstumsbelebungen für den Arbeitsmarkt. Die Rahmenbedingungen waren allerdings relativ gut: geringe Inflation, niedrige Zinsen - obwohl die Bundesbank viel zu spät reagiert hat; dies muß kritisiert werden -, sinkende Lohnstückkosten.
Die Unsicherheit der Investoren geht vorwiegend von dieser Bundesregierung aus: chaotische Finanzpolitik, ungeklärte Verschuldensentwicklung, Sparen zu Lasten der Zukunftsinvestitionen, Verunsicherungen über Renten und Krankenkosten, Steuerbelastungen für Geringverdiener und Verunsicherungen wegen des Euro; der eine spricht von 3,0 Prozent, der andere sagt: „Wir wollen den Euro" und nutzt Interpretationsspielräume.
Meine Damen und Herren von der Regierung, wenn Sie nicht bald Rahmenbedingungen schaffen, die für die mittelständische Wirtschaft verbindlich sind, die für sie planbar machen, wohin die Entwicklung der Lohnnebenkosten geht, ob Sie bereit sind, die Kosten, die nicht zu den Lohnnebenkosten gehören, herauszunehmen, ob Sie bereit sind, dafür zu sorgen, daß sich mittelständische Unternehmen wie-
Ernst Schwanhold
der mehr an Forschungsergebnissen beteiligen können und die Umsetzung von Forschungsergebnissen in Produkte beschleunigt wird, wenn Sie nicht bereit sind, Fachhochschulen so auszustatten, daß sie mittelständischen Unternehmen beim Innovationsprozeß helfen können - -
- Entschuldigung, Fragen des Forschungshaushaltes und der Mittel, die dafür bereitgestellt werden, aus dem Hochschulförderprogramm und dem Hochschulbauprogramm sind beim Bund angesiedelt. Tun Sie nicht so, Herr Hirche, als ob Sie das nicht wüßten!
Die Rahmenbedingungen also sind es, die der mittelständischen Wirtschaft und den Unternehmen, die in den Konkurs gehen müssen, Schwierigkeiten bereiten.
Es gibt einen zweiten Punkt, auf den ich zusätzlich hinweisen will. Sie haben Anstrengungen unternommen, den Marktzugang zu verbessern. Viele mittelständische Unternehmen aber schaffen es nicht, in der boomenden Exportwirtschaft Fuß zu fassen. Wir sollten daher den Forderungen der Opposition, der Sozialdemokratie, nachkommen, den Marktzugang für mittelständische Unternehmen zu verbessern, insbesondere in den schnell wachsenden Märkten. Wenn es uns schon nicht gelingt, die Binnenkonjunktur anzukurbeln, sollten wir wenigstens die Kraft haben, ihnen den Zugang zu Messen zu verschaffen, damit sie dadurch zukünftige Arbeitsplätze sichern können.
Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir mit einem konzertierten Programm Arbeitsplätze durch Innovation schaffen, der mittelständischen Wirtschaft Planungssicherheit geben, Entlastungen dort, wo sie nötig sind, also bei den Lohnnebenkosten, einleiten, den Übergang von technischer Entwicklung in Produktion und Produktionszweige für die mittelständische Wirtschaft fördern. Dies wären Maßnahmen, die einerseits jungen Unternehmen helfen würden, andererseits Unternehmen, die sich auf den Märkten neu orientieren, Zukunftschancen eröffneten.
Es kann niemand belegen, daß die mittelständische Wirtschaft innerhalb der Bundesrepublik Deutschland schlecht geführt würde. Alle Sonntagsreden von Ihnen deuten darauf hin, daß die mittelständische Wirtschaft selbst alles getan hat, was zu tun notwendig ist, um am Markt zu überleben. Es muß also, wenn die Pleiten dort angesiedelt sind, an den Rahmenbedingungen liegen.
Kaprizieren Sie sich nicht darauf, zu sagen: Wir müssen bei den Spitzensteuersätzen nur die Vermögen entlasten! Kaprizieren Sie sich darauf, wie das, was zu tun ist, arbeitsplatzwirksam wird. Die fünf Punkte, die ich Ihnen eben vorgehalten habe, könnten ein Weg sein, die Pleiten zumindest für die Jahre 1997 oder 1998 zu vermindern, damit wir nicht die Lokomotive des europäischen Pleitenkurses sind.
Dies wird sich spätestens im Jahre 1998 dadurch ändern, daß Sie keinen neuen Auftrag bekommen, Mittelstandspolitik zu betreiben. Dies ist dringend notwendig.
Ich gebe dem Abgeordneten Hartmut Schauerte das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Große Anfrage der SPD aus dem Jahre 1995
- die seit mehr als anderthalb Jahren beantwortet ist -
wird heute, ohne daß sie noch einmal erwähnt wird, zum Anlaß genommen, eine Insolvenzdebatte zu führen, die Sie im Prinzip nur zu einer wirtschaftspolitischen Mittelstandsdebatte umfunktionieren wollten. Ich habe den Eindruck, Ihnen sind Meldungen hinsichtlich einer übergroßen Identifikation der SPD mit den Problemen von Kohle und anderen Großinstitutionen in diesem Land zugetragen worden, die Ihnen nicht mehr schmecken, weil sie schädlich sind.
An was denkt man draußen im Land, wenn man an sozialdemokratische Wirtschaftspolitik denkt? Natürlich an eine Schutzmacht für Großkonzerne und sterbende Industrien. Die Bilder sind nun durch Deutschland gegangen; das hat weh getan. Deshalb haben Sie krampfhaft gesucht: Wie kann ich einen anderthalb Jahre alten Vorgang jetzt nutzen, um ihn in die Parlamentsdebatte einzubringen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwanhold?
Nein, ich möchte meine Ausführungen im Zusammenhang machen.
Herr Kollege, wenn Sie dann hingehen und sagen, die Regierung solle nun endlich handeln
- ich komme noch zu den Einzelheiten - und die spezifischen Ursachen der Insolvenzentwicklung beseitigen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben in der Frage Gewerbekapitalsteuer, Gewerbeertragsteuer, Steuersatzsenkung, Abgaben- und Kostenbelastung, Flexibilisierung des Arbeitsrechtes, Kündi-
Hartmut Schauerte
gungsschutzvorschriften etc. pp. eine Vielzahl von Maßnahmen auf den Weg gebracht. All das sind zentrale Fragen, die insbesondere den Mittelstand belasten; denn er kann mit den Dingen nicht so gut umgehen wie die Großkonzerne.
Wenn Sie Ihre Blockadepolitik an dieser Stelle aufgäben, dann wäre die Meldung aus der „Creditreform" von heute, in der „dpa" oder wo immer, auf die Sie hier abstellen, schon eine deutlich günstigere Meldung. Geben Sie Ihre Blockade auf! Lassen Sie den Reformprozeß fortschreiten; dann kommen wir weiter. Aber durch Ihr Bremsen haben wir Probleme.
- Ja, darauf kommen wir gleich. Aber Sie haben den Bundesrat. Vergessen Sie den nicht! Mit dem blokkieren Sie doch mittlerweile jeden vernünftigen Fortschritt in Deutschland.
Jeder Konkurs tut weh, und jeder Konkurs ist ein schweres Schicksal: für die Eigentümer, die häufig nicht nur ihre Zukunft verlieren, sondern auch alles, was sie hatten - sie bekommen bittere Probleme -, und für die betroffenen Arbeitnehmer, die allenfalls Konkursausfallgeld bekommen. Insoweit muß man sich mit dem Thema beschäftigen. Dennoch muß man schauen: Wie stehen wir denn eigentlich international da? Sie haben Ihren Antrag interessanterweise auch damit begründet, daß Sie sagen: In Europa sinkt die Zahl der Konkurse, und in Deutschland steigt sie.
Das ist hochinteressant, und das bestätigt im Prinzip wieder meine These, Herr Schwanhold.
Ich werde das noch einmal vortragen: In den Ländern in Europa, auf die Sie sich beziehen, sind die Reformen zur Modernisierung der jeweiligen Standorte erfolgreich abgeschlossen,
und in Deutschland blockieren Sie diese Entwicklung.
- Frau Fuchs, Sie wissen doch, daß Ihr Herr Lafontaine mittlerweile ein rigides Regiment der Blockade im Bundesrat führt, und zwar zum Schaden Deutschlands und zum Schaden der Arbeitsplätze in Deutschland.
Ich darf einmal eine Zahlenentwicklung anführen. Von 1990 bis 1992 blieb die Zahl der Konkurse in Deutschland im wesentlichen stabil. In Frankreich stieg sie von 46 000 auf 57 000, in Großbritannien von
22 000 auf 61000, in den Niederlanden von 3000 auf 5000 und in Schweden von 9000 auf 22 000. Diese Signale sind in den Ländern verstanden worden. Mittlerweile geht die Zahl der Konkurse dort wieder leicht runter, weil die Opposition beim Umbau dieser Staaten mitgemacht hat. Sie aber verweigern nach wie vor die Mitarbeit. Das ist eine der zentralen Ursachen für die heutige Lage in Deutschland.
Eine andere Fragestellung ist ganz wichtig, damit man noch einmal begreift, vor welchem Hintergrund wir das hier diskutieren: Wieviel Prozent der Unternehmen in Deutschland fallen in Konkurs, und wieviel Prozent der Unternehmen im europäischen Ausland fallen in Konkurs? An dieser Fragestellung kommt man nicht vorbei. Haben wir hier eine besonders schlechte Entwicklung, liegen wir im Mittelfeld, oder sind die anderen schlechter? Das muß insbesondere deswegen gesagt werden, weil Sie, Herr Schwanhold, Ihren Initiativantrag damit begründen, daß wir schlechter als andere Länder in Europa sind.
Die Datenlage, die uns da zur Verfügung steht, ist schwach. Die Bundesregierung hat ja damals nicht sehr präzise auf diese Frage geantwortet. Aber die Daten, die wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ermitteln konnten, ergeben ein Bild, das ganz beachtlich ist.
Wenn die Zahlen stimmen, beträgt in Deutschland die Quote von Unternehmen, die in Konkurs gehen - bezogen auf die Gesamtzahl der bestehenden Unternehmen -, 0,8 Prozent. In Belgien beträgt die Quote 3,5 Prozent, in Frankreich 2,8 Prozent, in Großbritannien 1,5 Prozent, in den Niederlanden 1,7 Prozent und in Schweden 6,7 Prozent. Das heißt, Deutschland liegt in allen Bereichen deutlich, um ein Vielfaches niedriger als die anderen. Ich sage noch einmal: Trotzdem tut jeder einzelne Konkurs weh. Aber wir dürfen uns nicht in eine wirtschaftspolitische Ecke hineinstellen, in die wir nicht gehören.
In jedem marktwirtschaftlichen Prozeß sind Konkurse unvermeidbar. Wenn Sie eine Zahl herausgreifen - lassen Sie mich das auch einmal in bezug auf die ostdeutschen Länder feststellen - und sagen, daß diese Quote in den neuen Ländern seit 1992 besonders gestiegen ist, dann erwidere ich: Das ist doch ganz normal. Im Basisjahr 1990 hatten wir in den neuen Ländern überhaupt keine Firmenzusammenbrüche, aber auch keine Neugründungen. Das muß doch in den richtigen Zusammenhang gestellt werden.
Sie erschrecken die Menschen mit den Zahlen, die Sie hier vortragen, und sind nicht einmal bereit und in der Lage, sie in einen vergleichbaren internationalen Zusammenhang zu stellen. Das gehört zu jeder seriösen Betrachtung eines solchen Vorganges, nämlich die Beantwortung der Frage: Wie gehen andere europäische Länder mit vergleichbaren Grunddaten mit einem solchen Problem um? Ich sage Ihnen: Keines der europäischen Länder, auf die Sie sich beziehen, hat ein solches Programm, wie Sie uns das mit Ihrem Initiativantrag empfehlen, beschlossen. Nein,
Hartmut Schauerte
sie haben die Steuern gesenkt, sie haben die Lohnzusatzkosten gesenkt, sie haben die Arbeitszeitregelungen flexibilisiert, sie haben ihre Volkswirtschaften modernisiert und sind deswegen jetzt in einer günstigeren Situation.
Ich sage noch einmal: Wir sind in dieser Beziehung zu spät dran und sind halbherzig.
Zudem sind wir noch nicht zu ergiebigen Resultaten gelangt, weil die Sozialdemokraten uns in einer permanenten Weise durch ein Instrument blockieren, das in den Verfassungen der anderen Länder nicht existiert, nämlich den Bundesrat, der eine absolut wirkende Blockademöglichkeit bietet.
Das ist die ganz entscheidende Schwäche in bezug auf das Tempo des Umbaus in Deutschland, mit dem wir uns an das anpassen wollen, was die internationale Wettbewerbslage von uns erfordert.
Lassen Sie mich noch eine weitere Zahl nennen, die auch sehr interessant ist. Als die vergleichbaren Länder - ich nenne sie noch einmal: Frankreich, England, Holland, Österreich - die Reformen für ihre Volkswirtschaften noch nicht abgeschlossen hatten, explodierte die Zahl der Konkurse auf ein deutlich höheres Niveau als in Deutschland. In Deutschland sah es in diesen Jahren relativ günstig aus, auch wegen des großen Sondereffekts der Wiedervereinigung, die ja in den ersten Jahren wirtschaftspolitisch belebend gewirkt hat. Das traf ja für alle Bereiche zu. Wir haben dann in den folgenden Jahren - ich sage es noch einmal - dank Ihrer konsequenten Verweigerung das notwendige schnelle Tempo bei der Anpassung an das, was um uns herum geschieht, nicht vorlegen können. Ein Teil der Probleme, die wir haben, liegt in dieser Ursache.
Die Zahl der Konkurse, bezogen auf die Gesamtzahl der Unternehmen in Deutschland, bietet ein günstigeres Bild als in allen vergleichbaren Ländern. Ich darf nur eine Zahl nennen: Allein im Jahr 1995 gab es in Großbritannien 38 190 Firmenzusammenbrüche, und das in einer Volkswirtschaft, die nicht einmal zwei Drittel des Bruttosozialprodukts Deutschlands erwirtschaftet.
Ich bleibe dabei: Auch in bezug auf die Zahl der Konkurse bei uns müssen wir nachdenken, was man tun kann. Ein wichtiger Punkt ist, dieses Land zu modernisieren. Helfen Sie uns dabei, und wir kommen ein ganzes Stück weiter!
In diesem Zusammenhang ist es auch noch einmal wichtig, festzuhalten - damit man das nicht vergißt -, vor welchem Hintergrund denn überhaupt die Zahl der Konkurse zu sehen ist. Wir haben in einem Jahr in Westdeutschland etwa 450 000 Neugründungen und Anmeldungen und in den neuen Ländern etwa 70 000 Neugründungen und Anmeldungen zu verzeichnen. Wenn ich die Abmeldungen und die Konkurse - Abmeldungen sind ja die Abgänge, die lautlos geschehen - mit berücksichtige, dann ergibt das, daß es im Jahre 1996 in Westdeutschland einen Überschuß von Neugründungen in einer Höhe von 61 000 und in den neuen Ländern in einer Höhe von 10 000 Betrieben gab. Insgesamt haben wir einen positiven Saldo bei Neugründungen produzierender und arbeitsplatzrelevanter Art - nach Abzug der Anzahl der Konkurse - von 71000. Ich wünschte, es wären mehr.
Aber mit Ihrer Methode, das Thema zu schildern, kommen wir nicht weiter, erst recht nicht mit Ihrem Rezept.
Jetzt komme ich zu dem, was Sie beantragen. In Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie, es solle ein Konsolidierungsdarlehen eingeführt werden, das zum Beispiel nicht gewährt werden solle, wenn die Bilanz eines Unternehmens ein Minuskapital aufweise. In den Fällen, die ich in meiner bisherigen beruflichen Praxis kennengelernt habe, waren aber nahezu alle Konkursfälle genau von der Art.
Die hatten zwangsläufig ein Minuskapital, sonst wären sie nicht kaputtgegangen.
Das ist weiße Salbe, das ist wirklich von absolutem Unverstand geprägt, Herr Schwanhold.
Weil Sie das selber erkannt haben, haben Sie folgenden Satz angefügt:
Ausnahmen können bei einer schlüssigen Begründung durch die Hausbank bzw. einen Steuerberater/Wirtschaftsprüfer gemacht werden .. .
Das Theater stellen Sie sich mal vor! In meiner Zuständigkeit als Mitglied des Finanzausschusses des Landes Nordrhein-Westfalen habe ich in großem Umfang an Bürgschaftsbewilligungen mitgewirkt. Wir haben die Risiken gesehen und gewichtet. Ich sage Ihnen: Jeder Fall, der vorkommen wird, wird ein Ausnahmefall werden. Deswegen gilt schon der erste Satz Ihres Antrags nicht.
Herr Kollege Schauerte, - -
Nein, ich möchte meine Rede zu Ende führen; ich habe nur noch drei Minuten Redezeit.
Dann wollen Sie diesen Fonds auch noch politisch anbinden. Sie können sich doch vorstellen, daß das, wenn Abgeordnete Empfehlungen geben, wie das jeweilige Prüfungsgremium bei einer Antragslage entscheiden soll, ein Hauen und Stechen gibt und zu nichts führen wird.
Hartmut Schauerte
Ihr Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen, Herr Clement, der hin und wieder ganz vernünftige Gedanken hat, hat das richtig gesehen.
- Wenn er dürfte, Herr Kollege Fischer, und ihm die Grünen mit Frau Nacken nicht permanent im Nakken säßen, käme das Land tatsächlich ein bißchen weiter. Das ist so.
Was ist der Clementsche Ansatz? Herr Clement sagt: Das, was die SPD hier vorträgt, ist keine Bundesangelegenheit. Daher entwickelt er ein Programm auf Landesebene. Diese Art von Wirtschaftsförderung fällt, wenn sie fein genug, genau genug und ortsnah genug gemacht werden soll, in .die Zuständigkeit der Länder.
Rahmenbedingungen über Steuern stellen wir auf.
Die Frage, ob Einzelbürgschaften, Einzeldarlehen oder sonstiges gewährt werden, ist aber keine Angelegenheit des Bundes. Wir dürfen uns da auch nicht hineinbegeben.
Herr Clement sagt drei Dinge. Erstens. Wir müssen einen Kapitalbeteiligunsgfonds haben. Da wollen die WestLB und das Land NRW mitmachen.
Zweitens. Wir müssen einen Risikobeteiligungsfonds haben. Da sollen die Banken und das Land mitmachen.
Drittens. Wir müssen einen „Turn-around-Fonds" haben; so nennt er es. Das betrifft im Prinzip die Sanierungsfälle, die vor dem endgültigen Konkurs stehen.
Wissen Sie, was Herr Clement dazu sagt? Aus diesem „Turn-around-Fonds" solle sich die Politik gänzlich heraushalten. Damit solle sie gar nichts zu tun haben. Das müsse über besondere Risikobeteiligungsgesellschaften der freien Wirtschaft organisiert werden. Die Politik sei nicht in der Lage, in solchen Fällen konkrete, berechtigte Entscheidungen zu treffen.
- Entschuldigen Sie, Sie fordern einen Fonds, ohne zu sagen, wer ihn speisen soll. Ich dachte, das war eine Anfrage an den Bundesfinanzminister. Habe ich mich da verhört? Genau das tut Herr Clement nicht, weil er meint: Eine politische Basis ist Gift für diese Art Fonds; das darf nicht sein.
Wir müssen anders an dieses Thema herangehen. Herr Schwanhold, ich bin erst ein paar Jahre im Bundestag. Sie sind schon länger hier, stelle ich fest, wenn ich höre, daß Sie sagen, in den letzten 14 Jahren sei nichts für den Mittelstand getan worden. Ich weiß gar nicht, an welchen Veranstaltungen Sie teilgenommen haben.
Ich bin zum Beispiel der Meinung, daß das neue Konkursrecht, das wir gerne früher eingeführt hätten, ein ganz wichtiger Beitrag gewesen wäre. Ab 1. Januar 1999 kann und wird es das auch sein. Da gilt es dann nämlich, in der Feinsicht, mit Maßanzügen an Ort und Stelle eine Chance zu eröffnen, damit zugunsten des Erhalts und der Fortführung eines Betriebes der totale Zugriff von Gläubigern zunächst einmal verhindert wird.
Über einen weiteren Punkt sollten wir reden, nämlich die Zahlungsmoral der öffentlichen Hände.
Wir sollten uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen. Aus den Umfragen unter den Unternehmern, die in Konkurs gegangen sind - sie liegen ja auch Ihnen vor -, geht zum Beispiel hervor, daß in 67 Prozent der Fälle auch die schlechte Zahlungsbereitschaft der öffentlichen Hände eine Rolle gespielt hat. Denn nicht der Bund, sondern die Kommunen und die Länder haben doch die Masse der Aufträge an Handwerker und Mittelständler, von denen wir hier reden, zu verteilen. Prüfen Sie doch einmal in Ihren Kommunen und Ländern, wie pünktlich die Verwaltungen zahlen! Sie werden sich wundern. An dieser Stelle kann man etwas tun.
Helfen Sie mit, den Umbau in Deutschland voranzutreiben! Sie haben von den Wählern einen Auftrag bekommen - nicht zur Blockade, sondern zur Mitwirkung im Bundesrat. Machen Sie Druck auf Ihre Länderchefs, und hören Sie auf - das führt wirklich nicht weiter -, permanent auf den Banken herumzuschimpfen! Das führt zum Neid und ist die Betrachtung eines kleinbürgerlichen Milieus.
Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluß.
Die Masse der Institute, angefangen von der WestLB bis hin zu den Sparkassen, wird von Ihnen mit verwaltet. Was soll diese Art von Beschimpfung? Diese Banken verwalten das Geld anderer Leute und müssen das mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns tun. Über Ihr Verhalten in diesem Zusammenhang sollten Sie noch einmal nachdenken.
Ich halte Ihren Antrag für nicht zustimmungsfähig. Es ist wohl verabredet worden, ihn zunächst noch zu beraten. Aber eigentlich könnte ich Ihnen heute schon sagen, daß der Antrag, so wie Sie ihn vorgelegt haben, am Ende keine Mehrheit findet.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Anke Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Herr Kollege Schauerte, ich finde, angesichts der Vielzahl der Unternehmenspleiten, über die wir sprechen, und angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben Sie eine ganz schlimme Rede gehalten.
Daß Sie am liebsten den Föderalismus abschaffen wollen, finde ich doch einen dicken Hund. Ich will auf folgendes hinweisen: Diese Regierung regiert seit 14 Jahren. Wir haben steigende Arbeitslosigkeit und die höchste Staatsverschuldung, die es je gab. Trotzdem werfen Sie uns hier Blockadepolitik vor.
Ich will Ihnen sagen, was wir bei diesem Thema von Ihnen verlangen. Wir wollen seit Jahren, daß die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Sie machen das Gegenteil: Die Beiträge zur Sozialversicherung sind unter Ihrer Regierung gestiegen. Wir wollen die Ökosteuern nutzen, um die Lohnnebenkosten zu senken. Sie haben das alles abgelehnt. Wir haben immer wieder die Bereitstellung von Risikokapital für kleine und mittlere Unternehmen verlangt. Auch das haben Sie abgelehnt.
Wir haben immer wieder derartige Instrumente auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir wissen, daß es nicht ausreicht, für die großen Industrieunternehmen etwas zu tun. Vielmehr müssen wir kleine und mittlere Unternehmen stärken und ihnen helfen. Sie haben alle unsere Initiativen abgelehnt.
Herr Kollege, wenn Sie schon darauf hinweisen, daß Sie erst neu hier sind, dann sollten Sie sich auch besser informieren, bevor Sie in diesem Deutschen Bundestag eine solch platte, dümmliche Rede zu einem Thema halten, das uns sehr am Herzen liegt.
Ein letzter Gedanke, da Sie auf die anderen Länder hingewiesen haben: In den Ländern, von denen Sie gesprochen haben, zum Beispiel Holland, sind alle diese Veränderungen in Kooperation gelungen.
Ihr schlimmster Fehler ist, daß Sie das Innovationsdefizit nicht auflösen, indem Sie Gewerkschaften und Arbeitgeber an einen Tisch holen. Sie setzen lieber auf Konfrontation, betreiben einseitig Politik zu Lasten der Schwachen. Das sind die anderen Modelle: Kooperation statt Konfrontation, sozialer Konsens statt Klassenkampf, wie er von Ihnen im letzten Jahr angezettelt wurde.
Wenn Sie das nicht endlich begreifen, dann werden Sie auch keine Strategie entwickeln können, um zu erreichen, daß wir wirklich aus dem Teufelskreis der steigenden Arbeitslosigkeit herauskommen.
Herr Kollege Schauerte, Sie können darauf antworten. Bitte.
Frau Kollegin Fuchs, zum Konsens gehören immer zwei.
Wenn man sich sorgfältig ansieht, welche Vorschläge die Regierungen der Staaten Schweden, Niederlande und Österreich - in der Regel sozialdemokratische Regierungen - zum Abbau der überdimensionierten Sozialstaatskosten und Steuerlasten in ihren Ländern vorgelegt haben,
dann stellt man fest, daß diese Maßnahmen grundsätzlich härter in Besitzstände eingegriffen haben, als das in den Vorschlägen, die die CDU/CSU-geführte Bundesregierung vorgelegt hat, der Fall ist.
Die Ministerpräsidenten und die Regierungsmehrheiten in den betroffenen Ländern hatten ein großes Glück: Sie hatten eine bürgerliche oder konservative Opposition, die das mitgetragen hat, und keine Opposition wie hier
- angefangen bei Oskar Lafontaine -, die permanent und fundamentalistisch blockiert und sich nicht bewegt. Die eigentliche Sonderlast Deutschlands ist das Verhalten der Opposition hier und der Länder im Bundesrat, die dort über eine Sperrmehrheit verfügen. Sie erschwert uns den Umbau und verzögert und ist deshalb wesentliche Ursache für die Vermehrung von Arbeitslosigkeit in Deutschland. Das ist genau Ihr Problem, mit dem Sie fertig werden müssen. Das müssen Sie verantworten.
Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Ernst Schwanhold das Wort.
Herr Schauerte, meine erste Bemerkung: Es wäre klug, sich das schwedische und holländische Modell einmal näher anzuschauen und darüber nachzudenken, was dort neben anderen Maßnahmen gemacht worden ist. Sie haben eine geringe Steuer, aber bei der Belastung des Arbeitsplatzes laufen die Lohnnebenkosten nicht auf; sie werden alle über indirekte Steuern erhoben. Sie haben aber dafür gesorgt, daß die Arbeitsplätze
Ernst Schwanhold
durch hohe Lohnnebenkosten so teuer geworden sind.
Meine zweite Bemerkung: Kapitalerträge werden wesentlich höher als bei uns besteuert. Obwohl es notwendig gewesen wäre, haben Sie diese steuerlichen Reformen nicht eingeleitet.
Meine dritte Bemerkung: Es ist etwas für Innovationen, Marktzugang und inbesondere für Forschung und Technologie in diesen Ländern getan worden, um auch forschungs- und technologiepolitisch an der Spitze zu sein, während Sie die Mittel dafür gekürzt haben.
Meine letzte Bemerkung: Sie haben sich zu den Banken geäußert, Herr Schauerte. Das hätte bereits Niederschlag finden können, wenn Sie den Vorschlägen des Kollegen Graf Lambsdorff gefolgt wären, der sich schon in der Vergangenheit häufig dafür ausgesprochen hat, die Macht der Banken dergestalt zu beschränken, daß sie nicht in hohem Maße über Beteiligungsbesitz in Interessenskollision darüber kommen, ob sie einerseits den Börsenzugang organisieren oder andererseits Kreditgeber sind, oder drittens am besten über den Abbau von Arbeitsplätzen und möglicherweise über den Konkurs verdienen. Diese Art der Interessenskollision muß aufgelöst werden.
Der Wirtschaftsminister hat im Gegensatz zu einigen von Ihnen am Sonntag der vergangenen Woche einen bemerkenswerten Artikel geschrieben, in dem er sagt, daß er das alles nicht will, was die Regierung in Ihrem Referentenentwurf bereits angekündigt hat.
Es geht nicht um Neid und Mißgunst, sondern es geht darum, daß die Sparkassen und die Volks- und Raiffeisenbanken in den Regionen eine hohe Verantwortung übernehmen und bereit sind, dafür einzutreten, was von seiten Ihrer Politik nicht gemacht worden ist. Sie beteiligen sich nämlich mit der Feinsteuerung an Risikokapitalfonds in der Region. Das allein reicht aber nicht aus, wenn Sie dieses Thema verschlafen und damit jungen, schnell wachsenden Unternehmen keine Refinanzierungschancen geben.
Herr Schauerte, Sie können darauf antworten.
Herr Schwanhold, so weh es auch tut, Sie kommen an der Grundfeststellung nicht vorbei: Die Länder, die ich gerade angesprochen habe und die sozialdemokratisch regiert werden, haben nicht umfinanziert, sondern haben die Steuern und Abgaben in der Tat deutlich gesenkt.
Die Holländer waren vor etwa sechs bis sieben Jahren bei allen volkswirtschaftlichen Grunddaten etwa 15 bis 20 Prozent teurer als der deutsche Standort. Heute sind sie etwa 15 bis 20 Prozent günstiger
als der deutsche Standort, und die Arbeitslosigkeit in Holland sinkt.
Ich will ein konkretes Beispiel nennen.. In Schweden hat man auf Vorschlag eines sozialdemokratischen Ministerpräsidenten eine Regelung für den Krankheitsfall eingeführt, die da lautet: zwei Karenztage und danach 70 Prozent Lohnfortzahlung.
Sie müssen die europäische Wirklichkeit wahrnehmen. Sie sind im europäischen Konzert als Sozialdemokraten weit strukturkonservativer als alle anderen gestaltenden Kräfte in Europa. Das bleibt Ihr Dilemma auch für die nächste Wahlauseinandersetzung.
Ich gebe dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist ein Land der Rekorde: Wir halten den Spitzenplatz im Export, wir haben pro Kopf den höchsten Bierkonsum, wir sind die Schnellsten auf der Autobahn. Jetzt kommt allerdings ein trauriger Rekord dazu: Wir sind Pleiten-Europameister geworden.
Wenn ich die „ap"-Meldung von heute richtig verstehe, Herr Schauerte, dann geht es hier nicht um eine allgemeine Tendenz und um Erscheinungen, die Sie überall und jederzeit in der Marktwirtschaft feststellen können. Nein, wir haben in Deutschland den Nachkriegsrekord bei der Pleitenwelle erreicht. Würden Sie nicht gerade so heißen, dann müßte ich Ihnen wirklich sagen: Mir schauerte bei Ihrer Rede.
Angesichts der dramatischen Firmenzusammenbrüche, angesichts der Schäden, die entstehen, angesichts der Arbeitslosigkeit, die damit verbunden ist, muß ich sagen: Die Ankündigungspolitik dieser Regierung und dieser Regierungskoalition, die Beschwichtigungsrhetorik, von der Sie hier ein Kapitel vorgestellt haben, diese Mischung aus Fehlanalyse und Wirtschaftswunderglaube und all die Ankündigungen, die bisher zu nichts geführt haben, werden der Dramatik dieser Situation überhaupt nicht gerecht.
Im Grunde genommen sind die Schwachpunkte seit langem bekannt. Es sind die unzureichenden Marktinformationen, die manche dieser kleinen und mittelständischen Firmen haben. Es sind auch Fragen der Absatzschwächen und der Absatzförderung. Es ist eine unzulängliche wirtschaftsnahe Forschungsstruktur, und es fehlt an Kapital, vor allem an Eigenkapital. Es gibt vor allem keinen funktionieren- den Risiko- und Beteiligungskapitalmarkt.
Werner Schulz
Das ist der Bundesregierung schon seit langem bekannt. Sie weisen zwar mit Recht darauf hin, daß die Große Anfrage der SPD aus dem Frühjahr 1995 stammt. Aber Ihre Antwort stammt ebenfalls aus dem Jahr 1995. Seit anderthalb Jahren wissen Sie Bescheid und sagen - ich zitiere aus Ihrer Antwort auf diese Große Anfrage der SPD -:
Ein verbesserter Zugang von Existenzgründern sowie kleinen und mittleren Unternehmen zum Kapitalmarkt ist auch mit Blick auf die Verbesserung der Bestandsfestigkeit mittelständischer Unternehmen ein wesentliches Element der Politik zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland.
Wenn Sie das feststellen, dann frage ich mich, wieso Sie an dem Universalbankenprinzip festhalten, warum Sie mit einer so schwachen Novelle zur Kontrolle und Transparenz des Bankwesens in Deutschland kommen,
warum beispielsweise diese klugen Analysten das Risikokapital der Banken für feindliche Übernahmen einsetzen, anstatt einmal freundliche Unterstützungsprogramme aufzulegen.
Existenzsicherung ist die Aufgabe. Man kann doch nicht Existenzgründerprogramme aus dem Boden stampfen, und dann fehlt es an begleitenden Maßnahmen zur Existenzsicherung. Ich glaube, viele Unternehmensgründer in Deutschland können eher Roulette spielen, also eher auf Rot oder Schwarz setzen, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen.
Wir brauchen weit mehr als das, was Sie in Ihrem 50-Punkte-Programm beschrieben haben, nämlich eine entsprechende Existenzsicherung für Existenzgründer. Man muß sich das einmal anschauen. Vor einem Jahr sind Sie mit diesem Aktionsprogramm auf den Markt getreten. Was ist denn seitdem passiert? Was ist das Ergebnis dieses 50-Punkte-Programmes? Nichts! Die Welle der Firmenzusammenbrüche läuft weiter. Wir haben einen riesigen Insolvenzenstand, der schwerste Schäden in der Wirtschaft und Forderungsausfälle bei den Lieferanten von etwa 50 Milliarden DM allein in diesem Jahr erwarten läßt. Von indirekten Kosten, Steuerausfällen und Zinsverlusten gar nicht zu reden.
In Ostdeutschland, wo wir einen relativ veralteten Kapitalstock hatten und jetzt eine schwache Kapitaldecke haben - wo also das Risikokapital gar nicht in dem Maße vorhanden ist -, haben wir noch einen wesentlich höheren Insolvenzenstand und einen wesentlich schlimmeren Einbruch, eine schlimmere Gefährdung für diese zarte Entwicklung. Unter diesem Blickwinkel sollte man die Transfers, die in den Osten Deutschlands gehen, und die Wirtschaftsförderung noch einmal neu diskutieren.
Es ist sicherlich einiges in Gang gekommen, was den Aufbau einer mittelständischen Wirtschaft im Osten anbelangt. Ich will das gar nicht negieren. Der Prozeß läuft. Aber neben den vielen Neugründungen haben wir, wie schon gesagt, eine beängstigende Zahl von Schließungen von Unternehmen. Es scheitern vor allen Dingen Unternehmen, die wegen ihrer Innovation, wegen ihrer Produkte und wegen ihrer Anstrengungen eigentlich marktfähig wären. Jedes zweite neu gegründete Unternehmen muß in den ersten fünf Jahren aufgeben. Es sind gerade die jungen, die technologiefreudigen und die innovationsfreudigen Unternehmen im Osten, bei denen wir diese Tendenz feststellen.
Ich will acht Kardinalfehler der Mittelstandspolitik der Bundesregierung nennen, um das hier auf den Punkt zu bringen. Es fehlt zum einen ein Konzept zur Überwindung der Kapitalschwäche kleiner und mittlerer Unternehmen. Die bestehenden Förderprogramme reichen nicht aus, die Kapitalschwächen zu überwinden. Die Rahmenbedingungen für Risikokapital und Beteiligungskapital sind nicht optimal. Was die Eigenkapitalanteile in den mittelständischen Unternehmen angeht, haben wir einen Rückgang von früher 30 Prozent auf heute 18 Prozent. Das ist ein alarmierendes Signal, weil sich bei stotternder Auftragslage, schlechter Zahlungsmoral oder bei Liquiditätsengpässen nun gerade diese schwache Kapitaldecke der Unternehmen tragisch auswirkt.
Der Handlungsbedarf in Sachen Risikokapital wird nicht bestritten. Das ist ein Standardrepertoire, das in der Politik und in der Wissenschaft Eingang gefunden hat. Aber seit Goethes Zeiten, seit Faust II, wo das Papiergeld geschätzt wurde, müßte man sagen: Die Botschaft habe ich wohl vernommen, allein mir fehlt der Glaube, daß diese Regierung in dieser Richtung etwas tut.
Die Bundesregierung, um den Punkt zwei zu nennen, blockiert mit ihrer strukturkonservativen Politik die großen Chancen, die im ökologischen Umbau stecken, wo wir vor allen Dingen entwicklungsfähige Unternehmen fördern könnten, die mit Ressourceneinsparungen, mit Recycling und dergleichen mehr aufwarten könnten. Das ist ein arbeitsintensiver Bereich. Hier fehlt der Startschuß in die ökologische Steuerreform.
Im Gegenteil: Wir haben unter dem ersten Tagesordnungspunkt heute gehört, wie die Monopolstrukturen gefestigt werden, wie beispielsweise die Lex VEAG festgeschrieben worden ist, die letztendlich für Unternehmen zu einem höheren Energiepreis von 2 bis 3 Pfennigen im Osten führt. Man sollte sich nichts vormachen. Auch das ist ein Grund, warum wir Firmenzusammenbrüche haben: die hohen Betriebskosten, die hohen Kosten für Energie, Gas, Abwasser und Anschlüsse.
Werner Schulz
- Aber bitte schön, Herr Schauerte, der Verantwortliche sitzt hier, dem Sie das sagen müßten. Dann aber weg mit dieser Lex VEAG.
Wenn Sie das so zugeben, dann könnten wir uns an dieser Stelle sehr schnell einig werden. Das ist ein Standortnachteil, der sich für den Osten allmählich auswächst.
Punkt drei. Auf der anderen Seite gibt es das Förderlabyrinth. Seit längerem ist schon bekannt, daß es mehr eine Förderung von Subventionsrittern als von leistungsfähigen Handwerks-, Klein- und mittelständischen Betrieben gibt.
Punkt vier: Die Subventionspolitik dieser Bundesregierung, die Großunternehmen wie VEAG begünstigt und eine Rückversicherungsmentalität erzeugt, wie ich sie nur aus DDR-Zeiten von DDR-Kombinaten kenne. Diese waren immer abgesichert, während der kleine Betrieb im Grunde genommen umsonst auf Knien rutscht, wenn er in Schwierigkeiten kommt. Die Großunternehmen werden, weil sie natürlich sehr viele Arbeitsplätze zu bieten haben, in diesem Falle immer wieder auf Unterstützung rechnen können.
Es gibt fünftens kein Konzept zur Senkung der Lohnnebenkosten. Seit der deutschen Einheit erleben wir diesen Verschiebebahnhof der versicherungsfremden Leistung.
Sechstens. Auch die wachsenden Bürokratiekosten hat diese Bundesregierung nicht im Griff. Hier werden Finanzamtsvollstreckungen durchgezogen, die sich fast in die Gesamtvollstreckung mit einreihen, anstatt an dieser Stelle etwas flexibler zu sein und mit Stundungen, mit Aufschub usw. zu arbeiten. Auch das gehört mit dazu. Das sollte gesagt werden.
Es fehlt siebtens eine Vision für die kooperative Unternehmenskultur der Zukunft. Ich nenne hier nur Mitarbeiterkapitalbeteiligung als Stichwort.
Zu Punkt 8: Die Schwachstellen dieser strukturkonservativen Mittelstandspolitik machen sich vor allen Dingen in der ostdeutschen Wirtschaft bemerkbar.
Ich will zum Abschluß nur noch soviel sagen, daß es natürlich notwendig ist, daß wir hier eine gemeinsame Politik hinbekommen, um diese Insolvenzen zu vermeiden, um die politischen Ursachen hierfür zu beseitigen. Aber noch wichtiger scheint mir, daß wir endlich wettbewerbsfähige, zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Ich glaube, davor müssen wir erst diese insolvente Regierung in die Wüste schicken.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe dem Abgeordneten Paul Friedhoff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sozialdemokraten fordern in ihrem Entschließungsantrag zu der heutigen Debatte die Einrichtung eines Konkursvermeidungsfonds und die Förderung einer Wachstumsfinanzierung. Einen grauen Kapitalmarkt gibt es schon. Nun wollen offensichtlich Sozialdemokraten allen Ernstes dem noch so etwas wie einen roten Kapitalmarkt hinzufügen.
Wir brauchen keine staatlichen Programme, sondern verbesserte Ertragserwartung für Investoren am Standort Deutschland. Das ist der entscheidende Punkt.
Worauf laufen denn diese Vorschläge hinaus? Sie wollen den Einfluß staatlicher oder halböffentlicher Kreditvergabe durch Zinsverbilligung weiter ausdehnen. Wir leiden bereits heute unter der Unübersichtlichkeit, die die Vielfalt von existierenden Förderprogrammen hervorruft. Da wollen Sie nachlegen. Ich wäre sehr gespannt, wie die von Ihnen schlankweg formulierte Mißbrauchsaufsicht über die Programme und ihre Nutzung in der Praxis funktionieren sollte, ohne daß ein neuer Behördensumpf erzeugt würde und es wieder zu Manipulationen käme, wie das in all diesen Fällen ist.
Das Thema Insolvenzen in Deutschland führt direkt in die große Reformdebatte, die wir Freien Demokraten seit Jahren anmahnen. Die Mehrheit der Bürger in diesem Land ist inzwischen von der Notwendigkeit tiefgreifender Reformen überzeugt. Regelmäßig zeigen dies alle Umfragen. Diese Überzeugung ist richtig. Mit kosmetischen Korrekturen ist es nicht mehr getan, vor allen Dingen nicht mit einfacher Umfinanzierung, wie das immer wieder hier erzählt wird.
Wir haben zu viele Insolvenzen. Ohne eine konsequente liberale Reformpolitik werden wir dies nicht ändern und den Weg zu mehr Beschäftigung nicht gehen; denn das muß das Ziel der Politik in unserem Land sein: Wir brauchen mehr Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal. In anderen westlichen Industrieländern, die vor den notwendigen Reformen nicht zurückgeschreckt sind, sind in den letzten Jahren Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden. Hier sind viele Länder genannt worden. Ich möchte Großbritannien hinzufügen, wo die Arbeitslosenquote in der Zwischenzeit auf knapp
Paul K. Friedhoff
über 6 Prozent gesunken ist. In den USA nähert sie sich der 5-Prozent-Marke.
Die Erfolgsstrategie dieser Länder liegt offen zutage: Steuersenkungen, Subventionsabbau, Deregulierung des Arbeitsmarktes, drastische Senkung der Lohnnebenkosten.
Würde Arbeit in Deutschland wieder bezahlbar werden, könnte auch bei uns in Deutschland schnell und spürbar die Arbeitslosigkeit gesenkt werden. Manches Unternehmen würde dann nicht in die Insolvenz getrieben. Es könnte die Pleite vermieden werden.
Die Opposition gefällt sich immer noch darin, in abfälliger Weise über die 610-DM-Arbeitsverhältnisse herzuziehen. Ich sage Ihnen: Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sind eines der wenigen beweglichen Instrumente, die der deutsche Arbeitsmarkt aufweist. Würde diese Möglichkeit eingeschränkt, so fielen noch mehr Arbeitsplätze weg. Deswegen hat die F.D.P. die immer neuen Anläufe der letzten Monate auch erfolgreich abgewehrt.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat mit ihrem Programm für Wachstum und Beschäftigung und mit ihren Vorschlägen für eine umfassende Steuerreform bereits wesentliche Reformanstrengungen unternommen. Die SPD aber behindert und blockiert den Bundesrat, wo sie nur kann. Dabei wäre ein rascher Abschluß der parteiübergreifenden Gespräche zur Steuerreform ein bedeutendes Signal an die Unternehmen und an die Investoren, daß Deutschland in der Lage ist, seine Standortprobleme „inside" zu lösen.
Die Kapitalrenditen unserer deutschen Betriebe liegen im Durchschnitt erheblich unter den Werten in anderen Industrieländern. Deshalb wird dort investiert und bei uns nicht. Warum verstehen Sie nicht, daß Unternehmen nur an den Standorten bleiben können, an denen die Steuer- und Abgabenlast nicht ins Uferlose steigt? Denn wenn Produkte zu teuer werden, dann werden diese Produkte nicht mehr gekauft.
Die Insolvenzen werden zu einem erheblichen Teil durch schlechtere Wettbewerbsbedingungen als in den Konkurrenzländern verursacht. Da müssen wir ansetzen. Das Problem kleiner und mittlerer Unternehmen bei der Aufnahme von Risikokapital ist ja nicht, daß zuwenig Kapital am Markt vorhanden wäre. In Deutschland besteht das Problem des Ausgangs, des Exit, im Klartext: Wie kann ein Unternehmen in einer überschaubaren Zeit das Kapital, das es zur Wachstumsfinanzierung aufgenommen hat, wieder ablösen? Bislang nehmen wir in diesem Land den Unternehmen noch zuviel von ihren Gewinnen ab, so daß zuwenig übrigbleibt, um die Ablösung des Risikokapitals zu gewährleisten. Diese Unternehmensbesteuerung ist im internationalen Vergleich einmalig. Auch der Risikokapitalmarkt, der nicht in Gang kommt, ist von dieser Tatsache beschwert.
Stimmen Sie deshalb den Petersberger Beschlüssen zu, machen Sie den Weg frei für eine Steuerreform, für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung.
Dann kommen wir auf einem geraden Weg zum Erfolg und müssen keine Bypässe in Form von Konkursvermeidungsfonds oder anderen staatlichen Einrichtungen legen, die stets weniger Probleme lösen, als sie uns neue aufbürden. Dann schaffen wir durch ertragsstärkere Unternehmen ein geeignetes Gegengewicht auch zur Kreditvergabemacht der Banken und anderer Kapitalgeber.
Nun fordert die IG Metall zu allem Überfluß auch noch die 32-Stunden-Woche. Diese Diskussion löst außerhalb unserer Landesgrenzen nur Kopfschütteln aus. Schon die 35-Stunden-Woche war ein Irrweg. Ihr verdanken wir die niedrigsten Arbeitszeiten der westlichen Welt und die höchsten Arbeitskosten.
Die 32-Stunden-Woche würde eine neue Kostenlawine lostreten. Sie würde unseren Betrieben die Luft zum Atmen nehmen. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, auf die wir angewiesen sind, wenn wir mehr Beschäftigung wollen, würden darunter am meisten leiden. Der Kurs, den Herr Zwickel hier einschlagen will, ist zerstörerisch. Und die Sozialdemokraten klatschen begeistert Beifall.
Wir Freien Demokraten wissen, daß ökonomische Wahrheiten nicht bequem sind. Wir wissen, daß diejenigen, die den Mut haben, den Bürgern zu sagen, was alles getan werden muß, auch weiterhin von rückwärtsgewandten Populisten verhöhnt werden. Aber wir müssen die Herausforderung der globalisierten Märkte annehmen. Im Standortwettbewerb wird jeder Versuch, sich den Kräften des Marktes zu entziehen, Arbeitsplätze vernichten. Nur wenn wir den Wandel annehmen, werden wir ihn gestalten und unseren Wohlstand bewahren können. Nur dann werden wir auch in Zukunft die Mittel haben, um denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können. Ohne produktive Arbeitsplätze in Deutschland können wir unser soziales Netz nicht bewahren.
Unsere Botschaft lautet: Wir können den Standortwettbewerb um mehr Arbeitsplätze gewinnen. Wir haben nach wie vor die besten Trümpfe in der Hand: exzellent ausgebildete Menschen und auch innovationsfreudige Unternehmer. In dieser Hinsicht haben wir gute Standortbedingungen.
Paul K. Friedhoff
Wir müssen nur endlich die Rahmenbedingungen so gestalten, daß wieder mehr Arbeitsplätze entstehen können. Dafür tragen wir im Bundestag, aber auch im Bundesrat gemeinsam die Verantwortung. Dieser Tatsache verschließen Sie sich. Man kann aber die Realität nicht dadurch verändern, daß man den Kopf in den Sand steckt. Die kommenden Jahre werden diese Position bestätigen. Sie werden es sehen.
Manch ein Sozialdemokrat hat dies heute schon erkannt. Während einer Rede anläßlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises am vergangenen Sonntag in Stuttgart hat Klaus von Dohnanyi in einer Laudatio darauf hingewiesen. Ich darf zitieren:
Allerdings könnte dies - diese Reform -
nur sein, wenn wir die institutionellen Reformen zu mehr Eigenverantwortung akzeptieren und durchsetzen. Diesen Gedanken tragen heute, jedenfalls in Deutschland, in erster Linie die Liberalen voran. Vielleicht sind es wieder die Liberalen, die so den Weg zur Erneuerung bahnen. „Liberale waren die ersten Sozialreformer unter den demokratischen Parteien." schreiben Sie über das 19. Jahrhundert wohl zu Recht in Ihrer Portraitskizze von Theodor Heuss.
Er fügt hinzu:
Die Geschichte könnte sich ja wiederholen.
Ich möchte diesem Satz eines Sozialdemokraten nichts hinzufügen.
Ich bedanke mich.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Dr. Christa Luft.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich komme am Anfang nicht um die Feststellung herum: Jawohl, diese Bundesregierung wird nach ihrer Amtszeit eine Fülle von Rekorden hinterlassen. Das Thema, das wir heute debattieren, die ausufernde Zahl von Unternehmensinsolvenzen, gehört dazu. Ein Gütesiegel für die Politik dieser Bundesregierung ist das freilich nicht.
Es wird auch überhaupt nicht dadurch besser, daß Sie in Ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD feststellen, das Risiko des Scheiterns sei nun einmal der marktwirtschaftlichen Ordnung immanent, und aus Gescheitertem würde immer Neues entstehen. Ich muß Ihnen, meine Damen und Herren, aus meinem Wahlbezirk berichten: Was dort an Neuem aus Gescheitertem entsteht, das ist in bezug auf die Beschäftigungswirksamkeit immer viele Nummern kleiner. Wir sehen an den Arbeitsmarktstatistiken, daß dort kaum Menschen von den Neugründungen absorbiert werden.
Zum zweiten werden die Innenstädte immer mehr von Monokulturen geprägt. Dort, wo früher noch Handwerker ihre Geschäfte betrieben haben, wo es Dienstleistungsunternehmen gegeben hat, wo es Einzelhändler gegeben hat, siedeln sich heute Apotheken und Optikerläden an.
Nichts gegen diese Berufsgruppen, überhaupt nichts! Aber ich sage Ihnen: Die werden, wenn Ihre neuen Beschlüsse zur Gesundheitsstrukturreform erst einmal anfangen zu greifen, die nächsten Pleitiers sein. Darauf können Sie sich verlassen.
Zu dem Argument, man müsse bei dem Insolvenzgeschehen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern Europas berücksichtigen, daß es sehr viel marktwirtschaftliche Unerfahrenheit in den neuen Bundesländern gegeben habe; das wirke sich nun in den Statistiken aus. Das kann man freilich nicht von der Hand weisen. Es gab solche marktwirtschaftliche Unerfahrenheit. Aber lassen Sie mich an dieser Stelle doch zwei Dinge sagen.
Erstens. Mir scheint es dem Hohen Hause angemessen, in der Debatte zu diesem Thema heute den vielen Hunderttausenden Ostdeutschen, die in den letzten sieben Jahren eine neue Existenz gegründet haben, einen ganz großen Respekt zu zollen.
Sie haben dies häufig und in aller Regel nicht getan, weil sie eine große familiäre unternehmerische Tradition hinter sich hatten, auch nicht aus lauter unternehmerischer Lust und Tollerei. Vielmehr haben sie es als oft einzigen Ausweg aus sonst drohender Arbeitslosigkeit nach der rigiden Treuhandprivatisierungspraxis und nach sehr vielen anderen Abwicklungspraktiken in anderen Bereichen getan.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?
Ja.
Frau Kollegin Luft, Sie haben gesagt: Es gab keine unternehmerische Tradition. Würden Sie mir zustimmen, daß es durchaus auch Wiedereinrichter gab, die ihren alten Betrieb übernommen haben, die an unternehmerische Tradition anknüpfen konnten, die leider durch falsche Politik unterbrochen worden ist?
Ja, Herr Kollege, da stimme ich Ihnen absolut zu. Ich will Ihnen noch eine Erfahrung mitteilen, auf die ich sehr häufig stoße. Mir sagen alteingesessene Handwerkerinnen und Handwerker, Einzelhändlerinnen und Einzelhändler aus der früheren DDR, die jetzt nach der Wende ihre Unternehmen weitergeführt haben: Den Sozialismus ha-
Dr. Christa Luft
ben wir überstanden; dort haben wir sehr viele Querelen gehabt, aber wir haben ihn überstanden. Jetzt steht uns die Pleite bevor, weil wir die Gewerberaummieten nicht mehr bezahlen können, weil viele andere Dinge uns einen Strich durch unsere unternehmerische Rechnung machen. - Ich stimme Ihnen also völlig zu.
- Die Gewerbekapitalsteuer wird von der Masse der Neugründungen doch überhaupt noch nicht bezahlt. Das müßten Sie doch wissen, Herr Weng.
Zweitens kann man mit den ostdeutschen Gegebenheiten die gesamtdeutsche Insolvenzentwicklung überhaupt nicht erklären; denn auch von 1995 zu 1996 hat es beispielsweise in den alten Ländern eine Insolvenzenexplosion gegeben, die für die anderen westeuropäischen Länder in der Form nicht typisch war. Also muß es doch andere als die rein marktwirtschaftlichen Risiken geben, die hier in der Bundesrepublik Deutschland wirken.
Ich möchte hier nur zwei Dinge nennen: Zum einen ist es dieses Übermaß an Bürokratie, Herr Kollege Schulz hat schon darauf hingewiesen. Mir sagen Inhaber von Firmen mit acht bis zehn Beschäftigten, sie müßten einen Beschäftigten das ganze Jahr über unterhalten, der sich im Irrgarten der Förderprogramme auskennt, mit Behördengängen befaßt und mit dem Formularunwesen zurechtfindet. Dort sollte die Bundesregierung ansetzen. Das ist doch ihr ureigenes Gebiet.
Auch die mangelnde Risikobereitschaft der deutschen Banken hat mit marktwirtschaftlichen Gepflogenheiten überhaupt nichts gemein. Auch das wäre ein Gebiet, um das sich die Bundesregierung kümmern sollte. Das tut sie aber nicht. Statt dessen unternimmt sie solche Dinge wie Lockerung des Kündigungsschutzes und Aufhebung des Ladenschlußgesetzes. Sie, meine Damen und Herren, müßten es ja inzwischen selbst gemerkt haben: Solche Deregulierungsmaßnahmen haben nicht nur keine neue Beschäftigung geschaffen, sie haben nicht einmal getaugt, das Firmensterben aufzuhalten. Es waren beschäftigungspolitische Flops und in bezug auf neue Existenzgründungen ebenfalls Flops.
Die Regierung aber wiegelt ab und meint, die volkswirtschaftlichen Schäden seien doch viel niedriger als in rein betriebswirtschaftlicher Hinsicht. Ich halte das für eine fast zynische Bemerkung. Wer so etwas sagt, sucht doch nichts anderes als ein Motiv für eigene Tatenlosigkeit. Es werden in diesem Lande Bienenstöcke und Kirschbäume gezählt; wir haben aber keine Daten und keine Übersicht darüber, wieviele Entlassungen auf Firmenzusammenbrüche zurückgehen. Wie wollen Sie so überhaupt zu einer volkswirtschaftlichen Rechnung kommen, ab wann es denn nun wirklich günstiger ist, neue
Beschäftigung, statt ständig die Arbeitslosigkeit zu finanzieren?
Wieso sollen durch Firmenzusammenbrüche verlorengegangene oder nicht geschaffene Ausbildungsplätze keinen gravierenden volkswirtschaftlichen Schaden darstellen? Das erschließt sich mir überhaupt nicht. Warum wird denn nicht der Versuch einer Quantifizierung des durch Insolvenzen entstandenen Steuerausfalls gemacht. Das gibt es überhaupt nicht. Warum läßt Sie das Schicksal der vielen Frauen kalt, deren Anteil an den Existenzgründern im Osten und auch im Westen im Handel und im Dienstleistungssektor ganz besonders hoch ist und die nach einer oft unverschuldeten Pleite noch weniger Chancen auf einen Neuanfang haben als Männer?
In Ostdeutschland werden im laufenden Jahr die Insolvenzen einen neuen Höchststand erreichen. Jeder zweite nach 1990 geschaffene Arbeitsplatz ist bereits wieder in Gefahr. Infolge eines absoluten Defizits an Großunternehmen, selbst an Unternehmen mit 200 bis 500 Beschäftigten, wird jeder Zusammenbruch eines kleinen Unternehmens regional schon zu einer Katastrophe. Die damit verbundenen Probleme und Gefahren vermindern Sie langfristig auch nicht dadurch, daß Sie sich neue Finanzspritzen ausdenken. Ich bin mit dem Inhalt des Entschließungsantrages der Sozialdemokraten einverstanden. Herr Kollege Schwanhold hat ja selbst eine Fülle von neuen Vorschlägen dazu gemacht, was man außer solchen Geldspritzen und finanziellen Feuerwehren noch unternehmen müßte. Im Osten brauchen wir aber ganz besonders den Erhalt und den Ausbau neuer industrieller Kerne und Dienstleistungskerne.
Wir brauchen finanzkräftige Kommunen; die aber nach Ihren Gewerbesteuerplänen überhaupt keine Aussicht haben, eine solide Finanzierungsgrundlage zu erreichen. Finanzkräftige Kommunen sind aber gerade für kleine und mittlere Unternehmen ein ganz wichtiger Hintergrund. Wir brauchen eine Regionalisierung wirtschaftlicher Kreisläufe, anstatt pausenlos diesem Globalisierungsmythos zu folgen.
Wir brauchen eine Kräftigung der Forschungs-, Entwicklungs- und wissenschaftlichen Basis.
Ich will Ihnen noch ein Problem nennen und damit auch abschließen: Häufig heißt es, die Personalkosten seien im Osten zu hoch; von daher müsse man sich nicht wundern, daß die Zahl der Insolvenzen zunimmt. Die Personalkosten haben in den neuen Bundesländern - dies habe ich mir ja nicht ausgedacht, das können Sie in der Statistik nachprüfen - einen geringeren Anteil am Bruttoproduktionswert, jedenfalls im verarbeitenden Gewerbe, als in den alten Bundesländern.
Dennoch kommt es dort weiter zu Insolvenzen. Um das Doppelte höher als in den alten Ländern sind anteilig die Kosten für den Energieverbrauch, für Ab-
Dr. Christa Luft
Schreibungen und Fremdkapitalzinsen. Dort sollten Sie politischen Handlungsbedarf sehen.
Auch was die Gewerberaummieten angeht, kann ich nur noch einmal daran erinnern: Vor vier Wochen hat die rechte Seite dieses Hauses eine Bundesratsinitiative von Berlin und Brandenburg abgelehnt, mit der die Gewerberaummieten in den neuen Bundesländern noch für eine Zeit ein wenig stabil gehalten werden sollten. Sie haben das abgelehnt.
Frau Abgeordnete, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich bin sofort am Schluß. Ich will sagen: Mit Ihrer Losung, Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt, werden Sie auch diesem Thema nicht gerecht werden. Sie brauchen außer monetären Instrumenten in der Tat wirtschaftspolitische Weichenstellungen.
Danke schön.
Ich gebe dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zunahme der Insolvenzen im vorigen und auch im vorvergangenen Jahr hat vielfältige Ursachen. Der harte Wettbewerb bei offenen Märkten - so offen, wie sie nie vorher waren - und die verschärfte internationale Konkurrenz erstrecken sich nicht mehr nur auf Produkte, sondern verstärkt auch auf den Bau und auf Dienstleistungen mit der Folge, daß Unternehmen in diesem Bereich gefährdet sind. Wir haben vor allem im Handel und neuerdings auch im Handwerk einen beschleunigten Strukturwandel mit einem rapiden Ausleseprozeß.
Wir haben eine besondere Situation in den neuen Ländern, wo viele Menschen - Frau Luft, wo Sie recht haben, haben Sie recht - selbständig geworden sind, weil sie darin die einzige Chance für ihre Existenz gesehen haben. Sie waren von den unternehmerischen Fähigkeiten, vom Management und vom Wissen, her nicht richtig vorbereitet. Sie hatten unter anderem zu wenig Kapital, um die Durststrecke durchzuhalten. Es ist richtig, daß die Menschen in den neuen Ländern, die sich selbständig gemacht haben - die meisten davon sind erfolgreich -, unseren Respekt verdienen.
Bei all dem hatten wir in den Jahren 1995 und 1996 ein nur schleppendes Wirtschaftswachstum. Jeder weiß: Wenn man sich selbständig macht, dann trägt man auch ein Risiko. Gerade da, wo neue Ideen ausprobiert werden, steigt auch das Risiko, daß sie fehlschlagen. Dies ist in einer Phase nur schleppenden Wachstums besonders groß. Hier schlägt der Ausleseprozeß - so muß man es nennen - in besonderer Weise zu.
Die Gründe dafür sind in der Beantwortung der Großen Anfrage sehr dezidiert niedergelegt. Im vorigen Jahr, also 1996 - ich gehe damit über den die Anfrage betreffenden Zeitraum hinaus -, gab es in Deutschland mehr als 25 000 Insolvenzen, das heißt, Konkurse, Vergleiche und Gesamtvollstreckungsverfahren. Das ist eine besorgniserregend hohe Zahl.
Man muß aber auch sagen, daß dies eben nur ein Teil der Wahrheit ist. Erfreulich ist, daß es 1996 bei insgesamt 430 000 Unternehmensstillegungen mehr als 500 000 Neugründungen gab. Der Saldo ist also positiv. Nun schwankt dieser Saldo. Ich muß zugeben, daß der Positivsaldo in den letzten Jahren kleiner geworden ist. Er schwankt aber immer im konjunkturellen Ablauf und geht in besonderer Weise zurück, wenn wir, wie in den letzten Jahren, einen Strukturwandel haben. Noch immer hat Selbständigkeit in dieser Gesellschaft Konjunktur. Das gilt auch und gerade für die neuen Bundesländer.
Mir ist sehr wohl bewußt, daß hinter jeder Insolvenz und häufig auch hinter den stillen Liquidationen - das ist die ganz überwiegende Mehrheit - harte Schicksale stehen. Für Tausende von wirtschaftlich aktiven Menschen haben sich die Hoffnungen auf eine tragfähige selbständige Existenz nicht erfüllt. Ich würde mir wünschen, daß diese Menschen in Deutschland nicht mit einem Makel versehen werden, sondern - in den USA ist dies gang und gäbe - aus ihren Erfahrungen lernen können und eine neue Chance haben. Das ist in Deutschland bisher nicht üblich.
Insolvenzen und Beschäftigungsverlust dürfen keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden, im Gegenteil. Nur da kann die Politik ansetzen. Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür verbessern, daß nicht so viele in Konkurs gehen. Hier sind wir wieder bei der Wirtschaftspolitik, der Mittelstandspolitik und der Existenzgründungspolitik. Wenn wir über Rahmenbedingungen sprechen, sind wir aber auch wieder bei der Blockadepolitik, wie wir sie von Ihnen im Bundesrat jeden Tag neu erfahren.
Eine besondere Verantwortung haben auch die Tarifparteien, gerade wenn es darum geht, die Rahmenbedingungen für junge Unternehmen, für Existenzgründer zu verbessern. Wir brauchen endlich eine größere Flexibilität des Arbeitsmarktes, und wir brauchen mehr Lohndifferenzierung. Arbeitgeber, Verbände und Gewerkschaften sind gefordert. Es muß mehr Kooperationsbereitschaft geben.
Die jüngsten Äußerungen einiger führender Gewerkschaftsfunktionäre, beispielsweise zum Flächentarif, weisen in die richtige Richtung; sie machen mich hoffen. Sie gehen aber noch lange nicht weit genug. Wir brauchen tarifvertragliche Vereinbarungen, die die Türen weit aufmachen für Bedingungen,
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
die auch der Besonderheit in der Phase der Existenzgründung und des ersten Wachstums eines Unternehmens Rechnung tragen.
Das wäre der beste Beitrag zur Vermeidung von Insolvenzen.
Für die Arbeitszeit und die Löhne gilt gleichermaßen: Flexibilität erhöht die Erfolgs- und Überlebenschancen der Unternehmen. Der Vorschlag von Herrn Zwickel geht an den Realitäten vorbei. Das ist kein Beitrag zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme, auch kein Beitrag zur Stabilisierung von Existenzgründern oder zur Vermeidung von Insolvenzen. Dieser Vorschlag kommt aus der Mottenkiste, und er geht von dem Schema aus, daß wir in Deutschland eine bestimmte Menge Arbeit haben und daß wir die Probleme am Arbeitsmarkt lösen könnten, wenn wir die Arbeit nur neu verteilten. Wir haben in Deutschland keinen Mangel an Arbeit, sondern wir haben einen Mangel an bezahlbarer Arbeit.
Wir müssen die Arbeit neu organisieren.
Herzugehen und bei differenziertem Lohnausgleich - in Klammern: Kostenbelastung für die Unternehmen - den Unternehmen von oben ein neues starres Arbeitszeitschema überstülpen zu wollen, entspricht einer Ideologie, von der ich glaubte, daß auch die IG Metall sie überwunden hat. Gott sei Dank
gibt es in der DGB-Spitze Leute, die das genauso sehen und auch so formulieren.
Deutschland ist in vielem ein guter Standort. Die Qualität des Standorts zu verteidigen und zu verbessern erfordert, daß wir die vorhandenen Defizite - es gibt sie - abbauen. Ich habe hier schon oft gesagt, daß es bei uns zuviel Staat und zu wenig Markt, zu hohe Kosten, zu viele Regulierungen und zuviel Bürokratie gibt. Es kommt jetzt um so mehr darauf an, daß wir die Steuerreform, die Reform der Altersvorsorge und die Reform des Gesundheitswesens schnellstmöglich umsetzen.
Insolvenzen haben ihre Ursache oft - das ist hier heute auch von den Rednern der Opposition angesprochen worden - auch im Mangel an Eigenkapital.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwanhold?
Ja, gern.
Herr Minister, ich hatte leider nur den Knopf gedrückt und mich nicht früh genug hingestellt, so daß sich meine Frage auf eine Passage bezieht, die schon etwas zurückliegt.
Bitte schön.
Würden Sie mir, wenn man den Zwickel-Vorschlag differenziert betrachtet, darin zustimmen, daß die Möglichkeiten zum Übergang in Altersteilzeit, Teilzeitarbeitsmöglichkeiten - insbesondere der Hinweis, daß es keinen vollen Lohnausgleich geben soll, deutet darauf hin, daß es um ein Ringen geht, Teilzeitarbeit so zu organisieren, daß am Ende mehr Menschen in Beschäftigung sind - und auch die Möglichkeit, daß Ausdifferenzierungen zwischen den Tarifvertragsparteien, aber auch vom Gesetzgeber vorgenommen werden, der die Vorbedingungen dafür schafft, daß man frühzeitig in Altersteilzeit gehen kann, ohne daß man über allzu große Rentenausfälle diskutieren muß, solche Möglichkeiten sind, die man aufnehmen muß?
Es wäre zu erwarten gewesen, daß es eine Antwort auf eine solche Differenzierung gibt und keine platte Ablehnung erfolgt.
Herr Schwanhold, ich habe immer und nicht nur eben gesagt, daß ich sehr für die Flexibilisierung der Arbeitswelt bin. Das schließt neue Modelle, was den Übergang in den Ruhestand angeht, durchaus ein. Ich gehe sogar so weit: Es kann auch dazu kommen, daß sich Betriebe und Gewerkschaften oder Gewerkschaftsvertreter und die Vertretungen der Belegschaften dahin gehend einigen, daß man nur 32 Stunden arbeitet; dagegen ist gar nichts zu sagen.
Aber das ist eine individuelle Vereinbarung, die bei Verhandlungen herauskommen und eine bestimmte Zeit lang für einen Betrieb gelten muß. Aber Herr Zwickel will eine 32-Stunden-Woche bei - wie er es ausdrückt - differenziertem Lohnausgleich. Er will ein flächendeckendes Modell.
- So hat er es doch ausgedrückt. Lesen Sie es nach, Herr Schwanhold! Alles andere ist falsch. Dies ist aber das verkehrteste Rezept, das wir befolgen können.
Ich möchte, wenn Sie gestatten, zum Eigenkapital zurückkommen, das hier zu Recht angesprochen worden ist. Gerade jungen Unternehmen mangelt es an Eigenkapital, an Risikokapital. Wir können als Bundesregierung hier nur die Rahmenbedingungen verbessern; das weiß jeder.
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Wir sind dabei. Das Dritte Finanzmarktförderungsgesetz wird in wenigen Wochen durchs Kabinett gehen und wird noch vor der Sommerpause in den Bundestag eingebracht sein. Wir werden dann eine leichtere Umwandlung von Kapitalbeteiligungsgesellschaften unter anderem in Unternehmensbeteiligungsgesellschaften vorsehen; wir werden einen attraktiveren Emissionsmarkt für Nebenwerte haben; wir werden die institutionellen Anleger in dem Sinne begünstigen, daß auch kleine Unternehmen an der Börse oder über einen besonderen Markt eine Chance haben.
Wir machen dieses Gesetz in Kürze.
Wir werden ein neues Insolvenzrecht haben. Dieses wird das Konkursrecht grundsätzlich umgestalten. Es wird dazu beitragen, die Überlebenschancen der Unternehmen zu verbessern. Wir werden unter anderem den Schuldenerlaß neu regeln und eine Reihe anderer Maßnahmen im Zusammenhang mit der Sanierung vorsehen.
- Herr Schwanhold, wir wollen ja, daß dieses Gesetz in Kürze in Kraft tritt. Aber die Forderung der Länder lautet, daß dieses neue Insolvenzrecht erst 1999 in Kraft tritt. Wir wollen, daß es in diesem Jahr oder 1998 in Kraft tritt. Sprechen Sie mit Ihren Leuten -dann können wir das auch beschleunigen -, und stellen Sie sich nicht hierhin, weinen Krokodilstränen und tun nichts, um zu verhindern, daß Unternehmen in den Konkurs, in die Insolvenz, gehen müssen.
Meine Damen und Herren, ich will in den zehn Minuten Redezeit, die ich habe, hier nicht auf unsere bewährten Formen der Existenzgründungsförderung und der Existenzsicherung, auf das Meister-BAföG und anderes mehr eingehen. All diese Programme leiden nicht darunter, daß sie finanziell schlecht ausgestattet werden; hierfür wird genügend Geld zur Verfügung gestellt. Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Länder, die Kommunen, die Wirtschaftsförderungsgesellschaften und die Banken müssen daran arbeiten, daß die Bürokratie, die mit der Gewährung von Fördergeldern verbunden ist, abgebaut wird. Das hat nichts mit dem Universalbankensystem oder der gesetzlichen Beschränkung von Beteiligungen und anderem mehr zu tun;
das hat etwas damit zu tun, daß auch bei den Menschen in den Banken, in den Kommunen, in den Ländern und anderswo eine Kultur entsteht, die darauf orientiert ist, Risiko zu übernehmen, auch in persönlicher Verantwortung. Wir können darauf drängen und drücken - das können wir gemeinsam tun -; das kann man aber nicht durch das Umlegen eines Schalters bewirken, sondern hier geht es weitgehend auch um ein menschliches Problem. Wer das in Abrede stellt, der versteht einfach nichts davon, wie es vor Ort zugeht, wenn sich Menschen und Unternehmen um eine Förderung bemühen.
Meine Damen und Herren, ich kann hier nur sagen: Wir können und werden an der Verbesserung der Rahmenbedingungen arbeiten, um die Zahl von Insolvenzen, die es immer geben wird, so gering wie möglich zu halten. Wenn es um Rahmenbedingungen geht, dann geht es um unsere Wirtschaftspolitik und um unsere Mittelstandspolitik. Wir wollen in diesem Land eine Gründeroffensive, wir wollen mehr Selbständigkeit, und dazu brauchen wir Reformen, nicht zuletzt geringere Lohnzusatzkosten und weniger Steuern.
Es geht nicht an, daß die Opposition hier im Bundestag Krokodilstränen über die Insolvenzen weint
und auf der anderen Seite alles tut, um unsere Reformpolitik, die darauf abzielt, Insolvenzen zu vermeiden, jeden Tag aufs neue im Bundesrat zu blokkieren.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Kaspereit, SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung.
Die Menschen in unserem Land, die Unternehmer und die Arbeitnehmer, sind es eigentlich leid, ständig Zustandsbeschreibungen zu hören. Die Politik verliert sich zunehmend im Beklagen des IstZustandes.
Seit langer Zeit wird keine offensive Gestaltungsdebatte mehr geführt; statt dessen ist die Regierungspolitik einer Bewältigungsdebatte mit fiskalpolitischer Dominanz oder obligatorischen Blockadevorwürfen an die Opposition verfallen, die offensichtlich als Parole in jeder Rede mindestens dreimal erhoben werden müssen.
Was fehlt, sind eindeutige normative Vorgaben des Politischen, also die Frage nach der Wünschbarkeit; entschuldigen Sie diesen Ausdruck. Es ist eine derzeit charakteristische Absonderlichkeit, daß Fragen der Wünschbarkeit immer mehr tabu sind oder zumindest mit dem Totschlagargument von unausweichlichen Sachzwängen unterdrückt werden.
Die Aufgabe der Politik muß es aber doch sein, das Wünschbare als politisches Ziel zu formulieren
Sabine Kaspereit
und die Voraussetzungen zur Umsetzung des Wünschbaren zu schaffen, statt sich von Sachzwängen erschlagen zu lassen, wie Sie es tun, wenn Sie vom Machbaren reden.
Auch in diesem Zusammenhang muß das Primat der Politik über die Ökonomie wiederhergestellt werden; sonst werden wir immer nur reagieren und nicht agieren. Wir werden immer nur an Symptomen herumdoktern, statt Reformen anzugehen, die diesen Namen auch verdienen.
Bei der ganzen Diskussion über Globalisierung haben Sie von der Regierungskoalition den Blick für den Binnenmarkt verloren.
Mit der unsäglichen Standortdebatte haben Sie Schaden angerichtet und Gespenster gerufen, die gerade den Blick auf das Machbare verstellen.
Dabei ist die Globalisierung an sich nichts Neues, sondern die Fortsetzung einer Erscheinung, die schon lange besteht. Der Welthandel wächst - in nominalen Größen - kaum schneller als die Weltproduktion. Der Aufbau internationaler Produktionsnetze, die an nationalen Kostenunterschieden orientiert sind, kommt nicht so rasch voran wie vielfach erwartet. Diese Feststellung hat das Institut für Wirtschaftsforschung Hamburg getroffen.
Die Masse der deutschen Auslandsproduktionen und Direktinvestitionen ist nach wie vor größtenteils absatzgeleitet und weniger lohnkostenbedingt. Von einer besonders starken „Auswanderung" deutscher Unternehmen kann daher keine Rede sein. - Dies als Vorbemerkung; nun zu den Insolvenzen.
Natürlich gibt es branchenabhängige Insolvenzgründe, aber darüber hinaus kann man viele Erscheinungen verallgemeinern. Die große Zahl der Insolvenzen, die uns Anlaß zur Sorge gibt, hat nicht nur Gründe, die bei den Unternehmern zu suchen sind, wie zum Beispiel Managementfehler, sondern die Zunahme der Zahl von Insolvenzen hat ihre Gründe auch in der Vernachlässigung binnenwirtschaftlicher Zusammenhänge, wie der Schwächung der Kaufkraft,
und sie hat ihre Gründe im Versagen der Bundesregierung bei ihrer vielbeschworenen Mittelstandspolitik sowie in der Vernachlässigung einer gestaltenden Strukturpolitik, also einer Politik, die Sachzwänge und Klientelpolitik über das Wünschbare im Sinne des Gemeinwohls stellt.
Die neuesten Insolvenzzahlen und Prognosen belegen deutlich, daß staatliche Maßnahmen nicht - wie von Herrn Minister Rexrodt und den Neoliberalen immer behauptet - entbehrlich sind, sondern vielmehr, daß diese zwingend notwendig sind. Insolvenzen sind alles andere als eine natürliche Auslese, wie Herr Schauerte uns glauben machen will.
Ansatzpunkte staatlichen Handelns gibt es genug. Entscheidend ist der Wille zu handeln. Anhand von fünf Bereichen möchte ich das deutlich machen.
Erstens. Nach wie vor ist die Eigenkapitalbildung in der unternehmerischen Aufbauphase zu gering und das Kapital für das Umlaufvermögen zu knapp. Dieser strukturellen Schwäche gerade ostdeutscher Unternehmen muß mit konkreten Maßnahmen auf politischem Wege begegnet werden.
Nehmen Sie neben unserem Entschließungsantrag den Antrag „Stärkung des Kapitalmarktes Deutschland": Um dem Eigenkapitalmangel entgegenzutreten, schlugen wir Ihnen eine Mittelstandsbörse, die Förderung des Aktiensparens, die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und weitere konkrete Maßnahmen zur Mobilisierung von Risikokapital vor. Maßnahmen, die dem Mittelstand unter die Arme greifen und Insolvenzen vorbeugen sollen, lehnen Sie ab.
Zweitens. Die fehlerhafte Finanzierung insolventer Unternehmen kann nicht nur den Unternehmern angelastet werden. Mit in der Verantwortung sind die Banken und Kreditinstitute.
Die Insolvenzwelle hat bei den Banken inzwischen einen hohen Wertberichtigungsbedarf hervorgerufen. Kleine Banken nutzen das breite Repertoire der Kreditwürdigkeitsprüfung zu wenig; zu dieser Feststellung kommt eine Umfrage des Instituts für Betriebswirtschaftslehre.
In vielen Fällen wird der Prüfung des Status quo, also des Zustandes der wirtschaftlichen Verhältnisse, zu hohe Priorität eingeräumt. Die Analyse der Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage kommt bei 85 Prozent der Firmenkunden zum Einsatz. Die Prüfung externer Einflußgrößen wird dagegen nur in 35 Prozent der Fälle und die ganzheitliche Unternehmensdiagnose gar nur bei 25 Prozent der kleinen Institute vorgenommen.
Gerade die sogenannten „soft-facts" wie Innovationskraft, Kreativität, Humankapital und Managementqualitäten finden also in der Kreditwürdigkeitsprüfung der kleinen Banken zu wenig Beachtung. Fast die Hälfte aller Institute hat diese Informationsquellen noch nicht einmal ausreichend im Griff.
Auch ist es bemerkenswert, daß nur die Hälfte aller kleinen Institute gesamtwirtschaftliche Prognosedaten nutzt, obwohl sie von verschiedenen Stellen leicht zu beschaffen sind.
Den Kreditbearbeitern fehlt oft die methodische Grundlage für die Einbindung von qualitativen Analyseergebnissen in ihr Urteil über die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens. Insbesondere schnell wachsende Firmen sehen sich Banken gegenüber, die hier mangels Diagnosefähigkeit eine konserva-
Sabine Kaspereit
tive Kreditpolitik betreiben. Diese Schwäche ist insbesondere in den neuen Ländern sichtbar.
Kreditvergabekriterien, die im Westen durch langsam gewachsene Wirtschaftsstrukturen ihre Berechtigung haben mögen, sind im Osten oft existenzvernichtend.
Neue Gegebenheiten erfordern auch neue Gedanken, neue Wege, neue Regeln und Denkweisen. Hier sind ganz klar Defizite zu erkennen.
Es besteht, an die Adresse der Banken gerichtet, ein erheblicher Umsetzungsbedarf, um im Interesse unserer Volkswirtschaft drohenden Insolvenzen präventiv zu begegnen. Wenn das Kind erst in den Brunnen gefallen ist, ist es meist viel zu teuer und viel zu spät, um eine Konsolidierung zu erreichen. Dort, wo dieser Appell nicht fruchtet, ist die Regierung gefordert, mit den Banken in einen kritischen Dialog zu treten.
Drittens. Das Problem der Zahlungsmoral privater wie auch öffentlicher Auftraggeber rückt zusehends ins Zentrum. Mehr als die Hälfte aller offenen Rechnungen werden verspätet bezahlt.
Die öffentliche Hand nimmt beim Zahlungsverzug sogar Spitzenwerte ein. Zwei Drittel aller öffentlichen Auftraggeber bezahlen ihre Rechnungen weit nach Ablauf der üblichen Frist von 30 Tagen.
Unter dem Druck leerer Kassen gehen öffentliche Auftraggeber immer mehr dazu über, die Abnahme erbrachter Leistungen durch Nachbesserungsforderungen zu verzögern, um sich finanzielle Spielräume zu sichern.
Wer dann noch, wie es die Bundesregierung tut, den Kommunen finanzielle Lasten aufbürdet, fügt kleinen und mittleren Unternehmen und damit unserer Volkswirtschaft unmittelbaren Schaden zu.
Wer diesen strukturellen Zusammenhang nicht begreift, wer also, wie an diesem Beispiel aufgezeigt, binnenwirtschaftliche Auswirkungen seiner Politik vernachlässigt, gehört von der Regierungsverantwortung entbunden - um das einmal ganz deutlich zu sagen.
Um das Problem der Zahlungsmoral in den Griff zu bekommen, sind neue politische Ansätze nötig. Warum dürfen in Verträgen mit der öffentlichen Hand keine Forderungen abgetreten werden? Wie kommt der Bund überhaupt dazu, wie im Falle von SKET geschehen, als GmbH zu agieren und sich aus der Verantwortung zu stehlen, wenn es um die Begleichung der Rechnungen von Hunderten kleiner und mittlerer Zulieferbetriebe geht?
Welche Hemmnisse bestehen im Vergaberecht? Und welche volkswirtschaftlichen Unsinnigkeiten verbergen sich im Vergaberecht?
Beispiel: Angenommen, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung ist rechtlich aus Gründen der Vergabeordnung gezwungen, jedes Jahr die Herstellung eines Journals neu auszuschreiben, und angenommen, es hat sich bereits im Vorfeld dafür entschieden, am bisherigen Auftragnehmer festzuhalten. Dann kann es sein, daß beispielsweise 170 Agenturen ein Angebot abgeben, aber keine den Zuschlag erhält. Wenn die Angebotserstellung drei Stunden dauert und eine Agenturstunde 100 DM kostet, hat diese Aktion die Unternehmen 51000 DM gekostet. Wäre es in diesem Falle nicht angebracht, einmal über Unsinnigkeiten, Formalismus und Schlupflöcher im Vergaberecht nachzudenken?
Viertens. Die Insolvenzlage im Osten -viele meiner Kollegen werden das bestätigen - legt die Vermutung nahe, daß eine Zunahme sogenannter Scheinkonkurse zu verzeichnen ist und daß durch trickreiche Anwendung des GmbH-Gesetzes ein Besicherungsmißbrauch zumeist durch Generalunternehmer betrieben wird. In der Praxis sieht das dann meist so aus, daß die Gesellschafter an dem einen Ort Konkurs anmelden und Subunternehmer nicht mehr ausbezahlen und an einem anderen Ort eine neue GmbH gründen. Sie bringen ihr schwarzes Schäfchen ins trockene - zu Lasten anderer.
Fünftens. Die Zunahme der Insolvenzen läßt realistischerweise nicht auf eine Existenzgründerwelle hoffen. Denn zu den von mir erläuterten Problemen - Eigenkapitalmangel, Bankenverhalten und Zahlungsmoral - kommt noch etwas Entscheidendes hinzu, nämlich die Absatzerwartung, die den Unternehmer oder Gründer letztendlich dazu bewegt, den Schritt in Richtung Selbständigkeit zu wagen.
Weder bei der öffentlichen Hand noch bei den Privatleuten sitzt das Geld locker. Kein Unternehmen und kein Arbeitsplatz wird durch Steuergeschenke oder Investitonsförderung geschaffen. Allein der Markt rechtfertigt die Gründung eines Unternehmens oder eine Erweiterungsinvestition und die damit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen.
Damit bin ich schließlich wieder bei meinem Ausgangspunkt angekommen. Seit langer Zeit wird keine offensive Gestaltungsdebatte mehr geführt. Statt dessen ist die Politik in diesem Hause einer Bewältigungsdebatte mit fiskalpolitischer Dominanz verfallen. Was fehlt - ich sagte es bereits -, sind eindeutige normative Vorgaben des Politischen. Bisher wurde von der Regierung noch keine einzige wirksame Maßnahme vorgeschlagen, wie das Problem der Insolvenzen zu entschärfen ist, wie man dem Dominoeffekt der Folgeinsolvenzen begegnet, wie Risikokapital für junge Technologieunternehmen mobilisiert werden kann, wie nun die Mittelstandsförderhilfen endlich zu bündeln sind, wie eine breite industrielle Forschungspolitik aussehen soll, bei der
Sabine Kaspereit
nicht Milliarden bei Großprojekten verpulvert werden, sondern bei der mittelständische Unternehmen bei Zukunftstechnologien, neuen Produktionstechniken und neuen Produkten wirksame Unterstützung finden, und wie national und international ein bezahlbarer und zugleich wirksamer Patent- und Musterschutz hergestellt werden kann. Welcher unabhängige Erfinder kann heute 10 000 oder 20 000 DM für sein Patent aufbringen, das ihm international auch noch geraubt werden kann?
Sie sehen: Es gibt nicht nur den vielbeschworenen Handlungsbedarf, nicht nur die Forderung „weniger Staat, mehr Markt", sondern es gibt konkrete Handlungsfelder. Bearbeiten Sie diese Felder, dann werden sie auch Früchte tragen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss, CDU/CSU- Fraktion.
In dem Augenblick, in dem Sie damit aufhören, hochverehrte Frau Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen! Meine Herren! Die Rede von Frau Kaspereit war wohltuend. Sie hat eine ganze Reihe von bedenkenswerten Anregungen enthalten. Wir müssen uns bei dem, was wir tun müssen, um Konkurse zu vermeiden, auch über das Wesentliche unterhalten, und über dieses Wesentliche sind wir uns noch nicht einig.
Ich hoffe, daß diese Debatte dazu beiträgt, daß wir das Wesentliche besser und deutlicher erkennen. Insbesondere die beeindruckende Rede meines Freundes Hartmut Schauerte hat dazu beigetragen.
Das war eine gute Rede, es war eine differenzierende Rede, es war eine lebendige Rede, es war eine freie Rede. - Ich habe jetzt leider ein Konzept dabei. - Er ist eben ein guter Mann, von denen wir bei uns sehr viele haben. Das muß ich einmal sagen, damit niemand glaubt, das sei ein Geheimnis.
Herr Schwanhold, wenn ich Sie sehe, denke ich immer an jemanden, der in erster Linie dazwischenredet. Das schärft nicht Ihr Profil, sondern es macht nur einen unangenehmen Eindruck. Das ist zumindest mein subjektiver Eindruck. Frau Fuchs, wenn Sie auch noch dabei sind, ist das ein Duett, das den Redner eher belastet, als daß es zu einem Gedankenaustausch beiträgt. Das mußte ich Ihnen doch einmal sagen.
Zurück zu unserem Thema. Wir sind uns hier im Hause über eine ganze Reihe von Dingen einig. Konkurse bedeuten schmerzhafte Verluste. Das ist überhaupt keine Frage; das ist unstreitig. Es geht Wirtschaftskraft verloren, und es gehen Arbeitsplätze verloren. Jeder Unternehmer - auch daran sollte man denken -, insbesondere der mittelständische Unternehmer, der einen Konkurs erleidet, verliert dabei sehr oft auch seine persönliche Existenz. Er muß die Kinder von der Schule nehmen, sein Haus verkaufen. Er haftet mit allem für das, wofür er verantwortlich ist
- für den Betrieb, für die Arbeitsplätze usw.
Auf der anderen Seite ist auch in der, wie ich wiederholen will, differenzierenden Rede von Hartmut Schauerte deutlich geworden
- wie beim Thema Blockade: Immer dann, wenn es Ihnen weh tut, fangen Sie an zu schreien, wie die kleinen Kinder -, daß es Neugründungen von Betrieben gibt. Eine gewisse Fluktuation - das hat unser Wirtschaftsminister dargelegt - ist Teil einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Das ist einfach unvermeidbar.
Allerdings sind die Zahlen, die wir zur Zeit haben, nicht hinnehmbar. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD die Zahlen für das Jahr 1994 genannt: Es gab 493 000 Neugründungen und 372 000 Stillegungen, von denen 5 Prozent Insolvenzen waren. Der Gründungssaldo war nach wie vor positiv. Das festzustellen gehört zur Wahrheit.
- Es tröstet nicht. Wir müssen doch ein paar Fakten, die unbestreitbar sind, zur Kenntnis nehmen, selbst wenn sie Ihnen nicht passen.
Die Prognose der Vereine Creditreform sagt für 1997 einen neuen Rekord voraus - das heißt also, Handlungszwang ist gegeben nämlich 35 000 Insolvenzen, davon allein 29 000 Unternehmensinsolvenzen.
Ich meine, das hat doch Ursachen. Einige hat Frau Kaspereit genannt. Diejenigen, die sie genannt hat, sind wichtig, aber sie sind nicht die zentralen Themen. Die zentralen Themen sind: Steuern, kommunale Abgaben, Bürokratielasten, Lohnzusatzkosten, tarifliche und gesetzliche Sonderlasten und auch kurze Arbeitszeiten.
Arbeitszeiten sind Betriebskosten. Wer das nicht zur Kenntnis nimmt, der tut es entweder aus Unwissenheit oder aus Bösartigkeit nicht. Eine Untersuchung der Deutschen Ausgleichsbank aus dem Jahre 1995 nennt als Hauptgrund für die Insolvenzen Finanzierungsmängel. Das hat wiederum zwei Hauptgründe, nämlich Eigenkapitalmangel - das wurde bei 56,8 Prozent der Fälle angegeben - und zu hohe
Hansjürgen Doss
Lohnnebenkosten, die bei 48,5 Prozent der Fälle ausschlaggebend waren. Das haben die Vereine Creditreform in ihrem letzten Gutachten geschrieben. Das heißt: Die Finanzprobleme stehen ganz im Vordergrund.
Hohe Vorleistungen, schleppende Zahlungseingänge oder gar Forderungsausfälle - leider auch bei Forderungen gegen die öffentliche Hand; da haben Sie völlig recht - bringen mittelständische Unternehmen zusätzlich in große Liquiditätsprobleme, insbesondere in der Bauwirtschaft, die kostenintensiv ist. Wenn dort eine Zahlung ausbleibt, kann ein Betrieb, der eigentlich gesund ist, auf der Strecke bleiben, weil die Liquidität fehlt. Wir müssen also alles tun, um die augenblickliche Gewinnsituation zu verbessern.
Der mit der Bürokratie verbundene Aufwand ist unzumutbar. Ein Mittelständler muß im Jahr rund 7000 DM pro Arbeitsplatz an Kosten aufbringen, der Großunternehmer nur 300 Mark. Das heißt: Ein Viertel des jährlichen Investitionsvolumens im Mittelstand geht allein durch die Bürokratie verloren.
Die Arbeitszeit ist eher zu kurz als zu lang. Das Schädliche an jenem Vorschlag, von dem ich meinte, er würde in Deutschland ein homerisches Gelächter auslösen, ist, daß damit die notwendige Diskussion, die wir in Richtung der Verlängerung der Arbeitszeit zu führen haben, ein Stück weit blockiert wird.
Wenn Zwickels These zuträfe, daß kurze Arbeitszeiten Vollbeschäftigung bringen, müßten wir diese auch haben. Wir haben nämlich unter vergleichbaren Industrieländern die weltweit kürzeste Arbeitszeit. In Deutschland sind es pro Jahr 1602 Stunden, in Großbritannien 1762 Stunden und in Schweden 1800 Stunden. Wir haben also die kürzeste Arbeitszeit. Wir müßten Arbeitskräfte sogar zu uns holen, wenn seine These richtig wäre. Was er vorgeschlägt, ist absurd.
Die Lohnzusatzkosten müssen sinken; das wissen wir. Neben den tariflichen sind auch die politischen gefragt. Es bewegt sich hierbei kaum etwas. Ich wundere mich, daß dieser Reformprozeß, den wir als Bundesregierung, als Koalitionsfraktionen voranbringen, an den Tarifparteien völlig vorbeigeht. Ich meine, sie müßten sich endlich bewegen und Kosten einsparen.
Es sind nicht in erster Linie die versicherungsfremden Leistungen, die diese Kostendynamik auslösen, sondern die Kosten an sich. Das Umbetten von Kosten bedeutet keine Entlastung. Es ist nur das Rausnehmen aus der einen Tasche, um es in die andere Tasche reinzustecken. Das kann man am Beispiel eines Unternehmers verdeutlichen. Der bilanziert und stellt fest: Was hast du an Ausgaben? Was bleibt am Ende übrig? So banal ist das. Das ist im Prinzip einfaches Rechnen - noch nicht mal höhere Mathematik - mit Einnahmen und Ausgaben. In welcher Form ich das Geld ausgebe, ist am Ende egal: weg ist weg. Deswegen ist die Umfinanzierung, die Sie uns vorschlagen, der falsche Weg.
Als Beispiel möchte ich die Kostensteigerung der Krankenversicherung im Westen von 1995 auf 1996 nennen. Im ersten Halbjahr sind Massagen um 11 Prozent, Kuren um 5 Prozent, Zahnersatz um 10 Prozent und Arzneien um 11 Prozent gestiegen. 1991 hatte die GKV Ausgaben in Höhe von 173 Milliarden DM, 1995 in Höhe von 228 Milliarden DM. Das ist eine Ausgabensteigerung von 32 Prozent in vier Jahren. Diese Kostensteigerung bedeutet eine Erhöhung der Lohnzusatzkosten. Deswegen ist es richtig, was der Bundeswirtschaftsminister gesagt hat: Wir haben Arbeit genug - allerdings keine bezahlbare.
Die Steuerlast der Unternehmen muß sinken. Das gilt zum Beispiel für die Gewerbekapitalsteuer, über die der Bundesrat am 25. April verhandeln wird.
Nun bringe ich ein Zitat, Frau Präsidentin:
Das ist ja eine Substanzsteuer, die die ostdeutschen Unternehmen trifft. Und das in einer Situation permanenter Kapitalschwäche. Es werden Unternehmen steuerpflichtig werden, die zum Teil rote Zahlen schreiben. Eine absurde Situation.
Das sagte Rolf Schwanitz, Leiter der Querschnittsgruppe „Deutsche Einheit" der SPD-Bundestagsfraktion in der „Lausitzer Rundschau" vom 14. Dezember 1996.
Wenn Sie von der SPD mit uns gemeinsam die besonders hohe Insolvenzsteigerung in den neuen Bundesländern beklagen, dann schaffen Sie diese Steuer doch bitte auch mit uns gemeinsam ab.
Das wäre eine große Entlastung für die neuen Länder, das Beste, was wir ihnen bieten können.
Ich komme zur Einkommensteuer. Für über 90 Prozent der Mittelständler ist die Einkommensteuer eine Unternehmensteuer, weil diese Mittelständler Einzelfirmen oder Personengesellschaften sind. Auch da muß der Spitzensteuersatz sinken, und zwar mit Signalwirkung: auf 35 Prozent bzw. 39 Prozent. Möglichst gering sollte der Abstand zwischen dem gewerblichen Spitzensteuersatz und dem normalen Spitzensteuersatz sein.
Hier von privatem Spitzensteuersatz zu sprechen halte ich für höchst problematisch. Dahinter verbergen sich nämlich unter anderem 564 000 selbständige Freiberufler, die kein im steuerrechtlichen Sinne gewerbliches Einkommen haben, in ihren Praxen, Kanzleien und Büros aber sehr wohl Arbeitgeber sind. Das gilt für 1466 000 Mitarbeiter plus 170 000 Lehrlinge. Das heißt, auch hierauf muß unser Augenmerk gerichtet werden. Deswegen danke ich noch einmal für die differenzierte Ausführung von Frau Kaspereit. Ich habe solche bei Sozialdemokraten sonst nicht gehört.
Statt dessen grassiert das Märchen, daß die Gewinne der Unternehmen in Deutschland explodieren. Es gibt keine amtliche Statistik über Gewinne in Deutschland. Herr Bundeswirtschaftsminister, die herzliche Bitte: Eine solche muß her. Sie ist unverzichtbar. Ich habe eine entsprechende Anfrage gestellt, die beantwortet wurde. Wir brauchen eine solche Statistik. Wir haben so viele überflüssige Statisti-
Hansjürgen Doss
ken; aber für Gewinne der Unternehmen in Deutschland gibt es keine.
Es gibt lediglich eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die als Restgröße die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ausweist. Dabei weiß jeder Sachkundige, daß darin zum Beispiel auch die Zinsen aus dem Sparbuch eines Rentners und die Mieteinnahmen aus privaten Haushalten enthalten sind. Zum Teil sind diese Gewinne auch Gewinne der Großindustrie - das muß man sehen -, die die Bilanz dramatisch schönen.
Ich habe gehört - ich hoffe, daß diese Zahl stimmt -, daß BASF 82 Prozent ihrer Gewinne im Auslandsgeschäft macht und nur 18 Prozent im Inland. Insofern werden die Konkurse ein Stück erklärbar und sind auch vor dem Hintergrund der wirklich tollen Zahlen, die wir immer hören, verständlich.
Ein großer Teil geht auch auf die Erfolge der großen Geldinstitute zurück. Deren Konjunktur ist ja eine ganz andere als die des mittelständischen Betriebes; sie verläuft eher gegensätzlich.
Meine Damen, meine Herren, die Zahlen müssen also seriöser werden. Es muß darüber hinaus deutlich werden, wie die Entwicklung verläuft: Wenn man von einem niedrigen Niveau, beispielsweise von minus 10 Prozent, ausgeht und dann ein Wachstum von 8 Prozent verzeichnet, verbleibt immer noch ein Minus von 2 Prozent. Wir müssen diese Zahlen versachlichen. Die "Süddeutsche Zeitung" meldet, daß auf 100 DM Umsatz durchschnittlich 2,20 DM Gewinn kommen. Das sind um Himmels willen keine explosionsartigen Steigerungen.
Konkret: Wie setzt sich eine Handwerkerstunde - zum Beispiel die eines Tischlers - zusammen: 69,60 DM werden in Rechnung gestellt. Davon sind 29,93 DM betriebliche Gemeinkosten, 20,18 DM Stundenlohn, 18,10 DM gesetzliche und tarifliche Lohnzusatzkosten. Somit verbleibt ein Unternehmergewinn von 1,39 DM. Von diesem „explosionsartigen" Gewinn muß der Tischlermeister anschließend leben, investieren und Risikovorsorge betreiben. Das sind die „Besserverdiener"!
Schlußfolgerung: Angesichts dieser Situation müßte jetzt zügig und konsequent umgesetzt werden, was die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat.
- Kommt doch jetzt. Sehen Sie: Ich erfülle alle Ihre Erwartungen.
Die Steuerbelastung muß gesenkt werden - die SPD verweigert sich. Die Sozialsysteme müssen reformiert werden - die SPD verweigert sich.
Wir brauchen einen neuen Gründungsboom. Das ist auch ein psychologisches Problem: Wenn man Selbständige als sogenannte Besserverdiener diskriminiert, sie aus der Gesellschaft herausdrängt, hat keiner Lust, das zu machen.
Auch da ist die SPD voll dabei: die Entreicherung der Besserverdiener als Lösung unserer Probleme.
Statt sich an dem Gemeinschaftswerk, das wir vorhaben, zu beteiligen, die Wirtschaft in Deutschland wieder attraktiver zu machen und damit Arbeitsplätze zu schaffen, verweigert sich die SPD.
- Das war das vierte Mal.
Statt dessen stellt sie einen Antrag auf Errichtung eines Konkursvermeidungsfonds, nach dem Motto: Der Steuerzahler wird's schon richten. In ihrem Antrag verweist die SPD selbst darauf, daß die Bundesländer so etwas schon haben, allerdings in einem bescheideneren Rahmen. Wir müssen in dieser Frage auf die EG achten. Dieser Vorschlag kann nicht die Lösung in großem Stil bringen. Im übrigen machen es, wie gesagt, die Bundesländer zum Teil schon so.
Eine gemeinsame Position, die wir aus dem Ansteigen der Zahl der Konkurse ableiten sollten, ist also: Die Gewerbesteuer wird abgeschafft. Die Einkommensteuer wird gesenkt. Die Lohnzusatzkosten werden reduziert und nicht umfinanziert. Die Bürokratie wird zurückgedrängt. Die Vorschläge, die Frau Kaspereit vorgetragen hat, sind ebenfalls bedenkenswert. Aber auch für sie gilt: Der Teufel steckt im Detail.
Also, was ist zu tun? - Sie ziehen Ihren Antrag zurück, wir schicken einen interfraktionellen Antrag auf den Weg und nennen diesen „Programm für Wachstum und Beschäftigung". Die Inhalte haben wir schon vorgelegt. Sie brauchen nur zuzustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Doss, indem Sie mit Blick auf Herrn Schauerte von „differenzierter Rede" gesprochen haben und dann auch in bezug auf die Rede von Frau Kaspereit, die Sie hervorgehoben haben, von „differenzierter Rede" sprechen, haben Sie Frau Kaspereit beleidigt.
Denn die Rede von Frau Kaspereit war wirklich hervorragend. Die Rede von Herrn Schauerte war schlecht und in weiten Teilen auch falsch.
Lassen Sie uns die Rede von Herrn Schauerte einmal etwas genauer anschauen: Herr Schauerte plauderte in seiner Rede davon, daß die CDU der SPD vorwerfe, die SPD sei angeblich Schutzmacht der Großkonzerne. Da kann ich doch nur lachen! Die So-
Uwe Hiksch
zialdemokratie bringt einen Gesetzentwurf nach dem anderen in den Deutschen Bundestag ein. Sie hat beispielsweise eine Gesetzesinitiative gestartet, in der sie gefordert hat, die Schlechtwettergeldregelung nicht abzuschaffen, weil sie auf der einen Seite den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Winter weiter Arbeit gegeben hätte und Massenentlassungen verhindert hätte und auf der anderen Seite gerade kleinen mittelständischen Unternehmen mit schlechter Kapitaldecke geholfen hätte, über den Winter zu kommen, nicht entlassen zu müssen.
Die CDU stimmt dagegen.
Die SPD bringt Gesetzentwürfe ein, in denen sie fordert, im Baugewerbe durchzusetzen, daß es endlich zu einer Verstetigung der Baunachfrage kommt. Sie stimmen im Ausschuß dagegen und verhindern das.
Die SPD-Bundestagsfraktion brachte einen Antrag im Wirtschaftsausschuß ein, in dem sie gefordert hat, daß die Städtebauförderung im Bundeshaushalt um 500 Millionen DM aufgestockt wird. Sie stellte ihn zur Abstimmung, und Sie stimmten dagegen und reden jetzt davon, daß wir nicht die Interessen der kleinen und mittelständischen Unternehmen vertreten.
Herr Schauerte, Sie haben doch keine Ahnung, was in der Wirtschaft los ist und was die kleinen und mittelständischen Unternehmen brauchen.
Die Sozialdemokratie bringt Gesetzentwürfe ein, in denen sie die Bankenmacht endlich ein wenig einschränken möchte, indem das Depotstimmrecht auf der einen Seite und die Zahl der Aufsichtsratssitze auf der anderen Seite endlich eingeschränkt werden. Sie wollen das verhindern
und reden davon, die Sozialdemokratie würde nicht die Interessen der Kleinen und Mittelständler vertreten.
Ein letztes Beispiel: Wir hatten heute morgen eine Debatte über eine Energierechtsnovelle, eine Novelle, die einzig und allein die großen Konzerne, die großen Unternehmen stützt und die Monopolisierung im Energiebereich vorantreiben wird.
Sie wurde von Ihnen, der CDU/CSU und der F.D.P., eingebracht.
Sie wollen uns erzählen, wir würden nicht die Interessen der kleinen und mittelständischen Unternehmen vertreten.
Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Witz. Es ist ebenso ein großer Witz, wenn Sie davon sprechen, daß die Sozialdemokratie eine Blockadehaltung an den Tag legt. Ich habe manchmal den Eindruck, Herr
Schauerte, Herr Doss, daß Sie zwar im Wirtschaftsausschuß anwesend sind, wenn diskutiert wird, aber wenn die Sozialdemokraten Anträge stellen, hören Sie scheinbar nicht zu.
Deswegen möchte ich Ihnen einige Beispiele nennen. Die Sozialdemokratie hat einen Antrag zur aktuellen Steuerreform eingebracht, in dem wir gefordert haben, daß die Gewinne aus Unternehmertätigkeit, also die Gewinne aus der Realkapitalakkumulation, anders behandelt werden müssen als die Gewinne aus Vermögen, um zu erreichen, daß es sich wieder lohnt, sein Geld in die reale Unternehmertätigkeit zu investieren, um zu erreichen, daß endlich nicht mehr das Geld von Rentiers mehr geschätzt wird als das Geld von Unternehmerinnen und Unternehmern, die in diesem Land dafür sorgen, daß Arbeitsplätze geschaffen werden.
Sie haben sich mit Ihrer falschen Wirtschafts- und Steuerpolitik geweigert, diesen Antrag aufzunehmen.
Wie war es denn, als die SPD eine Diskussion darüber angefangen hat, daß Spekulationsgewinne gegenüber den Gewinnen, die aus realer Unternehmertätigkeit gemacht werden, diskriminiert werden müssen? Sie haben sich auf die Seite der Rentiers und der Spekulanten geschlagen und verhindert, daß die SPD mit ihren Vorschlägen durchgekommen ist.
Ein letztes Beispiel: Wie war es denn, als die Sozialdemokratie in der jetzigen aktuellen Steuerreform vorgeschlagen hat, daß die Gewinne, die in ein Unternehmen reinvestiert werden, anders behandelt werden müssen als die Gewinne, die aus dem Unternehmen ausgeschüttet werden? Sie haben sich gegen die Interessen der Unternehmen gestellt und auf die Seite der Anteilseigner und der Kapitalbesitzenden geschlagen und damit verhindert, daß in diesem Land Politik für kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch für die großen gemacht werden kann.
Herr Schauerte sprach davon, daß die SPD eine falsche Wirtschaftspolitik macht. Derselbe Herr Schauerte hebt die Hand, wenn die private Vermögensteuer abgeschafft wird, um durchzusetzen, daß die Menschen auch ja nicht mehr ihr Geld in die Realkapitalakkumulation investieren, sondern weiterhin bei den Banken anlegen und die Beträge der privaten Vermögensteuer nach deren Abschaffung einstecken können.
Eine solche Politik als differenziert zu bezeichnen, halte ich für geradezu abstrus.
Deshalb kann ich der CDU/CSU eigentlich nur empfehlen, endlich einmal darüber nachzudenken, wie
Uwe Hiksch
diese Partei vor 50 Jahren angetreten ist. Damals hatte sie sich vorgenommen, Kleine und Mittelständler zu vertreten ebenso wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Aber durch eine völlig falsche Wirtschaftspolitik ist sie zu einer Partei geworden, die weder frei ist noch irgend etwas mit Partei zu tun hat, sondern sie ist zu einer Vertretung von einzelnen Interessen geworden. Sie hat sich von der F.D.P. ihre eigene Identität nehmen lassen und aufgehört, Wirtschaftspolitik für Kleine und Mittelständler zu machen.
Wir, die Sozialdemokraten, sagen Ihnen, wie Wirtschaftspolitik gemacht werden kann, damit Insolvenzen nicht mehr wie bisher stattfinden. Wir bieten den Weg an, damit es gemeinsam gelingen kann, Unternehmerinnen und Unternehmern in diesem Land endlich wieder eine Perspektive zu geben. Nur Sie mit Ihrer falschen Wirtschaftspolitik, die nicht Verweigerung, sondern einfach inhaltlich falsch ist, verhindern das.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
In diesem Sinne: Besten Dank fürs Zuhören.
Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7430 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Vereinfachte Debatte zur Iran-Politik
Dazu liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Rudolf Seiters, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Bundesregierung hat auf das Mykonos-Urteil des Berliner Kammergerichts schnell, konsequent und angemessen reagiert. Der iranische Botschafter wurde einbestellt. Vier Angehörige der iranischen Botschaft wurden ausgewiesen. Der sogenannte „kritische Dialog" wurde suspendiert. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt diese ebenso richtige wie notwendige Reaktion der Bundesregierung nachdrücklich.
Das Berliner Kammergericht verdient unseren hohen Respekt.
Wir haben bereits in der Iran-Debatte des Deutschen Bundestages am 29. November 1996 die Unabhängigkeit der deutschen Justiz unterstrichen und die Fatwa-Drohung aus dem Iran gegen die am Mykonos-Prozeß beteiligten Richter als unerträglich zurückgewiesen. Das Berliner Kammergericht hat mit Geradlinigkeit und Unbeirrbarkeit und ungeachtet der permanenten Drohung aus Teheran seine Unabhängigkeit bewahrt und für die internationale Politik ein Beispiel für den Umgang mit staatlich organisierten Terrorakten gegeben.
Es ist zugleich ein wichtiges Signal in dem Bemühen, dem Völkerrecht zur Geltung zu verhelfen.
Wir haben mit Genugtuung auch das geschlossene und solidarische Verhalten unserer Partner in der Europäischen Union zur Kenntnis genommen.
Die Verurteilung des iranischen Verhaltens durch die Europäische Union und andere Staaten ist ebenso wichtig wie die Rückberufung der europäischen Botschafter, die Aussetzung des „kritischen Dialogs" und die Entschlossenheit, auch zukünftig eine abgestimmte Politik gegenüber dem Iran zu betreiben.
Meine Damen und Herren, die SPD hat durch die Kollegen Verheugen und Voigt sowie auch andere unmittelbar nach dem Urteil die Reaktion der Bundesregierung als richtig bezeichnet und sie begrüßt. Sie hat gleichzeitig in Übereinstimmung mit unserer Position den völligen Abbruch der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen als falsch bezeichnet. Sie hat mit Recht gefordert, daß die Europäische Union ihre Politik gegenüber Teheran neu definieren müsse.
Ich will diese Gemeinsamkeiten, die ich für wichtig halte, ausdrücklich unterstreichen. Allerdings will ich doch hinzufügen, daß vor diesem Hintergrund die polemische Kritik des Kollegen Penner am Außenminister unverständlich und abwegig war und von meiner Fraktion als völlig ungerechtfertigt zurückgewiesen wird.
Das gleiche gilt für den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der bei seiner Kritik an der Bundesregierung ja doch wohl bewußt ignoriert, daß es sich bei der Politik gegenüber dem Iran um eine abgestimmte Konzeption der Europäischen Union handelt und auf gemeinsamen Beschlüssen der Europäischen Union beruht, unter anderem getroffen auf dem Gipfel in Edinburgh 1992.
Rudolf Seiters
Ich will auch sagen, daß ich mit großer Aufmerksamkeit die Diskussion über diesen schwierigen und sensiblen Punkt gestern in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses verfolgt habe, und zwar eine Diskussion mit dem Außenminister und auch mit dem Kanzler. Mit Blick auf die Rednerliste, die uns ja bekannt ist, und die nachfolgenden Redner will ich darauf hinweisen, daß es gestern eine sehr sachliche Diskussion mit vielen Übereinstimmungen gegeben hat. Mir ist dabei aufgefallen - ich sage das, weil behauptet wird, es gebe eine, im übrigen vom Außenminister in Übereinstimmung mit dem Kanzleramt dementiert, enge Kooperation auf geheimdienstlichem und politischem Felde mit dem Iran -, daß der Bundeskanzler gestern zwei Stunden an der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses teilgenommen hat und in dieser Frage kein Kollege der Opposition auch nur eine einzige Frage an den Bundeskanzler gerichtet hat. Das will ich doch einmal festhalten. Das ist bemerkenswert.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat schon im vergangenen Jahr darauf hingewiesen, daß der „Kritische Dialog" der Europäischen Union mit dem Iran zu Mißverständnissen geführt hat und deshalb auf den Prüfstand gehört. Wir haben jedoch gleichzeitig eine Vorwegnahme des ,,Mykonos"-Urteils abgelehnt. Das war völlig richtig. Das jetzige Urteil aber mußte zu Konsequenzen führen, weil die Urteilsbegründung ausdrücklich die Urheberschaft staatlicher iranischer Stellen für den bewaffneten Anschlag feststellt und das Attentat ausdrücklich als Auftragsmord der iranischen Führung qualifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland kann ebensowenig wie die internationale Staatengemeinschaft derartige Verstöße gegen das Völkerrecht hinnehmen.
Das Mykonos-Attentat bedeutet deshalb für mich und für uns alle, daß die Beziehungen zum Iran künftig nicht mehr mit dem Begriff „Kritischer Dialog" beschrieben werden sollten.
Wir bitten die Bundesregierung, daß sie dies auch bei den Beratungen der Außenminister am 29. April in Luxemburg über die künftige Iran-Politik der Europäischen Union deutlich macht.
Wir müssen als Bundesrepublik Deutschland, als Europäische Union, als internationale Staatengemeinschaft von der iranischen Führung verlangen, daß der Iran - ich verweise insoweit auch auf den Koalitionsantrag vom Mai vergangenen Jahres - die Regeln des Völkerrechts ohne jede Einschränkung beachtet, terroristische Aktivitäten weder selbst betreibt noch politisch, logistisch oder finanziell unterstützt, die Menschenrechte einhält und die Glaubens- und Religionsfreiheit respektiert, die Morddrohung gegen Salman Rushdie widerruft, seinen religiösen Stiftungen verbietet, ein Kopfgeld auf die Ermordung Rushdies auszusetzen, und selbstverständlich alle Aktivitäten unterläßt, die auf die Verfolgung von im Ausland lebenden Oppositionellen gerichtet sind.
Ich will ausdrücklich feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Interesse an einer Eskalation der Lage und der Verschlechterung der Beziehungen zum Iran haben kann. Dies gebietet schon unsere Sorge um die Sicherheit der deutschen Staatsangehörigen, des diplomatischen Personals und der deutschen Einrichtungen. Die iranische Regierung hat die Verantwortung dafür, daß dieser Schutz auch zukünftig gewährleistet wird.
Aber das Völkerrecht darf nicht zur Disposition stehen. Weder das Völkerrecht noch die Menschenrechte dürfen anderen, politischen oder wirtschaftlichen, Beziehungen untergeordnet werden.
Deswegen können vernünftige politische und wirtschaftliche Beziehungen zum Iran für die Zukunft nur wieder erreicht oder sichergestellt werden, wenn der Iran seine Politik ändert und unter Beweis stellt, daß er vom Staatsterrorismus abläßt. Selbstverständlich kann es bis dahin auch keine Neuauflage von Hermes-Bürgschaften geben.
Die Neubestimmung der europäischen Iran-Politik bietet auch die Chance, die Haltung der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber dem Regime in Teheran besser abzustimmen. Wir müssen erneut den Versuch machen, uns in der Iran-Politik auf gemeinsame Positionen zu verständigen. Die Fortsetzung von Streitigkeiten nützt allein dem Iran.
Wir erwarten deshalb eine klare Positionsbestimmung der Europäischen Union auf dem Außenministertreffen am 29. April. Dafür hat die Bundesregierung die volle Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und - wie ich hoffe - des ganzen Hauses.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel, SPD- Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Am 17. September 1992 wurden in Berlin Sadegh Sharafkandi, Fattah Abdoli, Homyoun Ardalan und Nurulah Mohamadpour Dehkordi ermordet. Sie waren Gäste der Sozialistischen Internationale und damit auch Gäste der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Wie andere habe auch ich Sadegh Sharafkandi drei Tage vor seiner Ermordung getroffen und mit ihm gesprochen. Alles, was seitdem im Zusammen-
Dr. Christoph Zöpel
hang mit dem „Mykonos"-Prozeß geschehen ist, hat viele Sozialdemokraten und auch mich in dieser ganz persönlichen Weise betroffen.
Heute, nach dem Urteil des Berliner Kammergerichts, wissen wir, daß das Regime im Iran für die Ermordung verantwortlich ist. Es macht auch heute Sinn - es ist eine Verpflichtung-, der Ermordeten zu gedenken und auch heute noch einmal ihren Angehörigen Anteilnahme auszusprechen.
Es könnte für die Verbesserung der internationalen Beziehungen, an denen der Iran teilnehmen will, wie seine Staatsführung bekundet, überlegenswert sein, den Angehörigen der Ermordeten im Rahmen des Möglichen zu helfen. Die Debatte, die wir heute nach dem Urteil im ,,Mykonos"-Prozeß führen, kann für die Sozialdemokratie nahtlos an die Debatte anschließen, die wir am 29. November 1996 hier geführt haben. Wir haben damals bekundet, daß wir alle Versuche des Iran, auf dieses Gerichtsverfahren Einfluß zu nehmen, entschieden zurückweisen und verurteilen. Wir haben zum Ausdruck gebracht, daß es eine Pflicht des Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland ist, allen Menschen, die in Deutschland leben, den höchstmöglichen Schutz für ihr Leben und ihre Sicherheit zu garantieren.
Gegenüber Menschen aus dem Iran, die in Deutschland leben, ist dieses Gebot heute noch nachdrücklicher und noch entschiedener zu beachten. Ich gehe davon aus, die Regierungen von Bund und allen Ländern werden dem nachkommen.
Das Urteil des Kammergerichts in Berlin ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Beitrag zu Klarheit in internationalen Beziehungen. Das geht über den Beitrag zur Klarheit des Rechtsstaatscharakters der Bundesrepublik Deutschland hinaus. Mit diesem Urteil - das halte ich für wichtig - muß jede Regierung in dieser Welt wissen, daß sie, wenn sie an Straftaten, an Mordanschlägen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, damit vor Gericht kommen und verurteilt werden kann, und das ist gut so.
In den vergangenen Wochen gab es für mich und andere manche Gelegenheit, Repräsentanten gerade islamischer Staaten dieses zu sagen. Wie jeder, der sich mit dem Islam beschäftigt, weiß ich, daß der Islam an sich eine Religion ist, die nicht unfriedfertig ist. Aber die Welt ist auch davon bestimmt, daß diese Religion zu machtpolitischen Zwecken mißbraucht wird, was es übrigens auch schon im Christentum gab. Staaten, die dieses tun, nicht nur der Iran, müssen wissen: Pseudoreligiöse Begründung von Machtmißbrauch ist völkerrechtlich nicht zu dulden. Das gilt ganz prinzipiell und ist eine Voraussetzung dafür, daß es interkulturell erträgliche Beziehungen zu
Staaten gerade des mittleren und nahen Ostens geben kann.
Nach dem Urteil hat das Regime im Iran Probleme, sonst würde es vor der deutschen Botschaft nicht demonstrieren lassen, sonst gäbe es Erklärungen und Verlautbarungen, einschließlich der Verlautbarung des Staatspräsidenten, nicht. Es ist gut, daß der Iran damit Probleme hat, daß er mit der Realität konfrontiert ist. Mit dazu trägt bei - darüber freuen wir uns sicher alle -, daß die Europäische Union weitestgehend geschlossen reagiert hat.
Soweit die Bundesregierung dazu beigetragen hat, Herr Außenminister, würdige ich das ausdrücklich.
- Wir bemühen uns immer um Objektivität.
Dennoch gilt es, einen Blick zurück auf das Verhalten der deutschen Politik zu werfen. Ich unterstelle zunächst einmal, daß insbesondere alles, was die Regierung getan hat, in pflichtgemäßem Ermessen lag, daß es vielfach gut gemeint war und daß es für manches Gründe gab. Dennoch ist Politik immer auch an ihren Wirkungen zu messen. Es gut gemeint zu haben reicht nicht.
In der Summe der Würdigung der einzelnen Beiträge deutscher Politik zu den Beziehungen zum Iran steht eines für mich im Mittelpunkt, und dies, Herr Kollege Seiters, ist auch das einzige, was in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen steht: Es sind Illusionen erweckt worden, daß es die Bundesrepublik Deutschland mit der Bewahrung ihrer Rechtsstaatlichkeit und mit der Unabdingbarkeit ihres Einsatzes für Menschenrechte vielleicht doch nicht so ernst meint.
Die Formulierung der „traditionell guten Beziehungen" zum Iran ist richtig, wenn man an die guten Beziehungen einzelner Menschen untereinander denkt. Sie kann aber zu schrecklichen Mißverständnissen führen, wenn mit ihr nachträglich möglicherweise noch Missetaten des Schahregimes legitimiert werden, und sie kann zu Illusionen im Iran führen, weil der Iran dann glaubt, man werde schon über Menschenrechtsverletzungen hinwegkommen. Das ist das entscheidende Problem.
Es kann auch nicht ein Ausspielen von Menschenrechtspolitik gegen Wirtschaftspolitik geben. Das nützt meines Erachtens schon mittelfristig nicht einmal deutschen Unternehmen.
Ein Land, das Menschenrechte verletzt, kann auch
sehr schnell die Menschenrechte Deutscher, die wirt-
Dr. Christoph Zöpel
schaftlich in diesem Land tätig sind, verletzen. Es gibt ja Deutsche, die das erfahren haben.
Beispielsweise ist nach der letzten Reise des Kollegen Möllemann in den Iran in Presseartikeln der Eindruck entstanden - ich habe ihn selber nicht gehört; deshalb sage ich, der Eindruck ist entstanden -, daß gegenüber dem Iran Menschenrechtsfragen hinter wirtschaftlichen Interessen zurückstehen könnten. Dies ist unerträglich und schadet - ich sage es noch einmal - selbst deutschen Wirtschaftsinteressen.
Der Fall „Mykonos" sollte lehren: Es darf nirgendwo die Illusion entstehen, an den Prinzipien des Rechtsstaates und der Einführung von Rechtsstaatlichkeit in das Völkerrecht könnte es in Deutschland irgendeinen Zweifel geben.
Derselben Gefahr ist auch immer der ausgesetzt, der Geheimdienstkontakte hat. Ich muß das wiederholen. Sie mögen manchmal gut gemeint gewesen sein. Wenn der Eindruck entsteht, Kontakte mit fremden Geheimdiensten führten dazu, daß diese hier Dinge tun dürften, die unerträglich sind, ist dies schon politisch falsch.
Wo ich schon bei Illusionen bin, möchte ich auch ein Wort zum iranischen Widerstand sagen. Im Iran gibt es nicht die Möglichkeit des demokratischen Machtwechsels. Dies legitimiert Widerstand. Das sage ich sehr deutlich.
Aus diesem Grunde sind aus meiner Sicht Kontakte zu politischen Gruppen, die im Iran Widerstand leisten, sogar geboten. In diese Gespräche müssen zwei Dinge einfließen: Erstens. Wir akzeptieren keine Rechtsverstöße - auch nicht durch Widerstandsbewegungen des Iran - auf dem Boden der Bundesrepublik.
Zweitens. Wir akzeptieren grundsätzlich keine terroristischen Anschläge gegen Beteiligte irgendwo auf der Welt, auch nicht gegen die Zivilbevölkerung im eigenen Lande.
Man muß auch ein offenes Wort zu den Möglichkeiten Deutschlands sagen, zu einer Widerstandsbewegung zu stehen. Die Welt mußte lernen, daß zumindest in etwas größeren Ländern keine Möglichkeit besteht, einen Regimewechsel von außen herbeizuführen. Das wäre illusionär.
Wer feststellt, daß der kritische Dialog gescheitert ist - und das tun wir -, muß auch sagen, daß die amerikanische Politik ebenfalls nicht erfolgreich gewesen ist. Das wird in Amerika sehr selbstkritisch diskutiert. Verhältnisse im Inneren ändern sich, wenn es Menschen gibt, die diese Verhältnisse ändern wollen, wenn sie ihre völkerrechtlich legitimierten Rechte wahrnehmen. Dann kann man nur hoffen, daß die Mehrheit der Völkergemeinschaft durch ihr klares Festhalten an Menschenrechtspositionen mit dazu beiträgt, daß die Implosion eintritt. Das ist die Lehre aus der Implosion in Osteuropa, zu der deutsche Außenpolitik, vor allem die der 70er Jahre, mit beigetragen hat.
Notwendig ist es dann noch, das Verhältnis von diplomatischen Beziehungen, die hier keine Fraktion gegenüber dem Iran aufkündigen will, an ihren Zielen klarzumachen: Diplomatische Beziehungen kann eigentlich nur der diskreditieren, der sie selber unterhält, und zwar dann, wenn unklar ist, was Ziele und Mittel sind.
Menschenrechte sind ein Ziel diplomatischer Beziehungen. Sie können nicht instrumentalisiert werden - was der Iran erhofft hat -, indem man bei der Frage, ob wir jemanden, dessen Menschenrechte verletzt wurden, verteidigen, nachlässig ist oder auch nur die Frage aufkommen läßt, ob ein rechtsstaatliches Gericht in Deutschland das „Mykonos" -Verbrechen ahnden wird.
Das ist ganz wichtig: Beziehungen zum Iran brauchen wir. Vermutlich sind sie fast gegenüber jedem Staat dieser Welt unverzichtbar, weil die Völkergemeinschaft in der globalen Situation, in der wir leben, zusammenarbeiten muß, aber immer um dreier Ziele willen, die unabdingbar sind: erstens, um einen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten - der Iran ist auf die Unterstützung oder zumindest Tolerierung des nahöstlichen Friedensprozesses zu verpflichten -,
zweitens: um der Rechte der Menschen willen. Drittens haben diplomatische Beziehungen ihren Sinn wegen Wirtschaftskontakten. Aber - da wiederhole ich mich - diese können nicht gegen die beiden anderen Ziele ausgespielt werden. Das ist unmöglich.
Schließen möchte ich mit einer Bemerkung, die uns alle und über Deutschland hinaus alle Europäer angeht. Der „Mykonos"-Prozeß hat sicher dazu geführt, daß erneut Unsicherheit über die Zukunft der Beziehungen zu islamischen Staaten auftritt. Es gibt Bücher dazu, unter spektakulären Titeln, wie „Clash of Civilizations"; das Buch ist diffenzierter als der Titel. Ich glaube, ein „Clash of Civilizations" darf nicht eintreten, auch nicht in den Beziehungen zu den islamischen Ländern.
Es ist die Aufgabe europäischer Politik, unter Wahrung ihrer internationalen Ziele Maßnahmen zu ergreifen, Konzepte zu haben, die Frieden auch zwischen der islamischen und der europäischen Kultur ermöglichen.
Herr Abgeordneter, die Redezeit ist weit überschritten.
Vizepräsidentin Michaela Geiger
- Er kann mehr haben. Wunderbar. Dann redet er weiter.
Ich bedanke mich, Frau Präsidentin.
In dem Buch von Samuel Huntington über „Clash of Civilizations" steht ein Zitat von Michael Walzer, einem amerikanischen Sozialphilosophen, dem Huntington zustimmt. Ich möchte es Ihnen zum Schluß vorlesen, weil ich es für bemerkenswert halte. Er spricht sich für einen Dialog aller Kulturen auf dieser Welt aus. Walzer sagt:
Ein solcher Dialog muß mit dem Ziel geführt werden, Werte, Institutionen und Praktiken zu sehen und zu finden, die Menschen aller Kulturen gemeinsam haben. Das kann auch zu einem unterschiedlichen Verständnis von Menschenrechten führen, Grundlage sind gemeinsame moralische Vorstellungen von Wahrheit und Gerechtigkeit, gemeinsame Regeln gegen Mord, Betrug, Folter, Unterdrückung und Tyrannei.
Das zu erreichen ist aus meiner Sicht nach Ende des Ost-West-Konflikts die wahrscheinlich entscheidende Herausforderung europäischer Außenpolitik, um weiter eine friedliche Welt zu haben. Das zu sagen macht auch nach „Mykonos" Sinn.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joseph Fischer, Bündnis 90/ Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Berliner Kammergerichts war sehr mutig und sehr offen und hat die Dinge präzise benannt. Das Berliner Kammergericht, die Bundesanwälte und die Anwälte der Nebenkläger verdienen dafür unseren Respekt und unseren Dank.
Sie verdienen auch unsere Solidarität und den rückhaltlosen Schutz durch den Rechtsstaat, den sie leider brauchen.
Diese Richter haben keine Angst vor Diktatoren gehabt. Sie haben eine klare Sprache gesprochen. Sie haben das iranische Sonderkomitee, in dem die Spitzen des iranischen Staates versammelt sind, als ursächlich verantwortlich für den Mordbefehl, der vier Menschen im Berliner Lokal „Mykonos" das Leben gekostet hat, benannt. Sie haben damit Rechtsgeschichte geschrieben; sie haben allerdings auch ein außenpolitisches Faktum gesetzt.
Daß es dazu kommen mußte, auch darüber müssen wir heute reden. Die Außenpolitik ist das Privileg der Regierung, nicht der Judikative. Es ist die Frage zu stellen, ob unsere Regierung mit all ihren geheimen Diensten nicht schon wesentlich länger über die ursächlichen Zusammenhänge zwischen Auftraggebern und Mordanschlag Bescheid wußte und warum sie dann nicht aus der ihr eigenen gebotenen Kompetenz heraus gehandelt hat.
Wir stehen heute in einer politischen Debatte. Diese politische Debatte muß klar feststellen: Die Politik des kritischen Dialoges ist definitiv gescheitert, sie ist nicht suspendiert und nicht ausgesetzt, sondern gescheitert. Es ist auch festzustellen - da sollten Sie sich, Herr Bundesaußenminister, nicht hinter Europa verstecken -: Diese Politik des kritischen Dialogs ist in ihrer Konzeption wesentlich von Deutschland konzipiert, entwickelt und getragen worden.
-Es ist nicht falsch. Das zeigt auch Ihre Entscheidung im Zusammenhang mit dem kritischen Dialog China/ Tibet, jetzt Ihre Entscheidung - wir werden es gleich im Anschluß daran diskutieren -, sich nicht an einer Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China auf UN-Ebene zu beteiligen. Meine Aussage ist nicht falsch. Sie identifizieren sich politisch nachdrücklich mit dieser Position. Auch darüber wird heute zu reden sein.
Herr Kollege Seiters hat Ihnen ja eine Maulschelle nach der anderen auf seine freundliche Art unter dem Beifall der Koalitionsfraktionen verteilt und die Bedingungen für eine Wiederaufnahme der Beziehungen auf einer Ebene, wo man von Beziehungen reden kann, genannt. Ich habe da sehr sorgfältig zugehört.
Wenn man eine Bilanz des kritischen Dialogs zieht, muß man doch feststellen: Sie haben eine Stärkung der Mullah-Diktatur durch die Aufrechterhaltung und Ausdehnung der Wirtschaftsbeziehungen erreicht. Sie haben nicht zur Demokratisierung und zu einer stärkeren Beachtung der Menschenrechte beigetragen. Nach wie vor ist es so, daß es im Iran zu schwersten Menschenrechtsverletzungen gegenüber Oppositionellen und gegenüber angeblich religiös Abtrünnigen wie den Bahai, gegenüber Frauen und gegenüber kritischen Schriftstellern kommt, daß Oppositionelle im Ausland ermordet werden und daß die Todesdrohung gegen Rushdie nicht aufgehoben wurde, sondern im Gegenteil durch eine Erhöhung des Lösegelds scheinbar privater religiöser Stiftungen noch verstärkt wurde.
Sie wissen so gut wie ich, daß der Iran einer der wichtigsten Unterstützer des Terrors gegenüber Israel ist. Sie wissen, daß er mit Waffen die Hisbollah im Libanon unterstützt, Sie wissen, daß der Dschihad von ihm unterstützt wird, und Sie wissen, daß der Iran alles tut, um sich in den Besitz von chemischen, biologischen und vor allen Dingen Atomwaffen zu bringen. Gestern mußten wir wieder in der deutschen Presse lesen, daß der begründete Verdacht existiert, daß für all diese Aktivitäten, sich ABC-Waffen und andere Rüstungsgüter illegal zu verschaffen, Deutschland eine zentrale Drehscheibe sei. Wir kön-
Joseph Fischer
nen nicht überprüfen, inwieweit das zutrifft, Herr Bundesaußenminister, aber ich möchte hier von Ihnen eine klare Antwort haben, inwieweit im Wirtschaftsministerium solche Berichte bekannt und solche Erkenntnisse vorhanden sind. Dies ist eine deprimierende Bilanz des kritischen Dialogs.
Wenn wir vom Scheitern in einer zentralen außenpolitischen Frage sprechen, dann müssen wir auch über die Verantwortung sprechen; dann können wir nicht dazu schweigen, daß Sie, Herr Bundesaußenminister, sich persönlich mit dieser Politik des kritischen Dialogs identifiziert haben. Ich darf Sie nur an die Islam-Konferenz erinnern, bei der Sie sich selbst an den Rande eines Rücktrittes gebracht haben. In dem Zusammenhang hatten Sie zum erstenmal seit Jahren in der Koalition keine Mehrheit mehr, weil Ihnen die eigenen Abgeordneten in großer Zahl die Gefolgschaft verweigert hatten.
Ich darf Sie daran erinnern, daß Herr Schmidbauer, der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Herrn Fallahian, den Geheimdienstchef des Iran, noch drei Wochen vor Beginn des Mykonos-Prozesses als Staatsgast hier empfangen hat. Ich darf Sie an Ihre guten Kontakte zu Herrn Welajati erinnern. Die Bundesanwaltschaft prüft jetzt, ob gegen ihn ein Haftbefehl wegen der Mykonos-Morde ausgestellt werden soll.
Ich frage Sie, Herr Kinkel: Wenn Sie die Presse gelesen haben, in der Ihnen von Blättern konservativen Zuschnitts vorgeworfen wurde, jahrelang eine Politik des Weichspülens gegenüber der Mullah-Diktatur im Iran betrieben zu haben, und Ihnen eine Politik des Opportunismus, mit der jetzt hoffentlich Schluß ist, vorgeworfen wurde, wann eigentlich kommt der Punkt, an dem von Ihnen die Verantwortung für ein solches politisches Versagen persönlich übernommen wird?
Wir halten Herrn Schmidbauer für besonders entlassungsreif. Wir wissen, das wird nicht kommen. Wir halten Sie für rücktrittsreif. Wir glauben nicht, daß es ohne eine personelle Erneuerung zu einem Neuanfang und zu einer neuen Politik kommen wird. Man identifiziert Sie zu sehr mit dieser völlig gescheiterten Politik.
Deswegen haben wir Ihnen hier einen Antrag vorgelegt, in dem wir die Punkte benennen, die die Voraussetzung dafür sind, daß die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Iran auf neuer Grundlage wieder entwickelt werden können. Wir gehen davon aus, daß die Beziehungen zum Iran so lange, bis diese Punkte realisiert sind - es gibt unsererseits in wesentlichen Punkten ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem, was Kollege Seiters vorgetragen hat -, auf das äußerst Notwendige eingefroren werden und daß die Wirtschaftsbeziehungen nicht mehr auf der Grundlage neu zu gewährender Kredite oder der Befürchtung, daß Rückzahlungen scheitern könnten, fortgeführt werden.
Wir gehen weiter davon aus, daß Sie in der Europäischen Gemeinschaft eine Politik der Reduzierung der Kontakte zum Iran auf ein Minimum - dies wollen wir aufrechterhalten - durchsetzen, daß Sie jegliche geheimdienstliche Zusammenarbeit unterbinden, daß Sie in der Bundesrepublik Deutschland alle Aktivitäten des Irans oder von Personen, die dem Iran im Zusammenhang mit illegalen Waffenbeschaffungsmaßnahmen und ähnlichem zuarbeiten, unterbinden und daß Sie als Bundesregierung endlich eine Politik verwirklichen, die die Durchsetzung der Menschenrechte nicht als einen Punkt unter anderen gegenüber solchen Diktaturen festschreibt, sondern die die konkreten Beziehungen - auch auf wirtschaftlicher Ebene - daran knüpft, daß es bei der Demokratisierung und der Durchsetzung von Menschenrechten substantielle Fortschritte gibt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer, F.D.P.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich all denjenigen anschließen, die ihre Hochachtung gegenüber den Organen der Rechtspflege in Berlin zum Ausdruck gebracht haben, die trotz aller Anfeindungen und Bedrohungen ihrem Auftrag getreu rechtsstaatlich gehandelt haben und sich nicht haben beirren lassen, den Versuch zu machen, Recht zu finden und Recht zu sprechen.
Dies muß im übrigen auch dem Iran immer wieder deutlich gesagt werden. Was macht es denn für einen Sinn, Deutschland als Ganzes oder die Bundesregierung wegen des Mykonos-Urteils zu beschimpfen? Es ist ja gerade einer der großen Vorteile unseres Systems der Gewaltenteilung, daß wir eine unabhängige Justiz haben, die nicht irgendwelchen Weisungen von wem auch immer - sei es vom Parlament, sei es von der Regierung - unterworfen ist.
Daß im Iran hierfür wenig Verständnis herrscht, wissen wir. Wir müssen den Iranern klarmachen: Hier hat ein unabhängiges deutsches Gericht im Rahmen der Gewaltenteilung Recht gesprochen. Daran sind auch alle anderen Staatsgewalten gebunden.
Herr Zöpel hat das große Problem angesprochen, wie unterschiedliche Kulturen miteinander umgehen. Ich glaube, daß uns das in der Tat in das Zentrum der heutigen Debatte führt. Kulturen sind von Natur aus zumindest werbend, wenn nicht aggressiv oder erobernd. Jede Kultur bedarf, damit sie mit anderen Kulturen zurechtkommt, der Zivilisierung durch bestimmte Grundentscheidungen.
Wir haben dies für die Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich durch das Grundgesetz formuliert. International gilt die Charta der Vereinten Nationen, gilt das Völkerrecht. Dadurch wird und muß all das gebändigt werden, was sich seitens einzelner
Ulrich Irmer
Kulturen in Mißentwicklungen aggressiv gegen andere richtet.
In diesem Sinne ist es natürlich völlig richtig anzumahnen, daß all diese Grundwerte nicht mit der Entschuldigung beiseite gefegt werden dürfen, dies sei durch religiöse Glaubenssätze geprägt. Der Islam - Herr Zöpel, Sie haben es mit Recht gesagt - ist nicht von Natur aus aggressiv. Er wird zum Teil mißbraucht. Deshalb ist der Islam, wie das Christentum, wie jede andere Religion oder Kultur, an diese Grundentscheidungen gebunden, die der gesamten Menschheit als Wertmaßstäbe eigen sind und eigen sein müssen. Es kommt darauf an, dieses international wie innerstaatlich durchzusetzen.
Die große Frage ist natürlich: Wie macht man das? Herr Fischer, Sie haben es sich hier nun wirklich sehr einfach gemacht. Sie haben eine gute Analyse dessen gebracht, in welchen Bereichen der Iran diese elementaren Regeln internationalen Rechts verletzt hat. Das geht von Terroranschlägen auf fremdem Territorium über eigenes menschenrechtswidriges Verhalten unglaublichster Art im eigenen Land bis zur Unterstützung der Hamas und anderer Kämpfer, die den Friedensprozeß im Nahen Osten torpedieren wollen. All dies ist von der Analyse her richtig.
Was aber Ihre Schlußfolgerung, die Frage, was wir jetzt machen, betrifft, so hat Herr Zöpel zu Recht gesagt: Auch das Rezept der USA hat nicht verfangen. Natürlich müssen wir jetzt sagen, daß das, was wir uns als kritischen Dialog einmal als erfolgversprechend vorgestellt hatten, auch nicht zum Ziel geführt hat. Deshalb hier jetzt aber derartige Schuldzuweisungen vorzunehmen, ist völlig grotesk. Ich weise also mit Nachdruck die Rücktrittsforderungen gegenüber den Mitgliedern der Bundesregierung zurück.
Herr Fischer, Sie haben sich in dieser außenpolitischen Rede in einer Weise vorgestellt, daß es mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagt, wenn ich mir vorstelle, die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland könnte einmal in Ihre Hände gelegt werden.
Wir sollten uns keine Illusionen machen; auch das hat Herr Zöpel mit Recht gesagt. Sie machen sich doch auch Illusionen und tun so, als ob man durch ständige verbale Bekundungen irgend etwas ändern könnte. Was war denn der kritische Dialog anderes, als vor der Schwelle des totalen Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zurückzuschrecken? Das ist mißinterpretiert worden. Der kritische Dialog wurde so aufgefaßt, als ob es etwas Herausgehobenes, etwas von besonderer Zuwendung gewesen sei. Das ist nicht der Fall. Wir waren doch schon beim Minimum angekommen. Schauen Sie sich einmal die Zahlen über den Handelsaustausch mit dem Iran einmal an. Das ist doch lächerlich.
Wenn wir etwas erreichen wollen - da waren sich alle Fraktionen im Auswärtigen Ausschuß dieses Hauses bisher einig -, hat es keinen Sinn, die Beziehungen völlig abzubrechen. Wir haben in den letzten anderthalb Jahren im Auswärtigen Ausschuß sehr oft Gelegenheit gehabt, über das Problem zu reden, wie wir mit dem Iran umgehen, wie wir unsere Wertvorstellungen - weniger unsere Interessen, sondern unsere Wertvorstellungen - gegenüber einem derartig aggressiven Regime vertreten.
Es ist richtig, daß wir mit der bisherigen Politik keinen Erfolg gehabt haben. Hieraus Schuldzuweisungen abzuleiten, ohne zu sagen, wie man es hätte anders und besser machen können, ist aber etwas zuwenig. Wir ermuntern die Bundesregierung, zusammen mit ihren europäischen Partnern, die hier dankenswerterweise Solidarität geübt haben, den Versuch zu machen, zu neuen Definitionen, zu neuen Ansätzen zu kommen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Tippach, PDS.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Berliner „Mykonos"-Urteil ist eine Genugtuung für die Angehörigen der Ermordeten, und es ist eine Genugtuung für die Kurdische Demokratische Partei Irans. Es ist zugleich ein Signal an die Regime dieser Welt, daß es seinen Preis haben kann, wenn Oppositionelle verfolgt und ermordet werden.
Eines ist das Urteil jedoch mit Sicherheit nicht: Es ist kein Naturereignis aus heiterem Himmel. Es ist vielmehr ein Armutszeugnis für die deutsche Außenpolitik, wenn sich die Bundesregierung jetzt hinter dem Berliner Gericht versteckt und plötzlich nach einer Neubewertung der Beziehungen zum Iran ruft. Außenpolitik sollte von Außenpolitikerinnen und -politikern gemacht werden. Tatsächlich hat das Berliner Gericht doch nur festgestellt, was so ziemlich jeder wußte, nämlich daß Teheran Oppositionelle im Ausland ermorden läßt, ob im Nordirak, in der Türkei, in Frankreich, in Österreich oder eben jetzt auch in Deutschland.
All das hat trotz vielfältiger Kritik in der Vergangenheit die Bundesregierung nicht davon abgehalten, enge Beziehungen bis hin zur Geheimdienstkooperation mit dem Iran zu pflegen. Das Ergebnis dieser Freundschaft sind unter anderem mindestens 7 Milliarden DM ausstehende Hermes-Kredite, um deren Rückzahlung willen nun der politische Gestaltungsrahmen eingeschränkt ist. Jetzt wird aus der Koalition, zum Beispiel von seiten des Herrn Polenz, der nachher noch sprechen wird, ein Stopp von Hermes-Bürgschaften gefordert. Wir haben das bereits vor Jahren in diesem Hause eingebracht. Doch anstatt der Vernunft zu folgen, haben Sie damals unsere Anträge in den Papierkorb gesteckt. Ich bin jetzt sehr
Steffen Tippach
gespannt, wie Sie den Wählerinnen und Wählern Ihre Freigiebigkeit gegenüber gerichtsnotorischen Staatsterroristen erklären wollen.
Auch bei der Militärkooperation ist die Bundesregierung nicht eben zimperlich gewesen. Laut einer am 29. April 1995 zitierten Studie des Bundesausfuhramtes in Eschborn wurden allein 1994 Rüstungsgüter im Wert von 33,5 Millionen DM in den Iran geliefert. Wenn auch nur ein Zehntel dessen stimmt, was jetzt im „Stern" über die Dimension von Rüstungs- und Dual-use-Geschäften mit dem Iran gemeldet wurde, besteht hier dringender Erklärungsbedarf. Das ist hier bereits mehrfach angemahnt worden. Bekanntlich ist dort, wo Rauch ist, auch Feuer, zumindest in den meisten Fällen. Nur scheint es sich hier um einen ausgewachsenen Flächenbrand zu handeln.
Ein ebenso ausgewachsener Skandal ist die Geheimdienstmauschelei von Schmidbauer & Co mit den Drahtziehern des Mykonos-Attentats. Ein halbes Jahr nach dem Attentat formulierte die Sonderkommission des Bundeskriminalamtes in ihrem Abschlußbericht:
Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben wir es hier mit einer staatsterroristischen Operation im Auftrag des Iran zu tun.
Wiederum ein halbes Jahr darauf empfing 00-Schmidbauer den iranischen Geheimdienstboß Fallahian, und anstatt den Mann verhaften zu lassen, spendierte er ihm eine Sightseeing-Tour nach Pullach, in das Heiligtum sozusagen. So viel Wohlwollen gegenüber den Drahtziehern der Mykonos-Killer ist nicht nur politisch dumm, es ist auch schlicht unerträglich.
Nun herrscht also das große Heulen und Zähneklappern. Und was macht das Auswärtige Amt? Von politischer Strategie ist wiederum keine Spur zu sehen. Klaus Kinkel sitzt im Schützengraben und beschränkt sich darauf, mit seinem Kollegen Welajati Diplomatenpingpong zu spielen: Ziehst du deinen Botschafter ab, ziehe ich meinen zurück.
- Das ist eine neue Erfahrung; das sollten Sie einmal probieren. - Dann werden vier Diplomaten dort ausgewiesen, und vier werden dann wiederum von der anderen Seite zurückgeschickt usw.
Es steht jedoch tatsächlich eine Neubewertung der deutsch-iranischen Beziehungen an. Die Bundesregierung sollte nicht darauf warten, daß ihr wieder irgend jemand die Arbeit dazu abnimmt. Zu dieser Neubewertung gehört meines Erachtens das Einfrieren der diplomatischen Beziehungen auf einem niedrigen Niveau, eine Einstellung der Geheimdienstkooperation, eine Beendigung von Waffenlieferungen, eine Beendigung von Handels- und Wirtschaftsprivilegierungen und eine generelle Unterbindung der Dual-use- und Rüstungsgeschäfte.
Das Wichtigste an diesem Punkt, denke ich, ist jedoch - das hat Herr Zöpel meines Erachtens sehr richtig gesagt -, daß demokratische Oppositionskräfte innerhalb und außerhalb des Iran eindeutig und klar gestützt werden;
denn mit den bisherigen Halbheiten wird der Karren nur weiter an die Wand gefahren, und das nützt zuallerletzt den Menschenrechten.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vom Kammergericht Berlin am 10. April verkündete Mykonos-Urteil ist - das sehe ich genauso - mutig und verdient allen Respekt. Ich weise insbesondere die iranischen Vorwürfe gegenüber dem Gericht, den Richtern und selbstverständlich auch den Bundesanwälten, das heißt die Angriffe, die in den letzten beiden Tagen vorgetragen wurden, zurück.
Wir sind ein Rechtsstaat, und wir sind stolz darauf. Ich möchte wegen aller möglichen Gerüchte, die entstanden sind, deutlich und klar sagen - ich bin froh, daß die Bundesanwälte das selber im Prozeß gesagt haben -: Es gab keinerlei Einwirkungen irgendwelcher Art auf die Justiz.
Im übrigen sind wir das erste und einzige Land, das einen solchen Prozeß durchgeführt hat, und zwar bis zum Ende. Es gibt drei andere Länder, in denen die prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind - in allen möglichen Richtungen. Daß wir ein Rechtsstaat sind und was für ein Rechtsstaat wir sind, zeigt, daß wir dieses Verfahren bis zum Ende unbeeinflußt durchgeführt haben.
Die Achtung vor der Entscheidung des Kammergerichts drückt sich in den Erklärungen aus, die die Bundesregierung und die Europäische Union am Tag der Urteilsverkündung veröffentlicht haben. Darüber hinaus haben wir mit dem Rückruf des deutschen Botschafters aus Teheran zur Berichterstattung sowie mit der Ausweisung von vier iranischen Diplomaten noch am gleichen Tag deutlich und klar reagiert. Das war nicht nur „Pingpong", Herr Kollege Tippach.
Unsere europäischen Partner haben - mit Ausnahme Griechenlands - ihre Solidarität mit Deutschland und seiner Justiz durch den gleichzeitigen Rückruf ihrer Missionschefs aus Teheran unter Beweis gestellt. Dafür danke ich ihnen. Ich danke auch
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Australien; ich danke Kanada und Neuseeland, die sich dem europäischen Schritt angeschlossen haben.
Ausgehend von den Feststellungen des Kammergerichts Berlin erkläre ich für die Bundesregierung, daß die Beteiligung staatlicher iranischer Stellen an dem Anschlag einen inakzeptablen, eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Die Bundesregierung kann und wird ein derartiges Vorgehen im Bereich der internationalen Beziehungen nicht hinnehmen. Als Konsequenz daraus haben wir gegenüber unseren Partnern nachdrücklich darauf gedrungen und auch durchgesetzt, den „kritischen Dialog" auszusetzen, den die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union 1992 unter britischer Präsidentschaft in Edinburgh beschlossen haben.
Wenn es die Zeit zulassen würde, würde ich zum „kritischen Dialog" gerne ein bißchen mehr sagen. Alle, die sich jetzt vorstellen, man könne als Bundesrepublik Deutschland einfach aussteigen und sich aus diesem Konsens verabschieden, hätten bei den letzten zwei Außenministertagungen vor dem Mykonos-Urteil dabeisein sollen! Ich will deutlich und klar sagen: Wie gut es war, daß wir nicht ausgeschert sind, hat sich in der Solidarität gezeigt, die wir jetzt erwarten durften, bekommen haben und die für meine Begriffe außerordentlich wichtig war und bleibt.
Die Bundesregierung hat ihre Haltung wenige Stunden nach der Urteilsverkündung der iranischen Seite auch auf diplomatischer Ebene zur Kenntnis gebracht und deutlich gemacht, daß wir nach einem so elementaren Verstoß gegen das Völkerrecht nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die Außenminister der Europäischen Union werden sich auf meinen Vorschlag hin auf dem Allgemeinen Rat am 29. April in Brüssel eingehend mit der Frage beschäftigen, wie sich die EU ihre künftigen Beziehungen zum Iran vorstellt und gestalten will. Ich habe bereits erklärt - und dabei bleibt es -: Wir brauchen eine Neubewertungspolitik gegenüber dem Iran. Wir legen besonderen Wert darauf, daß wir uns auch bei der Neubewertung dieser Politik im Konsens mit unseren europäischen Partnern bewegen.
Die Öffentlichkeit in Deutschland und in Europa ist zu Recht über die Feststellungen im Urteil empört. Gleichzeitig liegt es aber in unserem Interesse - so ist es auch bei unseren europäischen Partnern -, daß die Lage nicht weiter eskaliert. Ich denke dabei insbesondere an die Sicherheit der Deutschen im Iran - übrigens auch an die Sicherheit meiner Botschaftsangehörigen. Der Iran hat mehrfach zugesagt, daß die Sicherheit der Deutschen gewährleistet ist. Da nehmen wir die iranische Regierung beim Wort.
Wir wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Gesprächsfaden nicht voll abreißen lassen - vor allem, weil wir klare Forderungen an den Iran haben. Dazu gehört selbstverständlich die Einhaltung der Menschenrechte. Wir werden auch in Zukunft gegenüber dem Iran auf der Sicherheit für Salman Rushdie und Gerechtigkeit für den iranischen Schriftsteller Sarkuhi bestehen, über dessen Schicksal wir im Augenblick leider zuwenig wissen. Wir haben uns aber vor und nach dem Urteil um Aufklärung bemüht und werden uns weiter bemühen.
Wir setzen uns weiterhin für die religiösen Minderheiten ein, insbesondere für die Religionsgemeinschaft der Bahai. Wir werden auch künftig auf eine Änderung der Haltung des Iran zum Friedensprozeß im Nahen Osten hinwirken. Wie wichtig das ist, hat die Zusammenkunft der europäischen Außenminister bei der Barcelona-II-Konferenz vor zwei Tagen in Malta wieder deutlich gezeigt.
Wir werden gegenüber dem Iran darauf bestehen, daß seine sämtlichen Aktivitäten, die darauf gerichtet sind, im Ausland lebende iranische Oppositionelle zu verfolgen und deren Leib und Leben zu gefährden, beendet werden. Die Vorwürfe gegen die Bundesregierung in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in diesem Zusammenhang sind
- erlauben Sie mir bitte, das zu sagen - abwegig.
Wenn es so einfach wäre, Herr Kollege Fischer, wie Sie es dargestellt haben, dann allerdings hätten wir vielleicht ein paar Fehler gemacht. Aber so einfach ist es nicht. Es ist nur gut, daß Sie in der Opposition sitzen und keine Regierungsverantwortung tragen. Sie würden, so wie Sie heute aufgetreten sind, die Beziehungen zu einigen Ländern nicht wiedergutmachbar in den Keller fahren.
Ich will, weil wir im Auswärtigen Ausschuß eine sehr ruhige und sachorientierte Debatte geführt haben, noch einmal darauf zu sprechen kommen. Es wird immer wieder behauptet: Die Bundesregierung hat das alles vorher gewußt und hätte doch längst entsprechend handeln können. - Ich habe im Auswärtigen Ausschuß - Herr Kollege Fischer, wenn Sie in diesem Gremium Mitglied wären, wüßten Sie das - in den letzten Jahren zu diesem Thema unzählige Male vorgetragen. Wir wußten immer relativ genau über den aggressiven Fundamentalismus, über die Menschenrechtsverletzungen und viele Einzelaktionen des Iran Bescheid. Ich muß Ihnen aber entgegenhalten: Das, was die berühmte Quelle C im MykonosProzeß ausgesagt hat, ist uns in dieser Präzision erst während des Prozesses - auf den wir nun wahrlich nicht einwirken konnten und wollten - bekannt geworden. Deshalb ist es absurd, den Vorwurf zu erheben, wir hätten früher handeln können. Ich möchte wissen, wie. Ich warte sowieso darauf, daß bessere Vorschläge gemacht werden. Die Vorschläge, die Sie, Herr Kollege Tippach, gemacht haben, waren
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
auch nicht neu. Darüber haben wir im Auswärtigen Ausschuß unzählige Male gesprochen.
Meine Damen und Herren, wenn man über dieses Thema spricht, muß man in Betracht ziehen, daß das deutsche und das iranische Volk durch eine hundertjährige Tradition guter Beziehungen miteinander verbunden sind; das muß man sagen dürfen. - Ich spreche vom iranischen Volk. -
Eine große Zahl von Iranern hat in Deutschland studiert und umgekehrt. Viele von ihnen haben heute Führungspositionen inne und stehen uns sehr nahe. Es gab außerordentlich enge universitäre Beziehungen. Auch dies sollten wir bei der zukünftigen Gestaltung der Beziehungen zum Iran berücksichtigen.
Ich sage mit allem Nachdruck und wissend, was geschehen ist: Was in vielen Jahren aufgebaut wurde, sollte auch in Zeiten schwersten Sturms - und diese haben wir im Augenblick - nicht ohne Not völlig eingerissen werden.
Gerade auch mit Blick auf diejenigen, die nicht hinter dem Regime in Teheran stehen, muß im Iran der beharrliche Versuch fortgesetzt werden, Verbesserungen im iranischen Verhalten auf den Gebieten zu erreichen, die Anlaß zu Sorge und Kritik geben.
Wenn man über die Gespräche und all das, was in den letzten Jahren geschehen ist, spricht, muß man zugute halten, daß wir einige, wenn auch nicht ausreichende Ergebnisse - das habe ich immer eingeräumt: in sämtlichen Gremien, auch im Deutschen Bundestag - erzielen konnten.
Es war deutschen Bemühungen zu verdanken, daß der Iran das Chemiewaffenübereinkommen angenommen hat. Es war deutschen Bemühungen zu verdanken, daß der Iran der Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages zugestimmt hat. Es war deutschen Bemühungen mit zu verdanken
- Herr Fischer, ich weiß, Sie wissen das besser; Sie sind sehr intensiv mit der Außenpolitik befaßt -, daß die Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergiebehörde wieder eingesetzt hat. Es konnte durch uns erfolgreich zwischen Hisbollah und Israel vermittelt werden.
Viele, die uns angeklagt haben und mit unserem Verhalten gegenüber dem Iran nicht zufrieden waren, auch sehr große Länder dieser Erde, haben sich merkwürdigerweise immer an die Bundesregierung gewandt, wenn es Probleme gab. Das ist auch etwas, was ich über „den Teich hinweg" immer deutlich und klar gesagt habe. Wenn man konsequent wäre, sollte man uns nicht auf der einen Seite anklagen, weil wir diese Beziehungen zu Iran haben, sie aber auf der anderen Seite in Anspruch nehmen, und zwar in vielfältiger Weise, wenn man Probleme hat. Das zeigt doch nur, daß man durch Gespräche weiter kommt, als wenn man jemanden gesprächslos in die Ecke stellt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lippelt?
Nein, ich möchte gerne zum Ende kommen.
Wir müssen alles vermeiden, was im Iran radikale Kräfte stärkt. Eine langfristig angelegte deutsche und europäische Politik kann an der Tatsache nicht vorbeigehen, daß der Iran in der Region ein bedeutender Faktor ist. Auch das muß man sagen - sagen dürfen. Seine geostrategische Lage verschafft ihm eine Schlüsselstellung in Fragen der Sicherheit. Ohne oder gar gegen den Iran kann in der Region langfristig keine erfolgreiche Politik betrieben werden.
Dauerhafte Stabilität läßt sich nur erreichen, wenn es gelingt, den Iran zu einer Politik der Mäßigung zu bewegen. Dies ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil uns die anhaltenden Aufrüstungsbemühungen in der Region große Sorgen machen.
Aus unserer Sicht, die alle unsere europäischen Partner teilen, bleibt es daher entscheidend, sich Möglichkeiten der Einwirkung auf den Iran zu erhalten und nicht auf eine Politik der Isolierung zu setzen, die nicht zum Erfolg führt. Das war und bleibt unsere Haltung. Die Reaktion der iranischen Regierung und anderer offizieller Stellen auf die Entscheidung Deutschlands und seiner europäischen Partner in der vergangenen Woche zeigt - bei Ausnahmen - insgesamt, daß auch Teheran den Stellenwert seiner Beziehungen zu Deutschland und zu Europa sieht und kein Öl ins Feuer gießen will.
Ich möchte gern von hier aus für die Bundesregierung einen Appell an den Iran richten. Ich weiß, daß man heute sehr genau darauf achtet, was hier gesagt wird.
- Wenn ich mir die letzten Jahre ansehe, stelle ich fest: Sie haben richtig kluge Bemerkungen gemacht und vor allem enorme Beiträge geleistet. Im Auswärtigen Ausschuß war bei Ihnen aber immer Funkstille; da habe ich nichts gehört. Ich habe von Ihnen immer nur in Erklärungen außerhalb dieses Hauses gehört.
Ich möchte einen Appell an die Vernunft des Iran richten. Er sollte zurückkehren zum Völkerrecht und zu einer Politik, die aus der Ecke, in die sich der Iran selbst gestellt hat, herausführt, zu einer Politik, die ihm auch künftig ein Gespräch ermöglicht - im ureigenen Interesse des Iran selbst.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz, CDU/CSU- Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte heute und auch die Diskussion im Auswärtigen Ausschuß haben gezeigt, daß es eine weitgehende Einigkeit in der Analyse und auch in den Zielen der Iranpolitik gibt. Wir wollen, daß der Iran vom Staatsterrorismus abläßt, daß er die Menschenrechte achtet, daß er aufhört, den Nahost-Friedensprozeß zu bekämpfen, und daß er nicht länger nach Massenvernichtungswaffen strebt.
Weniger klar ist allerdings, wie wir diese Ziele erreichen oder ihnen wenigstens näherkommen können. Die Substanz der konkreten Vorschläge, die Sie, Herr Fischer, vorhin dazu gemacht haben - lassen Sie mich das so sagen -, entspricht keineswegs dem selbstgerechten Ton, in dem Sie sie vorgetragen haben. Sie konnten wieder einmal nicht der Versuchung widerstehen, auch diese Frage über einen innenpolitischen Leisten zu schlagen.
Aber ich will das hier, da es nicht so einfach ist, Ziele und Mittel in Einklang zu bringen, nicht als Vorwurf formulieren.
Die Europäische Union hat diese Ziele mit der Politik unter der Überschrift „kritischer Dialog" nicht erreichen können. Aber auch die USA haben sie mit ihrer Politik der Isolierung und mit Wirtschaftssanktionen nicht - ich füge hinzu: leider nicht - erreichen können. Man denke etwa daran, daß die Russen das Kernkraftwerk Buschihr fertig bauen - von dem Gasgeschäft des Iran mit der Türkei sowie den Kontakten zu China und Nordkorea ganz zu schweigen.
Ein Grund für die bisher ausbleibenden Erfolge liegt nach meinem Dafürhalten darin, daß die Europäische Union und die USA in den Mitteln ihrer Politik bisher teilweise widersprüchlich agiert haben. Deshalb ist es gut, wenn es jetzt zu einer Neubestimmung unserer Politik und -wir haben das in unserem Antrag deutlich gemacht - zu konsultativen Abstimmungen mit den USA kommt. Denn auch die USA scheinen erkannt zu haben, daß es in bezug auf ihre eigene Iranpolitik Korrekturbedarf gibt.
Wir müssen also jetzt alles tun, damit wir vom Iran nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Das gilt zunächst einmal für die Länder innerhalb der Europäischen Union selbst, und es gilt natürlich auch für das Verhältnis der Europäischen Union zu den USA. Worum geht es? Der Iran muß sein Verhalten und seine Politik ändern. Erst dann können die Beziehungen wieder besser werden. Es liegt am Iran, ob sie besser werden können oder nicht.
Zunächst ist eine unmißverständliche Antwort der Europäischen Union auf den iranischen Staatsterrorismus, wie ihn das Gericht im „Mykonos"-Urteil festgestellt hat, erforderlich. Die erste Reaktion der Europäischen Union war richtig und angemessen.
Ich will nur darauf hinweisen, daß in unserem Entschließungsantrag das Wort „Abberufung" ein Schreibfehler ist. Es muß heißen: „den Rückruf des deutschen Botschafters aus dem Iran ..." Denn die diplomatischen Beziehungen sollen ja - da sind wir uns alle einig - nicht abgebrochen werden.
Die erste Reaktion war gut. Aber es geht jetzt darum, daß eine zweite Phase folgt. Denn sonst wäre die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union wieder in Frage gestellt. Das heißt: Es sollte keine höherrangigen diplomatischen Kontakte und Begegnungen von EU-Staaten mit dem Iran geben; es sollte keine staatliche Förderung der Wirtschaftsbeziehungen durch Mitglieder der Europäischen Union geben. - In Deutschland sind das die Hermes-Kredite. - Davon sind allerdings die privaten Wirtschaftsbeziehungen zu unterscheiden. Hier sprechen wir uns nicht für Sanktionsmaßnahmen wie Embargos oder ähnliches aus. Allerdings muß natürlich das mißbräuchliche Aufkaufen von Dual-use-Gütern im Hinblick auf eine spätere Verwendung als Rüstungsgüter unterbunden werden. Die diesbezüglichen Fahndungsanstrengungen dürfen nicht nachlassen.
Entscheidend ist, daß wir keine mißverständlichen Signale aussenden. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage der Geheimdienste von einiger Bedeutung. Ich frage: Kann man bei den Treffen der EU-Außenminister nicht prüfen, ob man die Geheimdienstmitarbeiter an den iranischen Botschaften in allen Staaten der EU nach Hause schicken kann? Wir wissen doch heute, nach dem „Mykonos"-Urteil, welche Rolle diese hauptberuflichen Geheimdienstmitarbeiter für die Infrastruktur der Terrorteams gespielt haben. Wir müssen diese Maßnahmen jedenfalls so lange aufrechterhalten, bis der Iran unter Beweis gestellt hat, daß er beispielsweise vom Staatsterrorismus abläßt. Nun stellt sich die Frage: Wie kann man beweisen, daß man etwas nicht mehr tut? Ich erinnere daran, daß der Iran einen staatsterroristischen Akt vor aller Welt angekündigt und die Ausführung mit einer Belohnung verbunden hat. Ich meine die Ermordung von Salman Rushdie. Wir erwarten, daß der Iran diesen Mordaufruf zurücknimmt und daß er vor allen Dingen seinen religiösen Stiftungen verbietet, ein Kopfgeld auf die Ermordung von Rushdie auszusetzen.
Wenn sich der Iran in diesem Sinne positiv bewegt, dann gibt es auch wieder Möglichkeiten für eine Verbesserung der Beziehungen. Auch in Zukunft wird es darauf ankommen, Zugeständnisse und Vergünstigungen, an denen der Iran ein Interesse hat, an ganz bestimmte Veränderungen in seinem Verhalten, die in Richtung auf die vorhin genannten Ziele gehen, zu binden.
Ich weiß nicht, Herr Minister, ob es gelingen kann, die EU-Partner zu einer gemeinsamen Politik zu bewegen, die diese und andere Elemente enthält. Wir wünschen Ihnen jedenfalls auf diesem Weg viel Erfolg bei der Außenministertagung am 29. April. Der
Ruprecht Polenz
Antrag der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion soll Ihnen dabei den Rücken stärken.
Das Wort hat der Abgeordnete Karsten Voigt, SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, ich bedaure, daß Sie Ihre Rede vor dem Plenum des Deutschen Bundestages nicht genutzt haben, um einen früheren Fehler zuzugeben und gleichzeitig zu korrigieren. Ich meine Ihren Fehler, daß Sie damals wegen der Ausladung des iranischen Außenministers durch den Bundestag die Islam-Konferenz abgesagt haben. Im nachhinein ist wohl klar, daß Welajati nicht den Islam repräsentiert und daß eine solche Konferenz dringend erforderlich ist. Ich fordere Sie auf, diese Konferenz endlich durchzuführen, und zwar ohne Welajati einzuladen.
Das zeigt symbolisch, daß die Fehler der Bundesregierung bei einem gewichtigen Punkt weiter zurückreichen, als sie es in dieser Debatte nach dem Urteil in Berlin zugibt.
Ich möchte bewußt den Ton übernehmen, den mein Kollege Zöpel heute angeschlagen hat. Er hat nämlich jenseits aller parteitaktischen und innenpolitischen Erwägungen versucht, festzustellen, welche Prinzipien wir haben, welche Schlußfolgerungen für die Außenpolitik wir daraus ziehen und welche Schwierigkeiten es gibt, diese Prinzipien in praktisches Handeln umzusetzen.
Dabei hilft es nicht allein, daß wir hier gemeinsam der Auffassung sind, daß unsere Außenpolitik auch den Menschenrechten, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, dem Völkerrecht und vor allen Dingen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dienen soll. Diese Auffassung haben wir alle schon immer geteilt. Diese Auffassung teilen wir auch mit den Amerikanern. Trotzdem kann man zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen kommen.
Ich möchte an den Satz anknüpfen, daß nicht nur unsere Iran-Politik gescheitert ist - mit „unsere" meine ich die der Bundesregierung -, sondern auch die der USA. Ich möchte darauf hinweisen, daß Hoagland in einem Artikel der heutigen Ausgabe der „International Herald Tribune" sagt: Die Iran-Politik ist gescheitert. - Er spricht dann ein paar spezifisch die Amerikaner betreffende Punkte an und zieht die Schlußfolgerung - auch unter Berufung auf Diskussionen in der amerikanischen Administration -, daß man die Seeblockade gegenüber dem Irak jetzt auf den Iran ausdehnen müsse und daß man eventuell genauso wie gegen den Irak gezielte militärische Schläge auch gegen den Iran vornehmen müsse. - Meine Vermutung ist, daß der Kollege Joschka Fischer diesen Schlußfolgerungen der Amerikaner aus dem Scheitern der Iran-Politik nicht unmittelbar zustimmen würde. Ich zumindest würde es nicht tun.
Es reicht nicht, Ziele und Werte zu beschreiben, Prinzipien zu definieren und das Scheitern der bisherigen Iran-Politik festzustellen. Gleichzeitig muß man offen die Schwierigkeiten zugeben, die mit einer anderen Iran-Politik verbunden sind.
Ich glaube, wir müssen gegenüber dem Iran deutlich machen, daß die deutsch-iranische Freundschaft, die es meiner Meinung nach gibt und auf die Sie Bezug genommen haben, nicht jenseits von Menschenrechten, Demokratie und Völkerrecht steht und erst recht nicht mit internationalem Terrorismus zu vereinbaren ist.
Die iranische Vorstellung war, daß die deutsch-iranische Freundschaft über Kaiser Wilhelm, die Weimarer Republik und Adolf Hitler bis hin zur Bundesrepublik reicht. So geht das nicht! Das kann man zwischen Völkern als Sympathie empfinden. Aber die Deutschen haben in dieser Frage heute eine Werteorientierung, auch in der Außenpolitik. Daran mißt sich der Inhalt unserer Beziehungen und die Möglichkeit zur Entfaltung der Beziehungen und nicht an der abstrakten Berufung auf die deutsch-iranische Freundschaft per se.
Das ist also eine Fehleinschätzung, die der Iran gemacht hat und die er auch heute offensichtlich macht. Er meint nämlich - so die Stellungnahme von Khamenei -, wir hätten, weil wir das Gerichtsurteil und die Richter verteidigen, etwas gegen das iranische Volk. Das haben wir natürlich nicht.
Zweitens gibt es einen Punkt, der heute nicht angesprochen wurde, der für uns aber ganz zentral ist. Christoph Zöpel hat das im Zusammenhang mit der Nahostpolitik erwähnt. Ich habe in meinen Gesprächen mit den Iranern immer festgestellt, daß sie glauben, wir setzten uns für den Nahost-Friedensprozeß, für die israelische Staatssicherheit, für die Garantie Israels, in gesicherten Grenzen zu existieren, aus irgendeinem Schuldgefühl heraus ein. Das ist eine Fehleinschätzung. Wir empfinden, nicht ohne dabei zugleich auch Sympathien für die Palästinenser zu haben, heute eine tiefe Sympathie für die Israelis. Unsere Politik ist in dieser Frage nicht nur von Schuldgefühlen, sondern auch von Sympathie geleitet - sowohl für die Israelis wie auch für die Palästinenser. Jeder Versuch der Iraner, uns durch ihre Politik von dieser Haltung abzubringen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Drittens. Wie Herr Kinkel gesagt hat und wie zumindest einige im Raum schon wußten, haben die Iraner eine Konferenz, eine Besprechung mit oberster Führung abgehalten, auf der sie Bilanz gezogen haben zu den Punkten, in denen auch sie sich geirrt
Karsten D. Voigt
haben. Sie glaubten nämlich, sie könnten Deutschland und Europa sozusagen als Hebel benutzen, um die amerikanische Politik zu attackieren. Auch das wird nicht klappen.
Wir sind in der Frage der Iran-Politik der USA anderer Meinung. Aber natürlich haben die deutschamerikanischen Beziehungen für uns einen höheren Rang als die deutsch-iranischen Beziehungen. Das war so und das bleibt so, auch im Rahmen dieser Handlungsbereiche. Nicht etwa weil die Iraner die Handlungsmöglichkeiten Deutschlands falsch eingeschätzt hätten, sondern weil wir andere Prioritäten haben, werden sie auch in diesem Punkt weiter auf Granit beißen, sind das Fehleinschätzungen, wenn sie ihre Politik daran orientieren wollen.
Nun zu dem, was möglich ist. Christoph Zöpel hat dazu etliches gesagt. Aber man muß gleichzeitig sehen, daß die Politik genereller Sanktionen, die die Amerikaner und auch einige hier im Raum befürworten, schon allein aus dem Grunde nicht zieht, weil wichtige Nachbarn des Iran eine solche Politik ökonomischer Sanktionen nicht nachvollziehen, sondern zur Zeit das Gegenteil machen.
Ich meine Rußland, in wachsendem Maße China und den - wie man so schön sagt - Bündnispartner Türkei.
Eine Politik ökonomischer Sanktionen, die ich moralisch verstehe, ist politisch nur sinnvoll, wenn sie den gewünschten Effekt hat. Wenn die angrenzenden Staaten nicht mitmachen, dann blamiert sich nicht derjenige, der mit Sanktionen bedroht wird, sondern derjenige, der sie androht. Deshalb muß man sich sehr genau überlegen, ob das bewirkt wird, was wir wirklich wollen. Es reicht nicht, zu sagen: Weil da etwas Böses ist, müssen wir etwas tun.
Ungeachtet all der bestehenden Schwierigkeiten, auch angesichts der diametral entgegengesetzten Auffassung in bezug auf Völkerrecht und Menschenrechte, in Fragen der Demokratie und des Nahostprozesses, müssen wir versuchen - anders geht es nicht, wenn man keine Möglichkeit hat, das System zu stürzen, und wenn man die Probleme nicht mit Krieg lösen will; wir wissen ja auch, daß die Probleme dadurch in Wirklichkeit nicht gelöst, sondern verschärft werden -, die Politik des Iran zu verändern: mit Druckmitteln und mit Anreizen.
Druckmittel sind dort einzusetzen, wo sich die Iraner im Sinne unserer Zielvorstellungen falsch verhalten, Anreize dort, wo sie sich korrekt verhalten. Das tun sie zum Beispiel im Kaukasus, wo sie - jenseits aller islamischen Ideologie - in dem Konflikt zwischen Afghanistan und Armenien eine sehr staatsrationale Politik betreiben. Sie tun es auch im Bereich Zentralasiens. Sie tun es zum Teil in Afghanistan, weniger in der Golfregion, leider überhaupt nicht im Nahen Osten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wollte damit nur deutlich machen, daß wir uns - jenseits der Prinzipien und der Notwendigkeit, eine neue Politik zu bestimmen - jetzt eigentlich erst am Anfang einer Diskussion über eine solche Politik befinden. Sie wird umstritten sein, nicht nur hier im Haus, sondern auch auf der Ebene der Europäischen Union und in den Beziehungen zwischen uns und den Vereinigten Staaten. Sie wird aber nur erfolgreich sein, wenn wir sie alle gemeinsam vertreten: hier in Deutschland, in Europa und zusammen mit den Vereinigten Staaten.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Der Analyse von Karsten Voigt ist in vielen Punkten zuzustimmen. Nur, eigentlich hat er genau das gesagt, was andere vor ihm in der Debatte aus seiner Fraktion und aus der Grünen-Fraktion negiert haben, nämlich daß der „kritische Dialog" im Ansatz nicht verfehlt war. Er ist nun in der Praxis gescheitert, auf Grund von Umständen, die objektiv nicht im Bereich politischer. Entscheidungen Deutschlands liegen. Es kommt also jetzt darauf an, eine Politik der aktiven Eindämmung zu betreiben.
Ich bin dagegen, daß wir in Zukunft mit großen Titeln herumfuhrwerken. Ich bin dafür, daß wir einen sehr pragmatischen Ansatz in dieser Politik wählen, schon allein deshalb, um nicht Mißverständnisse zu erzeugen und nicht falsche Interpretationen der Politik, gerade auch im Iran, zuzulassen. Insofern ist ihm zuzustimmen.
Man muß aber zwischen einer Politik der aktiven Einwirkung und opportunistischer Außenpolitik unterscheiden. Die Scheidelinie zwischen den beiden wird sicherlich dann überschritten sein, wenn wie hier bei der versteckten Außenpolitik oder Innenpolitik des Iran - wie auch immer Sie wollen - mit Mord und Totschlag hantiert wird.
Selbstverständlich müssen wir uns bei der Frage unserer Reaktion - ich will noch einmal auf den kritischen Dialog zurückkommen - daran erinnern, daß wir auch Interessenlagen hatten, die den „kritischen Dialog" durchaus als sinnvollen Politikansatz erscheinen ließen. Erinnern wir uns daran, daß auch wir das Gespräch, den Kontakt gesucht und gebraucht haben, um deutschen Staatsbürgern, die sich in äußerst schwierigen Situationen befanden, einen Weg in die Freiheit zu verschaffen, und daß das Land, das am meisten nicht nur darunter leidet, sondern daran krankt und darauf hofft, daß der Frie-
Christian Schmidt
densprozeß, der gegenwärtig so schwierig ist, nicht von einem Land wie dem Iran torpediert wird, nämlich Israel, die Ambivalenz der Politik gegenüber dem Iran in vielen Diskussionen, Debatten und Äußerungen darstellt.
Ich möchte auf das hinweisen, was Ministerpräsident Netanjahu vor kurzem in Jerusalem zu Staatsminister Schmidbauer gesagt hat. Er sprach davon, daß wir in gewissen Bereichen aktive Einwirkung durch Druckmittel und Belohnungen - lassen Sie mich sie so nennen - für sinnvolles und vernünftiges Verhalten im Rahmen des Völkerrechts und der Menschenrechte betreiben müssen.
- Nein, ich habe sehr deutlich zwischen dem unterschieden, was Politik erreichen kann, und dem, bei dem Politik nicht mehr als Mittel verstanden werden kann, sondern wo Gerichte zu sprechen haben. Diese Scheidelinie, lieber Herr Fischer, ist in Deutschland sehr deutlich klargemacht worden. Ich wünschte mir, daß alle anderen europäischen und unsere amerikanischen Verbündeten die deutsche Entwicklung bei zukünftigen Fällen genauso unterstützen. Ich gehe davon aus und hoffe das. Die Vergangenheit hat das leider nicht ganz nachgewiesen.
Es ist die falsche Behauptung aufgestellt worden, es habe Rüstungsexporte in den Iran gegeben. Ich möchte das klarstellen: Wir sind dem nachgegangen. Laut Auskunft aus Eschborn hat es keinerlei Rüstungsexporte in den Iran gegegeben.
- Sie müssen sich schon auf das verlassen, was Ihnen auf klare Fragen als klare Auskunft gegeben wird.
Der Kollege Voigt hat die Problematik angesprochen, die uns bei dem Thema Embargo oder komplette Isolation zurückhaltend werden läßt: Wir müssen damit rechnen, daß ein politisches Vakuum, wenn es denn entsteht, von anderen ausgefüllt wird, die möglicherweise die Achtung von Menschenrechten nicht so hoch ansetzen und eher für wohlfeil halten, als wir das tun.
Im übrigen darf ich bei dieser Gelegenheit sagen: Ich halte überhaupt nichts davon, mit dem Thema Wirtschaftssanktionen im Nahen Osten herumzufuhrwerken. Ich würde allen Kollegen empfehlen, solche Forderungen, ob gegen Israel oder sonst jemanden gerichtet, in Zukunft zu unterlassen. Sie führen den Friedensprozeß überhaupt nicht voran.
Was tun? Pragmatische Politik ohne Titel, die Sicherheit Israels, unsere Sicherheit im Auge behalten und die deutsch-amerikanische Abstimmung suchen. Ich meine, daß hier auch das Parlament und nicht nur die Administration gefragt ist. Wir müssen zur Kenntnis nehmen und wissen, daß ein wesentlicher Impuls für die Politik jenseits des Atlantik vom Kongreß gekommen ist.
Wir sollten den Kongreß einladen, sich mit uns in den nächsten Wochen und Monaten auf Arbeits- und Gesprächsebene zusammenzusetzen und wirklich vorurteils- und animositätenfrei über die Frage zu diskutieren, wie wir gemeinsam eine sinnvolle Politik der aktiven Einwirkung ohne einen besonderen Titel, die zwischen der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten von Amerika und Israel abgestimmt ist, erreichen können. Dann bin ich überzeugt, daß uns der Erfolg gegenüber dem Iran recht geben wird.
Danke.
Nach § 30 unserer Geschäftsordnung, Erklärung zur Aussprache, die eigene Person betreffend, erteile ich nun dem Abgeordneten Jürgen Möllemann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Dr. Zöpel hat mich persönlich angesprochen, in einer zwar relativierenden Art, aber nach dem Motto: „Ich habe die Erklärung zwar nicht genau zur Kenntnis genommen, aber wenn er das gesagt haben sollte, dann möchte ich das rügen."
- Ja. Sie haben gesagt, Sie hätten nicht gehört, was ich wörtlich gesagt habe, aber für den Fall, daß es so sei, wollten Sie vorsorglich schon einmal rügen, daß ich erklärt hätte, Menschenrechte hätten hinter wirtschaftlichen Interessen zurückzustehen.
Ich weise das zurück. Es geht darum, daß wir in dem Fall, über den wir heute reden, wie in vielen Fällen abzuwägen haben, wie wir die verschiedenen Interessen, die unsere Außenpolitik bestimmen, gewichten.
105 Staaten dieser Welt - so der letzte Jahresbericht von Amnesty International - verletzen regelmäßig und systematisch die Menschenrechte. Nicht wenige darunter beauftragen ihre Geheimdienste, Oppositionelle auch mit Mord aus dem Weg zu räumen. Wir haben stets abzuwägen, wie wir mit diesen 105 Staaten dieser Welt umgehen.
Ich bin jetzt 25 Jahre in diesem Haus und habe zu denen gehört, die sich dafür eingesetzt haben, mit der Sowjetunion weiter politische und wirtschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten, auch zu Zeiten, als jeder wußte, daß diese Oppositionelle ermorden läßt, auch auf deutschem Boden, daß diese die Verantwortung dafür hat, daß Deutsche, die Deutschland verlassen wollten und in den anderen Teil Deutschlands wollten, an der Grenze erschossen wurden, daß diese die Verantwortung dafür hatte, daß ein Angriffskrieg
Jürgen W. Möllemann
gegen Afghanistan geführt wurde. Wir haben abgewogen: Was ist zweckmäßiger?
Sie gehören zu denen, verehrte Kolleginnen und Kollegen in der SPD, die diese Abwägung geteilt haben. Deswegen steht es Ihnen nicht zu, solchen, die heute im Blick auf ein anderes Land eine ähnliche Abwägung treffen, mit moralischer Entrüstung entgegenzutreten.
Hermes-Bürgschaften gewähren wir auch einer ganzen Reihe von Ländern, in denen die Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt werden. Hermes-Bürgschaften gewähren wir auch Ländern, bei denen wir bedauerlicherweise unterstellen müssen, daß sie ihre Opposition auch gewaltsam bekämpfen, wobei die Ermordung von Menschen keine andere Qualität dadurch bekommt, daß sie auf einem anderen Territorium erfolgt. Entscheidend ist die politische Entscheidung einer Regierung, Menschenrechtsverletzungen durchzuführen.
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß wir die deutschen Interessen dadurch am überzeugendsten wahrnehmen, daß wir uns von Jahr zu Jahr ein Land auf dieser Welt herauspicken, das dann eine Zeitlang im Mittelpunkt steht, daß dann das nächste kommt, sich aber nichts ändert. Ich glaube, wir sind vernünftig beraten, nüchtern abzuwägen, wie wir unsere Interessen in einem gestaffelten Prozeß am besten wahrnehmen.
Ich bin es leid, auch als Abgeordneter in diesem Hause, von amerikanischen Kollegen Vorhaltungen gemacht zu bekommen im Blick auf unsere Politik gegenüber dem Iran, von der ich meine, sie muß im Wege eines intensiven Dialogs fortgesetzt werden. Der Dialog ist nötig, wenn man Probleme hat, und nicht überflüssig. Ich bin es leid, Vorhaltungen von einem Land gemacht zu bekommen, das, um Öl aus Kasachstan ans Meer zu transportieren, mit den Taliban paktiert, die ganz gewiß keine menschenrechtsfreundlichen Beziehungen zu dem Thema haben, das wir heute diskutieren.
Herr Kollege Möllemann, Sie sollten doch zum Schluß kommen.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, weise ich die Kritik des Kollegen Zöpel wegen einer Bemerkung, die ich gemacht habe, zurück. Ich glaube, wir sind gut beraten, die verschiedenen Belange nüchtern abzuwägen, und setze weiter darauf, daß intensive Kontakte, Beratungen und diplomatischer Dialog mehr bewirken als verbale Bekundungen, die man selektiv auf bestimmte Länder anwendet.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/7441. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/ 7445. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a bis c sowie Zusatzpunkt 4 auf:
18. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes
- Drucksache 13/6724 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über den Durchgangsverkehr von Exekutivorganen und die Durchbeförderung von Häftlingen
- Drucksache 13/7285 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
c) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehem. Carl-Schurz-Kaserne Bremerhaven
- Drucksache 13/7204 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
ZP4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Marieluise Beck , Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Arbeits- und sozialrechtlicher Schutz für abhängige Selbständige
- Drucksache 13/7421—Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Eine Debatte ist nicht vorgesehen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Es folgt nun die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
- Drucksache 13/5292 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/6693 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Jung
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/6693, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Energieeinsparung bei Haushaltsgeräten
- Drucksache 13/6723 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/7395 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich nunmehr zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden, inklusive der Stimme des Kollegen Fischer.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt
- Drucksache 13/6438 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/7409 -
Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick
Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 d auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes
- Drucksache 13/6830 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- Drucksache 13/7408 -
Berichterstattung: Abgeordneter Egon Susset
Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis, das ich auch eben festgestellt habe, angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 e auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 20. November 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Staat Israel andererseits
- Drucksache 13/6616 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/7393 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/7394 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Georg Wagner Wilfried Seibel
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/7393, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es Gegenstimmen? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Enthaltungen? - Dieser
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses, also einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 f auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen
- Drucksache 13/6671 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/7325 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erwin Marschewski Günter Graf
Manfred Such
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 7325, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte die, die dem zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 g:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann , Franziska Eichstädt-Bohlig, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fahrrad-Fahrbereitschaft für den Deutschen Bundestag in Bonn
- Drucksache 13/3328 -
Hierzu war zunächst Beschlußfassung vorgesehen. Die Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, den Antrag zu überweisen, wobei die Ausschüsse jedoch strittig sind. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Überweisung zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Verkehr und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus.
Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. wünschen Überweisung zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuß und zur Mitberatung an den Ältestenrat und den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Sie haben also nun zu entscheiden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen Klarheit gewinnen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvorschlag der Grünen ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 h auf:
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gunter Weißgerber, Dr. Eberhard Brecht, Christel Deichmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinschaftliche Finanzierung eines Neubaus des Museums der Bildenden Künste in Leipzig
- zu dem Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Erwin Marschewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Thomas Krüger, Gunter Weißgerber, Uta Titze-Stecher, Wolfgang Thierse und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Max Stadler, Cornelia Schmalz-Jacobsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Gemeinschaftliche Finanzierung eines Neubaus des Museums der Bildenden Künste in Leipzig
- Drucksachen 13/6114, 13/7059, 13/7212 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz
Uta Titze-Stecher
Oswald Metzger
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/7212 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6114 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 13/7212 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7059 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlußempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 19 i:
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission
Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa
- Drucksachen 13/6129 Nr. 1.24, 13/7223 - Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Hiksch
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19j auf:
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 181 zu Petitionen
- Drucksache 13/6984 -
Dazu liegt auf Drucksache 13/7433 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden.
Wer stimmt für die Sammelübersicht 181 in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 181 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 19 k:
k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
- Drucksache 13/7277 -
Dazu liegt auf Drucksache 13/7434 ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.
Wer stimmt für die Sammelübersicht 193 in der Ausschußfassung? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Damit sind wir am Ende der vielen Abstimmungen angelangt.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zur Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in China im Rahmen der gemeinsamen Außenpolitik der EU
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen nach der einen außenpolitischen Pleite, dem Scheitern des kritischen Dialogs mit dem Iran, gleich zur nächsten.
Die deutsche Delegation bei der Menschenrechtskommission in Genf, die übrigens unter Leitung unseres früheren Kollegen Baum eine vorzügliche Arbeit leistet,
hat, wie schon in den letzten Jahren, die Resolution zur Menschenrechtslage in China mitverfaßt, durfte sie aber auf Weisung der Bundesregierung nicht mit einbringen.
Herr Kinkel, jetzt müßte eigentlich der Bundeskanzler neben Ihnen sitzen. Es ist schade, daß Sie die Prügel immer alleine entgegennehmen müssen.
Das ist ein unglaublicher Vorgang, der die deutsche Position in Genf nachhaltig beschädigt hat.
Warum ist diese Weisung erteilt worden? Zum einen wurde sie damit begründet, Frankreich habe bereits zuvor seine Nichtbeteiligung erklärt, und Deutschland habe keine Möglichkeit gehabt, als sich dem anzuschließen. Warum eigentlich muß Deutschland Frankreich folgen, nur weil Chirac nach Peking reist und dort einen Airbus-Auftrag erhalten will? Ist dies nicht nur ein vorgeschobenes Argument zugunsten eigener deutscher Wirtschaftsinteressen?
Es wäre nicht das erste Mal, daß die Bundesregierung hinsichtlich der Bewertung der Menschenrechte unterschiedliche Maßstäbe an Staaten mit wirtschaftlicher Potenz und vielversprechenden Märkten einerseits und an ärmere Länder andererseits anlegt. Daß sie dies jetzt derart unverhohlen tut, muß für die Zukunft Besorgnis erregen. Immerhin haben zehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union und damit die Mehrheit an der Einbringung festgehalten. Indem die Bundesregierung den Konsens der Europäer verlassen hat, hat sie dem Ziel einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik Schaden zugefügt. Gerade in den letzten Tagen hat sich im Falle Mykonos gezeigt, welch großen Wert die Solidarität der Europäischen Union hat. Welchen Stellenwert mißt die Bundesregierung der vielbeschworenen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich zu, wenn sie dem öffentlich vertretenen eigenen Anspruch zuwiderhandelt und darüber hinaus kleinere EU-Staaten wie Dänemark dem erpresserischen Druck der chinesischen Machthaber aussetzt?
Ein anderes Argument, das genannt wurde, lautet: Die Europäer hätten die Abstimmung nicht gewinnen können. Es ist ebensowenig stichhaltig wie das erste. Schon die Einbringung einer solchen Resolution ist ein wichtiges Signal. Darauf zu verzichten relativiert die großen Anstrengungen der Vorjahre. Es wäre auch ein seltsames Demokratieverständnis, wenn man nur Positionen vortrüge, mit denen man Abstimmungen gewinnt. Die Doppelbödigkeit dieser Argumentation zeigt sich im übrigen auch darin, daß die deutsche Delegation für die Aufsetzung der Resolution auf die Tagesordnung stimmen durfte, nachdem klar war, daß diese Abstimmung verlorengeht.
Schließlich wird drittens gesagt, daß China Besserung gelobt habe, ja daß es jetzt schon Verbesserungen chinesischer Menschenrechtspolitik gebe. Man vergleiche diese Behauptung einmal mit der Realität.
Von den Menschenrechtspakten der UN will China nicht mehr den Zivilpakt, sondern nur noch den Sozialpakt unterzeichnen.
Immer noch gibt es die sogenannte Administrativhaft, die bis zu vier Jahre Arbeitslager für Dissidenten ohne Gerichtsurteil bedeutet.
Die Demokraten Wei Jinsheng und Wan Dang wurden zu 14 bzw. 11 Jahren verurteilt und werden von der chinesischen Führung als gewöhnliche Kriminelle bezeichnet.
Im Jahre 1996 wurden in China weit über 3 000 Todesurteile vollstreckt. Das ist der weitaus größte Teil aller weltweit vollzogenen Exekutionen.
Die Antiterrorgesetze wurden verschärft. Das Delikt „konterrevolutionäre Straftaten" wurde nicht abgeschafft, sondern in „Verbrechen gegen die staatliche Sicherheit" umbenannt.
Die Verfolgung jener Katholiken, die sich zum Papst als ihrem geistigen Oberhaupt bekennen, wurde verschärft. Das gleiche gilt für die tibetischen Mönche und viele andere Tibeter.
Meine Damen und Herren, der Bundestag forderte im Juni vorigen Jahres in seiner Resolution einvernehmlich die Bundesregierung zu entschiedenerem Handeln für eine Verbesserung der Lage in Tibet und in China insgesamt auf.
Eine Verbesserung der Menschenrechtssituation ist
seitdem nicht eingetreten, eher das Gegenteil. Aber
die Bundesregierung hat ihr Engagement nicht ver-
Gerd Poppe
stärkt, sondern jetzt sogar demonstrativ abgeschwächt.
Für die Hunderttausende von Gefangenen und Zwangsarbeitern, für die chinesische Demokratiebewegung bedeutet dies den Verlust ihrer Hoffnung auf Unterstützung durch Deutschland.
Für den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung bedeutet es einen Verlust an Glaubwürdigkeit ihrer Menschenrechtspolitik.
Alles in allem: ein außenpolitischer Fehler, der weit über den unmittelbaren Vorgang hinausreicht.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Lummer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Solange es in China gravierende Verletzungen von Menschenrechten gibt, ist es unsere Pflicht, diese beim Namen zu nennen und für eine Verbesserung Sorge zu tragen. Denn - das ist unsere Meinung - Menschenrechte sind universal. Insofern kann es keinen Zweifel daran geben, daß wir die Menschenrechtsverletzungen aufdecken und verfolgen. Darüber existiert, denke ich, in diesem Hause Einigkeit.
Aber diese Klage und vielleicht manchmal Anklage dient doch nicht der Selbstberuhigung und auch nicht der Selbstbefriedigung. Vielmehr - das haben gerade in der vorhergehenden Debatte die beiden Beiträge von dem Kollegen Voigt und dem Kollegen Zöpel gezeigt - müssen alle diese Dinge auch unter dem Gesichtspunkt der Aussicht auf Erfolg betrachtet werden. Wenn die nicht gewährleistet ist, ist uns nicht so wahnsinnig viel geholfen.
Es gibt natürlich Meinungsverschiedenheiten, wie man diesen Weg erfolgversprechend beschreitet. Ich vermute, diese Meinungsverschiedenheiten wird es auch in Zukunft immer wieder geben. Immer wieder wird es einen Streit darüber geben, was richtiger ist: den Verletzer zu isolieren, ihn an die Wand zu spielen, ihn zu ignorieren, nicht mit ihm zu reden oder ihn in einen Dialog einzubeziehen, ihn vielleicht sogar zu umarmen. Dieser Konflikt ist vorhanden. Kollege Möllemann hat daran erinnert. Damals waren wir in der Opposition und haben die Regierung ermuntert, mit den kommunistischen Ländern hart und härter umzugehen; die von den Sozialdemokraten geführte Regierung hat damals gemeint: Nein, das ist nicht der richtige Weg. Wir müssen den Dialog und das Gespräch suchen. Sogar mit der SED - man höre und staune - hat sie Verträge gemacht.
In diesem Bereich wird es immer Meinungsverschiedenheiten geben, die zum Teil vielleicht auch von der Rolle, die wir zu spielen haben, herrühren. Die Regierung muß auf Grund ihrer Rolle immer verantwortungsbewußter sein als die Opposition, die sich mehr leisten kann. Vielleicht kann man dieses Rollenspiel durchaus bewußt und verteilt spielen. Ich habe gar nichts dagegen.
Eines muß klar sein: Erfolgsorientierung ist wichtig; wir glauben, daß wir da den richtigen Weg eingeschlagen haben.
Es ist keineswegs so, daß die Regierung die Probleme unter den Teppich gekehrt hätte. Da wird eine Erklärung von den Gesprächen mit China abgegeben. Hier wird darüber geredet. Überall steht dieses Thema auf der Tagesordnung. Wer hören kann und will, wird auch heute wissen, daß wir - auch die Regierung - China auf die Anklagebank gesetzt haben. Ausdrücklich darf ich auch dem Außenminister dafür danken, daß er hier seinen Part gespielt hat.
Wir haben in Wahrheit überhaupt kein Verständnis dafür, daß sich die Chinesen in Genf auf Nichtplädierung und Nichtbefassung eingestellt haben. Wir müssen aber auch die dort vorhandene Situation sehen: Es gab eine klare Mehrheit dafür, daß die Chinesen - aus welchen Gründen auch immer- unterstützt wurden.
Der Kollege Poppe hat zu Recht gesagt: Die Gemeinsamkeit der Europäer ist ein wichtiger Faktor; er hat auch hier eine wichtige Rolle gespielt.
Ein Letztes möchte ich sagen: Politik ist doch nun wirklich nicht eindimensional. Wir haben schon mehrfach - Herr Kollege Zöpel hat einen wirklich beachtlichen Beitrag dazu geleistet - über die Zielkonflikte, die gerade in der Außenpolitik eintreten können, gesprochen. Das eine Ziel sind eben die Menschenrechte. Aber neben den Menschenrechten gibt es auch Ziele des Wohlstandes, des Lebens, vielleicht des Überlebens eines Landes, vielleicht aber auch nur nackte Interessenpolitik. Hier sind Regierungen gehalten, eine Politik des Abwägens zu betreiben. Sie müssen manchmal schwierige Drahtseilakte vollziehen. Manchmal ist von den Regierenden sogar eine Art von Akrobatik bei den anstehenden Drahtseilaktionen verlangt.
Es ist schwierig; wir sind uns darüber einig. Auch wenn der Kollege Poppe so oder anders redet, auch wenn in Genf so oder anders beschlossen wird - wer glaubt denn im Ernst, das hätte in China automatisch Veränderungen bewirkt? Wir glauben inzwischen, daß es zu besseren Erfolgen führt, mühsam miteinan-
Heinrich Lummer
der zu reden, als nur jemanden auf die Anklagebank zu setzen.
Bei diesem Abwägen müssen wir beide Ziele im Auge haben: die Menschenrechte auf der einen Seite, die Interessen und das Wohl und Wehe unseres Landes auf der anderen Seite. Das eine tun und das andere nicht lassen, lautet die Devise, und danach handeln wir.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Menschenrechtskommission hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen internationalen Forum entwickelt, um Grundsatzfragen der Menschenrechtspolitik, aber auch die Lage in einzelnen Ländern zu beraten und dazu Resolutionen zu verabschieden. Die Menschenrechtskommission ist zu einem der politischsten Gremien der Weltorganisation geworden. Menschenrechtsverletzer scheuen die Öffentlichkeit. Keinem Land ist es angenehm, von diesem Weltforum mit einer kritischen Resolution bedacht zu werden.
Die chinesische Diplomatie hat sich deshalb immer wieder intensiv darum bemüht, eine Verurteilung durch die UN-Menschenrechtskommission bereits im Vorfeld zu verhindern. Die EU hatte seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung bisher jedes Jahr gemeinsam - der Ton liegt auf „gemeinsam" - einen Entschließungsantrag zu den Verletzungen der Menschenrechte in China eingebracht. Die Vorlagen waren jedoch auf Betreiben der Volksrepublik China jedesmal zurückgewiesen worden. Trotzdem war es richtig und wichtig, daß die Europäer einheitlich für die grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte in China eingetreten sind.
Diesmal hat es allerdings einen schweren Rückschlag gegeben, weil erst Frankreich, dann Deutschland und einige weitere Länder nicht mehr bereit waren, in Form einer Resolution für die Menschenrechte in China einzutreten. Die deutsche Bundesregierung hat dabei eine besonders unrühmliche und blamable Rolle gespielt. Noch im Vorfeld ist an dem Entwurf einer gemeinsamen Entschließung der Europäer gearbeitet worden. Der Entschließungsentwurf, der schließlich von Dänemark eingebracht worden ist, ist auf der Arbeitsebene zunächst von Deutschland mitgetragen worden. Der Außenminister hat in vielen Erklärungen und Gesprächen gegenüber dem Parlament und seinen Ausschüssen bekräftigt, daß sich die Bundesregierung wie in den vergangenen Jahren an einer China-Resolution beteiligen wird.
Doch dann ist Deutschland auf Weisung des Kanzlers aus der Miteinbringung des gemeinsamen Textes ausgestiegen. Der Kanzler hat seinen Außenminister ins Leere laufen lassen. Alles, was der Außenminister vorher mit Vehemenz erklärt und versprochen hatte, galt nun nicht mehr.
Welcher inhaltliche Punkt dieser von Dänemark eingebrachten Entschließung, so ist zu fragen, kann von der Bundesregierung nicht mitgetragen werden?
Da wird in der Resolution zunächst die Bereitschaft der chinesischen Regierung begrüßt, Informationen über Menschenrechtsangelegenheiten auszutauschen. Es wird der Fortschritt bei der Entwicklung des Rechtssystems erwähnt und begrüßt, daß China in Erwägung zieht, den beiden internationalen Pakten beizutreten. Was davon kann man nicht mittragen?
Dann wird in der Resolution die Besorgnis über die andauernden Berichte über die Verletzungen der Menschenrechte und der grundlegenden Freiheiten durch die chinesischen Autoritäten und über die Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit geäußert. Es werden die wachsenden Restriktionen für die Tibeter erwähnt, und es werden die Verfolgung von und die harten Urteile gegen Personen kritisiert, die friedlich für ihre bürgerlichen und politischen Rechte eintreten. Was davon ist unzutreffend? Was davon kann die Bundesregierung nicht mittragen?
Schließlich wird in der Resolution an die Regierung Chinas appelliert, die Menschenrechte im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen zu achten, die Unparteilichkeit der Justiz zu verbessern und die politischen Gefangenen freizulassen. Welcher dieser Punkte entspricht nicht der Politik der Bundesregierung?
Es geht um Grundlegendes. Wie soll überhaupt noch Menschenrechtspolitik gemacht und formuliert werden, wenn Deutschland glaubt aus einer solchen Resolution aussteigen zu müssen?
Außenminister Kinkel hat vor Jahren erklärt, er lasse sich in seinem Einsatz für die Menschenrechte von niemandem übertreffen.
Diese Erklärung war angesichts der Praxis schon immer äußerst vollmundig.
Jetzt, bei der Behandlung der China-Resolution in Genf, haben Sie sich von 15 demokratisch orientierten Länderregierungen übertreffen lassen oder - das sollte ich besser sagen - übertreffen lassen müssen. Der Kanzler hat angeordnet; der Außenminister mußte unbeschadet dessen, was er vorher gesagt hatte, folgen. Wahrlich kein Ruhmesblatt für die deutsche Außenpolitik und eine bittere Enttäuschung sowie ein schwerer Rückschlag für die Demokratiebewegung und die Menschenrechte in China! Dies ist das Bittere und das Ernste an dem ganzen Vorgang.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Das habe ich mit einigen hier gemeinsam. Die Themen hängen irgendwie zusammen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bindig, auch Sie lassen sich in Ihrem Einsatz für Menschenrechte nicht übertreffen. Das will ich Ihnen gerne bescheinigen. Aus dem Ablauf der Ereignisse in Genf aber zu schließen, die Bundesregierung sei ihrer eigenen Menschenrechtspolitik in den Rücken gefallen, ist so abenteuerlich und absurd, daß Sie das hoffentlich selbst nicht ernst nehmen.
Ich räume ein, daß es sehr schön gewesen wäre, wenn die Europäer auch diesmal wieder eine gemeinsame Position gefunden hätten. Dies war nicht möglich. Sie haben es selbst gesagt: Frankreich hat von Anfang an erklärt, es werde diesmal eine gemeinsame Resolution der Europäischen Union nicht unterstützen. Damit war von Anfang an der europäische Konsens weg. Da konnte die Bundesregierung machen, was sie wollte. Sie hätte. sich auf den Kopf stellen können. Die Franzosen haben ganz eindeutig erklärt, sie würden das nicht tun.
Jetzt kann man sehr wohl fragen, ob es klug war, daß die Franzosen dies vorab so erklärt haben. Ich gehe noch darüber hinaus: Ich frage mich, ob es vom Kanzleramt klug war, auch von dort aus recht frühzeitig den Anschluß an die französische Position zu erklären. Darüber kann man trefflich streiten.
Im Ergebnis wissen wir aber, was geschehen ist. Die Europäer haben letztes Jahr - ich glaube, zum fünften- oder sechstenmal - eine gemeinsame Erklärung vorgelegt. Was ist daraus geworden? Sie wurde auf chinesischen Antrag abgesetzt. Ich sage nicht, daß die Annahme einer solchen Resolution in Genf an der Menschenrechtssituation in China irgend etwas hätte ändern können. Schön wäre es ja. Aber es ist noch nicht einmal zur Verabschiedung gekommen. Das heißt, die Europäer haben sich jedesmal in der vorab laufenden Geschäftsordnungsdebatte eine Niederlage eingehandelt.
Jetzt konnte man sehr wohl darüber nachdenken, ob es Sinn machen würde, dasselbe - wir reden von Tibet - Gebetsmühlenritual auch heuer in Genf zu wiederholen. Ich bin eigentlich der Meinung, daß man das Instrument der nachdrücklich ermahnenden, verurteilenden Resolutionen auch zu kleiner Münze verarbeiten kann und daß man das Instrument dadurch entwertet, daß man es zu häufig einsetzt.
Ich sage noch einmal: Es wäre mir sehr lieb gewesen, man hätte sich zu einer einheitlichen europäischen Position durchringen können, und zwar so oder so, daß man entweder gesagt hätte: „Wir reichen erneut gemeinsam eine Resolution ein", oder daß man gesagt hätte: „Wir verzichten diesmal darauf, weil wir gegen die große Mehrheit der Länder, die dem chinesischen Geschäftsordnungsantrag zustimmen werden, sowieso keine Chance haben." - Das wäre die andere diskussionswürdige Position gewesen. Die Franzosen haben diesen Konsens von Anfang an verlassen. Es bestand also überhaupt keine Chance mehr.
Ich habe Respekt vor einem kleinen Land wie Dänemark, das sich hier jetzt allerdings in eine Märtyrerrolle begibt, die ihm nichts einbringen wird. Auch durch diese sehr ehrenwerte Haltung wird leider Gottes kein Gefangener in China freikommen.
Ich sage noch einmal: Die Tibet-Resolution oder die China-Resolution, die wir im letzten Jahr hier verabschiedet haben, ist von der deutschen Bundesregierung buchstabengetreu umgesetzt worden,
nämlich in dem Punkt, bei dem verlangt wurde, daß die Bundesregierung überall, wo sie Gelegenheit dazu hat, ihre Stimme erhebt und die desolate Menschenrechtssituation in China anklagt und verurteilt. Das hat sie zum einen durch die Vertreter Deutschlands bei der Konferenz in Genf unilateral getan, zum anderen aber auch in der gemeinsamen Erklärung der Europäischen Union vom 8. dieses Monats, in der dies alles mit großer Klarheit dargestellt wurde.
Wenn gesagt wird, daß man sich in dem Engagement für Menschenrechte nicht übertreffen läßt, dann muß man doch auch fragen, was dadurch erreicht wird. Immerhin ist erreicht worden, daß sich die Chinesen jetzt bereit erklärt haben, bestimmte Dinge zu tun, die wir immer von ihnen verlangt haben. Das reicht bei weitem nicht aus; aber es ist besser als nichts.
Ich sage noch einmal - insofern schlagen wir wieder den Bogen zum Iran -: Es ist wunderschön, ständig seiner eigenen Empörung Ausdruck zu verleihen. Es ist vor allem sehr schön, den Anstand und das Engagement für Menschenrechte für sich selbst zu pachten und alle anderen, die vielleicht in der Abwicklung eine andere Methode vorschlagen, zu verurteilen und ihnen vorzuwerfen, daß sie selber nicht genügend täten. Aber der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird auch hier deutlich. Ich fände es besser, wir würden, statt hier aus innenpolitischen Gründen aufeinander einzuprügeln, uns überlegen - wie es Karsten Vogt vorher dargestellt hat -, was man um der Sache willen gemeinsam tun kann, um eine Verbesserung der Menschenrechtssituation auch in China zu erreichen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Tippach.
Ich scheine eine Art unfreiwillige Symbiose mit dem Kollegen Irmer zu haben. Dauernd muß ich in seine Aura eintreten.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Chef des Düsseldorfer Chemiekonzerns Henkel hat am Montag in New York erklärt: 300 000 Friseure warten in China auf Schwarzkopf.
Das mag sein. - Nach der erbärmlichen Vorstellung der Bundesregierung bei der UN-Menschenrechtskommission werden die Wünsche der chinesischen Friseure wahrscheinlich erheblich eher in Erfüllung gehen als die der Opfer chinesischer Menschenrechtsverletzungen.
- Vielen Dank, aber ich bin mit mir ganz zufrieden. Sie müssen mich ja auch nicht heiraten.
Die Art und Weise, in der die Bundesrepublik in Eintracht mit Frankreich vor der Weltöffentlichkeit sich selbst geradezu zum absoluten „Loser" gemacht hat, ist unglaublich. Ich möchte dazu Amnesty International zitieren:
Die Drohungen der chinesischen Staatsführung und die Doppelmoral der deutschen und französischen Regierung haben dem Schutz der Menschenrechte eine schwere Niederlage zugefügt. Die Bundesregierung hat mehrere Bundestagsbeschlüsse verletzt, die Glaubwürdigkeit der Kommission untergraben und die Ansätze einer gemeinsamen Menschenrechtspolitik der EG zerstört.
Dem gibt es eigentlich nicht allzuviel hinzuzufügen.
Bis heute erschließt sich mir nicht, welche realen Veränderungen sich denn während der Sitzung der Menschenrechtskommission ergeben haben sollten, womit sich der Meinungsumschwung der Bundesregierung rechtfertigen ließe.
Die Volksrepublik China hat einige Reformen angekündigt, unter anderem die Unterzeichnung des Sozialpaktes bis zum Ende dieses Jahres. Diese Entwicklung begrüße ich ausdrücklich. Nur, zum einen ist nichts davon eine „top news", und zum zweiten sieht die Praxis eben völlig anders aus.
Das Forum Menschenrechte stellte vergangene Woche fest, daß sich die Menschenrechtssituation in China in den letzten zwölf Monaten nicht etwa entspannt, sondern weiter verschärft hat. Die Einzelheiten dazu sind auch der Bundesregierung bekannt. So kann die Bundesregierung den Verdacht nicht beseitigen, sie behalte sich die Benennung und die Anklage von Menschenrechtsverletzungen als Verhandlungsmasse im Ringen um gute Geschäfte oder politische Vorteile vor. Das Verhalten der Bundesregierung in bezug auf diese Resolution legt die Vermutung nahe, daß sie nicht nur aus Unsensibilität, sondern geradezu vorsätzlich handelt, wenn sie die Menschenrechte zur Verhandlungsmasse macht und sie regelrecht verkauft.
Natürlich soll die Bundesrepublik gute und bessere Beziehungen zur Volksrepublik China haben. Aber das kann doch nicht heißen, stets und ständig beide Augen zuzudrücken.
- Natürlich tut das jemand; sonst müßten wir diese Debatte hier heute nicht führen.
Ein Wort noch an die Führung der Volksrepublik China. Ich denke, auch sie könnte sich durchaus einmal mit dem Gedanken anfreunden, daß weitere wirtschaftliche Entwicklung und Achtung der Menschenrechte und innere Demokratie nicht unbedingt ein Widerspruch sein müssen, sondern sich im Gegenteil gegenseitig bedingen und einander voraussetzen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von Schorlemer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir die Lage der Menschenrechte in der Volksrepublik China verantwortungsbewußt und zielorientiert diskutieren wollen, dann sollten wir uns gemeinsam - so hoffe ich - in den Sätzen wiederfinden, die unser Bundespräsident anläßlich seines Staatsbesuchs in China gesagt hat. Er führte dort unter anderem aus:
Die universelle Beachtung der Menschenrechte ist wesentlicher Bestandteil der deutschen Außenpolitik ... Auffassungsunterschiede in dieser für beide Seiten wichtigen Frage sollten aber nicht einer ausgewogenen und differenzierten Einschätzung der politischen und rechtlichen Entwicklung Chinas in den letzten Jahren im Wege stehen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf die sehr sachliche Diskussion hinweisen, die wir gestern zu diesem Thema mit dem Bundeskanzler im Auswärtigen Ausschuß geführt haben.
Die CDU/CSU-Fraktion bedauert, daß sich die EU- Staaten auf der diesjährigen Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Genf nicht auf eine gemeinsame Position haben verständigen können. Dennoch ist es sachfremd, ungerecht und falsch, der Bundesregierung eine Mitschuld oder eine Mitver-
Reinhard Freiherr von Schorlemer
antwortung für die Uneinigkeit der Europäer auf der diesjährigen Menschenrechtskonferenz zuzuweisen.
Denn bereits im Vorfeld
zeichnete sich ab, daß ein Konsens zur Einbringung einer gemeinsamen China-Resolution nicht mehr erreicht werden konnte, vor allem auch wegen der eindeutigen Weigerung der französischen Regierung.
Auch wenn eine gemeinsame europäische Resolution zu den Menschenrechten. in China nicht zustande kam, fand die europäische Position zur Menschenrechtslage in China ihren Niederschlag in dem Statement, das von der EU-Präsidentschaft am 8. April 1997 dort vorgetragen worden ist. Dabei wurde nichts unter den Teppich gekehrt.
Wenn Sie gerade die Reaktion der Chinesen auf dieses Statement noch einmal nachlesen, dann stellen Sie fest, daß dieser Bericht seine Wirkung nicht verfehlt hat.
Meine Damen und Herren, obwohl wir die uneinheitliche Position der EU-Staaten auf der UN-Menschenrechtskonferenz bedauern, ist sie vertretbar, und zwar nicht nur weil wir aus Solidarität gegenüber den Franzosen meinten, so handeln zu müssen. Der französische Staatspräsident Chirac wird in der „Neuen Zürcher Zeitung" mit der Aussage zitiert, diese Art von Entschließungen hätten ihre Nützlichkeit überlebt.
Die Bundesrepublik hat mit ihrer Entscheidung auch der Tatsache Rechnung getragen, daß die Volksrepublik China in den letzten Wochen und Tagen Signale gegeben hat, die Menschenrechtslage im eigenen Lande zu verbessern. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß Australien - relativ nahe bei China gelegen -
inzwischen einen vereinbarten Dialog aufgenommen hat, obwohl Australien zuvor noch ein engagierter Anhänger von Resolutionen war. Auch Kanada
hat sein Abstimmungsverhalten in diesem Jahr geändert.
Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit. Das ist keine Aussage von mir, sondern eine Maxime, die auch die Volksrepublik China auf der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien grundsätzlich anerkannt hat. Deswegen ist es keine Einmischung in innere Angelegenheiten, wenn sich die europäischen
Staaten und das Europäische Parlament immer wieder zu Menschenrechtsfragen in China äußern.
Ich muß in dieser Debatte auch die Sorge des Vatikans vortragen,
Ich spreche davon, weil eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses in der letzten Woche dort war und uns das vorgetragen worden ist.
Ich weiß, daß der Bundeskanzler und der Außenminister - genauso wie der Bundespräsident anläßlich seines Besuches in China - diese Fragen bei jedem Gespräch mit verantwortlichen chinesischen Politikern immer wieder in eindrucksvoller Weise vorgetragen haben. Man muß bei unserem Außenminister anerkennend hervorheben, daß er bei Menschenrechtsfragen nicht immer nur das rein nach diplomatischen Geschick geschriebene, sondern auch das offen und hart gesprochene Wort gewählt hat.
Der chinesische Dissident Harry Wu hat die Bundesrepublik aufgefordert, die guten wirtschaftlichen Beziehungen selbstbewußt auch für Zugeständnisse in Menschenrechtsfragen einzusetzen. Das muß geschehen.
Ich halte es für legitim und auch erfolgversprechend, chinesische Forderungen nach Zurückhaltung in Menschenrechtsfragen mit dem selbstbewußten Hinweis zu beantworten, daß die wirtschaftlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie die Außenpolitik durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens legitimiert sein müssen und daß dieser Konsens gefährdet ist, wenn Menschenrechtsfragen ausgeblendet werden. Eine solche Argumentation macht deutlich, daß es nicht darum gehen kann, daß der Westen sein abendländisches Menschenbild China aufzwingt, sondern darum, daß er China von der Notwendigkeit der Einhaltung der Menschenrechte überzeugt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit fünf ehernen Grundsätzen der Menschenrechtspolitik beginnen:
Günter Verheugen
Menschenrechtspolitik ... braucht Prinzipienfestigkeit, braucht Mut, Beharrlichkeit und einen langen Atem.
Es gibt leider auch, und zwar zu häufig, politischen Widerstand gegen eine aktive Menschenrechtspolitik. Gerade diejenigen, die etwas zu verbergen haben, versuchen immer wieder, die Arbeit der UN-Sonderberichterstatter zu verhindern oder mindestens massiv zu erschweren.
Die stille Diplomatie kann und darf die öffentliche Kritik nicht ersetzen.
Deshalb müssen wir Menschenrechtsverletzungen auch den Ländern gegenüber in aller Klarheit und Offenheit ansprechen und durchzusetzen versuchen, mit denen uns Partnerschaft, ja, Freundschaft verbindet. In diesem Zusammenhang nenne ich Länder wie die Volksrepublik China, Indonesien und auch die Türkei.
China muß akzeptieren, daß es in Menschenrechtsfragen kritisiert wird.
Meine Damen und Herren, alles, was ich bisher gesagt habe, waren wörtliche Zitate von Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel aus dem Jahre 1996.
Die meisten davon stammen aus dem Plenum des Deutschen Bundestages.
Ich muß Ihnen sagen, daß selbst für die Verhältnisse dieser Regierung die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der China-Politik unerträglich groß geworden ist.
Wenn man schon eine solche Politik betreibt, wie sie durch das Verhalten der Bundesregierung in Genf sichtbar geworden ist, dann soll man wenigstens ruhig sein und nicht eine so große Klappe haben, wie Sie sie in den letzten Jahren in dieser Frage gehabt haben.
Die Frage, die uns interessiert, ist: Was hat sich eigentlich verändert? Es muß ja etwas passiert sein, wenn Herr Kinkel im vergangenen Jahr, am 16. April, in Genf bei der Menschenrechtskonferenz darauf hingewiesen hat, daß man sich mit China in einem intensiven Dialog um Besserung bemüht habe, leider kein substantieller Erfolg erreicht worden sei und deswegen -jetzt kommt der entscheidende Satz - die Europäische Union und die USA einen Resolutionsentwurf zur Menschenrechtslage in China vorgelegt haben.
Frage, Herr Dr. Kinkel: Haben Sie aufgehört, mit China darüber zu reden? Oder hat es irgendwelche substantiellen Fortschritte gegeben? Weswegen sonst haben Sie in diesem Jahr keinen Resolutionsentwurf vorgelegt? Das steht in völligem Gegensatz zu dem, was Sie noch im vergangenen Jahr für richtig gehalten haben.
Ich möchte Ihnen gerne erklären, warum aus unserer Sicht Druck in der Menschenrechtsfrage richtig und notwendig bleibt, auch wenn es um ein Mitglied des Sicherheitsrates mit Vetorecht und um den großen Zukunftsmarkt China geht.
Ich erinnere Sie an das Beispiel der KSZE vor etwas über 20 Jahren. Durch beharrlichen Druck ist es gelungen, die damalige Sowjetunion und den Warschauer Pakt dazu zu bringen, auch den Menschenrechtskorb in der KSZE-Schlußakte zu unterschreiben. Das war für viele Menschen in der damaligen Sowjetunion, den Staaten des Warschauer Pakts und nicht zuletzt auch der ehemaligen DDR die Grundlage, auf die sie sich jahrelang berufen haben. Daraus sind die Bürgerrechtsbewegungen entstanden, die einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet haben, daß dieses kommunistische Staatensystem zusammengebrochen ist.
Es sage niemand, einer aktiven Menschenrechtspolitik könne es nicht gelingen, große politische Veränderungen zu erreichen. Wir haben in Europa andere Beispiele.
Ich plädiere entschieden dafür, China in dieser Frage unter Druck zu halten. Gerade weil es China unangenehm ist, international unter Druck gesetzt zu werden, muß es geschehen. Nur so wird es möglich sein, China zu bewegen, zum Beispiel die Menschenrechtspakte zu unterschreiben und so die Berufungsgrundlage zu schaffen.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Man soll ja immer die Quellen der fernöstlichen Spruchweisheit benutzen. Ich habe in meinem Buch über die chinesischen Sprichwörter nachgeschlagen. Ich habe sehr viele Sprichwörter; wir könnten noch sehr viele Debatten führen.
Zu dem deutschen Verhalten, erst große Worte zu schwingen und dann nichts zu tun, sagen die Chinesen: Das Füchschen spielt den Tiger. - Zu dem Wohlverhalten gegenüber China in der Hoffnung, man könne damit etwas verändern, sagen sie: Auf den Baum steigen, um Fische zu fangen.
Wer auch immer es gewesen ist, der die ursprüngliche Haltung des Auswärtigen Amtes verändert hat, der französische Präsident oder der deutsche Bundeskanzler - ich vermute einmal, es war der Bundeskanzler; weil es nicht direkt den Weisungen des französischen Präsidenten unterliegt -, der muß sich ein besonders altes und schönes chinesisches Sprichwort
Günter Verheugen
sagen lassen: Der Leithammel kann die ganze Herde in die Irre führen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Bundesaußenminister, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist das gute Recht der Opposition, anderer Auffassung zu sein. Wenn man Verantwortung trägt und in der Regierung ist, ist das ein bißchen schwieriger, manchmal aber auch angenehmer. In einigen Fragen aber täuschen Sie sich, lieber Herr Verheugen.
Erstens. Zu alldem, was ich früher gesagt habe und was Sie ,vorgetragen haben, stehe ich, und zwar voll und ganz.
Zweitens. Ich nehme für mich in Anspruch, daß ich gerade China gegenüber bei dem verschobenen Besuch in einem weit über eine Stunde dauernden Gespräch mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng die Menschenrechtsfragen massivst und deutlich besprochen habe, in einer Art und Weise, die an Deutlichkeit nichts übrigließ. Ich brauche mir von niemandem in der Opposition sagen zu lassen, daß ich in der Ansprache von Menschenrechten der Volksrepublik China gegenüber schüchtern wäre.
Drittens. Die Menschenrechtslage in China und die chinesische Menschenrechtspolitik sind seit Jahren Gegenstand der Diskussionen in den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Das war auch in diesem Jahr der Fall. Die bisherigen Versuche, eine Resolution zu China zu verabschieden, sind jedesmal, auch dieses Jahr, gescheitert. Eine gemeinsame Haltung war nicht erreichbar, und zwar nicht unter deutscher Federführung. Auch was dazu gesagt wurde, ist falsch. Sie können - wenn es sie gibt; ich weiß es gar nicht - sicher die Protokolle der beiden Außenministertagungen nachlesen. Dort müßte stehen, was ich für die Bundesregierung gesagt habe. Dazu stehe ich. Das ist nachlesbar.
Nachdem eine gemeinsame Resolution nicht erreichbar war,
bestand also Anlaß, darüber nachzudenken, ob eine Resolution, die bisher nie durchgebracht werden konnte, das richtige Verfahren ist, um Fortschritte im Bereich der Menschenrechte in China zu erreichen. Um diese Fortschritte muß es uns gehen. Wir haben in der Europäischen Union oft mit unterschiedlichen Auffassungen darüber diskutiert. Im Ergebnis haben sich eine Reihe europäischer Länder, an erster Stelle Frankreich, entschieden, sich dieses Jahr definitiv
nicht an dieser Resolution zu beteiligen, sondern China beim Wort zu nehmen, um auf anderen Wegen, unter anderem über intensive Gespräche, Kontakte usw., Fortschritte im Bereich der Menschenrechte zu erzielen.
Es i st manchmal von einem Papierfetischismus die Rede gewesen. Die Frage muß wohl lauten: Wollen wir Papiere um der Papiere willen produzieren, die wir nicht durch- und umsetzen können, oder wollen wir Fortschritte in der Sache?
Das ist die präzise Fragestellung. Auch da kann ich nur wieder sagen: Gott sei Dank tragen Sie keine Verantwortung, sonst wäre es ein klein wenig schwieriger.
- Ich will gleich welche nennen.
Wir haben uns der Entscheidung zusammen mit Italien, Spanien und anderen Ländern angeschlossen.
China hat immer wieder deutlich gemacht, daß es nicht bereit ist, seine Menschenrechtspolitik auf ausländischen Druck zu ändern. China hat aber gleichzeitig seine Bereitschaft erklärt, in diesem Sinne einen Dialog zu führen. Da werden wir die Chinesen nun beim Wort nehmen.
Schon im Vorfeld der 53. MRK gab es intensive Bemühungen, insbesondere seitens der Bundesregierung, China zu spürbaren Verbesserungen in der Menschenrechtssituation zu bewegen. Diese Bemühungen haben sich hauptsächlich auf den Beitritt Chinas zu den beiden Menschenrechtspakten, aber auch auf Änderungen in dem für Menschenrechte zentralen Bereich der chinesischen Gesetzgebung gerichtet. Ich wiederhole, daß ich gerade bei meinem letzten Besuch wirklich intensivst über dieses Thema gesprochen habe.
Ich habe dabei den chinesischen Gesprächspartnern allerdings auch erklärt, daß wir diese schwierigen Fragen nicht konfrontativ, sondern im Wege des Gesprächs angehen wollen. Ich stimme Ihnen gerne zu, Herr Verheugen: Menschenrechtsfragen müssen selbstverständlich generell deutlich und klar angesprochen werden, in vielen Fällen eher durch eine ruhige Ansprache des Partners. Aber es kann nicht unser Ziel sein, eine lautstarke Auseinandersetzung um ihrer selbst willen zu führen, die im Ergebnis sehr oft nur die Fronten verhärtet, aber nichts bewegt und
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
nicht zu greifbaren Verbesserungen führt. Aber um diese Verbesserungen für die Menschen muß es uns gehen. Alles andere kann Getöse und Deklaration nach außen sein, die aber in der Praxis nicht sehr viel weiterführen.
Bei der Diskussion heute sollten wir auch nicht außer acht lassen, daß es im Bereich der Menschenrechte in China durchaus Fortschritte gegeben hat, auch wenn diese längst nicht ausreichen. Ich spreche von den eingeleiteten Reformen beim Verwaltungs- und Strafrecht durch Streichung des Tatbestandes der konterrevolutionären Verbrechen,
den Gesetzen über den Schutz der Rechte von Frauen und Minderjährigen, dem Gefängnisgesetz, dem Staatshaftungsgesetz, dem Rechtsanwaltsgesetz und den Änderungen der Strafprozeßordnung. Ich denke auch an die Einladung des Vorsitzenden der UN-Arbeitsgruppe „Willkürliche Festnahmen" und die Zusammenarbeit mit dem Hochkommissar für Menschenrechte und dem Internationalen Komitee. Zudem -wir haben das jedenfalls vorher durch viele Versuche, Resolutionen durchzubringen, die uns nicht gelungen sind, nicht erreicht - hat die chinesische Regierung jetzt immerhin formell angekündigt, den UN-Sozialpakt bis Ende des Jahres zu zeichnen.
Jetzt können Sie einwenden: Das reicht alles nicht aus. Das sage auch ich. Aber mindestens das Letztgenannte und zwei oder drei andere Maßnahmen, die ich als früherer Justizminister und in Kenntnis der Situation dort sehr wohl bewerten kann, rechtfertigen die Aussage, daß wir immerhin schrittweise vorangekommen sind, während wir bisher bloß Papiere produziert haben, ohne jeden Erfolg und ohne jede Bewegung.
Ungeachtet der Frage einer Resolution waren sich im übrigen - ich bin dankbar, daß darauf schon eingegangen wurde - alle Europäer mit vielen anderen Ländern darin einig, daß sich China einer Diskussion seiner Menschenrechtslage bei der MRK natürlich nicht entziehen kann und darf. Deshalb haben wir zusammen mit den anderen EU-Staaten vorgestern geschlossen gegen den chinesischen Antrag auf Nichtbefassung gestimmt.
Unsere weiterhin kritische Einstellung zur Lage der Menschenrechte in China kommt auch unmißverständlich in der ausführlichen Passage in der Erklärung der Europäischen Union bei der MRK zur Menschenrechtssituation in allen Teilen der Welt zum Ausdruck. Um es noch einmal klar und unmißverständlich zu sagen: Die Bundesregierung wird zusammen mit ihren Partnern weiterhin die Frage der Menschenrechte in China wie auch in anderen Ländern kritisch zur Diskussion stellen. Schutz und Förderung der Menschenrechte weltweit bleiben ein
Schwerpunkt unserer Außenpolitik - es wäre komisch, wenn es anders wäre -, und dies gilt für alle Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen vorkommen. Deshalb bleibt das Thema auch weiter auf der Tagesordnung der Europäischen Union.
In der Debatte heute geht es nicht um die Frage, was wir erreichen wollen, sondern darum, wie wir dabei vorgehen. Über das Ziel, die Verbesserung der Menschenrechtslage in China, bestand und besteht auch in der EU voller Konsens. Wir setzen in diesem schwierigen Bereich auf Gespräche, Kooperation und nicht auf Konfrontation. Für Deutschland und Europa - das muß man dann eben in einer solchen Debatte auch einmal sagen - bleibt China ein wichtiger Partner der Zukunft.
Wenn Sie nach der französischen Weigerung, sich einem Konsens anzuschließen, von der Bundesregierung erwarten, daß sie sich in einer solchen Gemengelage gegen Frankreich und China stellt, dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie so etwas vielleicht aus der Opposition heraus verlangen können, daß man in der Regierung so etwas aber wohl kaum vertreten kann, und dies aus Gründen, die Sie, ohne daß ich sie jetzt hier darlegen kann, nachvollziehen können und die Sie genauso wie ich kennen.
Wir brauchen - genauso wie übrigens die USA - eine langfristig ausgerichtete China-Politik, die zum Ziel hat, China in die internationale Verantwortung einzubeziehen. Dazu gehört auch, daß sich die Volksrepublik China natürlich an dem internationalen Standard der Menschenrechte messen lassen muß. Diese langfristige Politik, ausgerichtet an der Wahrung unserer Gesamtinteressen, zu denen selbstverständlich auch die Achtung der Menschenrechte gehört, bleibt Richtschnur unseres Handelns. Davon lassen wir uns auch nicht durch tagespolitische Aufgeregtheiten abbringen.
Das Wort hat die Kollegin Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Konflikt zwischen eigener Interessenpolitik und Moral, Herr Kinkel, hat die Bundesregierung eindeutig und offiziell eine Gewichtsverschiebung vollzogen. Denn - das muß man doch in dieser Diskussion einmal ganz klar sagen - in China ist der Eindruck entstanden, daß sich der Westen seine Kritik abkaufen läßt.
Herr Bundesaußenminister, es ist doch kein Zufall, daß diese EU-Resolution an vier Ländern gescheitert ist: an Frankreich, der Bundesrepublik, Italien und Spanien. Wenn von diesen vier Ländern pikanterweise drei zum Airbus-Konsortium gehören, dann spricht das doch Bände. Die Volksrepublik China hat diese Sprache verstanden.
Rita Grießhaber
Wir haben mit einer solchen Politik dort unser Gesicht verloren; das wird dort so interpretiert. Was noch viel schlimmer ist: Wir haben in der Menschenrechtspolitik international sehr viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Herr Geißler hat in der „Zeit" geäußert, daß die Menschenrechte und damit die Moral die Außenpolitik nicht mehr loslassen werden. Ich denke, daß dies eine sehr richtige Aussage ist. Aber wenn wir uns jetzt dahinter verstecken und meinen, Papiere nützen nichts, Worte nützen nichts, dann sage ich Ihnen: Geschäfte machen auf Teufel komm raus nützt noch viel weniger.
Politik und Geschäft müssen mit der Einforderung der Menschenrechte konform gehen. Geschäft gegen Schweigen ist unwürdig.
Ich möchte hier noch einmal auf den Resolutionsentwurf Dänemarks eingehen. In ihm wird doch nichts anderes als die Besorgnis über die Verletzung der Menschenrechte in China ausgedrückt. Es wird das Vorgehen Chinas in Tibet kritisiert. In ihm wird gefordert, die Gefangenen freizulassen und mit den Berichterstattern der Menschenrechtskommission zusammenzuarbeiten. Das öffentlich zu fordern soll man China nicht zumuten können? Was kann die Bundesregierung daran nicht mehr mittragen? Ich verstehe es nicht.
Wir alle kennen die Berichte über die Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen sagen: Geschäfte sind nicht einseitig, und sie dürfen nicht blind erfolgen. Auf welcher Grundlage produziert China denn so billig? Daß auch im Arbeitsbereich, auf dem Arbeitsmarkt ganz eklatante Menschenrechtsverletzungen vorkommen, ist hier überhaupt noch nicht angesprochen worden.
Die Bundesregierung hat in der China-Politik schon lange einerseits auf stille Diplomatie gesetzt und andererseits den Kotau vollzogen, um die Geschäfte anzuleiern. Ich erinnere nur an den Militärbesuch von Bundeskanzler Kohl.
Wir wünschen eine Politik, so wie die Bundesfamilienministerin sie dort vorträgt. Wir wollen kein Schweigen.
Es ist doch kein Zufall, daß die Generalsekretärin Mongella auf der Weltfrauenkonferenz in Peking darauf hinweisen mußte, daß es eine Konferenz über Frauen und nicht über China ist; denn China selbst hat mit seinen Menschenrechtsverletzungen das
Thema dermaßen dominiert, daß die Frauenpolitik fast keine Rolle mehr gespielt hat.
Meine Damen und Herren, Geschäfte sollen sein, aber nicht um jeden Preis. Es wäre absolut falsch, wenn sie uns daran hindern würden, den Finger in die offene Wunde zu legen. Wegschauen ändert die Mißstände, denen Frauen, Männer und Kinder ausgeliefert sind, noch sehr viel weniger als Resolutionen. Die Mißstände in China sind zahlreich und ungeheuerlich. Das muß in der deutschen Außenpolitik der Bundesregierung zum Ausdruck kommen. Da geht es nicht um Papierproduktion. Es geht um Nachgeben auf Druck, es geht um Doppelmoral und um den Eindruck der Käuflichkeit. Das ist schade.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Mahlo, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Tippach, Sie haben sich einer Partei angeschlossen, die 40 Jahre Gelegenheit hatte, den Menschenrechten zu dienen. Einer Ihrer verflossenen Großkopfeten namens Krenz hat, wie sie vielleicht wissen, das Blutbad auf dem Tiananmen lauthals bejubelt. Ich finde es daher etwas komisch, wenn einer von Ihnen nun herkommt, um uns in Sachen Menschenrechte die Leviten zu lesen.
In Sachen SPD hat Herr Möllemann schon einiges gesagt, so daß ich mir das schenken kann. Aber denken Sie einmal daran, daß der einzige Beitrag zur deutschen Außenpolitik der letzten 50 Jahre, der von der SPD bekanntgeworden ist, nämlich die „neue Ostpolitik", im wesentlichen in einem Schmusekurs mit Diktatoren und in dem stillschweigenden Versprechen bestand, im übrigen nicht hinzugucken.
- Das hat mit umgekehrtem Vorzeichen in der Tat sehr viel mit unserem Thema zu tun, Herr Kollege, obwohl ich zugebe, daß Ihre Politik damals erfolgreich war, weil sie zur Erosion dieser Regime beigetragen hat. Aber - das sage ich dazu - es war nicht Ihre Absicht, es war Ihnen am Anfang fast peinlich.
Nun zum Thema, obwohl man sich natürlich die Frage stellt, ob dem Thema nach einer einstündigen Debatte über Iran und einer bisher dreiviertelstündigen über China noch sehr viele neue Aspekte abzugewinnen sind. Als das Haus zum letztenmal über China diskutierte - das war im November 1995 -, ging es ebenfalls um die Menschenrechte. Zwischen China und Deutschland wird diese Frage so lange
Dr. Dietrich Mahlo
ein Konfliktpunkt bleiben, wie die Menschenrechte dort gröblich verletzt werden: durch Umerziehungslager, durch inflationäre Anwendung der Todesstrafe, durch die Verfolgung und namentlich wahllose Inhaftierung von Dissidenten,
insbesondere aber durch die brutale Kolonialisierung Singkiangs und Tibets.
Daß der Deutsche Bundestag allerdings dieses jahrtausendalte Reich und bevölkerungsstärkste Land der Erde - mit seiner Geschichte und Kultur, mit schier unendlichem Wirtschaftspotential, aber auch gigantischen ungelösten sozialen, ökologischen, administrativen Problemen, mit seiner Ressourcenschwäche, mit seinem unterentwickelten Bildungswesen, mit seinen fast 200 Millionen Analphabeten und noch mehr Arbeitslosen -, dessen allmähliche Umwandlung und gewaltlose Einfügung in die Staatengemeinschaft als Aufgabe vor uns steht,
immer und nur unter dem einzigen Gesichtspunkt der Wahrung der Menschenrechte diskutiert, ist ungenügend und kennzeichnet unsere reichlich unprofessionelle - um nicht zu sagen: provinzielle - Annäherung an den Sachverhalt.
Ich habe längere Zeit in Asien gelebt und unter anderem versucht, die chinesische Sprache, aber auch etwas über die Mentalität der chinesischen Menschen zu lernen. Ohne mir einzubilden, übermäßig viel zu wissen, möchte ich doch behaupten - die Erfahrung bestätigt das -, daß der immer wiederholte Versuch, China durch öffentliche Anklagen vorzuführen, nicht übermäßig erfolgversprechend ist und sich jedenfalls abnutzt. Die Frage, die sich einer rationalen Außenpolitik stellt, ist nicht, wie wir im behüteten Rund dieses Plenums unsere gute Gesinnung zur Schau stellen und das von deutschen Medien beklatschen lassen, sondern, welche realistischen Möglichkeiten eine weit entfernte Mittelmacht wie Deutschland denn hat, den Liberalisierungsprozeß in China zu fördern.
Unsere Chance liegt nicht in der Konfrontation, sondern in der Evolution. Die Rückkehr Chinas in die Weltwirtschaft war ein Jahrhundertereignis. Je mehr sich dieses Land zur Vorfahrt ökonomischer Faktoren bekennt, je mehr es bereit ist zu einer Vernetzung mit internationalen Institutionen und Strukturen, je weiter die Öffnung der chinesischen Wirtschaft und damit unvermeidlich der chinesischen Gesellschaft voranschreitet, je weiter das Land auf dem Wege des globalen Lernens vorankommt, desto größer ist die Chance für eine Veränderung im Sinne rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen und desto geringer ist die Gefahr einer nationalistischen Expansionspolitik. Bei der Beförderung eines solchen Weges ist taktisch auch der Verzicht auf eine öffentliche Anklage legitim.
Die Chancen auf einen Dialog sind bereits von anderen besprochen worden.
Meine Zeit ist abgelaufen.
Lassen Sie mich noch eines sagen - auch an die Adresse unserer eigenen Regierung -: Wenn sich trotz der neuesten chinesischen Zusagen wieder nichts bewegt, werden wir keine andere Wahl haben, als die Stimme erneut zu erheben und erneut mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die sich schuldig gemacht haben. Das werden wir dann auch tun.
Das Wort hat die Kollegin Wieczorek-Zeul, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin eigentlich erstaunt, daß in der heutigen Diskussion keiner die doppelte politische Schizophrenie im Verhalten des Bundesaußenministers konstatiert hat.
Ich verweise darauf: Das Verhalten in bezug auf das Treffen der Außenminister in Noordwijk spricht jeder Erklärung der Bundesregierung für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union hohn.
Auf der gleichen Konferenz, auf der der Außenminister morgens dafür plädiert hat, daß die Europäische Union zukünftig in der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme spricht, hat er nachmittags in einer zentralen Frage der Menschenrechte bezüglich China mit verhindert, daß die Europäische Union mit einer Stimme sprechen konnte. Es ist absolut unverantwortlich, was dort gemacht worden ist. Die EU ist gespalten und praktisch handlungsunfähig gemacht worden. Sie sollten sich schämen, Herr Kinkel, daß Sie derartige Handlangerdienste leisten.
Die Bundesregierung sollte sich auch nicht zurückziehen, indem sie sagt: Zukünftig streben wir Mehrheitsentscheidungen in der GASP an. Denn eines ist auch klar: In der Konstellation hätte die Bundesregierung bei künftigen Mehrheitsentscheidungen dazu beigetragen, daß keine qualifizierte Mehrheit zustande gekommen wäre.
Durch die Absprache zwischen Helmut Kohl und Chirac wird eine seit Jahren vertretene gemeinsame europäische Außenpolitik mit einem Federstrich ge-
Heidemarie Wieczorek-Zeul
ändert. Sie lassen die kleinen Länder in der Europäischen Union wie die Niederlande und Dänemark die Verantwortung für eine an Grundwerten und Menschenrechten orientierte Politik alleine tragen. Das ist grob unsolidarisches Verhalten gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Sie sehen sich jetzt allein gelassen; denn die kleinen Niederlande und Dänemark müssen die wirtschaftlichen Sanktionen tragen. Was ist denn der Sinn einer Europäischen Union zu 15? Der Sinn ist, daß man sich zu 15 solchen Pressionen gegenüber geschlossen wehren kann, so daß sie China beeindrucken.
Sie haben dazu beigetragen, daß jetzt solche kleinen Länder die entsprechenden Pressionen fürchten müssen. Unsere Hochachtung gebührt den Niederlanden und Dänemark und den zehn EU-Mitgliedstaaten, die in der Frage der Menschenrechte konsequent geblieben sind.
Das Verhalten der Bundesregierung wird im übrigen schwerwiegende Folgen haben. Ich bin erstaunt: Wir haben vorhin die Iran-Debatte geführt. In dieser haben Bundesaußenminister Kinkel und Sie alle die Solidarität der EU-Mitgliedstaaten, die nach dem Mykonos-Urteil gefordert und erfolgt ist, beschworen. Jetzt haben Sie diese Solidarität der EU-Mitgliedstaaten erhalten, und Sie, Herr Kinkel, haben bei der EU-Außenministerkonferenz in Noordwijk diese Länder im Stich gelassen.
Das wird sich rächen, vielleicht schon bei der Regierungskonferenz zur Überprüfung des MaastrichtVertrags. Wer die politische Union Europas will, der muß derartiges Großmachtgehabe unterlassen und sich in eine gemeinsame Willensbildung einfügen; sonst zerstört er die europäische Zusammenarbeit.
Wenn Sie im übrigen der Meinung sind, Herr Kinkel, daß die Linie geändert werden müßte, dann stehen Sie offen dafür ein. Gehen Sie in die Gremien der Europäischen Union, diskutieren Sie das mit der EU-Kommission und dem Europaparlament! Dann führen Sie eine langfristige Diskussion über die Politik der Europäischen Union.
Sie wollen doch mit uns die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU entwickeln. Deshalb können Sie nicht mit einem Federstrich und mit einer Absprache zwischen zwei Regierungschefs nach dem alten Muster diese Planungen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik außer Kraft setzen. Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache.
Wie glaubwürdig ist eigentlich eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, die immer nur dann Menschenrechtsverletzungen anprangert, wenn das betroffene Land klein und wirtschaftlich unbedeutend ist?
Sie, Herr Kinkel - es wäre gut, wenn Sie diesem Punkt die Aufmerksamkeit schenken würden, die notwendig ist -,
haben mit dazu beigetragen, die EU in ihrer Glaubwürdigkeit - Herr Kinkel, ich werde die Art der Achtung der Abgeordneten zur Kenntnis nehmen - bei der Vertretung gemeinsamer Werte zu beschädigen. Ich denke, Sie sollten sich ein Beispiel an der amerikanischen Regierung nehmen, die einerseits klar Menschenrechtsverletzungen anprangert und andererseits die Kooperation dabei nicht in Frage stellt. Sie hat das in ihrer Äußerung zum Verhalten der Bundesregierung auch ausdrücklich so dargestellt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Koschyk, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, ist man versucht, zu sagen: Kaum fehlt der Chefkoordinator der neuen SPD-Außenpolitik im Saal, gerät die Darstellung der außenpolitischen Positionen der SPD aus dem Ruder.
Liebe Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, ich habe Ihren Zwischenruf, ich hätte von Europa keine Ahnung, zur Kenntnis genommen. Und Sie haben keine Ahnung von den Abstimmungsmechanismen in der EU; denn sonst müßten Sie wissen, liebe Frau Kollegin: Auch ohne die deutsche Position, aus einer gemeinsamen Einbringung einer Resolution in Genf auszusteigen, hätte es mit den restlichen Staaten plus Deutschland die qualifizierte Mehrheit zur Einbringung einer solchen Resolution nicht gegeben.
Es ist Ihr gutes Recht, meine Damen und Herren von der Opposition, zu kritisieren, daß die Bundesregierung neben anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in diesem Jahr darauf verzichtet hat, eine gemeinsame Resolution einzubringen.
Mir gefällt an dieser Debatte nicht, daß Sie so tun, als genüge, ich will einmal sagen: ein Telefonat zwischen Jacques Chirac und Helmut Kohl, um ein Land wie Italien oder ein Land wie Spanien zur Änderung seiner Position zu bringen. Einer unserer Kollegen hat vorhin deutlich gemacht, daß auch andere Länder ihre bisherige Position dazu, ob man eine gemeinsame Resolution einbringen solle, geändert haben. Es ist Australien genannt worden, es ist Kanada genannt worden.
Hartmut Koschyk
Mir gefällt an dieser Debatte ebenfalls nicht, daß niemand von Ihnen gewürdigt hat, daß es trotzdem eine Darstellung einer gemeinsamen EU-Position zur nach wie vor bedrückenden Menschenrechtslage in China gegeben hat.
Keiner von Ihnen hat dies hier dargestellt.
Wir haben im letzten Jahr in der Tibet-Resolution beschlossen, daß die VN-Menschenrechtskonferenz auch zur Darstellung der Menschenrechtslage in Tibet genutzt werden sollte. Wenn ich mir das Statement des Leiters der niederländischen Delegation vom 8. April ansehe, dann stelle ich fest, daß eine klare Verurteilung der Menschenrechtslage in China und insbesondere die Situation in Tibet deutlich zum Ausdruck kommt.
Herr Kollege Bindig - ich spreche Sie an, weil Sie dabei waren -, Sie sollten hier nicht so tun, als habe der Herr Bundesaußenminister nicht mit Ihnen, mit mir und mit anderen Kollegen, die sich in der TibetFrage engagieren, ein langes Gespräch geführt, um uns deutlich zu machen, wie diese Tibet-Resolution des Bundestages umgesetzt wird und wie er versucht, dem Auftrag des Unterausschusses „Menschenrechte" in der Frage der Verfolgung der Zielsetzung unserer Tibet-Resolution nachzukommen.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen.
Unser Ziel ist die weltweite Achtung der Menschenrechte, wie sie in der UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen niedergelegt sind. An diesem Ziel kann es auch keine Abstriche geben. Ich plädiere hier für absolute Unbeirrbarkeit in der Zielsetzung.
Bei der Verwirklichung des Ziels kommt es aber auf Pragmatismus an. Das klingt in deutschen Ohren oft kompromißlerisch oder gar heuchlerisch. In Wirklichkeit ist ein Pragmatismus, der auch darauf achtet, wie das für richtig erkannte Ziel möglichst weitgehend realisiert werden kann, alles andere als das, und auf keinen Fall darf er einfach mit Opportunismus gleichgesetzt werden. In der Politik - auch der Menschenrechtspolitik - geht es immer darum, tatsächliche Verhältnisse tatsächlich zu verbessern, und das bedeutet nicht, „Bekennermut" zu zeigen, sondern es bedeutet, das richtige Mittel zur richtigen Zeit einzusetzen.
Das, was ich gerade vorgetragen habe, stammt nicht von mir. Es ist von Bundespräsident Herzog aus einem bemerkenswerten Aufsatz in der „Zeit" vom 6. September des vergangenen Jahres.
Der Bundespräsident hat sich noch weiter, wie ich finde, nachdenkenswert zu dem Spannungsfeld Verfolgung und Menschenrechtspolitik geäußert. Lassen
Sie mich noch ein letztes Zitat des Bundespräsidenten aus diesem Aufsatz in der „Zeit" bringen:
Sowenig es falsch war, daß mit der Sowjetunion auch über Fragen der Sicherheitspolitik gesprochen wurde, sowenig kann es falsch sein, beim Wirtschaftsaustausch mit asiatischen Staaten neben den Menschenrechten auch die Erhaltung deutscher Arbeitsplätze im Auge zu haben.
Der Bundespräsident schließt:
Es läßt sich nicht bestreiten: Jede Politik, die in dieser Frage betrieben wird, kann sich eines Tages auch als ganz oder teilweise falsch erweisen. Der Schulenstreit, der dieserhalb in Deutschland tobt, und der Rigorismus, mit dem ihn beide Seiten betreiben, ist schon jetzt falsch.
Ich kann dem nichts hinzufügen.
Das Wort hat der Kollege Neumann, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Koschyk, ich weiß wohl, was in Ihnen vorgeht.
Es gibt eine ganze Reihe von Kollegen aus Ihrer Fraktion und der Koalition, von denen wir erwartet hätten, daß sie heute hier reden, und die sicher zu diesem Thema etwas zu sagen hätten, zum Beispiel der Vorsitzende des Unterausschusses für Menschenrechte und Chinaexperte, Herr Schwarz-Schilling. Aber sie haben vorgezogen, hier nicht zu reden. Dafür wird es ja Gründe geben. Denken Sie einmal darüber nach!
Ich finde, Sie sollten auch einmal die Reaktion der Chinesen auf die Entscheidung der Bundesregierung beobachten. In China wird diese als ein Sieg der Diplomatie gefeiert. Die Nachrichtenagentur Xinghua schreibt:
Die Tatsachen zeigen, daß eine Konfrontation in der Menschenrechtsfrage nicht populär ist. Die Chinesen kümmern sich sehr um ihre Menschenrechte, und sie können sich dazu am besten äußern.
Sieg von Peking: Sie haben es geschafft. Wir können China also nur gratulieren. Es hat endlich das Ziel erreicht, daß über Menschenrechte in kritischen Resolutionen bei der Menschenrechtskommission nicht mehr gesprochen wird.
Ein Großteil der Europäer, und zwar die führenden Nationen, sind ausgeschert. Die Bundesregierung wird in Genf in Zukunft schweigen; das angesichts der Unterdrückung der Demokratie- und Arbeiterbewegung, der Inhaftierung Andersdenkender und ihrer Verurteilung zu langen Haftstrafen, der 3 500 Hinrichtungen allein im letzten Jahr - das meldet uns Amnesty International -, der Besetzung Tibets, der Zerstörung seiner Kultur und Religion. Demgegenüber steht keine oder allenfalls eine marginale Ver-
Volker Neumann
besserung der Menschenrechtssituation, die einen politischen Schwenk der Bundesregierung hätte rechtfertigen können.
Im Gegenteil: Die Repression hat sich in letzter Zeit verschärft. Tausende sind wieder in Zwangsarbeitslager gebracht worden. Grundlegende Rechte werden den Menschen vorenthalten. Wir kennen nur wenige Namen derer, die in den Zwangslagern inhaftiert sind, aber sie stehen für die vielen Unbekannten, an die wir denken, wenn wir solche Resolutionen einbringen. Ich finde, es ist eine furchtbare Doppelmoral, wenn die Bundesregierung Resolutionen zu Birma und Irak unterstützt, aber im Falle des großen China schweigt.
Die Politik ist inkonsequent und spricht im übrigen auch früheren Ankündigungen Hohn. Noch kurz vor Ostern ist vom Auswärtigen Amt dem Unterausschuß für Menschenrechte mitgeteilt worden, daß man sich an der Resolution zur Menschenrechtslage in China beteiligen werde. Der Außenminister hat oft gesagt: Wenn substantielle Änderungen vorliegen, dann wolle man die Haltung überdenken. Wo sind die substantiellen Änderungen? Es ist schon richtig, was hier gesagt worden ist: Der Kanzler hat dem Außenminister das Heft aus der Hand genommen. ChinaPolitik ist Chefsache; den Chef interessieren die Menschenrechte nicht. Oder hat schon einer gehört, daß der Bundeskanzler Helmut Kohl das Thema Menschenrechte angesprochen hätte? Ich habe das noch nicht gehört, und das ist noch nie hier vorgetragen worden.
Im übrigen darf ich Sie darauf hinweisen, daß dieser Bundestag vor einem Jahr nahezu einstimmig für die Tibet-Resolution gestimmt hat. Dort heißt es:
Der Deutsche Bundestag ... fordert die Bundesregierung auf, sich verstärkt dafür einzusetzen, daß ... auch zukünftig bei den Beratungen der VN- Menschenrechtskommission die Lage der Menschenrechte in Tibet Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit und kritischer Diskussion sein wird.
Ich frage mich, warum wir überhaupt solche Beschlüsse fassen, wenn diese Resolutionen hinterher in den Papierkorb geworfen werden. Herr Koschyk, weiter heißt es in der Resolution - Sie kennen sie wahrscheinlich auswendig -: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, daß „die vorstehenden Grundsätze und Maßnahmen auch innerhalb der Europäischen Union Anerkennung und Durchsetzung finden".
Genau das Gegenteil ist geschehen. Hier wird ein Resolutionsentwurf, der vor vielen Jahren eingebracht wurde, der die Chinesen geschmerzt hat, weil er den Finger auf die Wunde legte, zerrissen. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat darauf hingewiesen: Einige Mutige - das sind die Kleinsten - haben sich nicht beeindrucken lassen. Ich hätte mir einen solchen Mut von unserer Bundesregierung gewünscht.
Wir haben im letzten Jahr ein Hearing veranstaltet. Der Dalai Lama war hier. Wir haben von Mord, Folter in den Gefängnissen, von Einmischung in religiöse Angelegenheiten gehört. Seit diesem Hearing hat sich nichts verändert. Im Gegenteil: Die Lage ist schlechter geworden. 600 bis 700 politische Gefangene kennen wir allein in Tibet. Wir wissen, daß der kleine Junge, der die Reinkarnation des PantschenLama ist, entführt und nicht freigelassen worden ist. Seit 1996 wurde die Religionsfreiheit weiter eingeschränkt. Was hat sich eigentlich substantiell in China an der Menschenrechtslage verbessert?, frage ich.
China kann sich sicher wohlfühlen. In Zukunft braucht es jedenfalls von dieser Regierung keine Kritik mehr in Genf zu fürchten. Und wir als Parlament müssen uns doch fragen, was unsere Beschlüsse hier noch wert sind, wenn die Regierung diese nicht umsetzt.
Im übrigen glaube ich, daß ein schwerer außenpolitischer Fehler gemacht worden ist, der uns noch bitter zu stehen kommt. Nicht nur, daß die jungen Bürger hier merken, daß diese Regierung ihr Gesicht verloren hat, aber in den Augen der chinesischen Machthaber hat die Regierung ihr Gesicht verloren. Es wird nicht lange dauern - das verspreche ich Ihnen -, bis diese Regierung zum nächsten Kotau gebeten wird. Ich kann nur dem Bundesaußenminister und dem Bundeskanzler sagen: Es wird nicht sehr lange dauern, bereiten Sie sich schon darauf vor.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Fortsetzung der Sanierung der Braunkohlegebiete in den neuen Ländern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Matschie, Richard Schuhmann , Marion Caspers-Merk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sanierung des Wasserhaushaltes in den Lausitzer und Mitteldeutschen Braunkohlerevieren
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Kurzhals, Gunter Weißgerber, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Braunkohlesanierungsgesellschaften erhalten - Beschäftigungsverhältnisse sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Vera Lengsfeld, Antje Hermenau, Werner Schulz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Braunkohhlereviere ökologisch sanieren
- Drucksachen 13/5588, 13/4850, 13/5225, 13/ 5721, 13/6776 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Reichard Christoph Matschie
Dr. Jürgen Rochlitz
Dr. Rainer Ortleb
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch? - Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Klinkert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Braunkohlesanierung ist nicht nur das größte Umweltprojekt der Bundesrepublik Deutschland, sondern sogar ganz Europas. Die Braunkohlesanierung ist einer der größten Arbeitgeber in den neuen Bundesländern. Mehr als 10 000 meist ehemalige Bergleute haben in der Braunkohlesanierung einen Arbeitsplatz gefunden. Wie eine Studie der Technischen Universität Cottbus aussagt, hängen direkt und indirekt fast 5 000 Arbeitsplätze im Mittelstand von den Aufträgen der Braunkohlesanierung ab.
Erinnern wir uns an das Ausgangsszenario. 1990/91 war absehbar, daß die Braunkohleförderung drastisch zurückgehen würde. Sie beträgt heute nur noch rund ein Viertel der von vor 1990. Es zeichneten sich also zwei wichtige Probleme ab, die zugleich auch Chancen darstellen konnten. Zum einen war es zu einem dramatischen Arbeitskräfteabbau gekommen. Zigtausende, mehr als 100 000 Arbeitnehmer, sind nicht mehr in der Braunkohleförderung und -veredelung beschäftigt. Als zweites kam auf den Bund als neuen unfreiwilligen Bergwerkseigentümer die bergrechtliche Verpflichtung zu, Auslauf- und Sanierungsbergbau zu betreiben.
Aus dieser Ausgangssituation heraus ist das ökologische Projekt Braunkohlesanierung entstanden. Der Bund und die Länder haben bisher jährlich 1,5 Milliarden DM für diese Sanierungsarbeiten zur Verfügung gestellt. Durch den Fleiß und das Können der Bergleute sind gewaltige Leistungen in dieser Sanierung erbracht worden.
Nur einige wenige Zahlen: Mehr als 470 Millionen Kubikmeter Erdmassen wurden in diesem Zusammenhang bisher bewegt. Diese abstrakte Zahl einmal theoretisch auf einen Abraumzug verteilt würde bedeuten, daß er eine Länge hätte, die dreimal um die Erde reicht. Mehr als 20 000 Hektar Flächen wurden rekultiviert, rund 1 000 Kilometer Gleise zurückgebaut und 40 Millionen Nadel- und Laubgehölze gepflanzt. Das ist also nebenbei gesagt auch ein Beitrag zum Klimaschutz. Dafür mußten insgesamt mehrere Milliarden Kubikmeter Wasser gehoben werden.
So ist also der Auftrag des Bundesberggesetzes, Wiedernutzbarmachung der in Anspruch genommenen Fläche und der Schutz Dritter vor Gefahren für Leben und Gesundheit, erfüllt worden. Dafür gilt allen Beteiligten, den Ministerien, dem Steuerungs-
und Budgetausschuß der LMBV und vor allen Dingen den Bergleuten, die diese Arbeiten durchgeführt haben, ausdrücklicher Dank.
Ich bin sehr froh, daß von unabhängigen Gutachtern festgestellt wurde, daß durchweg notwendige, sinnvolle Maßnahmen realisiert wurden, daß keine Luxussanierung durchgeführt wurde und daß die Sanierung ökologisch berechtigt, ja notwendig war. Ich weiß, daß manche anderes behauptet haben - einschließlich einiger Medien -, aber sie sind jeden Beweis schuldig geblieben.
Nun wissen wir alle: Die Aufgaben der Braunkohlesanierung sind endlich. Irgendwann ist der Sanierungsauftrag erledigt, die Sanierungspflicht erfüllt. Die LMBV als Träger der Sanierung geht nach seriösen Berechnungen davon aus, daß von 1998 an noch rund 10 Milliarden DM für die Sanierung zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese 10 Milliarden DM sind auf die dann folgenden Jahre sinnvoll aufzuteilen.
So gibt es Stimmen, die diese Aufträge von 1998 an zeitlich weit strecken wollen, zum Teil weit über das Jahr 2002 hinaus. Ich sage als Bergmann, der glaubt, davon auch fachlich etwas zu verstehen: Dies würde eine nicht zu vertretende Pause im Sanierungsfortschritt mit sich bringen.
Selbst wenn das finanztheoretisch möglich wäre -auch dann ginge das nur sehr eingeschränkt -, glaube ich: Hier geht es nicht um Mark und Pfennig, nicht nur um Hektar und Quadratmeter, sondern nicht zuletzt um tausende fleißige Bergleute und ihre Familien.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matschie?
Ja, bitte.
Herr Staatssekretär, ich habe Sie sicher richtig verstanden, daß Sie sagen, es dürfe keine Verschiebung in der Finanzierung geben. In dem Antrag der Koalition ist ja von einer bedarfsgerechten Finanzierung die Rede. Welche Summe halten Sie denn für die nächsten fünf Jahre für bedarfsgerecht?
Herr Kollege Matschie, wir müssen den Realitäten ins Auge schauen. Die Realitäten sind von der LMBV in einem Szenario mit sehr unterschiedlichen Zahlen, ablaufend von 1998 an, aufgeschlüsselt. Dabei gibt es sicherlich noch einen gewissen Spielraum. Aber ich glaube, daß sich die Finanzierung an diesem Szenario der LMBV wird orientieren müssen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich dabei auch mit den Fachleuten Ihrer Fraktion in Einklang stehe.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Köhne?
Ja, auch das.
Herr Staatssekretär, nach Ihren Ausführungen verstehe ich nicht, warum es im Antrag der CDU/CSU und F.D.P. heißt, daß man den Finanzrahmen nur „möglichst bedarfsgerecht" festzulegen habe. Meiner Meinung nach wäre er schlicht und ergreifend bedarfsgerecht festzulegen und dieses „möglichst" zu streichen, weil es wieder jede Menge Hintertürchen offenläßt.
Herr Köhne, ist das, was Sie jetzt betreiben, nicht Haarspalterei? Lassen Sie uns doch zum Sachlichen zurückkommen.
Meine Damen und Herren, es ist gerade das gemeint, wenn wir sagen „möglichst bedarfsgerechte Finanzierung": Daß wir den Bergleuten, die jetzt in einer Sanierung stehen, auch eine berufliche Zukunft sichern können und gleichzeitig den Sanierungsfortschritt gewährleisten. Ich habe bewußt keine Zahlen genannt, und es wurden bewußt auch keine Zahlen in unseren Antrag geschrieben, weil sich der Finanzbedarf aus dem bisherigen Finanzierungsfortschritt ergeben wird, aus der Entwicklung der Effizienz der Sanierung - auch das ist ja nicht zu bestreiten - und aus dem verbleibenden Bedarf von 1998 bzw. vom Jahr 2002 an. Wer mehr fordert, als von der LMBV ausgewiesen, der muß natürlich auch sagen, was er mit diesen Geldern konkret machen möchte.
Aber ich sage in aller Deutlichkeit: Es hat nicht das geringste mit bedarfsgerechter Finanzierung zu tun, wenn nur noch so wenig Gelder zur Verfügung gestellt würden, daß man nur noch reine Gefahrenabwehr betreiben könnte, die zu einem Sanierungsstillstand führte. Das wären in erster Linie Wasserhaltungsmaßnahmen. Die Sanierung finanziell auf ein deutlich niedrigeres Niveau zurückzufahren würde bedeuten, daß ohne größere Sanierungsfortschritte nur noch Wasserhaltungsmaßnahmen finanziert werden könnten. Es würde quasi bedeuten, daß das Wasser im Kreise herumgepumpt wird. Das ist auch ökologisch, nicht nur ökonomisch, unsinnig.
Dafür wäre nicht nur das Geld zu schade - es würde ja insgesamt sogar noch teurer werden -, sondern auch die Arbeitsleistung der Bergleute, die gewohnt sind, mit zur Verfügung gestelltem Geld sorgsam und sinnvoll umzugehen.
Man darf bei der ganzen Diskussion nicht vergessen: Bergbausanierung, Braunkohlesanierung ist Altlastenbeseitigung, gleichzeitig Landschaftsgestaltung, ist Beseitigung von Investitionshemmnissen und Maßnahme der Strukturförderung, aber nicht zuletzt auch notwendig für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Abwehr von Gefahren. Ich erwähnte schon das Bundesberggesetz. Ich nenne noch einmal ein wichtiges Ziel dieses Gesetzes: den Schutz von Leben und Gesundheit Dritter vor Gefahren auch nach Stillegung der Bergwerksbetriebe.
Wir erleben immer wieder, wie akut diese Gefahren durch das einem Laien schwer zu erklärende Phänomen des Setzungsfließens sind. Erst vor wenigen Jahren kam es zu einem tödlichen Unfall an einem Restloch eines Tagebaus in der Lausitz, wo zwei spielende Kinder durch Setzungsfließen verschüttet wurden. Innerhalb von wenigen Sekunden haben sich mehrere hunderttausend Kubikmeter Erdreich in Bewegung gesetzt. Daß ein Setzungsfließen kein Jahrhundertereignis ist, zeigt ein Blick in die Tagebücher der Bergämter, die in letzter Zeit fast wöchentlich Rutschungen in einer Größenordnung von 50000 bis 1,5 Millionen Kubikmetern registriert haben, Tendenz: ansteigend, mit zunehmender Gefahr.
Meine Damen und Herren, hier tickt eine Zeitbombe, die so zügig wie möglich entschärft werden muß und entschärft werden kann. Denn das Wissen und das Können der Fachleute ist noch vorhanden. Zäune und Schilder „Betreten verboten" reichen gerade hier nicht.
Die Braunkohlesanierung hat wertvolle Erfahrung gesammelt und Effizienz bewiesen. Ich glaube, daß man diese Erfahrung verallgemeinern kann und auf die Altlastenbeseitigung in anderen Bereichen und sogar in anderen Ländern übertragen kann. Mehr noch: Ich glaube auch, daß man die Strukturen, das Know-how, aber auch die Frauen und Männer in anderen Bereichen der Altlastensanierung einsetzen kann. Das heißt allerdings nicht, daß man im Hinblick darauf jetzt schon die Sanierungsmittel kürzen sollte.
Meine Damen und Herren, für die laufenden Verhandlungen zwischen Bund und Braunkohleländern wünsche ich mir ein Ergebnis, das möglichst parteienübergreifend am Sanierungsfortschritt festhält und
Parl. Staatssekretär Ulrich Klinkert
den Menschen in der Braunkohlesanierung ihre persönliche und berufliche Zukunft sichert.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Christoph Matschie, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Staatssekretär Klinkert hat schon deutlich gemacht: Wir reden hier über das größte Sanierungsprojekt in der Bundesrepublik. Zugleich ist aber auch klar, Herr Staatssekretär: Der größere Teil dieses Projektes liegt, wenn man von den Summen, mit denen wir rechnen, ausgeht, noch vor uns.
Kein Zweifel, es ist bisher in der Sanierung sehr viel geleistet worden. Aber es bleibt dabei: Der größte Teil der Aufgaben liegt noch vor uns. Das heißt, wir können jetzt nicht sozusagen vor dieser Aufgabe in die Knie gehen, davor zurückzucken und Mittel zusammenstreichen. Ich bedaure es deshalb ein wenig, daß Sie es hier vornehmlich beim Beschreiben der Situation belassen haben und wenig zu den ganz konkreten Vorstellungen der Bundesregierung gesagt haben.
Wir müssen hier vor allem drei Fragen klären: Erstens, welche Ziele mit der Sanierung verbunden sein sollen, zweitens, wie die Finanzierung dafür aussehen soll, und drittens, was wir diesbezüglich von der Bundesregierung erwarten.
Die Ziele dieser Sanierung sind ja zwischen Bund und Ländern vereinbart worden. Es sind im wesentlichen fünf Ziele: Das erste Ziel ist die Abwehr von konkreten Gefahren, indem man den bergrechtlichen Verpflichtungen zur Gefahrenabwehr folgt. Das zweite Ziel ist die Beseitigung ökologischer Schäden, zum Beispiel die Regulierung des Wasserhaushaltes, die Bodensanierung und die Rekultivierung. Das dritte Ziel ist die arbeitsmarktpolitische Flankierung des extremen Strukturwandels in den Braunkohlerevieren. Das vierte Ziel ist Wirtschaftsförderung und Strukturentwicklung. Das fünfte Ziel ist die Beseitigung von Investitionshemmnissen durch Sanierung entsprechender Flächen.
Diese Ziele sind einvernehmlich zwischen Bund und Ländern festgelegt. Wenn man an diesen Zielen festhalten will, muß man auch für die entsprechende Finanzierung sorgen. Bisher war klar: Bis 1997 wird eine Summe von 1,5 Milliarden DM pro Jahr bereitgestellt. Darüber hinaus gibt es die Bund-LänderVereinbarung: Für den Zeitraum danach soll bis 2002 rechtzeitig ein bedarfsgerechter Finanzrahmen einvernehmlich festgelegt werden. Nun stellt sich die Frage, was denn bedarfsgerecht ist. Wenn ich in die entsprechenden Unterlagen schaue, stelle ich fest, daß die mittelfristige Finanzplanung der LMBV von einem Bedarf von 7,5 Milliarden DM für die nächsten fünf Jahre ausgeht; das bedeutet weiterhin eine Summe von 1,5 Milliarden DM pro Jahr.
Herr Staatssekretär Klinkert, Sie haben in der ersten Debatte zu diesen Anträgen gesagt, daß eine zeitliche Streckung der Mittel zu Mehrkosten in Höhe von ungefähr 700 Millionen DM führt. Sie haben in dieser Debatte auch gesagt, daß eine Mittelabsenkung zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit in der Region führt und dies einer Region mit schon über 20 Prozent Arbeitslosigkeit und teilweise steigender Tendenz nicht zuzumuten sei. Diese klaren Worte habe ich hier nicht gehört.
Frau Kollegin Reichert, Sie haben damals gefragt: Was bedeutet rechtzeitig und was bedeutet bedarfsgerecht? Im Herbst vergangenen Jahres haben Sie geantwortet: Rechtzeitig bedeutet sofort, und bedarfsgerecht bedeutet, daß in den nächsten Jahren etwa der gleiche Finanzrahmen zur Verfügung steht wie bis 1997.
Nun müßte man annehmen, daß alles klar ist. Die Konsequenz für die Bundesregierung lautet: Es muß im bisherigen Umfang weiter gefördert werden, um die Sanierung entsprechend den Sanierungszielen voranzubringen. Nun hört man aus der Presse über Verhandlungen, demzufolge sich der Bund aus der Finanzierung zurückziehen will. Dabei wird eine Zahl von 4,1 Milliarden DM als Angebot gegenüber den Bundesländern gehandelt. Nun fragt man sich, was denn vorher geschehen ist. War das bewußte Täuschung? Oder verhält es sich so, daß je näher die Entscheidung rückt, um so mehr die große Pose, in der man sich vorher gefallen hat, in sich zusammenfällt? Auf jeden Fall bedeutet ein solches Angebot, daß man sich von den Sanierungszielen verabschiedet.
Eines ist ganz klar: Mit einem Betrag von nur noch 4,1 Milliarden DM für die nächsten fünf Jahre ist sozusagen nur noch die Gefährdung abzuwenden. Das ist nicht nur eine Behauptung von uns. Ich habe gerade in den Ticker-Meldungen der letzten Tage die Äußerungen des Chefs der sächsischen Staatskanzlei Hans-Werner Wagner gefunden, der 4,1 Milliarden DM allein für die Gefahrenabwehr als nötig erachtet. Das heißt, alle anderen vier vereinbarten Sanierungsziele bleiben auf der Strecke.
Im Klartext bedeutet dies höhere Arbeitslosigkeit. Nach den Berechnungen, die in diesem Zusammenhang angestellt worden sind, wird allein die Beschäftigtenzahl bei den Sanierungsgesellschaften von im Mittel 11 000 Beschäftigten auf rund 7000 zurückgehen. Das betrifft aber nur ganz konkret die Sanierungsgesellschaften. Daran hängt noch sehr viel mehr. Weitere Investitionshemmnisse werden bestehenbleiben; denn wenn bestimmte Sanierungs-
und Rekultivierungsaufgaben nicht wahrgenommen werden, kann auch die industrielle Entwicklung dort nicht vorangetrieben werden. Zerstörte sowie kontaminierte Landschaften und Industriebrachen sind nicht gerade ein gutes Aushängeschild für eine Re-
Christoph Matschie
gion und ziehen nicht gerade neue Investitionen an. Dazu brauche ich wahrscheinlich nicht sehr viel mehr hinzuzufügen.
Auch die ökologischen Gefahren stellen eine weitere Bedrohung dar. Allein die Regulierung des Wasserhaushaltes erfordert ja sehr umfangreiche Mittel. Die Spree ist mittlerweile ein künstlicher Fluß, dessen Wasserhaushalt nur durch das Abpumpen von Wasser aus den Braunkohlerevieren reguliert werden kann. Wir haben ohnehin sehr hohe Kosten. Eine Verschiebung dieser notwendigen Sanierungsmaßnahmen erhöht die Kosten noch weiter, weil wir auf Grund dieser Verschiebung bestimmte wassertechnische Maßnahmen vorhalten müssen, damit das ganze Ökosystem nicht in sich zusammenbricht.
Allein für die Wasserhaltung betragen die Mehrkosten nach Angaben der LMBV ungefähr 230 Millionen DM. Insgesamt rechnet man mit Mehrkosten in Höhe von 700 Millionen DM.
Biedenkopf hat, wenn ich die Presse richtig gelesen habe, im Zusammenhang mit den Gesprächen gesagt, die Auswirkungen von Sparmaßnahmen auf die betroffenen ostdeutschen Regionen würden statt zu blühenden Landschaften zum Erhalt von Kraterlandschaften führen. Ich glaube, das kann nicht der Wunsch dieses Hauses sein.
Nun ist es sicherlich so - das zeigt die Erfahrung -, daß man die Sanierung an der einen oder anderen Stelle noch effektiver machen und möglicherweise auch noch Einsparpotentiale erschließen kann. In dieser sehr stark strukturell belasteten Region sprechen dagegen aber arbeitsmarktpolitische Überlegungen. Wenn ich die Mittel herunterfahre, dann wirkt sich das ganz klar konkret auf den Arbeitsmarkt aus.
Es gibt angesichts der Mittel, die heute bereitgestellt werden, noch einen Mehrbedarf, da zum Beispiel der Altbergbau ohne Rechtsnachfolger bisher nicht in das Abkommen über die Sanierung einbezogen ist und auch eine bessere Verzahnung von Bergbausanierung, Infrastrukturentwicklung und Altlastenbeseitigung der Chemie - das betrifft vor allem Sachsen-Anhalt - bisher nicht in ausreichendem Umfang in Angriff genommen werden konnte. Das heißt, eigentlich gibt es schon über die heutigen finanziellen Mittel hinaus einen Mehrbedarf.
Das Fazit dieser Überlegung kann eigentlich nur sein: Die Finanzierung muß im bisherigen Umfang weitergeführt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, in Brandenburg ist heute auch im Landtag über diese Frage debattiert worden. Es hat einen einstimmigen Beschluß des Brandenburger Landtages gegeben, die Finanzierung im Umfang von 7,4 Milliarden DM in den nächsten fünf Jahren fortzusetzen. Ich denke, das ist die Marke, an der wir uns orientieren müssen.
Leider ist es in den Ausschußberatungen nicht gelungen - wir haben es zwar versucht -, auch hier einen gemeinsamen Antrag auf die Beine zu stellen, der die Finanzierung im bisherigen Umfang festschreibt. Ich bedaure das sehr. Ich kann unsere Forderung nur wiederholen: Wir wollen, daß in der bisherigen Höhe weiter finanziert wird, daß die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen fortgeführt werden, daß der Bergbau ohne Rechtsnachfolger in die Sanierungsvereinbarungen einbezogen wird und daß es verstärkte Anstrengungen zur Regulierung des Wasserhaushaltes gibt.
Ich komme zum Anfangspunkt zurück. Die Ziele sind eigentlich klar definiert. Auch was bedarfsgerechte Finanzierung ist, liegt klar auf der Hand. Die Konsequenz für die Bundesregierung kann deshalb nur sein, die Finanzierung im bisherigen Umfang fortzusetzen. Ich bitte Sie deshalb, den diesbezüglichen Anträgen der Opposition zuzustimmen.
Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, sprechen wir doch einmal über die Details, zum Beispiel über diejenigen, die am Montag in Dresden nicht gelöst wurden, weil sich die Bundesregierung und die Länderregierungen nicht einig werden konnten. Sie haben sich also ergebnislos auf die nächste Woche vertagt.
Es handelt sich auch um eine diffuse Gemengelage, nicht wahr? Der Vorstand der LMBV stellt sich hin und sagt: Man braucht für den Jahreszeitraum 1998 bis 2002 Mittel nicht in Höhe von 7,5 Milliarden DM, sondern in Höhe von 6 Milliarden DM. Theo Waigel atmet tief durch, weil nicht er es sagen mußte, sondern der Vorstand der LMBV ihm das abgenommen hat. Es ändert aber nichts daran, daß durch dieses Katzbuckeln vor der Finanzmisere immerhin etwas in die Welt gesetzt worden ist, was nicht funktioniert, nämlich eine 20prozentige Kürzung eines sehr detailliert ausgerechneten Finanzierungsplanes.
Das hat nichts damit zu tun, daß man die Mittel ein bißchen effizienter einsetzen könnte. Denn diese Pufferzone liegt bei Unternehmen erfahrungsgemäß höchstens bei 10 Prozent. Da ist offensichtlich noch etwas anderes im Spiel.
Man sollte bedenken, daß der Bund nur die Hälfte der zur Verfügung gestellten Mittel trägt. Es heißt, er trägt pro Jahr Mittel in Höhe von nicht einmal 1 Milliarde DM. Im Vergleich dazu muß man sich vor Augen halten, wie bei der Diskussion um die westdeutsche Steinkohle davon geredet worden ist, die Subvention müsse unbedingt über viele Jahre aufrechterhalten werden.
Dabei geht es dort um die Subventionierung der Aufrechterhaltung der Produktion, während es im Osten
nur darum geht, daß die öffentliche Hand den Struk-
Antje Hermenau
turwandel finanziert. Das wäre doch auch für NRW sinngerecht gewesen, nicht wahr? Die öffentlichen Mittel sollen hier also zur Rekultivierung der Landschaft eingesetzt werden und nicht zur Aufrechterhaltung einer Produktion, die man inzwischen als umweltgefährdend und veraltet erkannt hat. Ich denke, das müßte man viel mehr unterstützen und nicht versuchen, noch ein paar Mark zu streichen.
Überlegen wir doch einmal welche Arbeiten es sind, die Sie durch diese merkwürdige Einsparungsvorgabe aufschieben müßten und was dann passieren würde! Es wären vor allen Dingen Abrißarbeiten betroffen, die in den nächsten zwei, drei Jahren anstehen. Natürlich können Sie die Industrieruinen stehen lassen. Dann haben Sie die Lausitzer Seenplatte mit ein paar Ruinen. Das sind aber keine Klöster; das sind zum Beispiel Ziegeleien und Brikettfabriken. Natürlich kann man versuchen, auch daraus ein Disneyland zu machen. Die Region setzt, glaube ich, allerdings eher auf eine andere Form von Tourismus.
Diese kleinen Abrißarbeiten kosten nicht viel, bringen also auch an Einsparungen wenig, sind aber ausgesprochen arbeitsintensiv. Durch eine kleine Einsparung, die Sie durch den Stopp der Abrißarbeiten erreichen wollen, weil Sie bei der Bilanz für 1997 wieder frisieren müssen, schaffen Sie also einen Arbeitsplatzabbau, der nicht logisch und nicht vernünftig ist. Denn in ein paar Jahren müssen Sie die Ziegeleien doch sowieso abreißen. Dann werden wahrscheinlich andere Arbeitskräfte zu anderen Löhnen eingestellt. Das nützt aber nicht der Region, weil dort 34 Prozent der Arbeitnehmer über 50 Jahre alt sind. Die könnten doch mit den langsam auslaufenden Arbeiten in ihren Ruhestand übergehen. Das wäre eine sehr logische und vernünftige Vorgehensweise. Das Geld hingegen zu kürzen und genau diese Arbeiten damit zu treffen ist deshalb absolut unsinnig.
Es gibt noch einen zweiten Aspekt. Alle Regionen in Europa - egal wie strukturschwach oder strukturstark sie sind - stehen in den Startlöchern und scharren mit den Füßen. Die Region, die es vor 2000 nicht geschafft hat, in die Startlöcher zu kommen, wird sehr lange ein abhängiges Subventions- und Abwanderungsgebiet bleiben. Das ist genau das Schicksal, das der Lausitz im Moment beschieden wird. Die Notsanierung - bezüglich Bodenverdichtung und Wasserführung -, die wegen der Gefährdung der Menschen nicht vermeidbar ist, wird durchgeführt, aber es wird nichts dafür getan, daß der Strukturwandel beschleunigt und mit einer Kraftanstrengung durchgezogen wird, damit diese Region zeit- und fristgemäß eine wirkliche Chance hat, in einem Europa der Regionen standzuhalten. Ich halte das für unzumutbar.
Schauen wir uns an, was für Folgekosten entstehen, weil man sich auf diese Kürzungsvorschläge einlassen will, die, wie ich meine, ganz schlecht zu rechtfertigen sind. Vor zwei Wochen habe ich mir selbst vom Vorstand der LMBV erklären lassen, wie er gedenkt, die 20 Prozent Einsparungen beizubringen. Mindestens 10 Prozent beruhen auf unsicheren Daten und Überlegungen. Es gibt Planungsgrößen, die nicht realistisch sind. Das ist keine saubere Buchführung bzw. Rechnungslegung, sondern schlicht und einfach der Versuch, über etwas hinwegzutäuschen. Mit einem so unsauberen Ergebnis lassen sich die Länder nicht abspeisen. Deswegen sind die Verhandlungen am Montag ergebnislos verlaufen.
Welchen volkswirtschaftlichen Nutzen hat es denn, in den nächsten ein oder zwei Jahren ab und zu 0,3 Milliarden DM einzusparen, in den Folgekosten aber weit über eine Milliarde DM hinauszugehen? Das ist doch nicht logisch. Sie werden Zusatzkosten zum Beispiel bei den Entwässerungsarbeiten, bei Neuplanungen, bei Vertragsnachbesserungen und bei Regreßforderungen der Firmen haben.
Ein weiteres Beispiel sind die Sanierungsgesellschaften. Sie wurden 1994 ausgegründet und privatisiert, haben jetzt zwei Jahre lang davon profitieren können, produktive Lohnkostenzuschüsse zu haben, um ihre Arbeit aufzunehmen, und machen jetzt ihre Bedarfsplanung. Dafür brauchen sie natürlich eine mehrjährige Planungssicherheit, denn sonst können sie die nicht machen. Die Arbeitsplätze, die vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt überführt werden könnten, haben jetzt aber keine Perspektive, weil den Sanierungsgesellschaften das Planungskonzept entzogen wird. Ich halte das nicht für sehr vernünftig.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entschuldigen Sie meine rauhe Stimme, aber ich komme aus Cottbus; das erklärt wohl einiges.
Jetzt aber von „Energie" zur Kohle. Aufgeschreckt durch die mittelfristige Haushaltsplanung, die eine Reduzierung des jährlichen Bundesanteils von 750 Millionen DM auf 450 Millionen DM, das heißt eine Reduzierung auf 60 Prozent vorsah, hatte ich angeregt, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten, zumal alle vorliegenden Anträge zur weiteren Sanierung darauf hinauslaufen. Leider haben wir das diesmal nicht geschafft. Trotzdem waren wir uns einig: Die Sanierung der Braunkohlereviere in den neuen Bundesländern muß auch nach 1997 weitergehen, und zwar bedarfsgerecht.
Mein Anliegen war es, anstelle der pauschalen Kürzung, wie in dieser mittelfristigen Planung vorgesehen, bzw. der pauschalen Forderung nach weiteren 1,5 Milliarden DM pro Jahr zunächst nachzuweisen, welcher Aufwand unbedingt erforderlich ist, um
Jürgen Türk
nicht durch Folgeschäden unterm Strich mehr als zuvor bezahlen zu müssen.
Natürlich muß das eine Prüfung der Effizienz der bisher verwendeten Mittel einschließen. Es wäre also zu prüfen, ob mit weniger Geld die gleiche Leistung - so etwas soll es ja geben - oder mit gleichem Geld oder gleicher Arbeitsplatzanzahl mehr Leistung erzielt werden kann, somit eine Effizienzsteigerung möglich ist. Das sollten wir nicht nur im Bereich der Sanierung tun, sondern generell.
An sinnvoller Arbeit ist im Bereich der Sanierung der Braunkohle kein Mangel. Der notwendige Strukturwandel kostet eben Geld.
Auch Bund und Länder waren sich in einem gemeinsamen Positionspapier über eine bedarfsgerechte Verlängerung des Finanzrahmens zunächst bis zum Jahre 2002 einig, selbst darüber, daß der Finzanzrahmen rechtzeitig einvernehmlich - so wird es hier ausgedrückt - festgelegt werden soll. Über diesen bedarfsgerechten Finanzrahmen sollte bereits im Januar/Februar 1997 abschließend entschieden werden. Die letzte Besprechung von Bund und Ländern fand am 14. April in Dresden statt, und noch immer gibt es keine Entscheidung. Das ist wirklich bedauerlich.
Dabei ist inzwischen im Auftrag des Steuerungs-
und Budgetausschusses von der LMBV gerechnet worden. Das Ergebnis: 7,5 Milliarden DM von 1998 bis 2002, nach einer Überprüfung 6,4 Milliarden DM. Das heißt: Es wurden Projekte mit einem Umfang von zirka 500 Millionen DM auf die Jahre nach 2002 verschoben, Projekte wie Demontage, Abriß von Industriebrachen, Rekultivierung als durchweg beschäftigungsintensive Gewerbe. Dabei wurden spezifische Kosten im Umfang von etwa 600 Millionen DM, das sind 8,5 Prozent, eingespart. Darüber hinaus liegen Varianten zwischen 5,2 und 4,4 Milliarden DM vor.
Ich möchte hier klar zum Ausdruck bringen: Dieser Bruch wäre unverantwortlich und kontraproduktiv. Es würde sowohl den Gesamtsanierungsaufwand erhöhen als auch eine weitere drastische Erhöhung der Arbeitslosenzahl bewirken. Das Arbeitslosengeld muß dort ja gegengerechnet werden. - Außerdem können nicht sanierte Flächen nicht verkauft werden. Der Erlös aber wird gebraucht, um die Sanierung zu finanzieren.
Die Sanierung dieser geschundenen Region muß kontinuierlich fortgesetzt und darf nicht abgebrochen oder unterbrochen werden. Es darf also nicht an der falschen Stelle gespart werden; dann wird es wirklich teuer.
Damit würde auch der so notwendige Strukturwandel gestoppt; denn Mondlandschaften vermarkten sich nun einmal schlecht für neue Ansiedlungen.
Deshalb muß jetzt über einen Finanzrahmen von mindestens 6,9 Milliarden DM - 7,5 Milliarden DM abzüglich der Senkung der spezifischen Kosten von 0,6 Milliarden DM - oder von sinnvollerweise 7,5 Milliarden DM von 1998 bis 2002 entschieden werden. Wie schon gesagt: Sinnvolle Arbeit ist in dieser arg gebeutelten Region vorhanden.
Die Mittel werden für einen Wettbewerb zwischen den Sanierungsgesellschaften und den kleinen und mittleren Unternehmen gebraucht, wobei neben der Effizienzsteigerung auch darauf geachtet werden muß, daß die Wirkung des § 249h schrittweise durch Dauerarbeitsplatzverhältnisse, also unbefristete Arbeitsverhältnisse, abgelöst werden muß.
Wenn wir auch weiterhin den schnellen und harten Strukturwandel wollen - den hatten wir bisher -, muß er auch finanziell unterstützt werden. Dazu werden weiterhin jährlich 1,4 Milliarden DM, besser noch 1,5 Milliarden DM benötigt. Denn sinnvolle Arbeit ist ausreichend vorhanden, gerade im Bereich der Industriebrachen und der Rekultivierung, also bei den beschäftigungsintensivsten Gewerben.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Köhne.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich könnten wir uns diese Debatte sparen. Denn das, was passieren muß, ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn man ein Loch buddelt, um Bodenschätze herauszuholen, dann buddelt man es - grob gesagt - anschließend wieder zu und läßt Gras darüber wachsen. Die Kosten dafür müssen natürlich getragen werden. Da die Bundesrepublik Deutschland, wie ich schon im Ausschuß ausgeführt habe, das Volksvermögen der DDR übernommen hat, ist es logisch, daß die Sanierung des Bergbaus dort von der Bundesrepublik Deutschland bezahlt werden muß.
An dieser Sache ist sehr problematisch, daß Sie einen Teil dieser Kosten auf die Arbeitslosenversicherung abwälzen. Was hat das eigentlich damit zu tun, daß Sie das über § 249 h finanzieren wollen?
- Da brauche ich nicht Honecker zu fragen, Frau Kollegin Reichard. Wenn Sie so anfangen,
dann erzähle ich Ihnen einmal etwas ganz anderes. Sie kommen doch aus der ehemaligen DDR. Haben Sie da Licht benutzt? Haben Sie geheizt? Womit haben Sie denn das gemacht? Mit Braunkohle und mit Braunkohlenstrom! Wollten Sie denn frieren?
Daß die DDR eine Energieversorgung auf der Basis von Braunkohle überhaupt eingeführt hat, war eine
Rolf Köhne
Notwendigkeit, die sich aus der Spaltung Deutschlands ergeben hat.
- Ja, natürlich. Öl haben sie nicht gehabt, Steinkohle haben sie nicht gehabt, regenerative Energien gab es damals noch nicht. Was sollten sie denn machen? Es war nur möglich, entweder eine Energieversorgung auf der Basis von Braunkohle einzuführen oder sich den Erpressungen des Westens auszuliefern.
Die DDR war im Gegensatz zu anderen Staaten sogar friedlich. Sie hat keine Armeen in ölfördernde Länder geschickt, um sich billiges Öl zu verschaffen. Auch das sind Dinge, über die man einmal reden muß.
Wenn wir über die Spaltung Deutschlands reden, dann müssen wir auch darüber reden, wer sie denn wesentlich mit herbeigeführt hat. Das war doch auch Konrad Adenauer, der dafür die Verantwortung mit zu tragen hat. Lassen Sie uns doch bitte auch über diese Fakten sprechen und nicht immer nur über die marode DDR.
Ich komme zurück zum Thema. Es ist eine Notwendigkeit, daß diese Gelder gezahlt werden und daß die Bundesrepublik Deutschland diese finanzielle Verpflichtung übernimmt. Von daher könnten wir uns diese Debatte eigentlich sparen.
Zweitens möchte ich etwas zu Ihrem Antrag sagen. Es ist auf jeden Fall notwendig, daß die Gelder bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden. Was bedarfsgerecht heißt, kann man aus zweierlei Dingen ableiten, nämlich erstens aus den umweltpolitischen Notwendigkeiten und zweitens aus dem, was sich aus der Auslastung der Sanierungsbetriebe ergibt. Es muß jährlich ungefähr das gleiche Arbeitsvolumen herauskommen. Aus diesen beiden Aufgaben ergibt sich eine Menge Geld. Es ist auch bekannt, wieviel das ist; darüber ist eben schon gesprochen worden. Dieses Geld muß zur Verfügung gestellt werden.
Damit Sie sich nicht um diese Aufgabe herummogeln können, habe ich eben noch einen Änderungsantrag zu Ihrem Antrag eingebracht, mit dem ich erreichen will, daß das Wort „möglichst" vor „bedarfsgerecht" herausgestrichen wird. Stimmen Sie dem zu, wenn Sie es ehrlich meinen, Herr Staatssekretär Klinkert, daß das nur Wortklauberei ist. Dann werde ich auch Ihrem Antrag zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Reichard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ganz gut, daß ich nach dem Herrn sprechen kann. Ich kann Sie, Herr Kollege, dahin gehend aufklären - vielleicht können Sie sogar zuhören -, daß es sich im bundesdeutschen Bergbau so verhält, daß der aktive Bergbau dafür Sorge zu tragen hat, daß die Gebiete des ausgekohlten Bergbaus saniert werden. Solche Flächen sind zu DDR-Zeiten liegengelassen worden.
Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, daß das jetzt bezahlt wird. - Vielleicht reicht das zur Einführung; es wäre sonst zuviel der Aufmerksamkeit.
Worum es hier geht, haben Sie alle inzwischen mitbekommen. Es geht um das größte Umweltprojekt in Deutschland und - wenn ich richtig informiert bin - sogar in Europa. Es betrifft ausschließlich die neuen Länder und hat eine große beschäftigungspolitische Wirkung. Die Finanzierung ist bis Ende dieses Jahres sichergestellt; 1,5 Milliarden DM jährlich stehen für die Sanierung der Braunkohlegebiete zur Verfügung. In unserem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, für die nächsten fünf Jahre, einvernehmlich mit den Braunkohleländern, einen Finanzrahmen für eine weitere bedarfsgerechte Finanzierung festzulegen. Bund und Länder sind sich darin einig, daß die Sanierung fortgesetzt werden soll; denn die Ziele, auf die man sich geeinigt hat, sind noch lange nicht erreicht.
Ich habe eigentlich gehofft, daß sich das Thema heute schon erledigt hätte. Darüber besteht auch, wie Sie gehört haben, fraktionsübergreifend Einigkeit. Denn Großprojekte erfordern einen entsprechenden zeitlichen Vorlauf für Projektierung und Ausschreibung. Frau Hermenau hat schon gesagt, daß auch die Projektierung von der Höhe der Finanzmittel abhängt, die wir zur Verfügung stellen können. Auch die Unternehmen müssen langfristig planen und können nur so dauerhafte Arbeitsplätze anbieten.
Wir alle wissen, daß Sparen angesagt ist. Es ist untersucht worden, welches Sparpotential vorhanden ist. Ich setze mich dafür ein, daß man ein vorhandenes Sparpotential auch nutzt
und daß wir jetzt nicht einfach pauschal fordern, daß es in dem gleichen Umfang fortgeführt werden soll. Mittlerweile liegen Zahlen auf dem Tisch; sie sind bereits genannt worden. Es wurden auch Vorschläge zur Streckung der Sanierungsmaßnahmen geprüft. Kurz gesagt, lautet das Ergebnis: Eine Streckung der Sanierungsmaßnahmen ist aus ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und auch finanziellen Gründen nicht zu verantworten.
Die Gesamtkosten würden durch die für den Wasserhaushalt erforderlichen hohen Fixkosten von Maßnahmen zur Gefahrenabwehr erheblich steigen.
Christa Reichard
Eine Unterfinanzierung durch den Bund könnte aber auch die Länder veranlassen, aus der Finanzierung auszusteigen. Die vereinbarten Sanierungsziele wären dann nicht mehr zu erreichen. Aber auf diese Ziele haben sich Bund und Länder geeinigt, und nur auf der Grundlage dieser Zielsetzung beteiligen sich die Länder an der Finanzierung. Für die Gefahrenabwehr und die Beseitigung ökologischer Schäden ist allein der Bund zuständig.
Die arbeitsmarktpolitische Flankierung, die Mittelstandsförderung und die Strukturentwicklung sowie die Beseitigung von Investitionshemmnissen liegen dagegen stärker im Interesse der Länder. Personalintensive Aufgaben würden, wie auch Frau Hermenau erklärt hat, bei einer zeitlichen Streckung als erste verschoben. Zum Ende dieses Jahres hätte eine solche Entscheidung mehrere tausend Entlassungen auf einen Schlag zur Folge. Die Ansiedlung von neuen Wirtschaftsstrukturen nach der Sanierung würde unterbleiben, und das Entstehen neuer Arbeitsplätze würde sich dadurch erheblich verzögern oder unmöglich werden.
Meine Damen und Herren, es geht hier um eine Region, die in drei Jahren mehr als 100 000 Entlassungen zu verkraften hatte.
An Rhein, Ruhr und Saar waren es in 20 Jahren nicht annähernd so viele. Auch lief das dort unter weit günstigeren Rahmenbedingungen ab. Trotz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen liegen die Arbeitslosenquoten in den ostdeutschen Kohleregionen immer noch über 20 Prozent.
Frau Kollegin, darf ich Sie einmal unterbrechen? Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matschie?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Reichard, Sie haben in der Debatte im Herbst vergangenen Jahres hier ausgeführt, daß Sie es für notwendig halten, daß in den nächsten fünf Jahren in etwa der gleiche Finanzrahmen zur Verfügung steht wie im Jahr 1997. Stehen Sie noch zu dieser Aussage?
Wie darf ich Ihre Äußerung, daß man auch mit weniger auskommt, beurteilen?
Ich habe meine Rede damals zu Protokoll geben müssen, weil keiner bereit war, um Mitternacht zu dem Thema zu reden. Dies sage ich nur nebenbei. Solche Themen werden gern gegen Mitternacht abgehandelt. - Ich denke, daß die vorliegenden Zahlen rechtfertigen, zu sagen, daß wir ein Stück weit unter den damaligen
Zahlen bleiben können. Ich äußere mich später noch dazu.
Meine Damen und Herren, die Betroffenen in den Regionen haben sich im Gegensatz zu den von den Veränderungen im Steinkohlebereich Betroffenen nicht langfristig auf die Veränderungen, die auf sie zugekommen sind, vorbereiten können. Trotzdem gab es Einsicht in ihre Notwendigkeit. Es gab keine Streiks; es gab keinen Aufstand. Außerhalb der betroffenen Regionen hat diese Entlassungswelle kaum jemand wahrgenommen.
Der Kanzler hat den Bergleuten in Leipzig im vergangenen Jahr zum Barbara-Tag kurzfristig eine bedarfsgerechte Finanzierung zugesagt. Das ist vier Monate her. Das Finanzministerium hat diese Zusage bis heute leider noch nicht umgesetzt. Was lange währt, wird endlich gut, sagt der Volksmund - vielleicht auch der Finanzminister. Leider hat er die Verhandlungen zwischen Bund und Braunkohleländern nach dieser Zusage erst einmal verschoben und am Montag dieser Woche ergebnislos vertagen lassen.
Meine Damen und Herren, ich habe dennoch gemeinsam mit allen Betroffenen die Hoffnung nicht aufgegeben, daß den Worten des Kanzlers die Taten des Finanzministers folgen. Mit großer Geduld und Beharrlichkeit haben sich ebenso wie die betroffenen Länder die Abgeordneten aus den neuen Ländern, insbesondere aus dem Freistaat Sachsen, um einen erfolgreichen Abschluß der Gespräche bemüht.
Ich weiß nicht, meine verehrten Kollegen aus dem Saarland und Nordrhein-Westfalen - ich habe Schwierigkeiten, welche zu entdecken,
- wunderbar -, wie Sie es aufgenommen haben, daß auch die Braunkohlekumpel zu den Demonstrationen um den Erhalt des Steinkohlebergbaus nach Bonn gekommen sind. Ich vermisse eine ähnliche Solidarität im umgekehrten Fall.
Meine Damen und Herren, große Demonstrationen für die Steinkohle fanden hier mit starker Medienpräsenz statt. Kurzfristig konnte mit der Bundesregierung eine Kompromißlösung gefunden werden. Ich hoffe, daß der Zuschlag für die Steinkohle in Höhe von 300 Millionen DM nicht bei der Braunkohle abgezogen wird. Jede Mark kann ja nur einmal ausgegeben werden.
Ich kann mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, daß mit zweierlei Maß gemessen wird. Es ist die gleiche Gewerkschaft, die geduldig und moderat die Ost-Forderungen, aber lautstark, ungeduldig und mit spektakulären Aktionen die Forderungen der westdeutschen Steinkohlekumpel vertritt.
Christa Reichard
Es sind die gleichen Medien, die die dramatische Situation in den ostdeutschen Braunkohleregionen allenfalls regional zur Kenntnis nehmen,
die Situation in den Steinkohlerevieren und die Proteste der Kumpel in Bonn aber in Form von Kriegsberichterstattung bundesweit darstellen und die Forderungen unterstützen.
Es ist das gleiche Bundesfinanzministerium, das für die weitere Subventionierung der Steinkohle innerhalb einer Woche einen Kompromiß finden konnte, die Zusage des Kanzlers für eine kurzfristige bedarfsgerechte Finanzierung aber auch vier Monate danach noch nicht hat umsetzen können.
Ich möchte keinesfalls eine Ost-West-Debatte mit dem Ziel führen, Neid zu wecken und zu spalten. Wir sind ein Volk! Mit diesem Ruf bin ich 1989 mit vielen anderen in Dresden auf die Straße gegangen. Das werde ich nie vergessen. Mein Motto ist und bleibt, Brücken statt Mauern zu bauen.
Aber mich beunruhigt zunehmend die unterschiedliche öffentliche Wahrnehmung von Problemen in Ost und West. Dies ist leider nur ein Beispiel. Wir müssen die Umstrukturierung in den betroffenen Regionen in Ost und West in gleicher Weise ernst nehmen. Das sage ich beiden Seiten.
Bei den Betroffenen in Ostdeutschland entsteht leider der Eindruck, daß berechtigte Wünsche und Forderungen nur mit spektakulären Aktionen durchzusetzen sind. Das macht mir Sorge.
Ich habe den vorliegenden Antrag vor etwa einem Jahr initiiert. Mit dem neuen Arbeitsförderungsgesetz konnte der zweite Teil des Antrags zur Fortführung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente bereits umgesetzt werden.
Als bedarfsgerecht - das möchte ich als Konkretisierung unseres Antrags an dieser Stelle ausdrücklich hinzufügen - schätze ich nach Aussagen von Experten eine Größenordnung von etwa 6,5 Milliarden DM für die nächsten fünf Jahre ein.
Meine Damen und Herren, betroffen von den angesprochenen Themen sind Menschen nicht nur in meinem Heimatland Sachsen, sondern auch in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Wenn die Sanierung nicht fortgesetzt wird, bleibt auch den Berlinern das Wasser weg.
Entscheiden Sie sich für eine bedarfsgerechte Finanzierung, sonst wird das Ganze teurer!
Jetzt hat die Kollegin Christine Kurzhals das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist hier alles gesagt worden, und wir sind uns ja eigentlich alle einig. Alle wollen dasselbe. Ich fange meine Rede trotzdem so an, wie ich sie mir aufgeschrieben habe.
Mein Kollege Matschie hat ja die Ziele der Sanierung im Osten genannt. Ich möchte die Probleme der Braunkohlesanierung aus der Sicht der Menschen der betroffenen Regionen schildern. Denn ich komme selbst aus einer solchen Region. Mein Wahlkreis ist der Landkreis Leipzig-Land. Zu ihm gehört der Leipziger Südraum. Diese Region - dies ist in den Wendejahren durch die Presse gegangen - ist in sehr hohem Maße von den Hinterlassenschaften des Braunkohletagebaus betroffen. Zirka zwei Drittel des Wahlkreises sind Bergbaufolgeflächen und Tagebaurestlöcher. Wie schon gesagt: Es sind Mondlandschaften.
Hinzu kommen noch sehr viele karbochemische Industriebrachen. Viele von Ihnen werden aus der Wendezeit noch die Namen Espenhain - man nannte diese Ortschaft damals die „Dreckschleuder der Nation" - und Mölbis, die damals am meisten verschmutzte Gemeinde, kennen.
Mit der Schließung dieser Braunkohlefabriken und Schwelereien sowie dem Rückgang des aktiven Tagebaus brachen Zehntausende Arbeitsplätze in den ehemaligen Braunkohlerevieren weg. Die betroffenen Beschäftigten setzten nun ihre Kraft für die Sanierung dieser geschundenen Umwelt ein. Wir müssen den Betroffenen, die soviel Initiative zeigten, wirklich danken.
So entstanden neue Arbeitsplätze, zuerst auf dem zweiten Arbeitsmarkt, in den Braunkohlesanierungsgesellschaften. Wie eine Studie der Universität Cottbus zeigt, entstanden durch die Sanierung außerdem fast genauso viele Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt. Es gründeten sich Firmen, die auf Braunkohlesanierung spezialisiert waren. Und es gibt eine nicht unerhebliche Zulieferindustrie und Nachfolgeindustrie in der Bergbausanierung. Sie alle schufen Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Die Cottbuser Studie und meine persönlichen Erfahrungen widerlegen die Begründung der Koalition, unseren Antrag abzulehnen. Denn Ihre Einwendungen, die Sanierungsgesellschaften zerstörten Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt, sind falsch. Ebenso scheinen Sie vergessen zu haben, daß die Sanierungsgesellschaften mittlerweile selbst privatisiert wurden und sich genau wie jede andere Firma an den Ausschreibungen der Lausitzer und Mitteldeutschen Braunkohleverwaltungsgesellschaft - kurz: LMBV - beteiligen müssen.
Auch die auf dem ersten Arbeitsmarkt tätigen Firmen arbeiten mit Arbeitnehmern, die über den § 249 h finanziert werden. Es gibt nur einen Unterschied zu den Sanierungsgesellschaften: Sie entlassen sofort, wenn das Objekt saniert worden ist.
Christine Kurzhals
Nun droht allen in der Bergbausanierung Beschäftigten das Aus. Wenn die Mittel für die Bergbausanierung in dem von der Bundesregierung geplanten Rahmen gekürzt werden, können nur noch bergmännische Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden, wie hier schon oftmals festgestellt wurde. Von einer Sanierung und Rekultivierung der Bergbaufolgeflächen kann keine Rede mehr sein.
Auf der 2. Sanierungskonferenz der IG Bergbau und Energie in Leipzig am vergangenen Freitag warnten Gewerkschafter und die Vertreter der betroffenen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg vor der Kürzung der Mittel. Sie wiesen auf die Folgen hin und warnten vor der zu erwartenden Massenarbeitslosigkeit in diesen Regionen.
Bei mir im Wahlkreis haben wir schon jetzt eine Arbeitslosenquote von 21 Prozent. Diese hohe Arbeitslosigkeit ist die Folge des drastischen Abbaus von Sanierungsarbeitsplätzen durch das Auslaufen der Förderfähigkeit über § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes.
Ich möchte an Hand eines Beispiels, nämlich der Mitteldeutschen Braunkohlesanierungsgesellschaft - kurz: MBS -, einer Sanierungsgesellschaft in meinem Wahlkreis, schildern, welche Folgen das hatte: Noch im Mai 1995 gab es in der mitteldeutschen Braunkohlensanierung 3 911 Beschäftigte. Das sind fast 4 000 Beschäftigte gewesen. Durch das Auslaufen von Arbeitsförderungsmaßnahmen schmolz die Belegschaft auf derzeit 1 118 Beschäftigte zusammen. Das bedeutet einen Arbeitsplatzabbau in weniger als zwei Jahren um mehr als zwei Drittel.
Eine Rekrutierung von Fachkräften für die Tagebausanierung ist kaum noch möglich. Das verringert natürlich die Überlebenschancen dieser Gesellschaft; denn Bergbausanierung kann man nicht mit Bäkkern, Frisören oder anderen durchführen. Darum ist es dringend notwendig, eine Verlängerung der Verweildauer in Maßnahmen nach § 249 h und § 63 Abs. 4 Arbeitsförderungsgesetz für die Bergbausanierung zu erwirken.
Das stärkt die Wettbewerbsfähigkeit dieser Gesellschaft.
Um einen arbeitsmarktpolitischen Kollaps in den Bergbauregionen Ostdeutschlands zu verhindern, müssen wir noch weit über das Jahr 2002 hinaus diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente einsetzen. Ein Abbau dieser Instrumente würde die Chancen zum wirtschaftlichen und sozialen Aufbau in den betroffenen Regionen auf lange Zeit gegen Null laufen lassen. Viele der derzeit Beschäftigten würden bei der allgemeinen Arbeitsmarktlage im Osten chancenlos sein.
Das betrifft in erster Linie wieder einmal die Frauen, die noch zu 20 Prozent in den Sanierungsgesellschaften tätig sind, sowie ältere Arbeitnehmer. Frau Reichard hat das bereits angesprochen. Derzeit sind 34 Prozent der Beschäftigten älter als 50 Jahre sowie 14 Prozent der Belegschaft im Alter zwischen 45 und 50 Jahren.
Diese Beschäftigten hätten nur noch die Perspektive der Langzeitarbeitslosigkeit und später der Sozialhilfe, und das, obwohl sie wissen, daß es noch vielerlei Tätigkeiten bei der Sanierung weit über das Jahr 2002 hinaus geben kann, zum Beispiel die Aufarbeitung von Altlasten des Altbergbaus ohne Rechtsnachfolger - sie wurde bereits genannt -, der Abriß und die Sanierung von Industriebrachen aus dem Nichtbergbau und die Regelung von Arbeiten zur Verbesserung der Vorflutung für den Wasseranstieg.
Eine Kürzung der Mittel würde eine Verschiebung gerade der arbeitsplatzintensivsten Sanierungsarbeiten bedeuten.
Die LMBV hat ganz deutlich gesagt, daß sie die Sanierung der Industriebrachen und Altlasten verschieben würde. Hier wurde behauptet, das sei nicht bekannt.
Die vom Bund geplante Kürzung der Mittel bedeutet einen Abbau von 4 000 Arbeitsplätzen bis zum Jahre 2002 in den Braunkohlensanierungsgesellschaften und weiterer Tausender Arbeitsplätze in den Zulieferindustrien und vielen ortsansässigen mittelständischen Betrieben.
Eine durch Mittelkürzung erzwungene zeitliche Verschiebung von Sanierungsarbeiten nach dem Motto „Wir machen weiter, wenn wir das Geld haben" ist eine falsche Rechnung.
Denn eine spätere Sanierung kostet ein Vielfaches dessen, was heute gebraucht wird. Außerdem bedeutet eine Verschiebung der Sanierung Mindereinnahmen für den Bund aus dem Verkauf der sanierten Flächen. Diese Erlöse sind Teil des Finanzierungskonzeptes der Sanierung.
Die schnelle Sanierung der Altlasten und Bergbaufolgelandschaften ist dringend notwendig, um neue Industrien anzusiedeln und damit Arbeitsplätze zu schaffen, um die Hoffnungslosigkeit der betroffenen Menschen in diesen Regionen abzubauen und damit zu verhindern, daß dort das Armenhaus Ostdeutschlands entsteht.
Deshalb kann ich nur unterstreichen, was Sie, Herr Klinkert, am 10. Oktober 1996 vor dem Bundestag zur Braunkohlensanierung sagen wollten. - Es ist bereits betont worden, daß die Reden zu Protokoll gegeben wurden. - Sie haben damals gesagt:
Wir sollten uns angesichts dieser Zahlen sehr genau überlegen, ob wir die Sanierung tatsächlich auf die lange Bank schieben oder sie mit bergmännischen Methoden und bergmännischem Know-how fortführen, um auf diese Weise zur Bergsicherheit beizutragen und den Menschen in der Region sichere Arbeitsplätze und eine Perspektive zu schaffen.
Christine Kurzhals
Sie stellten damals auch fest, daß eine Verschiebung auf jeden Fall teurer werden würde.
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit; sie ist nämlich schon abgelaufen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Zeit sind in Ostdeutschland noch 13 000 Arbeitsplätze in der Sanierung. Ich möchte Sie bitten - darin sind sich die ostdeutschen Abgeordneten eigentlich einig -, Ihre Ziele so hoch zu stecken, daß wirklich nach Bedarf vorgegangen werden kann, also so, wie wir es schon bisher hatten. 7,5 Milliarden DM muß das Ziel sein. Ich hoffe, Sie können Ihren Finanzminister davon überzeugen.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Herr Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung des Freistaates Sachsen, Arnold Vaatz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
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Aber auch den sächsischen Bergleuten sind natürlich die Vergleichszahlen geläufig, daß der Bund gegenwärtig 88 000 Beschäftigte im Steinkohlebergbau - beginnend mit über 9 Milliarden DM im Jahr 1998 und jährlich reduziert bis auf 7,4 Milliarden DM im Jahre 2002 - unterstützt. Für den Zeitraum, in dem wir in Ostdeutschland mit 6 Milliarden DM für die Sanierung rechnen, stellt der Bund für den Steinkohlebergbau 40 Milliarden DM bereit. Das entgeht unseren Bergleuten nicht! Ich sage das nur, damit das hier klar ist.
Ich will den Bergbau in Ostdeutschland nicht mit dem in Westdeutschland vergleichen: Wir haben nämlich in Ostdeutschland einen subventionsfreien Bergbau durchgesetzt. Ich kann Ihnen sagen, was das heißt.
Bei der Sanierung handelt es sich nicht um eine Kürleistung, sondern um eine unabdingbare Pflicht des Bergbaus, seine Hinterlassenschaften zu Ende zu bringen.
Deshalb können wir über diese Frage nicht diskutieren.
Die sächsische Landesregierung hat sich stets für eine maßvolle Lohnpolitik in Ostdeutschland eingesetzt. Sie hat immer ein klares Ja zum Strukturwandel gesagt. Wir sind nie in den Chor derer eingefallen, die in Ostdeutschland lauthals 100 Prozent der Westlöhne fordern. Wir sprechen offen aus, welche Sorge es uns bereitet, daß Lohn und Produktivität in Ostdeutschland weiter auseinandergehen. Wir fordern die Menschen in Ostdeutschland permanent dazu auf, sich nicht allein mit Westdeutschen zu vergleichen, sondern sich ab und zu darauf zu besinnen, wo sie herkommen und wie die Verhältnisse früher waren.
Wir weisen unablässig darauf hin, wie groß der Unterschied zwischen den früher mit der DDR vergleichbaren osteuropäischen Staaten und dem heutigen Ostdeutschland ist. Wir erinnern daran, in welch hohem Maße wir diesen Aufschwung der Solidarität der Westdeutschen verdanken. Was wir zu Hause sagen, ist oftmals unpopulär. Die Abgeordneten wissen, wovon ich rede.
Weil wir eine klare Meinung vertreten haben und ehrlich waren, haben uns die Menschen mit einem überzeugenden Vertrauensvotum gedankt.
Heute gebietet es die Situation, daß wir unmißverständlich sagen: Die Grenzen des Ertragbaren sind erreicht, wenn diese 6 Milliarden DM zur Disposition gestellt werden.
Wer die Disziplin und Einsichtsfähigkeit ostdeutscher Bergleute mit Schwäche verwechselt, der begeht einen schweren Fehler. Er verspielt nämlich einen Vertrauenskredit, der so leicht nicht zurückzuerwerben ist und ohne den uns weder die deutsche Einheit noch die Vereinigung Europas wirklich gelingen wird.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie: Setzen Sie sich dafür ein, daß der ostdeutsche Sanierungsbergbau bezahlt werden kann! Wir brauchen dazu mindestens 6,1 Milliarden DM.
Ich schließe damit die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Fortsetzung der Sanierung der Braunkohlegebiete in den neuen Ländern. Das ist die Drucksache 13/6776 Nr. 1.
Jetzt muß ich die Kollegen darauf hinweisen, daß zu dieser Beschlußempfehlung ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS eingebracht worden ist. Ich lese ihn jetzt vor. Er ist sehr kurz. Der Änderungsantrag heißt: „Im zweiten Satz des Antrages ist das Wort ,möglichst' zu streichen." Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der Gruppe der PDS, das Wort „möglichst" zu streichen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Änderungsantrag der Gruppe der PDS mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5588 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Es gab keine Gegenstimmen, aber Enthaltungen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Sanierung des Wasserhaushaltes in den Lausitzer und Mitteldeutschen Braunkohlerevieren. Das ist jetzt Drucksache 13/6776 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4850 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Braunkohlesanierungsgesellschaften, Drucksache 13/6776 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 5225 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen von SPD und PDS angenommen worden, keine Enthaltungen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur ökologischen Sanierung der Braunkohlereviere. Das ist jetzt Drucksache 13/6776 Nr. 4. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 13/5721 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Robert Leidinger, Ottmar Schreiner, Rudolf Dreßler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur vollen Absicherung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Krankheitsfall
- Drucksache 13/6843 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Hans Büttner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die von der Koalition mit Mehrheit beschlossene gesetzliche Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall führt nicht nur zu einer schädlichen Wettbewerbsverzerrung innerhalb der Wirtschaft. Sie erschwert darüber hinaus die vielfältigen betrieblichen Maßnahmen, mit Hilfe derer in Folge des LahnsteinKompromisses 1992 erhebliche Erfolge bei der Verbesserung des Gesundheitszustands von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Betrieben erreicht worden sind.
Das Gesetz der Regierungskoalition ist gegen den Widerstand der meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland durchgesetzt worden. Es hat den sozialen Frieden in unserem Land und das soziale Klima in vielen Betrieben und Branchen empfindlich gestört und verschlechtert. Es führt vor allem zu einer Spaltung der Arbeitnehmerschaft und zu einer unberechtigten Verzerrung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe.
Für mehr als 10 Millionen Beschäftige wurde die Lohnfortzahlung inzwischen durch Tarifverträge wieder gesichert. Sie mußten dafür allerdings Lohn- und Gehaltseinbußen in Höhe von mehreren Milliarden DM hinnehmen. Rund 20 Millionen Beschäftigte trifft der Wegfall der Lohnfortzahlung allerdings in voller Schärfe. Das Risiko von Krankheit trifft in diesen Fällen ausschließlich die Kranken, Arbeitgeber werden aus ihrer Verpflichtung, für gesundheitlich zumutbare Arbeitsbedingungen zu sorgen, wieder entlassen.
Dies ist - wie auch in anderen Zielrichtungen der regierungsamtlichen Gesundheitspolitik ablesbar - nicht nur die Aufkündigung der solidarischen und gemeinsamen Verantwortung von Staat, Arbeitnehmern und Arbeitgebern für ein auf Heilung ausgerichtetes Gesundheitssystem, wie es auch die Bundesregierung in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation Mitte der 80er Jahre unterschrieben hat. Dies führt auch, zusammen mit der unsinnigen Streichung und Verschlechterung im § 20 SGB V, zu einem weitgehenden Abwürgen erfolgreicher be-
Hans Büttner
trieblicher Maßnahmen zur Verbesserung der betrieblichen Gesundheitssituation und damit verbunden auch zu einer Verfestigung der Krankenstände, statt zu ihrer Verringerung.
Durch betriebliche Gesundheitsberichte, Mitarbeiterbefragungen, Gefährdungsbeurteilungen, Gesundheitszirkel, Screenings und Expertengespräche sowie Branchenberichte auf überbetrieblicher und betrieblicher Ebene konnte in vielen Betrieben in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen der Gesundheitsstand zwischen 1992 und 1996, bevor dieses Gesetz in Kraft getreten war, erheblich verbessert werden.
In dem in meinem Wahlkreis ansässigen Automobilunternehmen Audi konnte dadurch der Gesundheitsstand bei Beibehaltung der Lohnfortzahlung zu dieser Zeit von 92,8 Prozent auf 95,3 Prozent erhöht werden. Der Krankenstand lag also nur noch bei 4,7 Prozent, während er noch Anfang der 90er Jahre, vorgreifend der Maßnahmen, die das SGB V in der Fassung von Lahnstein mit seinem § 20 ausgelöst hatte, teilweise über 8 Prozent betragen hatte.
Ermöglicht wurde dies durch ein zielgenaues Gesundheitsmanagement in den Betrieben, das sich auf die Beseitigung von Krankheitsursachen konzentriert und diese mit Hilfe der Krankenkassen wirksam bekämpft hat. Diese betriebs- wie volkswirtschaftlich überaus erfolgreichen Ansätze wurden durch die Abschaffung der gesetzlichen Lohnfortzahlung sowie durch die Einschränkungen der Präventionsmöglichkeiten durch die Gesetze zur Neuordnung des Gesundheitswesens wesentlich erschwert bzw. gänzlich zerstört.
Zum einen wurde durch die Abschaffung der Lohnfortzahlung der Druck auf die Betriebe genommen, zu einer aktiven Gesundheitspolitik beizutragen. Denn die Kosten für fehlende aktive betriebliche Gesundheitspolitik wurden durch das Gesetz auf die Kranken und über erhöhte Beiträge auf die Allgemeinheit abgewälzt.
Zum anderen führt das weitgehende Verbot der Krankenkassen, selbst aktiv betriebliche Präventionsprogramme mitzufinanzieren, dazu, daß erfolgreiche Maßnahmen ins Stocken geraten oder teilweise wieder gänzlich eingestellt werden, wie Umfragen bei den Krankenkassen wie auch bei den Berufsgenossenschaften zeigen.
Diese Entwicklung zeigt nicht nur die Unfähigkeit der Koalition, eine abgestimmte, die Ursachen beseitigende und Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpfende Gesundheitspolitik zu betreiben. Das Zustandekommen dieses fahrlässigen Gesetzes macht darüber hinaus deutlich, daß diese Regierung und die sie tragenden Parteien in Wirklichkeit an einer solchen Politik nie interessiert waren.
Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat in diesem Hause gebetsmühlenhaft vorgetragen, die Regierung habe sich zu diesem Schritt, das heißt zur Abschaffung der Lohnfortzahlung, deswegen gezwungen gesehen, weil sich die Tarifpartner nach dem Kanzlergespräch 1995 nicht hätten auf eine Politik zur Verbesserung des Gesundheitsstands der Belegschaften und damit zu einer Absenkung der Krankenstände einigen können.
Diese Aussage war schlicht und einfach falsch. Denn die Rückführung der Krankenstände war - das hätten Herr Schäuble wie auch Sie wissen müssen und können, wenn Sie sich nur einigermaßen bemüht hätten, sich in den Betrieben zu informieren - durch die Präventionsmaßnahmen, die gezielten Gesundheitsmanagementmaßnahmen, überall dort, wo das eingeleitet worden war, bereits weitgehend erfolgreich vorangetrieben worden.
Wenn Sie nur einen Blick in die Statistiken der gesetzlichen Krankenversicherung geworfen hätten, die es seit über 100 Jahren gibt und in denen seit über 100 Jahren jeder Krankheitstag, auch der erste, statistisch festgehalten wird, dann hätten Sie bereits vor dem Einbringen dieses Gesetzes feststellen können - wir haben Ihnen das damals schon auch in diesem Hause gesagt -, daß die Krankenstände in Deutschland im Jahr 1995 den tiefsten Stand seit über 100 Jahren erreicht hatten. Das war das Ergebnis vernünftiger präventiver Maßnahmen und nicht das Ergebnis von Kostenverschiebung auf die Kranken und Entsolidarisierung.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesen Maßnahmen - Prävention, Gesundheitszirkel, betriebswirtschaftliche und gesundheitspolitische Ansätze -, die in den Betrieben eingeleitet worden waren, konnten das betriebliche Wohlbefinden der Mitarbeiter und damit ihre Motivation erhöht und gleichzeitig die Kosten für die Betriebe und für die Allgemeinheit gesenkt werden. Diesen erfolgreichen, innovativen und wirksamen Prozeß haben Sie durch das Gesetz über die Abschaffung der Lohnfortzahlung und die Einschränkung der Prävention aufgehalten. Damit haben Sie den Weg zu einer sowohl volkswirtschaftlich wie auch betriebswirtschaftlich sinnvollen Senkung von Gesundheitskosten blockiert. Aus diesem Grund muß dieses Gesetz dringend geändert werden, damit der Weg frei wird für mehr Innovation, für mehr Wirtschaftlichkeit in der Gesundheitspolitik und für mehr Aufbruch und Motivation für unsere Gesellschaft schlechthin.
Ich fordere Sie deshalb auf, Ihren fahrlässigen und falschen Weg aufzugeben und unseren Gesetzentwurf zu unterstützen, damit Prävention, Innovation und Vernunft in die Gesundheitspolitik zurückkehren und nicht Spaltung und Verschiebung zu Lasten der Kranken und der Betroffenen herrschen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Julius Louven.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft hat Anfang dieses Monats ein 30-Punkte-Papier für mehr Beschäftigung vorgelegt unter der Überschrift „Sozial ist, was Beschäftigung schafft" -
eine, wie ich denke, richtige Aussage.
Für viele Wissenschaftler und Politiker, auch der SPD, bedeutet diese Aussage, daß die Kosten für den Faktor Arbeit gesenkt werden müssen. In diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, das Buch des Wissenschaftlers, Politikers und Gewerkschaftlers Friedhelm Farthmann zu lesen, der insbesondere zur Lohnfortzahlung hochinteressante Aussagen gemacht hat und in seiner Analyse weiter geht als das, was wir hier beschlossen haben.
Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, fällt in diesem Zusammenhang - Kosten senken - nichts anderes ein, als versicherungsfremde Leistungen umzuschichten: Umfinanzieren statt Sparen. Sonst ist von der SPD nichts zu hören.
Nun will ich, Herr Büttner, an die Kanzlerrunde vom 23. Januar 1996 erinnern, in der mit den Gewerkschaften und mit den Arbeitgebern beschlossen wurde, daß bis zum Jahr 2000 der Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent und die Staatsquote von derzeit über 50 Prozent auf 46 Prozent gesenkt werden muß. Das ist das Niveau, welches wir vor der Wiedervereinigung hatten. Ich erinnere immer wieder daran, daß dies zusammen mit den Gewerkschaften beschlossen worden ist.
- Natürlich steht da auch noch anderes drin, Herr Ostertag, ich kann Ihnen ja nicht alles vorlesen.
Das IAB, also das Forschungsinstitut der Bundesanstalt für Arbeit, hat sich anschließend mit der Frage beschäftigt, wie man dann, wenn dieses so beschlossen wird, die Arbeitslosigkeit halbieren kann. Das IAB kommt auf Antrag der Selbstverwaltung, also wiederum auch der Arbeitnehmer, zu drei wichtigen Erkenntnissen: erstens durch Verringerung der Jahresarbeitszeit in flexibler, reversibler und kostengünstiger Form; zweitens durch längerfristig zurückhaltende Tarifpolitik bei Löhnen, die hinter dem Produktivitätsfortschritt bleiben, und drittens durch Senkung von Steuern und Sozialbeiträgen.
Deshalb, meine Damen und Herren von der SPD, kann das Ziel nicht heißen: umfinanzieren, sondern es muß heißen: erst sparen und dann umfinanzieren.
Aber es ist unstreitig, Herr Büttner - Sie lernen es offensichtlich nie -, daß die volle Lohnfortzahlung, wie wir sie hatten, erstens erhebliche Kosten verursacht und zweitens zu Mißbrauch führt.
Eine derartige Regelung wie bei uns gibt es in keinem anderen Land der Welt. Schweden -wir sind ja auch mit einigen Kollegen von Ihnen dort gewesen -, das die gleiche Regelung wie wir hatte, ist im Einvernehmen zwischen Regierung und Opposition weiter als wir zurückgegangen. Der Krankenstand hat sich in Schweden innerhalb von vier Jahren um 50 Prozent reduziert.
Ich könnte Ihnen die Zahlen von Dänemark und den Niederlanden auch noch vortragen, aber ich vermute, daß Sie die kennen und trotzdem lieber ignorieren.
Die von uns beschlossene Regelung läßt den Tarifpartnern Möglichkeiten, die sie zu den unterschiedlichsten Modellen genutzt haben. Dadurch sind bislang Entlastungseffekte von hochgerechnet 6,6 Milliarden DM entstanden.
Wichtig dabei ist, daß auch der Krankenstand in Deutschland zurückgeht.
Durch die von uns geschaffene Möglichkeit, Herr Büttner, durch das Einbringen von Urlaub einem finanziellen Verlust bei Krankheit zu entgehen, ist den Arbeitnehmern eine Wahlmöglichkeit gegeben. Ich denke, bei 30 Urlaubstagen, die es in der Bundesrepublik gibt, ist es möglich, für sechs Wochen Krankheit sechs Tage Urlaub einzubringen. Dann bleibt immer noch mehr Urlaub übrig als in allen anderen westlichen Industrienationen.
-Bei Ihnen ja auch nicht. Was bläffen Sie denn hier so dazwischen! Offensichtlich wissen Sie gar nicht, wovon Sie reden!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Sofort, dem Kollegen Schreiner immer. - Bei Inkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes 1959 betrug der damalige Durchschnittsurlaub 16 Tage. Daran muß man ja auch wohl mal erinnern dürfen. - Bitte, Herr Kollege Schreiner.
Herr Kollege Louven, nachdem Sie auf den international guten Standard der gesetzlichen Lohnfortzahlung in Deutschland und auf die vergleichsweise gute Urlaubsregelung in
Ottmar Schreiner
Deutschland hingewiesen haben, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß der Bundesarbeitsminister mit Schreiben vom 10. März dieses Jahres den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion zur Kenntnis gebracht hat, daß kein Land der Europäischen Union seit 1990 in einem so massiven Maße Sozialabbau wie die Bundesrepublik Deutschland betrieben hat, bezogen auf die Gesamtheit der sozialen Leistungen. Es geht ja nicht an, hier Rosinenpickerei zu betreiben, sondern man muß die Sozialleistungen insgesamt sehen. Ist es richtig, daß nach Auffassung des Bundesarbeitsministers kein Land der Europäischen Union seit 1990 in einem so massiven Maße Sozialabbau betrieben hat wie Deutschland und daß neben Portugal und Italien die Bundesrepublik Deutschland West -für Ostdeutschland gelten einigungsbedingt besondere Verhältnisse - inzwischen die mit Abstand niedrigste Sozialleistungsquote in Europa hat, mit anderen Worten, daß die sozialen Standards in Westdeutschland im europäischen Vergleich am unteren Tabellenende liegen?
Lieber Kollege Schreiner, erstens lese ich alles, was der Arbeitsminister uns schreibt. Zweitens haben wir bei der Lohnfortzahlung auch nach der Neuregelung noch immer einen sehr hohen internationalen Standard. Drittens können Sie nicht daran vorbei, zu bestätigen, daß die Entwicklung in Deutschland dahin geführt hat, daß wir inzwischen auch bei den Lohnstückkosten erheblich in die Hinterhand geraten sind. Von daher ist weiterhin Handlungsbedarf gegeben.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr Gesetzentwurf, mit dem noch die Anrechnung von Kuren auf den Jahresurlaub wieder zurückgenommen werden soll, macht deutlich, was Ihre Aktion ist: blanker Populismus. Selbst Ihr Parteivorsitzender Lafontaine, Herr Büttner, hat vor Jahresfrist in einem Interview erklärt, daß an Kürzungen im Kurbereich kein Weg vorbeiführt. Wenn man sich dann einmal die Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf auf der Zunge zergehen läßt, dann kann man nur noch mit dem Kopf schütteln - ich zitiere -:
Der beabsichtigte Zweck des von der Koalitionsmehrheit im Bundestag durchgesetzten ,,Arbeitsrechtlichen Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung", nämlich Senkung von Lohnkosten, Stärkung des wirtschaftlichen Gefüges und Verbesserung des Arbeitsmarktes, kann mit den beschlossenen Beschränkungen der Entgeltfortzahlung nicht erreicht werden.
Ich konnte mir bisher nicht vorstellen, daß Sie so weltfremd sind.
Auch Ihnen, Herr Büttner, will ich zum Schluß sagen: Dauerhafter Mangel an Erwerbsarbeit ist nicht schicksalhaft. Es muß mehr gewagt werden, damit neue Arbeit entsteht. Arbeit in Deutschland muß konkurrenzfähig gegenüber der Weltwirtschaft sein. Hieran arbeiten wir weiter. Ihr Gesetzentwurf wird daher ein Entwurf bleiben.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Viele Maßnahmen der Bundesregierung haben im letzten Jahr heftige öffentliche Kritik ausgelöst. Keine Maßnahme aber ist auf eine so entschiedene und breite Ablehnung gestoßen wie Ihr Versuch, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu senken. Hätten Sie den Menschen besser zugehört, hätte Ihnen das klar sein können und auch müssen, bevor Sie das Land in Arbeitskampf und Standortchaos getrieben haben.
Was diese Frage so wichtig macht, läßt sich nicht allein mit Verlusten für die Betroffenen in Mark und Pfennig erklären. Der Durchbruch zur vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist in einem der schwersten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik errungen worden.
Sie wissen genau, daß dies ein Kernstück gewerkschaftlicher Identität ist.
Wer die Lohnfortzahlung kürzen will, stellt alle kranken Kolleginnen und Kollegen - so wird das empfunden - unter Mißbrauchsverdacht. Sie belasten Kranke, und zwar gerade längerfristig Kranke, über ihre persönlich schon schwierige Lage hinaus noch mit der Sorge darum, daß das Familieneinkommen drastisch absinkt. Die Kürzung der Lohnfortzahlung ist ein Element dieser Politik. Ein anderes ist die Reduzierung des Krankengeldes auf 70 Prozent des Arbeitsentgeltes. Welche Teilzeitkraft, welche Frau in Vollzeitarbeit mit in typischen Frauenbranchen bekanntlich entsprechend geringerem Lohn kann ihre Familie noch ernähren, wenn sie chronisch krank wird und nach einmaliger Lohnfortzahlung von 80 Prozent ihres Entgeltes dann auf 70 Prozent Krankengeld angewiesen ist?
- Das kann man so nicht gegeneinander ausspielen. Das wissen Sie ganz genau.
Jetzt haben Sie die Zuzahlungen bei Medikamenten ein weiteres Mal erhöht und bitten auch hier die Kranken zur Kasse. Ausgerechnet zu Lasten der Kranken weichen Sie die hälftige Finanzierung der Krankenversicherung über Arbeitgeber und Arbeit-
Annelie Buntenbach
nehmer auf. Das ist eine Politik zu Lasten der Schwächeren, die wir entschieden zurückweisen müssen.
Die Menschen waren und sind über die Kürzung der Lohnfortzahlung auch deshalb so erbost, weil das, was Sie als Begründung vorgebracht haben, ganz offensichtlich fadenscheinig ist: Sie wollten Kosten sparen. Doch Herr Minister Waigel kann froh sein, daß die Gewerkschaften ihn mit Hilfe der Tarifpolitik vor der Umsetzung der Lohnfortzahlungskürzung weitgehend geschützt haben; denn sonst hätte er zusätzlich zu den jetzt schon unglaublich großen Löchern im Bundeshaushalt und in den Kassen der Sozialversicherung noch weitere Einnahmeeinbußen zu beklagen.
Schließlich sparen nur die Arbeitgeber; die öffentliche Hand zahlt drauf.
- Zu Schweden komme ich gleich noch, Herr Louven.
Wenn Sie die Krankenstände wirklich senken wollen - das ist Ihre zweite Begründung -, dann gäbe es dazu andere und weit vielversprechendere Wege. Krankheit, die oft genug ihren Grund in krankmachenden Arbeitsbedingungen hat, zu bestrafen, das ist kontraproduktiv. Statt dessen muß das, was an der Arbeit krank macht, verändert werden.
In anderen europäischen Ländern ist das Problembewußtsein hier viel größer, und die Investitionen in vernünftige Gesundheitsförderung im Betrieb gehen dort schon viel weiter.
In Schweden - damit bin ich nun bei diesem Land - hat dies zum Beispiel dazu geführt, daß erheblich weniger Menschen - das wird auch Sie interessieren, Frau Babel - aus gesundheitlichen Gründen früher in Rente gehen müssen. Wenn die Menschen länger gesund bleiben, dann ist das natürlich jedem zu wünschen, und gleichzeitig ist es eine unglaubliche Entlastung für die Sozialkassen.
Aber Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben es aufgegeben, im Arbeitsschutz mehr als dieses dürre Rahmenwerk zu gestalten, weil Sie in der vorigen Legislaturperiode schon einmal an den Deregulierern in den eigenen Reihen gescheitert sind.
- Ja, aber das reicht der Gewerkschaft - völlig zu
Recht - überhaupt nicht aus. Sie müssen Ihrer Pflicht
zur Gestaltung des Arbeitsschutzes in irgendeiner Art und Weise gerecht werden. Das wissen Sie doch auch.
Die Unternehmen müssen in die Pflicht genommen werden, Arbeitsbedingungen, die krank machen, zu verändern, in Prävention und Gesundheitsförderung zu investieren; denn so können die Unternehmen nicht nur effektiv Kosten durch zu hohe Krankenstände senken, sondern auch auf die volle Unterstützung von Gewerkschaft und Belegschaft rechnen.
Herr Kollege Büttner hat schon angesprochen, daß in vielen Betrieben inzwischen Gesundheitszirkel entstanden sind, in denen sich Kolleginnen und Kollegen aus dem Betrieb zusammenfinden, um die zentralen Problemstellen zu analysieren und zu verändern. Dieser Selbsthilfe haben Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, leider die Förderung über die Krankenkassen entzogen, als Sie § 20 des Sozialgesetzbuches V zusammengestrichen haben. Für Gesundheitsförderung im Betrieb, für Arbeitsschutz und Prävention, womit Krankenstände wirklich gesenkt werden können, hat diese Regierung ausgesprochen wenig übrig.
Sie sparen nichts mit der Kürzung der Lohnfortzahlung; Krankenstände senken Sie auch nicht. Was bleibt - wo sachlich nichts zu begründen ist -, das ist die reine Machtfrage, bei deren Beantwortung die Bundesregierung auf der Seite einer kleinen, besonders lautstarken Gruppe von Lobbyisten, nämlich der Arbeitgeberverbände, steht.
Sie haben die Gewerkschaftsführung brüskiert, die eine unglaublich große Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft gezeigt hat, und Sie haben damit das „Bündnis für Arbeit" zum Platzen gebracht. Das haben Sie mit Ihrem Gesetz zur Kürzung der Lohnfortzahlung erreicht.
Und Sie haben noch etwas erreicht: Sie haben nämlich den Gewerkschaften ein neues Problem aufgebürdet, das in jeder Tarifverhandlung erneut auf der Tagesordnung stehen wird. Dafür müssen dann in anderen Bereichen Einbußen in Kauf genommen werden, und sie sind auch schon in Kauf genommen worden. So haben Sie unmittelbar zugunsten der Arbeitgeber in die Tarifautonomie eingegriffen und das Kräfteverhältnis strukturell verschoben.
Gleichzeitig haben Sie einen ständigen Konflikt geschaffen, ein Denkmal für Ihre Ignoranz, an dem die Gewerkschaften bei jeder Tarifrunde wieder vorbeikommen.
Wenn Sie den Kolleginnen und Kollegen bis zur nächsten Bundestagswahl so in lebhafter Erinnerung bleiben wollen - bitte! Aber selten haben so viele Menschen aus unterschiedlichen Branchen und Betrieben im Arbeitskampf und auf der Straße deutli-
Annelie Buntenbach
cher erklärt, was sie wollen, nämlich die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das sollten Sie endlich respektieren!
Sie haben mit Ihrem Versuch im vorigen Herbst, diesen Unsinn durchzusetzen, ein regelrechtes Standortchaos angerichtet. So kann man sich irren, wenn man an den Interessen und der Lebenssituation der Menschen völlig vorbeigeht. Korrigieren Sie diesen Fehler und folgen Sie dem Antrag der SPD- Fraktion!
Das Wort hat die Kollegin Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf der SPD, mit dem die 100prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederhergestellt werden soll. Ich darf noch einmal daran erinnern, daß der Gesetzentwurf der Koalition, den wir auch zum Gesetz gemacht haben, eine Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent vorsieht und daß man diesen Lohnausfall über Urlaubstage verrechnen kann. Bei den Urlaubstagen sehen wir eine Verrechnungsmöglichkeit im sozialen Rahmen deshalb, weil wir in Deutschland sehr viele Urlaubstage haben, nämlich über 30. Damit hätte bei Gegenrechnung immer noch ein Urlaubskontingent von 24 Tagen bestanden.
Ich möchte diese Bedingungen noch einmal in Erinnerung rufen, weil mit der pauschalen Verurteilung, man habe wieder die Kranken belastet, wirklich ein falscher Eindruck erweckt wird.
Die SPD empfiehlt sich wieder als Partei, die Besitzstände schützt und dafür notfalls auch die Uhren zurückdreht.
Bei der Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat sich die Koalition von dem richtigen Grundgedanken leiten lassen, daß die Lohnzusatzkosten in Deutschland sinken müssen. Die Arbeitsplätze müssen von Kosten entlastet werden; Arbeit muß in Deutschland wieder bezahlbar werden. Nur dann haben Unternehmen Spielraum für Investitionen und damit Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen.
Bei der gesetzlichen Regelung ist die Tarifautonomie im übrigen unangetastet geblieben. So war Raum für Tarifvereinbarungen und auch die Freiheit zu heftigen Tarifturbulenzen. Kaum ein Gesetz hat bei den Arbeitnehmern so viele Emotionen geweckt. Zu Unrecht wurde an den Streik im Jahre 1957 erinnert. Denn damals ging es nicht um die Einführung der 100 prozentigen Lohnfortzahlung, sondern um die Angleichung zwischen Angestellten und Arbeitern.
Aber, meine Damen und Herren, auf Grund konkreter Schätzung dürfen wir heute dennoch davon ausgehen, daß die deutsche Wirtschaft durch dieses Gesetz, also infolge der Änderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, im Jahre 1997 mit einer Kostenentlastung in der Größenordnung von 6 Milliarden DM bis 7 Milliarden DM rechnen kann. Bei einem Volumen von 60 Milliarden DM bis 70 Milliarden DM pro Jahr, die die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekostet hat, ist das gar nicht wenig. Der größte Spareffekt kommt durch die 80prozentige Lohnfortzahlung unmittelbar zustande. Von dieser Entlastung profitieren vor allem das Handwerk, der Dienstleistungsbereich und der industrielle Mittelstand.
Frau Kollegin Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Köhne?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Babel, wenn Sie hier von den Ersparnissen für die deutsche Wirtschaft reden: In welchem Verhältnis stehen denn diese Ersparnisse zu den Gewinnen der Wirtschaft, die ja von rund 350 Milliarden DM im Jahre 1985 auf 750 Milliarden DM im Jahre 1995 angestiegen sind?
Herr Kollege, Sie verkennen, daß wir gleichzeitig überall Produktivitätsfortschritte zu verzeichnen haben, die zum großen Teil dadurch entstanden sind, daß Leute entlassen werden. Wir sind uns vielleicht sogar darin einig, daß wir Produktivitätsfortschritte durch Arbeitsplatzverluste nicht für richtig halten und daß wir den Faktor Arbeit entlasten wollen, um genau diesen Prozeß zu verändern. In einigen Branchen ist die 80 prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt worden und hat zu Kostenentlastungen geführt. In vielen Branchen hat die Gewerkschaft die 100 prozentige Lohnfortzahlung erhalten können. Dies war aber nur um den Preis von Kompensationen bei anderen Tarifleistungen durchsetzbar.
Frau Kollegin, es besteht noch ein Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Büttner.
Nein, vielen Dank. Ich möchte jetzt weiterreden. - In der chemischen Industrie beispielsweise wird die Lohnfortzahlung ohne Berücksichtigung von Mehrarbeitszuschlägen berechnet. - Es würde mich schon interessieren, wie Frau Buntenbach und Herr Büttner diesen Tarifvertrag bewerten. Immerhin gibt es jetzt offensichtlich die Einsicht, daß man etwas verändern mußte. Die Jahressonderzahlungen wurden auf 95 Prozent
Dr. Gisela Babel
gesenkt. Der Tarifvertrag hat eine Öffnungsklausel für individuelle Anwesenheitsprämien. Bei Kuren wird ab der zweiten Woche Urlaub angerechnet. Ähnliche Vereinbarungen gibt es in der Metall- und Elektroindustrie und in anderen Branchen. Zusammen ergibt das Einsparungen von insgesamt 7 Milliarden DM.
Es bleibt das Fazit, daß von der neuen Lohnfortzahlungsregelung genau der politische Impuls und der erhebliche Druck auf die Tarifrunde 1996 ausgingen, den die Koalition verfolgt hat. Die Gewerkschaften mögen die 100 prozentige Lohnfortzahlung in vielen Branchen durchgesetzt bzw. erhalten haben, aber nur auf Grund von Zugeständnissen in anderen Bereichen. Durch eine gesetzliche Neuauflage der 100 prozentigen Lohnfortzahlung lassen sich diese Tarifverträge sowieso nicht mehr beeinflussen.
Durch das Gesetz vom September 1996 hat man sich richtigerweise auf den Weg der Angleichung an europäische Standards gemacht. Wir sind noch nicht angekommen, aber immerhin sind wir auf dem Weg. Damit beginnt Deutschland langsam, seine Standortnachteile abzubauen. Daß die SPD dies nicht erkennen will, zeigt nur, wie rückwärtsgewandt sie denkt. Die Härte des Kampfes gegen die 80 prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war nach meiner Ansicht ein Beleg dafür, wie wenig auch die Gewerkschaften die Zeichen der Zeit erkannt haben.
Den gleichen Beleg liefert im übrigen jetzt die Forderung der IG Metall nach einer starren 32 Stundenwoche. Diese Forderung führt meiner Ansicht nach zu zwei Konsequenzen: Entweder vertreibt man damit die Metallindustrie endgültig aus Deutschland - mit unabsehbaren Folgen für die Volkswirtschaft - oder man vertreibt die Mitglieder aus den Tarifverbänden - mit unabsehbaren Folgen für die IG Metall, was volkswirtschaftlich allerdings weniger verhängnisvoll wäre. Damit wäre das Ende des deutschen Tarifvertragssystems eingeläutet. Nicht wenige Studien belegen heute, daß gerade die Arbeitszeitverkürzung erheblichen Anteil am Kostendruck der deutschen Unternehmen hat. Eine weitere Verschärfung würde zu noch mehr Rationalisierung, Arbeitsplatzabbau und Arbeitslosigkeit führen.
Als Fazit bleibt, daß das Ziel der Kostenentlastung mit dem Entgeltfortzahlungsgesetz erreicht werden konnte. Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht diese Entlastung dringend, damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Arbeitslosenzahlen sind aber ein Beleg dafür, daß wir noch mehr tun müssen. Daher wird die Koalition ihren Reformweg in der Renten-, Gesundheits- und Steuerpolitik fortsetzen. Sie läßt sich davon nicht durch einen unsinnigen Gesetzentwurf der SPD abhalten.
Ich bedanke mich.
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Büttner das Wort.
Frau Kollegin Babel, nachdem Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, muß ich auf eine Argumentation, die Sie vorgebracht haben und die wirtschaftspolitisch und volkswirtschaftlich absolut unsinnig ist, eingehen. Sie haben vorhin auf die Zwischenfrage des Kollegen Köhne erklärt, daß die Arbeitgeber deswegen Gewinne gemacht hätten und wir mehr Arbeitslose hätten, weil sie auf Grund der hohen Arbeitskosten mehr in Rationalisierungsinvestitionen gesteckt haben. Wie wollen Sie denn mehr Erweiterungsinvestitionen erreichen, wenn Sie gleichzeitig den Arbeitnehmern, den Kranken und den Arbeitslosen immer mehr Kaufkraft wegnehmen? Wie wollen Sie die Wettbewerbsfähigkeit und die Nachfrage im Lande selber anstoßen, wenn Sie angesichts der Tatsache, daß wir im Export die höchsten Steigerungsraten und damit den einzigen Bereich mit einem Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren hatten, weitere Kürzungen vornehmen wollen?
Wird Ihnen nicht klar, daß Ihre eigene Argumentation unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten deutlich macht, was die Ursache der Arbeitslosigkeit in unserem Land ist, nämlich Ihre Politik, die Binnennachfrage - die Kaufkraft der Masse der Bevölkerung und auch der öffentlichen Hand - immer mehr einschränkt und kaputtmacht, die Motivation der Menschen verschlechtert und die damit zwangsläufig zu dem Ergebnis führt, das Sie angeblich bekämpfen wollen?
Herr Kollege Büttner, ich glaube, Ihnen ist nicht klar, wie unsinnig Ihre Argumentation ist.
Die Stärkung der Kaufnachfrage führt zu einer Verbesserung der Produktivitätsbedingungen deutscher Produkte, und davon leben wir. Wir leben nicht davon, daß wir die Möglichkeiten verbessern, hier japanische Autos kaufen zu lassen. Wir leben davon, daß deutsche Produkte gekauft werden können, im Inland wie im Ausland. Das heißt, daß unter Bedingungen produziert werden muß, die die Unternehmen wettbewerbsfähig machen.
Diese Wettbewerbsfähigkeit ist in der Vergangenheit in der Tat erreicht worden, indem durch immer mehr Rationalisierung Arbeitsplätze abgebaut wurden. Wir sehen, daß die Produktivität offensichtlich auch dann steigt, wenn man ständig mit Arbeitslosen rechnen muß. Und das ist der Prozeß, den wir umkehren wollen. Sie können ihn nicht umkehren mit der Argumentation: Durch mehr Nachfrage schaffen wir mehr Arbeitsplätze.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der Koalition! Ich kann mir vorstellen, daß die aktuellen Krankenstandsdaten, die ich heute vom IAB bekommen habe, Sie befriedigen, weil Sie diese natürlich in Ihrem Sinne interpretieren, nämlich so, daß sie Ihnen im
Dr. Heidi Knake-Werner
Prinzip bei der Kürzung der Lohnfortzahlung recht geben.
Ich persönlich muß aber sagen: Ich warne Sie vor voreiligen Schlüssen. Angesichts der Präventionsmaßnahmen in den Betrieben, angesichts der großen Bemühungen, krankmachende Faktoren zu beseitigen, und auch angesichts des rasanten Personalabbaus in den letzten Jahren gibt es natürlich eine Fülle von Gründen, die zu einer Absenkung des Krankenstandes geführt haben können. Es ist daher notwendig, sehr differenziert an diese Frage heranzugehen.
Deshalb will ich Ihnen sagen, was die Kürzung der Lohnfortzahlung aus meiner Sicht gebracht hat und was auf Ihr Schuldkonto geht. Sie hat soziale Unruhe in den Betrieben gebracht, Arbeitskämpfe, die teurer sind als eine 100 prozentige Lohnfortzahlung, Ängste und Rechtsunsicherheit bei den Beschäftigten und immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter, die trotz Krankheit zur Arbeit gehen.
Die „Bild"-Zeitung bejubelte im Februar das Rekordtief des Krankenstandes. Ich finde es leichtfertig, in dieses Horn zu tuten. Ich fürchte, Sie verbuchen einen Erfolg mit kurzem Verfallsdatum.
Die gesellschaftlichen Langzeitkosten dieser Entwicklung werden uns hier gewiß noch beschäftigen.
Sie haben es auch geschafft, die Gewerkschaften zu verprellen. Ich will Ihnen eines sagen: Daran wird deutlich, daß der soziale Friede für Sie längst kein bewahrenswerter Standortvorteil mehr ist. Im Gegenteil, Sie sind es, die die Steilvorlage für die sozialen Kämpfe liefern, die jetzt im Handel und in der Bauindustrie erneut vor der Tür stehen.
Mit Ihrem eigentlichen Ziel - das ist das Fatale -, nämlich durch die Einschränkung der Lohnfortzahlung neue Arbeitsplätze zu schaffen, sind Sie gründlich gescheitert.
Ich würde auch gern Herrn Louven - nun ist er leider herausgegangen - daran erinnern: Sozial ist, was Beschäftigung schafft.
- Oh, Entschuldigung. Ich hatte ihn nicht gesehen.
Die Arbeitslosenzahlen haben katastrophale Rekordmarken übersprungen; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Im selben Maße verzeichnen die Aktienkurse rasante Rekordzuwächse. Die großen Unternehmen wissen die Kostenentlastungen zu nutzen. Ob Bayer Leverkusen, Volkswagen, BMW, die Allianz oder die Deutsche Bank - sie alle verzeichnen Spitzenbilanzen und fahren in dieser Zeit enorme Gewinne ein; ich kann Ihnen eine ganze Liste zeigen, an Hand deren Sie das gut nachlesen können. Das Allerschlimmste aber ist, daß sie gleichzeitig Arbeitsplätze in enormen Größenordnungen vernichten. Das ist das Ergebnis Ihrer Sozialraubpolitik.
Aber nicht nur aus diesem Grunde hat die PDS die Absenkung der Lohnfortzahlung abgelehnt. Wir haben sie auch deshalb abgelehnt, weil wir sie zur Mißbrauchsbekämpfung für höchst ungeeignet halten; das war ja Ihr eigentliches Motiv. Sie wissen wie ich, daß von der Kürzung der Lohnfortzahlung vor allem die wirklich Kranken betroffen sind, Menschen mit chronischen und Langzeiterkrankungen, und auch die vielen Frauen, die Probleme während der Schwangerschaft haben. Das ist die Aufkündigung der solidarischen Absicherung im Krankheitsfall. Und wir haben die Kürzung der Lohnfortzahlung abgelehnt, weil sie dazu beiträgt, die Gruppe der arbeitenden Armen weiter zu vergrößern.
Im Fazit seines Artikels „Bei Krankheit droht Sozialhilfe" bilanziert Professor Birk vom Kölner Institut für Sozialforschung:
Wer nicht mehr als durchschnittlich verdient, kann als alleinverdienender Arbeitnehmer ab zwei Kindern bei Krankheit in die Sozialhilfe rutschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, lassen Sie sich das einmal von den Verkäufern und Verkäuferinnen in Rheinland-Pfalz vorrechnen, die jetzt auf die Straße gehen und die 100 prozentige Lohnfortzahlung notfalls erstreiken. Das tun sie nicht aus Jux und Dollerei, sondern das tun sie, weil sie Angst um ihre Zukunft, Angst um ihre Existenzbedingungen haben.
Zweierlei bleibt nach meiner Einschätzung nach diesem halben Jahr festzuhalten. Erstens. Die Bundesregierung hat sich mit der Kürzung der Lohnfortzahlung politisch ein absolutes Desaster organisiert. Die Gewerkschaften haben ihr eine schallende Ohrfeige verpaßt, und auch die Arbeitgeber haben ihr einen Korb gegeben. Die Gewerkschaften haben in diesem Jahr sehr deutlich gemacht, was mit ihnen geht, aber vor allen Dingen auch, was mit ihnen nicht geht und was sie ganz bestimmt nicht mit sich machen lassen. Die Kürzung der Lohnfortzahlung und damit der Eingriff in die Tarifautonomie stehen dabei ganz obenan.
Aber auch die Arbeitgeber haben sehr schnell gemerkt, daß der Verlust des sozialen Friedens die Betriebe teurer zu stehen kommt als die volle Lohnfortzahlung. Daimler-Benz ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Die paar Tage Arbeitskampf bei DaimlerBenz haben 240 Millionen DM gekostet. Das ist doppelt soviel, wie sie für die Lohnfortzahlung hätten aufbringen müssen.
Genau wegen dieser Geschichte sind die Unternehmersolidarität und auch die konzertierte Aktion von Kapital und Kabinett zusammengebrochen. Auch gemeinsam ist es ihnen nicht gelungen, den Gewerkschaften auf einem besonders symbolträchtigen Feld eine Niederlage zu bereiten. Das ist auch gut so.
Dr. Heidi Knake-Werner
Zweitens haben wir es trotz des partiellen Erfolges der Gewerkschaften -
Frau Kollegin, denken Sie an die Zeit. Sie ist schon abgelaufen.
- ich komme gleich zum Schluß - mit der Situation zu tun, daß eine neue soziale Spaltung entstanden ist. Es gibt jetzt in der Frage der Lohnfortzahlung wieder ein Zweiklassenrecht. Das ist unvertretbar, unsozial und inhuman, weil es auf Kosten der Kranken geht. Allein das ist schon Grund genug, dieses Lohnfortzahlungsgesetz zurückzunehmen und dem Antrag der SPD zuzustimmen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Ramsauer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon äußerst sonderbar, was die SPD heute mit ihren Forderungen in diesem Gesetzentwurf auf den Tisch legt.
- Das werde ich Ihnen gleich erklären, lieber Herr Kollege Gilges. Seien Sie nicht so ungeduldig. Wenn Redner von der Union und insbesondere von der CSU auftreten, dann hält es Sie vor lauter Ungeduld fast nicht mehr auf Ihren Oppositionsbänken.
Das wissen wir inzwischen. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich werde Ihnen in den nächsten neun Minuten in allen Einzelheiten darlegen, warum das sonderbar ist.
Unter anderem wird dort wider besseres Wissen ausgeführt, daß die soziale Absicherung von Arbeitnehmern im Krankheitsfall nach der Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes gefährdet würde. Die Beschränkung bedrohe den gewachsenen sozialen Konsens unserer Gesellschaft unmittelbar, und dies führe zu ausgeprägten und vermeidbaren sozialen Spannungen sowie zu einer schweren Belastung der unverzichtbaren Tarifpartnerschaft. - Das sind Behauptungen, die völlig aus der Luft gegriffen sind.
Ich bezweifle auch, daß viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, diesen Gesetzentwurf, der vom 29. Januar dieses Jahres datiert, auch heute noch so unterschreiben würden, nachdem sich die Emotionen zu dem Thema inzwischen eigentlich gelegt haben. Der Gesetzentwurf paßt überhaupt nicht mehr in die Landschaft.
Die diesbezüglichen Schlachten in der Tariflandschaft sind längst geschlagen.
Der Pulverdampf ist längst verraucht, der Kanonendonner längst verhallt.
Jetzt kommen Sie damit daher. Die Tarifpartner und Ihre Genossen in den Kreisen der Gewerkschaften haben sich alle längst darauf eingestellt. Die Abmachungen und Tarifverträge sind alle längst über die Bühne, und jetzt kommen Sie mit diesem Gesetzentwurf.
Die meisten unserer Vorschläge im Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung sind gesetzgeberisch verwirklicht worden. Allerdings - das gebe ich zu - in bezug auf die Änderung der Lohnfortzahlungsmodalitäten hätte die Wirkung besser sein können. Gerade was die Änderungen im Entgeltfortzahlungsgesetz angeht, habe ich mir persönlich von den Tarifparteien weit mehr versprochen, und ich habe auch von der Arbeitgeberseite mehr Mut erwartet.
- Das hat ein wenig auch damit zu tun, daß manche, die vorher von der Politik manche Dinge mehr oder minder forsch gefordert haben, im entscheidenden Moment der Mut verläßt.
Die Politik hat mit der Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung ihre Aufgaben gemacht; die Tarifparteien haben jedoch die Angebote der Politik zum Teil nicht angenommen.
Arbeitgeber und Gewerkschaften müssen jedoch erkennen, daß die Arbeitslosigkeit nicht ohne die Tarifpartner bekämpft werden kann. Es kann nicht nur Aufgabe der Politik sein, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und mehr Beschäftigung zu schaffen.
Die Politik kann nur Rahmenbedingungen schaffen. In diesem Rahmen muß die Wirtschaft ihre Aufgaben erledigen, und zur Wirtschaft zähle ich in diesem Fall auch die Gewerkschaften.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Dezember 1996 war in den Zeitungen zu lesen - ich zitiere-:
Die Schlacht um die Lohnfortzahlung haben die Gewerkschaften gewonnen. Verloren haben die Arbeitgeberverbände. Die Tarifautonomie bewies ihre Stärke.
Dr. Peter Ramsauer
Das ist eine höchst unfaire Verdrehung unserer Absichten, die von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, bewußt provoziert wurde.
Wir haben von Anfang an klargestellt, daß wir nicht in die Tarifautonomie eingreifen wollen. Sie haben aber die gut geschmierte Propagandamaschine der Gewerkschaften für die Verbreitung dieser Unwahrheit genutzt.
Die Kritik muß sich auch gegen viele Arbeitgeber richten, die den Konflikt in den Tarifverhandlungen zum Teil nicht ausgetragen, zum Teil nicht einmal gesucht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, daß es nicht richtig sein kann, Nichtarbeit genauso gut zu bezahlen wie Arbeit, sei es im Krankheitsfall oder auch in der Sozialhilfe. Dies meine ich nicht nur unter Kostenaspekten, sondern ebenso unter dem Gesichtspunkt der Leistungsgerechtigkeit.
Selbst sozialdemokratische Regierungen überall in Europa haben damit begonnen, Fehlentwicklungen des Wohlfahrtsstaates zu korrigieren.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen und vor allen Dingen lieber Kollege Hans Büttner, ich verstehe die Aufregung überhaupt nicht.
Gerade in bezug auf diesen Punkt liegt mir beispielsweise ein Papier vor
- zur Bibel komme ich gleich-, mit dem Titel: „Moderner Staat in einer modernen Gesellschaft - Grundlagenpapier für die Konferenzen der SPD zur Modernisierung von Staat und öffentlicher Verwaltung am 3. und 4. Februar 1997 in Bonn". Dort steht unter anderem - ich zitiere -:
Auch die immer enger werdenden Finanzierungsmöglichkeiten zwingen dazu, staatliche Leistungen auf den Prüfstand zu stellen:
Die Wirtschaftlichkeit und Zielgenauigkeit staatlicher Leistungen muß verbessert werden. Die
Ansprüche an den Staat müssen zurückgenommen werden. Vieles, was wünschbar wäre, ist nicht mehr finanzierbar.
Kennen Sie eigentlich Ihre Papiere? Das steht wortwörtlich dort. Wer nicht weiß, wo es steht, könnte glatt meinen, das stammt aus einem Papier der Jungen Union Bayern aus den 70er Jahren. Damals ist vorgedacht worden. Jetzt, zwanzig Jahre später, steht etwas Ähnliches in den Strategiepapieren der SPD.
Nun zur Bibel und zur Kirche. Das wird mir immer wieder vorgehalten, und es wird immer vom C in unserem Parteinamen gesprochen. Es paßt gut hierher, was der Sozialbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Josef Homeyer, kürzlich gesagt hat - ich zitiere -:
Wir müssen unsere Besitzstände auf den Prüfstand stellen lassen. Da ist nichts zu machen. Die jetzt beschnittene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein solcher Besitzstand, für den es kein Land auf der Erde gibt, das sich so etwas leisten kann.
Wer sich das Papier der beiden Kirchen zur sozialen Lage anschaut, der wird sehen, daß hier außerordentlich konstruktiv auch auf diesem Gebiet gedacht wird. Man darf nicht immer nur einseitig das herauspicken, was einem gerade in den Kram paßt.
Die SPD wirbt dafür, daß sich in Deutschland eine Bunkermentalität Breitmacht. Schon kleine Korrekturen wie die Begrenzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werden als Anfang vom Ende der sozialen Marktwirtschaft interpretiert. Das ist unverantwortliche Panikmache, die es schwermacht, notwendige Veränderungen zur Reduzierung der Lohnnebenkosten zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen in der Öffentlichkeit zu vermitteln.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aber auch auf die bis heute durchaus erfreulichen Entwicklungen durch die Gesetzesänderung aufmerksam machen. Auch wenn die geplanten Maßnahmen in den Tarifverhandlungen nur teilweise zu den gewünschten Ergebnissen geführt haben, kann das geänderte Lohnfortzahlungsgesetz sicherlich nicht als Mißerfolg gewertet werden. Die Textilbranche beispielsweise hat vernünftige Regelungen gefunden. Die westdeutsche Bauindustrie - ein anderes Beispiel - meldete den niedrigsten Krankenstand seit 1988.
Dabei wird der besonders starke Rückgang der Krankenstandsquote im vierten Quartal 1996 von 6,9 Prozent auf 5,7 Prozent auch auf die Neuregelung der Lohnfortzahlung zurückgeführt.
Dr. Peter Ramsauer
Es zeigt sich also, daß viele Arbeitnehmer mit der Krankmeldung verantwortungsvoller umgehen, wenn sie in einem vernünftigen Umfang am Krankheitsrisiko beteiligt sind.
Gerade in den kleinen und mittleren Betrieben, von denen vor allen Dingen die Schaffung von Arbeitsplätzen erwartet wird, bringt die Absenkung der Lohnfortzahlung auf 80 Prozent Ersparnisse zwischen 7 und 10 Milliarden DM. Insgesamt wird in der Wirtschaft mit Einsparungen von 15 bis 20 Milliarden DM im Jahr 1997 gerechnet.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen, mit der ich ganz eindringlich an die verantwortlichen Vertreter des öffentlichen Dienstes appellieren möchte. Es ist meiner Meinung nach unerträglich und schadet der Akzeptanz seitens der Bevölkerung für notwendiges politisches Handeln, daß die Maßnahmen bei der Entgeltfortzahlung bisher nicht auf den öffentlichen Dienst übertragen werden konnten.
Bis heute zeigen die Verantwortlichen für den Beamtenbereich sowie die Verantwortlichen für den Angestelltenbereich im öffentlichen Dienst gegenseitig mit dem Finger aufeinander. Dieses gegenseitige Verspreizen ist typisch für solche, die um jeden Preis an Besitzständen festhalten wollen, obwohl sie, wenn sie über den nationalen Tellerrand hinausschauen, wissen, daß es in Deutschland auf diese Art und Weise nicht mehr weitergehen kann.
Das im Bundesrat zunächst gescheiterte Bezügefortzahlungsgesetz muß deshalb weiter auf der Tagesordnung bleiben. Die Gewerkschaftsseite muß sich in den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst für entsprechende Änderungen ohne Wenn und Aber offen zeigen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, daß die gewerblichen Arbeitnehmer bisher fast die einzigen sind, die die neuen Gegebenheiten im Bereich der Entgeltfortzahlung für sich gelten lassen, während sich die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst nach wie vor wegducken können, müssen Sie von der SPD diesen gewerblichen Arbeitnehmern innerhalb und außerhalb der Gewerkschaft erst einmal erklären.
- Das ist Ihre Aufgabe. Sie haben die gerechte Erstreckung dieser neuen Regelungen auf den öffentlichen Dienst bisher verhindert. Aber ich sage Ihnen: Auf Dauer kommen auch Sie nicht daran vorbei.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kollege Ramsauer, wenn Sie sagen, die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes könnten sich vor der Kürzung der Lohnfortzahlung wegducken, was wir zu verantworten hätten, dann entgegne ich Ihnen: Sie haben zu verantworten, daß die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in ganzen Bereichen der Wirtschaft nur noch 80 Prozent Lohnfortzahlung bekommen.
Wir wollen die Dinge doch einmal beim Namen nennen, wer hier was zu verantworten hat.
Es wäre ganz schön, wenn Sie, da Sie schon in der Vergangenheit graben, die Kollegen der CDU ab und zu einmal an das Ahlener Programm erinnern würden.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Der 13. September 1996 war ein schwarzer Freitag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Sie von den Koalitionsfraktionen haben den einschneidendsten Sozialabbau in der bisherigen sozialpolitischen Geschichte dieser Republik beschlossen.
Im Vorfeld hat es massenhafte Proteste gegen diese Kürzungen gegeben. Trotzdem haben Sie unter anderem die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall um 20 Prozent beschlossen. Eine soziale Leistung, welche von den Gewerkschaften seit den 50er Jahren erkämpft und schrittweise tarifvertraglich durchgesetzt wurde, die seit 1969 durch das Lohnfortzahlungsgesetz für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer galt, haben Sie gekürzt.
Wenn Sie hier immer wieder anführen, dieser Arbeitskampf sei um die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten geführt worden, dann sage ich: Das war der eine Teil. Aber es ging auch um die hundertprozentige Lohnfortzahlung. Diese haben Sie beseitigt.
Nun ist die Neuregelung seit 1. Oktober in Kraft. Schon wenige Tage später forderte Gesamtmetall die Metallunternehmen auf, ab Oktober die Lohnfortzahlung auf 80 Prozent zu senken. Den Vogel bei den Unverschämtheiten schoß sicherlich der Vorstand von Daimler ab, als er beschloß, das Gesetz trotz tarifvertraglicher Regelungen anzuwenden.
Heute kann man, laut Bilanzkonferenz von Daimler, lesen: Die Gewinne aus der Autoproduktion betrugen 1996 3,1 Milliarden DM. War es nötig, denen
Erika Lotz
die Möglichkeit zu geben, über eine Kürzung der Lohnfortzahlung den Gewinn noch weiter zu steigern, und damit den kranken Arbeitnehmern etwas zu nehmen? - Ich denke, nein.
30 000 Beschäftigte haben dann ja auch die richtige Antwort gegeben. Sie erinnern sich, daß noch eine ganze Reihe von Beschäftigten aus anderen Bereichen dazukamen. Ich nenne nur den Streik in der Süßwarenindustrie, der Kautschukindustrie usw.
Den Gewerkschaften ist es gelungen, bis Anfang Februar 1997 die hundertprozentige Absicherung der Lohnfortzahlung in rund 50 Wirtschaftszweigen bzw. Tarifbereichen durchzusetzen. Einige sind ja noch dabei, das zu regeln. Damit ist eine flächendekkende Umsetzung der neuen gesetzlichen Bestimmungen nicht gelungen. Ich sage: Ich bin froh, daß es nicht gelungen ist.
Die Gewerkschaften haben allerdings Kompensationsleistungen zugestehen müssen. Die Landschaft ist nicht mehr die alte. Aber die Gewerkschaften können auch stolz darauf sein, für mehr als 10 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu 100 Prozent gesichert zu haben. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist es nicht einfach, gewerkschaftliche Forderungen durchzusetzen.
Doch nicht alle Betriebe bzw. Arbeitnehmer sind von tarifvertraglichen Regelungen erfaßt. Fast 20 Millionen Erwerbstätige haben diese Absicherung nicht. Insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Klein- und Mittelbetrieben werden vom tarifvertraglichen Schutz nicht erfaßt - Betriebe also, in denen besonders viele Frauen beschäftigt sind, die in der Regel geringer entlohnt werden und für die eine Kürzung der Lohnfortzahlung eine besondere Härte darstellt. Das sind die Betriebe, deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch beim Kündigungsschutz schlechter dastehen; denn im September letzten Jahres haben Sie den Schwellenwert beim Kündigungsschutz angehoben.
Ich weiß, daß es eine ganze Reihe von Arbeitgebern gibt, die sagen: Wir machen von der Neuregelung keinen Gebrauch. - Ich frage mich, wie lange dieses Wort Gültigkeit hat, und befürchte, es gilt nur, solange die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht krank werden. Deshalb wollen wir die Absicherung per Gesetz.
Krankheit ist ein unverschuldetes Unglück. Dieses Unglück haben Sie von den Koalitionsfraktionen mit der Kürzung der Lohnfortzahlung vergrößert. Denn wer jetzt krank wird und keine tarifvertragliche Regelung hat, erleidet finanzielle Einbußen. Bei einem monatlichen Bruttoverdienst von 3 500 DM bedeutet jede Krankheitswoche einen Verlust von ungefähr 160 DM - bei sechs Wochen sind das fast 1 000 DM weniger in der Familienkasse.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramsauer?
Nein, danke, ich möchte meinen Gedanken weiterführen.
- Aber Sie, Herr Kollege Ramsauer, haben vorhin die volle Wahrheit gesagt? Das ist doch lachhaft.
Wenn Sie einmal den Versuch machen würden, sich in die Lage derjenigen zu versetzen, die mit 3500 DM brutto - und oft sehr viel weniger - ihre Familien ernähren müssen, und sich dann vorstellen, was eine längere Krankheit für eine Familie bedeutet, dann können Sie nur zu dem Schluß kommen: Die Kürzung der Lohnfortzahlung war ein Fehler, und dieser Fehler muß wieder korrigiert werden.
Ich will noch einmal auf die besondere Betroffenheit der Frauen eingehen. Frauen verdienen heute immer noch in der Regel ein Drittel weniger als Männer und sind zu einem großen Teil in Betrieben bzw. Unternehmen beschäftigt, in denen es keine tarifvertraglichen Regelungen gibt, weder bei der Lohnfortzahlung noch bei den Einkommen.
Viele dieser Frauen - ich denke besonders an Alleinerziehende - müssen ohnehin schon jeden Groschen umdrehen. Sie kennen keine Urlaubsreisen, müssen oft genau prüfen, ob der Kindergeburtstag gefeiert werden oder ob das Kind an der Klassenfahrt teilnehmen kann. Können Sie sich vorstellen, wie es in der Familie aussieht, wenn diese alleinerziehende Frau krank wird, und das vielleicht sogar für länger?
Mit der Kürzung der Lohnfortzahlung haben Sie die Arbeitgeber um Milliarden entlastet, und zwar zu Lasten von Arbeitnehmern, besonders zu Lasten der Frauen und der Kommunen, die gegebenenfalls mit der Sozialhilfe einspringen müssen. Sie werden nun sicher wieder daran erinnern - Herr Louven hat das bereits getan -, daß sich die Arbeitnehmerin Urlaub anrechnen lassen kann.
Wer so argumentiert, hat sich mit der Lebenswirklichkeit einer alleinerziehenden erwerbstätigen Mutter nicht vertraut gemacht. Ich behaupte: Sie wollen das auch nicht; denn sonst hätten Sie im September anders abstimmen müssen. Alleinerziehende Elternteile haben schon jetzt das Problem, mit ihrem Urlaub die Betreuung der Kinder während der Schulferien managen zu müssen. Wo bleibt denn da noch Urlaub übrig, um sich ihn bei Krankheit anrechnen lassen zu können, um Lohnkürzungen zu vermeiden?
Erika Lotz
Deshalb wollen wir die hundertprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall per Gesetz. Wir wollen sie auch, weil kranke Menschen je nach ihrer beruflichen Tätigkeit unterschiedlich betroffen sind.
Ich will dazu ein Beispiel nennen: Wenn Frau Babel oder ich an einer starken Erkältung leiden, werden wir unsere Arbeit trotzdem machen. Wir haben zwar ohnehin keine Kürzung der Lohnfortzahlung, aber gehen wir einmal davon aus, es wäre so. Wir würden also trotzdem unsere Arbeit hier machen können, und auch bei der Aufwandsentschädigung würde sich nichts ändern. Wenn nun aber eine Arzthelferin, eine Bäckereiverkäuferin, eine Kellnerin oder eine Erzieherin von einer starken Erkältung betroffen ist, dann wird sie nicht arbeiten können, und trotz ihres geringeren Verdienstes muß sie auch noch Entgeltkürzungen wegen Krankheit hinnehmen, es sei denn, ein Tarifvertrag schließt das aus.
Ich will noch einmal betonen: Die Kürzung der Lohnfortzahlung ist kein Beitrag, um Fehlzeiten wegen Krankheit zu verringern. Das Wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen hat festgestellt, daß 26,3 Prozent der Arbeitsunfähigkeitsfälle Erkrankungen zwischen einem und drei Tagen betrifft. Das macht 2,3 Prozent aller Fehltage aus.
5,5 Prozent der Arbeitsunfähigkeitsfälle betrifft Erkrankungen über sechs Wochen; das macht 44,7 Prozent aller Fehltage aus. Die Kürzung der Lohnfortzahlung trifft also insbesondere Langzeiterkrankte. Spätestens seit die Zahlen der Arbeitslosen für Januar vorliegen, müßte auch Ihnen klar sein, daß von der Kürzung der Lohnfortzahlung keine Beschäftigungswirkung ausgeht, daß die Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen und die Finanzämter weniger Einnahmen haben.
Wer krank ist, darf nach meiner Meinung nicht noch mit geringerem Entgelt bestraft werden. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu. Machen Sie rückgängig, was Sie im September letzten Jahres angerichtet haben.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist für uns nach wie vor eine der wichtigsten sozialen Leistungen, die die Arbeitgeber auf Grund gesetzlicher Bestimmungen zu erbringen haben. Sie ist und bleibt eine der großen Errungenschaften unseres Sozialstaats. Jeder Arbeitnehmer hat auch in Zukunft bei Krankheit bis zu sechs Wochen Anspruch auf finanzielle Absicherung durch den Arbeitgeber. Daran hat sich zwar der Höhe nach, aber prinzipiell nichts geändert.
Die Bundesregierung hat dieses Gesetzgebungsverfahren in der festen Überzeugung betrieben, damit einen Beitrag zur Bereitstellung von mehr Arbeitsplätzen zu leisten, wobei wir davon ausgehen, daß in dieser Republik prinzipiell unbeschränkt Arbeit vorhanden ist, daß die Arbeit in vielen Fällen aber zu teuer ist. Wenn diese Meinung stimmt, ist es notwendig, Arbeit billiger zu machen, um mehr Menschen wieder einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Das ist der Grund dafür, daß wir dieses Gesetzgebungsverfahren betrieben haben.
Es ist ganz bestimmt nicht der Grund, der hier genannt wurde, nämlich daß wir unsere Macht zeigen wollten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, glauben Sie mir; ich kenne die Kollegen zur Genüge. Ich sage Ihnen: Um einer kleinen Gruppe einen Gefallen zu tun, würden sie nie und nimmer ein solches Gesetz verabschieden.
Die Damen und Herren haben ganz fest, und zwar mit zunehmender Intensität, den nächsten Wahltermin im Auge. Sie werden nur äußerst widerwillig etwas machen, von dem sie mit Recht annehmen müssen, daß es den Leuten nicht gefällt; so ist es ganz bestimmt. Das Ganze läßt sich bei uns nur durchsetzen und rechtfertigen, wenn man der festen Überzeugung sein kann, daß damit letztendlich etwas in bezug auf die Schaffung von Arbeitsplätzen bewirkt wird.
Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß diese Regelung zu sozialen Härten führt. Das ist völlig unbestritten. Natürlich gibt es eine Menge Leute, die das Geld, das ihnen jetzt abgezogen wird, dringend benötigen. Deshalb - darauf möchte ich nochmals hinweisen - gibt es die Regelung, daß man die Abzüge bei der Lohnfortzahlung durch die Anrechnung von Urlaubstagen vermeiden kann. Natürlich gibt es Menschen, für die auch das eine Härte ist. Aber wenn man in Ihrer Logik bleiben würde, müßte man sagen, daß diese Leute von vornherein wesentlich mehr Urlaub haben müßten.
Daß das Ganze gerechtfertigt werden kann, zeigt auch der internationale Vergleich. Selbst wenn man davon ausgeht, daß jemand den maximalen Abzug von sechs Urlaubstagen hinnehmen muß, ist festzustellen, daß wir in der Bundesrepublik immer noch die kürzesten Jahresarbeitszeiten haben.
Sollte das hier von irgend jemandem bestritten werden? Das bestreitet doch wohl niemand. Andere Staaten, die längere Jahresarbeitszeiten haben, sind doch nicht deshalb keine Sozialstaaten mehr.
- Lieber Herr Büttner, Sie sollten vielleicht eines verstehen: Wir leben nicht allein auf der Welt. Es gibt eine Wirtschaft, die natürlich mit Volkswirtschaften konkurrieren muß,
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
in denen im Jahr wesentlich länger gearbeitet wird. Wenn wesentlich länger gearbeitet wird, dann führt das zu geringeren Kosten. Mit diesen Volkswirtschaften müssen wir konkurrieren. Deswegen müssen wir schauen, daß wir die Arbeit möglichst günstig anbieten können.
Die internationalen Erfahrungen, Herr Büttner, zeigen, daß die Kürzungen bei der Lohnfortzahlung in anderen Ländern sehr wohl dazu geführt haben, daß sich - aus dem praktischen Leben ist uns das bekannt - der eine oder andere, wenn er gesundheitlich dazu in der Lage ist, doch dazu entschließt - das gibt es; das praktische Leben zeigt das immer wieder -, der Arbeit nachzugehen und sich eben nicht krank schreiben zu lassen.
Weil das so ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, denken wir, daß das ein gutes Gesetz ist, ein Gesetz, bei dem wir bleiben wollen. Wir haben deshalb nicht die Absicht, etwas zu ändern.
Ich bedanke mich.
Ich schließe damit die Aussprache. - Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/6843 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller , Amke Dietert-Scheuer, Christa Nickels, Volker Beck (Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rückkehr bosnischer Flüchtlinge
- Drucksache 13/7284 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Günter Graf , Robert Leidinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Abschiebepraxis von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina
- Drucksache 13/7424 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Kollegin Kerstin Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was man in den letzten Wochen in der Auseinandersetzung um die Massenabschiebung bosnischer Flüchtlinge erleben mußte, ist wirklich schwer erträglich. Dazu muß man wohl ein besonders hartgesottener Politiker sein.
Da werden Menschen von ihrem Arbeitsplatz weg verhaftet. Sie haben noch nicht einmal Zeit, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Schwangere und Herzkranke sind unter den Abgeschobenen genauso wie Flüchtlinge, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Da werden die Eltern und Geschwister einer schwangeren Frau in einer Nacht-
und-Nebel-Aktion abgeschoben, obwohl die Familie ihre Bereitschaft zur freiwilligen Rückkehr bereits erklärt hatte. Ihre einzige Bitte war, die Heimreise gemeinsam nach der Geburt des Kindes antreten zu können.
In Berlin werden zwei Bosnierinnen aus dem Flüchtlingsfrauenhaus geholt und in Abschiebehaft genommen. Die Abschiebung kann zwar gerade noch auf gerichtlichem Weg verhindert werden, aber die Behandlung von zwei Jahren ist zerstört, weil die Frauen durch die Hafterfahrung ein neues Trauma erleben.
Flüchtlinge aus der Republika Srpska werden abgeschoben. Selbst Flüchtlinge aus dem durch Massenmord an Tausenden bekanntgewordenen Srebrenica erhalten Abschiebebescheide.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Ist das human? Ist das notwendig? Ich meine, das alles hat mit Humanität überhaupt nichts mehr zu tun.
Das ist zutiefst inhuman und unverantwortlich.
Die Wahllosigkeit, mit der diese Menschen abgeschoben werden, ist ein schreckliches, wohlkalkuliertes Spiel mit der Angst. Sie wollen weit über den Kreis der Abgeschobenen hinaus Panik erzeugen. Wenn Flüchtlinge dann aus Angst gehen, dann nennen Sie das auch noch freiwillige Rückkehr. Panikartige Flucht ist genau das Gegenteil von Freiwilligkeit. Wer da noch von Freiwilligkeit redet, der ist einfach heuchlerisch.
Ich erwarte von den Innenministern und auch von Ihnen, Herr Lintner und Ihrem Minister, daß Sie sich
Kerstin Müller
von diesen inhumanen Abschiebemaßnahmen distanzieren und sie nachdrücklich verurteilen.
Warum tun Sie das alles? Da erklärt ein Herr Minister Beckstein aus Bayern auf die Frage, warum er denn so hart und unmenschlich bei den Abschiebungen vorgehe, er übe hier - Zitat - „eine Wellenbrecherfunktion" aus, zu der ihn zahlreiche Kollegen, auch aus SPD-regierten Ländern ermuntert haben. Herr Beckstein sagt weiter: „Zwangsmaßnahmen sind nötig, damit der Rückkehrprozeß überhaupt in Gang kommt." Welch eine zynische Verdrehung der Tatsachen! Bereits im Jahre 1996 sind allein 30 000 Flüchtlinge freiwillig zurückgegangen - ohne Abschiebungen. Die Menschen wollen zurück in ihre Heimat, wenn sie dort nur irgendeine Perspektive sehen.
Genau hier liegt das Problem. Die Bedingungen vor Ort sind nach wie vor katastrophal. Zu diesem Ergebnis kommt selbst ein Bericht des Auswärtigen Amtes vom 30. Januar 1997. Danach hat sich - ich zitiere einmal - „die Menschenrechtslage seit dem letzten Lagebericht ... nicht verbessert". Weiter heißt es: „Der wirtschaftliche Aufbau kommt ... nur schleppend voran."
Herr Lintner, es ist ein Skandal, daß dieser Bericht nicht veröffentlicht wurde, sondern als vertraulich unter Verschluß gehalten wird. Zum Beispiel in Una Sana - dort haben Sie Ihr eigenes Vorzeigeprojekt - steht noch kein Stein auf dem anderen. Das wissen Sie ganz genau. Das liegt weniger an Ihnen und auch nicht an den Innenministern, das liegt zum großen Teil an der Bürokratie in Brüssel.
Aber es ist doch absurd: Sie und die Innenminister der Länder wollen jetzt mit aller Gewalt die Rückkehr in Wohnungen erzwingen, die die EU noch nicht gebaut hat. Ohne Fortschritte beim Wiederaufbau ist eine Massenrückkehr unverantwortlich.
Auf diese Aufgabe, den Wiederaufbau, sollten wir jetzt alle Kräfte konzentrieren.
Der Außenminister und der Verteidigungsminister sehen Ihre Abschiebepläne zu Recht sehr kritisch. Herr Kinkel meint: „Eine Abschiebung auf Knopfdruck wäre inhuman. " Herr Rühe warnt - ich zitiere -: „Wenn jetzt zu schnell und in zu großer Zahl, vor allem an die falsche Stelle die Flüchtlinge zurückkehren, dann schürt das eher die Probleme."
Beide kommen zu dem Schluß: „Nicht vorrangig der Familienstand, sondern die Herkunftsregion und die ethnische Zugehörigkeit sollten Kriterium bei der Rückführung sein." Es kommt bei uns Bündnisgrünen nicht so oft vor; aber diese Lagebeurteilung des Außen- und Verteidigungsministers kann ich nur nachdrücklich unterstützen.
Massenabschiebungen jetzt gefährden den gesamten labilen Friedensprozeß. Die Schlüsselfrage für den Friedensprozeß ist die im Dayton-Abkommen vereinbarte freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge an ihre Heimatorte in Sicherheit und Würde. Daran müssen wir unbedingt festhalten. Zwei Drittel der hier lebenden Flüchtlinge stammen aus der Republika Srpska. Eine Rückkehr von Bosniern und Kroaten in diese Region ist immer noch - wieder der Bericht des Auswärtigen Amtes - „so gut wie ausgeschlossen".
Wenn diese Menschen nun aber, wie in Bayern geschehen, jetzt in die Föderation abgeschoben werden, dann zementiert das die ethnische Teilung des Landes. Genau das dürfen wir nicht zulassen.
Außerdem gibt es besondere humanitäre Härtefälle, bei denen eine baldige Rückkehr kaum vorstellbar ist. Diesen ganz besonders belasteten Menschen sollten wir ein Bleiberecht geben. Dazu gehören traumatisierte Flüchtlinge, wie Vergewaltigungsopfer, Angehörige bi-ethnischer Partnerschaften, potentielle Zeugen für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sowie Roma und Deserteure.
Sie haben aus dem Thema Flüchtlingsrückkehr eine Abschiebedebatte gemacht. Ich meine, Stimmungsmache gegen Flüchtlinge oder gar eine zweite Asyldebatte ist absolut das letzte, was wir für den schwierigen Friedensprozeß in Bosnien brauchen können. Noch ist nach den jüngsten Umfragen eine Mehrheit in Deutschland dafür - 59 Prozent -, daß die Flüchtlinge so lange bleiben dürfen, bis sich die Lage in Bosnien verbessert hat. Diese Akzeptanz in der Bevölkerung für die bosnischen Flüchtlinge dürfen wir nicht leichtfertig verspielen.
Zur Sicherung des Friedens in Bosnien sowie aus Gründen der Menschlichkeit müssen deshalb die Beschlüsse der Innenministerkonferenz revidiert werden. Nach den schrecklichen Kriegserfahrungen haben diese Menschen ein Recht darauf, nicht erneut Angst und Gewalt zu erfahren, sondern in Sicherheit und Würde an ihre Heimatorte zurückzukehren.
Ich gebe dem Abgeordneten Erwin Marschewski das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Kollegin Müller, ich meine, daß der Ton und der Inhalt Ihrer Darstellung so nicht billigenswert waren. Das, was da in Jugoslawien, in Bosnien geschehen ist, war wirklich ein Schicksalsschlag der Geschichte. Ich hätte dies an Ihrer Stelle deswegen anders dargestellt, mit mehr Würde. Ich hätte, was die Einzelfälle betrifft, wirklich nach der Wahrheit geforscht. Diese moralische Überheblichkeit hätte ich fallenlassen, Frau Kollegin.
Erwin Marschewski
Ich spreche hier ganz in Ruhe - das gebietet dieses Thema - für eine Fraktion, die über 50 Jahre hinweg Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden nicht nur erstrebt, sondern auch erreicht hat. Wir haben überhaupt keine Nachhilfe nötig, wenn es darum geht, Menschenrechte und Humanität zu wahren. Das ist Signum unserer Politik. Ich weiß, meine Kolleginnen und Kollegen, das gilt auch für andere hier im Hause.
Deswegen verstehe ich es nicht, weil die prinzipielle Forderung nach Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge eigentlich nicht bestritten ist. Worüber wir uns auseinandersetzen, ist doch nur der richtige Zeitpunkt. Auch ist doch unbestritten, daß wir mehrere Gesichtspunkte beachten müssen: die Lage vor Ort, die Unterbringung, die Versorgung, die Auswirkungen der Rückführung auf den Friedensprozeß, aber auch die Situation in Deutschland.
Lassen Sie uns dies noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen. Wir haben von über 400 000 Flüchtlingen 320 000 hier in Deutschland aufgenommen. Diese Aufnahme war ganz einfach unsere Pflicht. Daß wir hierfür viel Geld - 15 Milliarden DM - aufgewandt haben, darf doch sicherlich erwähnt werden.
Aber eines muß auch klar sein: Die Bürgerkriegsflüchtlinge sollten so lange - und nur so lange - Schutz erhalten, wie sie durch den Bürgerkrieg an Leib und Leben gefährdet waren. Manche haben gesagt, diese seien Gäste auf Zeit. Nur, mit der Beendigung des Bürgerkrieges, so meine ich, ist zumindest eine Voraussetzung für die generelle Rückkehr erfüllt. Wenn die Menschen weiterhin die Möglichkeit erhalten sollen, in Deutschland Zuflucht gewährt zu bekommen, dann müssen wir einfach so handeln. Wir haben doch nur die Chance, die jeweils am aktuellsten und schwersten betroffenen Menschen aufzunehmen.
Sie wissen, parallel mit uns tagen die Innenminister der Länder. Sie ändern ihre Position - auch die sozialdemokratischen Innenminister - nicht, lieber Günter Graf. Sie kennen den Plan: In der ersten Phase. sollen alleinstehende Erwachsene und Ehepaare ohne Kinder zurückgeführt werden. Klar ist doch, Frau Kollegin Müller, daß wir Ausnahmen machen für traumatisierte Personen, für alte Menschen, für Schüler und Auszubildende, die nun hier ihre Ausbildung beenden sollen, und daß wir erst in der zweiten Phase die anderen Menschen zurückführen.
Ich habe viele Artikel gelesen, auch von Frau Kumin, die neulich geschrieben hat, es bestehe doch die Möglichkeit, daß 100 000 Flüchtlinge noch in diesem Jahr zurückkehren könnten. Auch Vertreter der bosnischen Regierung haben gesagt, eine Rückführung sei sukzessive durchaus möglich.
Eines ist doch auch richtig: Gerade der Wiederaufbau in Bosnien verlangt die tatkräftige Mithilfe der heimkehrenden jüngeren und arbeitsfähigen Bosnier.
Klar ist auch, was Frau Kumin gefordert hat: daß wir einen Beitrag dazu leisten. Wir beteiligen uns am europäischen Haushalt mit 30 Prozent. Das ist doch eine Menge. Wir leisten weitere 60 Millionen DM Hilfe für Infrastrukturmaßnahmen, für den Wohnungsbau, für die wirtschaftliche Entwicklung, für die landwirtschaftliche Entwicklung. Aber ich verhehle meinen Unmut darüber nicht - da sind wir einer Meinung, Günter Graf -, daß gerade die Europäische Union ihre Mittel für Projekte in Bosnien viel zu zögerlich zur Verfügung stellt. Da gilt es natürlich etwas zu unternehmen.
Die Innenminister tagen. Wir haben uns im Innenausschuß mit dem Thema befaßt. Die Innenminister unter Vorsitz des Kollegen Rudi Geil sowie die Minister Beckstein und Glogowski waren dort und haben uns einen Bericht gegeben. Sie haben übereinstimmend gesagt, die Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge sei nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll; denn die Flüchtlinge werden dringend vor Ort gebraucht. Wer soll denn sonst den Wiederaufbau leisten? Je länger die Flüchtlinge in Deutschland bleiben, desto schwieriger ist doch deren Wiedereingliederung in Bosnien.
Deswegen sage ich: Natürlich sind grundsätzlich Rückführungen möglich. Frau Kumin sagt ja selbst, 40 000 bis 50 000 - eine sehr hohe Zahl - seien bereits freiwillig in die Heimat zurückgekehrt.
Es dient niemandem, die Situation in Bosnien-Herzegowina zu beschönigen. Das ist wahr. Aber ebenso wahr ist, daß es nicht gerechtfertigt ist, dies negativ zu verzerren. Deswegen sage ich: Es ist keine Frage, daß die Rückführungen nicht nur konsequent, sondern auch behutsam erfolgen müssen. Ich nehme die Kritik vom Kollegen Christian Schwarz-Schilling und von anderen durchaus sehr ernst. Es ist eben völlig richtig, was Sie gesagt haben: daß wir die Flüchtlingsrückkehr unter Beachtung humanitärer Aspekte organisieren müssen. Es ist auch richtig, Herr Kollege Schwarz-Schilling, daß wir bei zwangsweisen Rückführungen in jedem Einzelfall, das heißt individuell, prüfen müssen, ob besondere Abschiebungshindernisse vorliegen. Richtig ist auch die Forderung, daß wir die Rückführung koordinieren müssen; denn es liegt doch in unserem Interesse, daß sich die Heimkehrer wiedereingliedern können, daß ihre Rückkehr eben keine neuen Spannungen erzeugt. Darüber sprechen die Innenminister, darüber haben wir in den letzten Tagen mit allen Innenministern geredet.
Außer Frage steht für mich, daß es gerechtfertigt ist, wenn dies mit großem Augenmaß geschieht, die Beschlüsse umzusetzen - konsequent, aber vorsichtig. Ich meine, Bosnien-Herzegowina braucht diese Menschen, die hier in Deutschland sind, braucht sie dringend zum Wiederaufbau. Ich meine auch, die hier lebenden Bosnier dürfen sich ihrer Verpflichtung gegenüber ihrer Heimat nicht entziehen. Ihr nachzukommen, darum kann ich diese Menschen nur bitten.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Günter Graf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein sehr schwieriges, ein sehr sensibles, ein mit Augenmaß und mit Weitsicht wie die Rückführung bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge hier in 30 Minuten abzuhandeln ist eine Sache, die nur schwerlich gelingen kann. Deswegen habe ich die Hoffnung, daß wir in den Ausschußberatungen in sachgerechter Form gemeinsam, wie das auch bisher der Fall war, zu einem Ergebnis kommen, das von uns allen in diesem Hause gemeinsam getragen wird. Es geht um Menschen; es geht nicht um Gegenstände. Dies möchte ich vorweg bemerken.
Ich möchte allerdings auch vorweg bemerken, daß dies ein Thema ist, das breite Kreise der Öffentlichkeit sehr bewegt, nicht nur hier bei uns in Deutschland, nicht nur in Bosnien, sondern auch darüber hinaus. Sie schauen sehr genau, wie wir in Deutschland mit dieser Thematik umgehen.
Ich möchte von vornherein eines deutlich machen - das haben wir auch in unserem Antrag formuliert -: Grundsätzlich führt an der Rückführung der bosnischen Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge kein Weg vorbei. Ich bin mir darüber im klaren, daß das auch die hier bei uns Lebenden wissen. Ich weiß und bin sicher, daß sie zu Tausenden und aber Tausenden in ihr Land zurückgehen werden, wenn sie es ungefährdet tun können.
Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Denn der Frieden in Bosnien-Herzegowina ist längst nicht hergestellt.
Ich denke, wir stimmen in diesem Hause auch überein, wenn ich feststelle, daß ein gutes Jahr nach dem Abkommen von Dayton der Friedensprozeß noch gefährdet ist. Das auf 18 Monate beschränkte Mandat wird ganz sicher nicht ausreichen, den Frieden endgültig herzustellen. Ich persönlich gehe davon aus, daß es ein Generationenproblem sein wird, weil die Wunden, weil die Verletzungen, die die Menschen auf Grund der Kriegsereignisse erlebt und erlitten haben, viel zu groß sind, als daß sie durch formale Rechtsakte und behördliche Anweisungen, Verordnungen und Richtlinien beseitigt werden könnten. Daran sollten wir denken, wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen.
Der heutige Zustand in Bosnien-Herzegowina ist kein Friede, sondern ein durch den Dayton-Vertrag und durch IFOR erzwungener, an vielen Stellen brüchiger Waffenstillstand.
Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist nach wie vor instabil und in sich voller Widersprüche. Wenn man von Dayton spricht, so ist sicherlich unbestritten festzustellen: Seit 16 Monaten gibt es keinen Krieg
mehr; seit 16 Monaten ist es nicht zu erneuten Kriegshandlungen gekommen. Dies ist sicherlich ein Erfolg.
Daß daran auch das internationale Polizeikontingent, die staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen ihren Anteil haben, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Ich möchte an dieser Stelle allen, die gegenwärtig daran mitwirken und mitgewirkt haben, diesen Friedensprozeß zu fördern, im Namen der Fraktion und, so denke ich, im Namen des ganzen Hauses unseren Dank aussprechen.
Mehr können wir im Moment an dieser Stelle nicht tun.
Was die zivile Komponente des Dayton-Abkommens angeht, so ist diese weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Nach wie vor besteht ein erheblicher Mangel an Kooperationsbereitschaft zwischen den im Dayton-Abkommen begründeten Institutionen, den politisch Verantwortlichen.
Lassen Sie mich nur darauf hinweisen, daß es nach dem Inkrafttreten des Abkommens zu massiven Häuserzerstörungen gekommen ist. Ich bin mit Kollegen aller Fraktionen dieses Hauses dort gewesen. Wir haben dies dort sehr drastisch zu hören bekommen. Wenn ich eben gesagt habe, daß die Verantwortlichen vor Ort offenbar nicht gewillt sind, aus innerlicher Überzeugung in bester Absicht diesen Prozeß zu fördern, dann mag das auch daran deutlich werden, daß es in einer Nacht „gelungen" ist, 96 Häuser in Schutt und Asche zu legen. Das ist kein Werk von einzelnen Leuten. Dies ist organisiert und geduldet. Anders kann es nicht sein.
Wenn ich von Kooperationsbereitschaft gesprochen habe, muß man sich auch vor Augen führen, daß es bis zum heutigen Tage zu keiner Festnahme, zu keiner Anklage und zu keiner Verurteilung gekommen ist. Das macht sehr deutlich, wie groß das Interesse der Verantwortlichen vor Ort ist: Es ist gleich null. Im Grunde genommen wird die Politik der ethnischen Säuberung weiter betrieben, zumindest aber geduldet.
Man sollte auch nicht verschweigen, daß diejenigen, die vor und während der Kriegshandlungen das Sagen hatten, heute noch die Drahtzieher sind und die Politik in diesem Lande weitestgehend bestimmen. Uns stünde es gut zu Gesicht, gerade die Kräfte im Land zu unterstützen, von denen wir den Eindruck haben oder wissen, daß sie es ehrlich meinen, und nicht denjenigen die Hand zu reichen, von denen wir wissen, daß sie sich gegen ihre innere Überzeugung hinstellen und anders reden. Das darf nicht sein.
Günter Graf
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß die Rückführung der zirka 320 000 in Deutschland lebenden Kriegsflüchtlinge nach Bosnien-Herzegowina nur sehr behutsam, sehr durchdacht, sehr gut vorbereitet und mit den dafür zuständigen Stellen und Organisationen abgesprochen durchgeführt werden kann. Dabei ist von uns in besonderer Weise auch zu berücksichtigen, daß es nach Schätzungen der Behörden in Bosnien-Herzegowina gegenwärtig immer noch 860 000 Binnenvertriebene gibt. Sie stammen fast ausnahmslos aus Orten, die von einer anderen als der eigenen Volksgruppe beherrscht sind.
Nicht anders sieht es bei den bosnischen Flüchtlingen aus, die im Ausland Zuflucht gefunden haben. Zwar sind zwischenzeitlich etwa 90 000 zurückgekehrt, allerdings fast ausnahmslos in Ortschaften, wo sie der ethnischen Mehrheit angehören.
Von den in Deutschland Lebenden stammt die Mehrzahl aus Orten, in denen sie im Falle einer Rückkehr zu einer ethnischen Minderheit gehören würden. Dies betrifft die serbischen Flüchtlinge aus dem Gebiet der muslimisch-kroatischen Föderation ebenso wie muslimische oder kroatische Flüchtlinge aus dem serbisch kontrollierten Teil Bosniens und muslimische Flüchtlinge aus den kroatisch beherrschten Gebieten. Dieser in Dayton nicht gewollte Zustand ist beklagenswert, ist aber letztlich von denen zu verantworten, die nach wie vor an ihrem Kriegsziel, ethnisch gesäuberte Territorien zu schaffen, unverändert festhalten, wie ich es eben bereits bemerkt habe.
Die aktuelle Situation in Deutschland verhält sich so - das hat die Kollegin Müller hier schon angesprochen -, daß in diesen Tagen und Wochen Zehntausende von bosnischen Flüchtlingen die behördliche Aufforderung, nunmehr in ihr Heimatland zurückzukehren, erhalten. Diese Aufforderung ist mit einer Androhung der Zwangsabschiebung verbunden.
Dies führt natürlich bei den Betroffenen vielfach zu der Frage, wo sie denn in Bosnien eine Unterkunft finden können, zumal mehr als die Hälfte der bosnischen Flüchtlinge in Deutschland Muslime aus der Republik Srpska sind. Überzeugende Antworten, das will ich hier in aller Deutlichkeit feststellen, gibt es für die meisten dieser Fragesteller nicht.
Was die Frage der freiwilligen Rückkehr angeht, gibt es weitere Hindernisse, die die Situation nicht gerade günstiger gestalten. Zum einen sind es die brachliegende Wirtschaft des Landes und die extrem hohe Arbeitslosigkeit, die in manchen Landesteilen bis zu 80 Prozent beträgt. Trotz dieser düsteren und schwierigen Situation vor Ort haben immerhin 75 000 bosnische Flüchtlinge aus Deutschland in den letzten neun Monaten die Möglichkeit genutzt, Besuchsreisen in ihre Heimat durchzuführen, um sich selbst vor Ort ein Bild von den tatsächlichen Verhältnissen zu machen.
Ich darf auch darauf hinweisen, daß im Bonner Büro der internationalen Organisation für Migration allein im Monat März 3 500 Anträge von Bosniern zur finanziellen Unterstützung der freiwilligen Rückkehr aus von Bund und Ländern finanzierten REAG- und GAP-Programmen gezählt wurden.
Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, allein dies verdeutlicht schon, daß die Rückkehrwilligkeit vieler bosnischer Flüchtlinge gegeben ist. Auch hat sich in den letzten Monaten sehr deutlich gezeigt, daß die Bereitschaft zur freiwilligen Rückkehr besonders dort sehr groß ist, wo es qualifizierte Beratung gibt und die Möglichkeit gezielter Hilfen besteht. Dies wird leider in unserem Land in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt; das ist ein ganz erheblicher Mangel. Ich darf an dieser Stelle allerdings positiv das Land Nordrhein-Westfalen erwähnen, das mit seinen zusätzlichen Rückkehrhilfen, die viele Bosnier in Anspruch genommen haben, dazu beigetragen hat, daß viele freiwillig zurückgekehrt sind. Inzwischen denken allerdings auch andere Bundesländer darüber nach, wie man entsprechende Starthilfen geben kann.
Ich persönlich will an dieser Stelle aber nicht verhehlen, daß dies nicht ganz unproblematisch ist. Denn wir alle wissen, daß die Heimkehrenden, die über ein Auto, eine Sachausstattung und Geld verfügen, von den Einheimischen, den dort Verbliebenen, sehr kritisch nach dem Motto betrachtet werden: Wir haben hier die Jahre über gekämpft und unser Leben hingegeben; aber ihr habt euch im Ausland ein schönes Leben gemacht, habt dort gut gelebt und Vermögen erworben. Das ist ein Problem, das bei der Rückführung in besonderer Weise betrachtet werden sollte.
Das Thema „Hilfen der EU" will ich hier nicht weiter ansprechen. Es ist angesprochen worden. Es ist im Grunde genommen ein Skandal, was da abläuft, daß nämlich Gelder in Milliardenhöhe bereitliegen, aber Projekte, die seit langem vorbereitet sind, bis zum heutigen Tage nicht begonnen werden konnten, obwohl die Gelder dazu bereitgestellt wurden.
Ich denke, es ist notwendig, daß man seitens der Bundesregierung klarer bei der EU vorspricht und darauf drängt, daß die Gelder, die zur Verfügung stehen, nun endlich gewährt werden.
Es gäbe noch eine Menge zu sagen. Ich habe betont: Wir werden in den Ausschußberatungen sehr sorgfältig darüber beraten.
Ein Wort will ich aber an alle diejenigen richten, die sehr kritisch reagieren, wenn man sagt, wir müßten sehr behutsam usw. vorgehen: Wir haben auch gegenüber denjenigen Menschen, die in unserem Land leben, eine Verpflichtung. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht ganz einfach. Viele sind betroffen. Die Einkommen gehen zurück. Arbeitslosigkeit bedrückt sie. Wir alle wissen - das hat auch die Vergangenheit gezeigt -: In Zeiten wie diesen sucht man natürlich nach Gründen, woran dies alles liegt. Dann sucht man nach Sündenböcken. Wenn man diese sucht, dann findet man sie auch.
Günter Graf
Ich muß diesen, die so denken, ganz deutlich sagen: Wenn wir nicht sehr behutsam vorgehen und wenn die IMK im Einvernehmen mit dem Bundesinnenminister nicht die Positionen dahin gehend überdenkt, daß es zu sehr behutsamen Regelungen und Vorgehensweisen kommt, dann kann dies letztlich dazu führen, daß die Zahl derer, die Bosnien-Herzegowina verlassen, doppelt so hoch ist wie die Zahl derjenigen, die dorthin zurückkehren. Dann sind die Kosten, die wir zu tragen haben - ganz abgesehen von den menschlichen Problemen -, erheblich größer.
Herr Kollege Graf, Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluß.
Kolleginnen und Kollegen, wir sollten über dieses Thema in Ruhe und Sachlichkeit beraten. Wir sollten dies im Ausschuß sehr offen, wie wir das bisher getan haben, erörtern. Ich glaube, es muß gelingen, in diesem Hause eine einvernehmliche Position zu erarbeiten, die dann auch umgesetzt werden kann.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention zu der Rede des Kollegen Marschewski gebe ich das Wort dem Kollegen Schwarz-Schilling.
Herr Präsident! Ich war sehr erfreut, von Herrn Marschewski zu hören, welch ein Erörterungsbedarf und welche Gespräche zwischen den Landesinnenministern und den hiesigen Gremien im Gange sind. Ich muß dem eine ganz klare Gegenüberstellung hinzufügen:
Erstens. Kollege Schönbohm aus Berlin hatte vor der Konferenz erklärt, es werde zu diesen Fragen Erörterungsbedarf geben. Das werde am heutigen Tag stattfinden. Auf der Pressekonferenz der Innenminister wurde die Frage gestellt, welche Erörterung denn stattgefunden habe. Darauf antwortete der Vorsitzende, dies sei nicht der Fall gewesen. Die Beschlüsse der IMK zu diesem Thema seien bereits gefaßt worden. Daher sei alles dazu gesagt.
Zweitens. Wenn ich dann aber sehe, daß die Bundesratsbank bei diesem Thema leer ist,
und wenn ich daran denke, daß gestern der Unterausschuß „Menschenrechte und humanitäre Hilfe" über dieses Thema beraten hat, der Innenminister seinen Staatssekretär geschickt hat, der dort in absolut fairer Weise Rede und Antwort gestanden hat, bei den entscheidenden Fragen aber gesagt hat: „Das ist Ländersache, da können wir nichts tun", dann frage ich mich, Herr Präsident: Wen kontrollieren wir
noch? Mit wem sprechen wir? Wie ist es möglich, daß bei einem solchen Thema die Bundesratsbank selbst angesichts dessen, daß die Minister heute hier in Bonn sind, leer bleibt?
Ich möchte darum bitten, daß das Präsidium des Bundestages darauf hinwirkt, daß bei der zweiten und dritten Lesung der diesbezüglichen Anträge ein Vertreter der Länderinnenministerkonferenz hier präsent ist und Rede und Antwort steht.
Herr Kollege Marschewski, Sie können darauf antworten.
Herr Kollege Schwarz-Schilling, dann will ich Ihnen sagen, daß ich Ihre Enttäuschung teile.
Das möchte ich für das Haus zu Protokoll geben.
Ich erwarte, daß die für die Durchführung dieser Maßnahmen zuständigen und verantwortlichen Innenminister in der Tat - zumindest der Vorsitzende der Innenministerkonferenz des Bundes und der Länder - bei der abschließenden Beratung in diesem Hause anwesend sind. Ich werde diese Angelegenheit im Präsidium zur Sprache bringen und hoffe, daß wir gemeinsam in diesem Fall an den Innenminister Geil appellieren werden, hier zu erscheinen.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Was hat sich nun eigentlich verändert seit dem letzten Mal, seit wir vor etwa sieben Monaten hier über dieses Thema diskutiert haben?
An der Lage in Bosnien-Herzegowina hat sich leider wenig verändert. Die Lage dort ist nach wie vor labil, die Aufnahmestrukturen sind mangelhaft, die Wohnraumversorgung ebenfalls; Verdienstmöglichkeiten sind kaum vorhanden, und die dortige Regierung hätte allemal noch sehr, sehr viel zu tun. Man muß ihr auf die Füße treten. Hier muß mehr geschehen.
Was sich allerdings leider gegenüber dem vergangenen September auch noch nicht verändert hat, ist, daß die Länder die Zahlen über die Flüchtlinge und die Orte, aus denen diese kommen, noch nicht vorgelegt haben. Das halte ich für einen ganz großen Mangel, und auch das hätte ich gerne von der Bundesratsbank hier heute erfahren.
Denn die Freigabe der Gelder - so haben wir immer
wieder vernommen - hängt davon ab, daß man weiß,
Cornelia Schmalz-Jacobsen
wer woher kommt. Hier ist leider weitgehend Fehlanzeige zu vermelden.
Die Lageberichte des Auswärtigen Amtes sprechen eine deutliche Sprache, und ebenso hat der Verteidigungsminister, Herr Rühe, sich hier sehr deutlich über das geäußert, was in Bosnien-Herzegowina zur Zeit vorgeht.
Etwas anderes hat sich verändert, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist das Klima in unserem Land gegenüber den Flüchtlingen. Es ist nämlich ein sehr polarisiertes Klima, und das ist nie gut. Geändert haben sich vielfach die Tonart und der Umgang.
Es hat ja manchmal den Anschein, daß man als Beweis dafür, kein Spinner oder Romantiker zu sein, als erstes das Bekenntnis ablegen muß, der Flüchtlingsstatus sei ein vorübergehender; ich will das auch gerne hier tun. Ich glaube, das wird auch ernsthaft von niemandem bestritten.
Unbestritten ist auch, daß es, je länger Menschen ihrer Heimat fern sind und je länger diese Flüchtlinge hier sind, für sie um so schwieriger wird, sich dort wieder einzugliedern.
Ich spreche nicht von Kriminellen, ich spreche auch nicht von den Flüchtlingen, die keine so guten Menschen sind, die alles herauszuholen versuchen, was möglich ist. Darum geht es mir nicht. Es geht auch nicht darum, Rückkehr zu verhindern, sondern es geht schlicht und einfach darum, gewisse Standards von Menschenrechten und Menschenwürde einzuhalten.
Wir wollen doch alle einen humanen Umgang mit Menschen, die wir hier aufgenommen haben. Auf diesem Gebiet liegt nun tatsächlich vieles im argen. Wir haben alle die gleichen Berichte von den gleichen Institutionen erhalten. Ich erwarte, daß man in den Ländern tatsächlich den einzelnen Vorwürfen auch einzeln nachgeht.
Nun mag es ja sein, daß manches übertrieben ist. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber wenn jemand nachts herausgeholt wird, dann ist es mir ziemlich egal, ob es nachts um zwölf, um ein oder um drei Uhr ist. Nachts ist nachts und ist nicht mittags um zwölf.
Wenn jemand seine eigene Wohnung gekündigt hat, dann ist das eben kein Zeichen dafür, daß er hierbleiben will. Es ist vielmehr ein Zeichen für die vernünftige Vorbereitung einer Ausreise.
Wer sich selber umsieht, der braucht eigentlich keine Berichte von Organisationen; denn es reicht, was man direkt hört. Ich glaube, das geht denen, die sich kümmern, ebenso wie mir. Man hört nämlich von Menschen, die plötzlich keinerlei Lebensgrundlage mehr haben. Man hört von Kranken, aber Kranke sind nicht ausreisepflichtig. Man hört von jungen Leuten in der Ausbildung. Auch sie sind nach dem Beschluß der Innenministerkonferenz unter bestimmten Umständen nicht ausreisepflichtig. Aber die Praxis sieht anders aus, liebe Freunde. Einzelne Behörden scheinen mir manchmal einen Wettlauf in Sachen Rigorosität zu veranstalten, der nicht im Sinne des IMK-Beschlusses ist.
Ich denke an den Fall eines jungen Metzgers aus Bayern, der zum 1. April 1997 ausreisen soll, aber seine Prüfung im Juni zu absolvieren hat. Dazu hat mir der bayerische Innenminister geschrieben, daß nur dann eine Verlängerung des Aufenthalts bis Ende 1997 genehmigt werden kann, wenn sich der Auszubildende zum Stichtag 26. Januar 1996 im letzten oder vorletzten Jahr der Ausbildung befand. Das ist hier der Fall, in anderen Fällen ist das ebenso. Aber es wird eben genau so nicht gehandhabt. Das muß man monieren, und ich moniere es hier.
Herr Beckstein hat mir übrigens in seinem Brief auch geschrieben, daß ein längerfristiger Aufenthalt ehemaliger bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge auf Kosten der Allgemeinheit nicht vertretbar sei. Das bringt mich zu einer anderen Frage: Wie sieht es mit den Leuten aus, die Arbeit haben? Das sind gar nicht so wenige. Wenn sie ihren Ausreisebescheid bekommen, der noch längst nicht gleichbedeutend mit Abschiebung ist, dann verlieren sie ihre Arbeit. Die Kommunen sind mit Recht außerordentlich ungehalten darüber, daß diese Leute, die gestern noch Steuern und Sozialabgaben gezahlt haben, heute plötzlich in die Gruppe der Sozialhilfeempfänger fallen. Wir haben in meiner Fraktion eine Initiative gestartet. Ich bitte darum, daß die Bundesregierung hier Auskunft gibt; denn es war verabredet, daß dies abgestellt wird.
Wir sind - das wissen wir - das Land, das die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat - in absoluten Zahlen, meine Damen und Herren. Aber es ist nicht so, daß andere Länder nicht etwa eine vergleichbare Anzahl Flüchtlinge aufgenommen hätten. Denn das richtet sich nach der Zahl der Einwohner. Nur, es ist leider so, daß kein anderes Land einen vergleichbaren Druck in bezug auf die Rückreise ausübt, wie wir das tun. In anderen Ländern wird noch sehr viel mehr auf Freiwilligkeit gesetzt.
Das sagen auch die Innenminister immer wieder, aber ich habe einfach den Eindruck, daß hier ein großer Unterschied zwischen Reden und Handeln besteht.
Jetzt muß ich einmal den Satz zitieren: Man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen.
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Man kann nicht einerseits den Versuch unternehmen, den Stammtischen - ich will sie in diesem Fall nicht diskreditieren will, aber Sie wissen alle, was ich meine - gerecht zu werden und gleichzeitig, indem man sagt: „Wir setzen ja auf Freiwilligkeit", den Helferorganisationen gerecht zu werden.
Per Druck geht wenig. Es muß eine gezielte Rückkehrvorbereitung sein. Ich weiß, das findet an vielen Stellen statt, aber es muß verstärkt werden. Indem man Leute zur Rückkehr zwingt, erreicht man wenig.
Bärbel Bohley, die vor Ort arbeitet, hat gesagt -ich zitiere sie -: Das Netz, in dem Flüchtlinge aufgefangen werden können, ist sehr dünn. Sie sagte auch: Wir werden die Rückkehr nicht ganz schnell lösen können. - Das gehört zur Ehrlichkeit. Das muß man betonen.
Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen, daß wir nicht eines Tages mitverantwortlich für eine Destabilisierung in Bosnien-Herzegowina gemacht werden können.
Das ist doch die Sorge des Außenministers, des Verteidungsministers und der Außenpolitiker. Ich muß allerdings sagen: Das Klima in Deutschland ist mir genauso wichtig. Wir müssen doch unser Versprechen, das wir gegeben haben, nämlich die Flüchtlinge in Würde und in humaner Weise zurückzuführen, halten.
Ganz einfach ausgedrückt will ich es einmal so sagen: Ich möchte nicht in die Situation kommen - weder nach außen noch nach innen -, mich für mein Land schämen zu müssen.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor drei Monaten war ich mit dem Innenausschuß und in der vergangenen Woche mit einer PDS-Bundestagsdelegation in Bosnien-Herzegowina. In diesen drei Monaten hat sich nichts verbessert. Ganz im Gegenteil: Die Situation hat sich verschlechtert - nicht nur, was den Arbeits- und Wohnungsmarkt betrifft.
In diesem Zusammenhang finde ich es ziemlich zynisch, wenn beispielsweise der Innenminister Beckstein - aber auch andere - davon spricht, er habe in diesem Land Menschen gesehen, die in den zerbombten Häusern leben und wohnen, und es gehe ja. In der vergangenen Woche haben wir uns Wohngegenden angesehen, in denen Menschen wieder eingegliedert werden. Es ist eine Katastrophe. Nicht wenige Kinder sind auf Minen getreten, manche sogar getötet worden, weil dort weder die zerbombten Teile der Häuser noch die Gegenden überhaupt entmint worden sind. Meiner Meinung nach kann es überhaupt keine Frage sein und kein Zweifel daran bestehen, daß die zwangsweise Rückführung der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge unmenschlich und unzumutbar ist.
Bärbel Bohley hat uns in Bosnien erklärt, eine jetzige Umsetzung der IMK-Beschlüsse führe dazu, daß die Spannungen in der bosnischen Bevölkerung wachsen. Der Kollege Graf hat schon einige Worte dazu gesagt, wie Bürgerkriegsflüchtlinge, die zurückkommen, angesehen werden. Daß sich, wie wir heute gehört haben, die Innenministerkonferenz nicht einmal bemüßigt gesehen hat, sich mit diesem Thema zu befassen - es wird ja quer durch alle Parteien kritisiert, wie die Rückführung gegenwärtig stattfindet -, halte ich nicht nur für einen politischen, sondern auch für einen humanitären Skandal.
Mir ist wichtig, noch eines zu erwähnen. Eine Verschärfung der Lage in Bosnien-Herzegowina sehe ich auch darin, daß sich alle Parteien, alle ethnischen Gruppen gegenseitig vorwerfen, das Abkommen von Dayton nicht umzusetzen. Es werden nicht nur die Flüchtlinge aus der Bundesrepublik zurückgeführt. Wir haben es mit insgesamt 1 Million Flüchtlinge zu tun, die sozusagen innerhalb des Landes vertrieben worden sind. Diese Flüchtlinge leben - beispielsweise in Srpska - in Lagern, und zwar unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen.
Die Menschen in Bosnien-Herzegowina leben praktisch nicht zusammen. Minderheiten können nicht dorthin zurückkehren, wo sie bisher gelebt haben. Das Land teilt sich nach Ethnien auf. Wir haben beispielsweise in der Republik Srpska mit den dortigen Ministern gesprochen. Sie haben ganz klar gesagt, sie seien nicht bereit, Kroaten oder Bosniaken zurückzunehmen. Sie wollten nur Serben aufnehmen. Auch das halte ich für einen Skandal. Trotzdem werden gegenwärtig aus Bayern und Hamburg Menschen aus dieser Republik zurückgeschickt. Sie werden in Auffanglagern, beispielsweise in Sarajevo, untergebracht und kommen nicht dorthin zurück, wo sie ursprünglich gewohnt haben, wie der Vertrag von Dayton ihnen das versprochen hat.
Zum Schluß möchte ich noch die Forderung aufgreifen, die die Kollegin Müller schon genannt hat, nämlich die Forderung nach einem Bleiberecht für die traumatisierten Frauen. Auch ich bin der Meinung, daß sie ein Bleiberecht brauchen. Sie dürfen nicht zurückgeschickt werden. Im Moment haben wir die Regelung, daß sie nur eine Verlängerung ihres Aufenthaltes erhalten.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß. - Deswegen unterstütze ich diesen Punkt. Ich hoffe, daß
Ulla Jelpke
wir in der Debatte im Innenausschuß zu einem Ergebnis kommen, das den Flüchtlingen gerecht wird.
Danke.
Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie der Kollege Marschewski bereits dargelegt hat, hat sich die Innenministerkonferenz nicht etwa deshalb mit dem Thema nicht ausführlich befaßt, weil keine Sensibilität für diese Frage vorhanden gewesen wäre, sondern weil keine so neuen Gesichtspunkte zu registrieren waren, daß dazu ein Anlaß ernsthafter Art bestanden hätte.
Ich kann Ihnen sagen, daß im Vorfeld der Innenministerkonferenz - hier sind Sie, Herr Kollege Schwarz-Schilling, entsprechend unterrichtet worden - in der Tat all das sorgfältig zusammengetragen worden ist, was an neuen Informationen und Nachrichten vorlag. Es gab aber keinen Anlaß, die Beschlußlage der Innenministerkonferenz zu dieser Thematik zu ändern.
Sie wissen, meine Damen und Herren, vieles von dem, was den Innenministern polemisch vorgehalten wird, hat mit der Wirklichkeit in diesem Land überhaupt nichts zu tun. Weder gibt es beispielsweise die behaupteten Massenabschiebungen, noch wird in unsensibler Art in bezug auf das Einzelschicksal einfach durchgesetzt und gehandelt.
All das ist zwar oft behauptet worden, kann aber im Einzelfall nicht belegt werden.
Das zeigt schon die zur Verfügung stehende Zahl. Sie wissen wie ich, daß im Jahre 1996 etwa 30 000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina freiwillig zurückgekehrt sind. In diesem Jahr waren es bisher etwa 6000. Nur 54 Flüchtlinge hat Bayern abgeschoben, unter 100 liegt die Zahl derjenigen, die aus dem ganzen Bundesgebiet dorthin zurückgeschickt worden sind. Ich glaube also, meine Damen und Herren, daß die Zahlen bereits ein beredtes und überzeugendes Beispiel dafür liefern, daß die Vorwürfe, die immer wieder erhoben werden, so nicht zutreffen.
Angesichts dieser Sachlage - da bitte ich um Verständnis - hat die Innenministerkonferenz in der Tat richtig gehandelt, sich mit dieser Thematik, nur weil alte Behauptungen wiederholt worden sind, nicht erneut zu befassen.
Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, daß auch das Verhalten des bayerischen Innenministers völlig mit dem übereinstimmt, was die Innenministerkonferenz dazu nach sorgfältiger Beratung und ständiger Überprüfung dieser Beratungslage beschlossen hat.
Ich darf es wiederholen: Bayern hat bisher ganze 54 Personen zurückgeschickt; dem stehen mittlerweile 36 000 freiwillige Rückkehrer gegenüber. Wer diese beiden Zahlen miteinander vergleicht, ohne daraus politisches Kapital schlagen zu wollen, der muß zu dem Schluß kommen, daß für substantielle Vorwürfe in Richtung Bundes- oder Landesinnenminister kein objektiver Raum vorhanden ist.
Danke schön.
Es liegen keine weitere Wortmeldungen vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/7284 und 13/7424 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Bundesministeriums für Verkehr über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im Straßenverkehr 1994 und 1995
- Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr
1994/95 -
- Drucksachen 13/4826, 13/5550 Nr. 1.1, 13/ 7034 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heide Matischeck
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießhaber, Albert Schmidt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit von Kindern im Straßenverkehr
- Drucksache 13/5302 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Rehbock-Zureich, Elke Ferner, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbesserung der Situation von Kindern im Straßenverkehr
- Drucksache 13/6535 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Elke Ferner, Annette Faße, Monika Ganseforth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Geschwindigkeit und Verkehrssicherheit im Straßenverkehr
- Drucksachen 13/4464, 13/6703 -
Zum Unfallverhütungsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Wolfgang Börnsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute zur Beratung anstehende Bericht zur Unfallverhütung im Straßenverkehr macht deutlich: Es gibt nachweisbare Erfolge, weiter erhebliche Herausforderungen und einen Auftrag an alle Veranwortlichen der Verkehrssicherheit, nicht nachzulassen. Unfallzahlen zu senken und Gefährdungen zu reduzieren ist und bleibt eine Herkulesarbeit.
Als im Jahre 1953 erstmalig alle Unfalldaten registriert wurden, war das Resultat erschreckend, aufrüttelnd und eine Mahnung an alle Verantwortlichen. 11400 Verkehrstote war eine schlimme Bilanz in der damaligen Bundesrepublik. In der Folgezeit stieg die Fahrleistung, und die Anzahl der Fahrzeuge verdoppelte sich. Aber auch die Zahl der Unfälle stieg rapide. Die Situation erreichte 1970 mit 19100 Getöteten und Hunderttausenden von Verletzten einen traurigen Höhepunkt. Die Wende trat ein, als die Verkehrssicherheit zu einer nationalen Aufgabe wurde.
Heute, über 40 Jahre nach der ersten Statistik, können wir feststellen: Die Anstrengungen aller amtierenden Regierungen, der Verkehrssicherheitsverbände, der Verkehrserzieher und der technischen Sicherheitsverbesserung haben ihre Wirkung gezeigt. Besonders das Verkehrssicherheitsprogramm von 1984 war ein Meilenstein in dieser Erfolgsgeschichte.
1995, so dieser Unfallverhütungsbericht, gab es 6 561 Verkehrstote in den alten Bundesländern und einen Rückgang um 70 Prozent gegenüber 1970. Dabei haben die Zahl der gefahrenen Kilometer und sich der Fahrzeugbestand erheblich zugenommen. Wir haben zu registrieren: Noch nie gab es so wenige Tote und Verletzte im Straßenverkehr. Waren es 1995 im vereinten Deutschland noch 9 450 Verkehrstote, sank die Zahl im vergangenen Jahr um fast 8 Prozent auf 8 727. Einen Rückgang gab es auch bei den Verletzten. Ich möchte an dieser Stelle all denen danken, die zu diesem eindrucksvollen Resultat beigetragen haben.
Doch es gibt noch immer zu viele Opfer im Straßenverkehr. Der Appell, in der Aufklärungsarbeit nicht nachzulassen, gilt nicht nur den verantwortungsvoll und ideenreich tätigen großen Verkehrssicherheitsorganisationen, wie zum Beispiel dem DVR und der Deutschen Verkehrswacht, sondern richtet sich auch an die Bundesregierung, die in der Bereitstellung von Mitteln nicht nachlassen sollte. Der kommende Haushalt sollte wieder 25 Millionen DM enthalten, mit einer mittelfristigen Perspektive, um kontinuierlich und zielorientiert arbeiten zu können.
Auch wenn die Anzahl der Verkehrstoten den niedrigsten Stand seit 1953 erreichte, war die Zahl der Verkehrstoten in den neuen Bundesländern, bezogen auf die Einwohnerzahl, fast doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Es bleibt noch viel zu tun.
Fast zwei Drittel der 1994 bundesweit registrierten Unfälle mit Personenschäden ereigneten sich innerhalb von Ortschaften. Hier muß von Ländern und Kommunen noch mehr getan werden. Auf Außerortsstraßen wurden 30 Prozent, auf Autobahnen, den oft verteufelten, 6,8 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden registriert. Der weitaus größte Teil der 1994 erfaßten Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden wird auf ein Fehlverhalten der Fahrzeuglenker zurückgeführt. 15 Prozent gehen auf nicht angepaßte Geschwindigkeit zurück. Es folgen Vorfahrts- und Abstandsfehler, Fehler wegen Alkohols und Fehler beim Abbiegen.
Wer diese Daten ernst nimmt, muß seine Aufklärung für mehr Sicherheit breit anlegen. Der Schwerpunkt sollte dabei bei den Kindern und jungen Erwachsenen liegen. Jeder vierte Pkw-Fahrer, der 1994 einen Unfall verursachte, hatte seinen Führerschein noch keine zwei Jahre oder besaß gar keinen. Jeder fünfte Unfall wurde von einem jugendlichen Fahranfänger zwischen 18 und 24 Jahren verursacht. Nur 4 Prozent aller Unfälle werden von Verkehrsteilnehmern verursacht, die über 65 Jahre alt sind. Senioren fahren sicher.
Doch ihre Probleme sind Reaktionsfähigkeit und insbesondere nachlassende Sehfähigkeit. Hier besteht für den Gesetzgeber Handlungsbedarf.
Erfolg gab es auch bei der Risikogruppe der Kinder. 1970 hatten wir noch über 2 000 getötete Kinder im Straßenverkehr, 1994 waren es 418. Aber viele von ihnen wurden als Mitfahrer in einem Pkw getötet, hauptsächlich deshalb, weil sie unzureichend gesichert waren.
Mehr als die Hälfte aller Kinderunfälle ereignet sich beim Radfahren. Problematisch ist dabei die Verbannung der über Sechsjährigen von der Straße in andere Bereiche. Die Bundesregierung bereitet eine entsprechende Änderung der Straßenverkehrsordnung vor; das ist gut so.
Nach wie vor ist die Haftung von Kindern und Jugendlichen im Straßenverkehr nicht befriedigend geregelt. Es sollte zügig geprüft werden, wie sie haftungsrechtlich bessergestellt werden können.
Ich begrüße die Initiative der Bundesregierung und der Länder, bei vielen Maßnahmen zu einem
Wolfgang Börnsen
neuen Konzept zu kommen. Das gilt zum Beispiel auch gegenüber den Fahranfängern. Der Führerschein auf Probe war ein Erfolg, aber er war nur von kurzer Dauer und begrenzt. Ich glaube, es muß zu weiteren Erfolgen kommen, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß 14 Prozent der Fahranfänger im Verkehrszentralregister in Flensburg mit Verstößen gemeldet sind, doppelt so viele wie alle anderen Altersgruppen. Das neue Konzept, wonach die Probezeit um zwei Jahre verlängert werden soll, begrüße ich ebenso
wie das Angebot einer freiwilligen Ausbildungsphase und auch die Möglichkeit, in Zukunft eine freiwillige Fortbildung, verbunden mit einer Bundesregelung, durchzuführen. Das heißt, wer mitmacht, kann damit seine Probezeit verkürzen.
Unkonventionelle Maßnahmen sind erforderlich. Ich möchte auf eine Initiative des Deutschen Verkehrssicherheitsrates im Lande Schleswig-Holstein hinweisen. Dort werden jetzt nach dem Beispiel der dänischen Verkehrsorganisation junge Frauen als Schutzengel in eine Verkehrssicherheitsinitiative eingebunden, damit dazu beigetragen werden kann, daß es zu weniger Verkehrsunfällen bei jungen Leuten kommt. Diese dänische Initiative, die sich so simpel anhört, hat großartige Erfolge gezeitigt: Reduzierung der Zahl Getöteter, Reduzierung auch bei der Zahl der Unfälle mit verletzten jungen Menschen.
Ich glaube, daß es notwendig ist, noch auf ein Thema aufmerksam zu machen, das uns berühren sollte. Es geht um die Gurtmuffel. Die Verkehrsstatistik aus dem Jahre 1994 belegt, daß nahezu jeder dritte Getötete im Pkw nicht angeschnallt war. Besonders schlimm ist die Vernachlässigung der Gurtpflicht bei Kindern im Pkw. Nur noch 18 Prozent der Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren sind ordnungsgemäß gesichert. Das ist viel zu wenig; hier müssen mehr Kontrollen durchgeführt werden,
die möglicherweise mit einem höheren Bußgeld und einer Eintragung in der Flensburger Verkehrssünderkartei verbunden werden müßten.
Insgesamt - damit komme ich zum Schluß - möchte ich feststellen, daß der Unfallverhütungsbericht 1994 klarmacht: Die Mittel und Maßnahmen zur Verringerung von Straßenverkehrsunfällen in unserem Lande greifen; sie haben Erfolg. Die Verkehrssicherheitsarbeit wird von der Polizei über die Fachverbände bis hin zu den Schulen als gemeinsame Aufgabe gesehen. Die Rettungsorganisationen arbeiten wirkungsvoll. Allen Engagierten haben wir zu danken, besonders den Ehrenamtlichen, den Eltern und den Erziehern.
Danke schön.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Heide Mattischeck.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen! Same procedure as the year before the last: Wir debattieren den Unfallverhütungsbericht.
- Das können wir uns dann noch gemeinsam überlegen.
Alle zwei Jahre legt die Bundesregierung uns den Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr und eine Übersicht über das Rettungswesen vor. Der Kollege Börnsen hat schon darauf hingewiesen, daß neben der kurzfristigen Entwicklung in den Jahren 1993 und 1994, die ja heute zur Debatte stehen, ein Blick auf die langfristige Entwicklung interessant ist. In den alten Bundesländern - nur in bezug auf sie sind ja Vergleiche möglich - wurden von 1947 bis 1995 585 619 Menschen, also mehr als eine halbe Million - das ist eine gute Großstadt -, bei Unfällen im Straßenverkehr tödlich verletzt. Das Risiko, bei einem Straßenverkehrsunfall getötet zu werden, war in den 50er und 60er Jahren um ein Vielfaches höher als heute. Das müssen wir konstatieren. 1970 gab es in den alten Bundesländern 17 Millionen Fahrzeuge. Die Zahl der insgesamt gefahrenen Kilometer und die Verkehrsdichte waren viel niedriger als heute.
1995 hat sich die Zahl der Kraftfahrzeuge im Vergleich zu 1970 mehr als verdoppelt. Die Fahrleistungen sind um 100 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Getöteten - ich beziehe mich wiederum auf die alten Bundesländer - ist auf 6 500 zurückgegangen. Das ist erfreulich. Wir dürfen hier aber nicht aufhören.
Ein Blick in die Statistik des Berichtszeitraumes zeigt uns, daß die Zahl der polizeilich erfaßten Unfälle von 1994 bis 1995 wiederum zurückgegangen ist. Es gab aber immer noch 390 000 Unfälle mit Personenschaden. Wir wissen, daß das nicht nur Leichtverletzte sind. 1995 sind bei Verkehrsunfällen 9 485 Menschen getötet worden.
Auch wenn die Entwicklung dieser Unfallzahlen über einen langen Zeitraum, gemessen am Bestand und an der Dichte der Fahrzeuge, relativ positiv ist, dürfen uns diese Statistiken nicht beruhigen. Vieles hat zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. Ich nenne nur die verbesserte Fahrzeugtechnik, Maßnahmen wie Sicherheitsgurte, Kopfstützen usw. Ich nenne die guten, effektiven Rettungsdienste. Wir haben uns bei denen, die dort tätig sind, zu bedanken.
Natürlich haben wir auch eine bessere und modernere Medizin.
Trotzdem können wir nicht alle zwei Jahre nach der Vorlage dieses Berichtes, wenn wir den Rückgang der Unfallzahlen begrüßt und die Verkehrstoten beklagt haben, einfach zur Tagesordnung über-
Heide Mattischeck
gehen. So läuft das aber in der Regel. Wir müssen uns vielmehr sehr genau ansehen, wer besonders häufig an Unfällen beteiligt ist und welche Gruppen besonders gefährdet sind, also Kinder und ältere Menschen. Wir sollten aus diesen Beobachtungen dann auch Konsequenzen ziehen. Darin sehen wir - das müssen wir sagen - bei der Regierung erhebliche Defizite.
Die Unfallzahlen bei den jugendlichen Fahrern in der Altersgruppe 18 bis 24 Jahre sind erschreckend. Darauf hat der Kollege Börnsen schon hingewiesen. Dabei muß man bemerken, daß die jungen Männer einen höheren Anteil an den Unfällen haben als die jungen Frauen. Ich möchte nicht, daß wir in diesem Bereich aufholen.
Jeder vierte Pkw-Fahrer im Bundesgebiet, der seinen Führerschein noch keine zwei Jahre hatte, hat einen Unfall mit Personenschaden verursacht. Jeder fünfte Unfall mit Personenschaden wurde von jungen Fahrern im Alter von 18 bis 24 Jahren verursacht.
Es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die Anzahl der älteren Menschen, die einen Führerschein haben, größer wird. Trotzdem werden die vielleicht abnehmende Sehtüchtigkeit und andere Unsicherheiten dadurch kompensiert, daß ältere Menschen einfach vorsichtiger fahren. Auch das sollte man berücksichtigen.
Die Tatsache der besonderen Betroffenheit von jungen Unfallfahrern hat 1986 zur Einführung des Führerscheins auf Probe geführt. Es gab kleine Erfolge damit. Sie reichten aber nicht aus. Die Anhörung des Verkehrsausschusses im November letzten Jahres hat deutlich gemacht, daß hier erheblicher Handlungsbedarf besteht. Der Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestag hat die Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept vorzulegen, in dem Konsequenzen aus der Anhörung gezogen werden.
Erst gestern - die, die im Anbau sitzen, sind da immer etwas benachteiligt - habe ich einen Bericht über die Unfallhäufigkeit der jungen Fahranfänger erhalten. Der mit dem Problem befaßte Bund-LänderAusschuß „Fahrerlaubniswesen" hat mehrheitlich ein Konzept gebilligt, das wir, denke ich, im Verkehrsausschuß demnächst diskutieren werden. Da gibt es eine ganze Reihe von Vorschlägen, die der Kollege Börnsen schon genannt hat.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen Vorschlag hinweisen, der in diesem Bund-LänderAusschuß offensichtlich keine Einstimmigkeit gefunden hat. Mir scheint er aber wichtig zu sein. Es ist der Vorschlag gemacht worden, ein besonderes Tempolimit für junge Unfallfahrer einzuführen. Sicherlich kann man sich darüber streiten; das sollten wir dann auch tun und uns überlegen, welche Konsequenzen das haben kann.
Der Bundesverkehrsminister ist der Meinung, daß das keine geeignete Maßnahme sei; denn Anfänger sollen von Beginn an lernen, entsprechend den Situationen zu fahren und ihre Geschwindigkeit der Verkehrslage, dem Wetter usw. anzupassen. Ich meine, daß für einen Fahranfänger, der gerade seinen Führerschein gemacht hat und 18, 19 oder 20 Jahre alt ist, selbst eine Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern zu hoch ist. Wenn ich in den Berichten, die uns vorliegen, lese, daß man heute mit gut einem Viertel aller Fahrzeuge schneller als 180 Stundenkilometer fahren kann - das muß man sich einmal überlegen - und daß die meisten Anfänger kein eigenes Auto haben, sondern das der Eltern benutzen, dann, meine ich, ist diese Möglichkeit in den Händen eines jungen Fahranfängers keine richtige Lösung. Wir sollten uns über die Möglichkeit einer Begrenzung ganz leidenschaftslos unterhalten. Ich finde, es gibt genügend Gründe, darüber zu diskutieren.
Auf die Gefährdung der Kinder will ich hier nicht weiter eingehen, weil dies die Kollegin Rehbock-Zureich tun wird.
Aus purer Ideologie weigert sich die Regierung, weigert sich die Koalition immer wieder, auf unsere Vorschläge zum Tempolimit einzugehen. Ich spreche jetzt nicht von Tempo 30, sondern von einer Harmonisierung des Tempolimits auf europäischer Ebene für Bundesstraßen und Autobahnen, die wir immer wieder eingefordert haben. Es gibt ja positive Erfahrungen damit. Erstaunlich ist deshalb die Auskunft der Bundesregierung auf unsere Frage, ob ihr Untersuchungen vorliegen, wie sich die Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnabschnitten auf die Häufigkeit und Schwere von Unfällen ausgewirkt hat: Es liegen überhaupt keine aktuellen Forschungsarbeiten vor. Das halte ich für ein starkes Defizit.
Der weitaus größte Teil der Unfallursachen - das ist schon gesagt worden und überrascht auch nicht - entfällt auf Fehlverhalten der Fahrzeuglenker oder -lenkerinnen. Weit an der Spitze rangiert die nicht angepaßte Geschwindigkeit. „Nicht angepaßt" heißt ja wohl - damit verweise ich noch einmal auf das vorher Gesagte - nicht zu langsam, sondern zu schnell. Es folgen Vorfahrtsfehler, die auf Autobahnen natürlich in der Regel nicht passieren. Deshalb steht die Autobahn in der Statistik ja auch gut da. Weitere Unfallursache ist ungenügender Sicherheitsabstand. Auch diesbezüglich habe ich von der Bundesregierung noch keinerlei Vorschläge gehört. In anderen Ländern gibt es sogenannte Tempolimitierungen durch optische Kennzeichnung auf Autobahnen. Ich erwarte, daß die Bundesregierung auch dazu Vorschläge macht.
Eine weitere häufige Unfallursache ist Alkohol im Straßenverkehr. Auch in diesem Bereich, so müssen wir anmahnen, bleibt die Bundesregierung untätig. Alkoholisierte Autofahrer verursachen - das zeigt uns die Statistik - besonders schwere Unfälle. Es ist deshalb unverständlich - ich meine sogar: ein Skandal -, daß es die kleine Gruppe der F.D.P. immer wieder schafft, zu verhindern, daß der Bundestag endlich die Senkung der Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 beschließt.
Heide Mattischeck
Wir lesen in Zeitungen immer wieder, daß sich auch einige Kollegen aus der CDU/CSU für eine Senkung der Promillegrenze aussprechen. Ich finde, man kann vieles zu einer Koalitionsfrage machen; aber dies ist wirklich kein geeigneter Punkt. Um auch das noch einmal deutlich zu sagen: Wir wollen keinem die Freude am Bier oder Wein verbieten, sondern einfach, daß das Fahren unter Alkoholeinfluß nicht erlaubt ist.
Der Entzug des Führerscheins gilt - das beobachte ich immer wieder - als Kavaliersdelikt. Das ist, so meine ich, starker Tobak. Die Hinnahme eines Unfalles, verursacht durch die erhöhte Einnahme von Alkohol, ist wirklich kein Kavaliersdelikt mehr.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf eines hinweisen - auch Herr Börnsen hat es, etwas verschämt, schon getan -: Bei den Haushaltsberatungen sollten die Mittel für Aufklärung und Verkehrserziehung eine größere Rolle spielen. Ich darf dazu ein paar wenige Zahlen nennen: 1992 waren noch 39 Millionen DM für Maßnahmen der Verkehrserziehung - für eigene und für die der Verkehrssicherheitswacht usw. - eingestellt. Die mittelfristige Finanzplanung sah dann für 1994 - das muß man sich einmal vor Augen führen - einen Betrag von 14 Millionen DM vor. Nur die Proteste der Oppositionsparteien sowie der Sicherheitswachten und anderer Organisationen, die hier verdienstvolle Arbeit leisten, haben dazu geführt, daß wir zumindest 1994 wieder auf 25 Millionen DM gekommen sind. 1995 wurden dafür dann nur noch 23,5 Millionen DM in den Haushalt eingestellt.
Ich halte das für einen Skandal. Es hat keinen Sinn, darüber immer wieder Krokodilstränen zu vergießen und im Verkehrsausschuß zu betonen, alle seien einer Meinung, daß das eine wichtige Sache ist. Sie müssen in den Haushaltsberatungen dann auch Konsequenzen daraus ziehen.
Den Äußerungen des Kollegen Börnsen habe ich entnommen, daß wir in vielen Fragen einer Meinung sind. Dann, so meine ich, können Sie unserem Entschließungsantrag auch bedenkenlos zustimmen. Dafür würde ich mich sehr herzlich bedanken.
Schönen Dank.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Rita Grießhaber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die schwächste Verkehrsteilnehmergruppe lenken, nämlich auf die Kinder. Von den Stadtplanern vergessen und vom Autoverkehr überrollt, so läßt sich die Situation von Kindern im Straßenverkehr bzw. im öffentlichen Raum insgesamt beschreiben.
Kinder haben nur noch wenig Raum zum Spielen, Toben und Lernen. Sie sitzen sehr viel vor dem Fernseher und bekommen dadurch massive Bewegungsprobleme. Die Unfallforschung zeigt, daß erhebliche Mängel in der motorischen Entwicklung immer häufiger die Ursache für Kinderunfälle sind. Wo sollen sich die Kinder auch austoben, die Grenzen ihrer körperlichen Belastbarkeit, ihren Orientierungssinn und das Einschätzen von Gefahrenquellen lernen, wenn ihnen auf Grund des öffentlichen Raums motorisierte Erwachsene dafür nur noch künstliche Reservate wie eine halbe Stunde Bewegungsunterricht pro Woche zur Verfügung stellen? Wie sollen sie sich auf der Straße zurechtfinden, wenn ihre Eltern sie aus Angst vor Verkehrsunfällen mit dem Auto zu diesem Unterricht bringen?
Doch statt den Verkehr einzuschränken und eine kinderfreundliche Umgebung zu schaffen, finden wir uns in Deutschland bis heute damit ab, daß Kinder auch noch für Unfälle haftbar gemacht werden. Wir versuchen, die Kinder autogerecht zu erziehen, statt die Autofahrer zur Rücksicht gegenüber Kindern zu zwingen. Da stimmt doch etwas nicht.
Nicht Krankheiten, sondern Verkehrsunfälle sind in Deutschland die größte Gesundheitsbedrohung für Kinder im Alter zwischen fünf und zehn Jahren. Täglich werden 140 Kinder bei Unfällen verletzt, fast jeden Tag stirbt ein Kind auf Grund eines Verkehrsunfalls. Viele Kinder kommen als Mitfahrende im Auto ums Leben, sie sind zu wenig oder zu schlecht gesichert. Hier tut mehr als nur Aufklärung oder eine große Kampagne für Kindersicherung im Auto not.
Nur ein kleiner Teil der Unfälle sind Schulwegunfälle. Die meisten Kinder verunglücken am späten Nachmittag in der Nähe ihrer Wohnung: Rushhour, die Schulaufgaben sind gemacht, die Kinder drängen zum Spielen nach draußen. Gleichzeitig beginnen Kolonnen von müden Autofahrern nach einem anstrengenden Arbeitstag den Heimweg: Kollisionen sind vorprogrammiert, und das, obwohl in einer Erhebung des VCD überhaupt nur noch 11 Prozent der Kinder angeben, nachmittags draußen zu spielen.
Was das für eine Änderung im Leben der Kinder bedeutet, müssen Sie sich einmal vorstellen. Was haben wir als Kinder auf der Straße gespielt! Was waren wir draußen, was haben wir uns bewegt! Was haben wir uns angepaßt und gelernt, wie es zugeht! Und heute können Sie als Eltern Ihre Kinder kaum mehr nach draußen lassen, weil es viel zu gefährlich ist.
- Ob das die Kinder oder die Eltern nicht wollen, ist doch nicht die Frage. Die Fragen lauten: Ist es noch zumutbar? Ist das Risiko abschätzbar?
Allerdings nutzen die Kinder die Straße, und zwar wesentlich mehr als die motorisierten Erwachsenen. Fast die Hälfte der Kinder geht zu Fuß zu Freunden, zu den wenigen verbliebenen Spielinseln, zum Sport, zum Musikunterricht oder zur Schule. Sie nutzen die Straßen, auf denen sich von der Ampelschaltzeit bis
Rita Grießhaber
zur Schadstoffgrenze alles an den Erwachsenen ausrichtet. Das ist ein Kampf um Raum, bei dem die Kinder von vornherein als Verlierer dastehen.
Wir müssen deshalb endlich dazu kommen, daß Sicherheit im Straßenverkehr nicht etwas ist, was wir von den Kindern verlangen, sondern etwas, was wir ihnen schulden.
Dazu gehört die flächendeckende Einführung von Tempo 30 in allen Ortschaften. Wir wissen doch seit Jahren: Rennt ein Kind 15 Meter vor einem Auto auf die Fahrbahn, kann ein Auto, das 30 Stundenkilometer fährt, noch zum Stehen gebracht werden. Bei 50 Stundenkilometern reichen diese 15 Meter gerade, um die Geschwindigkeit auf 45 Stundenkilometer zu senken. Bei einem Aufprall mit dieser Geschwindigkeit haben Kinder keine Chance. Das ist in der Anhörung der Kinderkommission zur Verkehrssicherheit der Kinder sehr deutlich und bedrückend klargeworden.
Dort, wo Tempo-30-Zonen eingeführt wurden, geht die Zahl der Unfälle stark zurück. Auch die Zahl der Schwerverletzten und Getöteten nimmt deutlich ab. Es gibt wirklich genügend Untersuchungen und praktische Erfahrungen, die bestätigen, wie sehr in diesen Gebieten die Sicherheit von Kindern - übrigens von Fußgängern generell - verbessert wird. Deshalb wollen wir für den innerstädtischen Verkehr Tempo 30 als Normalfall und Tempo 50 als Ausnahme.
Bei uns können Kinder schon im Alter von sieben Jahren für Unfälle haftbar gemacht werden. Das muß sich dringend ändern. Es gibt wohl im Justizministerium Pläne, das Alter anzuheben. Ich frage mich nur, warum aus diesen Plänen nicht längst Taten geworden sind, zumal man sich die Ideen ja auch anderswo herholen kann.
Unsere Nachbarn in der EU - nehmen Sie Österreich, nehmen Sie die Niederlande - sind mit gutem Beispiel vorangegangen und können positive Erfahrungen vorweisen. Dort wird die Deliktsfähigkeit grundsätzlich mit dem 14. Lebensjahr erreicht. Auch bei uns ist es doch so, daß die strafrechtliche Haftung von Kindern erst mit 14 Jahren beginnt. Während die zivilrechtliche Deliktsfähigkeit einzig und allein die Einsichtsfähigkeit des Kindes als Kriterium berücksichtigt, ist das Strafrecht sehr viel näher an der kindlichen Realität: Es verlangt für eine Schuldfähigkeit zusätzlich die Handlungsfähigkeit, also die Fähigkeit zu einem der Einsicht entsprechenden Verhalten.
Wenn man sich diese Kriterien anschaut und sich vor Augen führt, was bei uns auf den Straßen passiert, ist es überhaupt nicht zu rechtfertigen, daß Kinder bei Unfällen im Zivilrecht früher zur Verantwortung gezogen werden als im Strafrecht. Selbstverständlich müssen wir die auftretenden Probleme in Form von Haftungslücken, die dann entstehen, versicherungsrechtlich lösen; das ist klar. Auch hier bietet die österreichische Regelung interessante Ansätze.
Kinder sind jedenfalls nicht schuld an einem überhandnehmenden Verkehrsaufkommen. „Freie Fahrt für freie Bürger" ist eine tödliche Gefahr für sie. Lassen Sie uns deshalb alles dafür tun, damit Kinder nicht mehr aus Angst vor Unfällen eingesperrt werden müssen und das Leben von Kindern nicht wegen Verkehrsunfällen mit zivilrechtlichen Schuldsprüchen überschattet wird.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Horst Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erstens. Frau Kollegin Mattischeck, auch wenn Sie es als Skandal bezeichnen, wird mich das nicht daran hindern, weiterhin den Sachzusammenhang darzustellen.
Bei allen Unfällen, die Sie genannt haben, ist die 0,8-
Promille-Grenze obsolet. Sie gilt dann nämlich nicht, sondern es gilt die 0,3-Promille-Grenze. Das sollte man vielleicht einmal dazusagen, damit es noch mehr in Deutschland wissen.
. Zweitens. Es bleibt nun einmal Tatsache, daß 90 Prozent aller Alkoholunfälle jenseits der absoluten Fahruntüchtigkeit stattfinden. Die Sonderspezies der sogenannten fahrenden Trinker kriegen Sie mit keiner Promillegrenze von der Straße, sondern nur dadurch, daß Sie sie erwischen.
Der vorliegende Unfallverhütungsbericht für die Jahre 1994 und 1995 bestätigt einen insgesamt erfreulichen Trend. Während nämlich in den alten Bundesländern die Zahl der Unfälle, vor allem aber die Zahl der Getöteten seit Jahren kontinuierlich abnimmt - der Kollege Börnsen hat den Scheitelpunkt genannt -, scheint auch in den neuen Bundesländern die seit der Wiedervereinigung dort vorhandene besorgniserregende Entwicklung mit steigenden Unfallzahlen endlich gestoppt. Das beweisen nicht nur die Zahlen der Jahre 1994 und 1995. Das wird auch durch die Zahlen aus dem Jahre 1996 bestätigt.
Allerdings ist Zufriedenheit angesichts von immer noch rund 8 700 Todesopfern mit Sicherheit nicht angebracht; denn jeder Tote im Straßenverkehr ist ein Toter zuviel. Dennoch ist es vor dem Hintergrund von mehr als 51 Millionen Fahrzeugen und einer jährlichen Fahrleistung von 590 Milliarden Kilometern nachhaltig gelungen, die Unfallzahlen von diesen raschen Verkehrszuwächsen abzukoppeln.
Hierfür sind vielfältige Gründe ausschlaggebend: weitgehende Verbesserungen bei der aktiven und passiven Sicherheit in und am Auto, hoher Sicherheitsstandard unserer Verkehrsinfrastruktur, nicht zuletzt aber auch Aufklärung, Information und Schulungen im Rahmen der Verkehrssicherheitsarbeit, oftmals auf der Grundlage entsprechender Hinweise der BASt. All das hat zum Rückgang der Unfallzahlen beigetragen.
Horst Friedrich
Ein Dank ist hier schon ausgesprochen worden. Die Aktionen reichen von Aufklärungsprogrammen wie „Kind und Verkehr" bis hin zu Veranstaltungsreihen für aktive ältere Kraftfahrer. Diese Maßnahmen sind nachweislich erfolgreich; sie kosten allerdings auch Geld. Deswegen ist die Mittelausstattung ein Thema. Klar ist auch, daß die mittelfristige Haushaltslage über den Erhalt des Status quo hinaus - ich glaube, es wäre unredlich, etwas anderes anzunehmen - keine wesentlichen Steigerungen erwarten läßt. Allerdings wäre eine weitere Reduzierung der falsche Weg.
Insofern plädiere ich nochmals nachhaltig dafür, viel stärker .als bisher das private Sponsoring auch bei der Verkehrssicherheitsarbeit und bei der Unfallsicherheit einzuführen. Es ist in außereuropäischen und auch in europäischen Staaten gang und gäbe. In den USA, in Kanada, aber auch in den Benelux-Staaten und in Skandinavien gibt es genug Sponsorenschaften für Verkehrssicherheitsmaßnahmen. Das muß ausgeweitet werden. Aus Sicht der F.D.P. müssen in Zeiten knapper Mittel Private ihren Teil zur Erfüllung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgaben beitragen. Sie müssen allerdings auch dann darüber mitbestimmen dürfen, wofür diese Gelder ausgegeben werden.
Daß es unzweifelhaft nötig ist, weiterhin Verkehrssicherheitsarbeit zu betreiben, ist klar. Solange die Statistiken ausweisen, daß es Risikogruppen gibt - die 18- bis 25jährigen sind schon genannt worden -, die überproportional am Unfallgeschehen beteiligt sind, und daß es Risikogruppen wie die der über 65jährigen gibt, die viel stärker als Unfallopfer gefährdet sind, so lange ist das nötig.
Mehr als 400 Kinder kommen jährlich als aktive Verkehrsteilnehmer zu Tode, und zwar überwiegend im Auto der eigenen Eltern.
Die neueste Umfrage hat ergeben, daß 38 Prozent der im Straßenverkehr verunglückten Kinder bis 14 Jahre als Pkw-Mitfahrer getötet werden, und zwar schwerpunktmäßig im Auto der eigenen Eltern. Wenn ich mir die Antworten auf die Frage, warum die Kinder nicht angeschnallt sind, ansehe - keine Zeit zum Anschnallen; ich fahre nur kurze Zeit; das Kind quengelt -, dann muß ich fragen: Was muß noch alles passieren, damit diese Eltern endlich begreifen, daß sie vorrangig die Verantwortung für ihre eigenen Kinder haben?
Das ist nicht vorrangig die Aufgabe des Gesetzgebers, sondern vorrangig die Aufgabe der Eltern.
Ich will allerdings darauf hinweisen - das sage ich als Brillenträger ganz bewußt -, daß es die Spezialspezies der Autofahrer gibt, die keine Zeitung mehr lesen können. Man sagt dazu: Die Augen sind noch gut, aber die Anne sind zu kurz. Diese Spezies fährt leider Gottes immer noch Auto. Jedem, der das macht, ist bewußt, daß eingeschränkte Sehfähigkeit zur verkürzten Reaktionszeit, zu falschen Reaktionen und zum Schaffen unübersichtlicher Situationen führt. Ich plädiere deshalb nachhaltig dafür, zu überlegen, ob man ähnlich wie den technischen Zustand des Kraftfahrzeugs auch das Augenlicht des Führers des Kraftfahrzeuges überprüft. Ich glaube, das wäre durchaus eines Versuches wert.
Eines sei zum Schluß auch noch gesagt: Es ist mit Sicherheit ein Irrglaube, daß sich nur junge Autofahrer aggressiv verhalten. Eine neueste Studie hat ergeben - ich zitiere aus einer „dpa"-Meldung vom heutigen Tage
Die Annahme, nur junge Autofahrer verhielten sich auf den Straßen besonders aggressiv, sei falsch .... In seiner Studie beschreibt er sechs Typen von Autofahrern. Vor allem der frustrierte Fahrer gefährde sich und andere. Bei ihm handele es sich
- hören Sie zu! -
überdurchschnittlich oft um den Familienvater mit praktischem Wagen wie Kleinbus oder Kombi.
Begründung:
„Eigentlich träumt er von einem Sportwagen" ... . Wenn schnelle Autos an ihm vorbeirauschten, empfinde er das als Demütigung. „Er kämpft verbissen um jede Lücke."
Also auch diese Spezies Kraftfahrer sollten wir vielleicht ab und zu im Auge behalten.
Ich empfehle die Annahme der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses.
Herzlichen Dank.
Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns einig, daß es im Jahr 1995 9 485 Straßenverkehrstote zuviel gab. Im Bericht wird ausführlich darauf verwiesen, daß es sich hinsichtlich Westdeutschlands um kontinuierlich sinkende Verkehrsopferzahlen handelt. Das ist natürlich ein erfreulicher Trend.
Allerdings stimmt Schulterklopfen in diesem Zusammenhang auch bedenklich. Der Bericht konstatiert selbst, daß es sich zumindest um einen westeuropaweiten Trend handelt. Es ließe sich zum Beispiel auch fragen, weshalb in Großbritannien und Schweden die Zahl der Kfz-Verkehrsopfer je 100 000 Einwohner um 40 Prozent niedriger als in Westdeutschland ist.
Einigermaßen erschütternd finde ich die Zahlen zu den neuen Bundesländern: Trotz Abflachung des Trends stieg auch im Jahr 1995 die Zahl der Kfz-Verkehrstoten und Verletzten das sechste Mal in Folge
Dr. Winfried Wolf
an. Je 100 000 Einwohner werden zum Beispiel in Brandenburg dreimal soviel Menschen im Straßenverkehr getötet wie zum Beispiel in Schleswig-Holstein. Dies nur auf den schlechten Zustand der Straßen zu schieben überzeugt nicht. Der Zustand zum Beispiel der britischen Straßen ist weit weniger autogerecht - im Sinne des Berichtes - als der der ostdeutschen. Dennoch gibt es dort nur ein Fünftel soviel Straßenverkehrstote wie zum Beispiel in Brandenburg.
Der insgesamt gründliche Bericht enthält auch einige Peinlichkeiten. Bereits der erste Satz ist reichlich daneben. Da wird die Qualität des Wirtschaftsstandorts Deutschland in Verbindung mit der Verkehrssicherheit gebracht. Ich nehme an, daß wir Tote und Verletzte im Straßenverkehr nicht wegen der Qualität des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu verhindern versuchen, zumal es Regionen in der Welt gibt, die heute eine wachsende Qualität des Wirtschaftsstandorts haben, verbunden mit sprunghaft ansteigenden Verkehrsopfern.
Auch peinlich ist, wenn anderthalb Seiten lang die Bundeswehr als Institution zur Verhinderung von Straßenverkehrsunfällen beweihräuchert wird, aber die Arbeit des Umweltbundesamtes hingegen gerade einmal mit ein paar Zeilen gewürdigt wird. Eine Gänsehaut bekomme ich, wenn im Bericht haarklein ausgerechnet wird, daß 9477 Kinder Verursacher eines Unfalls waren. Rita Grießhaber hat dazu bereits das Notwendige gesagt.
Wichtig bei der Bewertung des Berichtes scheint mir vor allem zu sein, was nicht im Bericht steht. Ganz schmallippig wird der Bericht beim Thema Geschlechter. Erwähnt wird noch, daß Frauen nur bei 28 Prozent der Unfälle Hauptverursacher sind. Nicht enthalten sind Angaben über die Schwere der Unfälle, wo die Bilanz nach Geschlechtern nochmals negativer für das „rasende Geschlecht" aussieht. Eine Zahl sei hier aus der „Süddeutschen Zeitung" nachgeliefert:
Bei 1000 Unfällen, bei denen eine Frau als Hauptverursacherin ermittelt wurde, gab es durchschnittlich 14 Tote. Bei den Männern wurden 30 Tote errechnet.
Das ist die doppelt so negative Bilanz.
Daran schließt sich natürlich die Frage an - die SPD hat sie in einer Großen Anfrage gestellt -, wie sich die Bundesregierung diese Diskrepanz erklärt. Eine Antwort darauf gab es hierzu im Grunde nicht, nur die Bestätigung, daß Geschwindigkeit eben bei Männern eine größere Bedeutung habe und sich das im Alter nivelliere. Als ob bereits das männliche Gen des Rasens isoliert worden wäre! Zu fragen wäre doch, inwieweit der Männlichkeitskult in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt, inwieweit die Autowerbung primär diesen Machismo bedient und welche Konsequenzen daraus gezogen werden könnten.
Was weiter fehlt, sind Aussagen zu einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung. Das heißt, der Bericht hält daran fest, daß dieses Land allein gegen zumindest das übrige Europa daran festhält, auf großen Teilen der Autobahnen kein Tempolimit festzulegen. Im übrigen mußte die Bundesregierung gerade in einer Antwort an die SPD eingestehen, daß die durchschnittlich gefahrene Geschwindigkeit auf diesen Autobahnabschnitten von 120 km/h im Jahr 1981 auf 134 km/h im Jahre 1995 kontinuierlich angestiegen sei.
Vor allem aber geht der Bericht nicht ernsthaft darauf ein, daß die auf den Pkw orientierte Mobilität automatisch einen hohen Blutzoll erfordert. Zwar finden sich irgendwo eingestreut Sätze, wonach der öffentliche Verkehr sicherer sei und daß es Ziel der Raumordnung sei, Verkehr zu vermeiden. Es ist jedoch eine Tatsache, daß die Verkehrspolitik dieser Bundesregierung in ihrer Gesamtbilanz darauf hinausläuft, insbesondere Autoverkehr zu steigern und Wege zu verlängern.
So jedenfalls entwickeln sich die Daten zur Verkehrsaufteilung, zur Länge der jährlich im Pkw zurückgelegten Wege und zur Kfz-Dichte.
Damit werden aber die Grunddaten vorgegeben, die letzten Endes den weiterhin viel zu hohen Blutzoll des Straßenverkehrs, das unverantwortlich hohe Ausmaß an Schmerz und Leid, das mit diesem verbunden ist und von dem heute fast jede Familie betroffen ist, als wesentliche Ursache haben.
Die SPD hat in ihrem Entschließungsantrag die richtigen Forderungen gestellt. Wir stimmen diesem zu.
Danke schön.
Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es hier bei dem Thema Unfallverhütung mit einer Problematik zu tun, von der man sagen kann, daß niemals der Zeitpunkt erreicht werden wird, an dem man würde erklären können: Jetzt ist genug getan. Das ist eine bleibende Aufgabe.
Es geht um Unfälle, Verletzte und Getötete. Insofern ist es ein sehr ernsthaftes Thema. Die bisherigen Beiträge haben bestätigt, daß das ganz allgemein so in der Runde gesehen wird.
Das vorausgeschickt muß man doch auch sagen dürfen, daß in der Verkehrssicherheit in den letzten Jahren Ergebnisse erzielt werden konnten, die man selbst bei positivster und optimistischer Betrachtungsweise vor fünf oder zehn Jahren kaum für möglich halten konnte. Es ist ja fast verwunderlich, wenn man sich vorstellt, daß von Jahr zu Jahr der Bestand an Kfz zunimmt, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
gefahrenen Kilometer zunimmt und daß gleichzeitig in nicht unerheblichem Maße die Unfallzahlen sinken und die Zahl der Getöteten sogar drastisch zurückgeführt werden konnte.
Deutschland ist eine Verkehrsdrehscheibe mitten in Europa. Bei der Verkehrsdichte sind wir, so möchte ich sagen, Nummer eins in Europa. Herr Kollege Dr. Wolf, vielleicht liegt darin auch etwas von dem begründet, was Sie an Kritik gebracht haben, im Vergleich zu Großbritannien und zu Schweden zum Beispiel, die bezogen auf ihren eigenen Bestand an Fahrzeugen eine niedrigere Unfallhäufigkeit haben mögen. Ich habe das nicht überprüft, aber es kann durchaus sein. Aber wenn man sich überlegt, was auf den Straßen Deutschlands als Verkehrsdrehscheibe mitten in Europa los ist, dann wird man angesichts der Bestandsdichte, mit der wir zu tun haben, mit Sicherheit dort nicht einen Vorsprung in der Verkehrssicherheit feststellen können.
Insofern darf man also wirklich sagen: Wir sind auf einem sehr guten Weg. Man kann es kaum glauben - wenn man es auf Veranstaltungen vorträgt, löst es auch Überraschung aus -, daß wir zum Beispiel 1996 weniger Verkehrstote gehabt haben als 1951. Damals hatten wir rund 3 Millionen Kfz. Jetzt haben wir über 50 Millionen Kfz und trotzdem deutlich weniger Verkehrstote als 1951. Das ist eine gute Entwicklung, Gott sei Dank. Ich will das jetzt gar nicht allein auf die Bundesregierung beziehen, das wäre abwegig.
Nur, wir sind auch für diesen Part der Politik verantwortlich und wollen uns darüber freuen, daß so etwas festgestellt werden kann.
Aber der Dank gilt natürlich all den Beteiligten. Die Länder haben sich beteiligt, hier im Parlament haben wir doch eine breite Übereinstimmung in dieser Frage, darüber brauchen wir uns doch gar nicht zu streiten. Wir haben die Unterstützung vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat, von der Verkehrswacht, von der Polizei. Auf deutschen Straßen sind mit immer mehr Verständnis für diese Fragen Zigtausende von Menschen fast Tag für Tag dabei, Kindern zu helfen, Erwachsenen zu helfen, Behinderten zu helfen. Das ist eine tolle Sache. Das müssen wir fortsetzen mit einem Dank an die vielen Tausenden, die in Deutschland diese Arbeit leisten.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Ja, bitte.
Herr Staatssekretär, im Unfallverhütungsbericht ist sehr ausführlich über viele Verkehrsteilnehmerarten berichtet worden, und wir haben die Ergebnisse hier doch sehr positiv festgestellt. Eine Gruppe Verkehrsteilnehmer ist mir nicht aufgekommen. Ich habe den Bericht dreimal gelesen und habe sie nicht gefunden; es ist die Gruppe der Motorradfahrer. Gerade die Motorradfahrer sind ja erheblichen Risiken ausgesetzt, das heißt, die Todesrate bei Unfällen ist dreimal so hoch wie beim Autoverkehr.
Meine Fragen dahin gehend: Liegen der Bundesregierung im Rahmen dieser Unfallerhebung noch Angaben vor, die nicht mit dargestellt worden sind? Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, im Rahmen präventiver Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit für die Motorradfahrer etwas zu tun? Könnte dazu eventuell noch etwas in Ihren Ausführungen oder im nachhinein gesagt werden?
Verehrter Kollege Otto, es kann durchaus sein, daß in diesem Bericht nicht alle Sparten gleich lange Passagen bekommen haben. Wenn ich mich richtig erinnere, werden die Motorräder zumindest angesprochen - auf der Seite 14 des Berichtes -, und zwar recht schmal, Sie haben recht. Aber wenn das insgesamt zu kurz gekommen sein sollte, werde ich dafür sorgen, daß schon im nächsten Bericht 1996/97 dann auch für die Motorräder und deren Problematik eine entsprechend längere Passage aufgenommen wird.
Besonders erfreulich ist die Tatsache, daß wir nun auch in den neuen Bundesländern deutliche Rückgänge zum Beispiel bei der Zahl der Getöteten im Straßenverkehr haben. Das ist gerade im letzten Jahr bei zwei Bundesländern mit einem Prozentsatz von 14 Prozent festzustellen, nämlich bei Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommem, und bei SachsenAnhalt mit 12 Prozent. Auch die anderen Bundesländer haben deutliche Rückgänge. Das ist sehr erfreulich.
Weil das eben insonderheit angesprochen wurde, wofür ich Verständnis habe, darf ich auch darauf hinweisen, daß die Zahl der getöteten Kinder - ein besonderes Problem - von Januar bis Oktober des Jahres 1996 gegenüber dem gleichen Zeitraum 1995 um 15,1 Prozent zurückgegangen ist. Das ist eine wirklich enorme Zahl, Gott sei Dank. Bei diesem Punkt müssen wir weitermachen. Wir meinen, daß man zum Beispiel auf das Versagen vieler Erwachsener - oft sind es die Eltern - beim Anschnallen der Kinder reagieren muß,
einerseits durch eine Aufklärungskampagne, bei der man, wie es der Kollege Friedrich angesprochen hat, einfach darauf hinweist, daß die meisten Todesfälle von Kindern sich im Wagen der Eltern ereignen, andererseits durch Überprüfung. Da sind die Länder gefragt; das muß man hier im Deutschen Bundestag
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
einmal sagen. Die Länder sind gefragt, dafür zu sorgen, daß das besser überprüft wird.
Wenn es nur durch Gesetz vorgeschrieben wird, dann reicht das nicht aus. Es muß überprüft werden. Da setzen wir nach.
Wir wollen erreichen, daß das Führen von Kraftfahrzeugen unter dem Einfluß von Drogen untersagt wird. Man kann hinzufügen: Haschisch, Marihuana, Morphin und Kokain ebenso wie Alkohol haben am Steuer nichts zu suchen.
Das muß gesagt werden.
Dabei spielt die Problematik der Promillegrenze nicht die entscheidende Rolle. Vielmehr müssen wir durch die Einführung der Atemalkoholanalyse als gerichtsgeeignetes Beweismittel dafür sorgen, daß wir mehr Alkoholfahrern auf die Spur kommen,
daß sie ergriffen werden, daß sie festgestellt werden, daß das Risiko erhöht wird. Das wollen wir durchsetzen.
Der Kollege Börnsen hat schon darauf hingewiesen und die Opposition hat schon begrüßt, daß wir die Probezeit für die jüngeren Fahranfänger um zwei Jahre ausdehnen wollen, daß sie aber an einer freiwilligen zweiten Ausbildungsphase mit besonders ausgebildeten Fahrlehrern teilnehmen können und dann diese zwei Jahre an zusätzlicher Probezeit erlassen bekommen. Das ist eine gute Sache, die wir im Grunde gemeinsam erarbeitet haben.
Das kann man auf diese Weise ansprechen.
Wir haben vor, bei exzessiven Geschwindigkeitsverstößen drastischer zu strafen. Wenn man die Geschwindigkeitsbegrenzung für Pkw um 60 Stundenkilometer und mehr überschreitet, dann muß nachhaltiger bestraft werden, nachhaltiger durchgegriffen werden.
Der Bußgeldrahmen muß heraufgesetzt werden. Aber obwohl dieser Tatbestand immer noch die Unfallursache Nummer eins ist, ist die Zahl der Fälle von 1980 bis 1995 um rund 31 Prozent gesunken - auch eine erwähnenswerte Zahl.
Was Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet angeht - es zur Regelgeschwindigkeit zu erklären -, sind wir ganz anderer Meinung.
Da muß entsprechend vorgearbeitet worden sein: Da müssen die Straßen entsprechend gebaut sein; da muß man erkennen, daß es sich um Spielstraßen handelt. Dann ist es sinnvoll und gerechtfertigt, mit Tempo 30 auszuschildern. Wenn man es überall zur Regelgeschwindigkeit machte und es nicht überall
überprüfte, würde es nirgendwo eingehalten, und die Gefahr für die Kinder nähme zu.
Insofern haben wir also eine Menge auf den Weg gebracht. Es gäbe noch viele weitere Fragen anzusprechen. Ich will mich auf einige Punkte konzentrieren.
Die Frage nach der Finanzausstattung der Verkehrssicherheitsarbeit ist hier angesprochen worden,
eine sehr wichtige Frage. Die F.D.P. schlägt vor - ich bin durchaus der Meinung, daß man diesem Hinweis folgen sollte -, mehr private Möglichkeiten zu nutzen, Sponsoring usw. Aber wir brauchen eine gewisse Grundausstattung.
Diese muß irgendwo bei 25 Millionen DM liegen,
damit zum Beispiel der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und die Verkehrswacht eine klare Ausgangsposition für ihre Arbeit haben, damit sie nicht jedes Jahr neu feststellen müssen, ob sie weiter existieren können oder nicht.
Ich bitte, darauf zu hören, wo überall es nötig ist, damit es zu einem solchen Ergebnis kommt.
Man darf auch darauf hinweisen, daß es nicht nur politische Entscheidungen gewesen sind, die zu den erfreulichen Ergebnissen geführt haben. Vielmehr ist in der Qualität der Fahrzeuge ein gewaltiger Ansatz dafür zu sehen, daß nun weniger Unfälle passieren und nicht mehr so viele Getötete zu beklagen sind. Hier ein Lob vor allem an die vorzügliche deutsche Automobilindustrie.
Meine verehrten Damen und Herren, ich meine, daß wir diesen Weg, den wir schon über Jahre gemeinsam beschreiten -ich weiß das aus dem Verkehrsausschuß: Wenn dieses Thema dran ist, dann gibt es großes Einvernehmen; dann sind wir alle bemüht, das Bestmögliche zu erreichen -, fortsetzen sollten, mit mir an Ihrer Seite.
Danke schön.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Karin Rehbock-Zureich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte mich an Hand dieses Unfallberichtes auf die Situation der Kinder beschränken. Die Zahl der Unfälle hat insgesamt abgenommen; die Zahl der Kinderunfälle hat ebenfalls abgenommen. Deswegen können wir uns aber nicht zurücklehnen, sondern müssen einsehen, daß die Verkehrsdichte gerade in den Städten drastisch zugenommen hat und weiter zunehmen wird, da von dieser Regierung eine Änderung der Verkehrspolitik nicht zu erwarten ist.
Der ständig wachsende Verkehr hat das Leben der Kinder beeinträchtigt und verändert. Kinder werden an den Rand gedrängt und auf öde Spielplätze abgeschoben. Wie gefährlich der Straßenverkehr für Leib und Leben der Kinder ist, möchte ich doch an einigen Zahlen noch einmal aufweisen. Jedes Jahr verunglücken mehr als 34 000 Kinder und Jugendliche im Straßenverkehr. Nicht mitgerechnet sind die 17 000, die als Beifahrer in Pkw oder auch auf Motorrädern verunglücken. Mehr als 15 000 kleine Fußgänger wurden 1995 beim Überqueren der Straße in Unfälle verwickelt. Fast 19 000 Jungen und Mädchen kamen mit dem Fahrrad zu Schaden. 418 Kinder starben 1995 auf deutschen Straßen.
Dies sind Zahlen, die uns nicht in Ruhe lassen können. Denn gerade im Bereich der verunglückten Kinder nimmt Deutschland in Europa einen unrühmlichen Spitzenplatz ein. Diese Stellung als Spitzenreiter bei verunglückten Kindern muß sich ändern, denn auf diesen Spitzenplatz können wir verzichten. Wenn wir hier Jahr für Jahr den Unfallverhütungsbericht beurteilen, dann muß gerade die Situation der Kinder auf Deutschlands Straßen und in deutschen Wohngebieten eine besondere Stellung einnehmen.
Man muß sich fragen: Haben Kinder denn keine Lobby? Denn die genannten Zahlen müßten für Sie alle Anlaß sein, grundlegend darüber nachzudenken, was die Situation der Kinder im Straßenverkehr verbessern könnte.
Wir haben einen Antrag eingebracht, der unterschiedliche Problemfelder aufgreift. Er reicht von der Senkung von Emissionskonzentrationen über Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit im innerörtlichen Verkehr bis hin zur rechtlichen Besserstellung von Kindern im Verkehr. Ihrer Auffassung übrigens, Herr Carstens, daß Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts die Sicherheit der Kinder verschlechtert, kann ich überhaupt nicht folgen und kann sie nicht nachvollziehen.
Insgesamt ist bekannt, daß Tempo 30 die Sicherheit von Kindern verbessert.
Kinder können bei uns als Beteiligte oder in einen Verkehrsunfall Verwickelte ab dem 8. Lebensjahr haftbar gemacht werden. In anderen Ländern - Frau Grießhaber hat schon darauf hingewiesen - wird dies anders gehandhabt. Dort können Kinder erst ab 14 Jahren für ihr Verhalten im Verkehr verantwortlich gemacht werden. Dies wird auch vom Deutschen Verkehrsgerichtstag so gesehen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, endlich das Deliktfähigkeitsalter der Kinder auf diese 14 Jahre zu erhöhen.
Kinder besitzen diese Übersicht im Verkehr nicht. Tempo 30 erhöht die Sicherheit der Kinder. Deshalb fordern wir eine Regelgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern innerhalb geschlossener Ortschaften.
Dies ist übrigens eine Forderung, die auch der Deutsche Städtetag erhebt. Gerade vor Ort, in den Städten und Gemeinden, sind hiermit, so denke ich, positive Erfahrungen für die Verbesserung der Sicherheit von Kindern gemacht worden.
- Es geht bei Tempo 30 nicht nur um Rückbau. Es ist schlichtweg erwiesen, daß die Regelung Tempo 30 dazu führt, daß sich das Tempo insgesamt verlangsamt.
Wir alle wissen doch von uns selber, wie wir als Autofahrer fahren. Dem kann sich niemand entziehen. Ist Tempo 50 vorgeschrieben, dann hat man eben schnell einmal eine Geschwindigkeit von 55 oder 60 Stundenkilometern. Seien Sie doch ehrlich! Ist Tempo 30 vorgeschrieben, dann traut man sich beim besten Willen nicht, 60 zu fahren, weil dieser Unterschied einfach zu groß ist. Das ist erwiesen. Tempo 30 senkt insgesamt die Geschwindigkeit der Autofahrer und erhöht die Sicherheit der Kinder.
Die Verantwortung der Erwachsenen im Verkehr spielt eine ganz große Rolle. Es geht um umsichtiges Fahren, nämlich um die Einhaltung dieser Geschwindigkeitsbegrenzungen, und um besondere Rücksicht auf die Kinder.
Hier sind aber auch die Eltern als Erwachsene angesprochen. Nach einer Studie des ADAC werden 20 Prozent der Kinder im Osten und 11 Prozent der Kinder im Westen ungesichert in den Autos angetroffen. Der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft hat darauf hingewiesen, daß zwei von drei Kindern heute noch leben würden, wenn sie bei Unfällen gesichert auf dem Rücksitz gesessen hätten.
Für uns kann das doch nicht bedeuten, daß wir ausschließlich mit Aufklärungskampagnen vorgehen. Wir müssen vielmehr diese Verantwortung über die Aufklärung hinaus - leider Gottes - auch über den Geldbeutel verdeutlichen, indem wir für Eltern das Verwarnungs- und Bußgeld für ungesicherte Kinder in Autos erhöhen.
Karin Rehbock-Zureich
In einer Studie wird eindrucksvoll dargelegt, daß die Gesundheit der Kinder gerade durch den Verkehr beeinträchtigt wird. Atemwegserkrankungen, Allergien und auch Krebs sind Resultate einer Umwelt- und Verkehrspolitik, die nicht konsequent gegen die Ursachen angegangen ist und so zur gesundheitlichen Beeinträchtigung der Kinder führt.
Neben mangelnden Grenzwerten, die sich ausschließlich nach Erwachsenen richten, wird unseren Kindern in den Städten ein gesundes Aufwachsen immer schwieriger gemacht. Von den Stadtplanern noch immer zu wenig beachtet und vom Autoverkehr in die Ecke gedrängt, bleibt Kindern immer weniger Raum, um sich gesund entwickeln zu können. 70 Prozent aller Kinder halten sich im Straßenraum auf und nicht auf den von Erwachsenen vorgesehenen sogenannten Spielplätzen.
Unabhängige Mobilität der Kinder ist jedoch sehr wichtig, um eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Der Verkehr hat sich an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren und nicht umgekehrt.
Deshalb verlangen wir von der Bundesregierung, daß bei allen Zuschüssen und Fördergeldern die Bedürfnisse von Kindern nachweislich berücksichtigt werden müssen, wenn städtebauliche Projekte Bundesmittel erhalten.
Selbstverständlich wird von seiten der Länder in den Städten und Gemeinden schon eine Menge getan. Fördermittel aber sind nicht an die Voraussetzung gebunden, bei der Weiterentwicklung von Städten Kinderfreundlichkeit zu verwirklichen. Wenn keine Sicherheit im Straßenraum gewährleistet wird, sollte keine weitere Förderung zugestanden werden.
Es kann nicht unser Ziel sein, daß wir in unserer Gesellschaft das verkehrsgerechte Kind heranziehen, sondern es muß doch unser Ziel sein, in unserer Gesellschaft einen kindgerechten Verkehr zu haben,
indem die Fehler der Vergangenheit in der Raumplanung rückgängig gemacht werden, Fehler, die zu mehr Verkehr geführt haben und so eine gesunde Entwicklung der Kinder beeinträchtigen.
Wenn ihr Bedürfnis nach Bewegung, vor allen Dingen auch nach unbeaufsichtigter Bewegung und nach unbeaufsichtigtem Treffen im Wohngebiet in unserer Gesellschaft nicht mehr berücksichtigt wird, dann können wir uns dieses Prädikat „kinderfreundlich" nicht mehr anheften.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Michael Jung.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vorhin, zu Beginn der Debatte ist gesagt worden, das Risiko sei geringer geworden, erfreulicherweise. Ich will dies durch drei Zahlen noch einmal deutlich unterstreichen.
Bezogen auf die alten Bundesländer sank die Zahl der Verkehrstoten von 11 449 im Jahr 1953 auf 6561 im Jahr 1995, und das bei einer Verzehnfachung der Fahrleistung und bei einer Erhöhung des Fahrzeugbestandes in diesen Jahrzehnten von 4,3 auf 51,6 Millionen. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, was Herr Staatssekretär Carstens ansprach, nämlich daß wir eine europäische Drehscheibe, ein großes Transitland sind.
Aber jeder Tote und jeder Verletzte ist noch zu viel. Wir müssen, auch in Kenntnis dessen, daß dies nicht auf Null zurückzuführen ist, wie wir es uns gern vornähmen, dennoch alles tun, was notwendig ist.
Vorhin sind zwei Risikogruppen genannt worden, zum einen die Kinder und zum anderen die Fahranfänger.
Ein besonders großes Problem besteht insbesondere bei der Gruppe der Kinder von 5 bis 12 Jahren. Die sachgerechte Sicherung für diese Altersgruppe fehlt. Nur 25 Prozent sind auf Strecken innerorts und 17 Prozent auf Strecken außerorts sachgerecht gesichert. Das ist ein Problem, dessen wir uns annehmen müssen, und wir haben dabei auch eine besondere Verantwortung der Eltern zu konstatieren.
Es ist richtig, daß wir in diesem Bereich bisher nur ein Verwarnungs-, kein Bußgeld haben. Wir müssen abwarten, wie die besonderen Elemente der Verkehrssicherheitsaktionen wirken. Danach müssen wir uns auch darüber verständigen, was möglicherweise die notwendige Konsequenz aus diesen Ergebnissen ist. Nur, Frau Kollegin Ferner, das Entscheidende in diesem wie auch in anderen Bereichen - ich komme gleich noch einmal darauf zurück - ist die Kontrolle.
Die Kontrollen sind einfach unzureichend, und deswegen werden heute in diesem Bereich auch wenig Verwarnungsgelder verhängt. Deswegen wäre es sowohl unter spezial- wie generalpräventiven Gesichtspunkten notwendig, diese Kontrollen deutlicher und umfangreicher durchzuführen.
Eine zweite Bemerkung zum Bereich der Fahranfänger. Wir müssen überlegen, was wir im Bereich der Ausbildung tun können. Wir haben uns ja gerade heute morgen im Kreise der Berichterstatter über die Umsetzung der Zweiten EU-Führerscheinrichtlinie unterhalten und werden sehen müssen, was hierzu an zusätzlicher Ausbildung unter Umständen noch aufgenommen werden muß, weil die notwendige Beherrschung des Fahrzeugs oft fehlt.
Wir werden uns über die Sanktionierung der Fahranfänger, wenn sie besonders auffällig werden, zu verständigen haben, was wir im übrigen aber auch in anderen Bereichen getan haben.
Michael Jung
Wir haben vor einiger Zeit die Unfallursachen analysiert und daraufhin deutliche Strafverschärfungen bei nicht angepaßter, zu hoher Geschwindigkeit, bei zu geringem Abstand, bei Überfahren roter Ampeln mit dem Ergebnis eingeführt, daß dadurch wesentlich mehr Strafen als früher verhängt werden, um über Sanktionen zu einem besseren Verhalten im Straßenverkehr beizutragen.
Unrichtig ist, wie die Kollegin Mattischeck formulierte, daß aus purer Ideologie einige wesentliche Elemente doch nicht umgesetzt würden. Dazu will ich noch einige Anmerkungen machen.
Sie hat zunächst das Thema Tempolimit genannt. Meine Damen und Herren, über 97 Prozent aller deutschen Straßen haben ein Tempolimit.
Ein großer Teil der Autobahnen und alle anderen Straßen sind tempolimitiert, innerorts wie außerorts, und das Ergebnis ist, daß - auf die Fahrleistung bezogen - der Anteil der Unfälle auf den Autobahnen niedriger ist als der von Unfällen auf anderen Straßen innerorts wie außerorts.
Das sind die Fakten, die Sie auch nicht wegdiskutieren können, so daß die pure Ideologie bei der Verfolgung dieser These eher bei Ihnen als bei der Regierungskoalition liegt.
Das zweite ist das Thema Alkohol im Straßenverkehr. Kollege Friedrich hat schon darauf hingewiesen. Wir sollten uns die richtige Terminologie angewöhnen. Nach der eindeutigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist bereits ab 0,3 Promille, wenn andere Faktoren der Auffälligkeit dazukommen, die Fahruntüchtigkeit gegeben und der Führerschein kann entzogen werden. Wir sollten nicht - noch weniger von diesem Pult aus - die Illusion nähren, daß der §24 a StVG die einzige Grenze mit 0,8 Promille setze. Das ist eindeutig falsch.
Auch hier ist der entscheidende Gesichtspunkt, wer erwischt wird und wer nicht. Wenn Sie sich Untersuchungen ansehen, die auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar und woanders diskutiert werden, dann kommen - die Zahlen schwanken - auf eine entdeckte Fahrt 300 bis 600 unentdeckte Fahrten.
Und warum, Frau Kollegin? Weil nicht kontrolliert wird. Das ist das Problem. Die Zahl der Kontrollen muß eindeutig erhöht werden, damit die Abschrekkung größer ist und damit zeitnahe Verurteilungen erfolgen können. Nur, das ist Aufgabe der Länder. Die Schwäche der Polizeien in den einzelnen Bundesländern führt leider zu dem Ergebnis, daß die Kontrollen absolut unzureichend sind. Auch dies muß geändert werden.
Weitere Anmerkung: Tempo 30 in den Ortschaften. Hier hat der Herr Staatssekretär bereits darauf hingewiesen, daß nach allen Untersuchungen, die wir haben, eine solche Begrenzung nur sinnvoll ist, wenn sie mit baulichen Maßnahmen einhergeht.
Wir haben deswegen bei der Straßenverkehrsordnung damals nicht die Regelung gewählt, generell von oben herab zu diktieren: überall Tempo 30. Vielmehr haben wir die Möglichkeit gelassen, daß vor Ort entschieden wird, ob Tempo 30 eingeführt wird. Das ist eine sachgerechte Lösung, die ich auch für die Zukunft nur empfehlen kann.
Eine Anmerkung noch zu dem, was zur Steigerung der Verkehrsleistungen von einem Kollegen vorhin gesagt worden ist. Er muß sich darüber im klaren sein, daß die Verkehrsleistungssteigerung sehr damit zusammenhängt, daß ein großer Teil der zurückgelegten Kilometer nicht aus beruflichen oder geschäftlichen, sondern aus Freizeit- und Privatinteressen zurückgelegt wird. Das ist eine gewisse Kehrseite der Mobilität, die wir auf der anderen Seite unseren Bürgern zumuten.
Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen, daß wir im Bereich der Verkehrssicherheit wie bisher trotz mancher unterschiedlicher Detailpositionen zu gemeinsamen Ergebnissen und damit zu mehr Verkehrssicherheit für unsere Bürger kommen.
Vielen Dank.
Ich gebe dem Bundesminister der Justiz, Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche nur - aber immerhin; denn wir sind nun einmal ein Rechtsetzungsstaat - zu den rechtspolitischen Themen, wie Sie sie in dem Antrag der Grünen und dem Antrag der SPD unter Nr. 3 finden.
Ich will mit einer Binsenweisheit einsetzen, nämlich, daß der Straßenverkehr durch die Erwachsenen -junge oder alte - geprägt und beherrscht wird. Wir alle wissen, daß Kinder - zumal im Verkehr - eben keine kleinen Erwachsenen sind. Wie leicht läuft ein spielendes Kind hinter dem Ball her auf die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, und wird dabei nicht nur ein tragisches Verkehrsopfer, sondern nach dem System der Rechtsordnung eben auch Schadensverursacher, mit der Konsequenz, daß es nicht selten in erheblicher Höhe für den entstandenen Schaden des anderen -in diesem Fall des Autofahrers oder -halters - haften muß.
Schon seit langem wird gefordert, diese unbefriedigende Situation zu ändern und die haftungsrechtliche Stellung unserer Kinder zu verbessern. Das ist eine Forderung, der ich mich ausdrücklich anschließe.
Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Es darf nicht sein, meine Damen und Herren, daß kindliche Unfallopfer ihr Leben lang finanziell auf keinen grünen Zweig kommen können.
Ich meine deshalb: Eine Neuregelung im Straßenverkehr ist nötig. Die Halterhaftung gegenüber Kindern bis zu einem bestimmten Lebensjahr sollte verschärft werden, indem diese Haftung künftig auch dann nicht mehr entfällt, wenn ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 7 StVG vorliegt. Das könnte selbst dann gelten, wenn dem Kind ein erhebliches Mitverschulden vorzuwerfen ist. Auf diese Weise ließe sich die haftungsrechtliche Situation der Kinder verbessern, ohne daß gleichzeitig Entschädigungslücken im bestehenden Kfz-Versicherungssystem geschaffen würden.
Für höchst problematisch halte ich dagegen Vorschläge, die darauf abzielen, allgemein die Deliktsfähigkeit von Jugendlichen oder auch von Kindern im Zivilrecht zu verändern oder an die Regelung der Verantwortlichkeit im Jugendstrafrecht anzupassen. Ich will dafür in der Kürze der verfügbaren Zeit drei Gründe nennen.
Erstens. Im allgemeinen Deliktsrecht ist das Kind weniger Opfer als veranlassender oder handelnder Täter. Welcher Geschädigte - denken wir beispielsweise an einen Landwirt, dessen Scheune durch ein zündelndes Kind in Brand gesetzt wird - würde es einsehen, wenn er seinen Schaden nicht ersetzt bekäme?
Zweitens. Auch das oft vorgebrachte Argument, daß es im Jugendstrafrecht doch auf die Fähigkeit des Jugendlichen ankommt, sich der Unrechtseinsicht entsprechend zu verhalten, ist nicht zwingend. Der Umstand, daß kein staatliches Bedürfnis nach Bestrafung besteht, bedeutet nämlich nicht, daß auch das Interesse des Geschädigten am Ausgleich seines Schadens zurückstehen muß.
Drittens und vor allem: Durch eine Haftungsreduzierung bei Eingriffen in die §§ 828 und 829 BGB entstünden Entschädigungslücken, die anderweitig kaum geschlossen werden können. Insbesondere würde eine obligatorische Kinderhaftpflichtversicherung wegen des Grundsatzes der Akzessorietät bei einer Haftungsreduzierung nicht wirken. Eine ersatzweise Ausweitung der Elternhaftung wäre dagegen zwar wirksam, würde aber das Familienvermögen schmälern, aus dem das Kind zu unterhalten ist. Das würde letztlich indirekt auch das Kind belasten. Für eine obligatorische Elternhaftpflichtversicherung schließlich liegen die für Pflichtversicherungen allgemein erforderlichen Voraussetzungen nicht vor.
Fazit - jedenfalls zum ersten, denn wir werden ja noch Gelegenheit haben, im einzelnen in die Beratung dieser Fragen einzutreten -: Ich halte es für einen gangbaren Weg zur Verbesserung der Haftungssituation unserer Kinder, das Straßenverkehrsgesetz zu ändern - und nur dies zu tun. Ich hoffe, daß wir zügig zu einer alle Seiten befriedigenden Regelung kommen werden.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Bericht des Bundesministeriums für Verkehr über Maßnahmen zur Unfallverhütung im Straßenverkehr 1994 und 1995. Das sind die Drucksachen 13/4826 und 13/7034. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD- Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 13/ 7432. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/5302 und 13/6535 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Ludwig Elm, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung"
- Drucksachen 13/813, 13/3152 -
Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, Heidemarie Lüth und der Gruppe der PDS
Auftrag zur Erweiterung des Vierten Berichtes der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation
- Drucksache 13/7422 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss, PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS hat im Frühjahr 1995 einen Antrag zur Einrichtung einer Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" eingereicht. Sowohl die Regierungskoalition als auch die anderen Oppositionsparteien haben sich, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Begründung, gegen den Vorschlag ausgesprochen.
In der ersten zu Protokoll gegebenen Lesung tönte es aus den Reihen von CDU und CSU, daß die Bundesregierung schon aktiv sei und daß im Rahmen der Neuordnung des Schwerbehinderten- und Rehabilitationsrechts alle notwendigen Regelungen zur Umsetzung des Benachteiligungsverbotes getroffen würden. Dabei wurde auf die Koalitionsvereinbarung verwiesen und für Ende 1995 ein Gesetzentwurf der Bundesregierung angekündigt.
Bekanntlich liegt bis heute kein Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGB IX vor. Nach Ihrem Gerede schon in der vergangenen 12. Legislaturperiode nenne ich das skandalös. Und sich, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wie gestern im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung geschehen, für das Rückzugsgefecht auch noch auf die Schulter zu klopfen, das ist einfach peinlich. Daß Sie Ihren Entwurf auf Grund massiver Proteste der Behindertenverbände zurückziehen mußten, stellt Ihnen doch nur ein Armutszeugnis aus.
SPD und Grüne betonten, es seien schnelle und vor allem wirksame Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen notwendig und keine EnqueteKommission. Spätestens nach der Sommerpause 1995 sollten schrittweise -ich zitiere - mit konkreten parlamentarischen Initiativen für Behinderte gleiche soziale und demokratische Rechte in allen Lebensbereichen geschaffen werden. Leider muß ich fragen, welche Initiativen, welche schnellen Verbesserungen heute abzurechnen sind. - Keine.
Natürlich hätte eine Enquete-Kommission Zeit und Geld gekostet. Die einzubeziehenden behinderten Sachverständigen hätten aber auf alle Fälle für handhabbare Ergebnisse am Ende dieser Legislaturperiode gesorgt.
Ich halte einen Enquete-Bericht, in dem die konkreten diskriminierenden Bestimmungen und Tatsachen, mit denen Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik noch immer konfrontiert sind, nach wie vor für eine unverzichtbare Handlungsgrundlage.
Heute, im Frühjahr 1997, gibt es also weder den notwendigen analytischen Bericht einer EnqueteKommission noch konkrete gesetzliche Maßnahmen zum Abbau der alltäglichen Diskriminierung behinderter Menschen. Im Gegenteil, die Bundesregierung konnte ihre antisoziale, ja behindertenfeindliche Politik in wesentlichen Bereichen fortsetzen.
So wird mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz dem gesamten Rehabilitationssystem, insbesondere aber der Rehabilitation behinderter Menschen, schwerer Schaden zugefügt. Nach §3 a des neuen Bundessozialhilfegesetzes ist die Heimeinweisung behinderter Menschen auch gegen ihren Willen möglich.
Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen - darüber haben wir gestern im Ausschuß debattiert - war noch nie so hoch wie gegenwärtig. Und schließlich: Zum 1. Januar 1997 fielen bei über 30 000 ostdeutschen Erwerbsunfähigkeitsrenten die Auffüllbeträge weg.
Die Behindertenverbände stellten am 30. November 1996 anläßlich des Welttages der Behinderten im Bonner Wasserwerk fest: Wir müssen weiter gegen eine Politik der Benachteiligung kämpfen, gegen eine Politik, die unsachgemäß nur die Schwächsten schädigt, weil die sich am wenigsten wehren können.
Anläßlich des europaweiten Protesttages für die Gleichstellung behinderter Menschen am 5. Mai dieses Jahres werden Aktivistinnen und Aktivisten verschiedenster Behindertenverbände vor Ort auf die gravierenden Diskriminierungen behinderter Menschen in der Bundesrepublik aufmerksam machen; denn diese bestehen trotz des 1994 in das Grundgesetz aufgenommenen Benachteiligungsverbotes weiter.
Es zeugt schon von einer ungeheuren Arroganz, wenn die Bundesregierung die von der Europäischen Kommission im Rahmen des Zwischenberichts zum Helios-Il-Programm geäußerte Kritik an der noch immer existierenden systematischen Diskriminierung behinderter Menschen in den EU-Mitgliedstaaten vollmundig so schroff zurückweist, wie das gestern im Ausschuß geschehen ist.
Noch immer ist es bittere Realität, daß Menschen mit Behinderungen vor Hemmnissen und Barrieren stehen, die eine Teilnahme am öffentlichen Leben der Gemeinschaft erschweren oder gar unmöglich machen. Noch immer ist es Realität, daß Menschen mit Behinderungen überproportional aus dem Erwerbsleben ausgesondert werden, ja eine Wiedereingliederung sogar per Gesetz wesentlich erschwert oder verhindert wird. Noch immer sind die Bundesbahnen nur unter großen Erschwernissen für behinderte Menschen nutzbar. Noch immer ist der überwiegende Teil der öffentlichen Gebäude für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer nicht zugänglich. Schließlich ist noch immer die Separierung behinderter Kinder und Jugendlicher in Sondereinrichtungen der Hauptweg, sie zu betreuen und zu bilden. Auch Sie haben sicher zur Kenntnis genommen, daß das
Petra Bläss
Bundesverfassungsgericht gestern hier endlich einen Entschluß in Richtung Integration einer behinderten Schülerin gefaßt hat.
In unserem Entschließungsantrag fordern wir die Bundesregierung auf, sich diesen Problemen endlich zu stellen. Im fälligen Vierten Bericht der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation sollen die Defizite, die diskriminierenden und ausgrenzenden Bestimmungen wenigstens aufgelistet und Maßnahmen zur Veränderung vorgeschlagen werden. Das dürfte im übrigen gar nicht so kompliziert sein, da im BMA schon längst eine Auflistung zu verändernder Gesetze und Vorschriften vorhanden sein soll. Wir fordern, diese öffentlich zu machen, also nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als ein offizielles Bekenntnis zu den Versäumnissen.
Ich danke.
Das Wort hat die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bläss, ein bißchen Unsinn war schon dabei, aber ich komme gleich dazu.
Wir haben 1994 in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unter Art. 3 das ausdrückliche Verbot aufgenommen, jemanden wegen seiner Behinderung zu benachteiligen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat damals für die Aufnahme der Ergänzung in die Verfassung gestimmt, und zwar aus zwei Gründen: einmal, um das durch Art. 1 des Grundgesetzes und das Sozialstaatsprinzip bereits verankerte Diskriminierungsverbot hier noch einmal rechtlich zu untermauern, und zum anderen aus gesellschaftspolitischen Erwägungen. Wir wollten nämlich hier ein Signal setzen, um das Bewußtsein der Menschen für das Unrecht der Diskriminierung zu schärfen.
Nichtsdestotrotz: Solche Appelle setzen sich, wie wir alle aus täglicher Erfahrung wissen, langsam durch. Wer aber hier behauptet, es habe in den letzten Jahren keine Verbesserungen für Behinderte gegeben, Frau Bläss, der macht den Leuten etwas vor. Wenn Sie sich in der Landschaft umschauen und die Diskussion in den letzten Jahren miterlebt haben, dann werden Sie wissen, daß es ungeheuer viele Veränderungen im Wohnbereich gegeben hat; es gibt sehr gute Wohnformen für Behinderte. Es hat Integration in Kindergärten und Schulen und Fortschritte im berufsbildenden Bereich gegeben. Die Bundesregierung plant neue Maßnahmen, Arbeitsmodelle für behinderte Menschen, damit wir hier zusätzliche Angebote haben, weil wir sehen, wie groß die Probleme sind.
Es gibt eine Reihe von Maßnahmen für die Behinderten - wir haben darüber gestern ausführlich im Ausschuß gesprochen - in der Arbeitswelt. Es gibt eine Reihe von Dingen, die sich getan haben, im übrigen längst nicht nur in der Zuständigkeit des Bundes, sondern auch in der Zuständigkeit der Länder, im öffentlichen Personennahverkehr, im Wohnungsbau und auch im Bewußtsein der Menschen, weil behinderte und nichtbehinderte Menschen heute anders miteinander umgehen und anders miteinander leben.
Frau Kollegin Schnieber-Jastram, gestatten Sie der Kollegin Bläss eine Zwischenfrage?
Mit Vergnügen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Schnieber-Jastram, ich frage Sie auf Grund Ihrer wunderschönen Bilanz: Was halten Sie von den umfangreichen Kritiken, die uns Abgeordneten immer wieder von den Behindertenverbänden zugegangen sind? Auch Sie haben sicherlich einmal an einer der Veranstaltungen zum Europatag der Behinderten teilgenommen. Anfang Dezember 1996 waren dort wiederholt Petitionen vorgetragen worden. Sie können doch gerade diesen engagierten Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen nicht unterstellen, daß sie ihre Probleme frei erfinden.
Außerdem haben Sie ein Plädoyer für die Verfassungsänderung gehalten. Aber es stand doch jetzt überhaupt nicht zur Debatte, an diesem Artikel zu rütteln. Ich frage Sie, wie es mit der Realisierung dieses Verfassungsänderungsartikels aussieht.
Liebe Frau Bläss, ich glaube, wir tun gut daran, uns heute daran zu erinnern, daß wir das Grundgesetz geändert haben. Wir haben es natürlich nicht getan, weil wir den Behinderten etwas Böses antun wollten, sondern weil wir darauf aufmerksam machen wollten, daß es hier Defizite gibt.
Ich bestreite doch keinem Behinderten die Möglichkeit, daß er diese Defizite artikuliert. Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß wir Zustände der Seligkeit haben. Aber wir haben - das muß man hier auch einmal ganz deutlich sagen - eine Menge in diesem Bereich gemacht. Das Bewußtsein hat sich sehr stark verändert.
Eines möchte ich Ihnen noch sagen: Gerade Ihnen spreche ich das Recht ab, daß Sie sich hier engagieren.
Birgit Schnieber-Jastram
Sie als Vertreterin der Nachfolgepartei derjenigen Partei, die dafür gesorgt hat, daß Behinderte das Letzte in der Gesellschaft waren,
haben wirklich kein Recht, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir vertreten die Belange der Behinderten. Ihre Vorgängerpartei, Frau Bläss, hat wirklich vorbildlich gezeigt, wie man Behinderte in die Ecke stellt. Sie werden in Kürze in dem Bericht der Enquete-Kommission, deren Einsetzung Sie nicht gewollt haben, nämlich der Enquete-Kommission „SED-Unrecht", nachlesen können, was Behinderte von dem Staat, den Sie früher vertreten haben, halten. Viel Vergnügen wünsche ich Ihnen bei der Lektüre.
Einen solchen Antrag zu stellen, liebe Frau Bläss, grenzt an Dreistigkeit.
Aber wir wollen nicht weiter darüber reden, welche Partei diesen Antrag stellt. Vielmehr wollen wir einmal darüber reden, was wir von dem Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" zu halten haben. Beurteilen wir einmal Notwendigkeit und Sinn einer solchen Kommission.
Frau Kollegin Schnieber-Jastram, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich möchte Rücksicht auf diejenigen Kollegen nehmen, die das Ende des Plenums herbeisehnen, und sage nein.
Welches sind die Gründe, solche Forderungen abzulehnen? Wenn wir jetzt eine Kommission einsetzen, die tagt und tagt und redet und redet und schreibt und hört, dann ändert sich für Behinderte de facto gar nichts. Wir helfen ihnen überhaupt nicht weiter. Vielmehr werden wir einfach nur in Gremien arbeiten und diskutieren, ohne voranzukommen.
Zum Sozialgesetzbuch IX möchte ich folgendes sagen. Der Stand der Dinge ist - auch darüber haben wir gestern geredet -, daß die Verbände selbst sich zum jetzigen Zeitpunkt gegen die Vorlage eines neuen Sozialgesetzbuchs gewandt haben, weil sie nämlich klüger sind als viele in diesem Hause, weil sie einsehen, daß -die Zeit für solche Vorhaben nicht günstig ist. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Das gilt offensichtlich auch für die Länder, die zu dem von einer Gruppe erarbeiteten vorliegenden Eckpapier überhaupt keine Stellungnahme abgegeben haben. Es gab von den Ländern überhaupt keine Stellungnahme zu den dort vertretenen Positionen und Eckpunkten. Das macht doch wohl sehr deutlich, daß auch hier die Einsicht sehr groß ist, daß es nicht die Zeit für solche Gesetze ist.
Wir möchten in bezug auf die Beschlußempfehlung des Ausschusses eine getrennte Abstimmung der beiden Punkte beantragen, weil sich die Situation von 1995 bis heute geändert hat. Der Punkt 1, wonach ein Gesetzentwurf über das SGB IX 1996 in den Bundestag eingebracht werden soll -1996 ist ja vorüber -, ist zeitlich überholt und wird von der Koalition abgelehnt.
Wir wollen keine Enquete-Kommission.
Lesen Sie sich statt dessen die vielen Berichte der Bundesregierung gründlich durch. Im übrigen hat Ihnen neulich im Ausschuß eine klare Übersicht vorgelegen - Frau Bläss, es tut mir leid, wenn Sie sie nicht gelesen haben -, in der genau steht, welche Gesetze wann wo gemacht worden sind und welche sich auf Behinderte beziehen. Wenn Sie solche Angaben hier anfordern, ist das ein Witz.
In den nächsten Tagen wird vom Behindertenbeauftragten eine 72seitige Untersuchung herausgegeben, die sich mit dem Thema der Barrieren befaßt. Auch das empfehle ich Ihnen zur Lektüre. Zu Beginn des nächsten Jahres kommt der Tätigkeitsbericht des Behindertenbeauftragten heraus. Auch das ist ein umfangreicher Bericht über vieles, was wir in diesem Bereich geleistet haben.
Noch einmal: Wir beantragen getrennte Abstimmung über Punkt 1 und Punkt 2 der Beschlußempfehlung des Ausschusses.
Wir werden Ihren weitergehenden Antrag, den Sie jetzt noch vorgelegt haben, ebenfalls ablehnen.
Das Wort hat der Kollege Karl Hermann Haack , SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS hat im November 1995 einen Antrag mit der Bitte vorgelegt, eine Enquete-Kommission zum Thema „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" einzusetzen. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses lautet, die Einsetzung einer solchen Enquete-Kommission abzulehnen und das verfassungsmäßig gebotene Benachteiligungsverbot durch ein neu zu schaffendes Sozialgesetzbuch IX zu verwirklichen.
Lassen Sich mich zunächst auf die Vorgeschichte eingehen. Wir haben im Zuge der deutschen Einheit versucht, uns eine gemeinsame Verfassung zu geben. Ein Ausfluß dieses Diskurses, dieser gemeinsamen Bestandsaufnahme unter anderem von Sozialpolitik in der 40jährigen Geschichte der DDR und in der 40jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war, daß wir uns gemeinsam verpflichtet haben, ein Verbot der Diskriminierung, also der Benachteiligung von Behinderten in unsere Verfassung aufzunehmen.
Karl Hermann Haack
Wir haben es im Vertrauen auf die Koalitionsvereinbarung von 1990 von CDU/CSU und F.D.P. aufgenommen, in der stand, man werde in gemeinsamen Beratungen mit SPD, Grünen und PDS versuchen, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen.
Das Sozialgesetzbuch IX sollte eine Reform und Zusammenfassung sowie eine Verbesserung des gesamten Behindertenrechts sein. Wir waren der Auffassung, daß nach 40 Jahren Bestandsaufnahme und kritischer Bewertung eine neue Perspektive für Behindertenpolitik in der Bundesrepublik zu geben sei.
In der Koalitionsvereinbarung von 1994 ist erneut festgelegt worden, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen.
Die Koalition, die das Benachteiligungsverbot, das wir in Art. 3 GG hineingeschrieben haben, also eigentlich realisieren wollte, hat dann erklärt, daß ein solches Sozialgesetzbuch IX finanziellen Restriktionen unterliegen und kostenneutral sein müsse. Damit hat in dieser Bundesregierung eine inhaltliche Veränderung der Zielsetzung von Behindertenpolitik stattgefunden. Die Zielsetzung der Innovation und neuer Perspektiven hinsichtlich der Notwendigkeit von Integration Behinderter in unserer Gesellschaft, für die wir uns in der Verfassung ausgesprochen haben, ist einem fiskalischen Diktat unterworfen worden.
In der Logik dieser veränderten Situation im Gesetzgebungsverfahren liegt es, daß heute von Frau Schnieber-Jastram beantragt wird, die Beschlußempfehlung des Ausschusses vom November 1995 dahin gehend zu ändern, auf die Schaffung eines Sozialgesetzbuches IX zu verzichten.
Wir haben auch eine inhaltliche Erklärung für das gesamte Verfahren bekommen. Gestern wurden im Ausschuß für Arbeit und Soziales unter Tagesordnungspunkt 8 unterschiedliche Berichte der Europäischen Kommission und der Bundesregierung sowie daraus resultierende Anträge zur Situation von Behinderten behandelt. Denen war zur Orientierung - gewissermaßen als Bestandsaufnahme und als gemeinsamer Einstieg - eine Synopse der Gesetze von 1990 bis 1996 beigegeben, die die materiellen, inhaltlichen, sachlichen und fiskalischen Veränderungen in der Lebenssituation von Behinderten in unserer Gesellschaft beschreiben.
Ich nenne die wesentlichen Gesetze, die zu einer Veränderung und Verschlechterung der Situation Behinderter in unserer Gesellschaft geführt haben und damit im Gegensatz zu dem stehen, was 1990 mit der Erweiterung des Art. 3 des Grundgesetzes, nämlich dem Verbot der Benachteiligung Behinderter, tatsächlich vorgesehen war: das Bundessozialhilfegesetz, das Arbeitsförderungsgesetz, das Sozialgesetzbuch V, also die Regelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, in der Rentenversicherung und auch in der Pflegeversicherung. Alle diese von mir hier aufgezählten Gesetze haben zu einer gravierenden Veränderung der Lage von Behinderten in unserer Gesellschaft, was ihre Lebenssituation und ihre Integration betrifft, geführt.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel dafür geben, wie eine solche Maschinerie in der Öffentlichkeit bewertet wird. In meinem Wahlkreis liegt in der Stadt Lemgo eine große Behinderteneinrichtung der Evangelischen Landeskirche, Ebenezer, die zum 134. Jahresfest eingeladen hatte. Der Leiter der dortigen Einrichtung hat eine kritische Bewertung der Gesetzgebungspolitik von 1990 bis 1996 vorgenommen.
Er kommt im Ergebnis zu der bitteren Feststellung, daß die Politiker von den Trägern von Behinderteneinrichtungen von 1970 an große Reformschritte eingefordert haben, um eine innovative Konzeption der Lebensführung und Betreuung von Behinderten zu erreichen. Im Zuge dessen ging man auch in dieser Einrichtung weg von nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen, hin zu gemeinsamen Wohnformen, zur Berücksichtigung partnerschaftlicher Beziehungen auch in Behinderteneinrichtungen. Man hat nicht lediglich versucht, den Versorgungsgrad zu erhöhen, sondern wollte den Menschen mittels beruflicher Bildung und Qualifizierung eine berufliche oder zumindest eine Tätigkeitsperspektive in diesen oder außerhalb dieser Einrichtungen geben.
Nachdem der Leiter dieser Einrichtung die Entwicklung geschildert und gewissermaßen einen Rechenschaftsbericht über die Umsetzung der in den 70er und 80er Jahren von politischer Seite aufgestellten Forderungen gegeben hatte, stellte er den dort anwesenden Politikern aus Bund und Ländern die Frage: Warum müssen wir uns heute vorhalten lassen, daß diese Reformschritte der 70er und der 80er Jahre Geld gekostet haben und noch heute Geld kosten? Wieso soll das, was die Politik in den 70er und 80er Jahren eingefordert hat und was wir dann tatsächlich eingelöst haben, falsch sein in einer Situation, in der die Finanzen der öffentlichen Hand und die Sozialhaushalte restriktiv gehandhabt werden müssen? Kann man angesichts der Situation der Behinderten das Bestreben, die Mittel dieses Bereichs von den Sparmaßnahmen der Bundesregierung auszuklammern, nicht zum Prüfstein der Glaubwürdigkeit von Solidarität in dieser Gesellschaft machen?
Das ist exakt der Punkt, der sich wie ein roter Faden durch die Beratung dieses Antrages zieht: von der Entstehung - Ausfluß des Benachteiligungsverbotes in Art. 3 des Grundgesetzes - über den Antrag der PDS, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen, um dort ein neues Behindertenrecht zu kodifizieren, bis hin zur Ablehnung der Beschlußempfehlung des Ausschusses durch CDU/CSU und F.D.P.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als SPD stehen zu der Beschlußempfehlung für den Deutschen Bundestag. Sie müssen sich von den Behindertenverbänden fragen lassen, warum Sie einen
Karl Hermann Haack
Referentenentwurf zur Verwirklichung eines Sozialgesetzbuches IX herumgeschickt haben.
- Sie haben die Antwort gegeben, die Behindertenverbände, Kirchen und Diakonie sowie Wohlfahrtsverbände verzichteten darauf. Sie verzichten deshalb auf ein Sozialgesetzbuch IX, Frau Schnieber-Jastram, weil sie befürchten, daß sich die derzeitige Situation nach der Sparorgie auf diesem Sektor von 1990 an noch einmal verschlimmert. Das heißt, man traut Ihnen zu, daß Sie den Organisationen der Behindertenverbände noch einmal einen finanziellen Schlag versetzen.
Darum hat man darauf verzichtet, mit Ihnen in eine weitere Beratung über ein Sozialgesetzbuch IX einzutreten, vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die man bereits mit Ihnen gemacht hat.
Wir als SPD werden in Absprache mit den SPD-regierten Ländern im Laufe dieses Jahres ein Eckpunktepapier zu einem Sozialgesetzbuch IX vorlegen. Wir werden dies mit den Wohlfahrtsverbänden, mit den Behindertenorganisationen, mit den Kirchen besprechen,
mit der Zielsetzung, dort, wo es notwendig ist, Innovationspotentiale zu verwirklichen und das Behindertenrecht insgesamt zu verbessern. Denn wir halten es auch in finanzschwachen Situationen für richtig, das Sozialstaatsgebot, das sich in Art. 3, dem Benachteiligungsverbot für Behinderte, realisiert hat, zu wahren.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Uwe Lühr, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenngleich sich wohl nicht bestreiten läßt, daß immer noch zahlreiche Einzelbestimmungen und Vorschriften im deutschen Regelwald existieren, die infolge der Grundgesetzänderung im Art. 3 und der Rechtsprechung inhaltlich und begrifflich angepaßt werden müßten, so wäre die Erfüllung der Forderung nach einer Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" nur die Beifügung einer weiteren Warteschleife zum Zustandekommen eines SGB IX.
Materielle Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen werden nicht durch die Einsetzung einer weiteren Kommission erreicht, sondern durch die Umsetzung des im Grundgesetz normierten Verbotes der Benachteiligung Behinderter im konkreten einfachgesetzlichen Fall.
Das hat im Prinzip auch die Gruppe der PDS im Ausschuß so gesehen; denn bei der Abstimmung über die ablehnende Beschlußempfehlung hat sie sich selbst der Stimme enthalten. Bei den durchweg ablehnenden Voten auch der mitberatenden Ausschüsse konnte sie mit Sicherheit davon ausgehen, daß ihr Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission in diesem Hause keine zusätzliche Stimme erhalten würde.
Nun wartet die PDS mit einem Antrag auf, der den obligatorischen Bericht der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation um den Auftrag der ehedem vorgeschlagenen Enquete-Kommission erweitern soll. Ich denke, es bedarf keiner weiteren Indizien für den Nachweis, daß es der PDS im Kern nicht um das genannte Anliegen geht, sondern daß es sich um eine spezifische Variante ihrer Öffentlichkeitsarbeit handelt, mit der sie sich auch hier in der Robin-HoodRolle präsentieren möchte.
Wem die Lage der Behinderten wirklich ein Anliegen ist, der hätte wichtige Informationen der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu „Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsregelungen und gesetzlichen Konsequenzen aus dem Benachteiligungsverbot für Behinderte im Grundgesetz" vom September letzten Jahres entnehmen können.
Die Bundesregierung führt dort aus, daß, obwohl das Benachteiligungsverbot in Art. 3 des Grundgesetzes sowohl Gesetzgebung wie vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binde, so daß es eigentlich keiner Ausführungsgesetzgebung bedürfe, geprüft werde, inwieweit das Benachteiligungverbot im Rahmen der einfachen Gesetzgebung klarzustellen sei.
Dort werden ebenfalls umfassend und ausführlich einige Vorschläge dargestellt, die die zur Vorbereitung des SGB IX gebildete Arbeitsgruppe der Koalition erarbeitet hatte. Das BMA hat auf der Grundlage dieses Arbeitsergebnisses im Mai letzten Jahres Gespräche mit den Verbänden und Ländern geführt. Eine Entscheidung darüber, in welcher Weise und in welchem zeitlichen Rahmen die Arbeiten am SGB IX fortgeführt werden sollen, steht noch aus.
Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung lautet:
Das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot ist durch Änderungen auf einfachgesetzlicher Ebene zu konkretisieren und zu ergänzen. Im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten zum SGB IX ist zu regeln, inwieweit das Benachteiligungsverbot im Rahmen der einfachen Gesetzgebung umgesetzt wird.
Uwe Lühr
Ich denke, das ist die richtige Spur, in der wir uns auch weiterhin bewegen sollten.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir das erste Mal über den PDS-Antrag diskutierten, waren sich alle Fraktionen im Hause einig: Die Behindertenpolitik muß vor dem Hintergrund des Auftrags des Grundgesetzes weiterentwickelt werden. Wir waren uns auch einig, daß dazu auch die Erarbeitung eines SGB IX notwendig ist. Vor diesem Hintergrund haben wir gemeinsam den Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission verworfen.
Heute stehen wir allerdings vor einer gründlich veränderten Geschäftsgrundlage. Inzwischen hat die Bundesregierung ihren Bankrott in der Behindertenpolitik erklären müssen.
Das Vorhaben des SGB IX ist ersatzlos aufgegeben worden. Auch wenn sich Frau Babel damit durchgesetzt hat, glaube ich nicht, daß das eine gute Idee ist.
Die Frage des SGB IX hat uns ja nicht erst in dieser Legislaturperiode beschäftigt. Das ist keine neue Idee, deren Inhalt uns plötzlich überrascht hat. Daß Sie jetzt sagen müssen, das war nur so eine Idee, die wir jetzt zurücknehmen, hängt damit zusammen, daß Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, zu dem alle Behindertenverbände gesagt haben: Um Gottes willen, verschont uns damit!
Das spricht aber nicht für, sondern gegen Ihren Entwurf. Es hat etwas damit zu tun, daß die Behindertenverbände in den letzten Jahren derartig schlechte Erfahrungen mit Ihrer Behindertenpolitik gemacht haben, daß sie allen Grund haben zu befürchten, daß mit einem solchen Entwurf, wie Sie ihn vorgelegt haben, die Dinge nicht besser, sondern schlechter werden. Das heißt, die Ablehnung der Behindertenverbände dürfen Sie nicht in Kronzeugenschaft zur Rechtfertigung Ihres Versagens in der Behindertenpolitik nehmen, sondern es ist eher die Bestätigung für Ihr Versagen.
Sie haben hier alle mehrfach auf den wirklich großen politischen Fortschritt hingewiesen, daß der Art. 3 des Grundgesetzes um das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen ergänzt wurde. Nun haben Sie von seiten der Regierungsfraktionen anhaltenden Widerstand gegen die Aufnahme dieses Passus in das Grundgesetz geleistet. Wahrscheinlich haben Sie damals schon geahnt, daß daraus weitreichende Verpflichtungen erwachsen.
Jetzt verweisen Sie zwar darauf, daß diese Grundrechtsänderung Folgen für die Rechtsprechung und auch für das Zusammenleben der Menschen hat. Das ist zweifelsohne richtig. Aber Sie sind damit nicht aus der Verantwortung.
- Das ist ja das Bestürzende, daß sich das nicht ändert.
- Wir arbeiten daran, und Sie werden bald das Ergebnis erfahren. Wir sind außerordentlich zuversichtlich, daß wir diesem mißlichen Umstand, daß Sie die Verantwortung nicht nur für die Behindertenpolitik tragen, bald ein Ende setzen werden.
Ich will jetzt noch einmal - da hatten wir schon immer eine Differenz - auf die Frage eines Antidiskriminierungsgesetzes eingehen. Ich will bei dieser Gelegenheit sagen: Wir glauben, daß das weiterhin dringend notwendig ist, und werden dazu auch bald entsprechende Vorschläge vorlegen.
Das Entscheidende bei einem solchen Gesetz sind ein Verbandsklagerecht sowie zivilrechtliche Sanktionsmöglichkeiten. Diskriminierungen verschwinden nicht einfach von allein oder weil jemand guten Willen hat; vielmehr ist es häufig ein mühsamer Kampf. Wir müssen Chancengleichheit für die Betroffenen herstellen, indem wir sie in ihrer Rechtsposition stärken, damit sie ihre Interessen wahren und durchsetzen können. Das ist für uns eine ganz zentrale Frage für die Weiterentwicklung von Bürgerrechten. Dann werden Sie angesichts Ihrer blumigen Worte Position dazu beziehen müssen, was Sie davon halten, wenn es denn doch einmal konkret wird.
Als letztes möchte ich noch folgendes sagen - das richtet sich an die Antragsteller von der PDS -: Wir wissen doch, wo es in der Behindertenpolitik im argen liegt. Wir wissen um die Probleme, die für die Behinderten mit der Einführung der Pflegeversicherung verbunden sind. Wir wissen, wie schwierig die Verhandlungen mit den Sozialhilfeträgern nach der Änderung des § 3 a BSHG sind. Wir wissen, welche Richtlinien man für barrierefreies Bauen einsetzen müßte. Wir könnten dieses und anderes Wissen zwar in einer Enquete-Kommission vertiefen und vielleicht neue Erkenntnisse gewinnen. Getan ist damit aber nichts.
Unter den veränderten Bedingungen, nach der Kapitulation der Bundesregierung vor einem ihrer großen Reformvorhaben, hätte ich um so größere Befürchtungen, daß eine Enquete-Kommission des Bundestages der Koalition einen wohlfeilen Vorwand für weitere Untätigkeit in der Behindertenpolitik liefern würde. Deswegen sollten wir als Opposition nicht auf Selbstbeschäftigung des Hauses, sondern auf Druck und Vertretung der Interessen der Behinderten setzen.
Andrea Fischer
- Ich habe Ihnen das schon einmal erklärt. Wir waren immer schon mit Ihnen einer Meinung, daß eine Enquete-Kommission nicht hilft. Aber Sie haben die Geschäftsgrundlage für den damaligen gemeinsamen Beschluß dramatisch verändert. Das war gerade der Inhalt meiner Rede, liebe Frau Kollegin.
Das Wort für eine Kurzintervention hat die Kollegin Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe mich noch einmal zu Wort gemeldet, weil der Kollege Lühr unser angekündigtes Abstimmungsverhalten zu dieser Beschlußempfehlung, nämlich eine Stimmenthaltung, so interpretiert hat, als ob wir nicht mehr hinter unserem eigenen Vorschlag, eine Enquete-Kommission einzusetzen, stünden. Dem ist selbstverständlich nicht so.
Wir können der Beschlußempfehlung nicht zustimmen, weil darin die Einsetzung der Enquete-Kommission verweigert wird. Aber wir können natürlich schlecht eine Beschlußempfehlung ablehnen, in der gefordert wird, daß von seiten der Bundesregierung endlich ein SGB IX eingebracht wird. Wir als PDS können auch sehr schlecht eine Beschlußempfehlung ablehnen, wenn darin die Umsetzung des Benachteiligungsverbots aus dem Grundgesetz eingefordert wird.
Ich denke, ein solches Abstimmungsverhalten wie das angekündigte, also eine Stimmenthaltung, zeigt sehr deutlich, wie ernst es der PDS ist, wenn es darum geht, Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen in diesem Land abzubauen.
Keine Erwiderung? - Dann hat jetzt das Wort der Kollege Heinz Schemken, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Benachteiligungsverbot, das - das ist eben schon deutlich geworden - im Grundgesetz verankert ist, ist nicht nur ein Auftrag an den Staat, sondern auch ein Auftrag an die Gesellschaft, an die Wirtschaft - ich sage das ausdrücklich - und insbesondere auch an die Verwaltungsebenen in jeder differenzierten Art.
Ich darf ausdrücklich feststellen, daß wir insbesondere im beruflichen Bereich wesentliche Voraussetzungen für die Eingliederung in die Gesellschaft schaffen können. Dies gilt für die integrativen Systeme in den Kindergärten, in den Schulen, aber - wie ich schon sagte - insbesondere im beruflichen Bereich.
Wir sind schon ein Stück vorwärts gekommen. Frau Schnieber-Jastram hat das schon an Beispielen deutlich gemacht. Ich möchte ein weiteres Beispiel ausführen: In den Wohnheimen bilden wir Wohngruppen, also integrative Systeme im nachbarschaftlichen Bereich. Das ist der Weg, den wir gehen müssen, denn wir sind alle miteinander verantwortlich. Wenn wir zu sehr stringent nur staatliche Maßnahmen anordnen, dann kann es sein, daß der Behinderte letztlich von der Nachbarschaft vergessen wird, weil sie davon ausgeht, daß die Dinge geregelt sind.
Die Zahl der Arbeitslosen ist mit 195 000 bei den Behinderten dramatisch hoch. Dies ist für uns ein nachdrückliches Signal, einiges zu tun. Ich nenne als Schwachpunkte den Druck am Arbeitsmarkt und die Verdrängung aus dem Ausbildungsstellenmarkt. Ich möchte einen Appell an die Wirtschaft richten, weil letztlich die verdrängt werden, die nicht mithalten können.
Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die öffentlichen Verwaltungen haben allen Grund, einmal hinzuschauen, wo die 6-Prozent-Quote wirklich erfüllt ist. Das ist bei den Bundesbehörden und erfreulicherweise bei den Kommunen weitgehend der Fall. Ich beklage aber zugleich, daß in vielen Fällen nur eine Quote von 4 Prozent und teilweise noch darunter erreicht wird.
Ich verstehe die Formulierung „Sparorgie" nicht, lieber Herr Kollege Haack, wie Sie es ausgeführt haben. Frau Fischer, ich verstehe auch nicht die Bezeichnung „bankrott". Dies paßt nicht zu dem, was wir miteinander tun. Wir haben im AFRG die Probleme der Behinderten einvernehmlich geregelt. Auch wenn das AFRG nicht die Zustimmung aller bekam, so ist doch der Zugang zu den Einrichtungen im § 102 einvernehmlich geregelt worden.
Wir wollen - das wollen wir in dieser Stunde nicht verschweigen; Herr Haack, da haben Sie recht -5 Prozent einsparen. Bei Ausgaben von 4,3 Milliarden DM in den Feldern Berufsbildung und Berufsförderung ist dies möglich. Das ist uns auch von den Bildungsträgern gesagt worden. Allerdings muß der Zugang ermöglicht werden.
Wir haben das Benachteiligtenprogramm aufgestockt, insbesondere auch für die jungen Bundesländer. Dort ist es ganz besonders nötig; davon bin ich überzeugt. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich mir unmittelbar nach Fall der Mauer die Einrichtungen dort angesehen habe. 40 Jahre DDR bedeuteten wirklich eine Behinderung für die Behinderten. Das muß ich einmal sagen; das sollten sich einmal diejenigen an den Hut stecken, die meinen, sie könnten hier Forderungen stellen, obwohl wir gerade in den jungen Bundesländern hinsichtlich des Aufholbedarfs Enormes getan haben.
Das ist auch gut so; das haben wir gerne getan, und das wollen wir auch weiterhin tun.
Ich habe schon auf das AFRG hingewiesen. Ich habe aber auch noch auf das Pflegegesetz hinzuweisen. Ich weiß, Frau Fischer, wir haben da kontroverse Meinungen. Sie sagen, daß wir im individuellen Bereich mehr hätten tun können. Es war aber das Einvernehmen der großen Fraktionen in diesem Hause,
Heinz Schemken
daß wir gesagt haben: Wir wollen für die Betreuung einen gewissen Betrag - das sind 500 DM - zur Verfügung stellen. Das ist eine Verbesserung.
-Frau Fischer, auch ich kenne die Probleme vor Ort. Wir wissen sehr wohl, daß der Zusammenhang mit der Sozialhilfe sehr kompliziert ist. Genauso wissen wir, daß die Klagen der Bildungsträger, die mit den einzelnen Arbeitsämtern zu tun haben, auch daran liegen, daß Irritationen nicht zuletzt durch die starre Haltung des Bundesrates, wodurch das AFRG nicht zum Tragen kam, aufgetreten sind.
Ich sage ausdrücklich, daß wir durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz nicht in den Stand versetzt wurden, wenigstens in diesen Bereichen Sicherheit zu schaffen. Das neue Gesetz gilt ab 1. April dieses Jahres. Damit ist diese Irritation beseitigt.
Ich darf abschließend noch einmal darauf hinweisen, daß die Diskriminierung auch unter dem Gesichtspunkt der Rücksichtnahme ein nachbarschaftliches Thema ist, ein Thema der Gesellschaft insgesamt.
Ich möchte hierbei insbesondere die betroffenen Familien mit einbeziehen, auch die Alleinerziehenden. Oft sind diese Betroffenen und Beteiligten über ihre Leistungsfähigkeit hinaus in Anspruch genommen.
Auch dies muß uns verpflichten, uns nicht in Zufriedenheit mit der Situation abzufinden, sondern weiter an diesem Thema zu arbeiten und für die Behinderten ein Stück Zeit - leider ist eine halbe Stunde ein bißchen wenig - zu verwenden. Ich bin deshalb dankbar, daß wir im Ausschuß einmal eingehender diskutieren durften.
Nun möchte ich abschließend feststellen, daß wir das Problem miteinander bewältigen müssen. Ich werbe um Konsens. In dieser Frage ist ein Parteienstreit nicht angebracht. Ich meine, auch die Kultur, die wir für unsere Gesellschaft in Anspruch nehmen, wird sich daran messen lassen, wie wir mit den Alten und Behinderten umgehen. Da beginnt die Kultur.
Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter den Nummern 1 und 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/3152 die Annahme von Entschließungen. - Ich höre, die Fraktion der CDU/CSU wünscht getrennte Abstimmungen.
Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 1 der Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Dann kommen wir jetzt zu der Entschließung unter Nr. 2. Wer stimmt für diese Entschließung in der Fassung der Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" ab. Das ist die Drucksache 13/3152 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/813 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Gruppe der PDS zur Erweiterung des Vierten Berichts der Bundesregierung zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation. Das ist die Drucksache 13/ 7422. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck , Gila Altmann (Aurich), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung der Diskriminierung von Prostituierten
- Drucksachen 13/6372, 13/7440 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieben Minuten erhalten soll. - Kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Prostitution ist in der Bundesrepublik nicht verboten. Zirka 400 000 Frauen gehen in unserem Lande dieser Tätigkeit nach. Annähernd eine Million Männer fragen diese sexuellen Dienstleistungen tagtäglich nach. Prostitution ist ein Wirtschaftsfaktor mit mehr als 10 Milliarden DM Umsatz im Jahr. Das entspricht ungefähr dem Umsatz der Konzerne wie Nixdorf oder AEG.
Irmingard Schewe-Gerigk
Die Medien vermarkten das Thema mit eher voyeuristischem Interesse. Berichte über das Rotlichtmilieu, über Straßenprostitution, über die katholische Prostituierte, die sich in Deutschland verdingt, finden sich immer wieder in Magazinen.
Wenig wird allerdings über die Arbeitsbedingungen von Prostituierten gesagt und über das, was Prostituierte in die Abhängigkeit und in die Halblegalität treibt. Wenig übrig hat man auch für die gesellschaftliche Doppelmoral, die im Spiel ist, wenn es um Prostitution geht; denn sie funktioniert noch immer: die Aufspaltung der beiden Seiten eines Geschäfts. Auf der einen Seite ist die Prostituierte, gesellschaftlich stigmatisiert, ja verachtet. Auf der anderen Seite steht der honorige Kunde, der Politiker, der Arzt, der Rechtsanwalt, der die sexuelle Dienstleistung nachfragt.
Diese Doppelmoral hat dazu geführt, daß auch Gesetze und Rechtsauffassungen Prostituierte diskriminieren. Kernstück dieser Diskriminierung ist, daß Prostitution nicht als berufliche Tätigkeit anerkannt wird, woraus sich eklatante Benachteiligungen ergeben. Im Gegensatz zu allen anderen beruflichen Tätigkeiten können Prostituierte keine regulären Arbeitsverträge abschließen. Die Vereinbarung sexueller Dienstleistungen gegen Entgelt gilt nach der herrschenden Rechtsprechung als sittenwidrig und ist damit rechtsunwirksam.
Die Folgen gehen einseitig zu Lasten der Prostituierten. Sie haben keinerlei Anspruch auf soziale Absicherung oder arbeitsrechtlichen Schutz. Ihnen bleibt der Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung, der Arbeitslosen- und Rentenversicherung verschlossen. Damit nicht genug: Die Ausübung der Prostitution wird in der Bundesrepublik reglementiert durch Gesundheitsbehörden, kontrolliert durch die Polizei und kriminalisiert durch Strafrechtsbestimmungen. Sperrbezirksverordnungen fördern zudem Zuhälterei und die kasernierte Prostitution in Großbordellen. Ist es nicht ein Skandal, daß Frauen, die einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, von sozialer Absicherung und allen Rechten als Arbeitnehmerinnen ausgeschlossen sind,
daß sie aber gleichzeitig vom Staat verpflichtet werden, Steuern zu zahlen?
- Das ist richtig, Frau Babel.
- Sehr gut.
Gegen ihre soziale Ausgrenzung und die rechtliche Diskriminierung haben sich Prostituierte in den letzten Jahren zunehmend gewehrt. Viele haben sich in Selbsthilfeprojekten organisiert. Sie machten ihre Forderungen öffentlich und wandten sich an Politikerinnen, auch Politiker, um eine gesellschaftliche Diskussion herbeizuführen. Neben einer Petition der Prostituiertenprojekte, die dem Deutschen Bundestag vorliegt, hat die Hurenbewegung vor kurzem auch einen eigenen Gesetzentwurf erarbeiten lassen. Dieser stimmt in seiner Zielsetzung mit dem Gesetzentwurf der Bündnisgrünen überein.
Selbst die Bundesregierung - ich sehe, die Frau Staatssekretärin ist da - konnte sich dem Thema Prostitution nicht mehr verschließen. In einer vom Frauenministerium 1994 herausgegebenen Studie hat sie die Situation von Prostituierten in der Bundesrepublik Deutschland untersuchen lassen. Doch trotz der umfangreich dokumentierten sozialen und rechtlichen Probleme und einer sehr fortschrittlichen Empfehlung der Studie hat die Regierung bisher keinerlei politische Initiative ergriffen. Sie hat kein Gesetz erlassen, das klarstellt, daß Prostitution nicht als sittenwidrig zu betrachten ist und damit auch als berufliche Tätigkeit anerkannt werden könnte. Warum vergibt die Ministerin eigentlich Studien, wenn sie nicht bereit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen?
Es ist nun wirklich an der Zeit, daß die politische Auseinandersetzung mit dem Thema Prostitution auch hier im Parlament stattfindet. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf formuliert, um die rechtliche Diskriminierung von Prostituierten aufzuheben.
Das bedeutet ganz konkret, daß Prostitution als berufliche Tätigkeit anerkannt wird. Die Prostituierte kann dann als Arbeitnehmerin, selbständig oder auch in einer Genossenschaft arbeiten, ohne daß ihre Tätigkeit in irgendeiner Form kriminalisiert wird. Denn auch Freier - oder sagen wir besser: Kunden - werden doch nicht durch die Entgegennahme der sexuellen Dienstleistung kriminalisiert.
Freiheit der Berufswahl bedeutet aber auch, daß es keine speziellen Strafrechtsvorschriften für diese Berufsgruppe geben darf.
Auch die Sperrbezirke und Zwangsuntersuchungen müssen abgeschafft werden.
Lassen Sie mich zuletzt noch etwas dazu sagen, welche Probleme mit diesem Gesetzentwurf nicht gelöst werden können. Das ist zum einen die Beschaffungsprostitution, zum anderen der Frauenhandel.
Beschaffungsprostitution, die auf Grund von Drogenabhängigkeit ausgeübt wird, ist ein dramatisches soziales Problem. Bei diesen Frauen handelt es sich um Drogensüchtige, die nicht professionell als Prostituierte arbeiten und deren Arbeit nach anderen Gesetzen funktioniert. Um hier Hilfe anzubieten, bedarf
Irmingard Schewe-Gerigk
es einer grundsätzlichen Wende in der Drogenpolitik.
Auch für die Problematik des Menschenhandels brauchen wir eine andere Lösung, nämlich eine internationale Zusammenarbeit, effektive Strafrechtsbestimmungen und eine Anwendung des Ausländerrechts, die einen wirksamen Opferschutz gewährt.
Der heute vorliegende Gesetzentwurf hat zum Ziel, Prostituierte rechtlich und sozial nicht weiter zu diskriminieren und sie nicht länger in die Halblegalität abzudrängen. Für eine liberale und demokratische Gesellschaft steht das schon lange an.
Ein Wort zum Schluß: Ich habe den Eindruck, daß in allen Fraktionen eine Übereinstimmung darüber besteht, daß gesetzliche Änderungen notwendig sind. Sicherlich gibt es unterschiedliche Auffassungen über ihren Umfang. Lassen Sie uns in den Ausschußberatungen aufeinander zugehen - ich habe gehört, daß auch die SPD einen Antrag dazu einbringen will -,
damit der rechtlose Zustand der Prostituierten ein Ende findet.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das politische Tagesgeschäft dieser Woche und die heutige Tagesordnung spannen wieder einmal einen weiten Bogen und fordern von uns nicht nur viel Flexibilität, sondern auch zu später Stunde noch unsere volle Aufmerksamkeit,
handelt es sich doch, fast am Ende dieses Tages und als Frauenthema wohlplaziert zwischen Behinderten und Kriminalität,
um ein Thema, das sich zwar auch sonst in erster Linie in der Dunkelheit der Nacht bzw. im Verborgenen abspielt, das es aber nichtsdestotrotz verdient, endlich einmal unvoreingenommen und unverklemmt behandelt zu werden.
„Prostituierte - igitt!" sagen die einen und rümpfen die Nase. Die anderen machen dumme Witze. „Nutten", „Bordsteinschwalben" - über sie redet man höchstens herablassend. Sich für sie zu interessieren schickt sich nicht. Hätten wir, die wir die Gunst der frühen Geburt miteinander teilen, nicht Irma la Douce und die Nitribitt gehabt, wüßten wir vielleicht noch viel weniger über diesen Beruf.
Denn eigentlich wüßte man doch zu gerne mehr über sie. Entdeckt man sie, wenn sie öffentlich ihre Dienste anbieten, versucht man wenigstens, einen Blick zu erhaschen, um sich hinterher um so besser skandalisieren zu können.
Und überhaupt! Die anständige Frau sollte gar nichts von ihr wissen. Doch daß es sie überhaupt gibt, liegt womöglich an dem aufrechten Gatten dieser anständigen Frau.
Und wer sieht eigentlich die vielen Fernsehsendungen zu später Stunde mit einschlägigen Inhalten und nutzt die Telefonnummern, mit denen Frauen und Männer ihre Dienste sehr eindeutig anbieten? Sowohl Fernsehprogramme als auch Werbung leben von Erfolgsquoten.
Hier liegt also Doppelmoral in hoher Potenz vor, die uns zunächst einmal mehr als nachdenklich machen müßte, Doppelmoral, die sich in unserer Gesetzgebung niederschlägt und uns den Blick für die notwendigen Änderungen verstellt.
Persönlich sehe ich Handlungsbedarf, weil ich es für unehrlich halte, wenn wir akzeptieren, daß täglich Hunderttausende Männer die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen, wir diesen aber gleichzeitig annehmbare rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweigern,
weil wir mit dem Hinweis auf die Sittenwidrigkeit den Prostituierten Rechte, wie die Absicherung über die Sozialversicherung, vorenthalten, ihnen aber auf der anderen Seite die Steuerpflicht auferlegen, die dann auch noch mit der Wertfreiheit des Steuerrechts begründet wird.
Es ist jetzt nicht die rechte Zeit, sich mit den moralischen Aspekten der Prostitution zu befassen und die Tätigkeit von Prostituierten einer Wertung zu unterziehen.
Aber solange wir ihre Dienstleistungen tolerieren und nicht verbieten, solange sie in unserer Gesellschaft solch große Nachfrage erfahren, gibt es auch für mich keinen Grund, ihr Tun zu diskriminieren.
Nehmen wir also endlich die gespreizten Finger von den Augen, sehen genauer hin und reden offen miteinander!
Ilse Falk
Zunächst: Über wen? Nicht über die, die der Beschaffungsprostitution nachgehen - bei denen steht notwendigerweise die Bewältigung der Sucht im Vordergrund -, nicht über Menschenhandel und Zwangsprostitution - auch hier bedarf es anderer Antworten -: Wir reden über die sogenannten professionellen Prostituierten.
Aus einer gerade vorgelegten Studie des Sozialpädagogischen Instituts Berlin sind folgende statistische Angaben zu entnehmen, die auf einer Befragung von 260 professionellen Prostituierten in Deutschland beruhen: Ihr Einstiegsalter lag zwischen 12 und 50 Jahren. Fast die Hälfte begann zwischen 18 und 21, 15 Prozent schon wesentlich früher.
Als Gründe dominieren Geldsorgen, Arbeitslosigkeit und hohe Schulden; es folgen falsche Vorbilder, und für 14 Prozent war der Grund: Mein Freund oder Mann wollte es so. Spaß an der Sache nennen nur zwei Prozent als Grund für den Einstieg in die Prostitution.
Ein Ausstieg, sozusagen vom Strich ins Büro, scheint immer noch nicht leicht zu sein, obwohl immerhin rund die Hälfte über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt und nur 15 Prozent keinen Schulabschluß besitzen und obwohl man sich entgegen landläufiger Meinung im ältesten Gewerbe trotz hoher Nachfrage bei steigendem Angebot und sinkenden Preisen keine goldene Nase mehr verdienen kann. Der durchschnittliche Lebensunterhalt einer Prostituierten betrug nach dieser Studie rund 2 000 DM, ein „Spitzeneinkommen" mit 3 000 DM und mehr, jeweils netto, erzielten rund 34 Prozent. Die Hälfte aber lag bei unter 1 700 DM, und ein hoher Anteil der Prostituierten lebte von staatlicher Unterstützung.
Am Ende der statistischen Daten noch ein Hinweis auf einen der dunkelsten Aspekte des Milieus, über den man an anderer Stelle sicher auch noch reden müßte: Über 50 Prozent der Prostituierten wurden Opfer von Gewalttaten durch Freier, durch Zuhälter oder Betreiber eines Etablissements - je jünger, desto hilfloser, desto öfter betroffen.
Ich höre schon das Gegenargument: Dann sollen sie doch aufhören! Sicher, aber wenn man das Ziel, den Ausstieg aus der Prostitution zu fördern, ernst nimmt, müßte man den Ausstiegswilligen ohne moralische Vorhaltungen entsprechenden Zugang zu den Instrumenten der Arbeitsvermittlung und Umschulung ermöglichen.
Dazu gehört dann auch, Prävention durch Beratung und Aufklärung zu fördern und das Thema Prostitution in andere Bereiche sozialer Arbeit zu integrieren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen, die für Jugendliche arbeiten, müßten besonders geschult werden, um den Blick nicht nur für sexuellen Mißbrauch, sondern auch für vorhandene Kontakte zum Prostituiertenmilieu zu schärfen, so daß den Betroffenen eine adäquate, vorurteilsfreie Beratung und Unterstützung angeboten werden kann. Vorhandene Prostitutionsaktivitäten der Mädchen und jungen Frauen sollten dabei weder tabuisiert noch moralisch verurteilt werden.
Kollegin Schewe-Gerigk hat die Benachteiligungen und Diskriminierungen, wie sie auch von den Prostituierten selber und ihren Interessenverbänden gesehen werden, bereits deutlich gemacht und die Lösungsansätze des Gesetzentwurfes dargestellt. Ich persönlich glaube nicht, daß so viele Paragraphen tatsächlich gestrichen oder geändert werden müssen bzw. sollten. Aber dazu wird sicher der Kollege Eylmann noch etwas aus juristischer Sicht sagen.
Nicht die Gesetze scheinen mir das Problem zu sein, sondern vielmehr die Rechtsprechung, die häufig nicht mehr dem gewandelten gesellschaftlichen Verständnis entspricht. Die Rechtsprechung wiederum ist durch das öffentliche Bewußtsein geprägt. Der gesellschaftliche Dialog müßte offensiver geführt werden, damit sich auch an der Rechtsprechung etwas ändert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind erst ganz am Anfang einer notwendigen gesellschaftlichen, aber auch parlamentarischen Diskussion. Vergessen wir in Zukunft den moralisierenden Zeigefinger und die schlüpfrigen Witze! Nehmen wir die Lage der Prostituierten ernst und lassen Sie uns in den anstehenden Beratungen gemeinsam nach Wegen suchen, wie wir dem berechtigten Anliegen der besseren sozialen und rechtlichen Absicherung der Prostituierten entsprechen können.
Das Wort hat der Kollege Jürgen Meyer, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die grundlegende Forderung des Gesetzentwurfes von Bündnis 90/Die Grünen, die Diskriminierung von Prostituierten zu beseitigen oder zumindest abzubauen, ist aus der Sicht der SPD nachhaltig zu unterstützen. Es ist widersprüchlich und geradezu ein Zeichen der von Grünen und SPD eben bereits festgestellten Doppelmoral, wenn der Staat eine Prostituierte, die keine Einkommensteuer bezahlt, wegen Steuerhinterziehung verfolgt und bestraft, ihr aber gleichzeitig die selbstverständlichen Rechte anderer Gewerbetreibender versagt.
Der Gesetzgeber kann die gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen, die der in der Rechtssprache bis heute so bezeichneten gewerbsmäßigen Unzucht nachgehen, nicht mit einem Federstrich beseitigen; aber er kann Zeichen setzen. Aus unserer Sicht muß es dabei um die Beseitigung der rechtlichen Benachteiligungen von Prostituierten gehen, nicht aber um eine Verbesserung der Rechtsposition von Freiern oder Zuhältern. Dem entspricht der vorliegende Gesetzentwurf in mehreren Punkten nicht. Wir werden ihn deshalb in den bevorstehenden Ausschußberatungen wesentlich zu verändern haben.
Dr. Jürgen Meyer
Der Entwurf geht zutreffend davon aus, daß die entscheidende Begründung für die bis heute herrschende und Prostituierte diskriminierende Rechtsauffassung darin besteht, daß der Vertrag zwischen Prostituierter und Freier sittenwidrig und deshalb nichtig sei. Mit dieser Standardformel hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes noch 1987 begründet, daß der Mann, der eine Prostituierte um den vereinbarten Lohn prellt, keinen Betrug begeht. Mit derselben Begründung hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes bereits 1976 in einer Verkehrsunfallsache den Anspruch der verletzten Frau auf Schadensersatz für ihren Erwerbsausfall verneint.
In zahlreichen Gerichtsentscheidungen ist Frauen, die in Bordellen arbeiten, unter Hinweis auf die Sittenwidrigkeit ihrer Arbeit die Arbeitnehmereigenschaft versagt worden. Das hat bekanntlich weitreichende arbeits- und sozialrechtliche Folgen. Die angebliche Nichtigkeit des Vertrages zwischen Prostituierter und Freier ist offenbar der archimedische Punkt, von dem aus die herrschende Rechtsauffassung konstruiert ist.
Deshalb hat die Frauenministerkonferenz unter Mitwirkung der zuständigen Ministerinnen aller 16 Bundesländer im Juni 1995 bei nur zwei Gegenstimmen die Bundesregierung aufgefordert, Maßnahmen zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten zu ergreifen. Die Ministerinnen haben diese Forderung folgendermaßen konkretisiert - ich zitiere -:
Auf bundesgesetzgeberischer Ebene sollte klargestellt werden, daß der Dienstleistungsvertrag zwischen Prostituierter und Freier nicht sittenwidrig ist, damit die Prostituierten einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf Bezahlung haben.
Diesem Beschluß versucht der vorliegende Entwurf zwar Rechnung zu tragen, aber er tut es auf wenig überzeugende Weise, indem er in Art. 1 schlicht feststellt, der fragliche Vertrag sei ein Dienstvertrag, also ein gegenseitig verpflichtender Vertrag gemäß § 611 BGB, durch den die Person, welche ihre Dienste zusagt, wirksam zur Leistung der versprochenen Dienste gegen Vergütung verpflichtet wird.
Wollen Sie, so frage ich die Entwurfsverfasser, dem Freier allen Ernstes einen notfalls gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf sexuelle Dienstleistungen einräumen? Sollen sich Gerichte in diesem Zusammenhang mit dem Einwand der Schlechterfüllung auseinandersetzen? Wie verhält es sich mit der Abtretbarkeit des Entgeltanspruchs? Könnte diese nicht zu einem beachtlichen Macht- und Druckmittel in der Hand des Zuhälters werden? Das alles ist noch nicht ausreichend durchdacht. Besser wäre wohl eine Regelung, wonach ein einseitig verpflichtender Vertrag auf Zahlung des Entgelts dann zustande kommt, wenn sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen werden. Die Abtretbarkeit des Entgeltanspruchs könnte ausgeschlossen werden.
Lassen Sie mich in der knappen mir zur Verfügung stehenden Zeit auf eine zweite Ungereimtheit des Gesetzentwurfes hinweisen. Dieser schlägt die ersatzlose Streichung von § 181 a Strafgesetzbuch vor, der die Zuhälterei betrifft. Soll es also künftig straflos sein, eine Person, die der Prostitution nachgeht, „ auszubeuten"? Wesentlich mehr Augenmaß zeigt der erwähnte Beschluß der Frauenministerkonferenz von 1995, in dem gefordert wird, „die §§ 180 ff. StGB so zu reformieren, daß die Prostitutionsausübung selbst nicht kriminalisiert wird, auf der anderen Seite aber ein wirksames Instrument gegen Zwangsprostitution und Frauenhandel zur Verfügung steht" .
Der Entwurf wirft eine Vielzahl weiterer Fragen auf. Die in der Präambel geforderte Anerkennung der Prostitution als Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes bietet unnötigen Anlaß, ein in den Grundzügen berechtigtes Anliegen zu diskreditieren. Ist den Entwurfsverfassern entgangen, daß Träger des Grundrechts nur Deutsche, nicht aber ausländische Staatsangehörige sind? Denken die Entwurfsverfasser etwa an ein Recht auf Ausbildung? Wie sollte der Staat dann die Freiheit der Berufswahl und die Wahl der Ausbildungsstätte garantieren?
Ferner: Die Notwendigkeit einer sozialen Absicherung von Prostituierten wird zwar in der Begründung des Entwurfes breit behandelt, nicht aber im Gesetzestext geregelt.
Und schließlich: Auch die geforderte ersatzlose Streichung der Sperrbezirksregelung schießt über das Ziel hinaus. Ob derartige Bezirke dem „Schutz des öffentlichen Anstandes" dienen können, wie Art. 297 EGStGB formuliert, kann man sehr wohl bezweifeln. Der dort ebenfalls erwähnte Schutz der Jugend erscheint uns aber ganz und gar nicht überflüssig.
Trotz allem sollte der Entwurf nicht mit der wohlfeilen Bemerkung abgetan werden, der Deutsche Bundestag habe andere Sorgen als eine Neuregelung der Prostitution. Die soziale und rechtliche Diskriminierung vor allem von Frauen muß bekämpft werden, wo man sie antrifft. Aber um mehrheitsfähig zu werden, muß der Entwurf bei den bevorstehenden Beratungen noch erheblich verändert werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum ist das älteste Gewerbe der Welt dreieinhalb Jahrtausende alt, schon befaßt sich der Deutsche Bundestag damit, wie man die Diskriminierung von anschaffenden Frauen abschaffen könne.
Es gab Zeiten, da waren Gesetze zum Schutze der Huren nicht erforderlich. Und manche Politiker meinen noch heute, es sei so. Nur: Damals, im 14. Jahrhundert vor Christus, handelten die Huren noch als
Hildebrecht Braun
Stellvertreterinnen einer Gottheit - so in Hochkulturen Kleinasiens -, oder sie dienten kaserniert in Bordellen ab dem 7. Jahrhundert in Athen, wobei sie als sogenannte Flötenspielerinnen ihre Kunden auch mit Musik und Tanz unterhielten. In Rom gab es zur Kaiserzeit 46 Bordelle, in denen Sklavinnen ihren Dienst verrichteten, während sich die freien Römerinnen schon damals in ein Register eintragen lassen mußten. Das Christentum nun brachte den Huren Verachtung, ja die Bedrohung mit der Todesstrafe, bis sie zu Beginn des 15. Jahrhunderts zunftmäßig, so wie Handwerkerinnen, erfaßt wurden. Freudenhäuser wurden unter dem Schutz der Obrigkeit, quasi als öffentlicher Dienst, betrieben - von Landesherren, den Städten, aber auch von der Kirche. Mätressen stiegen später bei der Oberschicht unter Ludwig XV. gar bis in politische Spitzenstellungen auf.
Heute findet Prostitution zumeist unter elenden Bedingungen statt. Die offizielle Moral, die Sexualität nur unter Eheleuten kennen will, fördert angesichts ihrer erkennbaren Realitätsferne Prostitution mehr als jedes andere Moment.
Der Bundestag ist sicher aufgerufen, der allseits bekannten Doppelmoral ein Ende zu bereiten. Zugleich hat er dafür zu sorgen, daß die Würde aller Menschen, also auch die der Prostituierten, im Sinne des Art. 1 des Grundgesetzes gewahrt wird.
Der Staat anerkennt die Dienstleistung des ältesten Gewerbes der Welt, wenn er zu Recht Steuern kassiert. Er verschließt aber die Augen vor der Realität und toleriert bisher Ausbeutung von Frauen und Gewalt gegen Frauen in einem oft kriminellen Umfeld.
Einige Anmerkungen: Erstens. Prostitution hat nichts mit Romantik zu tun. Sie ist eine knallharte Tätigkeit, die aber für die Gesellschaft unverzichtbar ist. Würden nicht 100 000 Frauen die oft absonderlichen Wünsche ihrer Freier erfüllen, so würde ein Teil dieser Freier ein beträchtliches Bedrohungspotential für unsere Frauen und Kinder darstellen.
Da der Sexualtrieb bekanntlich nicht durch gutes Zureden oder rechtlichen Druck abgestellt werden kann, ist es gut, wenn Menschen, die aus den verschiedensten Gründen in ihrem engeren Umfeld keine ausreichenden Möglichkeiten haben, bei Huren ein Ventil finden. Man muß kein Prophet sein, um festzustellen: Würde Prostitution verboten, so würde die Zahl der Vergewaltigungen und der sexuellen Übergriffe auf Kinder in die Höhe schnellen.
Zweitens. Ohne die Nachfrage der Männer gäbe es keine Frauenprostitution. Es ist scheinheilig und Ausdruck einer überkommenen Männergesellschaft, wenn Frauen für die Ausübung der Prostitution im Sperrgebiet bestraft werden, nicht aber die doch wohl ebenso beteiligten Männer.
Drittens. Es ist wenig überzeugend, wenn eine von Männern bestimmte Justiz die von Männern in Anspruch genommene Dienstleistung der Prostituierten als sittenwidrig im Sinne des BGB ansieht und so der Hure den ihr zustehenden Lohn für ihre Dienstleistung verwehrt. Nach dieser Bundestagsdebatte wird es den Gerichten wohl schwerer fallen als bisher, die Dienste der Prostituierten als sittenwidrig und damit im Rechtssinne als nichtig anzusehen, wenn die meisten Sprecher der deutschen Volksvertretung gerade diese Qualifizierung als sittenwidrig entlarven und als gegen die Frauen gerichtet erkennen.
Viertens. Wer Prostituierte rechtlich ins Niemandsland stellt und damit quasi als Aussätzige unserer Gesellschaft einordnet, trägt nachhaltig dazu bei, daß Prostitution in einem halbkriminellen Umfeld stattfindet. Die Politik fördert so die Zuhälterei mit allen miserablen Begleiterscheinungen. Sie erschwert aber auch die gesundheitliche Überwachung von Prostituierten und leistet damit der Verbreitung von Aids und Geschlechtskrankheiten Vorschub.
Fünftens. Wer sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit verweigert, verhindert die soziale Absicherung von Frauen und nimmt ihre Verelendung, ihr häufiges Abgleiten in Not und dauerhafte Abhängigkeit in Kauf. Die Aufnahme in die gesetzliche Rentenversicherung, in die Krankenversicherung und in die Arbeitslosenversicherung ist zwingend notwendig.
Sechstens. Größte Bedenken bestehen gegen die Beibehaltung des Strafrechtsparagraphen „Förderung der Prostitution". Brauchen wir denn wirklich wieder öffentliche, von den Kommunen betriebene Freudenhäuser, damit sexuelle Dienstleistungen - die in großer Zahl nachgefragt werden - unter geordneten hygienischen und menschenwürdigen Bedingungen stattfinden können?
Herr Kollege Braun, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk?
Wenn Sie mir die letzten Zeilen nachher noch gestatten, gerne. - Bitte sehr.
Herr Kollege Braun, sind Ihnen die Ergebnisse der Aids-Kommission des Deutschen Bundestages der 11. Wahlperiode bekannt, die zum Ausdruck gebracht haben, daß Prostituierte nicht häufiger HIV- infiziert sind und auch nicht häufiger Geschlechtskrankheiten haben als der Rest der Bevölkerung? Ist Ihnen das bekannt?
Verehrte Kollegin, mit den Dingen bin ich ausreichend vertraut, nachdem ich sechs Jahre lang in München in der einschlägigen Kommission tätig war und auch im
Hildebrecht Braun
Gesundheitsausschuß für diese Dinge mit zuständig war.
Tatsache ist, daß angesichts der geordneten Überwachung aller registrierter Prostituierten in den deutschen Gesundheitsämtern die Gefahr der Anstekkung bei Prostituierten denkbar gering ist. Aber ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Soweit Sie in Ihrem Entwurf fordern, daß die gesundheitliche Überwachung, die im Interesse der Prostituierten ist, diesen selbst überlassen werden soll, kann und werde ich Ihnen ganz gewiß nicht folgen. Denn Sie vergessen eines: Die Damen, die in diesem Bereich tätig sind, sind in ihrer bedrückenden Situation, auch auf Grund des Drucks von Zuhältern, zum großen Teil nicht in der Lage, innerlich nicht frei genug, um im Zweifel zu sagen: Ich stelle für andere eine Gefahr dar; deshalb verzichte ich auf die Einnahme, die ich in diesem Bereich hätte. Gerade Prostituierte, die Geld brauchen, um sich Stoff kaufen zu können - Stichwort: Beschaffungsprostitution -, sind eine riesige Gefahr für die Gesundheit der Öffentlichkeit. Deshalb muß es bei einer gesundheitlichen Überwachung der Prostituierten bleiben.
Ich glaube, in diesem Punkt werden Sie bei der Koalition und wohl auch bei der SPD wenig Zustimmung für Ihren Entwurf finden.
Größte Bedenken bestehen also nicht nur gegen die Überlegung, von der geordneten hygienischen Überwachung abzugehen. Wir wollen auch nicht, daß jemand bestraft wird, der als Unternehmer - oder als Unternehmerin - Angestellte mit den sozialen Sicherungsrechten beschäftigt, die für alle anderen in unserem Staat längst selbstverständlich sind.
Ich bezweifle, daß wir noch in dieser Legislaturperiode ein Gesetz zustande bringen, obwohl hier große Übereinstimmung feststellbar ist. Ich bin aber überzeugt davon: Dieses Jahrhundert wird nicht mit der gegenwärtigen, geradezu makaberen Rechtssituation in diesem Bereich zu Ende gehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einleitend feststellen, daß die PDS-Bundestagsgruppe die Bemühungen der Hurenbewegung, die rechtliche Diskriminierung der Prostitutionsarbeit zu beseitigen, schon seit langem unterstützt. Im Juni vergangenen Jahres hat die Hurenbewegung einen in ihrem Auftrag erarbeiteten Gesetzentwurf vorgestellt, der sich jetzt weitgehend im Gesetzentwurf vom Bündnis 90/Die Grünen wiederfindet. Die Bundestagsgruppe hat seinerzeit diesen Gesetzentwurf der Hurenbewegung beraten und einstimmig beschlossen, ihn fast in Gänze mitzutragen. Der Charme dieses Entwurfes bestand gerade darin, eben keine Sonderrechte für eine bestimmte Beschäftigtengruppe zu schaffen bzw. diese fortzuführen, sondern die Abschaffung der diskriminierenden Regelungen vorzusehen. Wir sind der Meinung, daß dies ein Ansatz ist, der geeignet ist, die Prostituierten rechtlich und sozial anderen Erwerbstätigen gleichzustellen und humane Arbeitsbedingungen für die in diesem Beruf arbeitenden Menschen zu garantieren.
Die Bemühungen, endlich die rechtliche Sonderstellung von Prostituierten gegenüber anderen Erwerbstätigen zu beseitigen, haben eine gewisse Tradition in diesem Hause. Allerdings hat sich bis heute immer wieder eine herrschende konservative Doppelmoral durchsetzen können und die Anerkennung der Prostitution als Beruf verhindert. Sie hat sich dabei auf eine Anstands- und Sittendefinition des vergangenen Jahrhunderts gestützt, zu der die heutigen Ansichten breiter Bevölkerungskreise längst keinen Bezug mehr haben. Gerade bei der Beurteilung der Prostitution hat sich die Schere zwischen rechtlicher Diskriminierung einerseits und moralischer De-factoAnerkennung der Prostitution als beruflicher Tätigkeit andererseits in den letzten drei Jahrzehnten immer weiter geöffnet. Deswegen wäre unserer Meinung nach aus rechtspolitischer Sicht eine Änderung der geltenden Vorschriften dringend geboten.
Hinzukommt, daß mittlerweile selbst EnqueteKommissionen des Bundestages und Studien des von Frau Nolte geleiteten Ministeriums - also durchweg Institutionen, die der Beförderung der Unmoral nicht gerade verdächtig sind - die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung von Prostituierten gefordert haben. Der Ton der bisherigen Diskussion gibt Anlaß zu vorsichtigem Optimismus. Vielleicht ermutigt das ja auch die Abgeordneten der Regierungskoalition zu einer Revision festgefahrener Positionen.
Die Gruppe der PDS - das darf ich abschließend feststellen - wird den vorliegenden Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen unterstützen und sich in die Diskussionen in den Ausschüssen - wie es bei der PDS Brauch ist - konstruktiv einbringen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Horst Eylmann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Große Worte und hehre Grundsätze zur späten Stunde!
Die Prostitution ist alt; das haben wir schon gehört. Bereits Solon hat Bordelle eingerichtet, und die Religion hat die Bordelle in Form der Tempelprostitution in die Gotteshäuser geholt. Die Prostitution ist unausrottbar. Selbst die christliche Sexualmoral, die jegliche Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dient, verdammte, hat sie zugelassen. Über die Gründe brauche ich mich nicht auszulassen. Es reicht festzustellen, daß die Verantwortung bei den Männern
Horst Eylmann
liegt. Daß wir etwa 400 000 Prostituierte in der Bundesrepublik haben, liegt daran, daß die Männer ihre Dienste in Anspruch nehmen. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, nicht umgekehrt, obwohl die Männer es jahrhundertelang anders dargestellt haben.
Die Prostitution ist auch lukrativ - allerdings weniger für die Frauen. „Das Mädchen Rosemarie" und „Pretty Woman", die am Ende ihren Märchenprinzen bekommt, sind Ausnahmen und repräsentieren nicht die in aller Regel ziemlich elende Realität. Es sind Männer, die daran verdienen -12,5 Milliarden DM werden umgesetzt. Zuhälter, Vermieter, Bar- und Hotelbesitzer verdienen daran, die Frauen nicht.
Es wird häufig gesagt, auch der Staat profitiere. Sicherlich: vor allen Dingen bei den Vermietern, weniger bei den Zuhältern. Die Einnahmen aus der Einkommenbesteuerung der Prostituierten sind minimal. Natürlich werden dort Steuern in großem Umfange hinterzogen. Im übrigen ist es durchaus vernünftig, daß auch die Gewinne aus illegalen Geschäften versteuert werden.
Würden Sie etwa sagen, daß ein Waffenhändler, der illegale und damit nichtige Geschäfte macht, nicht der Einkommensteuer unterworfen sein soll? Das kann man doch nicht ernstlich sagen. Dieses Argument zieht nicht.
Die Situation der Prostituierten ist schlimm. Sie werden gesellschaftlich diskriminiert und gesetzlich kriminalisiert. Ihre soziale Lage ist mies. Empörend ist, daß die Freier moralisch weitgehend ungeschoren davonkommen. Sie zahlen, halten sich aber für ehrenwerte Leute. Der Trieb braucht sein Ventil; das gilt auch für Staatspräsidenten und Könige. Wir würden es in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich hinnehmen, daß Frauen so behandelt, gedemütigt, erniedrigt, geknechtet und versklavt werden wie im Bereich der Prostitution.
Ich attestiere den Bündnisgrünen deshalb gern, daß sie ein Thema aufgegriffen haben, das erörtert zu werden verdient. Was sollen wir tun? Sie machen es sich einfach. Sie sagen: Prostitution ist ein Beruf wie jeder andere. Sexualarbeiterin oder Friseuse - das ist in etwa dasselbe. Ich glaube, daß Sie irren. Daß der Kauf - ich sage bewußt: der Kauf, nicht der Verkauf - sexueller Dienstleistungen den Moralvorstellungen der eindeutigen Mehrheit des Volkes und auch der Wertordnung des Grundgesetzes widerspricht und deshalb mit einem Unwerturteil belegt bleiben muß, scheint mir ziemlich klar zu sein. Intimbereiche, die mit dem Kern der Persönlichkeit aufs engste verknüpft sind, wie uns gerade die moderne Psychologie lehrt, zur Ware zu machen verstößt gegen die Würde des Menschen. Die Prostitution wirkt persönlichkeitszerstörend für die Frauen,
nicht für die Männer.
Sie wissen, daß die gewaltsame Durchsetzung sexueller Wünsche für die Frauen schwere Traumata zur Folge hat, ebenso das Sichverkaufen. Die Zahl derer, die drogenabhängig sind, ist überrepräsentativ. Das liegt nicht nur daran, daß die Drogenabhängigkeit an der Spitze steht; die Ursache liegt auch woanders. Wir sollten da nicht idealisieren. Die Frage ist, ob man den Frauen nicht dennoch helfen kann. Ich meine, daß man ihnen helfen muß. Das ist ein weites juristisches Feld.
Professor Meyer, Sie haben das Urteil des Bundesgerichtshofes nicht zu Ende gelesen. Der Bundesgerichtshof hat gesagt: Wenn eine Prostituierte einen Verkehrsunfall hat, dann kann sie zwar nicht ihren entgangenen Verdienst verlangen, aber einen Teil davon.
Schon das Studium der Urteilsgründe zeigt, wie schwer sich die Rechtsprechung tut und wie unlogisch und gewunden da manches ist. Ich glaube also, daß man schon helfen kann, vielleicht auch als Gesetzgeber.
§180 a StGB: Also, Eros-Center sind erlaubt; damit verdienen Leute viel Geld. Bordelle aber, die etwas aufwendiger zu führen sind, auch was die Hygiene angeht, sind plötzlich nicht mehr erlaubt. Wer will das einsehen? Da müßten wir eigentlich etwas tun.
Sperrbezirke - ein weites Feld. Ich glaube nicht, daß wir ohne Sperrbezirke auskommen. Wollen Sie die Prostituierten auf der Heussallee und vor der Parlamentarischen Gesellschaft haben? Die Stadt Bonn würde es nicht zulassen.
Medizinische Kontrolle - ein weites Feld. Ich gebe Ihnen recht. Ich würde so gerne auch den Mann, der häufiger zu den Prostituierten geht, der medizinischen Kontrolle unterwerfen. Gern würde ich das tun, wenn es praktikabel wäre.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns auf der Grundlage der grundsätzlichen ethischen Mißbilligung der Prostitution und insbesondere angesichts der Rolle, die Männer in diesem Bereich spielen, versuchen, diesen Frauen, den Opfern promiskuitiver männlicher Sexualität, zu helfen und ihre Situation zu verbessern. Es gibt eine Fülle von Möglichkeiten, wenn wir dies wollen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Holzhüter, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich wohl zu früh gefreut. Den Beiträgen der Vorrednerinnen und Vorredner, auch Ihrem Beitrag, Herr Braun, habe ich entnommen,
daß wir alle es doch ein bißchen ähnlich sehen, daß nämlich Handeln erforderlich ist. Ich möchte nicht bis zum Ende des Jahrtausends warten, bis wir endlich dazu kommen. Den Exkurs durch die Geschichte, den Sie hier gemacht haben, könnte ich noch durch weitere Beispiele ergänzen.
Ich möchte hier auch einmal sagen: Die Moral war nicht immer Hintergrund einer christlichen Betrachtung. Das Alte Testament sieht das ganz anders. Auch die Kirchenfürsten, die Päpste haben das in früheren Zeiten weitaus lockerer gesehen. Also seien wir nicht päpstlicher als der Papst!
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist vollkommen gleichgültig, ob es 400 000 Prostituierte in Deutschland gibt, wie die Hurenbewegung behauptet, oder auch nur halb so viel - freiwillig oder unfreiwillig. Im Sexgewerbe werden jährlich Milliardenbeträge verdient. Auch hier gibt es Zulieferfirmen.
Tatsache ist, daß mindestens eine Viertelmillion Menschen, und zwar überwiegend Frauen, in einem für sie selbst rechtlosen Raum arbeiten. Recht wird auf sie angewendet; Schutz durch Recht genießen sie nicht. Das ist Doppelmoral. Im übrigen sind es die Männer, die gerne die Dienste der Frauen ohne Schutz genießen möchten.
Nicht die Frauen verhalten sich verantwortungslos.
Unsere Frauenministerin, Claudia Nolte, vertritt die Auffassung, Prostituierte gingen einer sozial unwertigen Tätigkeit nach. Damit versteckt man sich hinter einer moralischen Wertung, um eine Entschuldigung zu haben, nichts für diese Frauen zu tun. Die Dienste der Huren werden täglich von 1 Million Männern nachgefragt. Ist deren Verhalten auch sozial unwertig? Auch das ist für mich Doppelmoral.
Dem Finanzminister scheint es egal, woher das Geld kommt, denn Steuern müssen diese Frauen zahlen. Daß deren Steuermoral nicht besonders hoch ist - was im übrigen auch für andere Teile unserer Gesellschaft gilt -, ist nicht verwunderlich, weil sie nur vom Staat abkassiert werden, ihnen aber dafür nichts gegeben wird. Auch das ist für mich Doppelmoral.
Auf etwa 10 Milliarden DM wird der jährliche Umsatz geschätzt - das ist hier schon gesagt worden -, der damit dem Umsatz eines mittleren Großunternehmens entspricht. Dadurch haben der Staat und der Finanzminister gute Einnahmen. Prostituierte zahlen Steuern, Bordellbesitzer zahlen Steuern, und, wie gesagt, es gibt ein reiches Zulieferlager. Die Tätigkeit ist unwertig, das Geld nicht. Auch das ist Doppelmoral.
Wenn argumentiert wird, rechtliche Verbesserungen für Prostituierte seien ein Anreiz dafür, daß noch mehr Ausländerinnen illegal nach Deutschland kommen, um hier anschaffen zu gehen, dann ist dies ein vorgeschobenes Argument. Diese Frauen kommen, weil Menschenhändler und Bordellbesitzer horrende Gewinne mit ihnen erzielen können und weil die soziale und wirtschaftliche Lage in den Heimatländern katastrophal ist. Wenn ihre Tätigkeit vom Geruch des Unerlaubten, Unmoralischen und Ungesetzlichen befreit wird, dann lassen sich auch Trennungen zur illegalen Prostitution ziehen.
Es ist gut, daß Bündnis 90/Die Grünen diesen Entwurf eingebracht haben. Es ist wirklich an der Zeit, etwas zu tun. Wir stimmen mit ihren Zielen überein. Wie der Kollege Meyer schon gesagt hat, haben wir rechtlich eine etwas andere Auffassung. Ich denke, das ist insofern gerechtfertigt, als gerade an dieser Stelle sämtliche rechtlichen Auslegungen, Deutungen oder wie auch immer gearteten Maßnahmen vermieden werden müssen, die sich wiederum dafür eignen, sich nicht mit dem Thema direkt zu befassen, sondern sich dahinter zu verschanzen.
Frau Kollegin Falk, danke schön. Ich hoffe, daß sich viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen Ihren Ausführungen anschließen. Hier geht es um Belange rechtloser Frauen, und da darf keiner kneifen.
Im übrigen habe ich einmal, und zwar nicht, um meine Diäten aufzubessern, eine Nacht lang mit den Frauen auf der Straße gestanden. Ich könnte Ihnen die Freier beschreiben. Die Anwohner, die sich für einen Sperrbezirk aussprechen, tun das nicht der Frauen, sondern des Freiersuchverkehrs wegen. Auch dies sollte man sich einmal durch den Kopf gehen lassen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 13/6372 und 13/7440 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll beim Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen. Ich gehe davon aus, Sie sind damit einverstanden. - Das ist so. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Friedhelm Julius Beucher, HansJoachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Strafrechtliche Aufarbeitung des SED-/DDR-
Unrechts und der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität
- Drucksache 13/7281 -
ZP8 Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Verbesserung der Strafverfolgung für DDR-
Regierungs- und Vereinigungskriminalität
- Drucksache 13/7423 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Ende dieses Jahres erwartet uns eine Zäsur bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Zum 31. Dezember 1997 verjährt die Strafverfolgung bei jenen Straftaten, die vor Ablauf des 31. Dezember 1992 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begangen wurden und die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind.
Der Gesetzgeber steht damit unmittelbar vor dem zweiten großen Verjährungsschub im Bereich der Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Während Ende 1995 bereits die sogenannten geringfügigen Straftaten verjährten, setzt Ende dieses Jahres die Verjährung im großen Bereich der mittelschweren Straftatbestände ein. Betroffen hiervon sind auf dem Gebiet der Regierungskriminalität Straftatbestände wie Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung, Aussageerpressung, Körperverletzung, Nötigung, Erpressung, Urkundenfälschung oder Vertrauensmißbrauch.
Auf dem Gebiet der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität betrifft dies vor allem die Straftatbestände Betrug und Untreue. Beides sind Straftatbestände, die im Zusammenhang mit der Umstellung von transferablen Rubeln und Mark der DDR auf Deutsche Mark und im Zusammenhang mit der Privatisierung von Unternehmen der ehemaligen DDR durch die Treuhandanstalt von zentraler Bedeutung sind.
Die Bundesregierung und der Gesetzgeber dürfen diesem Verjährungsereignis nicht passiv und mit Desinteresse gegenüberstehen. Wir alle haben Anlaß, eine Zwischenbilanz zu ziehen und die strafrechtliche Aufarbeitung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität danach abzuklopfen, ob für uns gegebenenfalls Handlungsbedarf besteht. Beim Blick auf diese Ermittlungszahlen ist klar, daß den Strafverfolgungsbehörden zweifelsfrei ein großer Schritt bei der Aufarbeitung der strafrechtlichen Hinterlassenschaft des SED-Regimes gelungen ist. Vor allem im Bereich der Regierungskriminalität, bei den Straftaten gegen Personen sind die Ermittlungen massiv vorangekommen, und es sind mittlerweile beachtliche Ermittlungserfolge zu verzeichnen.
Wesentlich schlechter sieht das Bild im Bereich der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität aus. Besonders hier hat sich die mangelhafte personelle Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden des Landes Berlin sehr negativ ausgewirkt. Die Ermittlungszahlen im Bereich der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität liegen am Boden; es droht die große Gefahr, daß zum Jahresende durch Verjährung die meisten Fälle mit wirtschaftsstrafrechtlichem Bezug eingestellt werden und nicht mehr aufgeklärt werden können. Hauptursache hierfür ist neben der Kompliziertheit der Fälle und dem für die Aufklärung von Wirtschaftskriminalität ohnehin größeren Zeitbedarf vor allem die völlig unzureichende Personalunterstützung der Strafermittlungsbehörden in Berlin. Lassen Sie es uns völlig offen und nüchtern an dieser Stelle aussprechen: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben die alten Bundesländer die dem Land Berlin zugesagte Personalunterstützung nicht eingehalten.
Ein Weiteres kommt hinzu. Der Beschluß, den die Regierungschefs des Bundes und der Länder am 17. Mai 1991 zur Unterstützung der Aufarbeitung in Berlin gefaßt haben, bezog sich nur auf den Bereich der Regierungskriminalität. Der gesamte Bereich der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität wurde ausgeklammert und folglich einseitig dem Bundesland Berlin zugeordnet - eine falsche Entscheidung, die heute massive negative Folgen haben kann.
Wir haben deshalb in diesem Jahr - und das möglichst bald - alle Maßnahmen ergebnisoffen zu prüfen, die noch vor Eintritt der Verjährung zum Jahresende geeignet sind, die Personalsituation in Berlin zu verbessern und die Strafverfolgung mit der notwendigen Intensität voranzutreiben.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb in ihrem Antrag vier Forderungen an die Bundesregierung erhoben.
Wir erwarten erstens einen Bericht der Bundesregierung über den Stand der strafrechtlichen Aufarbeitung. Dies kann relativ schnell erfolgen, da die meisten Zahlen ohnehin auf dem Tisch liegen.
Wir erwarten zweitens, daß die Bundesregierung bereit ist, ihre Hilfe für eine bessere Personalausstattung bei den Berliner Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zu verstärken. Denn nur durch eine höhere Personalausstattung können jetzt verjährungshemmende Maßnahmen eingeleitet werden.
Wir erwarten drittens einen Bericht der Bundesregierung über die negativen Auswirkungen des Jahressteuergesetzes 1996 auf die Abordnungspraxis nach Berlin.
Rolf Schwanitz
Wir wollen viertens eine unvoreingenommene Prüfung der Bundesregierung dahin gehend, ob in diesem Jahr angesichts dieser drohenden Zäsur die Verjährungsfristen erneut verlängert werden sollten.
Meine Damen und Herren, zum Schluß noch einige persönliche Bemerkungen. Wir sollten unvoreingenommen prüfen, was wir tun können und ob der Gesetzgeber bei der Verjährung abermals tätig werden soll, wie er das bereits in der letzten Legislaturperiode getan hat. Denn Versöhnung und Rechtsfrieden kann der Gesetzgeber nicht mit der Stoppuhr in der Hand zwangsweise verordnen. Noch eine andere Frage sollten wir uns nüchtern und selbstkritisch stellen. Der Akt des Beitritts eines ganzen Staates mit einer realen Vorbereitungszeit von nicht mehr als sechs Monaten und einem folgenden gesellschaftlichen Transformationsprozeß von 15 bis 20 Jahren ist ein historisches Ereignis ohne Beispiel.
Die Aufarbeitung der juristischen Hinterlassenschaft dieses Regimes und die Ahndung der kriminellen Energie während des Beitritts und während der Anfangsjahre dieser Transformation mit den traditionellen Mechanismen und Zuständigkeiten des Altstaates messen und behandeln zu wollen war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Fehlentscheidung.
Deshalb muß es zulässig sein, zu fragen, ob es richtig und vertretbar war, bei der Ahndung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität auf die alte Rollenverteilung laut Grundgesetz zu verweisen und die Aufarbeitung der Hinterlassenschaft des Zentralstaates DDR fast ausschließlich in die Zuständigkeit der Länder und massiv in die eines Landes, nämlich des Landes Berlin, zu geben: im Ermittlungsbereich mit personeller Unterstützung der alten Bundesländer, im Gerichtsbereich völlig ohne Unterstützung des Bundes.
Die Bundesregierung und der Gesetzgeber haben später dafür geradezustehen, wenn die strafrechtliche Aufarbeitung der Wirtschaftskriminalität dereinst als gescheitert bewertet werden wird: geradezustehen vor den Opfern, weil ihnen ein Rechtsfrieden auferlegt wurde, der keine Befriedung erzeugt hat, geradezustehen vor den nachfolgenden Generationen, weil der Rechtsstaat in bedrängter Stunde vor der kriminellen Energie kapitulierte und der Gesetzgeber in bequemer Passivität zusah,
und geradezustehen nicht zuletzt vor dem Steuerzahler, weil die kriminell erbeuteten Milliarden nicht zurückgeholt wurden, sondern letztendlich durch neue Steuern und Abgaben ausgeglichen werden mußten.
Meine Damen und Herren, dies zu vermeiden ist unser Auftrag. Lassen Sie uns deshalb - ich sage das auch deshalb an dieser Stelle, weil ich die anderen Intentionen aus der Koalition kenne - durch eine sofortige Abstimmung nach dieser Beratung - ohne eine Beerdigung erster Klasse, indem dieser Antrag in ein langwieriges Verfahren an die Ausschüsse überwiesen wird -, durch eine Zustimmung zu unserem Antrag die Bundesregierung zum Bericht verpflichten und diese schwierige Diskussion gemeinsam noch vor der Sommerpause hier im Parlament führen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits 1993 haben wir uns in der Debatte über das Gesetz zur Vereinheitlichung strafrechtlicher Verjährungsfristen mit dem heute zu debattierenden Thema befaßt. Damals haben wir festgestellt, daß die Ahndung der SED-Unrechtstaten und der sogenannten Vereinigungskriminalität in den neuen Bundesländern auf besondere personelle und organisatorische Schwierigkeiten der Verfolgungsbehörden stieß.
Auf Grund der geltenden Verjährungsfristen drohte eine Vielzahl von Straftaten am 3. Oktober 1993 bzw. am 3. Oktober 1995, also nach fünf Jahren, zu verjähren. Diese Situation ergab sich, weil die Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer vor großen Problemen standen. Einerseits waren die Ermittlungen in diesem Bereich sehr zeitaufwendig und schwierig; andererseits entsprach der personelle und organisatorische Stand der Behörden nicht dem der westdeutschen Länder.
Einstimmig waren wir uns damals darüber im klaren, daß der drohenden Verjährung auf Grund dieser sachdienlichen Erwägungen entgegengetreten werden mußte, was zum Beispiel verfassungsrechtliche Fragen - Verjährungsfristen haben selbstverständlich ihren Sinn - in den Hintergrund zu stellen erlaubte.
Gleichzeitig haben wir damals aber auch darauf hingewiesen, daß zur Lösung der Probleme die Maßnahmen getroffen werden müssen, die den unbefriedigenden Zustand beseitigen helfen. Vor allem bedeutete das eine ausreichende personelle Besetzung der zuständigen Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden.
Als Akt der gesamtdeutschen Solidarität sollten hauptsächlich die alten Bundesländer - nur die haben das Personal zur Verfügung - Staatsanwälte und Polizeibeamte speziell für die Zentrale Ermittlungsstelle für die Bekämpfung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität und für die Berliner Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellen. Berlin trägt - auch das ist wahr - wegen der Rolle von Berlin als Hauptstadt der DDR die Hauptlast dieser rechtsstaatlichen Aufarbeitung.
In mehreren Sitzungen haben wir uns im Rechtsausschuß über den Sachstand berichten lassen. In verschiedenen Fraktionen - wir CDU-Abgeordnete aus den neuen Bundesländern haben das zum Beispiel 1995 getan - hat man sich speziell informiert. Gerade vorhin wurde dies in der Enquete-Kommission in einer intensiven Debatte erörtert. Wir alle haben uns immer wieder mit diesem Thema beschäftigt. Deshalb halte ich es für gut, daß wir uns auch
Dr. Michael Luther
jetzt im Jahre 1997 mit diesen Fragen auseinandersetzen.
Für mich war die Tatsache sehr interessant, daß bei der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, also bei der früheren Arbeitsgruppe für Regierungs-
und Vereinigungskriminalität, zirka 20 000 strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sind, von denen rund 16 300 abgeschlossen werden konnten. Aus statistischen Angaben läßt sich sehr detailliert erkennen, in welchen Fällen Verfahren eingeleitet wurden und wo es Schwierigkeiten gab. Das hat auch Herr Schaefgen in der Enquete-Kommission vorhin gerade sehr detailliert vorgetragen.
Ich meine, daß unser Bemühen seit 1993 insgesamt nicht wirkungslos geblieben ist. Es sind eine Vielzahl von langwierigen und komplizierten Verfahren eingeleitet, untersucht und auch abgeschlossen worden. Das ist ein Erfolg der guten Arbeit der Ermittlungsbehörden. Dafür ist meines Erachtens all denjenigen zu danken, die sich auf diesem Gebiet bemüht haben. Hier möchte ich mich ganz besonders bei den Mitarbeitern der ZERV sowie der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin bedanken.
Trotz dieser Erfolge müssen natürlich auch kritische Fragen gestellt werden. Die zwei wichtigsten Fragen sind: Besteht die Gefahr, daß eine Vielzahl von Verfahren aus objektiven Gründen Ende dieses Jahres verjähren? Wie hoch ist der materielle Schaden für die öffentliche Hand?
Nach allgemeiner Einschätzung ist die Gefahr der Verjährung bei Straftaten ohne wirtschaftsstrafrechtlichen Bezug nur gering. Zur Zeit werden von der Staatsanwaltschaft verjährungshemmende Maßnahmen ergriffen. Problematischer ist das jedoch bei der vereinigungsbedingten Wirtschaftskrimininalität. In den Ländern ist das kein so großes Problem. In Sachsen zum Beispiel gibt es diesbezüglich nur zehn bis 15 laufende Verfahren. In Berlin ist die Bedeutung viel höher, ist das allein zahlenmäßig ganz anders. Außerdem ist nach allgemeiner Einschätzung auch mit einer erheblichen Dunkelziffer zu rechnen. Die Schätzungen über die Größe sowie über den Gesamtschaden differieren stark.
Also stellt sich natürlich die Frage, ob wir die Verjährungsfrist erneut verlängern sollten. Aber - auch das ist deutlich geworden in den Gesprächen, die ich geführt habe - es gibt eine Menge Argumente gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist:
Erstens. Der Faktor Zeit gestaltet die Beweisführung natürlich immer schwieriger.
Zweitens. Es besteht die Schwierigkeit, die betreffenden Delikte hinreichend klar von Straftaten der allgemeinen Wirtschaftskriminalität abzugrenzen. Da vor allem die Straftatbestände des Betruges und der Untreue betroffen sind, erscheint es kaum möglich, Fallgruppen zu bestimmen, die auf den spezifischen Zusammenhang der deutschen Wiedervereinigung begrenzt sind. Sowohl in örtlicher und zeitlicher als auch in sachlicher Hinsicht bestehen vielmehr fließende Grenzen zwischen spezifischer vereinigungsbedingter - beispielsweise Transfer-RubelBetrug - und allgemeiner Kriminalität. Die Aussicht, durch Verlängerung der Verjährungsfristen das bestehende Dunkelfeld wesentlich aufzuhellen, scheint mir nicht so günstig.
Hinzu kommen - drittens - verfassungsrechtliche Bedenken, wenn heute erneut Fristen verlängert werden sollen, aber sachdienliche Erwägungen dazu fehlen, wie sie 1993 bestanden. Der Justizaufbau in den neuen Bundesländern ist weitestgehend geleistet, und eine ausreichende personelle Ausstattung hätte sichergestellt werden können.
Viertens. Bei einer Fristverlängerung nähme man natürlich den Druck bei der Abarbeitung der jetzigen und der noch anstehenden Fälle weg, der eine zügige Verfolgung der Fälle zur Zeit befördert.
Nicht zuletzt müßte das Ganze natürlich auch vor dem Hintergrund der absoluten Verjährung am 2. Oktober 2000 diskutiert werden. Diese Grenze ist bislang von niemandem angetastet worden.
Ich stelle deshalb fest, daß es dringend darauf ankommt, daß noch zügiger als bisher weitergearbeitet wird, damit die Fälle der Regierungs- und Vereinigungskriminalität aufgearbeitet werden können.
Es stellt sich für mich die Frage, was wir dafür leisten können. Schon 1993 war die entscheidende Frage, daß die zuständigen Stellen zuwenig Ermittlungsbeamte und Staatsanwälte hatten. Deshalb waren insbesondere die alten Bundesländer, aber auch der Bund aufgefordert, hier tätig zu werden.
Herr Kollege Gres hat die Bundesregierung diesbezüglich gefragt und ein Zahlenmodell als Antwort erhalten. Ich will einige Zahlen nennen. Bei der ZERV hat der Bund sein Abordnungssoll zu 100 Prozent, Baden-Württemberg zu 80 Prozent, Bremen zu 100 Prozent, Niedersachsen zu 42 Prozent und das Saarland zu 33 Prozent erfüllt. Das Soll wurde also ganz unterschiedlich erfüllt.
Bei der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin hat der Bund das Abordnungssoll zu 80 Prozent, Baden-Württemberg zu 100 Prozent, Bremen zu 0 Prozent und Niedersachsen zu 33 Prozent erfüllt.
Ich denke, hier liegt der Hase im Pfeffer. Die Frage ist erlaubt, wem die deutsche Einheit was wert ist. Ich halte es für einen Skandal, wenn Verpflichtungen nur zu 33 Prozent oder überhaupt nicht erfüllt werden.
- Dazu kann man ruhig Beifall spenden, das ist richtig.
Die aktuelle Debatte und die Aussagen der Fachleute auf diesem Gebiet -ich nenne Herrn Schaefgen und Herrn Kittlaus, aber auch die Justizsenatorin von Berlin - sind eindeutig. Es kommt jetzt darauf an, die Verfahren zügig zu führen. Dazu bedarf es Personal
Dr. Michael Luther
und auch der umgehenden Erfüllung der Verpflichtung speziell durch die säumigen Bundesländer.
Die personelle Ausstattung der Staatsanwaltschaften ist das Wichtigste, und ich finde es sehr bedauerlich, daß von den zugesagten Abordnungen zur Zeit zirka 23 Prozent bei der Staatsanwaltschaft fehlen. Hinzu kommt, daß die Staatsanwaltschaft durchweg mit jungen, also wenig erfahrenen Kollegen arbeiten muß. Ich denke, auch das ist ein Zeichen dafür, wie ernst diese Aufgabe als gesamtdeutsche Aufgabe von den alten Bundesländern genommen worden ist.
Ich fordere an dieser Stelle auf, daß gerade die alten Bundesländer ihre Verantwortung bei der Überwindung der deutschen Teilung wahrnehmen. Hier sind die Länder gefragt. Herr Schwanitz, ich meine, man kann das nicht auf den Bund abwälzen.
Ich glaube auch nicht, daß wir die Gerichtsbarkeit und das System der DDR zur Lösung des Problems der Vereinigungskriminalität wieder einführen können.
Herr Kollege Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Ich bin der Meinung, daß das, was vereinbart wurde, auch gemeinsam erfüllt werden muß, damit man zu einer Lösung kommen kann. Fragen der Finanzen sind natürlich für diejenigen, die ihre Tätigkeit in Berlin leisten, wichtig. Ich finde es gut, daß 1995 - Gesetzentwurf auf Drucksache 13/2210 - eine Stellenzulage für die Beamten bei der ZERV und der Staatsanwaltschaft II eingeführt wurde.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben das 1995 kritisiert. Für mich war das damals schon unverständlich. Ich finde die Stellenzulage gut, und sie muß weiter gewährt werden. Bis jetzt soll sie 1998 auslaufen. Aber das wird nicht reichen; wir werden sicherlich auch über andere kritische Fragen, die von den Leitern der Dienststellen in die Debatte eingebracht wurden, nachdenken müssen, damit diejenigen, die sich in Berlin engagieren, nicht finanziell benachteiligt werden.
Zu dem Antrag der SPD kann ich nur sagen: Die Zahlen, die Sie einfordern, sind allen bekannt. Eine weitere Statistik nutzt niemandem. Sie wissen alles, was Sie von der Bundesregierung erfragen wollten. Es ist wichtig, daß zügig weitergearbeitet werden kann.
Ich glaube, daß wir die Kontrolle über das zügige Weiterarbeiten nicht mit dem heutigen Tag abschließen können, sondern daß wir weiter darüber reden sollten. Deswegen plädiere ich ganz einfach dafür, daß wir Ihren Antrag, aber auch den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen an den Ausschuß überweisen, damit wir uns dort die Fachleute an den Tisch holen und die Bundesländer auffordern können, ihre Zusagen und damit ihre Aufgaben entsprechend zu erfüllen.
Meine Damen und Herren, es ist keine Beerdigung erster Klasse, die damit ausgeführt werden soll, sondern das ist das Notwendige, mit dem wir uns in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen müssen.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Gerald Häfner, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir gerade gestern im Rechtsausschuß zu der ersten wichtigen Säule der Aufarbeitung von DDR-Unrecht - den Unrechtsbereinigungsgesetzen - nach langen Beratungen einen Abschluß gefunden haben, beschäftigen wir uns heute sozusagen mit der zweiten Säule, der Strafverfolgung. Bevor ich darauf eingehe, will ich noch ein Wort zu der dritten Säule sagen, die meines Erachtens genauso zu dieser Aufarbeitung gehört.
Das ist die Tätigkeit der Gauck-Behörde. Ich sage das deshalb, weil uns gerade ein von wenig Sachkenntnis getragener Bericht des Rechnungshofs vorgelegt wurde, der dort unter anderem die Schließung von Außenstellen verlangt.
Wir haben uns vor einer knappen Stunde gemeinsam in der Enquete-Kommission damit beschäftigt und diese Forderung deutlich zurückgewiesen. Die politische und justitielle Aufarbeitung als zentrale Voraussetzung für die gesamtgesellschaftliche Überwindung der DDR-Diktatur darf nicht an einer falsch verstandenen Rotstiftpolitik oder an Gleichgültigkeit scheitern. Das gilt für die Tätigkeit der Gauck-Behörde. Das gilt genauso für die vielen Aufarbeitungsinitiativen im Land, die ebenfalls alle nahe am materiellen Abgrund stehen und das gilt schließlich auch für die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden.
Es ist ärgerlich, und es macht mich auch ein Stück weit wütend, wenn wir jetzt schon wieder hier stehen - denn wir haben das ja bereits mehrfach getan - und darüber klagen müssen, daß die Verjährungsfristen auslaufen und daß in einem Großteil der einschlägigen, gerade auch der gravierenden Verfahren noch nicht ausreichend ermittelt werden konnte. Nach Auskunft des Generalstaatsanwalts der Staatsanwaltschaft II in Berlin, Herrn Schaefgen, schiebt die Staatsanwaltschaft dort 2100 Verfahren im Bereich der Regierungskriminalität und 240 Verfahren im Bereich der Wirtschafts- und Vereinigungskriminalität vor sich her. Viele Verfahren sind da noch gar nicht eingerechnet, weil man bislang noch nicht darauf gestoßen ist, weil noch kein ausreichender Anfangsverdacht besteht oder noch nicht klar ist, gegen welche Beschuldigten sich die Verfahren richten.
Gerald Häfner
Erneut stehen wir also hier, und erneut müssen wir gemeinsam darüber klagen, daß die notwendigen Arbeiten nicht geleistet werden können, weil insbesondere die Länder ihre Verpflichtungen nicht erfüllen. Wenn ich „die Länder" sage, so gilt es dabei, sich an die eigene Brust zu klopfen. Das Bundesland Bayern zum Beispiel, aus dem ich komme, erfüllt seine Pflichten nur zu zwei Dritteln. Herr Geis, Sie können da hilfreich tätig werden.
- Danke. Herr Geis - ich hoffe, das ist ins Protokoll aufgenommen worden - wird dafür sorgen, daß Bayern die Verpflichtungen künftig zu 100 Prozent erfüllt. In Bayern sind ja auch die Kapazitäten frei, weil man dort völlig unsinnig zum Beispiel Leute verfolgt, die vergessen haben, eine Demo anzumelden, und diese Verfahren über drei Instanzen treibt. Hier gäbe es wirklich Sinnvolles zu tun.
Als Beispiel will ich Ihnen sagen: Das rot-grün regierte Land Hessen erfüllt, weil die anderen so wenig tun, seine Verpflichtungen sogar zu mehr als 100 Prozent.
Hessen müßte vier Beamte abstellen und hat fünf Beamte. abgestellt. Hessen hat auch die ZERV, die Zentrale Ermittlungsstelle, anfänglich mit Computern usw. kostenlos ausgestattet, um die Arbeiten dort zu ermöglichen.
- Herr Geis, Sie haben sich mit Ihrer Zusage jetzt gerade weit vorgewagt. Sie sollten Ihrer Nervosität jetzt nicht durch Zwischenrufe Luft machen.
Lassen Sie mich an der Stelle folgendes sagen: Wir hatten uns ursprünglich dazu entschlossen, heute abend über die vorliegenden Anträge abstimmen zu lassen, und zwar einfach deswegen, weil die Zeit ausläuft und weil wir eines nicht wollen: Wir wollen nicht, daß die Anträge in den Ausschüssen schmoren und in dieser Zeit nichts geschieht.
Nun haben sowohl Sie, Herr van Essen, als auch Herr Luther in einem Gespräch, das ich vor dieser Debatte mit Ihnen geführt habe, die Bitte geäußert, die Anträge doch zu überweisen, und zwar nicht mit dem Ziel, das Ganze sozusagen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben, sondern mit dem Ziel, gemeinsam den Druck zu verstärken und zu Lösungen zu kommen. Wir alle wissen, wie sehr die Zeit drängt. Aber wir wissen auch, daß die Aufklärung dieser Straftaten ein Anliegen des gesamten Hauses ist. Deshalb werde ich, jedenfalls was unseren Antrag betrifft, dieser Bitte nachkommen. Wir werden, obwohl die Zeit drängt, einer Überweisung zustimmen in der Erwartung, daß wir damit gegenseitig die Verpflichtung eingehen, gemeinsam am Ball zu bleiben und nach Lösungen zu suchen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen: Was die Aufarbeitung von Terror und Unrecht betrifft, so geht es hierbei nicht um irgendwelche Lappalien, sondern um Freiheitsberaubung, um Nötigung und Körperverletzung. Es geht um ganz gravierende Delikte. Es geht auch im Bereich der Wirtschafts- und Vereinigungskriminalität beispielsweise um Vermögensdelikte in beträchtlichem Umfang.
Herr Kollege Häfner, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Es geht um Dimensionen von mehreren hundert Millionen, wahrscheinlich von mehr als einer Milliarde DM.
Die Aufarbeitung dieses Unrechts ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Sie wird, wenn die Verjährungsfristen auslaufen, nicht zu Ende sein. Nötig ist aber gerade deshalb, daß wir, solange Zeit ist, alles uns Mögliche tun, damit Gerechtigkeit hergestellt werden kann, soviel dies irgend geht. Ich sehe das auch als einen notwendigen Beitrag, das Rechtsbewußtsein in Deutschland zu stärken und alles dafür zu tun, daß Terror und Diktatur in diesem Land nicht mehr möglich werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die strafrechtliche Aufarbeitung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität hat uns aus gutem Grunde mehrfach beschäftigt und muß auf Grund alarmierender Meldungen aus Berlin erneut zu einer Debatte führen.
Wie häufig, wenn es in der Justiz Probleme gibt, wird an der Verjährungsschraube gedreht, auch wenn die SPD dies zunächst in einem Prüfauftrag an die Bundesregierung verpacken will. Der Kollege Schwanitz hat in dieser Frage deutlich Position bezogen.
Für uns Liberale ist klar: Einer weiteren Beliebigkeit der Verjährungsvorschriften werden wir nicht die Hand reichen. Hier hat es in den letzten Jahren genug Sündenfälle gegeben.
Zum Rechtsstaat gehört, daß es nur ein begrenztes Zeitfenster für die Strafverfolgung gibt. Bei den hier anzusprechenden mittleren Straftaten ist eben auch nur ein mittlerer zeitlicher Rahmen vorhanden.
Wir haben mit der deutschen Wiedervereinigung die Verjährung von in der ehemaligen DDR begangenen Straftaten bereits mit dem Tag der Wiedervereinigung neu beginnen lassen und sie im Jahre 1993 -damals aus guten Gründen - noch einmal zeitlich
Jörg van Essen
hinausgeschoben. Dies führt bereits jetzt zu einer unverhältnismäßig langen Verjährungsfrist. Für eine erneute Verlängerung ist deshalb kein rechtsstaatlicher Raum.
Welches Bild würde ein Rechtsstaat bieten, der anderen Verstöße gegen die Rechtsordnung vorwirft und sich dabei selbst nicht an elementare Rechte hält?
Bereits aus diesem Grund verbieten sich alle Überlegungen in einer solchen Richtung.
Daß eine solche Verlängerung auch im übrigen nicht weiterhelfen würde, sei ergänzend erwähnt. Der Generalstaatsanwalt Schaefgen hat heute abend in der Enquete-Kommission klar und deutlich und zu Recht darauf hingewiesen, daß ein Verfahrensstau durch eine Verlängerung der Verjährungsfrist nicht gelöst wird.
Alle Manipulationen am Verjährungsrecht verhindern nicht, daß am 2. Oktober 2000 mit der absoluten Verjährung jede Verfolgung ausgeschlossen ist - von einigen Ausnahmefällen im Bereich der Wirtschaftskriminalität abgesehen. Wir müssen deshalb nach anderen Wegen suchen, den berechtigten Anliegen des Rechtsstaats und der Ermittler zu entsprechen.
Wer trägt hier Verantwortung? Mich stört es nachdrücklich, daß von dem Kollegen Schwanitz und im Antrag der SPD wieder ausschließlich die Bundesregierung gefragt wird.
Dabei hat der Bund wie im übrigen auch - das gebe ich zu, und das finde ich vorbildlich - das rot-grüne Hessen sein Obligo sogar übererfüllt. Warum sprechen unsere Kollegen von der SPD nicht mit dem von ihnen gestellten Innenminister des Saarlandes, der nur ein Drittel der Verpflichtung des Abordnungssolls erfüllt? Oder mit dem Minister in Niedersachsen, der nur etwas mehr als 40 Prozent der geforderten Beamten stellt? Auch Brandenburg hat nur die Hälfte seiner Verpflichtungen in diesem Bereich erfüllt.
Herr Kollege van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Meckel?
Nein danke, ich würde zu dieser späten Stunde gerne weiter vortragen.
Warum fragen Sie nicht den Ihrer Partei angehörenden Justizsenator in Bremen, warum er nicht einen einzigen Staatsanwalt stellt?
Oder die Justizministerin in Niedersachsen, die nur ein Drittel stellt? Oder den Justizminister in Schleswig-Holstein, der gerade die Hälfte der geforderten Staatsanwälte nach Berlin entsandt hat? Wir sollten
zunächst gemeinsam diese Verpflichtung der Länder da einfordern, wo wir Verantwortung tragen.
Ich bin sehr froh, daß Herr Geis deutlich gemacht hat, daß er das in Bayern tun wird.
Ich möchte auch eine kritische Bemerkung machen, weil etwas zu finanziellen Leistungen gesagt worden ist. Ich glaube - Sie wissen, daß ich selbst aus der Staatsanwaltschaft komme -, wir würden das Berufsbeamtentum ad absurdum führen, wenn wir für jede aufwendigere oder unangenehmere Tätigkeit eine besondere Entlohnung forderten. Wir haben das hier in Berlin aus guten Gründen getan. Aber ich glaube, daß wir nicht darüber hinausgehen können.
Es hat hier einen elementaren Fehler der Justiz in den Ländern gegeben. Ich habe einige Kollegen erlebt, die sich für die Tätigkeit in Berlin gemeldet haben. Das Ergebnis war: Als sie zurückgekommen sind, wurde ihnen das eben nicht förderlich angerechnet. Es hat ihnen sogar zum Nachteil gereicht, was die weiteren Beförderungen anbelangt. Auch hier müssen wir fordern, daß natürlich eine solche Sondertätigkeit zum Vorteil des einzelnen Beamten ausschlagen muß, insbesondere was Beförderungen anbelangt. Ich fordere mit Nachdruck, daß es hier zu einer anderen Praxis in den Ländern kommt.
Wir als Koalition möchten, daß wir schnellstmöglichst zu einer klaren Aussage des Bundestages kommen. Mit einem Verschieben auf die Bundesregierung lösen wir das Problem überhaupt nicht; mit einer Aufforderung an die Bundesregierung, die Zahlen auf den Tisch zu legen, auch nicht; denn die Zahlen kennen wir.
Deshalb ist unsere herzliche Bitte - ich bin sehr froh, daß die Grünen darauf eingegangen sind; ich hätte mir gewünscht, daß es auch die SPD getan hätte -, daß wir schnellstmöglich - nach Möglichkeit in der nächsten Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages - zu einer klaren Aussage mit klaren Forderungen an diejenigen kommen, die die Verantwortung in der Justiz tragen und immer wieder betonen, daß sie sie mit einer klaren Aufforderung an die Länder tragen. Der Bund hat seine Aufgaben Gott sei Dank erfüllt.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt, PDS.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung. Herr Kollege van Essen, für die Nichterfüllung der Verpflichtung des Landes Bremen habe ich als Mitglied im 2. Untersuchungsausschuß, der sich mit den Vorgängen im Vulkan-Betrieb beschäftigt, zutiefst Verständnis dafür, daß es im Augenblick seine Abordnungspflicht nicht erfüllt. Aber das bloß nur einmal so nebenbei.
Wolfgang Bierstedt
Den im vorliegenden SPD-Antrag unter anderem enthaltenen Hinweis hinsichtlich des direkten Einflusses des Antragsgegenstandes auf das Rechtsbewußtsein bzw. den Hinweis hinsichtlich der Notwendigkeit zur Weiterentwicklung des Rechtsbewußtseins in den neuen Bundesländern durch die vorbehaltlose Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze kann sich die PDS ohne weiteres anschließen.
Wenn wir uns den im Antrag angesprochenen Teilbereich der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität ansehen, verweist die allerdings auch nicht gerade kleine Tätergruppe aus den alten Bundesländern im Umkehrschluß ebenfalls auf Defizite im Rechtsbewußtsein zumindest eines Teils der Bevölkerung der alten Länder. So war allerdings der Satz „Es wächst zusammen, was zusammengehört" wohl doch nicht ganz gemeint.
Aber zum eigentlichen Anliegen der vorliegenden Anträge. Grundsätzlich ist die PDS für die strafrechtliche Bewertung von Handlungen, die strafrechtlich zu behandeln sind. Dies gilt sowohl für Handlungen, die vor dem 3. Oktober 1990 als auch danach gegen das jeweils geltende Recht verstießen, ebenso wie dieser Grundsatz unabhängig von der Person Gültigkeit besitzt. In der heutigen Abendsitzung der Enquete-Kommission „Überwindung ... " wurde allerdings und nicht zu Unrecht auf die in der Rechtstradition begründete Verjährung verwiesen. Dieser Rechtsgrundsatz ist nicht beliebig handhabbar und schon gar nicht auf schlüsselbar.
Wir teilen aber auch die Befürchtungen - dabei vor allem die von klagenden Betriebsräten und Belegschaften plattgemachter oder ausgeraubter Betriebe -, daß wesentliche strafwürdige Handlungen verjähren könnten. Dies bedeutet im übrigen nicht im Umkehrschluß eine mindere Bewertung anderer tatsächlicher Straftatbestände.
Es stellt sich jedoch für uns die Frage, warum sich der Deutsche Bundestag mit der Verjährungsfristverlängerung, die im übrigen, wie Herr Schaefgen ausgeführt hat, nur eine begrenzte Wirkung haben soll - meine Kollegen haben schon darauf hingewiesen - allein aus dem Grunde beschäftigen soll, weil die Mehrheit der Länder - ich verweise auf die Ausnahme Bremen - schlecht gearbeitet hat, weil sie ihren Verpflichtungen zur Abordnung von Personal weder quantitativ noch in der erforderlichen Qualität nachgekommen war bzw. nachzukommen bereit ist.
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle unseren Vorschlag zur Ausweitung der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften einbringen. Ich möchte es trotzdem machen, obwohl Herr Schaefgen vorhin auf meine Frage hinsichtlich der Möglichkeit etwas locker und vor allen Dingen ungeprüft gesagt hat: Die sind doch nicht alle aus Berlin weggezogen. Demzufolge mag es nicht gehen. Ich meine, wir sollten darüber nachdenken, und eine tatsächliche Prüfung unseres Vorschlages sollte hier noch einmal erfolgen.
- Ich habe das schon verstanden. Aber ich denke, es
gibt schon einige andere Tatorte, wo man zumindest
eine partikuläre Aufschlüsselung machen könnte. Es war ein Schnellschuß von Herrn Schaefgen. Er wird sicherlich die Arbeit nicht komplett loswerden, aber man sollte darüber nachdenken.
Darüber hinaus halten wir es durchaus für angebracht, die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft II in Berlin, die wir nicht nur inhaltlich, sondern unter anderem auch politisch für überfordert halten, kritisch zu beleuchten.
Ansonsten ist die PDS für eine Überweisung beider Anträge wegen des aus unserer Sicht doch erheblichen Beratungsbedarfs. Wir sprechen uns gegen eine sofortige Abstimmung im Bundestag aus.
Danke schön.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die strafrechtliche Verfolgung und Ahndung der regierungs- und der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität der ehemaligen DDR fällt auch bei Berücksichtigung gesamtstaatlicher Aufgaben, wie es eben Herr Häfner formuliert hat, nun einmal in erster Linie in die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden der Länder. Die Bundesländer und das Land Berlin - das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen - haben in diesem Bereich gute Arbeit geleistet.
Über 44 000 Verfahren wegen Regierungskriminalität, einschließlich des Justizunrechts, wurden eingeleitet. Über 90 Prozent dieser Verfahren sind erledigt. Die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden hat die Schadenswiedergutmachung von rund 1,8 Milliarden DM gefördert.
Der Bund und die alten Bundesländer haben sich entschlossen - das ist mehrfach erwähnt worden -, Berlin, das bei der Bewältigung der Regierungskriminalität besonders betroffen ist, zu unterstützen. Die Bundesregierung ist dabei ihren Aufgaben nachgekommen. Nicht alle alten Bundesländer - das ist erwähnt worden - haben das getan.
Damit gilt: Der Bund hat seine Verpflichtungen erfüllt. Jede weitergehende Finanzierung in diesem Bereich muß die Bundesregierung ablehnen. In diesem Zusammenhang erinnere ich auch daran, daß das Bundesjustizministerium aus seinem Einzelplan, der nun wirklich sehr schmal ist, seit dem Jahre 1991 300 Millionen DM an die Länder für die Personalhilfe im Justizbereich und für den Aufbau der EDV-gestützten Grundbuchämter gezahlt hat.
Wegen Personalmangels - das ist hier auch ein Punkt der Diskussion - konnten zum Stichtag 10. März 1997 93 Verfahren, davon 41 Wirtschaftsdelikte aus der DDR und 43 Verfahren der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität, nicht betrieben werden. Unter der Voraussetzung, daß sich die Personallage deutlich verbessert, ist es möglich und
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
anzustreben, daß die anhängigen Verfahren mit Ausnahme von Einzelfällen bis zum Jahre 1999 sachgerecht erledigt werden.
Von einer nochmaligen Verlängerung der Verjährungsfrist für Taten der mittleren Kriminalität, um die es hier geht, die in der ehemaligen DDR oder bis Ende 1992 im Beitrittsgebiet begangen wurden, sollten wir nach meiner Überzeugung absehen. Nachdem die Verjährung dieser Straftaten durch den Einigungsvertrag zum 3. Oktober 1990 unterbrochen worden ist, haben wir durch das zweite Verjährungsgesetz festgelegt, daß diese Taten frühestens zum 31. Dezember 1997 verjähren.
Die Verlängerung der Verjährungsfrist war seinerzeit gerechtfertigt, weil die Justiz in den neuen Bundesländern noch stark überlastet war. Inzwischen sind jedoch die Schwierigkeiten der Justiz in den neuen Bundesländern weitgehend bewältigt. Dies wird auch von den Ländern selbst so gesehen.
Wir sollten darüber hinaus die erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken - Herr Kollege van Essen hat sie vorgetragen -, die generell gegen die Verlängerung von Verjährungsfristen gelten, entsprechend nicht außer acht lassen.
Ich meine, daß ein Festhalten an der bestehenden Gesetzeslage dem Rechtsfrieden dienlicher wäre als ein erneutes Hinauschieben der Verjährung. Die Verjährungsvorschriften sollten nicht deshalb geändert werden, weil der Justiz die zur Erfüllung ihrer Auf gaben erforderlichen Haushaltsmittel durch die Länder nicht zur Verfügung gestellt werden. Das wäre wirklich reichlich opportunistisch gedacht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Zunächst zum Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 13/7281. Die SPD will, daß über ihren Antrag heute abgestimmt wird. Dagegen liegt von den Koalitionsfraktionen ein Antrag vor, zu überweisen, und zwar an den Rechtsausschuß federführend und an den Innenausschuß mitberatend.
Nach der Üblichkeit stimmen wir zunächst über den Überweisungsantrag ab. Wer stimmt für Überweisung an die genannten Ausschüsse? - Dagegen? - Dann ist die Überweisung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS gegen die Stimmen der SPD-Fraktion beschlossen.
Ich habe verstanden, Herr Kollege Häfner, daß die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Überweisung ihres Antrages auf Drucksache 13/7423 einverstanden ist.
- Gut. Wird dieser Überweisung von irgend jemand widersprochen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung an die gleichen Ausschüsse - Rechtsausschuß federführend, Innenausschuß mitberatend - beschlossen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. April 1997, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.